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Full text of "Spinoza's neuentdeckter Tractat von Gott, dem menschen und dessen glückseligkeit"

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^4 




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. . Spinoza^s 

neuentdeckter Tractat 



von 



Gott, dem Menschen und dessen 
(jlückseligkeit. 



Erläutert mxA in seiner Bedeutung für das Verständnisi 
des Spinozismus untersucht 



von 



Dr, Gkristoph Sigwart, 

0. 5. Professor cfer Philosophie in Tübingen. 



Gotha, 

Verlag von Rud. Besser. 
1866, 




— IV — 

immer Gefahr läuft, die längst bekannten Lehren des fer- 
tigen Systems in die frühere Darstellung hineinzutragen. 
Um so mehr habe ich bedauert, dass ich Trendelenburgs 
am 15. März d. J in der Sitzung der Berliner Academie 
gelesene Abhandlung über denselben Gegenstand nicht mehr 
vergleichen konnte, um an der Auffassung eines so gründ- 
lichen Kenners und scharfsinnigen Kritikers der spinozisti- 
schen Philosophie meine eigene zu prüfen. Ich glaube 
mich indess zu der Hoffnung berechtigt, dass mir nichts 
Wesentliches entgangen ist, und dass das Bild, das mir 
aus wiederholter Betrachtung entstand, die charakteristi- 
schen Züge der damaligen Denkweise Spinoza's wieder- 
gibt. Jedenfalls glaube ich gezeigt zu haben, dass der 
neue Fund eine wesentliche Bereicherung unserer Mittel 
ist 9 die innere Entwicklung und damit den wahren Sinn 
des Spinozismus zu verstehen, und dass er insbesondere 
die Einflüsse, welche auf ihren Urheber in seiner Jugend 
eingewirkt haben, weit sicherer und vollständiger, als bis- 
her möglich war, zu erkennen gestattet. Wenn ich in letz- 
terer Hinsicht auf eine kaum zu verkennende directe Ab- 
hängigkeit Spinoza's von Giordano Bruno geführt wor- 
den bin, und dieselbe ausftlhrlich nachzuweisen versucht 
habe, so will ich nicht behaupten, dass damit diese Unter- 
suchung erschöpft sei ; vielleicht dass nebenher noch andere 
Zusammenhänge bestehen, welche mir nicht gelang auf- 
zufinden; ich begnüge mich, in Einer Richtung jedenfalls 
gezeigt zu haben, dass der Tractat eine Nachforschung 
lohnt, und werde mich freuen, wenn meine Untersuchung 
von Andern vervollständigt wird. 

Während des Druckes erst kam mir die Schrift zu: 
Don Chasdai Greska's religions-philosophische 
Lehren in ihrem geschichtlichen Einflüsse dargestellt von 
Dr. M. Joel, Rabbiner der Synagogengemeinde zu Breslau. 
Der in der mittelalterlichen jüdischen Literatur wohlbe- 
wanderte Verfasser sucht darin zu beweisen , dass „eigent- 
lich alle Keime za dem, was in Spinoza's Systeme das 



— V — 

Charakteristische ausmacht^ in Ghasdai sich yorJSnden'^ Es 
ist ihm nun zwar gelungen, nicht bloss zu zeigen, dass 
Spinoza diesen Talmudisten aus dem Ende des 14. und 
Anfang des 15. Jahrhunderts gekannt hat — dies beweist 
schon ein Citat in Spinoza's neunundzwanzj^tem Brief — , 
sondern auch wahrscheinlich zu machen, dass yerschiedene 
Stellen theils der Cogitata metaphysica, theils der übrigen 
Schriften Seminiscenzen an ihn enthalten. Allein dass das 
Charakteristische in Spinoza's Lehren dorther stamme, da- 
von hat er uns nicht zu überzeugen yermoclit; er scheint, 
durch Anklänge Ton untergeordneter Bedeutung getäuscht, 
theils Spinoza's Ideen in die Schriften Chasdai's hineinge- 
lesen, theils mit den zwischen beiden bestehenden Differen- 
zen es zu leicht genommen zu haben. Eine Lehre, welche 
wie die Chasdai's die Einheit Gottes für unbeweisbar durch 
philosophische Gründe und nur durch Offenbarung gewiss 
erklärt (S. 32 und 33 der angeftihrten Schrift), kann nicht 
den Keim zu dem enthalten, was in Spinoza's System das 
Charakteristische ausmacht. Jedenfalls findet sich in un- 
serem — vom Verfasser wie es scheint nicht gekannten — 
Tractate, so gewiss er Spinoza's Bekanntschaft mit den in 
der jüdischen und christlichen Dogmatik überall discutirten 
theologischen Lehren darthut, kein bestimmterer Hinweis 
auf eine derartige Abhängigkeit. - 

Erst im letzten Augenblicke kann ich auch den eben 
erschienenen zweiten Band von Erdmanns Grundriss der 
Geschichte der Philosophie vergleichen. In dem Abschnitt 
über Spinoza S. 47 — 76 ist unser Tractat wiederholt ver- 
werthet und einige seiner eigenthümlichsten Gedanken her- 
ausgehoben. Allein die Art, wie Erdmann ihn ftir seine 
Darstellung Spinoza's benützt, ist wesentlich verschieden 
von derjenigen, welche die vorliegende Schrift versucht. 
Dort treten die Citate aus demselben nur als Ergänzung 
einer in der Hauptsache auf die bisher schon bekannten 
Schriften gegründeten Darstellung auf, so dass seine eigen- 
thümliche Bedeutung als Ausdruck einer früheren Phajse 



— VI — 

philosophischen Denkens und sein mannigfaltiger Unter- 
schied von der Ethik weniger zur Geltung kommt. Ungern 
verzichte ich auf den Hinweis im Einzelnen, wie manche 
treffende Bemerkung Erdmanns über den Charakter des 
spinozischen Denkens überhaupt und besonders über die 
Beziehung zwischen den Begriffen der- Substanz und der 
Ursache, zwischen logischer Bedingtheit und realer Ab- 
hängigkeit ihre volle Bestätigung im Tractate findet, wäh- 
rend andererseits seine Auffassung des Verhältnisses der 
Attribute zur Substanz, wie sich aus der folgenden Dar- 
stellung auch ohne besonderen Nachweis ergibt, dem Trac- 
tate gegenüber am wenigsten sich hätte durchführen lassen. 
Erdmanns richtige Bemerkungen Über das allmähliche 
Werden der Ethik (S. 49) finden ihre Bestätigung und wei- 
tere Ausführung in meinem Excurse, in welchem ich be- 
müht war, alle auf ihre Entstehungsgeschichte bezüglichen 
Andeutungen zusammen zu stellen. 



Tübingen, Anfangs November 1866. 



Der Verfasser. 



Inhaltsübersicht. 



Seite 

Einleitung 1 

Der erste Theil des Tractates 7 

1. Die Beweise für das Dasein Gottes 7 

2. Das Wesen Gottes . 9 

3. Der Begriff des Attributs 28 

4. Der Begriff des Modus 44 

5. VerhSltniss der beiden Attribute und ihrer Modi 52 

Der zweite Theil des Tractates 61 

1. Die Erkenntniss und ihre verschiedenen Arten . 64 

2. Die Modi des Denkens, welche aus den verschie- 
denen Erkenntnissarten folgen 76 

3. Der ethische Process als die Verwirklichung des 
höchsten Guts im Menschen 84 

Die Quellen der Gedanken des Tractates .... 96 

Cartesius 96 

Die Cabbala . 99 

Giordano Bruno 107 

Ezcurs über die Abfassungszeit des Tractates . . 135 

Der Tractat und die Briefe an Oldenburg . . . . 135 

Der Tractat und die Ethik 144 

Der Tractatus de intellectus emendatione .... 153 



Als Spinoza's hinterlassene Werke noch in seinem 
Todesjahre von einem seiner Freunde herausgegeben wur- 
den, bemerkte dieser in der Vorrede, er theile Alles mit, 
was er aus des Philosophen Concepten und einigen Ab- 
schriften, die bei Freunden und Vertrauten versteckt ge- 
wesen seien, habe zusammenbringen können. ;,Und, fährt 
er fort, obgleich es glaublich ist, dass bei diesem oder je- 
nem noch etwas von der Hand unseres Philosophen ver- 
borgen liegt, was sich in diesem Bande nicht findet, so ist 
doch anzunehmen, dass nichts darin enthalten sein werde, 
was nicht zum Oefteren auch in diesen Schriften steht.^ 
Hat der Herausgeber nur eine unbestimmte Vermuthung 
aussprechen können, so tauchten später bestimmtere Noti- 
zen auf Job. Christoph Mylius in seiner Bibliotheca anonym 
morum (1740) theilte mit, dass Spinoza die Ethik ursprüng- 
lich holländisch verfasst, später erst ins Lateinische über- 
setzt und in die Form der geometrischen Methode gebracht 
habe; dabei sei ein Capitel über den Teufel weggeblieben, 
von dem man sage, dass es in einem holländischen hand- 
schriftlichen Exemplare noch vorhanden sei. Darauf hin 
forderte schon Paulus in der Einleitung zum zweiten Bande 
seiner Ausgabe Spinoza's (p. XV.) zur Publication dieser 
Reliquien auf Aber jene holländisch geschriebene Ethik 
mit dem Capitel über den Teufel war gänzlich verschollen, 
bis im Herbst 1851 der gelöhrte Dr. Eduard Böhmer in 
Halle auf einer Reise nach Holland ein mit zahlreichen 
handschriftlichen Anmerkungen versehenes Exemplar der 
Biographie Spinoza's von Colerus fand. Eine dieser An- 
merkungen bestätigte, dass eine handschriftliche Abhand- 

Sigwftrt, Spinozft^s Tractat. 1 



— 2 — 

lung Spinoza's in den Händen einiger Freunde der Phiio- 
Bophie sei, welche dieselben Gedanken und Gegenstände 
enthalte wie die Ethik, aber nicht nach mathematischer 
Methode dargestellt; aus dem Stile lasse sich schliessen, 
dass es eine der frühesten Arbeiten des Philosophen* sei. 
Der Biographie aber angebunden fand sich auf 11 Octav- 
blättern ein holländisch geschriebener Auszug derselben 
Abhandlung unter dem Titel: Körte Schetz der Verhande^ 
Ung van Beaedictus de Spinoza: over Gody den Mensch ^ en 
deszelfa welstand*) Dieser Auszug wurde im Jahre 1852 
von Dr. Böhmer zusammen mit einer kritischen Synopsis 
der verschiedenen Handschriften der Anmerkungen Spino- 
za's zum theologisch-politischen Tractat herausgegeben, und 
mit einer sehr gründlichen Erörterung über das Verhält- 
niss der ihr zu Grunde liegenden Schrift zu Spinoza's Brie- 
fen und zur Ethik begleitet .**) 

Diese erste Entdeckung führte weiter. Derselbe Buch- 
händler Friedrich Müller in Amsterdam, bei dem der erste 
Fund gemacht worden war, erstand in einer Auction ein 
holländisches JÜ anuscript, das einer Uebersetzung von Spi- 
noza's Principia phüosophice Cartesiance angeheftet war, und 
sich bald als jene Abhandlung auswies, deren kurze Skizze 
Böhmer gegeben hatte. Capitel fttr Capitel stimmte tiber- 
ein, auch die Notiz, mit der der Böhmefsche Auszug 
schliesst, dass Spinoza das ganze Werk später mit vielen 
Anmerkungen behufs der Erklärung und genaueren Bestim- 
mung versehen habe, traf zu. Kurze Zeit darauf fand sich 
ein zweites Exemplar derselben Abhandlung, gleichfalls in 
holländischer Sprache, mit einer Bemerkung auf dem Titel, 
wonach es eine spätere Uebersetzung eines ursprünglich 



*) Kurze Skizze der Abhandlung B. Spinoza^s: Ueber Gott, den 
Menseben und desselben Glückseligkeit. 

♦*) Benedicti de Spinoza Tractatus de Deo et homine ejusque 
felicitate lineamerUa atque adnotattones ad tractatum theologico-po^ 
litieum edidit etillueiravitEduardua Böhmer. Halae ad Salam 1852. 



von Spinoza für seine Schüler lateinisch verfassten Trac- 
tates Bein sollte. Dass der Tractat nur fUr Schüler, und 
zwar für yertrante Schüler bestimmt war, sagt er selbst am 
Schlosse, wo Spinoza die Freunde, iür die er schreibt, an 
d^ Geist der Zeit erinnert, in der sie leben, und die weitere 
Mittheilung der Schrift zwar nicht ausdrücklich verbietet, 
aber ihnen die giösste Sorgfalt anempfiehlt. Daraus er« 
klärt sich wohl auch, warum der Tractat selbst nach Spi- 
noza's Tode nicht zum Vorschein kam und dann allmählich 
vergessen wurde. 

Im Jahre 1862 wurde denn auch diese Keliquie zu* 
tammen mit verschiedenen mehr oder weniger wichtigen 
Documenten, — unedierten oder nicht vollständig edier- 
ten Briefen, Notizen über Spinoza's Leben u. s. w. — 
durch einen holländischen Verehrer des Philosophen, van 
Vloten, im Format der Bruder'schen Ausgabe herausge- 
geben, unter dem Titel: Ad BenecUcti de Spinoza opera qum 
supermnt omnia mpplementum. Der holländischen Abhand- 
lung ist eine lateinische Ueberaetzung beigefügt. 

Es ist lebhaft zu bedauern, dass die Herausgabe dieses 
wichtigen Fundes nicht ebenfalls Dr. Böhmer's sorgfältiger 
Hand anvertraut worden ist. Denn so wie das Buch vor- 
liegt, lässt es sehr viel zu wünschen übrig. Vor allem ist 
über das Verhältniss der beiden vom Herausgeber benütz- 
ten Handschriften zu einander nur soviel gesagt, dass «er 
„da und dort; wo die eine weniger klar gewesen, der an- 
dern gefolgt sei;^' worauf sich dieses bezieht, ob nur auf 
die Schriftzüge oder auf die Worte, und welche Diflferenzen 
des Textes vorhanden u. s. w. — darüber lässt uns van 
Vloten völlig im Dankehi. Was aber den mitgetheilten 
Text selbst und noch mehr die lateinische Uebersetzung 
betrifft, so finden sich der Incorrectheiten und groben Kach- 
lässigkeiten so viele, dass eine zuverlässige und kritische 
Ausgabe dringend gewünscht werden muss.*) 

•) Ihr. Böhmer hat sich in Ficlite's Zeitschrift Bd. 42 S. 77 ff. der 
dankenswertheuMühe einer Corrector unterzogen: die dort auf 7 Seiten 



— 4 — 

Vielleicht ist dnrch weitere Naehforschangen auch der 
eine Punkt noch aufzuhellen, in welchem Verhältniss die 
hier vorliegende Abhandlung zu dem von Mylius ange- 
führten holländischen Manuscripte steht. Das Gapitel vom 
Teufel trifft zu, denn es findet sich in dem Tractat, und 
zwar ausdrücklich als besonderes Gapitel (Gap. 25 des 
zweiten Theils); aber in Beziehung auf die Sprache besteht 
noch ein Widerspruch zwischen der Mylius'schen Notiz, 
welche die Schrift ursprünglich holländisch verfasst sein 
lässt, und der Behauptung der Anmerkung auf dem Titel- 
blatt der neuen Handschrift, nach welcher das Original la- 
teinisch war. Nach den Datis, welche vorliegen, lässt sich, 
wenn beide Angaben dieselbe Schrift meinen, mit Sicher- 
heit nicht ausmachen, welche derselben richtig ist, die über- 
wiegende Wahrscheinlichkeit spricht aber fllr die letztere. 

Jedenfalls ist die neugefundene Schrift fUr das Ver- 
ständniss des Spinozistischen Systems im Ganzen und im 
Einzelnen von grösster Wichtigkeit, und in dieser Hinsicht 
bis jetzt noch nirgends genügend gewürdigt worden .*) 

Sie gibt sich alsbald als ein früherer, in loserer Form 
sich haltender, in mancher Hinsicht unfertiger Entwurf der 
Ethik zu erkennen. Die Hauptmasse derselben besteht aus 



aufgezäblten corrigenda, unter denen freilich einzelne vertheidigt wer- 
den können, Hessen sich noch um eine beträchtliche Anzahl der stö- 
rendsten Nachlässigkeiten, besonders der Uebersetzung, vermehren. 

*) Böhmer hat zwar a. a. 0. S. 76 auf diese Wichtigkeit hingewie- 
sen, und in seiner Abhandlung in einigen Punkten den Tractat ausge- 
beutet; aber eine allseitige Verwerthung desselben fehlt noch. H. Rit- 
ter's Bericht in den Göttinger gel. Anis. 1862. 47. Stück S. 1841—51 
macht selbst nicht den Anspruch aus mehr als einer flüchtigen Lecture 
hervorgegangen zu sein; Kuno Fischer im eben erschienenen 2. Bande 
der Geschichte der cartesianischen Philosophie begnügt sich S. 165 
Anm. nach den Gesammtausgaben der Werke Spinoza^s auch unsem 
Tractat als ,^briss der Ethik" anzuführen. Lehmans (Spinoza, sein 
Lebensbild und seine Philosophie 1864) benutzt ihn nur ganz beiläufig. 
Trendelenburgs am 15. März 1866 in der Berliner Academie gele- 
sene Abhandlung über denselben ist noch nicht veröffentlicht 



— 5 — 

einer Abhandlung, deren erster Theil in 10 Capiteln von 
Gott, deren zweiter in 26 Capiteln vom Menschen und 
seiner Glückseligkeit handelt. Im ersten Theile sind dem 
zweiten Capitel zwei kurze Dialoge angehängt, die den 
Zusammenhang unterbrechen, indem sie theils Früheres 
wiederholen, theils Späteres anticipiren; die unvermittelte 
Einftihrung der bedeutungsvollen Personen des ersten — - 
Inteüectusy Amor^ Ratio y Cupiditas — und die weit über das 
zunächst liegende hinausgreifenden Gedanken des zweiten 
legen die Vermuthung sehr nahe, dass wir in diesen Dia- 
logen Fragmente früherer Arbeiten vor uns haben, welche 
Spinoza an irgend einer Stelle seiner Abhandlung einver- 
leibte, statt sie neu zu verarbeiten. Noch mehr als in 
dieser Einfügung tritt aber der Charakter des unfertigen 
Entwurfs in der grossen Zahl erklärender, berichtigender, 
zuweilen in grösserer Ausdehnung eine schärfere Fassung 
Buchender Zusätze hervor, welche besonders in den ersten 
Capiteln häufig sind, und die fortgehende Arbeit des Phi- 
losophen zeigen, während der höchst interessante A nhang 
dem ersten Theil gegenüber den Versuch macht, die ma- 
thematische Methode anzuwenden, freilich um schon nach 
4 Sätzen damit abzubrechen, dem zweiten Theile gegen- 
über einen engeren Zusammenhang der Lehre vom Men- 
schen mit der Lehre von Gott herstellen zu wollen scheint. 
In beiden Hinsichten steht der Anhang in der Mitte zwi- 
schen dem ursprünglichen Entwurf und der Ethik, wie sie 
uns längst ausgearbeitet vorliegt."^) 

Uebersehen wir das allgemeine Verhältniss des Ent- 
wurfs zum vollendeten Werke, so ist es derselbe Kreis 
von (bedanken, den die frühere Schrift wie die spätere um- 
schreibt; derselbe Gang im Wesentlichen, den schon der 
Titel: „Von Gott, dem Menschen und seiner Glückseligkeit" 
ankündigt; dieselben Grundbegriffe und Hauptsätze; in ein- 



*) Ueber das Nähere hinsichtlich der Abfassungszeit s. d. Ezcu^s 
am Schlosse. 



— 6 — 

»einen Partieen schon wörtliche üebereinstimmung^; in an- 
deren wenigstens die deutlichen Ansätze zn späteren Leb* 
ren. Aber bei alldem doch charakteristische Unterschiede. 
Zunächst in der äusseren Haltung der Darlegung. In einer 
Reihenfolge von Capiteln, die nicht immer streng zusam- 
menhängen, werden die Gedanken entwickelt, allerdings 
vielfach in der gedrängten, Satz um Satz in beweisender 
Folge aneinanderreihenden Art des späteren Werks, oft 
aber auch in Form einer Discussion verschiedener Ansich- 
ten; ja die dialogische Form, welche an der angeführten j 
Stelle die abhandlungsmässige Darstellung unterbricht , weist ^ 
darauf hin , dass Sp. wohl zuerst darin sich versucht und ! 
nur allmählich und durch viele Zwischenglieder hindurch 
zu dem gebundensten Stile Übergegangen ist. So findet I 
er weit mehr Eaum für Auseinandersetzungen mit der ge- *l 
wohnlichen Ansicht der Dinge und mit den philosophischen 
und theologischen Schulbegriffen seiner Zeit, als ihm die 
straffe Form der Ethik übrig lässt; die lebendigere Bewe- 
gung der Rede bringt manchen Ausdruck und manche Wen- 
dung zu Tage, die treffend und leicht seine Meinung aus^ 
spricht, in der schweren Büstung der geometrischen Me- 
thode aber erdrückt wurde. ^ 

Dieses Verhältniss ist es nun, das uns den neuen Fund 
äusserst werthvoU macht. Indem er uns das System im 
Werden zeigt, den Zusammenhang unvollendet, eine Beihe 
von Lücken, die später geschlossen, von Inconsequenzen, 
die später beseitigt werden mussten, vermögen wir hier 
bis in« Einzelne die Erwägungen zu verfolgen, durch welche 
Spinoza gerade zu charakteristischen und auffallenden Sätzen 
gelangt ist, dort einen mit dem Ganzen schwer vereinbaren 
Gedanken des späteren Werkes als einen Rest der frü- 
heren Betrachtungsweise zu erkennen, der der Umschmel- 
zung widerstanden hat. Und wenn in der Ethik alles, was 
an das persönliche individuelle Leben erinnert, völlig unter- 
drückt ist, jeder Nachklang einer Stimmung verhallt, jeder 
Funke von Begeisterung erloschen, so dass ihr Yeifasaec 



— 7 — 

Beoht hatte, wenn er sie sogar von seinem Namen loslösen. 
und ihr so ein von seiner individuellen Person ganz unab- 
hängiges Dasein verleihen wollte: so ist auch in dieser 
Hinsicht die neugefundene Schrift unreif, die Frucht haftet 
noch an dem Stamme auf dem sie gewachsen ist, es ist indi- 
viduelles Leben, persönliches Streben darin, wir sehen, 
dass der Philosoph für sich philosophirt, und dass seina 
Philosophie ihm das Mittel ist, sich selbst und seine per- 
sönlichen Zwecke zu befriedigen. Weit stärker und leben- 
diger tritt die ethisch religiöse Richtung der spinozischen 
Philosophie hier heraus. Der Haupttheil des Tractats kann 
betrachtet werden als Antwort auf die alte Frage: Was 
soll ich thun, dass ich selig werde? Es ist jene Stimmung 
einer von der Eitelkeit der Welt unbefriedigten religiösen 
Sehnsucht tLber dieses Werk verbreitet, welche Spinoza im 
Eingang zu seiner andern Jugendschrift, dem Tractatus de 
inieüectus emendatione^ als das Motiv seines ganzen Lebens 
und Philosophirens in einfacher und ergreifender Weise 
dargestellt hat. 

Versuchen wir, die wichtigsten Lehren des Tractates 
im Einzelnen zu entwickeln. 

Der erste Tlieil des Tractates. 

L Die Beweise fürs Dasein Gottes. 

Der Eingang der Schrift lässt freilich diese Sichtung 
nicht hervortreten. Ohne alle Einleitung und Vorrede be^ 
ginnt das erste Capitel mit der Uebersohrift: Dass Gk)tt. 
ist; und ebenso beschäftigt sich der ganze erste Theil 
lediglich mit den metaphysischen Bestimmungen der Gottes- 
idee — dem ersten Buche der Ethik entsprechend. Und 
wenn wir jenes erste Capitel lesen , so glauben wir nicht 
Spinoza, sondern Oartesius zu hören. Wie bei Cartesius. 
tritt ein doppelter Beweis fürs Dasein Gk>ttes auf, ein 
apriorischer und ein aposteriorischer. Der erstere lautet 
in fast wörtlicher Uebereinstimmung mit der Form, die 



— 8 — 

ihm Gartesins in dem Fragment einer mathematischen Be- 
handlnngsweise {Reap. ad secundas objectiones) gegeben hatte : 
Was wir klar und deutlich als zur Natur eines Wesens 
gehörig erkennen, das können wir mit Wahrheit von jenem 
Wesen behaupten. Dass aber das Sein zur Natur Gottes 
gehöre, können wir klar und deutlich erkennen ; also — *). 
Oder in anderer Fassung, die gleichfalls theils an Carte, 
sianische Sätze, theils an Spinoza's Cogitata metaphj/sica 
cap. 2 erinnert: die Essenzen der Dinge sind unveränder- 
lich und ewig, Gottes Existenz gehört zu seiner Essenz; 
also — . Ebenso schliesst sich der aposteriorische Beweis 
aufs Engste an den cartesianischen (a. a. 0. Prop. 2) 
an, indem er darthut, aus der Idee Gottes, die wir haben, 
folge mit Nothwendigkeit die reale Existenz ihres Objects, 
weil die Idee Gottes ein reales Object von gleicher Voll- 
kommenheit als ihre Ursache voraussetzt; und in den Er- 
läuterungen dieses Beweises folgt er wiederum cartesiani- 
schen Andeutungen {Princ. phä. 1, 16 — 18), wenn er unter- 
sucht, warum die Idee Gottes keine Fiction sein könne. 
Und was das Auffallendste ist: nicht Spinoza's Gottesbe- 
griflf, den gleich das folgende Capitel kennt, wird dabei 
vorangestellt, um daraus die Existenz Gottes zu beweisen, 
sondern ohne irgend eine Definition Gottes wird vorausge- 
setzt, dass die Existenz im Wesen Gottes liege. Erst nach- 
träglich, in dem späteren Zusätze, nimmt er die ihm 
eigenthttmliche Definition Gottes aus dem zweiten Capitel 
ins erste herüber, um zu zeigen, dass zur Natur eines We- 
sens, das unendlich viele Attribute hat, auch das Attribut 
Sein gehöre. Eß ist als ob Spinoza zuerst im Sinne ge- 
habt hätte, seine Schüler cartesianische Philosophie zu leh- 
ren — wie er ja auch sonst verfuhr •— , und dann erst mit 
seinen eigenen Gedanken hervorgetretejn wäre. Schliesst sich 
auch der Wortlaut des Tractates nicht so enge an die Schriften 
des Cartesius an, wie die Darstellung der JPrincipia phäo- 



•) Vgl Def. 9 und Prop, 1 bei Carteaius. 



^ 9 — 

sopMcB Cartedanas in Prop. 5 und 6 des ersten Theils, so steht 
doch die Aofstellnng des aposteriorischen Beweises, den 
die Ethik hekanntUch anfgibt, auch mit den Lehren der 
späteren Capitel des Tractats in einem Widerspruch, auf 
den schon das Ende des ersten Capitels hinweist, indem 
es den apriorischen Beweis ftir besser als den aposteriori- 
schen erklärt *) 

2. Das Wesen Gottes. 

Erst im zweiten Capitel wendet sich die Untersuchung 
der Frage zu: Was Gott sei; und an der Spitze des- 
selben steht die Definition: Gott ist ein Wesen, von 
welchem Alles oder unendliche Eigenschaften 
ausgesagt werden, von welchen Eigenschaften 
jede in ihrer Gattung unendlich vollkommen ist. 

Diese Definition steht als ganz unvermittelte Behaup- 
tung da; wir sehen uns im ersten Entwurf vergeblich nach 
einer Andeutung um, wie wohl Spinoza dazu gekommen 
sein möge; erst der spätere Zusatz gibt sie, und zwar in 
ganz charakteristischer Weise so, dass er die Definition 
als Erklärung des Ausdrucks ens perjectissimum hinstellt — 
eines Ausdrucks, den er offenbar mit dem ihm zugehörigen 
Begriff als gegeben und keiner weiteren Einfahrung bedttrf- 
tig betrachtet. Nihäi nuUa attributa, sagt der Zusatz mit 
Cartesius {Princ. phä. 1, 11. 52.); Etwas hat einige Attri- 
bute, weil es etwas ist; je mehr etwas ist (je mehr Sea- 
Utät es hat), desto mehr Attribute muss es haben; Gott, der 
das vollkommenste, unendliche Wesen, der Alles ist, muss 
also unendliche, vollkommene und alle Attribute haben. 

Betrachten wir die Definition selbst näher, so fällt vor 
Allem im Vergleich mit der späteren Begriffsbestinmiung 
Gottes in der sechsten Definition der Ethik auf, dass der 
Begriff der Substanz noch nicht in die Defini- 



*) p. 14. des Suppl, 



— 10 — 

tion Gottes aufgenommen ist Die ErOrterang des 
Begriffii der Substanz folgt vielmehr erst naeh; ,|Um unsere 
Meinung bierin klar auszudrücken/ werden zunächst vier 
Sätze Yorausgeschickt, welche die Bestimmungen des Sub- 
stanzbegriffs betreffen, ganz abgesehen davon, ob nun der 
Snbstanzbegriff auf Gott bezogen werden soll oder nicht. 
Das Yerhältniss dieser Erörterungen zur Lehre von Gott 
ist einer der schwierigsten Punkte des Tractats. 

HOren wir zunächst, welchen Gang derselbe nimmt 
Unter den Sätzen; welche behufs der Erläuterung des Grottes- 
bcgriffs vorausgeschickt werden, ist der erste: Keine 
Substanz ist endlich, sondern jede Substanz 
muss in ihrer Gattung unendlich vollkommen 
sein, d. h. in Gottes unendlichem Verstand kann keine 
Substanz vollkommener sein als sie in der Natur bereits 
ist. Der Beweis dieses Satzes wird apagogisch geführt 
Wäre eine Substanz nicht unendlich, so mfisste sie ent- 
weder von sich selbst oder von ihrer Ursache determi- 
nirt sein. Das erste ist nicht:, denn es ist unmöglich, dass 
eine Substanz sich selbst hätte determiniren wollen, und 
zwar eine solche, die durch sich selbst existirte; das zweite 
nicht, denn die Ursache einer Substanz ist nothwendig 
Gott; hätte Gott die Substanz determinirt, so hätte er ent- 
weder nicht die Macht oder nicht den Willen gehabt, sie 
unendlich zu machen; jenes streitet mit seiner Allmacht, 
dieses mit seiner Güte; also ist jede Substanz in ihrer 
Gattung unendlich. 

Daraus folgt der zweite Satz: Es giebt nicht 
zwei Substanzen, die sich gleich sind; sonst 
müssten sie sich gegenseitig beschränken, könnten also 
nicht unendlich sein. 

Der dritte Satz lautet: Eine Substanz kann die 
andere nicht hervorbringen. Denn eine Substanz, 
die hervorgebracht wäre, müsste, da ihr bestimmtes Wesen 
nicht aus Nichts entstehen kann, von einer gleichartigen 



~ 11 - 

nnd ebenfalls nnendlicben Substanz bervoi^ebracht sein. 
Dies ist nach dem zweiten Satze nnmöglich; also kann 
keine Substanz heryorgebracht sein. Dasselbe folgt ans 
einer andern Betrachtung. Was geschaffen ist, ist nicht 
aus Nichts hervorgegangen. Ist es aus Etwas hervorge- 
gangen, so kann dieses nicht mehr dasselbe sein, nachdem 
ein anderes aus ihm hervorgegangen, nicht mehr unend- 
lich, wenn es etwas aus sich entlassen. Aus der Unend- 
lichkeit einer Substanz folgt also ebenso sehr, dass sie 
nicht von einer andern hervorgebracht sein kann, als dass 
sie keine andere hervorbringen kann. Ueberdem würde 
die Frage nach der Ursache einer Substanz auf einen 
regressus in inßnitum führen. Die Substanz betrachten wir 
als Princip alles dessen, was aus ihren Eigenschaften hervor- 
geht; suchen wir ihre Ursache, so müssen wir die Ursache 
dieser Ursache und so fort ins Unendliche suchen. Weil 
wir nun irgendwo stehen bleiben müssen^ geschieht es bei 
dieser Einen Substanz. 

Der vierte Satz endlich sagt: In Gottes unend- 
lichem Verstände ist keine Substanz, die nicht 
formaliter (d. h. wirklich) in der Natur wftre^ 
Der Beweis dieses Satzes folgt für Spinoza 1) aus Gk>tte8 
unendlicher Macht» in der kein Grund sein kann eins vor 
dem andern zu schaffen; (wenn also irgend eine Substanz 
real existirt, so müssen aus demselben Grunde alle mög- 
lichen Substanzen real existiren, es gibt zwischen ver- 
schiedenen Substanzen kein verschiedenes Yerhältniss von 
Möglichkeit und Wirklichkeit, Essenz und Existenz) 
2) aus der Einfachheit seines Willens; 3) daraus, dass er 
nicht unterlassen kann, das Gute zu thun; 4) daraus, dass 
was nicht ist, nie werden kann, da eine Substanz die an- 
dere nicht hervorbringen kann (d. h. wenn eine Substanz, 
die möglich ist, nicht auch wirklich wäre, so wäre sie fac- 
tisch unmöglich, ftir immer von der Möglichkeit des Seins 
ausgeschlossen). 



— 12 — 

Und nun fllhrt Spinoza fort: ,;Aus diesem Allem folgt, 
dass von der Natur Alles in Allem aasgesagt wird, und 
dass also die Natur aus unendlich vielen Attributen be- 
steht, deren jedes in seiner Gattung vollkommen ist, was 
vollkommen mit der Definition übereinstimmt, die man von 
Grott gibt/' Oder, wie es ganz ähnlich der Anhang im 
CoroUarium des vierten Satzes*) ausdrückt, welcher ebenso 
behauptet hatte, es sei unmöglich im unendlichen Verstand 
die Idee der Essenz einer Substanz zu setzen, die nicht 
realiter in der Natur ist : „D i e N a t u r wird durch sich selbst 
und durch nichts Anderes erkannt. Sie besteht aus unend- 
lich vielen Attributen, deren jedes selbst unendlich und in 
seiner Gattung vollkommen ist, zu dessen Wesen die Exi- 
stenz gehört, so dass ausser ihr kein Wesen noch Sein ist 
und sie genau übereinkommt mit dem Wesen des allein 
herrlichen und hochgelobten Gottes/' 

Und nachdem er dann (p. 22 und 24) den Einwand 
widerlegt hat, es streite mit der Allmacht Gottes, dass er 
nicht mehr hervorbringen könne, als er hervorgebracht 
habe, fährt er p. 26 fort: Die Gründe für die Behauptung, 
dass alle jene Attribute, die in der Natur sind, nur Ein 
Wesen**) und nicht verschiedene sind, da wir sie doch 
eines ohne das andere klar und deutlich zu erkennen ver- 
mögen, sind die folgenden: 

1) Wir haben schon früher gefunden, dass ein unend- 
liches und vollkommenes Wesen existiren müsse, und unter 
einem solchen kann kein anderes verstanden werden, als 
ein solches, von dem Alles in Allem ausgesagt werden 
muss. Je mehr ein Ding Wesen hat, desto mehr Eigen- 
schaften muss man ihm zuschreiben, dem unendlichen We- 
sen also unendliche Eigenschaften. 



*) p. 238. 

**) Van Yloten setzt ungenau in der lat. Uebersetzung subetcmHa, 
Das hoUändische hat weezen. 



— 13 — 

2) Der zweite Grund ist die Einheit, die wir 
überall in der Natur sehen; denn wenn mehrere 
solehe unendliche Wesen in ihr existirten, könnten sie un- 
möglich zusammen eine Einheit bilden. Oder, wie es der 
Zusatz formulirt: Wenn es verschiedene Substanzen gäbe, 
die nichl; auf ein einiges Wesen bezogen würden, dann 
wäre ihre Vereinigung unmöglich, weil wir klar sehen, dass 
Eue keine Gemeinschaft mit einander haben, wie Denken 
und Ausdehnung, aus denen wir doch bestehen. 

3) Eine Substanz kann die andere nicht hervorbringen, 
also auch eine Substanz, die nicht ist, nicht werden; nun 
sehen wir, dass in keiner Substanz (die wir doch als real 
existirend wissen) wenn sie als eine besondere gedacht 
wird, irgend eine Nothwendigkeit vorhanden ist, dass sie 
existirt, denn zu ihrer besonn deren Essenz gehört die 
Existenz nicht; daraus muss denn nothwendig folgen, dass 
die Natur, welche aus keiner Ursache kommt, und von der wir 
dennoch wohl wissen, dass sie ist, ein vollkommenes Wesen 
sein muss, zu dessen Begriflf die Existenz gehört. Auch 
diesen Beweisgrund versucht der Zusatz zu verdeutlichen: 
Wenn keine Substanz anders als existirend sein kann, und 
doch die Existenz nicht aus ihrem Wesen folgt, so lange 
sie gesondert (afgescheiden) begriffen wird, so folgt, dass 
sie nicht etwas besonderes sein kann, sondern etwas an 
einem andern, d. h. ein Attribut eines andern sein muss, 
nemlich des ^ alleinigen oder All- Wesens. Oder so: Alle 
Substanz existirt; keine Existenz einer Substanz folgt aus 
ihrem Begriffe für sich; darum kann keine existirende 
Substanz (genauer: keiner Substanz Existenz) aus ihr selbst 
begriffen werden, sondern muss einem andern zugehören; 
das heisst, wenn wir in unserem Verstände das substan- 
tielle Denken und die substantielle Ausdehnung denken, 
so verstehen wir sie nur ihrem Wesen nach, nicht in ihrer 
Existenz, d. h. so, dass ihre Existenz nothwendig zu ihrem 
Wesen gehörte. Wenn wir aber beweisen, dass sie (die 
ausgedehnte oder denkende Substaiiz) eine Eigenschaft 



— 14 — 

Ctottes iflt^ dann beweisen wir a priorii dass sie ist; und 
a posteriori, hinsichtlich der Ausdehnung, aas den modis, 
weil diese sie nothwendig zn ihrer Grundlage (onderwerpy 
mtbfeetum) haben müssen. 

Wir haben diese Sätze vollständig mitgetheilt, weil 
wir glauben, dass sie ftlr die Erkenntniss der Genesis der 
Grundbegriffe von der grössten Wichtigkeit sind. Die 
Frage, die sich uns zunächst entgegendrängt, ist die: In 
welchem Verhältniss stehen hier die Begriffe Gott, Sub- 
stanz, Natur? Wie kommt Spinoza dazu, Gott als die 
Eine Substanz, wie kommt er dazu, die Natur als Gott zu 
setzen? Offenbar liegen diese drei Begriffe ursprünglich 
auseinander, stellen drei verschiedene Ausgangspunkte des 
Denkens dar; durch welchen Process wachsen sie zusam- 
men, und welche Bedeutung hat demgemäss der Satz, der 
die Gleichung zwischen Gott, Substanz und Natur aus- 
spricht? 

So wie zunächst der Begriff Gottes auftritt, als des 
allervollkommensten Wesens, des Inbegriffs aller Eealitäten, 
erscheint er, wie schon bemerkt, als ein gegebener. Er ist 
eine Erbschaft der früheren Metaphysik, die Spinoza ohne 
weiteres antritt; er nimmt auch das dazu gehörige Inven* 
tar, die Bestimmungen der obersten Ursache, des Schöp- 
fers aller Dinge, vorläufig unbeanstandet mit in sein Den- 
ken auf. Freilich zeigt sich bald, dass es fllr ihn eine 
ganz abstracto Formel ist, die ihren bestimmten Inhalt erst 
erwartet; ein algebraischer Ausdruck so zu sagen, in wel- 
chen die bestimmten Werthe erst eingesetzt werden müssen, 
damit er etwas Wirkliches adäquat ausdrückt. 

Von ihm ursprünglich verschieden ist der Begriff der 
Substanz. Es erschwert ausserordentlich die Eröilemng 
desselben, dass Spinoza von vom herein nii^gends eine De- 
finition von Substanz gibt. Er setzt ohne Weiteres voraus, 
dass das Wort unzweideutig sei und in seinem richtigen Sinne 
verstanden werde; und doch geht scdbon aus dem ersten 



— 15 - 

(Satisey 4&Kn &^ keine endlicbe Sabstanz gebe, hervor, daes 
er einen weit bestimmteren Begriff damit verbindet als die 
gewöhnliche Terminologie. Dieser Begriff lässt sieh aber 
nur ans den Prädicaten, die er ihm beilegt, entnehmen. 

Verfolgen wir diese, nnd den ganzen Znsammenhang 
der Ausfühmng, so ist tdar, dass in dem Leser zunächst 
der Gedanke vieler Substanzen erweckt wird, deren jede 
nur in ihrer Gattung unendlich und vollkommen ist; die 
von einander zwar unabhängig sind und unfähig einander 
zu erzeugen und von einander erzeugt zu werden, die aber 
in gemeinsamer Abhängigkeit von Gott stehen, der als ihr 
Schöpfer, als ihre Ursache gedacht wird. Und suchen 
wir ein concretes Bebpiel zu diesem Begriff, so blicken 
ganz deutlich die denkende und die ausgedehnte Substanz 
durch die Hülle der abstracten Bestimmungen als die Sub- 
jecte heraus, die eigentlich gemeint sind. Die denkende 
und die ausgedehnte Substanz — darin liegt freilich 
implicite schon . die Theorie, dass die Welt des Den- 
kens und die Welt der Ausdehnung je ein Ganzes, eine 
Totalität, ein einheitliches Subject bilden, dessen Erschei- 
nungen und Seinsweisen nur die einzelnen Dinge sind; 
darin liegt das BedtLrfniss, das Viele Gleichartige als be- 
sondere Darstellungen eines unendlichen Einen zu fassen. 
Es gibt keine endliche Substanz, — jede Substanz ist 
il^rem Wesen nach unendlich, — es gibt nicht zwei Substan- 
zen^ die sich gleich wären, heisst dann soviel als: Alle 
einzelnen Dinge, die dasselbe Wesen haben, sind Darstel- 
lungen Einer und derselben Substanz; alle einzelnen Kör- 
per können nur auf ein die ganze £örperwelt, alle ein- 
zelnen Ideen nur auf ein die ganze Ideenwelt umfassendes 
Subject bezogen werden. 

Damit, dass so zunächst an viele, je in ihrer Gattung 
unendliche Substanzen gedacht werden müss, stimmt ttber- 
ein, dass eine wichtige Bestimmung in dieser ersten Aua- 
filhrung fehlt; nemlich die; es liege im Wesen der Sub- 
stanz zu existiren. Nur ftir Gott gilt, da$s die Existenz 



— 16 — 

ans seinem Wesen folgt; nnd Gott existirt nothwendig nieht 
deshalb, weil er Substanz ist, sondern deshalb, weil er ab- 
solut Yollkommen ist. Wohl wird auch jetzt schon be- 
hauptet, dass alles, was als Substanz gedacht werde, exi- 
stire; aber der Grund davon liegt nicht im Wesen der Sub- 
stanz, sondern im Wesen Gottes; in Gottes unendlichem 
Verstände kann keine Substanz gedacht werden, die nicht 
eben so wirklich wäre, der Grund fllr die Existenz der Sub- 
stanzen ist Gottes Allmacht und Güte, vermöge der Alles 
was er denkt wirklich ist. Für die Substanz, sofern sie 
als besondere, nur in ihrer Gattung unendliche und vollkom- 
mene gedacht wird, wird im Gegentheil ausdrücklich ver- 
neint, dass aus ihrem Wesen die Existenz folge.*) 

Ist so die Existenz der Substanzen nur darauf gegrün- 
det, dass Alles, was im göttlichen Verstände ist, auch wirk- 
lich sein muss, so kann es auch nicht befremden, dass 
immer ohne Bedenken von Gott als Ursache der Substan- 
zen, vom Erschaffen derselben die Bede ist; die Beweis- 
ftOirungen alle ruhen auf der Annahme dieses Gedankens, 
der in dem vorliegenden Zusammenhange nirgends als ein 
widersprechender bezeichnet wird. Alles führt zu der An- 
nahme, dass der Grundsatz : Eine Substanz kann die andere 
nicht hervorbringen, nicht auf das Verhältniss Gottes zu 
den Substanzen Anwendung findet, dass damit nur das zeit- 
liche Verhältniss'^*) zwischen den einzelnen Substanzen, 
nicht ihr Gegründeteein in Gott negirt wird. 

*) Scheinbar in Widersprach damit steht der oben angeführte 
Beweis zu dem ersten Satze über die Substanz, wenn es dann heisst: 
Eine Substanz konnte sich unmöglich selbst determiniren, und zwar 
eine Substanz die durch sich selbst gewesen ist. Aber man bemerke, 
dass hier nur hypothetisch gesprochen, eine Seite eines Dilemma 
erörtert wird. Wäre die Substanz endlich, so hätte sie sich entwe- 
der selbst determinirt, oder wäre sie von ihrer Ursache determinirt 
worden. Im ersten Falle ist naturlich vorausgesetzt, dass sie keine 
Ursache hat, also Ton sich selbst existirt. 

**) ^S^' P- ^2* ^^ quod nondum est, nonqnam esse potest, com 
una subBtantia aiteram produeere nequeat. 



— 17 ~ 

Haben so die ersten Erörterungen des Begriffs der 
Substanz eine Vielheit von Substanzen im Sinne, deren 
jede nur in ihrer Gattung unendlich ist, deren Existenz 
in der unendlichen Vollkommenheit Gottes gegründet ist, 
so erhebt sich die Frage : Wie kommt nun Spinoza zu dem 
Satze: Es gibt nur Eine Substanz, und diese ist Gott? 

Unser Tractat zeigt, dass diese Verschmelzung des 
Begriffs der Substanz mit dem Begriffe Gottes ursprünglich 
nicht stattgefunden hat durch die blosse Aualyse des Be- 
griffs der Substanz, vermöge der daraus entwickelt worden 
wäre, dass es in ihrem Wesen liege zu existiren, dass sie 
causa mi und darum vollkommen sei. Diese Analyse 
vollzieht allerdings Spinoza später (bes. Ep. 39. 40. 41.): 
schon der Anhang entwickelt sie vollkommen klar; aber in 
der Entwicklung des Tractats tritt der Begriff der Natur 
dazwischen» und erst durch ihn hindurch wird der Begriff 
der Einen Substanz, welche Gott ist, gewonnen. Der 
Satz: Gott ist die eine Substanz, geht erst aus dem 
andern hervor: die Natur ist Gott 

Der Begriff der Natur erscheint als ein unabhängiger 
Ausgangspunkt neben dem Begriffe Gottes und dem Sub- 
stanzbegriffe. Auch dieser Begriff tritt unvermittelt auf, 
ohne durch eine Definition eingeführt zu sein. Im ersten 
Gapitel ist natura gleichbedeutend mit essentia gebraucht; 
im zweiten bezeichnet es die Totalität des Seienden, Bealen, 
wenn es im ersten und vierten Satze heisst, dass in Gottes 
Verstand keine Substanz sei, die nicht ebenso vollkommen 
in der Natur existire. Dem Inbegriff des bloss Möglichen, 
Gedachten, wird also die Natur als die Gesammtheit des 
Bealen, Wirklichen gegenübergestellt, und es wird aus dem 
Wesen Gottes bewiesen, dass Natur und göttlicher Ver- 
stand, Eeales und Ideales denselben Umlang haben, und 
in allen Punkten sich decken. 

Wie ist es nun zu verstehen, wenn für Spinoza ans 
der Erörterung des Begriffs der Substanz folgt, „dass 

Sigwart, Spinoza's Tractat. 2 



— 18 ~ 

von d^r K ato r Alles in Allem ausgesagt wird; dass die 
ÜTatnr aus unendlich vielen Attributen besteht^ deren jedes 
in seiner Gattung yoUkommen ist, dass sie also mit der 
Definition, die man von Gott gibt, völlig übereinstimmt ?'' 

Man könnte versucht sein^ diesen überraschenden 
üebergang, durch den mit einem Schlage die Natur gleich 
Gott gesetzt wird, sich so zu erklären, dass man als den 
Grundgedanken Spinoza's den der Identität von Denken und 
Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit hinstellte. Gott würde 
den Inbegriff alles Seienden implicite, als gedachte Einheit, 
als ideale Möglichkeit darstellen ; die Natur den Inbegriff 
alles Seienden als explicirte Totalität, als verwirklichte 
Idee, als realisirte Potenz. Aus der Identität von Denken 
und Sein würde von selbst die Gleichung zwischen Gott 
und der Natur folgen, kraft der in der Totalität des Wirk- 
liehen ebensoviel gesetzt ist als im Wesen Gottes ideell 
liegt; und der eigenthümliche Standpunkt Spinoza's, sein 
Realismus würde eben darin bestehen, dass für seine Auffas- 
sungsweise diejenige Seite der Gleichung, auf der das Reale 
steht, mit Einemmale in den Vordergrund tritt, dass er das 
unendliche Wesen Gottes als des Inbegriffs aller Realität 
statt in der intelligibehi Einheit, in der es sich in der 
Formel des ens perfectissimum darzustellen pflegt, vielmehr 
in der expliciten Gesammtheit anzuschauen vorzöge. 

Man würde damit das Verhältniss der Begriffe Gott 
und Natur in einem Sinne fassen, der dem ganzen Geiste des 
Spinozismus nicht widerstrebt und sich wiederholt geltend 
macht; aber man würde damit schwerlich den Entwicklungs- 
gang seiner Gedanken getroffen haben. Vielmehr wenn 
wir Alles überlegen, erscheint diese Art vom Begriffe Gottes 
auf den der Natur zu kommen durch den Nachweis, dass 
Alles, was in Gottes Verstände sei, auch wirklich sein 
müsse, als ein Gang, den bloss die Darstellung nimmt, als 
ein künstlicher Versuch den traditionellen Gottesbegriff, wie 
er von Cartesius überkommen war , mit dem Begriffe der 



- J9 - 

^fatur zu vermitteln; ein Vemch, der dadurch bßd^pg^ VV^ 
dass Spinoza mit den Gartesianischen Bew^isep fürs Dasei^i 
Gottes seinß Apftihrung begonnen hatte. Dew die Auffa^i- 
snng der Natijr als des Inbegriffs alles Seienden, al? der ab- 
soluten, durch sich selbst existirenden Einheit upd Totalit&t, 
in der ß.lles Mögliche wirklich, alles Ideale zugleich real ist, 
ist nach andern Stellen fllr Spinoza ein völlig ursprünglicher, 
nicht aus seinem Gottesbegriff erst abgeleitete! Gedanke, eine 
Grundanschauung, die den Werth eines Axioms ftlr ihn 
b^-t. Dies geht einmal daraus hervor, dass in der ange- 
führten Stelle das Resultat — die Natur ist Gott — , offenbar 
iiicht mit Evidenz aus den Prämit^scn hervorgeht, sondern 
in völlig überraschender Weise hervortritt ; femer daraus, 
dass für die Einheit der Substanz neben dem, Gottesbegriff 
als zweiter, davon völlig unabhängiger Grund die Einheit 
der Natur auftritt, die wir tiberall sehen, dass gleich 
darauf die Natur als dasjenige bezeichnet wird, was von 
keiner Ursache kommt, und von dem wir doch wisseiji, 
dass es ist. Viel schlagender aber zeigt den Begriff der 
Natur als einen fundamentalen der erste Dialog, der seiner 
ganzen Haltung nach von den bisher besprochenen -Aus- 
führungen unabhängig einen selbstständigen Anlauf nimmt, 
und dessen Darstellung uns um so wichtiger ist, weil wir 
in ihm einen noch früheren Versuch vermuthen dürfen. 

Den Dialog, dessen Personen die Liebe, der Intellectus, 
die Ratio und die Begehrlichkeit sind^ eröffnet die Liebe 
mit einer Frage an den Intellectus. Meine VoUtom- 
menheit, sagt sie, hängt von deiner Vollkommenheit 
ab; deine Vollkommenheit aber von dem Gegenstand, den 
du begreifst. Sage mir nun^ ob du ein höchst vollkommenes 
Wesen begriffen hast, das von nichts Anderem begrenzt 
wird, und in welchem auch ich begriffen bin. Die Natur 
in ihrer Totalität, antwortet der Intellectus, betrachte 
ich als unendlich und höchst vollkonunen. Und diesen 
Ausspruch bestätigt die Ratio: denn, sagt sie, wenn wir 
die Natur begrenzen wollten, müsstei^ wir sie, was unge- 

2* 



~ 20 — 

reimt ist^ durch das Nichts begrenzen, und zwar durch ein 
einiges, ewiges, durch sich selbst unendliches Nichts. Diese 
Ungereimtheit vermeiden wir, wenn wir sie als ewige, un- 
endliche, allmächtige Einheit setzen, die unendliche Natur 
nemlich, in der Alles begriflTen ist; ihre Negation nen- 
nen wir Nichts. Und ähnlich wie hier die Idee der 
Einheit und Unendlichkeit der allumfassenden Natur vor* 
angestellt ist, geschieht es auch im Anhang. Dort fehlt 
jede Definition Gottes, jeder Beweis für seine Existenz, 
jede Nennung eines allervoUkommensten Wesens. Die vier 
ersten Sätze beziehen sich allein auf das Wesen der Sub- 
stanz, die in ihrer Gattung unendlich ist, durch sich selbst 
existirt, und von keiner andern erzeugt werden kann. Und 
dann folgt ohne weiteren Uebergang das schon oben ange- 
ftthrte Corollarium: Die Natur wird durch sich selbst und 
durch nichts Anderes erkannt. Sie besteht aus unendlich 
vielen Attributen, deren jedes unendlich und in seiner 
Gattung vollkommen ist, zu dessen Wesen die Existenz ge- 
hört, so dass ausser ihr kein Wesen ist noch sein kann, 
und sie also genau mit der Definition des allein herrlichen 
und hochgelobten Gottes übereinkommt. 

Der Dialog zeigt uns nun aber nicht bloss den Begriff 
der unendlichen Natur als einen ursprünglichen, sondern 
auch den Uebergang von hier zu der Behauptung der 
Einen Substanz. Gegen die Behauptung nemlich, dass 
die Jlatur Eine sei, erhebt die „Begehrlichkeit" Einsprache. 
Ihr stimmt es wunderlich zusammen, dass die Einheit mit 
der Verschiedenheit, welche sie überall in der Natur sieht, 
übereinkommen soll Die denkende Substanz hat keine 
Gemeinschaft mit der ausgedehnten Substanz, und eine 
begrenzt die andere; neben und über diese beiden aber noch 
eine dritte zu stellen, verwickelt in offenbare Widersprüche. 
So kennt also die Begehrlichkeit nur Verschiedenheit in 
der Natur, und will bei den zwei getrennten Substanzen, 
der denkenden und der ausgedehnten stehen bleiben. 
Gegen sie wendet sich zuerst die Liebe, welche sich nicht 



~ 21 — 

mit Vielem und Entgegengesetztem vereinigen kann, ohne 
dass Hass und Reue daraus folgt; und dann werden jene 
Gründe von der Ratio (p. 38. 40) widerlegt: „Wenn du 
sagst, o Begehrlichkeit, dass du verschiedene Substanzen 
sehest, das sag' ich dir ist falsch; denn ich sehe klar, 
dass es nur eine einzige gibt, die durch sich selbst be- 
steht und aller andern Eigenschaften Träger ist*). tWenn 
du dann das Körperliche und Geistige Substanzen nennen 
willst, in Hinsicht auf die Modi die davon abhängen, 
wohlan, dann musst du sie auch Modi nennen in Hin- 
sicht auf die Substanz, von welcher sie abhängen; denn 
als durch sich selbst bestehend werden sie von dir nicht 
begriflfen; sondern auf dieselbe Weise, wie Wollen, Füh- 
len," Denken, Lieben u. s. w. verschiedene Modi dessen 
sind, was du die denkende Substanz nennst, auf welche 
du sie alle beziehst und zu Einem machst'*''^): so schliesse 
ich auch durch deine eigenen Beweise, dass die unend- 
liche Ausdehnung und das unendliche Denken zusammen 
mit andern unendlichen Attributen, oder, deiner Redeweise 
zufolge, Substanzen nichts Anderes sind als Modi des eini- 
gen, ewigen, unendlichen und durch sich selbst bestehen- 
den Wesens, in dem Alles Eins und einig ist, und ausser- 
halb welcher Einheit man sich nichts denken kann/' 

Diese Ausführung des Dialogs lässt keinen Zweifel 
übrig, dass ftlr Spinoza der erste und höchste Begriff, den 
der menschliche Verstand denkt, der der unendlichen, all- 
umfassenden Einheit der Natur ist. Sie ist das Ewige, 
Unendliche, Allmächtige, sie ist dasjenige, das von keiner 
Ursache kommt, durch sich selbst existirt, und keiner Ab- 
leitung bedarf; es wird nicht gefragt, woher sie ist; wir 

*) p. 39: toant klaardyh eie ik, dat *er maar een eenige tV, 
die door zieh zelf hestaat , en van alle andere eigengchappen een 
onderhouder ta. Vergl. auch p. 206: Da die ganze Natur nur 
Eine Substanz ist, so sind aUe Dinge durch die Natur vereinigt zu 
Einem, nemlieh Grott. 

**) p. 41: waar toe gy die alle brengt en tot een tnaaht. 



— 22 — 

riehen sie^ und sehen ihre Einheit. Diese allumfassende 
Einheit wird näher dadurch bestimmt, dass sie die Eine 
Substanz genannt wird, in der die Selbstständigkeit der 
denkenden und ausgedehnten Substanz untergeht. Die 
Natur ist das Eine Sein, die Trägerin von Allem; alle& Be- 
sondere kann nur als Bestimmung und Eigenschaft dieses 
Einen Seins gedacht werden, und das liegt eben in dem 
Ausdruck: sie ist die Eine Substanz. Es ist dabei bemer- 
kenswerth, welche Bedeutung für Spinoza hier der Sub- 
stahzbegriflf hat. Diejenige Seite desselben, welche durch 
seinen Gegensatz gegen den Begriff des Modus bezeichnet 
ist, vermöge der er etwas ftlr sich und nicht an einem an- 
dern Existirendes bezeichnet, verschmilzt sich mit dein an- 
dern Momente, nach welchem er den Einen Grund vieler 
Erscheinungen, das Eine Sein in vielen Dingen aus- 
drückt; und die letztere Seite des Begriffs bildet offenbar 
den nervus probandi in dem Beweise, dass, wie alle Er- 
scheinungen des Denkens auf Eine denkende Substanz be- 
zögen und in ihr zur Einheit zusammengefasst werden, so 
auch Denken und Ausdehnung selbst mit allen andejren 
Stibstanieil nur Modi des Einen Wesens sein können, in wel* 
chfeifi Alles Eins und einig ist. Es ist der Begriff der Ein- 
heit, zu dem Spinoza's Denken hindrängt; nur in diesem 
Gedanken findet er Ruhe; nur die allumfassende, absolut 
unendliche Einheit des Seins bedarf fär ihn keiner wei- 
teren Erklärung, sie existirt durch sich selbst and noth- 
wendig, die Besonderheiten existiren nur an ihr und durch 
sie« DarauS) dass Alles in letzter Instanz nur begriffen 
werden kaün, wenn es Eine Einheit bildet, geht ihm her- 
vor, da«B eh nur Eine Substanz gibt. 

Nur so ist es erklärlich, wie nach einer Seite hin 
Spinoza, iti Ufebereinstimmtmg mit den Sätzen tibfer die 
Substanz am Anfange des zweiten Capitels, den Sprach- 
gebraucii noch gelten lassen kann, vermöge dessen die 
denkende und die ausgedehnte Substanz de& von ihnen ab- 
hängige^ Modis gegenüber immerhin Substanzen genannt 



— 23 — 

werden sollen*) Es ist dieselbe Unterseheidtitig, die atieh 
jene Sätze machen: Denken und Ausdehnung sind Sub- 
stanzen, sofern sie in ihrer Gattung unendlich, alles ein^» 
zelne Denken und alle einzelne Ausdehnung nur Modifica- 
tlonen ihres unendlichen Seins^ sind; aber sie sind nicht 
durch sich selbst; so lange sie als besondere gefasst wer- 
den; durch sich selbst ist nur die Einheit^ ausser der Nichts 
ist, und ihre Existenz kann also als nothwendig nur be^ 
griffen werden, sofern sie in dieser Einheit eingeschlossen^ 
Bestimmungen des Einen Allwesens sind. Insofern als sie 
ihrer Existenz nach abhängig sind von der Existenz des 
Einen, darf man sie nicht Substanzen nennen. 

Am Schlüsse des Dialogs wird nun der Begriff der 
unendlichen Einheit noch mit dem der Ursache und dem 
des Granzen in Beziehung gesetzt. Ist die Einheit eine 
allumfassende, ausser der Nichts ist, so ist sie nothwendig 
zugleich das Ganze, die Totalität des Seins. Aber, Wendet 
die Begehrlichkeit ein, das Ganze sei ja nur ein Ens ra* 
tionis; ein blosser Begriff; das Beäle sind allein die Theile, 
und nur vom Verstände werden sie zum Ganzen zusammen- 
gefasst. Wolle man die Substanz als Einheit festhalteUi 
80 könne man sie nur als die Eine Kraft denken, aus der 
die einzelnen Erscheinungen hervorgehen, als die Eine 
Ursache der verschiedenen Wirkungen; dann aber könne 
sie nicht zugleich Ganzes sein. 

Dies, entgegnet die Eätio, wäre richtig, wenn es nur 
eine übergehende Ursache gäbe; diese ist allerdings ausser- 
halb ihrer Wirkungen, und kann nicht zugleich die Tota- 
lität derselben sein. Die immanente Ursache (inblijvende 
oorzaak) aber, die nichts producirt, was ausser ihr wärei 
ist Ursache und Ganzes zugleich. Der Verstand ist Ur- 
Sache seiner Ideen, sofern sie von ihm abhängen; er ist 
hinsichtlich des Bestehens seiner Begriffe (d. h. sofern seine 

*) Cum extensio substantia sitj aagt er selbst noch p. 30, nach» 
dem er sie schon als Attribut Gk>ttes bestimmt hatte. 



— 24 — 

Begriffe als wirklich existirend gedacht werden); ihr Ganzes. 
Ebenso ist Gott nach einer Seite immanente Ursache seiner 
Wirkungen, nach der andern ihre Totalität. 

Freilich, den Begriff des Ganzen auf die unendliche 
Einheit, auf das Verhältniss der immanenten Ursache zu 
ihren Wirkungen anzuwenden, hat seine eigenthttmlichen 
Schwierigkeiten, mit denen Spinoza sich wiederholt be- 
schäftigt. Nicht nur darum, weil Theile des Unendlichen 
selbst wieder unendlich sein mttssten*), sondern haupt« 
sächlich aus dem von Spinoza consequent festgehaltenen 
Gesichtspunkte, dass der Begriff des Ganzen nur ein Enn 
rationisy eine secunda intentio**) nach scholastischer Rede- 
weise sei. Das Ganze unterscheidet sich vom Allgemeinen 
(Universale) nur dadurch, dass das Allgemeine aus ver- 
schiedenen nicht vereinigten Individuen desselben Ge- 
schlechts, das Ganze aus verschiedenen vereinigten Indivi- 
duen desselben Geschlechts oder verschiedener Geschlechter 
gebildet wird.***) So kann es keine wesentliche Bestim- 
mung sein; es setzt die Dinge, die zum Ganzen vereinigt 
werden, als vollkommen fertige Existenzen schon voraus, 
und ihre Vereinigung zum Ganzen fügt ihrem Begriffe 
nichts hinzu. So erklärt es sich, wie Spinoza selbst in der 
Anwendung des Begriffs schwankt ; nachdem er im ersten 
Dialoge den Verstand als immanente Ursache seiner Ideen, 
Gott als immanente Ursache seiner Werke selbst als 
,Ganze^ bezeichnet hatte, wendet er im zweiten Dialoge 
die Sache so, dass Gott zusammen mit seinen Werken ein 
Ganzes bilde, so dass diese als ein von ihm Verschiedenes 
zu ihm hinzukommen ; und er erläutert ausführlich, warum 
die Essenz Gottes nicht vermehrt werde, wenn man seine 
Wirkungen mit ihm zu Einem Ganzen zusammenfasse. So 



•) p. 32. 

**) Dieser oder ein gleichbedeutender Ansdrack liegt jedenfalls 
SU Grunde, wo der holländische Text ^weede kundigheid^ (p- 41) hat. 
•••) p. 46. 



— 25 — 

wenig als die £sseiiz eines geschnitzten Kopfes vermehrt 
wird, wenn man ihn mit einer geschnitzten Brust zu einem 
Ganzen vereinigt; so wenig die Idee des Dreiecks ver- 
mehrt wird; wenn ich einen Aussenwinkel hilde und dar- 
aus den Satz ableite^ dass der Aussenwinkel den beiden 
inneren Gegenwinkeln gleich ist^ so wenig wird Gottes 
Essenz vermehrt , wenn ich mir die von Gott gewirkten 
Dinge aufs Engste mit ihm vereinigt denke. Denn es 
wird dadurch kein neues Attribut in Gott gesetzt. 

Scheint es nach dieser AusfUhrung, als ob der Begriff 
des Ganzen nur angewendet werden könnte , wenn man sich 
die Wirkungen Gottes als besondere Individuen neben Gott 
als Individuum denkt, oder wenn man ihn zu einem blossen 
Ens rationis machen wollte, zu der nur vom Verstände zu- 
sammengefassten Totalität der Einzeldinge : so will doch 
Spinoza es nicht aufgeben, Gott auch als Ganzes seiner 
Wirkungen zu betrachten, und die Ausdrücke, dass er aus 
Allem, was ist besteht (p. 212), dass alle Dinge in Eins, 
nemlich Gott, vereinigt sind (p. 206), dass in ihm keine Modi 
sind, als die in den Creaturen sind (p. 212), lassen keine 
andere Deutung zu, als dass Gott die Totalität alles Seins 
ist, — wie ja auch in der Ethik immer wieder das Einzelne 
als Theil des unendlichen Seins Gottes dargestellt wird. 

Es scheint uns vollkommen deutlich zu sein, dass nur 
darum, weil das Ganze nach gewöhnlicher Logik die Theile 
voraussetzt, Spinoza mit diesem Begriffe so vorsichtig ist. 
An und ffXr sich ist ihm der Gedanke der unendlichen Ein- 
heit, der Natur in ihrer Totalität der ursprüngliche ; der Be- 
griff der Ursache wird demselben conformirt durch die Un- 
terscheidung der immanenten und der transeunten Ursache, 
oder vielmehr, durch den Begriff der causa immanens wird 
der Begriff der unendlichen Einheit erst in ein vollkommen 
klares Yerhältniss zu dem Vielen, was sie in sich befasst, 
gebracht Wenn man nur den Begriff der Einheit hätte/ 
so könnte es scheinen, als ob damit nur ein Ens rationis, 



— 26 — 

eine Zusammenfassnng Vieler im meDschlichen VerBtande, 
ein Totam gemeint wäre ; aber die Einheit ist eine reale, 
sie ist das Prins zn dem Vielen, sie ist Ursache, aber eine 
solche, die die Wirknng nicht aus sich entlässt, sondern 
in sich befasst, und darum kann man sie, sobald feststeht, 
dass sie causa ist, auch ohne Gefahr des Missrerständ- 
nisses Totum nennen, indem man die einzelnen Dinge als 
wirklich existirend fasst. Die reale Einheit ist durch den 
Begriff der causa gesichert. 

Geht aus dieser Ausführung des ersten Dialo^rs her- 
Yor^ dass für Spinoza die Einheit der unendlichen Natur 
ein durch sich selbst gewisser Begriff ist, eine ufsprttng- 
liche Anschauung, auf die er nur hinzuweisen braucht, um 
zu zeigen, dass ihr gegenüber ron selbstständigen Sub- 
stanzen nicht die Rede sein könne : so begreifen wir nun 
auch, warum in der vorangehenden Ausführung des zwei- 
ten Capitels für den Satz, dass alle Attribute, die in der 
Natur sind, nur Ein Wesen sind, zwei von einander gang 
unabhängige Gründe angeführt werden können: einmal 
der l^egriff Gottes, als des absolut unendlichen Wesens, 
dessen nothwendige Existenz bewiesen worden ist; tttid 
dann die Einheit, die wir überall in der Natur sehen, und 
die unmöglich wäre, wenn mehrere von einander unabhängige 
Substanzen da wären ; die Einheit, die wir in uns selbst, als 
Einheit von Denken und Ausdehnung, verwirklicht wissen. 

Wir haben deutlich in dem Dialoge und in dem ihm 
vorangehenden zweiten Capitel zwei einander nicht con- 
gruente Entwicklungen. Der Dialog geht aus von der läeb 
der unendlichen Einheit der Natur, und weist sie gegen 
die Behauptung verschiedener Substanzen als die Eine 
allumfassende Substanz nach, welche nicht bloss als Totalität^ 
sondern zugleich als Ursache gefasst werden muss. Die 
Entwicklung des Capitels stellt den Gottesbegriff voran und 
versucht aus ihm und dem Begriff der Substanz die Folge- 
sitze abzuleiten; aber sievemiag das nicht durchzufthren, 



- 27 - 

ohnö daöfl sie gleichfalls den Begriff der Natur als einen 
selbstständigen Ansgangspnnkt hereinnimmt, und dadurch 
den Gang der Beweise verwickelt. Der Dialog femer setzt 
ahne Weiteres die Begriffe der denkenden und der ausge- 
dehnten Substanz als gegeben voraus; die ihm vorange- 
hende Ausführung des zweiten Gapitels hat sie wohl im 
Sinn bei ihren Erörterungen über das Wesen der Substanz, 
versucht aber erst, nachdem sie diesen Begriff zu dem des 
Einen Wesens in Beziehung gesetzt hat, Ausdehnung und 
Denken als seine uns bekannten Attribute nachzuweisen, 
auch dies aber, indem sie immer schon voraussetzt, dass 
die Ausdehnung ihrem Wesen nach unendlich, d. h. nach 
den Definitionen des zweiten Gapitels Substanz sei. Der 
Dialog argumentirt klar und consequent von der An- 
sehanung der wirklichen Natur als unendlicher Totalität 
aus; das zweite Gapitel versucht aus abstracten Begriffen 
zu deduciren, vermag aber den Begriff der Natur doch 
tdcht zu entbehren. 

Den Sinn der Einen wie der andern Ausftlhrung aber 
können wir in dem Satze zusammenfassen : Was man ver- 
möge des Begriffes der Substanz an und für sich als 
verschiedene von einander unabhängige Substanzen denken 
könnte, wie Denken und Ausdehnung, das lässt sich als 
wirklich exfstirend nur denken, wenn man es als Be-^ 
Stimmung des Einen unendlichen Allwesens denkt, das 
allein durch sich selbst existirt. Was wir für Sub- 
stanzen halten wollten^ das weist sich als Attribut 
der Einen Natur, der Einen Substanz aus, die Inbegriff 
alles Seins ist, deren Existenz unmittelbar gewiss, mit 
ihrem Wesen identisch ist. Diese Natur, dieses allumfas- 
sende Wesen ist Gott. 

Wit haben, um den Zusammenhang nicht zu unter- 
bl^cchen, einö längst nahe gelegene Frage zu erörtern 
verschoben — in welches Verhältniss der Tractat die Be- 
griffe Substanz und Attribut bringt. Wir hoffen zeigen 



~ 28 — 

ZQ können^ dass dieser schwierigste Punkt des Spinozisti* 
sehen Systems aus dem Tractate neues Licht gewinnt. Die 
Erörterung desselben wird uns auch den Substanzbegriff von 
einer neuen Seite zeigen. 

3. Der Begriff des Attributs. 

Es wiederholt sich bei diesem Begriffe dasselbe^ was 
wir beim Begriff der Substanz beobachtet haben. Er wird 
von vom herein nicht definirt; wir müssen aus dem Zu- 
sammenhang errathen , in welchem Sinne Spinoza das Wort 
brauchte ; und die Gonsequenz der aus der Erörterung des Be- 
griffs sich ergebenden Folgerungen wird unterbrochen durch 
den schon sonst feststehenden Satz von der Einen Substanz 
mit unendlich vielen Attributen, deren jedes unendlich ist. 

Fragen wir zunächst nach der Bedeutung des Worts, 
das im holländischen Texte durch Eigensehap gegeben ist*), 

*) Es ist freilich schwer, unter der iminei^in sehr wahrschein- 
lichen YorauBsetzung, dass wir im holländischen Texte eine Ueber- 
setzung aus dem Lateinischen vor uns haben, über Spinosa's Sprach- 
gebrauch in der lateinischen Urschrift völlig ins Klare zu kommen, 
und sicher zu sein, dass überall, wo der holländische Text Eigen' 
schappen hat, im lateinischen Original cuttrilmta stand. Yan Yloten 
hat das angenommen, indem er überall, wo das Holländische Eigen- 
schap hat, dafür attributum setzt, das holländische Tooeigening 
und eigen dagegen mit praprietas und proprium Viedergibt. 

Ich kann Dr. Böhmer nicht beistimmen, wenn er (Fichte's Zeit- 
schrift Bd. 42, S. 7S) meint, er und v. Yloten hätten eigenschap nicht 
durch attributum wiedergeben sollen, sondern überall durch pro- 
prietas. Denn eigenschap steht im holländischen Texte an allen 
den Stellen, wo nach dem Sprachgebrauch der Ethik gar nichts An- 
deres stehen kann als attribtOurn, Ebenso ist proprietas für toeeige- 
ning gewiss die richtige Uebersetzung, wie sich an allen Stellen, wo 
es vorkommt, leicht aus dem Zusammenhang ergibt. Die Stellen 
S. 60 und 62, wo im hoUändischen Text eigenschap steht, während 
y. Yloten proprietas übersetzt, erledigen sich einfach durch die ein- 
leitenden Worte des Cap. 3.S. 51, wo es heisst: Wy zuUen teegen- 
woordig aanvangen om te handelen van die e igenschapp en Goda^ 
weihe wy eigene genaamd hebben^ Darauf bezieht sich zurück 
S. 61 : JDus verre van de eerate eigenschap Gods^ und S. 63 Cap. 6. 



- 29 — 

so wird es von rom herein in ganz allgemeinem Sinne 
gebraneht. 

Wenn der Znsatz zn S. 6 nnter den unendlich vielen 
Eigenschaften Gottes auch die Eigenschaft, welche „Sein" 
ist, findet, so ist ihm also Eigenschaft oder Attribut 
Alles was von einem Subjecte prädicirt werden kann. 
Sonst ist von dieser Ausdehnung des Worts keine Spur; 
es bezeichnet vielmehr einfach die Kategorie der Qualität, 
in dem Sinne, in welchem Cartesius (Princ. Phil. I, 52) 
aUHbuta mit proprietates und qualitates gleichbedeutend 
braucht, wenn er sagt: nihili nuüa sunt attributa^ nullaeoe 
proprietates aut qualtatesy oder (ib. 56) modi, attributa und 
qualitates als Ausdrücke nennt, die dasselbe, nur von ver- 
schiedenen Gesichtspunkten aus, bezeichnen. Was ein Ding 
ist, wird durch seine Attribute ausgedrückt, sein qualitativ 
bestimmtes So oder So sein. So erscheint das Wort, wenn 
er ausführt, was etwas sei, sei es dadurch, dass ihm ein 
oder einige Attribute zukommen ; das unendliche Sein, das 
alle Bealität in sich begreife, müsse darum auch alle Attri- 
bute in sich befassen. 

Eine genauere Abgrenzung erfährt der Begriff Attribut 
in specieller Erörterung der Attribute Gottes. Es wird 
(p. 34 ff.) von den Attributen Gottes geredet, welche wahr- 
haft Attribute sind, durchweiche wir ihn in sich selbst 



De derde eigenschap. Das ist nur abgekürzte Bedeweise für die 
nähere Bestimmung eigenschap ^ die toy eigen noemen^ wie sich aas 
dem dazwischen stehenden Anfang des 5. Cap. ergibt. Van Yloten 
hat also in diesem Fall den genaueren Ausdruck gesetzt. Das hollän- 
dische eigenschap begreift attributum im späteren Sinn und Spinoza*s 
prcprietas als seine Species unter sich. Die Annahme, dass in dem 
ursprünglich lateinischen Text überall attributum gestanden habe, 
wo jetzt im holländischen eigenschap steht, kommt übrigens mit 
keiner einzigen Stelle in Widerspruch, sobald wir, was wir ohne- 
dies müssen, voraussetzen, dass Spinoza zunächst attributum in dem 
weiteren und allgemeineren Sinn genommen habe, in dem er es 
nach damaligem Sprachgebrauch nehmen konnte, um erst allmählich 
den ihm ganz eigenthümlichen Begriff des Attributs zu fixiren. 



- 90 ^ 

VüoA nicht als auBser «ieh wirkend bereifen. Dius AP^W' 
tritt damit gegenüber dem proprium^ mit d^pi. es im 
Eingange der Schrift noch verwechselt wfir; das proprium 
bezieht sich auf die Kategorie der Relation, ist eine „aus- 
wendige Benennung", drückt die Art und Weise der Wir- 
kung aus. Es dient wohl dazu ein Ding von allen andern 
zu unterscheiden, aber es sagt nicht, was es seinem inne- 
ren Wesen, seiner Natur nach sei.*) Es ist nur ein ab- 
stracter Verstandesbegriflf, kein solcher, der an sich selbst 
einen bestimmten Inhalt hätte, er bezeichnet nichts Sub- 
stantielles. So sind ewig, einzig, unveränderlich, Ursache, 
Lenker aller Dinge als Prädicate Gottes propria; sie sagen 
nicht, was Gott seiner Natur nach ist.**) Spinoza unter- 
scheidet auch wohl im Zusatz zu p. 72 propria, die Gott nach 
allen Attributen zukommen, wie Ewigkeit, Causalität, und 
solche, die ihm nur nach einem einzigen zukommen, wie All- 
wissenheit nach. dem Attribute des Denkens, Allgegenwart 
nach dem Attribute der Ausdehnung, während im Tejte p.75. 
76 die Prädicate allwissend, barmherzig u. s. w. eben- 
deswegen von Gott verneint werden, weil sie ein be- 
stimmtes Attribut und nicht bloss Gott als das durch sich 
selbst bestehende Wesen voraussetzen. 

Drückt nun das Attribut das Wesen eines Dinges aus, 
wie es in «ich ist, so erheilt dai'aus auob da^ Yerhältniss 
dieses Begriffs zu dem der Substanz. Ist die Substanz 
ihrem Wesen nach unendlich, so muss nothwendig auch 
ihr Attribut unendlich, eben Ausdruck dieses unendlichen 
Wesens sein, Substanz und Attribut sind im Begriffe 
schlechterdings d^selbe, die Substanz wird ^Is das was 
sie ist eben durch das Attribut gedacht; und so geltep 



*) p. 34. 74. Ejnsdem attribtUi und ejusdem naturae sagt das- 
flelbe. p. 236. 

♦*) Dieselben Prädicate heissen aber wieder p. 36 Attribute (Ei- 
geuBcliappen). Einige derselben, die göttliche Causalität, Providenz^ 
Prädestination, werden in besonderen Capiteln abgehandelt. 



— 31 — 

Ton Sübstana and Attribut ganz dieselben BestimiiraBgeii. 
Omnis Bubstantia, sive ejus attributa, infimta estfBhgt des- 
halb Spinoza.*) Dieses Yerhältniss ist mn so einleuch- 
tender, so lange wir von der Substanz nur wissen^ dass sie 
in ihrer Gattung unendlich ist; denn was ihre Gattung, 
ihre unterscheidbare Bestimmtheit ist, wird eben durch das 
Attribut angegeben. Die Substanz ist durch ihr Attribut 
das Princip der von ihr abhängigen Dinge, sofern diese 
ein bestimmtes Wesen haben müssen; man sagt dasselbe, 
wenn man sagt, dass sie Modi ihrer Substanz, als dass sie 
Modi ihres Attributs sind; sie können ohne ihr Attribut 
nicht bestehen. 

Insoweit scheinen die Bestimmungen klar zu sein. 
Derselbe Begriff kann Attribut heissen, sofern darin ein 
unendliches Quäle ausgedrückt ist, Substanz sofern er als 
ftlr sich existirend gedacht wird ; jedes Attribut setzt aller- 
dings, sobald man es als existirend denkt, eine Substanz 
voraus, deren Attribut es ist; aber abgesehen ron der 
Existenz drückt es nichts als ein unendliches Wesen aus. 

Der logische Charakter des Attributbegriffs erhellt be- 
sonders deutlich, wo er den Begriffen der einzehien Dinge 
gegenübergestellt wird. Diesen gegenüber sind Attribute 
diejenigen Begriffe, welche keinen andern mehr voraus- 
setzen der in ihnen mitgedacht würde : sie sind mit andern ^ 
Worten die höchstenGattungsbegriffe desSeien- 
den, diejenigen Begriffe, die durch keine höhere Gattung 
mehr definirt werden können.**) Diese ganz charakteri- 
stische Bestimmung wird im Zusammenhange mit der Lehre 
von der Definition weiter entwickelt. Wir setzen um ihrer 
Wichtigkeit willen die ganze Stelle (p. 76 ff.) her. 

,^]Nach der gewöhnlichen Meinung besteht eine regel- 
rechte Definition aus genus und differentia. Obgleich das 

•) p. 236. 

**) p. 46: Omnia aitrihviay guaeah aUa eausa non pendent, et 
ad quae describenda non opus sit genere ,. . 



- 32 - 

ftber von allen Logikern zugestanden wird, weiss ich doch 
nicht, woher sie das haben; denn wenn diese Regel Mrahr 
wäre, so gäbe es nichts was wir wissen könnten. Wir 
wttrden nemlich dann die oberste Gattung, die keinen he- 
beren Gattungsbegriff mehr über sich hat, nicht dnrch eine 
Definition vermittelst des genua und der differentia zu be- 
schreiben, also nicht vollkommen zu erkennen vermögen; 
und wenn wir die höchste Gattung, welche der Erkennt- 
nissgrund für alle andern Dinge ist, nicht kennen, so kön- 
nen wir noch viel weniger die andern Dinge, welche darch 
diesen Gattungsbegriff erklärt werden, begreifen oder er- 
kennen. 

Da wir jedoch frei und durch die Meinungen der 
Schule nicht gebunden sind, so werden wir, der wahren 
Logik zufolge, andere Gesetze der Definition aufstellen^ , 

der Unterscheidung gemäss, die wir in der Na- 
tur machen 

Wir haben nun schon gesehen, dass die Attribute oder, 
wie Andere sie nennen, Substanzen, Sachen sind, oder, um 
besser und eigentlicher zu reden, Ein durch sich selbst 
bestehendes Wesen ist (das hoU. hat ia) und deshalb durch i 

sich selbst sich selbst zu erkennen gibt und offenbart. / 

Und was das Andere anbelangt, so sind das nur Modi der I 

Attribute, ohne welche sie nicht bestehen noch verstanden 
werden können. Darum muss nun die Definition von 
zweien Arten oder Sorten sein; nemlich 

1) die Definition der Attribute, die eines selbstständi- i 

gen Wesens sind ; welclie keine Gattung oder irgend etwas 
Anderes brauchen, wodurch sie besser verstanden oder er- 
klärt wttrden, weil sie als Attribute eines durch sich selbst 
bestehenden Wesens auch durch sich selbst erkannt werden.*) 

*) Der holländische Text bietet hier Schwierigkeiten, tmd wexm 
er anders vom Herausgeber richtig gegeben ist, so würde gerade 
diese Stelle die Angabe, dass wir eine Uebersetzung vor uns haben, 
in hohem Grade bestärken. Der erste Satz lautet: Wy hebben «u 



— 33 — 

2) Die Definitionen der Dinge, die nicht durch sich 
selbst bestehen, sondern allein durch die Attribute, deren 
Modi sie sind, und durch welche, als ihre Gattungsbegriffe, 
sie verstanden werden müssen. 

Diese Stelle wird nun aus zwei Gründen verwickelt: 
einmal weil die logische Betrachtung des Attributbegriflfs 



alreede gezien , dat de Eigenschappen , zoo anderen die noemen^ 
zelfstandigheeden, zaaken zijn, of^ om beeter en eigendlyker te zeggen, 
een door zieh zeJfs bestaande weezen is , en derhcdven door zieh zelf 
zieh zelfs te kennen geeft en vertoont. Da schon eine frühere SteUe 
sagt , ^dat alle deeze eigenschappen, die in de natuur zijn^ tnaar een 
eenig wezen en geenzins verscheiden bennen*, der Ausdruck also: die 
Attribute sind Ein Wesen, nichts Anstössiges haben kann , so erle- 
digt sich der auffällige Singular is, geeft ^ vertoont ganz einfach, 
wenn wir annehmen, dass der Uebersetzer einen lateinischen Infinitiv 
irrthümlicher Weise in den Singular, statt Plural verwandelt hat. 
Das Lateinische hätte geheissen: Vidimus aitriliUa sive secundum 
aliorum dicendi rationem substantias res esse, vel, ut melius dica- 
mus, unwm ens esse per se existens, ideoque per se semet ipsum 
cognoscere faciens et manifestans. So gibt auch van Yloten die 
Stelle wieder, nur dass er das wesentliche unum auslässt. 

Weniger sicher lässt sich das folgende zurechtlegen. Die erste 
Art der Definition ist Van de Eigenschappen, die van een zelf be- 
staande weezen zijn. Das kann nicht anders gelautet haben als: 
Attributorum quae entis sunt per se exisientis (sc, attributa) , wie- 
wohl man nach dem vorangehenden eher erwartet hätte: guae ens 
sunt per se existens. Die folgende Zeile ist klar. Dann aber heisst 
es : want acmgezien zy als Eigenschappen van een loeezen door zieh 
zelf bestaande zijn, zoo worden zy ook door zieh zelfs bekend. Die 
Uebersetzung van Vlotens: nam quia, uti entis cujusdam attri- 
buta, per se existunt, etiam per se nota fiunt, ist jedenfalls falsch. 
Entweder muss das Lateinische geheissen haben: nam quia ut entis 
illius unici attributa per se existunt, etiam per se nota fitmt; oder, 
was mir noch wahrscheinlicher ist, sollte das door eich zelf bestaande 
doppelt stehen, so dass das Lateinische gelautet hätte: nam quia 
ut entis per se exisientis attributa per se existunt, etiam per se nota 
fiunt. Dass den Attributen das per se existere zugeschrieben wird, 
ist durch den (regensatz, dass die andern Dinge nur durch die attri- 
buta bestehen, und durch die Gleichung attributa = ens per se 
existens gerechtfertigt. 
- S ig wart, Spinoza's Traciat. 3 



— 34 - 

und die metaphysische Betrachtung des Attributs ungeson- 
dert ineinander fliessen, und dann, weil von den Attribu- 
ten nicht mehr in abstracto die Bede ist, sondern schon 
von den Attributen des Einen, absolut unendlichen , durch 
sich selbst bestehenden Wesens. Dadurch kommt aber in 
den Begriff des Attributs eine Bestimmung herein, die auf 
den ersten Anblick eine contradictio in adjecto scheint: dass 
es durch sich selbst existire. 

Sehen wir von dieser doppelten Verwickelung ab und 
versuchen wir die Fäden, die zu diesem Knoten zusammen- 
laufen, einzeln auseinanderzulegen, so ist zunächst die lo- 
gische Unterscheidung ganz klar zwischen Begriffen, die zu 
ihrer Definition eines höheren Gattungsbegriffs bedürfen, und 
solchen, welche als oberste und höchste Gattungsbegriffe 
durch sich selbst klar sein müssen. Es ist die Vor- 
aussetzung alles Denkens und Erkennens, dass es solche 
Begriffe gebe*). Was so durch sich selbst begriffen wird, 
heisst Attribut. 



*) p. 76. 78. Die Lier entwickelte Lehre von der Definition ist der 
im Tractatus de intcllectus emendatione (p. 449 ff. bei Paulas) ent- 
haltenen sehr ähnlich. Der oben entwickelten Unters clicidung der 
Definitionen der Attribute und der Modi entspricht dort die Unter- 
scheidung der Definition der ungeschaffenen und der geschaffenen 
Dinge; die ersteren, die in sich, causa sui sind, müssen durch 
ihre blosse Essenz begriffen werden, so dass jede Ursache aus- 
geschlossen, die Existenz in der Definition selbst eingeschlossen ist; 
die Definition der geschaffenen Dinge muss ihre nächste Ursache 
mit enthalten. Der bemer^cnswcrthe Unterschied ist aber, dass im 
tract. de intell. emcnd. die metaphysische Auffas.^ung ganz an die 
Stelle der logischen getreten, statt des gcnus die causa genannt 
wird , dass ferner gefordert wird, in der Definition des ungeschaffenen 
Dings müsse seine Existenz eingeschlossen liegen. Dies bezeichnet 
gegenüber der Darstellung unseres Tractats einen entschiedenen 
Fortschritt. Denn während in diesem die Natur der Attributbegriffe, 
vermöge der sie durch sich selbst verstanden werden, daraus abge- 
leitet wird, dass sie ein durch sich selbst bestehendes Wesen aus- 
machen, wobei die Erkenntniss, dass dieses Wesen durch sich selbst 
bestehe, anderswoher vorausgesetzt wird: wird im Tract. de intell. 
emend. gefordert, dass diese letztere Erkenntniss mit der Definition 



— 35 — 

Es ist klar, dass es ebejosogut Substanz heisaen 
könnte, und nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch so 
heisst. So lange wir nur von dem logischen Gesichtspunkte 
der Beziehung des vielen Gleichartigen auf seinen höchsten 
Gattungsbegriff, seiner Zusammenfassung zur Einheit aus- 
gehen, lässt sich wieder zwischen Attribut und Substanz kein 
innerer Unterschied entdecken. Denken und Ausdehnung 
sind solche Begriflfe*). Sie werden von allen Begriffen 
der einzelnen Dinge vorausgesetzt, und setzen selbst keinen 
weiteren voraus. Logisch betrachtet haben wir das Becht 
sie Substanzen zu nennen; da sie aber zugleich das Quäle 
bezeichnen, sind sie eo ipso auch Attribute**). 

Nun sind nach dem ganzen Geiste des Systems die 
logischen Verhältnisse mit den realen identisch. Den rea- 
len hat sich die Untersuchung zuerst zugewandt. Es war 
zuerst von den Substanzen, ihrer Unendlichkeit u. s. t die 

selbst gegeben sei, in der logischen Unabhängigkeit zagldch der 
Erkenntnissgrund der metaphysischen Aseität liege. Dies passt aber 
natürlich nur auf die Definition der Substanz, die Ursache ihrer 
selbst und aller andern Dinge ist; der unklare Begriff des durch 
sich selbst existirenden Attributs ist damit aufgegeben, frelüdli zu- 
gleich der Begriff des Attributs überhaupt umgangen. 

' Auf denselben Tractat de intell. emend. weist auch der Zusatz 
p. 50 hin: die folgenden Eigenschaften (causa, Providentia, praede- 
stinatio etc.) sind propria, weil sie nichts sind als Adjectiva, welche 
nicht ohne ihre Substantiva gedacht werden können. Unter den Be- 
geln für die Definition der res increata (Paulus p. 451) steht nem- 
Uch, sie dürfe keine Substantiva enthalten, welche adjectivirt wer- 
den können, d. h. sie dürfe nicht durch abstracta gegeben wer. 
den. Was Spinoza hier abstracta nennt, heisst in unserem Tractat 
propria. 

*) Vergl. auch Cart. princ, phil. 1 , 48 : Non autem plura quam 
duo summa genera rerum agnosco: unum est verum intelleclua- 
lium, sice cogitativarum^ aliud rerum materialium, 

**) Cogitatio et extensio spectari possunt ut constüuentes na- 
turas suhslantiae intelligentis et corporeae, tuncgue non a^Mer cau' 
dpi debent quam ipsd suhsiantia cogitans et substantia extetua. 
Cart. princ. 1, 63. 

3* 



— 36 — 

Sede; von dem was durch sich selbst existirt, der absolut 
unendlichen Einheit, und dem was nur existirt, weil jene 
unendliche Einheit existirt; von der Causa und dem was 
von ihr abhängig ist. Es ist natürlich, dass dieses reale 
Verhältniss nun hier als Grund des logischen erscheint. 
Was durch sich ist, muss auch durch sich begriflfen werden. 
Was von keiner andern Ursache abhängt, dessen BegriflF 
kann auch von keinem andern Begriffe abhängig sein. Es 
muss durch sich selbst klar sein/ sich durch sich selbst 
offenbaren. Was durch sieh selbst ist, ist nur das Eine, 
schlechthin unendliche Sein. Jeder Begriff also, der wahr- 
haft unabhängig, höchster Gattungsbegriff ist, kann es nur 
sein, weil er das Wesen dieses Eiiien beschreibt, ein Aus- 
druck seiner durch sich existiren<^ Unendlichkeit ist. 
Alle höchsten Gattungsbegriffe sind also nothwendig Be- 
griffe, deren Inhalt dasselbe Eine ist, sind seine Attribute; 
und insofern kann man auch von den Attributen sagen, 
dass sie durch sich selbst sind und sich selbst klar machen ; 
eben weil sie nichts anderes sind als die Substanz selbst. 
Oder, um es von anderer Seite darzustellen: Aus dem 
blossen Begriffe des Attributs als höchsten Gattungsbegriffs, 
oder, was gleichbedeutend ist, der in ihrer Gattung unend- 
lichen Substanz ; folgt an und fßr sich und direct nicht, 
dass alle Attribute Einer und derselben Substanz ange- 
. hören, alle Substanzen nur Attribute des Einen Wesens 
sind. Im Gegentheil: je bestimmter logisch die Begriffe 
Substanz und Attribut identificirt werden, desto weniger 
folgt aus der blossen Analyse der Begriffe, dass verschie- 
dene Attribute, wie wir sie factisch in unserem Denken 
finden, nicht auch verschiedene Substanzen seien. Aber so 
lange wir sie getrennt halten, finden wir keinen Grund 
ihrer Existenz; ihre Existenz folgt nicht aus ihrem Wesen. 
Um sie als existirend, als real zu begreifen, können wir sie 
nur auf das Eine Allwesen beziehen, das allein nothwen- 
dig existirt. Dadurch wird, was zunächst als nur in ihrer 
Gattung vollkommene Substanz zu denken war, zum 



— 37 - 

Attribut der Einen Substanz, mit keiner andern Modifica- 
tion des Begriffs, als dass der Grund der Existenz jetzt flir 
alle derselbe, nicht mehr für die verschiedenen Attribute 
verschieden ist. Sind sie Attribute des durch sich exi- 
stirenden Wesens, so nehmen sie an seiner Aseität Antheil^ 
sie sind gleichfalls durch sich selbst. 

Wir finden, indem wir nach durch sich selbst klaren, 
höchsten GattungsbegriflFen suchen, Ausdehnung und Den- 
ken. Sowohl Ausdehnung als Denken wird durch sich 
selbst begriffen. Sie sind Attribute. Beziehen wir sie auf 
zwei Substanzen, so heisst das so viel: der Grund durch den 
das Denken existirt, ist ein anderer als der, durch den die 
Ausdehnung existirt. Aber wir kennen nur Eines, das durch 
sich selbst existirt, das absolut unendliche Sein; was existirt, 
muss durch dieses und als seine Bestimmung existiren; 
und auch factisch existiren sie nicht unabhängig von einan- 
der, sie bilden das Eine Ganze der Natur, sie bilden im 
Menschen eine Einheit und darum kann ich sie nicht als 
gesonderte Substanzen, sondern nur als Attribute Eines und 
desselben Wesens, der Natur oder Gottes denken. Dieser 
Gedanke liegt auch vollkommen deutlich in dem Satze, 
mit dem der Beweis zur Prop. 3 des Anhangs (p. 236) 
beginnt: keine Substanz ist von einer andern hervor- 
gebracht; wenn sie also realiter existirt, so ist sie entwe- 
der ein Attribut Gottes, oder ausserhalb Gott ihre eigene 
Ursache. 

Daraus lässt sich endlich verstehen, wie der Zusatz 
zu p. 72 sagen kann: Anlangend die Attribute, aus wel- 
chen Gott besteht, so sind sie nichts als unendliche Sub- 
stanzen, deren jede selbst unendlich vollkommen sein muss; 
und ebenso wie p. 182 Spinoza die reale Existenz der 
Körperwelt folgendermassen beweisen kann: Gott ist ein 
Wesen von unendlich vielen Attributen, deren jedes unend- 
lich ist; die Ausdehnung ist ein in seiner Gattung unend- 
liches Attribut, also nothwendig ein Attribut Gottes^ Gott 



— 40 — 

fassenden Einheit zusammen, deren Einheit er im BegriflFe 
der Einen Substanz mit zwei Attributen, deren aUes um- 
fassende Unendlichkeit er im Begriffe der Substanz mit 

unendlich vielen Attributen fixiite. 

« 

Dieser ganze Gedankenzusammenhang, den wir eben 
verfolgt haben, um das Verhältniss des Attributbegriffs 
zum Begriffe der Substanz und zum Begriffe Gottes aus- 
einanderzulegen , diese ganze Identificirung von Attribut 
und Substanz, ruht nun offenbar darauf, dass in den all- 
gemeinen Begriff der Substanz die Bestimmung, dass sie 
durch sieh selbst existirt, noch* nicht aufgenommen, er also 
mit dem Begriffe Gottes noch nicht schlechthin identisch 
gesetzt ist. Dies geschieht erst im vierten Satze des An- 
hangs. Er lautet: Zum Wesen einer Substanz gehört es, 
von Natur zu existiren: so sehr dass es unmöglich ist, in 
einem unendlichen Verstand die Idee des Wesens einer Sub- 
stanz zu setzen, die in der Natur nicht existirt. Damit 
ist also die Existenz der Substanz nicht mehr auf die 
Identität des göttlichen Denkens mit dem Sein gegründet; 
sie folgt aus dem Wesen der Substanz selbst, und die 
Uebereinstimmung der Idee der Substanz im unendlichen 
Verstand mit der Realität ist nicht Grund, sondern Folge 
ihrer nothwendigen Existenz. Der Beweis für diesen Satz 
argumentirt rein aus dem Begriffe der Substanz. Die wahre 
Essenz des Objects einer Idee ist etwas von dieser Idee 
Verschiedenes, und entweder [durch sich]*) wirklich existi- 
rend oder begriffen in einem anderen wirklich existiren- 
den Ding. Nun ist es ein Widerspruch, dass, was als 
Substanz gedacht wird, in Wirklichkeit an einem anderen 
existire; also ist die Substanz ein Ding, das durch sich 
selbst besteht. 

Es ist keine Frage, dass dieser Schritt consequent 
war. Es ist so zu sagen der ontologische Beweis flir den 

*) Dieses ,durch sich' muss, wie aus dem Zusammenhang un- 
zweifelhaft ^hellt, ergänzt werden. 



— 41 — 

Substanzbegriff; die volle Uebereinstimmung de» Denkens 
und Seins ist jetzt erst hergestellt Aber nun treten andere 
Schwierigkeiten ein: es muss aus dem Begriffe der Sub- 
stanz nachgewiesen werden, dass nur Eine absolut unend- 
liche ist; und es muss auseinandergesetzt werden, wie die 
verschiedenen Begriffe, die durch sich selbst klar sind, und 
also Anspruch haben als durch sich selbst seiend gedacht 
zu werden , wie z. B. Denken und Ausdehnung zu diesem 
Begrifle der Einen Substanz sich verhalten; es kommt jetzt 
nicht mehr die Anschauung der Einen unendlichen Natur 
zu Hülfe, sondern rein aus den Definitionen heraus ist der 
Begriff der Substanz mit dem Begriff Gottes zu identificiren. 
Das ist die Aufgabe, die sich der Anfang der Ethik stellt; 
und damit ist zugleich eine andere Bestimmung des Ver- - 
hältnisses zwischen Substanz und Attribut nothwendig ge- 
worden, welche erklärt, wie denn viele Attribute und doch 
Eme Substanz möglich sind. 

Es ist von Interesse in Spinoza's Schriften den Gang 
zu verfolgen, welchen die Bestimmung des Verhältnisses 
zwischen Substanz und Attribut nimmt. Aus dem Tractat 
geht unzweifelhaft hervor, dass die Schwierigkeit, der das 
Scholion zu Prop. 10. der Ethik begegnet, die Schwierig- 
keit, zwei von einander völlig getrennte, in gar keiner 
logischen Beziehung stehende Attribute Einer Substanz zu- 
zuschreiben, für Spinoza damals gar nichtj vorhanden war, 
einfach deswegen nicht, weil der ihn beherrschende Ge- 
danke der der Einheit der unendlichen Natur, der Totalität 
des Seienden ist, in der ohne Widerspruch zwei von ein- 
ander unterschiedene Welten, deren jede in sich unendlich 
ist, zusammengedacht werden können. Für diesen Stand- 
punkt ist es kein Widerspruch, dass Zwei Eins und Eins 
Zwei seien; so lange der Ausdruck erlaubt ist, dass Gott 
aus unendlich vielen Substanzen besteht, so verhält sich 
das Eine Wesen zu seinen Attributen wie das Ganze zu 
den Theilen, und dass sie Attribute, nicht Substanzen 
heissen, drückt nichts aus, als dass sie eben zur Einheit 



— 44 — 

er durchaus Cartesius gefolgt, so würde sich damit die De- 
finition der Substanz ^quod per se concipüur^ nicht vertragen, 
wenigstens in dem Sinne nicht, in dem er die Formel sonst 
braucht, da von einem directen concipere der Substanz 
abgesehen von ihrem Attribut gar nicht die Bede sein 
könnte; und Cartesius spricht (§. 53) von Begriffen, die 
durch sich verstanden werden, im Gegensatz gegen die, 
welche nur durch andere erklärt werden können, eben in 
Beziehung auf die Attribute. Dazu kommt, dass bei Car- 
tesius der Begriff des Attributs seine ursprüngliche Bedeu- 
tung eines Prädicats, einer Eigenschaft, durchaus beibe- 
halten hat; während er bei Spinoza einen substantiellen 
Inhalt gewinnt, in den Sätzen, dass ein Attribut auf das 
andere wirke u. s. f. immer eine Hypostasirung vorausge- 
setzt ist. Diese Incongruenz des Inhalts mit dem Wort- 
laute und seiner ursprünglichen Bedeutung, die Spinoza 
nachträglich wieder einflihrt und benützt, nachdem sie 
factisch verloren gegangen war, scheint mir die Haupt- 
quelle der Schwierigkeiten zu sein, welche seine späteren 
Aeusserungen über diesen Gegenstand bieten. 



4. Der Begriff des Modus. 

Eben so unvermittelt wie der Begriff des Attributs, 
und eben so wenig scharf begrenzt von Anfang an wird 
der Begriff des Modus eingeführt. Es wird vorausgesetzt, 
dass man die Bedeutung des Wortes kenne; und in dem 
ersten Dialog wird der Begriff des Attributs von dem des 
Modus nicht unterschieden.*; „Wenn man das Körperliche 

*) vgl. Gart. Princ. phil. 1, 56: . . , per modos plane idem in- 
teUigimuSy quod alibi per attrihuta vel qualitates, Sed cum con- 
sideramus suhstantiam ah Ulis affici vel variarij vocamus modos; 
cum ab üta vc^tattone talem posae denomtnariy vocamus qualitates; 
ac denique cum generaliier spectamus tantum ea stihstanUae inesse^ 
vocamus attributa. 



— 45 — 

und Intellectnelle Substanzen nennen will^ gegenüber den 
Modis (wijzen), die davon abhängen, so mnss man sie 
ihrerseits Modi nennen gegenüber der Substanz, von der 
sie abhängig sind. Gerade so wie Wollen, Empfinden 
n. s. w. nur verschiedene Weisen der denkenden Sub- 
stanz sind, auf welche sie bezogen und in welcher sie 
zur Einheit zusammengefasst werden — so sind auch 
Denken und Ausdehnung selbst mit allen anderen unend- 
lich vielen Attributen oder nach anderer Redeweise Sub- 
stanzen nur Modi des einen ewigen, unendlichen, durch sich 
existirenden Wesens".*) Dieser Sprachgebrauch, nach wel- 
chem Attribut und Modus dasselbe bezeichnen können, setzt 
voraus, dass Denken und Ausdehnung zu dem Einen Sein 
sich in derselben Weise verhalten, wie die einzelnen Ideen 
zu dem Einen unendlichen Denken, die einzelnen Körper 
und ihre Eigenschaften zu der Einen Ausdehnung, d. h. 
dass das Eine Sein ebenso der höchste Gattungsbegriflf zu 
Denken und Ausdehnung ist, wie Denken und Ausdehnung 
zu den unter ihnen befassten einzelnen Modis. Diesen 
Sprachgebrauch muss also Spinoza aufgeben und den Be- 
griff des Modus im Unterschiede vom Attribut bestimmter 
fassen, sobald er die Attribute selbst als höchste Gattungs- 
begriffe hinstellt — in der oben schon angeführten Stelle 
über die Definition p. 78 ff. Danach ist Modus alles das, 
was, um begriffen zu werden, eines höheren Begriffs be- 
darf, und also auch um zu existiren eines Anderen, das 
durch sich selbst existirt. Damit ist also der Unterschied 
von- Modus und Attribut festgestellt. 

Das Yerhältniss des Modus zu dem, dessen Modus er 
ist, erscheint weit häufiger unter der geläufigeren Bezeich- 
nung der Wirkung einer Ursache, oder des Ge- 
schöpfes.**) Gott ist causa aller Dinge, sofern ohne ihn 
nichts bestehen noch begriffen werden kann. Und zwar 



*) p. 38. 40. 
**) Modi eive creaturae p. 80. 



— .48 — 

wegung in der Materie ist von Ewigkeit gewesen, wird 
in alle Ewigkeit unveränderlich bleiben, ist in ihrer Art 
unendlich, kann aber nicht durch sich selbst existiren 
noch begriffen werden, sondern nur vermittelst der Aus- 
dehnung. Von ihr will ich, da sie eigentlicher zur Ab- 
handlung über die Natur als hieher gehört, nur sagen, dass 
ich sie Gottes Sohn und unmittelbares Werk und Ge- 
schöpf nenne. Ebenso ist der Intellectus Gottes Sohn, 
unmittelbares Werk und Geschöpf, von Ewigkeit zu Ewig- 
keit unveränderlich; sein Wesen ist, alles klar und deut- 
lich in allen Zeiten zu verstehen, woraus ein unendliches 
vollkommenes und unveränderliches Genügen entspringt, 
das nicht nachlassen kann zu thun was es thut".*) 

Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass Spi- 
noza hier die Idee des ?^6yog oder voug im alexandrinischen 
oder neuplatonischen Sinne im Auge hat; dass er aus Gott 
den Intellectus als die Quelle und Gesammtheit aller Ideen 
hervorgehen lassen und ihn als unmittelbar Erzeugten ein 
schieben will zwischen die Eine Ursache und die Vielheit 
der Ideen der einzelnen endlichen Dinge, die erst als Wir- 
kungen und Geschöpfe des Sohnes aufgefasst werden 
(denn ausdrücklich sind die allgemeinen Modi Ursachen 
der einzelnen Dinge) ; und kaum lässt sich die Vermuthung 
abhalten, dass er, indem er die ewige Genüge, aus der 
ewiges Wirken hervorgehe, damit in Verbindung bringt, 
an jene Deutung der Trinitätslehre gedacht habe, wonach 
der Geist als die Einheit des Vaters und des Sohnes, und 
zugleich als das Princip des schaffenden göttlichen Lebens 



*) p. 82. vergl. p. 244 f. Wenn an letzterer SteUe das Attri- 
hulum cogitans selbst als der Sohn Gottes bezeiclinet zu werden 
scheint, so würde das nur beweisen, wie vollständig der ursprüng- 
liche Begriff von Attribut für Spinoza in einer Hypostasirung des- 
selben untergegangen ist. Allein die Worte: attributum cogita/na 
sive iiUellectum in re cogitcmte filium Dei diximiis, müssen wohl 
so erklärt werden, dass ^sive intellectum in re cogäante^ als berich- 
tigender Ausdruck gesetzt ist. 



— 49 — 

gedacht wird. Aus dieser Einführung theologischer Be- 
griffe darf dann der weitere Schluss gezogen werden, dass 
er der unveränderlichen Bewegung, die er aus der Physik 
des Cartesius als Dogma hertibernahm, die Bedeutung habe 
geben wollen, dass sie das Princip der Vielheit der ein- 
zelnen Dinge sei*), wie er denn auch die einzelnen Körper 
nur nach der bestimmten Proportion von Ruhe und Bewe- 
gung unterscheidet. Für jene dunkele und durch die be- 
kannte Stelle des 66. Briefs bisher nur sparsam erhellte 
Lehre der Ethik von den unendlichen Modis kann es wohl 
keinen vollständigeren Commentar geben, als diese später 
unterdrückte Hereinziehung des Ao/ocbegriffs. Hier ist 
offenbar der Punkt, in welchem die Behauptung eines ema- 
natistischen Elements in der Spinozistischen Lehre einen 
Anhalt und eine Bestätigung finden kann; hier zeigt sich 
aber auch zugleich der mächtige Einfluss, den die carte- 
sianische Physik auf Spinoza ausgeübt hat, und die na- 
turaliö^tische Grundlage seines Gottesbegriffs, wenn er die 
Bewegung, die er als eine anfangslose und ewige anneh- 
men muss, ebenso wie den unendlichen Verstand zu einer 
Art göttlichen Wesens hypostasirt. 

lieber die besonderen Modi ist es schwer, nähere 
Bestimmungen zu finden. Was Spinoza darunter versteht, 
ist vollkommen klar, aber über ihr Verhältniss zu den 
allgemeinen Modis spricht er sich so wenig deutlich aus 
als in der Ethik. Es ist hauptsächlich Eine Stelle im 
zweiten Dialogenfragment, wo er darauf zu reden kommt**). 
Es lässt sich einwerfen: Wenn Gott immanente Ursache 
der Dinge ist und die Wirkung einer immanenten Ur- 
sache dauert so lange die Ursache dauert, wie ist es 
möglich, dass die einzelnen Dinge vergehen? Diesen Ein- 



*) Vergl. die Epp. 70 und 72, wo Spinoza noch 1676 erklärt, 
ans dem Begriffe der Ausdehnung allein lasse sich die Vielheit ver- 
schiedener Körper jiicht begreifen. 

**) p. 48. 

ISigwart, Spino»'8 Tractat. 4 



- 50 — 

wnrf beantwortet er mit einer Unterscheidimg. Es gibt 
unter dem, was nothwendig erfordert wird dass eine Sache 
sei, Einiges, was die Sache hervorbringt, und Einiges, was 
sie möglich macht (die hervorbringende Ursache und die 
Bedingung); z, B. um ein Zimmer zu erleuchten, öffne ich 
ein Fenster; aber die Oeffnung des Fensters macht das 
Licht nicht, sondern macht nur möglich, dass es ein- 
dringen kann. Oder, damit ein bestimmter Körper sich be- 
wege, braucht es einen Körper, der die Bewegung^ die jener 
erlangen soll, schon hat. Das Hervorbringende der Be- 
wegung ist die Bewegung; die Bedingung aber der stos- 
sende Körper. Aus Gott gehen die allgemeinen unverän- 
derlichen Ursachen hervor; die Bedingungen ihrer Wir- 
kung im Einzelnen liegen wieder im Einzelnen. Die Ab- 
hängigkeit irgend einer einzelnen Sache von einzelnen Be- 
dingungen hebt also die unmittelbare Causalität Gottes nicht 
auf. Diese Unterscheidung zwischen Ursache und Bedingung 
hat Spinoza in der Ethik wieder aufgegeben, wenn er I, 28 
das Einzelne zum Sein und Wirken determinirt sein lässt 
durch eine Ursache, welche endlich ist und determinirte 
Existenz hat, d. h. durch Gott, sofern er durch eine bestimmte 
einzelne Modification modificirt ist; dagegen stimmt zu der 
früheren Anschauungsweise eine Stelle desTractats de intell. 
emendatione. Dort spricht er von einer doppelten Causal- 
reihe, der seriea rtrum fixarum aetemarumque und der seriea 
rerum singularium mutabiUum*), Die letztere ZU erkennen 
ist unmöglich, theils wegen der zahllosen Menge des Ein- 
zelnen, theils wegen der unendlich vielen Umstände (cir- 
cumstantiae) für jedes einzelne Ding, deren jeder Ursache 
sein kann, d^ss das Ding existirt oder nicht existirt. Darum 
ist es nicht möglich, diese Gausalreihe des Einzelnen zu 
verfolgen; es ist aber auch nicht nothwendig, denn die 
Ordnung der Existenz des Einzelnen gibt uns nichts als 
Relationen, „auswendige Benennungen^' **), höchstens Um- 

*) Vol. II. p. 452. der PauluB*8chen Ausgabe. 
**) Vgl. oben p. 28. 



-^ 51 ~ 

stände, was Alles weit verschieden ist von dem Wesen 
der Dinge. Dieses ist aus den festen und ewigen Dingen 
und den Gesetzen in diesen Dingen abzuleiten, nach denen 
alles Einzelne geschieht und geordnet wird. Diese ver- 
änderlichen einzelnen Dinge hängen so innig und wesent- 
lich von jenen festen ab, dass sie ohne sie nicht sein noch 
begriflfen werden können. So werden jene ewigen und 
festen Dinge, obgleich Einzelwesen, wegen ihrer Allgegen- 
wart und weit sich erstreckenden Macht die Stelle von 
Universalien oder Gattungsbegriffen für die Definition der 
einzelnen veränderlichen Dinge einnehmen, und die causae 
proximae aller Dinge sein. 

Diese Ausführung will offenbar eben so zwischen der 
wesentlich hervorbringenden Ursache, die den einzelnen 
veränderlichen Dingen gegenüber ein Allgemeines ist, und 
der flir den einzelnen Fall eintretenden Bedingung oder 
dem Umstände unterscheiden, wie der Tractat, wenn er 
dem, was eine Sache hervorbringt, das gegenüberstellt, 
was die Sache möglich macht. Das Hervorbringende, die 
eigentliche Ursache des Einzelnen ist in der Körperwelt 
immer die Bewegung, in der Ideenwelt der Intellectus; 
und Bewegung sowohl als Intellectus sind eine res fixa 
und aetema, kein blosser Allgemeinbegriff, sondern ein 
Existirendes und insofern auch Einzelnes, kein Universale 
oder blosses ens rationis. Die Bedingung ist die bestimmte 
und wechselnde Vertheilung von Ruhe und Bewegung 
im Einzelnen, die vorübergehende Wirklichkeit einzelner 
Ideen*). 

An die Erörterung des Verhältnisses zwischen Gott 
und seinen Modis, das durch den Causalitätsbegriff ausge- 
drückt wird, schliessen sich in C'ap. 4. 6. und 10: die wei- 
teren Ausführungen an, in denen die absolute Notb- 

*) Ohne Zweifel hat Spinoza hier die baconische Unterschei- 
dang der Formen ron den verar lassenden Ursachen vor Augen ge- 
habt. S. daß Nähere im Excurs. 

4* 



— 62 — 

wendigkeit des göttlichen Wirkens behauptet und be- 
wiesen wird. Da sie nichts Charakteristisches enthalten^ 
führen wir nur kurz die Hauptgedanken an: Es streitet 
mit der Vollkommenheit Gottes, dass er unterlassen könnte, 
was er wirkt; Gott wäre veränderlich, wäre ein anderer 
Gott, also nicht das Yollkommenste Wesen, wenn andere 
Wirkungen von ihm ausgegangen wären. Seine Freiheit 
besteht nur darin, dass er als causa prima von keinem 
anderen Dinge gezwungen nur durch seine Vollkommenheit 
Ursache aller Vollkommenheit ist. Er wirkt nicht, was er 
wirkt, weil es gut ist; denn damit würde etwas ausser ihn 
gestellt, das ihn verpflichtete, oder sein Begehren be- 
stimmte. 

Daraus ergibt sich femer, dass Alles in der Natur 
nothwendig ist, dass es also nichts bloss Mögliches, d. L 
nichts gibt, was sein und auch nicht sein könnte. Alles, 
was nicht durch seine Ursache mit Nothwendigkeit be- 
stimmt ist, ist unmöglich; Alles, was nicht die Ursache, 
warum es ist, in sich selbst hat, ist durch eine Ursache 
ausser ihm bestimmt. 

Daraus folgt ferner, dass Alles absolut vollkommen ist 
und die Begriffe von Ordnung und Unordnung, Gut und Böse 
nur subjective Bedeutung haben, nur Belationen und aus der 
Gewohnheit, allgemeine Begriffe zu bilden, entstanden sind. 
Den allgemeinen Begriffen aber entspricht keine Realität; 
die realen Dinge sind durch besondere Begriffe bestimmt. 
Jedes Ding ist darin vollkommen, dass es mit seiner be- 
sonderen Idee übereinstimmt; und die Vollkommenheit der 
Welt besteht darin, dass Gott allen Dingen von den klein- 
sten zu den grössten ihr Wesen gibt, oder vielmehr, dass 
er Alles vollkommen in sich selbst hat. 

5. VerhältnisB der beiden Attribute und 
ihrer Modi. 
Die Gausalverhältnisse unter den einzelnen Modis kön- 
nen aber nicht vollständig dargestellt werden, ohne dass 



— 5.3 — 

das Verhältniss der beiden Attribute, von denen 
sie abhängen, erörtert wird. Die sehr bemerkenswerthen 
Sätze, welche abweichend von der späteren Auflfassung 
der Tractat hierüber aufstellt, werden uns einerseits den 
Begriff der Natur noch näher aufklären, andererseits eine 
Beihe von scheinbaren oder wirklichen Inconsequenzen der 
Ethik als Folge der früheren Betrachtungsweise erscheinen 
lassen. 

Eben jene Ansicht nemlich, welche die Ethik so sorg- 
fältig und vorsichtig zu vermeiden trachtet, dass eine Wech- 
selwirkung stattfinde zwischen Körperwelt und Welt 
der Gedanken, ein gegenseitiges Leiden des einen Attri- 
buts von dem andern, ist nicht nur nicht ausgeschlossen, 
sondern sie wird ausdrücklich durch die Einheit der Natur, 
welche nur Ein Ganzes ausmache, begründet. 

Zwar wird scheinbar die spätere Lehre in ihrer gan- 
zen Strenge vorgetragen, wenn es heisst, dass alle Modi, 
welche die Ausdehnung voraussetzen, auf das Attribut der 
Ausdehnung, alle welche Denken voraussetzen, auf das 
Attribut des Denkens bezogen werden müssen; wenn ge- 
lehrt wird, dass Bewegung und Ruhe als die einzigen 
Modificationen der Ausdehnung immer nur von Bewegung 
und Ruhe hervorgebracht werden können, und dass keine 
Weise des Denkens in einem Körper Bewegung oder Ruhe 
zu erzeugen vermöge; dass ebenso umgekehrt die Wir- 
kungen des Denkens, da sie keine Beziehung auf die Aus- 
dehnung haben, keineswegs der Ausdehnung, sondern allein 
dem Denken als ihrer Ursache zugeschrieben werden müs- 
sen*). Aber hart daneben wird ganz unbefangen davon 
gesprochen, dass ein Attribut auf das andere wirke, und 
von dem andern leide**). Durchweg erscheint das Kör- 
perliche als Ursache seines entsprechenden Abbilds in 



*) p. 184. 186. Wir nehmen einiges aus dem zweiten Theile 
voraus. 

♦•) p. 186. 188. 



- 54 -^ 

der Welt der Ideen*); jedem existirenden Ding entspricbt 
seine Idee, die von ihm ausgeht, von ihm ihren Ursprung 
hat, und deshalb mit ihm entsteht, sich verändert und ver- 
geht**). Gerade die späteste Fassung des Anhangs lehrt dag 
am bestimmtesten. Aus der Unendlichkeit des denkenden 
Attributs wird abgeleitet, dass nichts real existiren könne, 
dessen Idee nicht im Attribut des Denkens wäre — denn 
dann wäre dieses nicht vollkommen; aber nirgends wird 
nun das Verhältniss der einzelnen Ideen zum Attribut des 
Denkens so dargestellt, dass sie allein aus ihm hervoiv 
giengen; keine Spur von dem fünften Satze des zweiten 
Buchs der Ethik, dass die Objecte der Ideen nicht Ursache 
der Ideen seien, dass nur parallel den Modificationen der 
Ausdehnung die Ideen allein aus dem unendlichen Denken 
folgen, und nur sich selbst unter einander bedingen: son- 
dern immer gehören zur bestimmten Idee zwei Ursachen, 
einmal das Attribut des Denkens, und dann das real exi- 
stirende Object***); und auch hier noch findet sich der 
Ausdruck, dass die Idee von der Existenz ihres Objectes 
ausgeht (ontstaatj, und daher mit ihm sich verändert und 
vergeht. 

Die Idee eines einzelnen Dinges nun, welche von ihm 
im Attribut des Denkens erzeugt wird und Alles das ideell 
(objective) enthält, was in dem Dinge real (formaliter) ist, 
ist mit ihm vermöge der allgemeinen Einheit der Natur ver- 
einigt und heisst insofern seine Seele. Die Einheit der 
Seele mit dem Körper aber besteht in nichts Anderem als 
in ihrer Abhängigkeit von der Existenz und allen Verän- 
derungen des Körpers****). Daraus folgt sogleich, dass 



•) p. 206. 

*•) p. 208. 240. 244. 
***) p. 242. , , . ad existentiam ideae sive eesentiae ohfectivae 
nihil aliud postulatur nisi attrihutum cogitana et ohjectum sive 
essentia formalis. Jenes bedingt so zu sagen die Fonn, dieses den 
Inhalt der Idee. 
») p. 240. 



~ 55 - 

Alles beseelt ist. Dieser Gedanke erscheint bekanntlich 
anch in der Ethik fSchol. zu Prop. 13 des 2. Buchs), wird 
aber dort nicht weiter verfolgt; hier dagegen hält Spinoza 
ihn fest und flihrt ihn in eigenthümlicher Weise aus. Jedes 
Dinges Seele erkennt ihren Körper, und es ist die ur- 
sprüngliche Wirkung des Körpers auf die Seele, 
dass diese ihres Körpers und dessen, was in ihm vorgeht, 
bewusst wird*). Aus diesem Begriffe der Seele geht ferner 
hervor, dass nichts in uns ist, dessen wir uns nicht be- 
wusst werden könnten; denn da nichts ohne seine zuge- 
hörige Idee ist, so ist auch von Allem, was — sei es im 
Attribute der Ausdehnung oder in einem der anderen un- 
endlich vielen Attribute — real ist, Wissen und Bewusst- 
sein da und mit ihm verbunden. 

Insoweit hängt also die Seele durchaus vom Körper ab; 
denn da die Bewegungen und Veränderungen des Körpers 
nur von körperlichen Veränderungen erzeugt werden, so 
ist es unmöglich, dass die Seele den Körper bewege. Aber 
nur in dem Sinne, dass sie keine Bewegung in ihm zu 
erzeugen vermag. Wohl aber steht es ihr zu, eine 
schon vorhandene Bewegung in ihrer Bichtung zu 
ändern; im menschlichen Körper vermag die 'Seele die 
Bewegung der Lebensgeister, von deren verschiedener Ver- 
theilung (nach der cartesianischen Theorie) alle Functionen 
desselben abhängen, bald dahin, bald dorthin zu lenken 
und dadurch bestimmte Bewegungen der Glieder zu veran- 
lassen, und diese Macht der Seele ist nur dann vermin- 
dert oder aufgehoben, wenn entweder keine Bewegung der 
Lebensgeister vorhanden ist, wie in Folge von Hunger 
oder Ermüdung, oder wenn die Lebensgeister eine zu 
starke eigene Bewegung haben, wie in der Trunkenheit. 
Kommt die Richtung der eigenen Bewegung aus mechani- 
schen Ursachen mit der von der Seele bestimmten in Con- 
flict, 60 entstehen Bangigkeiten der Art, wie wir sie zu- 

*) p. 18Z 



— 56 — 

weilen in uns wahrnehmen, ohne ihre Ursache zn kennen. 
Der Grund aber, warum die Seele überhaupt Einfluss hat 
auf die Bewegungen ihres Körpers, ist der, dass sie mit 
ihm so verbunden ist, dass sie Ein Ganzes mit ihm aus- 
macht; und diese Einheit ist nur eine Folge oder vielmehr 
eine besondere Erscheinung der Einheit der Natur über- 
haupt, in welcher die Attribute, obgleich unter sich unter- 
schieden, doch ein einiges Ganze bilden, in dem also im 
Grunde immer das Ganze es ißt, das im Einzelnen wirkt*). 

Diese Ableitung des einzelnen Geschehens nicht bloss 
aus dem entsprechenden Attribut, sondern aus dem Ganzen, 
das alle Attribute umfasst, erscheint zunächst in einer 
charakteristischen Stelle des zweiten Capitels**). Nachdem 
die Ausdehnung als Attribut Gottes nachgewiesen ist, wird 
der Einwand erhoben, dass damit die Bewegung noch 
nicht erklärt sei. Diese setze vielmehr eine äussere Ur- 
sache voraus, da kein ruhender Körper sich selbst bewe- 
gen könne. Darauf antwortet Spinoza : Ich gebe zu, dass, 
wenn ein Körper ein für sich existirendes Wesen wäre, 
und keine andere Eigenschaft hätte als Länge, Breite und 
Tiefe, in ihm keine Ursache der Bewegung wäre ; aber weil 
wir früher gesagt haben, die Natur sei ein Wesen, dem 
alle Attribute zukommen, so kann ihr nichts fehlen, um 
Alles hervorzubringen, was hervorgebracht werden kann. 

Verfolgen wir femer die Consequenz des Gedankens, 
dass der Wille einer Seele Einfluss auf eine körperliche 
Bewegung habe, so werden wir sagen, dass zwar die vor- 
handene Summe der Bewegung ewig und unveränderlich, 
ein allgemeiner Modus der Ausdehnung und nur von ihr 



*) Dasselbe erklärt der Zusatz zu p. 196: Es hat gar keine 
Schwierigkeit, wie ein Modus, der von dem andern unendlich ver- 
schieden ist, in diesem wirken könne; denn er ist ein Theil des 
Ganzen, die Seele ist nie ohne den Leib, noch der Leib ohne die 
Seele. 

♦*) p. 34. 



— 57 — 

abhäogig sei; dass aber die einzelne Bewegung ebenso 
gut wie aus der Körperwelt, auch aus der Welt der Ideen 
bestimmt sein kann, und dass es also das Attribut des Den- 
kens ist, welches durch Vermittlung bestimmter Ideen im 
Einzelnen die Bewegung ändert und lenkt. So kann Spi- 
noza sagen, dass die Eine denkende Substanz, welche in 
unendlichen Ideen ausgedrückt ist nach den unendlichen 
Dingen, welche in der Natur sind, den Leib des Petrus 
durch die Idee dieses Leibes und den Leib des Paulus 
durch dessen Idee in Bewegung setze; und die Ansicht 
liegt nahe, dass überhaupt alle Bewegung im Einzelnen 
vielmehr aus den Ideen als aus blosser mechanischer Noth- 
wendigkeit komme, dass also die allgemeine Beseelung 
zugleich das Princip der bestimmten Bewegungs- und Wir- 
kungsweise der Körper enthalte. 

Diese Ansicht hat denn auch Spinoza wirklich ausge- 
sprochen. Indem nemlich jede Seele ihren Körper erkennt, 
gehen aus dieser Erkenntniss als dem unmittelbaren Modus 
des Denkens andere Modi hervor, insbesondere Liebe zum 
Objecto der Erkenntniss. Jede Seele liebt also ihren Kör- 
per, und so zeigt sich evident, dass die natürliche Liebe, 
welche jedes Ding hat, seinen Körper zu erhalten, keinen 
andern Ursprung haben kann, als die Idee dieses Körpers, 
welche im denkenden Attribut ist*). Bedenken wir nun, dass 
dieser Selbsterhaltungstrieb allen einzelnen Wesen 
innewohnt, und dass, wenn ihm überhaupt eine reale Be- 
deutung zukommt, dies nur die sein kann, dass das be- 
stimmte Sein und Wirken jedes Dinges eben als Folge 
seines Selbsterhaltungstriebs erscheint: so begreift sich, dass 
schliesslich das wirkliche Geschehen auch der Körperwelt 
ebenso gut auf die denkende Substanz, als auf die ausge- 
dehnte zurückgeführt werden kann, einerseits als mecha- 
nisch nothwendiges Geschehen, andererseits als allgemeines 

*) p. 242. 



— 68 — 

Leben erscheint*). So erklärt sich femer die eigenthtlm- 
liche Art, wie Spinoza auch hier wieder einen theologischen 
Begriff herbeizieht , am ihn nach seinen Yoraussetzungen 



*) Es geht aus yerschiedenen Stellen hervor, dass Spinoza über 
die letzte Ursache der Bewegung und damit über die Principien 
der Physik ein eigenes Werk schreiben wollte, aber damit nie ins 
Beine gekommen ist. In der angeführten Stelle des zweiten Capi^^ 
tels leitet er sie aus dem Ganzen der Natur ab, der alle Attribute 
zukommen ; später (p. 82) setzt er die ewige Bewegung als den un- 
mittelbaren allgemeinen Modus der Ausdehnung, den Sohn Gottes, 
ohne dass man begreift, wie aus dem höchsten Begriff der Ausdeh- 
nung der der Bewegung oder der Gegensatz von Buhe und Bewe- 
gung mit Noth wendigkeit folgt; er will aber die Lehre von der 
Bewegung nicht weiter verfolgen, da sie mehr zum Tractat von 
der Wissenschaft der Natur gehöre; im Anhange p. 246 
sagt er: Wir setzen als eine bewiesene Sache voraus, ^dass in der 
Ausdehnung keine andere Modification als Bewegung und Buhe ist, 
und jeder bestimmte Körper nichts ist als ein bestimmtes Verhäit- 
niss von Ruhe und Bewegung — eine Voraussetzung, deren Beweis 
sich nirgends findet. Die Ethik führt als Axiom ein : Alle Körper 
sind entweder in Bewegung oder Buhe. Das Auffallendste ist aber 
ein Zusatz zu der Stelle p. 82, wo die ewige unveränderliche Bewe- 
gung der Sohn Gottes genannt wird. Er lautet: Was hier von der 
Bewegung in der Materie gesagt wird, ist nicht ernstlich gesagt; 
denn der Verfasser glaubt ihre Ursache noch zu finden, wie es ihm 
a posteriori schon einigermassen gelungen ist; doch dieser Satz (vom 
Sohne Gottes) kann hier wohl so stehen, weil nichts darauf gebaut 
wird oder davon abhängig ist. Bitter in den Gott, gelehrten An- 
zeigen 1862 S. 1844 nimmt daran Anstoss, dass in dieser Anm. von 
Spinoza in der dritten Person gesprochen werde; allerdings ist es 
die einzige Stelle der Art Aber da er die Idee, die ewige Bewe- 
gung den Sohn Gottes zu nennen, in der That völlig aufgegeben 
und sich, wie wir sonsther wissen, fortwährend mit den höchsten Pro- 
blemen der Physik beschäftigt hat, so köimen wir den Zusatz, auch 
wenn er nicht von Spinoza selbst herrühren sollte, doch imbedenk- 
lich ab richtige Notiz gelten lassen. Ep. 63 nemlich fragt Tschim- 
hausen, wann man endlich die Generalia in physicis zu erwarten 
habe, und bittet um die Definition der Bewegung und die Erklärung, 
wie. die Verschiedenheiten der Körper a priori deducirt werden kön- 
nen, da doch die Ausdehnung .an sich gedacht untheilbar, unverän- 
derlich etc. sei. Spinoza antwortete Ep. 64, da er das noeh nicht 



— 59 — 

umzudeuten, den Bcgriflf der Vorsehung nemlich, von 
der er Gap. 5 des ersten Theiles sagt: sie ist für mich 
nichts Anderes als jenes Streben, das wir in der ganzen 
Natur und allen einzelnen Dingen auf die Erhaltung des 
eigenen Seins gerichtet finden. Sie ist Providentia generalis, 
sofern jedes Ding als Theil der ganzen Natar erzeugt und 
erhalten wird, Providentia singularis, sofern jedes Ding 
als ein Ganzes für sich betrachtet werden kann und als 
solches in seinem Sein sich erhält*). Schwerlich wäre 
Spinoza darauf gekommen, gerade diesen Ausdruck, der 
ein Bestimmen des Einzelnen durch das göttliche Denken 
in sich schliesst, so umzudeuten, wenn ihm nicht der Trieb 
des Wirkens und Sicherhaltens etwas Geistiges, und seine 
Lehre von der allgemeinen Beseelung eine ernstlich ge- 
meinte gewesen wäre. So kehrt sich ihm also dann das 
Verhältniss der Idee und ihres Objects um; die Existenz 
der Idee ist wohl einerseits abhängig von der Existenz 
ihres Objects; aber andererseits ist das Beharren dieses 
Objects, seine bestimmte Wirkungsweise wieder abhängig 
von der Idee, von der Liebe, die jedes Ding zu seinem 
Sein hat. Damit hängt es zusammen, dass er die Einheit 
zwischen Object und Idee, Körper und Seele unter dop- 
peltem Gesichtspunkte fasst: das einemal ist ihm diese 
Einheit die durchgängige Abhängigkeit der Idee vom Ob- 
ject; das anderemal beruht sie auf der Liebe, welche die 
Seele zum Körper hat**). 

in Ordnung gebracht habe, spare er es auf eine andere Gelegen- 
heit auf; später, Ep. 72, erklärt er die Ableitung der Vielheit der 
Dinge aus dem blossen Begriff der Ausdehnung für unmöglich, und 
den Cartesianischen Begriff der Materie für falsch , aber auch jetzt 
schiebt er eine bestimmte Erklärung darüber hinaus. 

*) p. 62. In den Cog. met. p. 118 hat Spinoza den Selbster- 
haltungstrieb als Leben von der Beseelung unterschieden. 

**) Vergl. p. 241 : ... hoe dezelve (die Seele) haar oorspronk 
van het lichaam hee/t als ooh haare verandering alleenig af hangt 
van het lichaam ^ weüc hy my de vereeniging van stiel tn lichaam 
ig — mit pag 189: Nadien het eerete H welk de aiel komt te kenMn 



— 60 — 

Es bedarf wohl kaum einer Hinweisung darauf, wie 
ans der einfachen Thatsache, dass Spinoza sich ursprüng- 
lich seine anthropologischen und psychologischen Begriffe 
auf Grund der Voraussetzung einer Wechselwirkung zwi- 
schen Idee und Object gebildet hat, die schwankende und 
geradezu inconsequente Darstellung der Ethik sich erklärt*)- 
Im Princip ist dort jede Wechselwirkung aufgehoben; 
die ganze Ansicht des Tractates vom Verhältniss der bei- 
den Attribute ist durch den siebenten Satz des zweiten 
Buches mit seinem Scholion fundamental verändert. Wäh- 
rend früher Denken und Ausdehnung als zwei verschiedene, 
nebeneinander bestehende Welten gegolten hatten, welche 
als Object und Idee desselben sich entsprechend zusammen 
die Einheit der Natur bilden, sind sie jetzt im Oanzen wie 
im Einzelnen dasselbe Sein, das hier als Ausdehnung, dort 
als Denken „ausgedrückt ist'* und „begriffen wird." Eine 
Substanz ist es, die bald unter dem einen, bald unter dem 
andern Attribut gefasst wird; und jeder einzelne Modus 
derselben ist ein und dasselbe Ding, ob er jetzt als Körper, 
jetzt als Idee des Körpers gedacht wird. Indem so Denken 
und Ausdehnung nur als verschiedene Seiten derselben Dinge 
erscheinen, — gerade hier streift Spinoza am nächsten an 
den Gedanken, dass sie nur verschiedene Betrachtungsweisen 
eines in sich Einen sind — werden sie am gründlichsten 
getrennt; es ist im Einzelnen keinerlei Verhältniss zwischen 
ihnen möglich; Ausdehnung bezieht sich immer nur auf 
Ausdehnung, Denken nur auf Denken. Allein diese Be- 
trachtungsweise wird nicht streng durchgeführt; unter der 
Hand tritt die frühere Auffassungsweise wieder ein, für 
welche Körper und Ideen verschiedene Dinge sind; wo der 
Begriff der Seele bestimmt wird, kann Spinoza es doch 

het lichaam ia, zoo homt daar tiyt kervoort^ dat de «id het zelve 
bemint^ en daar dus mee vereemgd word, 

*) Der Tract. de intelL emend. hat noch deuüiehe Spuren der 
früheren Ansicht*, wenn er p. 449 von Ideen redet, quae . . , ex fot' 
tuüU motibue corporis factae eunt. 



— 61 — 

nicht hindern y dass überall der Leib als das prins er- 
scheint nnd die Seele von seinen Modificationen und Af- 
fectionen abhängig; und wenn er später den Versuch macht 
den Leib auch von der Seele abhängen zu lassen, be- 
greifen wir nicht, wie das möglich ist, nachdem er den 
Gedanken der allgemeinen Beseelung und der Möglichkeit 
der Einwirkung auf Bewegungen vom Gebiete des Den- 
kens aus factisch aufgegeben und in der Körperwelt eine 
durchaus mechanische Betrachtung durchgeführt hat, nach- 
dem ihm insbesondere der conatus suum esse conservandi 
zur blossen actualis essentia ohne alle Beziehung auf die 
Idee geworden ist. Allerdings ist vom BegriflPe des Attri- 
buts aus der spätere Versuch consequent; dagegen lässt 
der frühere um so deutlicher den Werth erkennen, welchen 
der Gedanke der Einheit der Natur flir Spinoza hat, und 
zeigt diese Einheit der Natur selbst in einer lebendigeren 
und anschaulicheren Fassung. 



Der zweite Tlieil des Tractates. 

Mit dem Bisherigen sind nun die metaphysischen Vor- 
aussetzungen entwickelt, welche dem zweiten Theil 
unseres Tractates zu Grunde liegen. Freilich ist der 
Gang desselben kein so regelmässiger, wie in der Ethik. 
Die psychologischen und ethischen Lehren, welche die 
Hauptmasse dieses zweiten Theiles bilden, erscheinen nicht 
als Folgerungen aus einem Begriffe des Menschen, der sei- 
nerseits die einfache Anwendung der Lehre vom Verhält- 
niss der beiden Attribute auf den menschlichen Körper 
und die menschliche Seele wäre ; vielmehr zeigt sich nach 
der kurzen Einleitung, in welcher nur bewiesen ist, dass 
der Mensch nicht Substanz sein, sondern nur aus Modis 
der Attribute Gottes bestehen könne, ein völlig neuer An- 
fang; erst gegen das Ende konmit die Rede auf das Ver- 
hältniss von Leib und Seele zurück^ und schliesst so nach*- 



träglicb an die Bestimmungen des ersten Theiles an. Wir 
werden kaum fehl gehen, wenn wir auch darin einen Be- 
weis sehen, dass Spinoza's Speculation von rerschiedenen 
Punkten ihren Ausgang genonmien hat, und erst allmählich 
zu Einem Ganzen zusammengewachsen ist. 

Jener neue Anfang trägt durchaus den Charakter einer 
empirisch-psychologischen Untersuchung. „Von den Weisen, 
aus denen der Mensch besteht, werden wir nun anfangen 
zu handeln. Wir werden sagen, was sie sind; was sie 
wirken, was ihre Ursache ist. Was das Erste betrifft, 
wollen wir mit denen beginnen, welche uns zu allererst 
bekannt sind, nemlich den Begriffen, durch welche wir 
von uns selbst und den Dingen ausser uns Kenntniss 
haben"*). Und nun folgt die Aufzählung der verschiedenen 
Arten unserer Erkenntniss, welche ganz ähnlich der Trac- 
tatus de intellectus emendatione und das 2. Scholion zu 
Eth. IL prop. 40 enthält. Wir erhalten nemlich unsere 
Kenntnisse 

1. durch Hörensagen oder Erfahrung, welche beide Er- 
' kenntnissquellen uns einen Glauben geben, der ein 

blosser Wahn (opinio) ist, 

2. durch wahren Glauben, auf Grund richtiger Schlüsse, 

3. durch deutliches Erkennen vermittelst unmittelbarer 
Anschauung. 

Die erste Erkenntnissart ist dem Irrthum unterworfen, 
und gibt keine Gewissheit. Die zweite nennen wir Glau- 
ben, weil die Dinge dabei nicht von uns gesehen werden, 
sondern wir nur im Verstände die Ueberzeugung erlangen, 
dass sie sich nicht anders verhalten oder verhalten können. 
Die dritte Erkenntnissart ist weitaus die vorzüglichste: 
sie beruht nicht auf Ueberzeugung durch Gründe, sondern 
auf dem Gefühl und Genuss der Sache selbst**). 



*) p. 95. 97. 
**) Das Beispiel an dem Spinoza diese drei, beziehungsweise 
Tier Erkenntnissarten erläutert, ist dasselbe, das er später immer auf- 
wendet, die Eegel de tri. 



— 63 — 

« 

Diese Sätze über die drei Erkenntnissarten bilden 
nun die Grundlage aller weiteren Ausführungen des zweiten 
Theiles. Denn die Erkenntniss ist der ursprünglichste, 
unmittelbarste Modus des Denkens, die Voraussetzung 
aller anderen Modi; von den verschiedenen Arten und For- 
men der Erkenntniss hängen alle weiteren Zustände und 
Thätigkeiten der Seele ab, Begierde und Leidenschaft, Ge- 
fühl und Wollen. Aus der ersten Erkenntnissart entstehen 
die Leidenschaften, die mit der Vernunft streiten, aus der 
zweiten die guten Bestrebungen, aus der dritten die wahre 
und aufrichtige Liebe mit Allem, was aus ihr sprosst*). 
Mit diesem Satz ist der Gang der Darstellung in der 
Hauptsache vorgezeichnet. 

Versuchen wir die charakteristischen Hauptzüge der- 
selben herauszuheben, so ist es freüich schwer, der Ord- 
nung Spinoza's zu folgen. Wir erwarten, dass er zunächst 
die Unterschiede der verschiedenen Erkenntnissarten näher 
erläutert und dann ihre Folgen aufzeigt. Allein der ethi- 
sche Gesichtspunkt tritt so sehr als der bestimmende auf, 
dass er die psychologische Entwicklung vielfach durch- 
bricht und verwirrt. Während in der Einleitung zum dritten 
Buche der Ethik Spinoza versichert, die menschlichen Af- 
fecte und Leidenschaften betrachten zu wollen, als ob sie 
Linien, Flächen und Körper wären, ist er hier noch viel 
zu sehr von dem praktischen Zwecke seines Philosophirens 
erfüllt, um sich auf den Boden dieser kühlen Objectivität, 
dieser reinen Naturlehre des Menschen zu stellen; ersetzt 
die Thätigkeiten des Erkennens und ihre Folgen alsbald 
in Beziehung auf das höchste Gut, und kaum hat er den 
ersten seiner Sätze, dass aus dem Wahne die Leidenschaf- 
ten entstehen, an ein paar kurzen Beispielen dargethan, so 
geht er alsbald zu der Frage über, welche AflFecte ver- 
nünftig und gut, welche unvernünftig und schlecht sind. 
Die zweite Erkenntnissart dient ihm vor Allem dazu, den 

♦) p. 100. 



- H — 

Massstab des Gnten und Bösen an die Thätigkeiten nnd 
Zustände des Menschen anzulegen und sie mit der Idee 
des vollkommenen Menschen zu vergleichen. 

Indem er so ungeduldig auf sein Ziel loseilt^ zu zeigen, 
worin die wahre Glückseligkeit des Menschen bestehe, wird 
die Darstellung des Eigenthümlichen besonders der zweiten 
Erkenntnissart — von der ersten sagt er nur sehr wenig — 
zerrissen; nur zerstreut und gelegentlich, zum Theil nach- 
träglich eingeschaltet finden wir die darauf bezüglichen 
Sätze. 

Versuchen wir der üebersicht wegen das Zerstreute 
zu sammeln, und ohne uns an die Reihenfolge der Capitel 
zu halten, den inneren Zusammenhang herzustellen, so ist 
vor Allem die Frage zu beantworten, was die Erkenntniss 
überhaupt ist, und wie sie zu Stande kommt; und ferner, 
in welchem Verhältniss die verschiedenen Erkenntnissarten 
zu einander stehen. Erst dann kann von ihren weiteren 
psychologischen und ethischen Wirkungen die Rede sein. 

1. Die Erkenntniss und ihre verschiedenen Arten. 

Als der wichtigste Satz tritt an die Spitze, dass 
alles Erkennen ein blosses Leiden (een zuyvere 
lijding) ist*), denn es entsteht dadurch, dass unsere Seele 
in der Art verändert wird, dass sie andere Modi des Den- 
kens erhält, die sie zuvor nicht hatte. Die active Rolle 
fällt dabei dem Objecto zu; das Object bietet sich zur Er- 
kenntniss dar; die Erkenntniss ist nur Gewahrwerden der 
Essenz und Existenz der Dinge, so dass wir selbst nie 
etwas über eine Sache bejahen oder verneinen, sondern 
die Sache selbst ist es, die etwas von sich in uns bejaht 
oder verneint**). Diese Bestimmung gilt nach dem Zusätze 
zum 1. Cap. p. 96 ausdrücklich von allen drei Erkennt- 



*) p. 159. 167. 

♦•) p. 166. 



— 65 — 

nissarten: Die Weisen, heisst es, aus welchen der Mensch 
besteht, sind Begriflfe, getheilt in Wahn, wahren Glauben 
und klare deutliche Erkenntniss, verursacht durch die 
Objecte, jeder nach seiner Art, Diese Ansicht stimmt 
mit dem oben geschilderten Verhältniss beider Attribute 
völlig überein. 

Wenn dem so ist, wie ist Irrthum und falsche Mei- 
nung möglich? Ist nicht jede Vorstellung, die wir haben, 
als Wirkung- des Objects nothwendig wahr? Diesen Ein- 
wand macht sich Spinoza selbst, und beantwortet ihn 
durch die Untersuchung, was wahr und falsch sei. 

Wahrheit, sagt er p. 156, ist eine Bejahung oder Ver- 
neinung einer Sache, die mit derselben Sache übereinkommt. 

Falschheit ist Bejahung oder Verneinung einer Sache, 
die mit derselben Sache nicht übereinkonunt. 

Wenn Wahrheit und Falschheit nur in der Beziehung 
aufs Object besteht, so könnte man sag^a, dass also die 
wahre und die falsche Idee nur durch ein äusseres Ver- 
hältniss, nicht durch ihr inneres Wesen sich unterscheiden; 
dass sie, bloss als modi cogitandi betrachtet, nicht zu un- 
terscheiden seien. Man kann ferner fragen, woran denn je- 
der erkennen kann, ob seine Idee wahr oder falsch ist? Die 
Antwort auf diese Frage ist zugleich eine Erledigung 
jenes Einwandes. Die allerklarsten Dinge geben nicht 
nur sich selbst, sondern auch die Falschheit zu erkennen. 
Wer die Wahrheit hat^ weiss zugleich, dass er die Wahr- 
heit hat; diese innere Evidenz also ist das Merkmal, an 
dem Jeder erkennt, dass seine Idee wahr ist, und ist zu- 
gleich der innere Unterschied, der den wahren und falschen 
Ideen an sich selbst auch abgesehen von der Beziehung 
auf ihr Object zukonmoit Wer die Falschheit hat, kann 
dagegen wähnen, er habe die Wahrheit; wie einer der 
träumt, wohl träumen kann, dass er wache, nicht aber einer 
der wacht, denken dass er träume. 

Nichtsdestoweniger bleibt aber sowohl die wahre als 
die falsche Vorstellung Wiikung des Objects; und die 

S ig wart, Spinoza's Tractat. 5 



^ m — 

Frage ist noch zu beantworten : wie ein Object eine fabiche 
Vorstellung seiner selbst erzeugen kann? Allein dadurch, 
dass es nicht mit seiner Totalität ^ sondern partiell wirkt. 
Je weniger und minder die Aflfectionen sind, die einer von 
einem Objecto erleidet, je schwächer die Ursache der Idee 
ist, desto weniger wird diese dem Objecto entsprechen; desto 
veränderlicher und unbeständiger wird sie sein, während 
die vom ganzen Objecto ausgehende Idee seine Essenz aus- 
drückt, also unveränderlich und immer sich selbst gleich ist. 

Somit unterscheidet also Spinoza die wahre und falsche 
Idee als totale und partielle, als beständige und veränder- 
liche Perception. Streng genommen falsch und irrig ist die 
partielle Perception freilich erst dann, wenn wir, während 
wir ein Object nur zum Theil wahrnehmen, uns einbilden, 
die Wahrnehmung komme vom ganzen Object*). Das Object 
wirkt also doch nicht allein; unser eigenes Thun, unsere 
Imagination kommt dazu; aber Spinoza unterlässt auf 
diesen Factor zu achten. 

Der Act, durch den wir bejahen und verneinen, ist 
das Wollen; und der Wille seinem allgemeinen Begriff 
nach ist die Macht zu bejahen und zu verneinen. Weiter 
erstreckt sich die Bedeutung des Wollens nicht ; es ist mit 
dem bejahenden oder verneinenden Urtheil erschöpft; und es 
ist darum wohl zu unterscheiden von dem Begehren, wel- 
ches die Neigung der Seele zu dem ist, was sie fttr gut 
erkennt. Das Begehren setzt das Urtheil, dass etwas gut 
sei, voraus; und dieses, wie jedes Urtheil überhaupt, ist 
ein Act des Willens**). 

Es erhellt daraus, dass der Wille sowohl im Gebiete 
des Wahns als der wahren Erkenntniss thätig ist, sowohl 
die falschen als die wahren Urtheile durch ihn zu Stande 
kommen***). Es erhellt ebenso, dass der Wille nicht frei 



*) 


p- 


158. 


168. 


**) 


p- 


160. 




***) 


p- 


160 Zusatz. 



— 67 — 

mm iAxm. Th^ils ans allgemeinen Gründen: denn was 
den Grund seiner Existenz nicht in sich selbst hat, ist von 
einer äussern Ursache mit Nothwendigkeit determinirt *) ; 
theils aus der bestimmten Natur seiner Function : denn jedes 
ürtheil ist die Wirkung des Objects, also blosse passio**). 
Der Wille als aJlgemeine Fähigkeit ist nur ein Allgemein- 
hegriflf zu den einzelnen Willensacten, ein Ens rationis, 
(Jem nichts Wirkliches entspricht, er kann also auch nicht 
Ursache der einzelnen Willensacte sein, demi aus Nichts 
wird Nichts***). 

Spinoza hat es im Tractate völlig unterlassen auszu- 
flihren, in welchem Verhältniss der so bestimmte Wille zur 
Erkenntniss der Objecte stehe. Er hat die cartesianische 
Unterscheidung, dass wir uns in der Aufnahme der Ideen 
zwar leidend, im Urtheilen aber frei verhalten, nirgends be- 
rührt und stillschweigend aufgegeben ; er hat nirgends ver- 
sucht zu unterscheiden, was denn der Erkenntniss vor und 
abgesehen von dem Wollen zukomme. Beides, die Percep- 
tion der Objecte und das Urtheil über sie, fliesst ihm völlig 
ineinander; und erst die Ethik II, 49 hat mit Bewusstsein 
nachgewiesen, wie in der Idee selbst das Urtheil schon 
liege. 

Verfolgen wir nun die einzelnen Erkenntnissarten. 
Der Wahn, der aus Hörensagen oder Erfahrung kommt, 
fällt nach dem bisherigen mit der unvollkommenen Einwir- 
kung des Objects auf den Verstand und dem daraus her- 
vorgehenden falschen Urtheile zusammen. Spinoza geht 
sehr rasch darüber hinweg. 

Ausflihrlicher behandelt er die zweite Erkenntnissart, 
den wahren Glauben, auch Ratio (Reeden) genannt. 
Ihr Wesen wird, übereinstimmend mit der ersten vorläufi- 
gen Angabe, p. 110 näher so beschrieben: Sie zeigt uns, 
wie sich die Dinge verhalten müssen, aber nicht, wie sie 

*) p. 160. 162. 
«*) p. 166. 
***).p.ilß4.,166. 



— 68 — 

in Wahrheit sind; sie weiss es auf Grund von Schlüssen 
und Beweisen, aber nicht unmittelbar; wie der, der die 
vierte Proportionalzahl zu drei gegebenen durch Sechnung 
findet, weiss, dass die gefundene Zahl zur dritten sich ver- 
halten muss, wie die zweite zur ersten, aber das Ver- 
hältniss nicht unmittelbar sieht. Der Gegenstand, der so 
nur mittelbar erkannt wird, bleibt also ausser uns, wir reden 
von ihm als von etwas, das so, wie wir es denken, ausser 
unserem Verstände sein muss. Diese Erkenntnissart trttgt 
nicht; denn wir sind überzeugt, dass unsere Schlüsse rich- 
tig sind; aber sie setzt uns nicht in den inneren Besitz 
ihres Objects. Daher definirt der Zusatz: der Glaube ist 
ein kräftiges Bezeugen der Gründe, durch welche ich in 
meinem Verstände überzeugt bin, dass die Sache wahrlich 
so ausser meinem Verstand ist , wie ich in meinem Ver- 
stand davon überzeugt bin. 

Die weitere Ausführung und Anwendung dieser allge- 
meinen Sätze ist im höchsten Grade lückenhaft. Spinoza 
zählt unter den Wirkungen dieser Erkenntnissart auf, dass 
sie uns Wahrheit und Falschheit zeige; aber er unterlässt 
es, diese Fähigkeit aus ihrem Wesen nachzuweisen. 

Noch grössere Schwierigkeiten zeigen sich, wenn wir 
den allgemeinen Satz anwenden wollen, dass alle Erkennt- 
niss Wirkung des Objects sei. Denn als das Hauptge- 
biet der zweiten Erkenntnissart erscheinen die allgemeinen 
BegriflFe, die entia rationis, vor allem die Begriffe des 
Guten undBösen, denen, wie Spinoza wiederholt aus- 
drücklich lehrt, nichts Wirkliches entspricht, deren Object 
ein reines Nichts ohne alle Realität ist. Er hat nirgends 
versucht, zu zeigen, wie diese allgemeinen BegriflFe aus 
Wirkungen von Objecten entstehen können. Ja er setzt 
sich in oflFenbaren Widerspruch mit seinem ersten Satze. 

Er leitet schon die allgemeine Erörterung der Be- 
griflfe bonum und malum im 10. Gap. des ersten Theiles 
mit der Bemerkung ein, dass einige Dinge in unserem 



— 69 — 

Verstand und nicht ebenso in derNatnr sind; und so sind 
denn diese auch nur allein unser eigen Werk, und 
dienen nur dazu, um die Dinge unterschiedentlich zu ver- 
stehen; dahin gehören alle Eelationen, die sich auf ver- 
schiedene Dinge beziehen, und diese nennen wir Entia 
rationis. Zu diesen gehören bonum und malnm : sie drücken 
die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung eines be- 
sonderen Dings mit dem Allgemeinbegriff aus, den wir 
uns davon gebildet haben, und dieser Allgemeinbegriff 
selbst ist wieder ein blosses ens rationis, dem nichts Wirk- 
liches entspricht*). Auf den Menschen angewandt: wir 
bilden uns die Idee eines vollkommenen Menschen; und 
indem wir dann uns selbst untersuchen, sehen wir, was 
in uns ein Mittel ist, um zu dieser Vollkommenheit zu ge- 
langen, und das nennen wir gut; und im Gegentheil das, 
was uns daran hindert, nennen wir schlecht. Um also 
über das, was für den Menschen gut und schlecht ist, zu 
verhandeln, muss ich einen Begriff des vollkommenen 
Menschen haben; ebenso kann ich nur in Beziehung auf 
den Menschen überhaupt von seinem höchsten Zweck reden, 
denn den wirklichen Zweck der einzelnen Menschen kenne 
ich nicht. Aber den allgemeinen Zweck des Menschen, 
und was flir den Menschen bonum und malum sind, kann 
ich eben deshalb wohl erkennen, weil ich es darin mit 
blossen Modis des Denkens zu thun habe. 

Damit hat nun Spinoza die Lehre von einer Erkennt- 
niss aufgestellt, die sich unmöglich unter seinen allgemei- 
nen Begriff der Erkenntniss subsumiren lässt. Sie ist keine 
passio, sondern allein unser eigen Werk; sie ist keine Wir- 
kung des Gegenstands, denn ihr Gegenstand existirt nicht; 
sie bewegt sich rein in Gedankendingen, und ist nur da- 
durch möglich, dass sie sich auf nichts anderes bezieht. 
Es ist also ein von der Wirklichkeit der Dinge ganz los- 
gelöstes, nur seine eigenen Begriffe vergleichendes Denken. 

•) p. 84. 86. 



~ 70 — 

Wie er nichtsdestoweniger eine solche Erkenntniss eine 
wahre nennen kann, wenn er doch Wahrheit als Ueher- 
einstimmnng einer Idee mit ihrem Gegenstand definirt — 
diese Frage hat sich Spinoza hier gar nicht vorgelegt. Er 
scheint diese Lücke später gesehen und in der Ethik ver- 
sucht zu haben, auch einem Theil der AUgemeinbegrifFe, den 
notiones communes und proprietates, eine reale Bedeutung 
zu geben und die durch sie vermittelte Erkenntniss als 
eine wahre nachzuweisen, indem er hervorhebt, dass alles 
Reale in Einigem übereinkommt , das eben darum keines 
einzelnen Dinges Wesen ausdrückt (Eth. II, 37. 39). 

Schwierigkeiten anderer Art begegnen uns, wenn wir 
fragen: wie sich die zweite Erkenntnissart zur Erkennt- 
niss der wirklichen Dinge und ihres Wesens verhält ? Wir 
wissen aus dem ersten Theile, dass Gott die Ursache aller 
Dinge ist und dass ohne ihn kein Ding sein noch be- 
griffen werden kann — fällt diese Erkenntniss ins Gebiet 
der Ratio oder nicht? 

Nach einer ausdrücklichen Antwort auf diese Frage 
suchen wir vergeblich. Es wird zwar (p. 112) als zweite 
Wirkung des wahren Glaubens aufgeführt, dass er uns zu 
einer klaren Erkenntniss führe, vermöge der wir Gott lieben, 
und dass er uns die Dinge, die ausser uns sind, im Ver- 
stände gewahr werden lässt; aber es ist unklar, ob der 
Glaube nur zu jener Erkenntniss hin, oder in sie hinein 
führt ; und ebenso, ob zu den Dingen, die ausser uns sind, 
auch Gott gehört oder nicht? Die Bedeutung der ratio 
wird mit solcher Vorliebe in der Erkenntniss dessen ge- 
sucht, was für den Menschen gut ist und ihn zur Vollkom- 
menheit führt, dass ihre übrigen Functionen dabei mehr 
vorausgesetzt als deutlich entwickelt werden. 

Versuchen wir diesen Voraussetzungen nachzugehen: 
so fragt sich zuerst: Was ist die Idee des vollkommenen 
Menschen? Da alle übrigen menschlichen Thätigkeiten 
durch die Erkenntniss bedingt sind, so muss der voUkom- 



- ti - 

menat6 Mensch derjenige sein, der die dritte Erkenntniss- 
art besitzt; da femer diese dritte Erkenntnissart in einem 
unmittelbaren Gennss ihrer Objecte, in einer inneren Ver- 
einigung mit ihnen besteht^ so ist die Erkenn tniss um so 
vollkommener, je vollkommener ihr Object* Der Mensch 
ist also der vollkommenste, der mit dem vollkommensten 
Objecto, Gott, geeinigt ist, und ihn so geniesst. 

Ist es die ratio, welche diese Sätze aufstellt, so muss 
sie also Gott als das vollkommenste Object erkennen; und 
diese Erkenntniss , da sie auf einer Vergleichung Gottes 
mit anderen Objecten beruht, eine Relation ausdrückt, fällt 
auch ganz naturgemäss in ihr Gebiet. Demnach finden 
wir auch überall vorausgesetzt, dass der wahre Glaube 
Gott als das höchste Gut erkennt, oder vielmehr als 
das einzige Gut, neben dem nichts Anderes gut ist. Diese 
Erkenntniss ist aber identisch mit der andern, dass Gott 
das Sein und Wesen aller Dinge und ihre erste Ursache 
ist, von der sie schlechthin abhängig sind. 

Wenn nemlich von Gott als dem höchsten Gut die 
Bede ist, so wird das Wort gut scheinbar in anderem Sinne 
gebraucht, als wo es sich von dem handelt, was für den 
Menschen gut ist. Schon der erste Theil hatte im 7. Cap. 
p. 76 erklärt: Wer unter dem Satze „Gott ist das höchste 
Gut" etwas anderes versteht, als dass Gott unveränder- 
lich ist, und eine Ursache aller Dinge, der ist in seinen 
eigenen Begriffen verwirrt und versteht sich selbst nicht; 
und dem ganz entsprechend ist der Massstab, an dem ge- 
messen wird, ob etwas ein grösseres oder geringeres Gut 
sei, die grössere oder geringere Essentia, die grössere oder 
geringere Realität. Ein Ding ist um so grösser, herrlicher? 
besser, vollkommener — die Ausdrücke sind für Spinoza 
gleichbedeutend, — je mehr Realität es hat. Da wir nun 
wissen, dass Gtott allein Wesen hat, und alle anderen Dinge 
nur seine Modi sind, so folgt, dass wir Gott allein als gut 
und als Inbegriff aller Yollkommenbeit betrachten müssen. 



— 12 — 

Damit ist also, wenn Gott das höchste Gut heisst, der 
Begriff „gut" von der Beziehung auf den Menschen völlig 
losgelöst. Gott ist das höchste Gut schlechthin; nicht für 
den Menschen. Aber im Grunde geht aus dieser Bedeu- 
tung doch hervor, dass er das höchste Gut auch für den 
Menschen ist ; denn des Menschen Vollkommenheit besteht 
in nichts Anderem, als in seiner Realität; und seine Realität 
ist in dem Masse grösser, als das Object seiner Erkennt- 
nisse mit dem er sich vereinigt, mehr Realität hat. 

Insofern also ist Alles in Uebereinstimmung, die zweite 
Erkenntnissart erkennt die verschiedenen Grade der Rea- 
lität und vergleicht sie; und die Basis dieser Vergleichung 
ist die Erkenntniss, dass Gott alle Realität in sich hat. 

Soll nun aber ihr Charakter gewahrt werden, dass sie 
uns die Dinge nicht in uns, sondern nur ausser uns zeigt, 
so darf diese Erkenntniss Gottes eben nur in der Erkenntniss 
seiner Relation zu uns, d. h. unserer totalen Abhängigkeit 
von ihm bestehen. Diesen Gesichtspunkt hat offenbar 
Spinoza im Auge, wenn er zusammenfassend im 18. Gap. 
von dem Nutzen der Erkenntnisse spricht, die aus dem 
wahren Glauben hervorgehen und hier voranstellt. 

Erstens: daraus, dass wir von dem allervollkommen- 
sten Wesen so abhängen, dass wir als ein Theil von dem 
Ganzen, d. h. von ihm, das unsrige beitragen zur Hervor- 
bringung so vieler geschickt geordneter und vollkommener 
Werke als von ihm abhängen, daraus folgt, dass wir Die- 
ner Gottes sind und dass es unsere grösste Vollkommen- 
heit ist, es nothwendig zu sein. 

Zweitens, dass wir nach Verrichtung eines vortreff- 
lichen Werkes darüber nicht hoffärtig werden, sondern 
alles, was wir thun, Gott zueignen als der ersten und ein- 
zigen Ursache von allem was wir verrichten. 

Haben wir nun aber so die Erkenntniss Gottes als 
des höchsten Gutes und unserer totalen Abhängigkeit von 
ihm der zweiten Erkenntnissart zugeschrieben ^ so erhebt 



- 73 - 

sich die Frage : Wie stimmt das zu der Behauptnng, dass 
Gott nur nmnittelbar erkamit werden könne? Wenn es Sache 
der zweiten Erkenntnissart ist, die Dinge nns so zu zeigen, 
wie sie ausser dem Verstände sind, wie kann sie sich auf 
Gott beziehen, der in uns, von Natur mit uns geeinigt ist? 
Wenn sie mittelbar, durch Schlüsse erkennt, wie kann sie 
Gott erkennen, der nur durch sich selbst, und durch nichts 
anderes erkennbar ist? Ist es überhaupt möglich 5 ohne 
und abgesehen von der unmittelbaren Erkenntniss Gottes, 
die der dritten Stufe angehört, etwas von Gott zu wissen? 

Stellen wir, um diese Frage zu entscheiden, zusam- 
men, was Spinoza über diese dritte Erkenntniss art 
sagt. Sie beruht nicht auf einer Ueberzeugung durch Gründe, 
sondern auf dem Gefühl und Genuss der Sache selbst'*'). 
Sie ist ebenso unmittelbar wie die sinnliche Erkenntniss **), 
eine Anschauung des Objects, nicht durch etwas anderes, 
sondern durch das Object selbst***), durch die unmittelbare 
Offenbarung des Objects an den Verstand; sie hat ihr Object 
in sich, nicht ausser sich****). Wenn nach diesen allge- 
meinen Bestimmungen es scheint, als könnten Objecto aller 
Art durch diese dritte Erkenntnissart erkannt werden, so 
wird sie im Verlauf doch nur auf Gott bezogen und p. 204 
geradezu gesagt : Die dritte f) Erkenntnissart ist die Er- 
kenntniss Gottes. E& liegt nun im Wesen Gtottes, dass er 
nur so, und nicht aus einem Andern erkannt werden kann. 
Er ist der Grund aller Erkenntniss; er wird nur durch sich 
selbst erkannt ; und wir sind von Natur so mit ihm yer- 
einigt, dass wir ohne ihn nicht sein noch bestehen können. 

*) p. 100. 
*•) p. 200. 202. 

**♦) p. 98. 100. 

••*•) p. 112. 

t) Spinoza nennt sie hän£g als die vierte, mdem er den Wahn in 
zwei Stufen, Erkenntniss durch Hörensagen und durch Erfahrung, 
Bählt Wir setzen der Gleiohmäsaigkeit wegen immer „drittens wie 
die Ethik. 



— 74 - 

Jede Vermittlung durch Worte und Zeichen ist unmög- 
lich *). Die dritte Erkenntniss ist eine unmittelbare Ver- 
einigung mit Gott**). 

Diese Behauptungen sind so entschieden, sie sind zu- 
gleich so vollkommen im Begriffe Gottes und in der ganzen 
Lehre von der Erkenntniss gegründet, dass nicht abzu- 
sehen ist, wie eine Erkenntniss Gottes anders als durch 
Intuition möglich sein soll ; wie im Gebiete der zweiten 
Erkenütnissart überhaupt von einer Erkenntniss Gottes 
die Rede sein kann. Spinoza äussert sich im Tractat nir- 
gends über diesen Widerspruch. Er setzt im Grunde för 
den wahren Glauben die Erkenntniss Gottes immer schon 
voraus, wie er sie auch im Begriffe des vollkommenen 
Menschen anticipirt hat. Und doch stellt er andererseits 
wieder den wahren Glauben als Vorstufe zur dritten Er- 
kenntniss hin. Er ist wie eine Treppe, über welche wir 
zu dem angestrebten Platze emporklimmen, oder wie ein 
guter Geist, der uns sonder Falschheit und Betrug von dem 
höchsten Gute Botschaft bringt, um uns dadurch zu reizen, 
dass wir es selbst suchen und uns damit vereinigen***). 
Und andererseits kommt ihm auch wieder in die dritte Er- 
kenntnissart eine Spur einer Vermittlung herein. Wo er 
sie näher zu erklären unternimmt (p. 204 und 206), da 
kommt er darauf zurück, dass die Seele des Mensche 
die Idee des Körpers ist. Das erste Object ihrer Erkennt- 
niss ist also der Körper. „Weil nun aber keine Idee 
Buhe finden kann in der Erkenntniss des Leibes, son- 
dern weil sie übergeht zu der Erkenntniss dessen, ohne 
welchen der Leib und seine Idee selbst weder bestehen 
noch verstanden werden können, so wird sie dann, wenn 



*) p. 216. 218. 
**) p. 230. 

***) p. 224. Vgi 114: vera fides aolummodo propterea bona, 
guod Sit via ad claram oognitionem nosgue excitet ad res qua» 
vere amabiles sunt. 



— 75 — 

gie ihn erkannt hat, alsbald durch Liebe noch mehr mit 
ihm vereinigt". Die dritte Erkenntnissart ist also darge- 
stellt als die Selbsterkenntniss der Seele in ihrem wahren 
Wesen; aber diese Selbsterkenntniss entsteht nicht dnrch 
OflFenbamng Gottes, sondern durch ein Fortschreiten zu 
ihrem Grunde. 

Dasselbe Schwanken verräth sich, wenn p. 176 die 
Glückseligkeit des Menschen schon als Wirkung der zwei- 
ten Erkenntnissart, p. 224 aber erst als Wirkung der dritten 
Erkenntnissart hingestellt wird. 

Wir werden uns diese Widersprüche erklären, wenn 
wir bedenken, dass es sich für Spinoza durchaus um die 
ethische Bedeutung der verschiedenen Erkenntnissstufen, 
um die Willensrichtungen handelt, die daraus hervorgehen. 
Das Gebiet der zweiten Erkenntnissart verengt sich für sein 
Denken immer zu der Untersuchung, welche unter unsem 
Zuständen gut, welche schlecht sind ; welche uns zur Glück- 
seligkeit führen, welche nicht. Nur für diesen Zweck hat 
er die Unterscheidung der drei Erkenntnissarten eingeführt; 
die metaphysische Erkenntniss Gottes hat er entwickelt, 
ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, und sie steht ihm so 
zu sagen über diesen Unterschieden. Dies hat ihn gehin- 
dert, sich über das Verhältniss der zweiten Erkenntnissart 
zur Gotteserkenntniss klare Rechenschaft zu geben. 

Aber er hat diese Lücke selbst eingesehen, und im 
weiteren Verlauf seines Denkens ausgefüllt. Denn die 
Ethik versucht U, 40 Schol. 2, und in den darauf sich 
beziehenden Sätzen (II, 41 — 47, V, 4. 6 flf.) die zweite 
und dritte Erkenntnissart ganz allgemein in Beziehung auf 
alle Dinge auseinanderzuhalten, indem sie der zweiten die 
notiones communes und proprietates zuweist, die dritte 
aber in der Erkenntniss der Dinge aus ihrer Ursache sucht. 
Es ist dabei freilich aus dem Schol. zu Prop. 47 nicht 
klar, ob Sp. die Erkenntniss Gottes, die nach Prop. 46 in 
der Erkenntniss jedes einzelnen Dings eingesohlosseD/ iai, 



— 76 — 

noch zur zweiten oder schon zur dritten Erkenntnissart 
rechnet, da er als das Wesen der dritten Erkenntnissart 
nicht, wie der Tractat, die unmittelbare Erkenntniss Gottes 
hinstellt, sondern sie so beschreibt, dass sie von der adäquar 
ten Idee der formellen Essenz einiger göttlichen Attribute 
fortschreite zur adäquaten Erkenntniss des Wesens 
der Dinge. Wenn das Schol. zu Prop. 47 darauf hinweist, 
dass die dritte Erkenntnissart durch Deduction aus dem 
allen bekannten Wesen Gottes gebildet werde, so führt 
dies darauf, dass die Idee Gottes und seiner Attribute beiden 
Erkenntnissarten gemeinsam, und der Punkt ist, an dem die 
von dem Einzelnen zu der darin mitgedachten Idee Gottes 
aufsteigende analytische Richtung in die synthetische über- 
geht. Damit hängt es wesentlich zusammen, dass in der 
Ethik die dritte Erkenntnissart ebenso wie die zweite auf 
die Dinge bezogen wird. Alle jene Unterscheidungen 
aber, durch welche die Ratio herab-, die intuitive Erkennt- 
niss hinaufgesetzt wird, sind gefallen ; die ratio geht ganz 
Yon selbst in die höhere Erkenntnissart über. 



2. Die Modi des Denkens, welche aus den ver- 
schiedenen Erkenntnissarten folgen. 

Auch bei diesem Gegenstande vermissen wir eine klare 
Abgrenzung der Hauptbegriffe. Die oben schon angege- 
bene vorläufige Eintheilung des zweiten Gapitels lässt aus 
dem Wahne die Passionen, die mit der Vernunft streiten, 
aus dem wahren Glauben die guten Bestrebungen, aus der 
intuitiven Erkenntniss die wahre Liebe hervorgehen. Aber 
die nähere Art und Weise dieses Hervorgehens wird nicht 
fiir die Pässionen überhaupt beschrieben, deren Begriff zu- 
dem nirgends genau bestimmt ist, sondern nur fttr die 
Liebe und das damit verwandte Begehren; die Mehrzahl 
der Passionen wird empirisch als vorhanden aufgezählt, 
als Material fttr die Beurtheilung der ratio, ob sie gut sind 



— 77 "— 

oder nicht; nur die Liebe in ihren verschiedenen Formen 
erfährt eine Art von Deduction aus dem Wesen des Men- 
schen. Sichtlich sind auch hier wieder unterscheidbare 
Ausgangspunkte vorhanden ; einerseits eine detaillirte Lehre 
von den Fassionen; andererseits eine Theorie, nach wel- 
cher die Liebe, welche dort nur als eine Passion neben 
anderen erscheint, vielmehr das universale, dem Erkennen 
gleichstehende, wenn auch von ihm abhängige Princip der 
ganzen ethischen Seite des Lebens ist. Aus der Durch- 
kreuzung dieser beiden Betrachtungsweisen ergeben sich 
die Ungleichheiten dieses Abschnitts. 

lieber Einen Grundsatz ist sich jedoch Spinoza voll- 
kommen klar: dass die Erkenntniss die einzige Voraus- 
setzung aller übrigen Erscheinungen der Seele ist. Es ist 
schlechterdings unmöglich, dass Jemand, ohne in einer der 
verschiedenen Erkenntnissarten zu erkennen, d. h. ohne 
Vorstellung eines Objects, zu irgend einer Liebe, Begierde, 
oder andern Art von Wollen bewogen werden könnte*). 
Er weist also insbesondere diejenige Theorie ab, welche 
die Passionen direct aus dem Körper entstehen lässt. Der 
Körper mit seiner Bewegung und Ruhe wirkt direct nichts 
als die Idee, welche ihn zum Object hat; und erst aus 
dieser folgen Liebe und Hass, Traurigkeit und Freude; der 
Art der Erkenntniss gemäss werden in der Seele die Pas- 
sionen hervorgebracht **). Damit erklärt sich Spinoza gegen 
die cartesianische Theorie , welche (De pass. I^ 27) die 
passiones definirt als commotiones animae, quae ad eam 
speciatim refer'untur quaeque producuntur^ conservantur et cor* 
roborantur per oLlquem motum spirituum. 

Wir können das Detail der einzelnen Passionen, die 
Spinoza rein als gegebene Zustände nacheinander aufzählt 
und definirt, um so mehr übergehen, als ihr Ursprung aus 
der Erkenntniss im Einzelnen sehr schwankend behandelt 



*; p. 102. 186. 
•*) p. 180 — 192. 



^ T8 - 

wird. Von einzetaen, wie z. B. dem Staunen f Fiarwon- 
deringj wird gezeigt, daas sie nur aus dem Wahne hervor- 
gehen können*); andere, wie z.B. Begehren, können aus 
dem Wahne hervorgehen, ebensogut aber aus der wahren 
Erkenntniss; während die Definition des edeln Stolzes**) 
und der Demuth voraussetzt, dass sie auf wahrer Erkennt- 
niss beruhen; denn der Stolz ist in dem, der seine eigene 
Vollkommenheit nach ihrem wahren Werthe erkennt; die 
Demuth in dem, der seine UnvoUkommenheit erkennt So 
wenig ist die Genesis der Passionen in eine bestimmte Be- 
ziehung zu der Unterscheidung der Erkenntnissarten ge- 
setzt. 

Eine genauere Untersuchung verlangt der Begriff der 
Liebe und des Begehrens; denn für die Psychologie 
und Ethik des Tractates im Unterschiede von der späteren 
Lehre ist nichts chararakteristischer, als die hohe Bedeu- 
tung, welche der Liebe zukommt. 

Die Liebe ist Vereinigung mit einem Objecto, das 
wir als gut erkennen, und zwar eine solche Vereinigung, 
durch welche die Liebe und ihr Gegenstand Eins und das- 
selbe werden, zusammen Ein Ganzes ausmachen***). Es 
liegt in unserer Natur, dass wir irgend etwas lieben 
müssen. Wegen der Schwäche unserer Natur könnten wir 
nicht bestehen, ohne irgend etwas zu geniessen, womit 
wir vereinigt und wodurch wir verstärkt werden****). 
Sie gehört also zu unserem Wesen. Sie ist die Grundlage 
alles Guten und Bösen, je nach dem Gegenstand, auf den 
sie fällt t). 



♦) p. 102. 

**) p. 132. Das Holländische hat Edelmoedigheid ; offenbar eine 
missverständliche Uebersetzung des lateinischen Generositas, das 
Cartesius De pass. UI, 152 im Sinne von Ehrgefühl braucht. 
***) p. 104. 116. 118. 120. 
****) p. 118. 
t) p. 152. 



— 7Si - 

Auf welchen Gegenstand sie feilt, ist von der Er- 
kenntniss abhängig. Wir lieben nothwendig, was wir als 
gut erkennen. Das ürtheil, dass etwas gut sei, ist Sache 
des Willens, und wie oben bewiesen wurde, eine nothwen- 
dige Wirkung des Objects; darum auch die Liebe noth- 
wendig. Wenn wir ein Objeet lieben, und ein anderes 
kennen lernen, das besser ist als das erste, so geht die 
Liebe mit Nothwendigkeit auf dieses über; je grösser und 
h^rrlioher das Objeet, desto grösser auch die Liebe. Von 
4er Liebe unterscheidet sich das Begehren nur dadurdi, 
dass es seinen Gegenstand ausser sich hat. Es ist die 
sich nach aussen streckende Lust, oder das Streben, das- 
jenige was wir entbehren zu erhalten*). Es setzt ebenso 
wie die Liebe das ürtheil voraus, dass etwas gut sei, also 
einen Act des Willens**), und geht aus dem Willensacte 
ebenso nothwendig hervor, wie die Liebe. Während aber 
diese aus dem Wahne und der dritten Erkenntnissart ent- 
springt, geht das Begehren aus dem Wahne und der zweiten 
Erkenntnissart hervor. Der Wahn zeigt uns nemlich die 
Dinge theils ausser uns theils in uns ; die zweite Erkeimt- 
nissart nur ausser uns ; die dritte nur in uns. In der Aus- 
führung tritt übrigens das Begehren ganz hinter der Liebe 
zurück. 

Von der Liebe hängt ab, was der Mensch ist; seine 
Vollkommenheit oder UnvoUkommenheit, sein Elend oder 
seine Seligkeit. So lange wir zur wahren Erkenntniss nicht 
gekommen sind, wird sich unsere Liebe auf vergängliche 
Dinge richten; daraus entsteht Hass gegen den, der uns 
den geliebten Gegenstand nimmt, Traurigkeit, wenn er sich 
verändert, und alle möglichen Passionen: ein elender 2!u- 
stand, denn wie können wir gewinnen, wenn wir mit ver- 
gänglichen Dingen Eins werden, die allem möglichen Lei- 
den unterworfen sind, das uns selbst mit betrifft?***). 

•) p. 106. 160. 
**) p. 130. 160. 
**♦) p. 120. Vgl. De intell. emend. p, 416. 



- 8a — 

Wenn wir aber die wahre Erkenntniss haben , dass Gott 
allein Wesen hat, dass Gott das höchste Gut ist, so ent- 
steht aus der Liebe Gottes die höchste, unveränderliche 
Seligkeit, und alle Passionen verschwinden, denn Gott ver- 
ändert sich nicht und kann nicht verloren werden; in ihm 
ruht unsere Liebe, wir werden darin mit ihm eins und 
selbst vollkommen. Da ihr Object unendlich ist, ist sie 
unendlicher Steigerung fähig'*'). 

Die Wirkungen dieser Liebe beschreibt Spinoza näher 
als Wiedergeburt, Unsterblichkeit und Frei- 
heit. 

Zuerst als Wiedergeburt. Wie aus der Vereini- 
gung unserer Seele mit dem Körper, aus der durch ihn 
gegebenen Eenntniss der körperlichen Dinge und den da- 
durch hervorgerufenen Passionen alle die Wirkungen ent- 
stehen, die wir fortwährend durch die Bewegung der Le- 
bensgeister in uns gewahr werden: so entstehen, wenn 
einmal unsere Erkenntniss und Liebe auf dasjenige ge- 
fallen ist, ohne welches wir weder bestehen noch begriffen 
werden können, und das keineswegs körperlich ist, 
auch Wirkungen in uns aus solcher Vereinigung, die un- 
vergleichlich grösser und herrlicher sind^ da die Wirkungen 
nothwendig nach der Natur dessen sich richten, womit wir 
vereinigt sind. Wenn wir solche vortreffliche Wirkungen 
in uns gewahr werden, können wir mit Wahrheit sagen, 
dass wir wiedergeboren sind; denn unsere erste Ge- 
burt war, da wir uns mit dem Leibe vereinigten, woraus 
die genannten Wirkungen und Bewegungen der Geister 
entstanden sind; aber diese unsere zweite Geburt ist, wenn 
wir ganz andere Wirkungen der Liebe in uns gewahr wer- 
den, die der Erkenntniss des unkörperlichen Gegenstandes 
gemäss sind, und die soviel von den ersten verschieden 
sind, als der Unterschied von körperlich und unkörperlich, 
von Geist und Fleisch beträgt Um so mehr mag dies 

*) p. iw. 



— 81 — 

eine Wiedergeburt genannt werden , weil aus dieser Liebe 
und Vereinigung erst eine ewige und unveränderliche Be- 
ständigkeit folgt*). 

Die zweite Wirkung der Gottesliebe ist nemlicb die 
Unsterblichkeit (Onsterffelyhheid) der Seele. So lange 
die Seele nur mit dem Leibe vereinigt ist, und als Idee 
des Leibes nur diesen erkennt und liebt, entspricht die 
Veränderung und Dauer der Seele der Veränderung und 
Dauer des Leibes; sie vergeht, wenn der Leib vergeht. 
Wenn sie aber mit Gott, ohne den sie nicht sein noch be- 
griffen werden kann, vereinigt ist, so muss sie mit ihm 
unveränderlich und beständig bleiben**). Eö kann kein 
Zweifel sein, dass Spinoza mit diesen Worten eine Un- 
sterblichkeit der Seele im gewöhnlichen Sinne lehren will. 
Nicht nur setzt er der endlichen Dauer des Leibes eine 
onendliche Dauer gegenüber (eeuwigduurmdheid) ; die 
ganze Unterscheidung der Ethik zwischen Ewigkeit und 
unendlicher Dauer ist dem Tractate noch fremd. Er be- 
gründet die Ewigkeit der Seele nicht darauf, dass ihr 
Körper im göttlichen Verstände sub aetemitatis specie ge- 
dacht werde, er vergisst, so zu sagen, dass er sie zur 
Idee des Körpers gemacht hat; wie er Gott als rein gei- 
stiges Wesen dem Körper gegenüberstellt, so löst er auch 
die Seele vom Körper los und betrachtet die Idee Gottes 

*) p. 206. 208. 

**) p. 208. 210. vgl. 154. Im ZusammenhaDg mit diesem letz- 
teren Gedanken widerlegt Spinoza im 25. Cap. die Möglichkeit des 
Teufek». Ist der Teufel ein Wesen, das Gott vollkommen entgegen- 
gesetzt ist und von Gott nichts in sich hat, so ist er identisch mit dem 
Nichts. Ist er ein denkendes Wesen, das nichts Gutes will noch thut, 
und sich ganz gegen Gott wendet, so kann er ebenso keinen Moment 
existiren; ^denn aus der Vollkommenheit eines Dings folgt seine 
Dauer; je mehr Eealität, d. h. Göttlichkeit ein Ding ia sich hat, 
desto beständiger ist es. Für ein denkendes Wesen besteht das 
Mass seiner Realität in dem Masse seiner Liebe und Vereinigung 
mit Gott. Da im Teufel davon gerade das Gegentheü stattfindet, 
80 hat er keine Realität und kann also nicht bestehen. 

Sigirait, SpinoM's Inctat. 6 



als ihren einzigen Inhalt. Indem er femer p. 154 die 
Liebe €k>ttes einer Steigemng ins Unendliche fähig sein 
lässt, weist er ausdrücklich auf einen in der Zeit sich voll- 
ziehenden Process hin. So ist auch der Gegensatz, den 
er dem ewigen Leben gegenüberstellt, ausdrücklich der 
zeitliche Genuss des höchsten Gutes. Selbst wenn wir 
nur diesen hätten, müssten wir doch Gott als das höchste 
Gut erkennen, und die Liebe zu ihm ftlr unsere höchste 
Seligkeit; es ist eine' grosse Ungereimtheit, wenn Viele, 
die für grosse Theologen gelten, behaupten, wenn der Er- 
kenntniss Gottes kein ewiges Leben folgte, würde man 
seiner sinnlichen Wollust und weltlichem Vergnügen naeh- 
trachten *). 

Die letzte Wirkung der Gottesliebe ist endlich die 
Freiheit. Was ist Freiheit? Frei ist, was den Grund 
seiner Wirkungen in ^ioh selbst, nicht ausser sich hat. 
Je mehr ein Ding Essenz hat, desto mehr Activität und 
desto weniger Passivität hat es; desto weniger wird es 
also von äusseren Ursachen bestimmt, desto mehr von sich 
selbst. Darum ist Gott als die immanente Ursache von 
Allem zugleich die allerfreieste Ursache. Was aus einer 
freien Ursache hervorgeht, dauert so lange seine Ursache 
dauert, und kann nicht von aussenher gestört werden; es 
bildet mit seiner Ursache Ein Ganzes, ist durch sie und 
wird durch sie begriffen. 

Ist Gott die absolut freie Ursache, weil er alle Eea- 
lität ist, so ist jedes Ding um so freier, je mehr Bealität 
es hat, je enger es also mit Gott vereinigt ist, je weniger 
es von äusseren Ursachen abhängt. Der wahre Verstand 
hängt von keinen äusseren Ursachen ab; er ist unmittelbar 
von Gott als seiner ewigen und unveränderlichen Ursache 
hervorgebracht; er ist unvergänglich, und verhält sich zu 
seinen Wirkungen selbst als immanente Ursache, die mit 
ihren Wirkungen Ein Ganzes bildet, und selbst ewig ist. 



*) p. 222. 224. 



~ BS — 

Je yollkommener die Werke sind, die wir ausser uns 
selbst wirken (d. h. je mehr nur yon uns selbst und je 
weniger yon aussen abhängig), desto mehr ist es möglich, 
dass auch sie mit uns sich vereinigen und Eine und die- 
selbe Natur mit uns ausmachen. In dieser Weise gesehieht 
es, dass, wenn ich durch meine Vereinigung mit Gott in 
mir wahre Ideen hervorbringe, und dieselben meinen Näch- 
sten bekannt mache, damit dieselben mit mir zugleich des 
Heils theilhaftig werden, dann hiedurch in ihnen ein gleiches 
Begehren wie in mir entsteht, dass ihr Wille derselbe mit 
dem meinigen ist, und wir so eine einige Natur aus- 
oiachen, die in Allem tlbereinkommt. 

So schliesst also Spinoza, indem er unsere Freiheit 
definirt als den festen Bestand, den unser Verstand durch 
seine unmittelbare Vereinigung mit Gott gewinnt, um in 
sich Ideen und ausser sich Werke hervorzubringen, die mit 
seiner Natur tibereinstimmen, ohne irgend einer äusseren 
Ursache unterworfen und durch sie veränderbar oder ver- 
wechselbar zu sein*). 

So erscheint also die wahre Erkenntniss als unmittel- 
bare Wirkung Gottes in uns, als immanentes Thun des gött- 
lichen Denkens in uns, das ganze System unserer Gedan- 
ken als göttliche Activität. Wie sich freilich diese Auf- 
fassung mit dem Satze vereinigen lasse, dass alles Er- 
kennen blosse passio, blosse Wirkung des Objects sei, hat 
Spinoza so wenig untersucht, als wie dieselbe zu der ün- 
sterblichkeitslehre in dem eben vorgetragenen Sinne sich 
verhalte. Ist der menschliche Verstand eine unmittelbare, 
von keinen andern Ursachen abhängige Wirkung Gottes, so 
ist er nothwendig in demselben Sinne ewig, wie Gott ewig 
ist. Wir erkennen aber in diesen letzten Sätzen, mit denen 
Spinoza den Tractat schliesst und die in ihrem ganzen 
Tone merklich von den unmittelbar vorangehenden ab- 
stechen, die Grundlage der späteren Ausführung der Ethik. 

*) p. 224—230. 

6* 



— 84 — 

Noch ist eine Frage zu beantworten, die sich Spinoza 
im Znsammenhange mit der Lehre von der Liebe Gottes 
stellt Gibt es, fragt er p.210, anch eine Liebe Gottes 
zn nns? Er antwortet mit Nein. Wir können Gott keine 
Weisen des Denkens zuschreiben ausser denen, welche in 
den Greaturen sind, also auch nicht sagen, dass Gott die 
Menschen liebe; am allerwenigsten so, dass er sie liebe, 
wenn sie ihn lieben, und hasse, wenn sie ihn hassen; denn 
dies würde einerseits voraussetzen, dass die Menschen frei 
und andererseits, dass Gott von einer äusseren Ursache 
abhängig und veränderlich wäre. Wenn wir aber sagen, 
dass Gott die Menschen nicht liebt, so ist das nicht so zu 
verstehen, als ob er die Menschen (so zu sagen) allein 
laufen liesse, sondern weil die Menschen mit Allem, was 
da ist, zusammen so in Gott sind, dass Gott aus ihnen 
allen besteht, so muss er so begriffen werden, dass in ihm 
keine eigentliche Liebe zu etwas Anderem Statt haben 
kann, weil es ftlr ihn kein Anderes gibt. Daraus folgt 
weiter, dass Gott weder andere Gesetze den Menschen ge- 
geben hat, als die Naturgesetze, welche sie nicht über- 
treten können, noch sich irgendwie äusserlich geoffenbart 
hat. Jede äussere Offenbarung setzt die innere schon vor- 
aus. Es sind die Grundgedanken des theologisch -politi- 
schen Tractats, die hier kurz angedeutet werden. 

3. Der ethische Prooess, die Veihiclrklichung 
des höchsten Guts im Menschen. . 

Wir haben bisher die verschiedenen Stufen derErkennt- 
niss und die aus ihnen hervorgehenden Wirkungen im Zur 
sammenhange dargestellt Aber es ist in beschreibender 
Weise geschehen; die ethische Betrachtungsweise, welche 
die verschiedenen Stufen menschlicher Thätigkeit darauf 
ansieht, ob sie ihn zur Vollkommenheit fahren oder nicht, 
ist zwar als Aufgabe der Batio erkannt worden; aber wir 
haben das Ganze noch nicht unter diesen Gesichtspunkt 



— 85 ~ 

gefltcUt, wir haben die Frage, um deren Beantwortung es 
Spinoza vor Allem zu thun ist: Wie kommt der Mensch 
zum höchsten Gute, und was hat er zu thun, damit er es 
erreiche, nicht beantwortet. Es ist unsere Aufgabe, dies 
nachzuholen, die menschlichen Thätigkeiten aus dem Ge- 
sichtspunkte des Zwecks zu betrachten, der erreicht wer- 
den soll 

Als diesen Zweck, als das Ideal des vollkommenen 
Menschen haben wir die Vereinigung mit Gott, als dem 
vollkommensten Wesen erkannt« Der Ausgangspunkt, das 
Gegebene, sind die passiones. Welche derselben führen 
diesem Ziele zu, welche davon ab? welche sind gut, welche 
nicht? So stellt sich zunächst die Frage, welche die Batio 
zu beantworten hat 

Demgemäss sollen Gap. 5 und ff. alle passiones nach 
diesem Gesichtspunkte beurtheüt werden. Aber dieser Ge- 
sichtspunkt der Vereinigung mit Gott in der Liebe wird 
nur Anfangs festgehalten ; und bald treten andere, viel ab- 
stractere und allgemeinere neben ihn, nemlich bald der, 
ob die passiones mit der Vernunft übereinstimmen, und in 
dem ihre Stelle finden können, der seinen Verstand recht 
gebraucht, bald der, ob die passiones den Menschen 
schwächen oder stärken, ihn in seinem Sein vorwärts oder 
rückwärts bringen, dasselbe vermehren oder vermindern. 
Das natürliche ^ Streben geht immer auf Steigerung und 
Stärkung des eigenen Seins; und nur was in dieser Rich- 
tung liegt, ist gut. 

Allerdings sind diese verschiedenen Fassungen nicht im 
Widerspruch mit einander. Denn die Bedeutung der Erkennt- 
niss und Liebe Gottes für den Menschen ist doch vor Allem 
die, dass er einerseits das Princip aller wahren Erkenntniss 
aufnimmt, andererseits vollkommen, weil der Vollkommen- 
heit Gottes theilhaftig wird, seine Realität, seine Existenz- 
kraft dadurch steigert, unsterblich und frei wird. Dasselbe 
Ziel also, das formell als Erhaltung und Erhöhung des eigenen 



— 86 — 

Seins erscheint, ist bestimmter nnd inhaltsvoller gedacht 
die Erkenntniss nnd Liebe Gottes. Und so kann am Ende 
neben der Liebe Gottes als ethischem Princip das andere 
erscheinen, den eigenen Nutzen zu suchen, wie es unsere 
Natur mit sich bringt*). Unser wahrer Nutzen ist ja kein 
anderer, als Gott zu lieben und nach den Regeln der Ver- 
nunft zu leben. Nur ist es fElr den Standpunkt des Tractats 
charakteristisch, dass die Liebe Gottes voransteht, und erst 
hernach mit ihr zuerst das vernünftige Leben und dann 
die natürliche Selbsterhaltung identificirt wird. 

Von diesen Gesichtspunkten aus erscheinen nun die 
meisten passiones als malae. Der Hass kann nicht bestehen ; 
er setzt die Liebe zu einem Gut voraus, das beschädfgt 
werden kann; wer aber Gott liebt, liebt nichts, was Scha- 
den leiden mag, und hält alles Andere für die Elendigkeit 
selber; um dessen willen vermag also kein Hass in ihm 
zu entstehen**). Oder von anderem Gesichtspunkte aus: 
Aus Hass und Abscheu entsteht Traurigkeit, weil wir uns 
damit eines Dinges, das Realität hat, berauben, ebenso wie 
wir durch die Liebe unser Dasein verstärken und erhöhen 
durch Einigung mit dem geliebten Gegenstand***). Hass 
und Abscheu schwächen uns also, sind dem allgemeinen 
Streben nach Erhaltung des eigenen und alles anderen 
Seins zuwider, also passiones malae****). Dasselbe gilt 

*) p. 224. 
**) p. 106. 

***) In diesem Zusammenbang erscheint auch der Mensch als 
ein Gut für den Menschen. Es ist unser Interesse, dass nicht bloss 
wir selbst, sondern Alles, wozu wir in Beziehung stehen, besser und 
ToUkommener werde. Da nun unter den uns gegenwärtigen Dingen 
ein Tollkommener Mensch das allerbeste für uns ist, so ist es für 
uns und für alle Menschen das Beste, dass wir sie zu allen Zeiten, 
zu dieser Vollkommenheit zu leiten trachten ; denn dann können wir 
von ihnen und sie von uns die beste Frucht haben. Dieser später 
ih der Ethik ausgeführte Gedanke wird hier nicht weiter verwerthet, 
und nur noch einmal p. 22S berührt. 

♦*♦*) p. 126. 128. 



— 87 — 

von der Traurigkeit, von der Bene als einer Art der 
Traurigkeit u. s. f. 

Was fibrig bleibt und von der ratio als gut erkannt 
wird, sind zuerst die passiones, die auf richtiger Erkennt- 
niss unserer selbst beruhen, wie Stolz und Demuth, denn 
sie sind die Voraussetzungen unseres Fortsehrittes zur Voll- 
konunenheit; vor Allem aber die Liebe mit der. daraus 
folgenden Freude, weil sie unser Dasein erhöht und uns, 
auf Gott gerichtet, in den Besitz des höchsten Gutes selbst 
setzt. 

Wer also vermöge der ratio die richtige Erkenntniss 
des Guten und Bösen hat, der weiss, dass er jene Leiden- 
schaften alle vermeiden und in sich ertödten solL 

Aber diese Erkenntniss hat nicht die Kraft» 
uns wirklich von den schlechten Leidenschaf- 
ten zu befreien. 

Allerdings, wer von Anfang und immer sdnen Ver- 
stand recht gebraucht und in der wahren Erkenntniss 
gelebt hätte, der könnte unmöglich in diesen Sumpf ver- 
fallen. Allein wir haben die Leidenschaften; jenes ver- 
ntlnftige Leben ist ein Ideal, dem wir nicht entsprechen; 
und die blosse Erkenntnisse dass wir ihm nicht entspre- 
chen, hebt die Leidenschaften nicht auf Es geschieht zu- 
weilen, dass wir sehen, dass eine Sache gut oder böse ist, 
aber die Kraft nicht in uns finden, das Gute zu thun und 
das Böse zu lassen. Woher dies? Einzig aus dem Ver- 
hältniss der ratio zu den Leidenschaften selbst Die Lei- 
denschaften entspringen theils aus Hörensagen, theils aus 
eigener Erfahrung. Bei denen, die aus eigener Erfahrung 
entspringen, haben wir den Gegenstand derselben unmit- 
telbar vor uns, und so wirkt er mit einer Macht, die durch 
die blosse Ueberzeugung auf Gründe hin nicht aufgehoben 
werden kann. Die unmittelbare Wirkung ist stärker ah 
die mittelbare*). 



*) p. 200. 202 und Zusatz/ 



— 88 — 

So folgt deim, dass nur wieder durch eine nnmittel- 
bare Wirkung die Leidenschaften vemichtet werden können, 
durch ein Object, das uns ebenso unmittelbar gegenwärtig 
ist, als die Objecte der sinnlichen Erfahrung. Dies ist aber 
nur möglich innerhalb der dritten Erkenntnissart. Nur die 
Liebe Gottes, die aus seiner unmittelbaren Offenbarung an 
uns koibmt, hebt die Leidenschaften auf; sie hebt sie aber 
nothwendig auf. Wenn also verlangt wird, dass die Lei- 
denschaften unterdrückt werden, damit man zur Erkenntniss 
und Liebe Gottes gelangen könne, so heisst das ebensoviel, 
als wenn man verlangte, ein Unwissender solle erst seine 
Unwissenheit ablegen, ehe er zur Erkenntniss koomie; 
denn nur die wahre Erkenntniss ist es, durch welche sie 
vemiclhtet werden. 

Sollte dieses Verhältniss von Wahn, wahrem Glauben 
und intuitiver Erkenntniss Gottes nicht dasselbe sein, wor- 
über Einige unter anderem Namen so viel geschrieben 
haben? Wer sieht nicht, wie passend wir unter dem 
Wahne die Sünde, unter dem Glauben das Gesetz, das die 
Sün^e zeigt, unter der wahren Erkenntniss die Gnade, 
die uns von Sünden frei macht, verstehen können*)? Durch 
diese theologische Parallele hat Spinoza treffend und kurz 
die Ethik des Tractats charakterisirt Wir begreifen hier- 
aus am besten, wie er den wahren Glauben immer nur 
als Vorstufe, als Weg zum wahren Heil bezeichnen muss. 

Vergleichen wir nun den Boden, auf dem Spinoza hier 
steht, mit dem Gebäude, das er später aufführte, so zeigt sich 
auf allen Punkten die eindringende Umbildung, welcher er 
seine Begriffe unterworfen hat. Zunächst erscheint die Lehre 
vom Menschen in der Ethik als eine directe Portsetzung der 
Lehre von Gott und seinen Modis. Das Verhältniss von 
Leib und Seele ist unmittelbar angeknüpft an die Lehre 
von den beiden Attributen. In gleich consequentem Fort- 
schritt erörtert er eingehend das Wesen der sinnlichen Er- 

*) p. 180.;Zußatz. 



-- 89 — 

kenntn^s, über welche der Tractat nur sehr allgemeine 
und nnbestimmte Sätze aufgestellt hatte ; er bestimmt nach 
einer Seite das Wesen der Erkenntniss des eigenen Kör- 
pers, er fahrt nach der andern die Andeutung aus, mit der 
der Schluss des Anhangs auf die reflectirte Idee hingewiesen 
hatte. Die Unterscheidung der drei Erkenntnissarten läöst 
er zwar in der Hauptsache stehen; aber auch hier vervoll- 
ständigt und verdeutlicht er seine Lehre. Im Gebiete des 
Wahns wird die Erkenntniss aus Hörensagen zu der umfas-' 
senderen Erkenntniss aus Zeichen erweitert, die Erfahrung 
bestimmter als experientia vaga auf einzielne dnnliche Wahr- 
nehmungen bezogen. Wie er die Lehre von der zweiten und 
dritten Erkenntnissart umgebildet hat, ist schon hervorge- 
hoben. Während der Tractat die Lehre von Wahrheit und 
Falschheit der Ideen nur gelegentlich zwischen einschob,, 
geht sie hier als Untersuchung der Bedingungen adäquater 
Ideen voran. In Beziehung auf die Gotteserkenntniss ist 
das Schwanken des Tractates zwischen einer adäquaten. 
Erkenntniss (p, 78) und einer solchen, die nicht vollkom- 
vmener ist als die des Körpers, beseitigt, der Sinn, in dem. 
wir Gott erkennen, genau bestimmt. Das Verhältniss von, 
Verstand und Willen ist ins Klare gebracht. 

Noch tiefer eindringend ist die Umbildung, welche die 
Lehre von den Passionen, oder wie er sie jetzt, um den 
Ausdruck passio nur in seinem engeren Sinne brauchen zu 
können, nennt, Affecten, nach jeder Hinsicht erfahren 
hat. Was wir im Tractate vermissten, eine allgemeine 
Definition der Passion und eine Ableitung der einzelnen 
Passionen, das ist mit der pünktlichsten Genauigkeit ge- 
leistet; und als hätte Spinoza einen Hauptfehler seines 
Tractates, den Widerspruch, in den er durch die Behaup- 
tung gerieth, dass das Erkennen blosse passio sei, recht 
auffallend gut machen wollen, stellt er gleich am Eingange 
des dritten Buches den Unterschied zwischen actio und 
passio aiif, um ihn von nun an ganz consequent zu hand- 
haben. Indem er zugleich das Streben der Selbsterhaltung 



— 90 — 

zur Basis der ganzen Lehre macht, gewinnt er yon yora 
herein einen Gresichtspnnkt, für den ihm die Unterscheidung 
derjenigen Affecte, die gut^ und derjenigen, die schlecht 
sindy aus ihrer Definition selbst sich ergeben kann ; denn 
gut ist, was ans der actio, schlecht, was ans der passio 
kommt; die actio aber ist die adäquate, die passio die in- 
adäquate Erkenntniss. So ist die Ableitung der Affecte aus 
dem Wahn einerseits, aus der Erkenntniss andererseits gleich 
von vom herein mit dem andern Unterschiede combinirt. 

Bei dieser Umbildung geht nun aber gerade mit den 
Begriffen, welche im Tractat die hervorragendste Rolle 
spielten, mit den Begriffen des Begehrens und der Liebe 
eine gründliche Veränderung vor. 

Der Hauptsatz des Tractates, dass Begierde und Liebe 
aus dem Urtheil hervorgehe, dass etwas gut sei, der Satz, 
auf dem die ganze Ausflihrung des Tractates ruht, wird 
von dem Scholion zu III. 9 ausdrücklich aufgehoben: wir 
erstreben, wollen, begehren, wünschen nichts deswegen, 
weil wir es ftir gut halten, sondern umgekehrt, wir halten 
es deswegen für gut, weil es in der Richtung unseres 
natürlichen Selbsterhaltungstriebs liegt. Das Urtheil über 
gut und schlecht ist also von dem rein theoretischen Boden, 
auf dem der Tractat es gehalten hatte, auf den praktischen 
verpflanzt. (Vgl. Eth. IV, 8.) 

Mit diesem Satze ist die ganze Lehre von den Affecten 
auf einen andern Grund gestellt. Jener Selbsterhaltungs- 
trieb, den der Tractat schon aus einer auf Erkenntniss 
ruhenden Liebe erklärte, ist mit dem Wesen eines Dinges 
selbst als dem Grunde aller seiner Aeusserungen identificirt, 
er ist nicht mehr Folge einer Erkenntnissthätigkeit, sondern 
blinder Trieb. Das Begehren ist nur der bewusste Trieb. 
Die ganze Lehrp von den Affecten wird auf die Definition 
der Laetitia und Tristitia gebaut, wonach jene die passio 
sein soll, durch welche der Mensch zu grösserer Vollkom- 
menheit, diese, durch welche er zu geringerer Vollkom- 



^ 91 - 

menheit übergeht, also die Bejahung und Yerneinnng seines 
Selbsterhaltungstriebs. So sind Laetitia, Tristitia und Cupi- 
ditas die primären Affecte. Von dieser Grundlage aus 
wird die Beihe der einzelnen ÄflFecte systematisch geordnet 
und ihre Begriffe deducirt. Consequent wird dann auch 
die Liebe total verschieden definirt; sie ist jetzt (SchoL 
zu III, 13) Freude, begleitet von der Vorstellung einer 
äusseren Ursache ; und ganz ausdrücklich verwirft die Er- 
klärung der 6. Definition Spinoza's eigene frühere Lehre, 
freilich zunächst in der Form, in der Cartesius (De pass. 
n, 79) sie gegeben hatte, wenn sie sagt, diejenigen, welche 
die Liebe als den Willen zur Vereinigung mit dem ge- 
liebten Gegenstand erklären, seien unklar und verwechselo 
eine proprietas mit dem Wesen. So gibt denn auch Spi- 
noza alle jene Sätze auf, wonach die Liebe eine unent- 
behrliche, mit der Existenz selbst gegebene Weise des 
Denkens ist; an ihre Stelle ist in dieser Hinsicht der blosse 
Selbsterhaltungstrieb getreten; die Liebe ist, statt alles 
Guten und Bösen Quelle zu sein, ein Affect neben vielen 
anderen geworden. 

Im engsten Zusammenhange damit steht es, )venn nun 
nicht mehr Gott als das höchste Gut dargestellt wird, wie 
überall im Tractat, sondern die Erkenntniss Gottes, und 
zwar nicht deswegen, weil darin der Mensch mit d^m voll- 
kommensten Ob]ecte sich einigt, sondern deshalb, weil er 
darin am meisten activ ist und sich selbst erhält. Dadurch, 
durch das Innewerden der eigenen Förderung durch die 
Erkenntniss Gottes ist die Liebe Gottes begründet. Nir- 
gends mehr gebraucht Spinoza den Ausdruck einer Vereini- 
gung mit Gott, oder den charakteristischen „Gott geniessen"; 
an ihre Stelle tritt die intellectuelle Liebe Gottes, hervor- 
gegangen aus der Erkenntniss Gottes als des ewigen Seins, 
nicht aus der Erkenntniss Gottes als des höchsten Gutes. 

Ist so die psychologische Reihenfolge der Begriffe Gut 
und Liebe völlig umgekehrt, so muss auch die Ethik sich 
ganz anders gestalten. Zunächst ist die Thatsache, die der 



- 92 ~ 

Tractat nur vorausgesetzt hatte, dass wir Leidenschaften 
haben, als nothwendig nachgewiesen (Eth. IV, 1—7). Der 
Satz des Tractates, dass die wahre Erkenntniss des Guten 
und Bösen, bloss sofern sie wahr ist, die schlechten Affecte 
nicht vernichten könne, wird allerdings IV, 14 wiederholt; 
aber während der Tractat daraus schliesst, dass nur die 
Erkenntniss und Liebe Gottes Macht habe über die Affecte, 
weil das bessere Object allein die Liebe zu den schlech- 
teren zu verdrängen vermöge, wird in der Ethik diese 
passive Auffassungsweise in eine active verwandelt. Der 
Passivität der Affecte tritt der Selbsterhaltungstrieb ent- 
gegen, die Macht der Activität, deren Ziel kein anderes als 
klares Denken und Erkennen ist; vermöge des ursprüng- 
lichen Triebs auf Erkenntniss erscheint dem Menschen, so- 
bald er von seinem Denken Gebrauch macht, die Erkennt- 
niss als das wahre Gut, und die Erkenntniss Gottes, die 
Bedingung und Vollendung aller wahren Erkenntniss, als 
das höchste Gut. (IV, 26—28.) Aus denselben Vorder- 
sätzen wird dann auch in systematischem Zusammenhang 
mit dem Ganzen die vereinzelte Behauptung des Tractats 
begründet, dass der Mensch ftir den Menschen unter den 
einzeben Dmgen das grösste Gut sei, und so die Einige 
kdt der Menschen mit dem höchsten Gute in Verbindung 
gesetzt So darf also nur das Denken entwickelt, die 
Activität gesteigert werden, um die Passivität der Affecte 
n überwinden, und selbst den Körper in Uebereinstimmung 
mit der Ordnung der Ideen zu bringen; und das Mittel 
also, das der Anfang des 5. Buches gegen die Affecte em- 
pfiehlt, ist lediglich ihre klare und deutliche Erkenntniss, 
in der zugleich die Erkenntniss Gottes eingeschlossen ist 
Somit wird doch der blossen Erkenntniss die Macht zuge- 
wiesen, den Menschen zu befreien; die Klarheit des Den- 
kens, die Einsicht in die allgemeine Nothwendigkeit reicht 
dazu hin; und es ist auch von dieser Seite nicht abzu- 
sehen, was die dritte Erkenntnissart mehr und Neues dazu 
hringen soIL 



- m — 

Aber Spinoza hält sie dennoch fest nnd leitet nnr 
ans ihr die intellectuelle Liebe Gottes ab. Aber auch in 
dieser Hinsieht zeigt sich die nachbessernde Bearbeituag: 
Im Tractate war das Verhältniss der Seele zu Gott ent- 
gegengestellt ihrem Verhältniss zum Leib, das Geistige 
hoch über das Körperliche erhoben: Es war vergessen, 
dass die Ausdehnung ein Attribut Gottes, und dass die 
Seele nur die Idee ihres Leibes sein soll; sie hatte ein 
unabhängiges Dasein gewonnen, das Verhältniss zum Leib 
war nur £ine Seite ihres Wesens. Daraus hatte sich ihm 
seine Lehre von der Unsterblichkeit ergeben. Diese Incon- 
sequenz musste ausgeglichen werden. Im Begriffe der 
Seele, als Idee des Körpers, musste die Möglichkeit der 
Unsterblichkeit gefunden werden. Indem die Seele ihren 
Körper erkennt, erkennt sie ihn nicht bloss, wie er zeitKeh 
ist, sondern sie erkennt ihn sub specie aeternitatis, sie er- 
kennt sein ewiges Wesen, wie es mit.Nothwendigkeit aus 
der göttlichen Natur folgt Nicht weil die Seele Gott liebt, 
ist sie unsterblich, sondern weil der Körper selbst eine^ 
seits zeitlich, andererseits ewig ist, ist auch die Seele einer- 
seits zeitlich, andererseits ewig. Ewig, aber nicht un- 
sterblich. Wenn es möglich wäre, die Ewigkeit durch die 
Zeit auszudrücken, so würde ebensogut Präexis4;enz als 
Postexistenz folgen (V, 23. Schol.). Aber sie ist ewig, 
sofern sie ein Theil des ewigen, göttlichen Denkens iBt^ 
das gar keine Beziehung zur Zeit hat Das ist die Cor- 
rectur, die Spinoza einführt, und die, wie oben bemerkt^ 
erst durch das letzte Capitel des Tractates vorbereitet war. 

Endlich noch die intellectuelle Liebe, mit der Gott sich 
selbst liebt Der Tractat hatte verneint, dass Gott den Men- 
schen liebe. Die Ethik wiederholt (V, 17, Coroll): Eigent- 
lich zu reden, Hebt Gott Niemanden. Aber die intellectuelle 
Liebe der Ethik ist auch von Seiten des Menschen nur im 
uneigentlichen Sinne Liebe, nachdem sie auf die Ewigkeit 
eines Theiles der menschlichen Seele gegründet ist Damit 
ist die Entwicklung, welche der Tractat im Uebergang 



~ 04 ~ 

von der Liebe der yergängliohen Dinge zu der Liebe Gottes 
findet y aufgehoben; was eyrig ist, kann nicht mehr oder 
minder werden, nicht in der Zeit wachsen, also auch nicht 
den Affect erregen, der den Uebergang zu grösserer Vollr 
kommenheit begleitet. Es ist nur der ruhige, immer gleiche 
Besitz der Vollkommenheit. Davon hat Spinoza ein sehr 
bestimmtes Bewnsstsein, wenn er Y, 31. Schol. sagt, um 
was er sagen woUe, deutlicher zu machen, wolle er so 
sprechen, als ob die Seele erst anfienge zu sein und die 
Dinge unter der Form der Ewigkeit zu betrachten. Darin 
zeigt sich deutlich, dass ihm die intellectueUe Liebe zu^ 
erst von einer andern Betrachtungsweise aus entstanden 
ist, dass er sie aber beizubehalten bemüht ist, auch nach- 
dem die ursprünglichen Voraussetzungen sich geändert 
haben. Und nun kann er in demselben Sinne allerdings 
auch von einer intellectuellen Liebe reden, mit der Gott 
sich selbst liebt. Die Frage ist nur, ob der Satz des 
Tractats, dass es in Gott keine anderen Weisen des Den- 
kens gebe, als die in den Greaturen sind, damit aufgeho- 
ben ist, oder nicht; ob so, wie die intellectueUe Liebe der 
Seele ein Theil der unendlichen Liebe Gottes ist, die Liebe 
Gottes zu sich selbst nur die Totalität der in den endlichen 
Geistern gesetzten Liebe ist. Wenn der Tractat ganz ent- 
schieden fUr rein pantheistische Gonsequenz spricht, und 
ausserdem Beispiele genug einer Umdeutung theologischer 
Begriffe bietet ; so darf andererseits nicht übersehen wer- 
den, dass im Tractat auch der dritte Satz des zweiten 
Buches der Ethik sich nirgends findet, wonach in Gott eine 
Idee seines Wesens ist. Nur so viel lässt sich mit Be- 
stimmtheit sagen: Wenn Spinoza in der Ethik über den 
Naturpantheismus hinausgegangen und ein Selbstbewusst- 
sein Gottes als des Unendlichen gelehrt hätte, so wäre das 
nicht in seiner ursprünglichen Denkweise begründet «ge- 
wesen, sondern lediglich aus seiner Lehre von den Ideen 
als vervollständigende Gonsequenz hervorgegangen, wonach 
von Allem was ist, im Attribut des Denkens eine Idee ist. 



• 96 ~ 

Im Tractat hat dabei Spinoza entschieden an die einzeben 
endlichen Dinge und ihre Ideen gedacht; die Conseqnenz 
forderte, auch eine Idee ihrer Totalität, ihres gemeinschaft- 
lichen Grundes, in Gott zu setzen. Diese Gonsequenz zieht 
zunächst der Zusatz zu p. 204: Wenn in der Natur kein 
Ding ist, dessen Idee nicht in seiner Seele gegeben wäre, 
so erhellt daraus auch, was wir im ersten Theile sagten, 
dass der unendliche Verstand, den wir den Sohn Gottes 
nannten, von aller Ewigkeit her in der Natur sein muss; 
denn da Gott von Ewigkeit gewesen ist, so muss auch 
seine Idee in dem Denken, d. h. in ihm selbst von Ewig- 
keit sein, und diese Idee kommt mit ihm selbst objectiv 
ttberein, d. h. so dass ideell in ihr gesetzt ist, was reell in 
Gott ist. Erscheint so der Logos als Inbegriff aller Ideen 
zugleich als die Idee Gottes selbst, djie in ihm ist, so drückt 
denselben Gedanken der Anhang des Tractats (p. 240) so 
aus, dass er in Gott eine unendliche Idee setzt, welche 
die ganze Natur ideell in sich hat; weil die Natur oder 
Gott die Essenzen aller geschaffenen Dinge in sich begreift, 
muss in seinem Denken diese unendliche Idee sein; und 
p. 244 wird dann ausdrücklich wieder auf den Sohn Gottes 
hingewiesen, der das reale Wesen (essentiam formalem) 
aller Dinge ideell in sich hat. Hier ist klar, dass von einem 
Selbstbewusstsein Gottes nicht die Rede sein kann, denn 
der Inhalt der Idee Gottes ist nur die Totalität alles Ein- 
zelnen*); aber es folgt daraus nicht, dass Spinoza nicht 
weiter gegangen sein könnte. Denn er hat auch erst in 
den letzten Worten des Tractats noch auf die auf sich selbst 
bezogene Idee*"^), das Selbstbewusstsein, freilich zunächst 
nur des Menschen, hingewiesen, aber ohne den Gedanken 
dort weiter zu entwickeln. 



*) Ebendahin scheint es zu deuten, wenn im Zusats zu p. 90 
unterschieden wird zwischen den Ideen, welche die einzelnen ezisti- 
renden Dinge repräsentiren, und der cognitio sive idea, quae totam 
naturam omnium entium in sua essentia intemexam cognoscit sine 
particulari eorum ezistentia. 

**) p. 251. een weerkeerig denkbeeld. 



- ,96 ^ 



Die Quellen der Gedanken des Tractates. 

üebersehen wir die bisherige AuseinandersetzuDg : so 
ergibt sich^ dass die Ethik in ihrer vollendeten Gestalt die 
Frucht einer langen und gründlichen Gedankenarbeit ist, 
durch welche die lose zusammenhängenden Theile des 
Tractates miteinander verschmolzen, Inconsequenzen aus- 
geglichen, die GrundbegriflFe nach allen Seiten geklärt und 
entwickelt, und Alles, was sich nicht lügen wollte, über 
Bord geworfen worden ist. Aber wir sehep auch, wie alle 
Grundgedanken schon im Tractate vorhanden waren, und 
wie eine Reihe von Sätzen der Ethik ihr volles Verständ- 
niss erst finden, wenn wir sie als Reste der früheren An- 
schauungsweise erkennen. Die Einsicht in die Genesis des 
Spinozistischen Systems würde vollendet sein, wenn wir 
^u zeigen vermöchten, aus welchen Quellen die Bestim- 
mungen des Tractates selbst geflossen sind. 

Es lässt sich nach dem bekannten Verhältnisse Spinoza's 
zu Cartesius erwarten, dass im Tractat sein^ Abhängig- 
keit von diesem noch stärker hervortreten werde, als später. 
Liegt er doch der Zeit nach jedenfalls den' Princ. philoso- 
phiae Cartesianae nahe. In der That wird diese Erwartung 
vollkommen bestätigt. Das erste Capitel mit den Beweisen 
fürs Dasein Gottes ist ganz nach Cartesius. Die Bestim- 
mung des Verhältnisses von Leib und Seele schliesst sich, 
wenn auch die Zirbeldrüse nicht vorkommt, doch enge an 
Cartesius. an. Die Meinung, dass die Seelp die Bewe- 
gung der Lebensgeister zwar nicht erzeugen, aber ihre 
Richtung verändern könne, ist cartesianisch, und nur aus 
der cartesianischen Physik erklärbar. In vielen einzelnen 
Punkten haben wir Gelegenheit gehabt, die Parallelen aus 
Cartesius herbeizuziehen. In der Lehre von den Aflfecten 
schliesst sich Spinoza, was die Ordnung der Aufzählung der 



— 97 — 

einzelnen Affecte betrifft, fast sklavisch an Gajrtesius' Buch 
De passionibus animae an"^). Ebenso ist die Betrachtung 

*) Schon Ed, Böhmer hat das aus dem von ihm vorgefondenen 
Anszuge erkannt und S. 48 seiner Schrift eine vergleichende Tabelle 
gegeben, aus der die Uebereinstimmung in der beiderseitigen Ord- 
nung erhellt. Die Uebereinstimmung wäre noch auffallender hervor- 
getreten, wenn Böhmer nicht die erste Aufzählung der Affecte bei 
Cart de pass. II, Art. 53 ff. zu Grunde gelegt hätte, sondern die 
Ordnung, in der er sie im zweiten Theile von Art. 69 an und dann 
im dritten ausführlicher abhandelt. Mit den sechs Affecten, welche 
Cartesius als die primitiven dort aufführt, admiratio, amor, odium, 
cupiditas, laetitia, moeror beginnt auch Spinoza, und zwar in der- 
selben OrdnAig, zweimal seine Aufzählung; und ebenso folgt er, 
mit unbedeutenden Auslassungen, auch fortan seiner Vorlage, um 
erst gegen das Ende einige Umstellungen vorzunehmen. Die nach- 
folgende Zusammenstellung wird das am besten erkennen lassen: 



Cartesius de passionibus 


Spinoza 




(nach der Uebersetzung) 


II, 69—148. Admiratio 


II, Cap. 3. u. Cap. 4. ex. Admiratio 


Amor 


ib. Cap. 5. Amor 


Odium 


ib. Cap. 6. Odium (aversio) 


Cupiditas 


ib. Cap. 7. Cupiditas 


Laetitia 


ib. Laetitia 


Moeror 


ib. Tristitia 


m, 149—152. E3dstimatio et de- 


Cap. 8. Existimatio et con- 


spectus 


temptus 


153—156. Generositas et hu- 


Generositas, humili- 


militas 


tas 


157—161. Superbia et humili- 


Superbia, abjectio 


tas vitiosa 




162—164. Vener&tio et dedig- 




natio 




165. Spes et metus 


Cap. 9. Spes et metus 


166. Securitas et desperatio 


Securitas, desperatio 


167—169. Zelotypia 




170. Animi fluctuatio 


Animi fluctuatio 


171. Animositas et audacia 


Intrepiditas et auda- 


172. Aemulatio 


cia 
Aemulatio 


174—176. Pusillanimitas et 


Pusillanimitas et con- 


constematio 


stematio 




Invidia (Böhm. Zelo- 


eis i. CT_i «_ m i._* 


typia, Belgzugt) 



Sigwart, Spmoza*s Tractat. 



— Gel- 
der Affecte in der Hissicht, ob sie gnt seien oder nicht, ein 
Hauptgesichtspunkt bei Cartesius ; somit der grösste Theil 
der zweiten Hälfte des Tractates eine, im Einzehien aller- 
dings selbstständige, Nachahmung seines Vorbildes. Jene 
Lehre ; dass das Erkennen eine blosse passio, ein blosses 
Aufnehmen von Ideen sei, und ebenso dass der Wille im 
Bejahen und Verneinen bestehe, ist fast mit denselben Wor- 
ten, wenn auch mit anderer Tendenz, von Cartesius aus- 
gesproehen worden. 

Allein der Versuch, den Tractat ganz und nach allen 
Seiten aus dem System des Cartesius zu erkläf en, ihn als 
ein Uebergangsglied zwischen die Meditationen und die 
Ethik einzuschieben, würde sich doch in keiner Weise durch- 
fahren lassen. Man würde den ganzen Sinn und Geist dieses 
Tractates, seine eigenthümlichsten Züge verkennen, wenn man 
ihn so auJBfassen wollte. Bei genauerer Betrachtung ergibt 
sich vielmehr, dass wohl viele Lehren aus Cartesius aufge- 
nommen, die wichtigsten Begriffe von ihm angeeignet sind, 
aber nur um sie als Bausteine zu einem Gebäude zu ver- 
wenden, dessen Grundidee eine ganz andere, dessen Sfyl 
dem des Cartesius geradezu entgegengesetzt ist. Die so 
stark hervortretende ethisch religiöse Tendenz , die Lehre 
von der dreifachen Erkenntniss, die Betonung der Ein- 
heit und Unendlichkeit der Natur, die allgemeine Besee- 
lung, die Lnmanenz Gottes, die Lehre von der Liebe Gottes 

in, 177. Conscientiae morsns IF, Cap. 10. Conscientiae morsus 

178—181. Irrisio et jocus Cap. 11. Irrisio et jocus 
182—184. Invidia Invidia 

186—189. Commiseratio Cap. 14. Commiseratio 

190. AoqTiiescentia in se ipso 

191. Poenitentia Poenitentia 

192. Favor Cap. 13. Favor 

193—194. Gratitudo et ingra- Gratitado et ingra- 

tituda titudo 

195 — 103. Indignatio et ira Lra, indignatio 

204—206. Gloria et pudor Cap. 12. Honor et pudor 
207. Impudentia. Impudentia. 



— 99 ~ 

und dem Genosse Gottes , der aus seiner nnmittelbaren 
Selbstoffenbamng entspringt ^ jene ganze pantheistisehe 
Mystik des holländischen Einsiedlers ist so sehr das reine 
/Widerspiel der verstandesklaren, nüchtern räsonnirenden 
Weise des französischen Cavaliers, dass es schlechterdings 
undenkbar ist, wie nur aus Gartesius die Lehre des Spi- 
noza hervorgegangen sein sollte. Schon die Darstellung 
der Ethik, in der doch diese Mystik des Tractates nur noch 
sehr abgeschwächt und durch die scharfe Logik der mathe- 
matischen Methode zersetzt erscheint, hat auf die Yer- 
muthung gefUhrt, dass orientalische Ideen durch Vermitt- 
lung der cabbalistischen Literatur auf Spinoza eingewirkt 
haben. Zeigt er sich doch im theologisch-politischen Tractat 
mit dieser Literatur vertraut*), weist er doch, als Oldenburg 
seine Immanenzlehre bedenklich findet, im 2L Briefe aus- 
drücklich auf jene Traditionen hin. „Dass Alles in Gott 
lebe, webe und sei, behaupte ich mit Paulus und vielleicht 
mit allen alten Philosophen, wenn auch in anderer Weise; 
und ich könnte auch sagen, mit allen alten Hebräern, so- 
viel sich aus gewissen, freilich vielfach gefälschten Tradi- 
tionen schliessen lässt.^' Ja an einer der wichtigsten Stel- 
len der Ethik, II, 7 Schol., wo er lehrt, dass die denkende 
und ausgedehnte Substanz und ebenso alle Modi der den- 
kenden und ausgedehnten Substanz Ein und Dasselbe, nur 
unter verschiedenen Attributen seien, erinnert er sich, dass 



*) Das Uftheil, das er dort Cap. 9 (Paulus I, 297) fallt, Bcheint 
freilich dieser Vermuthung yon yomherein sehr ungünstig zu sein. 
Er schreibt: Legi etiam et insuper nom nugatores aliguos cabbalistasj 
qtWTTum ins<m%am nunguam mirari aoMs potui. Aber dieses weg- 
werfende Urtheil bezieht sich im Zusammenhang lediglich auf die 
cabbalistische Ansicht von der Bedeutung des alttestamentlichen 
Textes; und Spinoza hätte diese verwerfen und doch den specula- 
tiven Gehalt ihrer Lehre in sich au&ehmen können; jedenfalls be- 
weist diese SteUe ausdrücklich, dass er Cabbalisten nicht nur ge- 
lesen, sondern personlich gekannt hat. Zu seinen Lebzeiten erschie- 
nen in Amsterdam mehrere cabb. Werke; so 1642 ein Commentar 
zur Jezira des Abraham ben David. 

7» 



— 100 — 

dasselbe einige Hebräer wie durch einen Nebel gesehen zu 
haben scheinen, wenn sie behaupten, dass Qott^ der gött- 
liche Verstand und die von ihm gedachten Dinge Eins und 
Dasselbe seien*). 

Kein Wufider also, wenn bald nach Spinozas Tode von 
Kennern der cabbalistischen Literatur der Versuch gemacht 
wurde, aus der Ethik die Uebereinstimmung seiner Lehre 
mit der Cabbala nachzuweisen. Job. Georg Wächter ver- 
suchte dies zuerst in seiner Schrift: Der Spinorismus im 
Jtldenthumb, Amsterdam 1699, später in seinem Elucidarius 
Cabbalisticus, Bom 1706. Das letztere Schriftchen führt 
nicht weniger als zwanzig Beweise aus Spinozas Schriften 
dafür auf, dass er in allen wesentlichen Lehren mit der 
Cabbala tibereinstimme — ein Nachweis, an dem man frei- 
lich nicht nur bestimmte Citate aus cabbalistischen Schrif- 
ten vermisst, sondern auch leicht gründliche Missverständ- 
nisse der spinozistischen Philosophie entdeckt. Dieselbe 
Ueberzeugung sprach Beimmann in seinem „Versuch einer 
Einleitung in die Historie der Theologie insgemein und der 
Jüdischen Theologie insbesondere" (Magdeburg und Leipzig 
1717) sehr entschieden aus. ;,Weil fast alle diejenigen, die 
vor und wider ihn geschrieben, sich auf den Gedanken 
bringen lassen, als wenn ihn die Cartesianische Philosophie 
dahin Verleitet hätte, so wird es nicht undienlich sein, einige 
Ursachen anzuführen, warum wir von dieser Meinung ab- 
gehen, und vielmehr die Bechnung machen müssen, dass 
ihn die Cabbalistische Theologie der Juden in diesen Irr- 
garten geleitet habe .... Die Uebereinstimmung seines 
Systematis mit dem Cabbalistischen ist so augenscheinlich 
und handgreiflich, dass wir unserem Verstand und Sinnen 
öffentlich Gewalt anlegen müssten, wenn wir dieselbe nicht 
sehen und merken wollten. Die Cabbalisten haben in der 



*) Dieses Citat lasst sich allerdings ebenso gut auf Moses Mai- 
monides, Moreh Nebokhim Cap. 68 beziehen als (mit Franck p. 21) 
auf Mose Corduero*s Pardes Rimonim. Die gemeinschaftliche Quelle 
beider ist Aristoteles. 



— 101 — . 

That eben die Grundsätze, die der Spinoza hat, und der 
Unterschied bestehet nur blosserdings darin, dass er die- 
selbe in eine gewisse Knnstform verfasset und auf eine 
geometrische Art vorgetragen hat"*). 

Wäre nun diese Ansicht richtig, so liesse sich er- 
warten, dass in Spinoza's frühester Schrift ebenso deutliche 
Spuren grösserer Abhängigkeit von der Cabbala heraus- 
treten, wie es unzweifelhaft gegenüber von Cartesius der 
Fall ist. In der That wird diese Erwartung nicht ganz ge- 
täuscht. Zwar von der äusseren Hülle der cabbalistischen 
Literatur, ihrer eigenen Terminologie, ihrer Buchstaben- 
deutung u. s. f. findet sich so wenig eine Spur als in der 
Ethik ; und an einem ausdrücklichen Hinweise, wie ihn diese 
im Schol. zu II, 7 bietet, fehlt es gänzlich. Allein in ein- 
zelnen Zügen werden wir unwillkürlich geneigt sein, cab- 
balistische Einflüsse zu vermuthen. Jene wiederholte Be- 
zeichnung des intellectus infinitus als des eingebomen Soh- 
nes Gottes und seiner ersten Creatur; die Bedeutung, die 
diesem Intellectus infinitus beigelegt wird, dass er in sich 
das Wesen aller Dinge in ewig unveränderlicher Weise er- 
kenne; die Stellung, die im Tractate weit deutlicher als 
in der Ethik dieser Intellectus als ewiger, unmittelbarer 
Modus zu Gott einerseits und zu den von ihm geschaffenen 
einzelnen Modis andererseits einnimmt, erinnert deutlich 
an den Adam Kadmon der Cabbalisten, der ebenso der ein- 
gebome Sohn Gottes und der Inbegriff aller Ideen heisst, 
der ebenso als die einzige unmittelbare Production Gottes 
die mittelbaren Productionen erst möglich macht. Wenn 
Spinoza ausruft: Wahrlich ein Werk so gross wie es der 
Grösse des Werkmeisters geziemt — wer dächte nicht an 
die Lehre, welche die Grösse und Herrlichkeit Gottes da- 

*) a. a. 0. p. 637. Vergl. über diese Frage H. C. W. Sigwart, 
Der Spinozismus historiscli und philosophiscli erläutert, IS 39. p. 4. 
80 ff. 219. 240. Franck, Die Cabbala, übersetzt von Gellinek 1844. 
p. 19 ff. Joel Beligionsphilosophie des Sohar 1849. p. 4 ff. ondp. 146, 
wo weitere Literatur angeführt ist. 



— 104 — 

dem .verborgenen Gott, der sich in dem Urmenschen und 
den 10 Sephiroth oflFenbart, mit anderen Philosophemen 
zu vermittehi bestrebt waren. Unter diesen ist, soweit sie 
uns zugänglich waren, für keinen die äussere und innere 
Wahrscheinlichkeit, dass er die verborgene Quelle der Leh- 
ren Spinoza's gewesen sein könnte, grösser als für Babbi 
Abraham Cohen Jrira. Er war portugiesischer Abkunft, wie 
Spinoza, aber aus Portugal ausgewandert starb er in Holland 
im Jahre 1631 ; sein ursprünglich portugiesisches Werk „Die 
Himmelspforte*' wurde in Amsterdam von dem Vorsteher 
derselben Synagoge, welcher Spinoza angehörte, dem Rabbi 
Isaak Abuhab ins Hebräische übersetzt. Dieses Werk, das 
Knorr von ßosenroth 1677 in der Cabbala denudata in latei- 
nischer Uebersetzung herausgab, unterscheidet sich durch 
seine systematische Anordnung, seine philosophische Sprache, 
seine begriffliche Klarheit, seine ausdrückliche Rücksicht- 
nahme auf andere philosophische Systeme; und der Ein- 
gang desselben, der beweist, dass ein durch sich nothwen- 
diges Wesen sein müsse, und dass dieses nur Eines sein 
könne, könnte wohl verleiten ein EvQrjyca auszurufen. Allein 
trotz mancher überraschender Uebereinstimmung tritt bei 
näherer Betrachtung doch im ganzen Begriffsapparat der 
beiden Schriften ein tiefgreifender Unterschied heraus. Die 
Philosophie Cohen Jrira's ist im Wesentlichen, wie er selbst 
gesteht, die des Plotinos. Das Eine unterschiedslose über 
alle Gegensätze hinausliegende nur mit negativen Bestim- 
mungen zu denkende Sein, das zugleich das absolut Gute 
ist, ist ein wesentlich anderer Begriff als das ens constans 
infinitis attributis, oder die Natura Spinoza's ; die Art, wie 
die Welt aus ihm durch den intellectus hervorgeht,* ist 
eine Contraction der Unendlichkeit, an die Spinoza nie 
gedacht hat; sie wird tiberdem nicht auf die Nothwendig- 
keit der göttlichen Natur, sondern auf seinen Willen, seine 
Güte begründet. Die Unterscheidung der vier verschie- 
denen Welten, die Ansicht von der Materie als einem 
Product geistiger Kräfte, die Ansicht von der menschliehen 



— 105 — 

Seele — alles das liegt weit ab von der Kosmologie un- 
seres Tractates. Auch in der Erkenntnisslehre und Ethik 
ist das, was den Ideen unseres Tractates am nächsten 
-liegt, ausdrücklich als die Lehre der Philosophen, der Pla- 
toniker bezeichnet, die mit der cabbalistischen verwandt 
sei*), während des Rabbi eigene Lehre eine völlig andere 
Basis hat — die Idee eines Eingiessens der höheren Intel- 
ligenz in die niedere. Mag man also den Einfluss der Cab- 
bala noch so hoch anschlagen — hätte er neben Car- 
tesius nur diese gekannt, so wären die meisten seiner 
Ansichten durchaus originell, und wir fänden keine An- 
knüpfungspunkte. 

Dasselbe Resultat ergibt sich, wenn wir die gleich- 
falls schon ausgesprochene Hypothese an unserem Tractate 
prüfen, dass. Moses Maimonides von bedeutendem Einflüsse 
auf unsern Philosophen gewesen sei. Man mag das in 
Hinsicht des Tractatus theologico-politicus mit einigem Er- 
folge durchfuhren können; aber die Metaphysik des Moreh 
Nebokhim wird Niemand in der Spinozistischen Philosophie 
wieder zu entdecken vermögen. Es genügt darauf hinzu- 
weisen, dass Maimonides das nothwendige Hervorgehen 
der Welt aus Gott läugnet, und eine Schöpfung aus seinem 
freien Willen lehrt**). Ebensowenig lassen sich in der 
Ethik desselben mehr als oberflächliche Vergleichungs- 
punkte auffinden. 

Alles gegen einander abgewogen: So wenig sich be- 
streiten lässt, dass für Spinoza die Richtung seines Den- 
kens im Ganzen auf eine Lehre, welche die Welt aus dem 
ewigen Sein und Wesen des Einen Gottes hervorgehen 
lässt, und in allen Dingen nur die Offenbarung göttlicher 
Attribute sieht, durch Eindrücke aus der cabbalistischen 
Lehre mitbestimmt gewesen sein mag, und so wahr- 
scheinlich es immerhin ist, dass an einzelnen Punkten des 

*) Cabb. denud. Porta Coel. p. 183. 
**) Moreh Neboklüm Cap. 12 ff. 



— 108 — 

don*). Sie waren in Paris, während Spinoza lebte, von 
den Philosophen gekannt und gelesen; der Pater Mer- 
senne kannte sie, und ebenso Huet, der Gegner des Car- 
tesius**). Dass sie von England frühzeitig nach Hol- 
land kamen, lässt sich nicht nur aus der lebhaften Ver- 
bindung schliessen, in welcher diese Länder überhaupt 
standen ; sie waren tiberdem zum Theil Brunos vertrautem 
Freunde Philipp Sidney gewidmet, der als Führer engli- 
scher Hülfstruppen im Kampfe flLr die Unabhängigkeit der 
vereinigten Niederlande fiel. Spinoza war, wie sein Bio- 
graph Boulainvilliers versichert, des Italienischen mächtig***). 

Freilich, auch Bruno's Name erscheint nirgends in 
Spinoza's Schriften oder Briefen; kein ausdrückliches Zeug- 
niss weist darauf hin, dass er ihn gekannt und gelesen. 
Allein Spinoza hat seinen politischen Tractat geschrieben, 
dessen Ansicht vom Wesen und Ursprung des Staates sich 
aufs Engste an die Theorie von Hobbes anschliesst, und 
doch mit keiner Silbe darin seinen Vorgänger erwähnt; 
wäre er nicht zufällig gefragt worden, worin er sich denn 
von Hobbes unterscheide, so hätten wii- nicht einmal die 
kurze briefliche Notiz, die das einzige äussere Zeugniss 
für seine Bekanntschaft mit den Schriften des englischen 
Philosophen ist, und doch würde Niemand nach Verglei- 
chung der beiden Schriften einen Augenblick zweifeln 
können, dass Spinoza von Hobbes abhängig ist. In der 
Schrift über die Methode treten wiederholt Gedanken auf, 
die sicher aus Bacons Novum Organum herstammen; aber 
wiederum erfahren wir nicht aus dieser Schrift selbst, son- 
dern aus Briefen, dass er sich mit Bacon beschäftigte. Und 
so gewiss unser Tractat selbst in sehr vielen Punkten von 
Cartesius abhängig ist, so ist doch dessen Name nur ein 



*) Bartholmess, Giordano Bnmo 11, p. 63. 
**) Ebendas. I, p. 256 f. 

***) Paulus II, 598. Quelque veraS gu'ü fiU dcms FH^breu, dans 
V Italien et dans VEapagnal . . . 



— 109 — 

einziges Mal genannt ^ nnd zwar nicht als. des Meisters, 
dessen Lehren der Traetat wiederholt, sondern bei Ge- 
legenheit eines Einwandes, fttr dessen Widerlegung auf 
Cartesius verwiesen wird.*) Und es ist nicht etwa Spi- 
noza allein, der nach unsem Begriffen so undankbar enir 
lehnt. Bacon vor ihm, Leibniz nach ihm reproduciren oft 
Anderer Gedanken, ohne ihren Gewährsmann zu nennen. 
Mit Spinoza selbst war Walter von Tschirnhausen enge be- 
freundet; er las die Ethik im Manuscript, und eine Beibe 
von Briefen, in denen in eingehendster Weise die wichtig- 
sten Punkte des Systems besprochen werden, wurden zwi- 
schen beiden gewechselt; das hinderte nicht, dass nach 
Spinoza's Tode Tschimhausen seine Medicina mentis her- 
ausgab, deren Grundgedanken durchweg aus Spinoza's 
Mcthodenlehre stammen, ohne seines Lehrers und Freun- 
des auch nur mit einem Worte zu gedenken. Jene Zeit 
hatte nicht den historischen Geist der unsrigen, dass ihr 
die Thatsache, wer einen Gedanken zuerst ausgesprochen, 
von so grossem Werth und ein Gegenstand peinlicher Ge- 
wissenhaftigkeit gewesen wäre; auf die Wahrheit oder 
Falschheit der Ideen vor Allem gerichtet, nahm sie unbe- 
fangen die Wahrheit als ein allgemeines Gut, und nannte 
Namen nur, wo sie verneinte oder bestritt, oder wo es galt, 
mit ausgebreiteter Erudition zu glänzen. Bei Tschimhausen 
mag der weitere Grund mitgewirkt haben, dass er sich 
scheute, durch den Namen des geächteten Atheisten sich 
zu compromittiren; aber eben derselbe Grund konnte auch 
den in dieser Hinsicht ängstlich vorsichtigen Spinoza 
abhalten, sich zu dem Manne zu bekennen, der in Folge 
seiner ungestümen Angriffe gegen die Aristoteliker über- 
all Verfolgt und Verstössen, unstät und flüchtig von Ort zu 
Ort gezogen war, den man als Verfasser des Spaccio de 
la bestia trionfante fttr einen frivolen Gottesläugner und fttr 
fähig hielt, das Buch De tribus impostoribus geschrieben 
zu haben. Aber auch ohne diese Bücksicht hatte Spinoza, 

•) p. 78. 



— 108 

don*). Sie waren in Paris, w*' 
den Philosophen gekannt ur 
senne kannte sie, und eben^ 
tesius**). Dass sie von ^ 
land kamen, lässt sich r | C 
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.a vollkommen sicheren An- 



der 



^1 zunächst die metaphysischen Grund- 

aö. In einzelnen Sätzen zwar ist auch hier 

.omstinmiung so vollständig, dass man versucht 

^ Beminiscenzen zu denken. Bruno ist erflillt von 

Einheit alles Seins, die zu erkennen die Aufgabe der 



Philosophie ist*); er nennt diese Einheit Substanz**); alle 
Attribute des Einen Princips sind ihm unendlich***); die 
Gottheit ist ihm nicht ausserhalb der Welt, sondern in der- 
gelben, als immanentes Princip ****); die Welt zerfällt ihm 
in ausgedehnte und denkende Substanz, welche doch in 
der Wurzel eins sind, und nur ein Sein ausmachen f); die 

*) Giordano Bruno opere ed. ; Ad. Wagner, I, 275: Ogni cosa 
k uno f et ü conoscere questa unitä h ü scopo e termine di tutte le 
filosofie e contemplazioni naturali. 

**) ib. I, 287. jprimo ente e wniveraal sustanza. 
***) ib. II, 25 : Jo dico Dio tutto infinito, per che da 8h eaclude 
ogni terminej et ogni suo aitribtUo k uno et infinito, II, 30: Per 
che ü primo principio h semplicissimo, perb, ae aecondo uno aUri. 
Imto fuaae ßnitOj aarebhe finito aecondo tutti gli attributi, 

«***j I^ 275 : ... non cercano la divinitä fuor de Vinfinito 
mondo e le infinite coae, ma dentro gueato e in quelle. 

f) I, 264: Volete che aia doppia auatanza^ altra apiritudU 



~* 113 — 



Materie ÄlsPrüieh 
in Gott %n ietzer 
und Reale», De 
ebenßo wie ftr 
^e Welt der 
^Cj alles M 

*on der 

lern k 
id ^ 



LI, die a.. 
.j Begriff des ßösei- 



feilt, iDdem Spinoza dieee mecha- 

fiel ihm jene Weltseele Brunos; 

Kimmungen und Bildern, unter 

ich vorstellt, bleiben ihm nnr 

mz und der CauBalitat, die 

f) nnd wenn Spinoza in 

>tj so ist es nicht die 

und Erzeugerin aller 

wig alles Einzelne 

m Klicken trägt, 

tze einer mecha- 

henrorgehen- 



I 



Harmonie des ans nnenui^. 
ahßohit vollkomtneuen GansF^en au*. 
Gedanken^ welche Spiuoza um Bruü 
könnte. Allein tiber diesen Anklängen dtlrki. 
der SpinoziBtischen Ethik Ton der Lehre Ikhn* 



'rik sehen, 
j:emein, 

siud^ 

ms, 

z 



ultra eorpörahf die in s^ntT/m l'una « takra ^4 
egaöTß t't U7m radicef Opp. lat ed, G frörer p, 2%: 
velin (Iwrr. duplex üorpfireum et tncorpnrfurfi ei / 
.ivi/iuilumj est unum inßnitum fv. inCt^fporca «JA *u?*^</r<. 
l infimsibÜiiiti'e «ui^j^tfinlm von^tJtten», 

*) Opp. H, l, 276: Ui mutzet ^ ehfi ettpUca h tvv 
plfcatOi deiw &i$üre chiamatm cma dimna €t ottintapan^,: 
f inadrc tii ro^e imturali^ anzt la natura ittUä m ^tat^^ 
. » *tf den 4fi Ci^ntempldf t* uu cAsmr dfinno nn l^ i^tync. 

♦*) De In emuta^ prineipio tt wno iJiiil* *I. I}e Pififimtop uni 
vBTifO mondi Dial. L 

•♦♦) De ia canJfa atc, öiüL 2, 
•*♦*) Opp, !t I, t^2t iVe Tttfk?, infimiOt itnmolile^ th*^ Ist imätitnmt 
eÄ* Ä r iwif«, m id irt^a h moUi^idinfit ^ n«fl*€r^, ch^ per m»0r4 tncdo 
e moiti/onnUä de t miie^ la qttah ri^ina a d^maminivp enaa ^mt 
coita^ non fa iv . ' rht /ü ^ntc «ia piü rV • k itiu moltimodo^ » 
molti/orme e > ^ui^, II, 25 t Dn .. oU/. t cerla efß* 

eacia flipend<f dtUrmmata r h/rnntii, 

f) Opp» tttt p. 2T^k C'Wi . . .,^ , . . «t rxri ^Mtu» 

univtrsi wdtmm ^ye<femv4* CÜ(, pt. 306. 




^ 110 - 

der seines eigenen Namens so wenig achtete, dass er selbst 
nach seinem Tode ihn verschwiegen haben wollte , zuerst 
das Becht, auch Anderer Gedanken als anonym zu behandeln. 
Dass wir also Bruno's Namen nirgends erwähnt finden, ist 
kein Beweis, dass nicht unter den Männern, denen er in 
der Vorrede zum dritten Theile der Ethik viel ^n verdan- 
ken gesteht, weil sie über die rechte Weise zu leben viel 
Herrliches geschrieben haben, auch Giordano Bruno ge- 
wesen ist: wenn wir nur im Uebrigen deutliche Spuren 
einer solchen Abhängigkeit finden. 

Die bisher bekannten Schriften haben, so manchmal 
auch die Verwandtschaft Bruno's und Spinoza's aufgefallen, 
und auch die Vermuthung eines Zusammenhangs ausge- 
sprochen worden ist, doch keinen vollkommen sicheren An- 
haltspunkt geben können. 

Man hatte dabei zunächst die metaphysischen Grund- 
begriffe im Sinne. In einzelnen Sätzen zwar ist auch hier 
die Uebereinstimmung so vollständig, dass man versucht 
ist, an Reminiscenzen zu denken. Bruno ist erfllllt von 
der Einheit alles Seins, die zu erkennen die Aufgabe der 
Philosophie ist*); er nennt diese Einheit Substanz**); alle 
Attribute des Einen Princips sind ihm unendlich***); die 
Gottheit ist ihm nicht ausserhalb der Welt, sondern in der- 
selben, als immanentes Princip ****); die Welt zerfällt ihm 
in ausgedehnte und denkende Substanz, welche doch in 
der Wurzel eins sind, und nur ein Sein ausmachen f); die 

*) Giordano Bruno opere ed. 2 Ad. Wagner, I, 275: Ogni cosa 
h nno , et il conoscere questa unüä k ü scopo e termine di tuUe le 
filosofie e contemplazioni naturalis 

**) ib. I, 287. jprimo erde e universal stutanza, 
***) ib. II, 25 : Jo dico Dio tutto infinito, per che da ah esclude 
ogni termine^ et ogni auo attributo h uno et infinito, II, 30: Per 
che il primo principio k semplicissimOy perb, se aecondo uno abtri- 
Imto fuaae ßnito, aarehhe finito aecondo tutti gli attributi, 

****) I, 275 : ... non cercano la divinitä fuor de Vinfinito 
mondo e le infinite coae, ma dentro gueato e in quelle. 

t) I, 264: Volete che aia doppia auatanza, altra apirituaU 



- 111 - 

Materie als Princip der körperlichen Dinge ist nicht weniger 
in Gott zu setzen, als der unendliche Verstand*). Ideales 
und Reales, Denken und Sein verhalten sich für Bruno 
ebenso wie flir Spinoza; alles Gedachte verwirklicht sich, 
die Welt der Ideen ist nicht grösser als die Welt der 
Dinge, alles Mögliche ist wirklich, jede Potenz ist actus**); 
und von der andern Seite gibt es nichts bloss Materielles, 
mit jedem körperlichen Ding ist seine Seele als seine bil- 
dende und bewegende Kraft verknüpft, und der Satz, dass 
AUes beseelt sei, ist ein oft wiederholter Gedanke ***J). Der 
BegriJBf des Modus, die Ewigkeit der Substanz im Wechsel 
der Modi, die absolute Nothwendigkeit ihrer Production****); 
der Begriff des Bösen als blossen Mangels der sich in der 
Harmonie des aus unendlich vielen Stufen bestehenden 
absolut vollkommenen Ganzen auflöst f) — alles das sind 
Gedanken, welche Spinoza aus Bruno geschöpft haben 
könnte. Allein über diesen Anklängen dürfen die Differenzen 
der Spinozistischen Ethik von der Lehre Bruno's nicht über- 



aUracorporalef che ifh somma Vwna e Valtra si riduea ad uno 
essere et una radicef Opp. lat ed. Gfrörer p. 28: Universum (ni 
velis dicere duplex corporeum et tncorporeum et harum utrumque 
infinitum) est unum infinitum ex incorporea et corporea, sensibili 
insensihüique substantia consistens. 

*) Öpp- it- I) 276 : La matena, che esplica lo che tiene im- 
plicato, deve essere chiamata cosa divina et ottima parente, genitrice 
e madre dt cose naturalis anssi la naiura iutta in sustanza, 279 : 
... «6 ben si contempla, k un esser divino ne le cose, 

**) De la causa, principio et uno Dial« 3. De VinfinitOy um- 
verso e mondi Dial. 1. 

*♦♦) De la causa etc. Dial. 2. 

*•♦*) Opp. it. I, 282: Ne Vuno, infinüo^ immohile, cNkla sustanza, 
cÄ' h V ente, vi si trova la moUitudine, il numero, che per essere modo 
e moüi/ormitä de V ente, la guale viene a denominar cosa per 
cosa, non fa guesto, che lo ente sia piib ehe uno, ma moUimodo, e 
mcltiforme e moltifigwrato. 11, 25: Da determinata e certa effi- 
cacia dipende determinato e certo effetto immutabilmente. 

t) Opp. lat. p. 276: Omnia esse valde bona ... si ad ipsius 
universi ordinem spectemusm cfir. p. 306. 



— 112 — 

sehen werden. Nicht nnr, dasB in Bmno's geistreiehem 
Eklekticismus neben der Immanenz des Göttlichen in der 
Welt auch der Begriff einer nenplatoniscben Transcendenz 
hergeht, in der das Eine über alle Kategorien hinansge- 
rtlckt, tibersubstantieU und überwesentlich, der Welt als 
ihr jenseitiger Grund gegenüber steht, dass das Univer- 
sum, das hier als das absolute Eine, als alles Sein er- 
scheint, dort nur als Spiegelbild der göttlichen Einheit 
und Unendlichkeit dargestellt wird — ein solches Schwan- 
ken kann man ja wenigstens in einzelnen Spuren auch 
bei Spinoza nachzuweisen unternehmen; das Wichtigste ist 
das Verhältniss des geistigen und materiellen Princips, das 
Bruno in einer der spinozistischen Grundanschauung ganz 
entgegengesetzten Weise auffasst. Er betont die unauflös- 
bare Einheit beider; von dem aristotelischen Gegensatz 
zwischen Materie und Form ausgegangen, versucht er nach- 
zuweisen, dass dieser Gegensatz und alle damit zusam- 
menhängenden von Potenz und Actus, von wirkender 
und Zweck -Ursache vollkommen sich decken, dass die 
Materie überall von Geist und Leben durchdrungen, die 
Einheit der Gegensätze, die Weltseele, das überall wir- 
kende Princip, die wahre Einheit dei: Welt sei, allgegen- 
wärtig in allen Dingen, die Form aller Formen, die Eine 
Ursache. Seiner dichterischen AuflFassung, nach der die 
Eine Weltseele in künstlerischem Thun die Formen der 
Welt gestaltet, und alle Bewegung nur Ausdruck eines 
inneren Lebens ist, eines sich Suchens und Fliehens der 
verwandten und entgegengesetzten Seelen, trat schroff die 
Ansicht des Cartesius gegenüber, die in ihrer Trennung 
von Materie und Geist, in ihrer Unterscheidung der gei- 
stigen und materiellen Substanz die Aristoteliker des 16, 
Jahrhunderts zu Vorläufern hatte, um aufs Neue eben den 
Dualismus zu begründen, den Bruno hatte vernichten wollen; 
alle Bewegung, selbst die der organischen Wesen, wurde 
lediglich auf den Stoss der corpuscula begründet, und das 
Geistige als eine Welt fUr sich der mechanischen Welt 



— 113 — 

der Körper gegenübergestellt. Indem Spinoza diese mecha- 
nische Physik adoptirte, zerfiel ihm jene Weltseele Brunos ; 
aus dem Beichthum von Bestimmungen und Bildern, unter 
denen Bruno das Eine Princip sich vorstellt, bleiben ihm nur 
die abstracten Begri£fe der Substanz und der Causalität, die 
er um so consequenter entwickelt, und wenn Spinoza in 
der Ethik Gott und Natur identificirt, so ist es nicht die 
lebensYolle Natur Brunos, die Mutter und Erzeugerin aller 
Dinge, die selbst unveränderlich und ewig alles Einzelne 
aus ihrem Schosse gebiert und auf ihrem Bücken trägt, 
sondern nur die Einheit der nach dem Gesetze einer mecha- 
nischen Nothwendigkeit aus ihren Ursachen hervorgehen- 
den Dinge. 

So hat am Ende, wenn wir allein auf die Ethik sehen, 
Spinoza mit Bruno nur diejenigen Bestimmungen gemein, * 
welche dem letzteren am wenigsten eigenthümlich sind, 
und gerade in der bestimmten Form seines Pantheismus, 
in der Zugrundelegung des Begriffs der Einen Substanz 
mit ihren von einander absolut unabhängigen Attributen, 
ist Spinoza den charakteristischen Ideen Brunos ferne ge- 
blieben. 

Merkwürdig ist nun aber, dass gerade diejenigen Sätze 
aus dem ersten Theile unseres Tractats, welche später ver- 
blassen und verschwinden, viel näher bei Brunos Anschau- 
ungsweise stehen, und viel bestimmter an ihn erinnern. 

Die Stellung, welche der Begriff der Natur einnimmt, 
ist, wie wir oben gesehen haben, eine ganz eigenthümliche. 
Sie tritt als der Träger der Prädicate auf, welche den Gottes- 
begriff constituiren, der Ewigkeit, Unendlichkeit, Vollkom- 
menheit, allumfassenden Einheit; sie ist von sich selbst und 
von keiner andern Ursache her; sie wird durch sich selbst 
erkannt, und durch nichts Anderes ; sie ist die Eine Sub- 
stanz, deren Wesen unendlich, in der Alles Eins ist> ausser 
der nichts gedacht werden kann, von der Alles in Allem 
ausgesagt wird. In dem ersten Dialogenfragment wird auf 

Sigwart, Spinoza's Txaotat 8 



— 114 — 

die Frage, ob es ein höchst Yollkommenes Wesen gehe, ge- 
antwortet: die Natur betrachte ich in ihrem Ganzen als 
nnendlich nnd höchst vollkommen; sie ist ewige, unend- 
liche, allmächtige Einheit, ihre Negation ist das Nichts. 
Diese Anffassung des Begriffs der Natur stimmt nun aber 
genau überein mit den Ideen, welche Bruno in seinen 
Articuli de Natura et mundo aufgestellt und zu Paris an 
Pfingsten 1586 in dreitägiger Disputation vertheidigt hat 
Im ersten und zweiten Artikel wird festgestellt, dass Ge- 
genstand des wahren begrifflichen Wissens nur etwas sein 
könne, das ewig, unveränderlich, wahr, beständig, einfach, 
£lds, immer es selbst und liberall es selbst sei. Ein solcher 
Gegenstand ist nur die gesammte Natur, als Eine Sub- 
stanz gedacht. Sie ist das durch den Begriff als Grund 
und Princip alles Einzelnen Erkennbare, das Allgemeine, 
das in allem Besonderen sich findet, dessen Modi Arten nnd 
Wirkungen überall sich offenbaren. In den folgenden Ar- 
tikeln wird, mit bestimmter Hinweisung auf Xenophanes 
und Parmenides, gelehrt, dass das Seiende unendlich in 
Kaum und Zeit, und darum Eines, sich selbst gleich, un- 
veränderlich und unbeweglich sei. Dieses nannte Xeno- 
phanes die Substanz der Dinge, das Ganze der Natur; 
Eine Substanz ist in Gott, in der Natur, im Universum. 
Dieses Eine aber ist Einheit eines materiellen und geistigen 
Princips, eine Materie, welche die Form in sich selbst trägt, 
und aus ihrem Schosse hervorbringt, eine fiberall mit Noth- 
wendigkeit wirkende, nie irrende Macht Alles ist Eine 
Substanz, welche nicht wird, sondern ist; aber dieser Einen 
Substanz kommen unzählige Bestimmungen zu, nach ver- 
schiedenen Bücksichten, in denen das Einzelne erscheint, 
so ist sie der verschiedensten, selbst entgegengesetzter 
Prädicate fähig. Wenn Eine Substanz aller Dinge, Ein 
Subject, Eine Natur ist, so werden von Einem mit Becht 
alle Prädicate ausgesagt; die Natur als die allgemeine 
Substanz aller Dinge ist der gemeinsame Träger aller 
G^egensätze. 



— 115 — 

Sehen wir Bruno hier, und ebenso im Dialogen De la 
causa prineipio et uno vor Allem die Einheit betonen, 
so ist es gewiss nicht zufällig, dass eben dieser Begriff auch 
für Spinoza, wo er von der Natur redet, der wichtigste ist. 
Gerade in dem mehrfach angeführten Dialogen steht das 
Prädicat der Einheit überall voran, und der Begriff der 
Natur ist ihm der Träger dieser Einheit*). Ebenso über- 
einstimmend ist die Art, wie er das Prädicat der Unend- 
lichkeit fasst Bruno denkt immer zunächst an die 
räumliche Unendlichkeit des Universums ; dass das Coper- 
nicanische System die Sphären des Aristoteles gesprengt 
und die Welten frei in den nach allen Seiten sich dehnen- 
den Aether hinausgeworfen hat, ist der Gedanke, der fort- 
während den Hintergrund seiner Betrachtungen bildet; 
daraus erklärt sich die Definition des Unendlichen, dass es 
dasjenige sei, was keine Grenzen habe, jenseits dessen 
nichts sei, ftir das es kein Ausserhalb gebe. Ausführlich 
widerlegt er im ersten der Dialogen De V infinite universo 
e mondi jede Art von Vorstellungsweise, durch die man 
die räumliche Begrenztheit der Welt unterstützen könnte. 
Wenn die Welt begrenzt wäre, wäre sie im Nichts ; Omne 
erit in nihilo. Man kann keine Grenzen denken ohne ein 
Jenseitiges; das Jenseitige muss entweder leerer oder er- 
füllter Baum sein; durch anderes als Baum lässt sich 
Räumliches nicht begrenzen. Wenn man also sagt, ausser- 
halb der begrenzten Welt sei Nichts, so sage ich, es sei 
das Leere, und zwar ein solches Leere, das kein Mass und 
keine Grenze jenseits hat. Und dies ist viel schwerer vor- 
zustellen, als das Universum unendlich und unbegrenzt zu 
denken**). 



*) p. 26. Unitas, quam uhigue in natura videmits. p 36. naturam 
panentes unitatem aetemam infinitam etc. p. 40. Ena unicum aeter- 
num infinüum ei a se existena, in quo omnia unum et tmicum eunt^ 
et extra quam unitatem nidla res fingt poteet^ 

**) Bruno Opp, it. 11, 18—20. 

8* 



— 116 ~ 

Sollte es nicht eine Beminiscenz dieser Stelle sein, 
wenn Spinoza p. 36 sagt: Wenn wir die Natur begrenzen 
wollen, müssen wir sie (was ungereimt ist) durch das 
Nichts begrenzen, und zwar durch das Nichts mit folgen- 
den Eigenschaften: einig, ewig, unendlich; und diese. Un- 
gereimtheit vermeiden wir, wenn wir sie als ewige, un- 
endliche Einheit setzen*)? Sollte ferner der Satz p. 28: 
In natura nee totum nee partes sunt nicht auf Brunos 
Artikel Op. lat. p. 29 zurückweisen: Universum cum sit 
infinitum, totum quoddam non est, neque ip&ius aliquid est 
pars? 

Noch grösseres Gewicht als auf diese Parallelen möchte 
ich auf jene Stellen unseres Tractats legen, wo er die Be-. 
wegung der Körper nicht auf mechanische Weise nur aus 
der Bewegung anderer Körper erklärt, sondern theils die 
BewegUDg im Ganzen aus der Einheit der Natur ableitet, 
theils die Möglichkeit, dass Modi des Denkens auf Modi 
der Ausdehnung wirken können, durch dieselbe Einheit der 
Natur begründet ; uud ebeuso auf die Art und Weise wie 
der Tractat die Lehre von der allgemeinen Beseelung be- 
nützt, um den allen Dingen gemeinsamen Selbsterhaltungs- 
trieb zu erklären. Denn eben in diesen später aufgege- 
benen Sätzen steht Spinoza offenbar Brunos Ideen weh 
näher als der cartesianischen Physik. Für Bruno ist das 
Princip aller Bewegung die Weltseele als die innere Ein- 
heit der Natur, die in fortwährendem Schaffen und Her- 
vortreiben die einzelnen Formen entstehen und vergehen 
lässt; aus dieser inneren Einheit kommt nicht nur das 
organische Leben, bei dem sich die Durchdringung der 
äusseren Leiblichkeit durch die belebende Seele von selbst 



*) An Brunos Satz von unendlich vielen Welten erinnert auch, 
wenn Spinoza p. 104 die Philosophen, die meinen, ausser der Erde 
existiren keine anderen Welten, mit dem Bauer vergleicht, der nie 
üher sein Feld hinausgekommen war, und wie er einmal einen weiten 
Weg machen muss, sich wandert, wie viele Felder es gebe. 



— 117 — 

zeigt, ihre Darstellung ist die Bewegung überhaupt, denn 
auch in den Himmelskörpern ist das Princip ihrer Be- 
wegung ihr Beseeltsein. Alle bewegen sich vermöge eines 
inneren Princips, welches ihre eigene Seele ist*). Der 
Zweck der Bewegung ist aber kein anderer, als die Selbst- 
erhaltung der einzelnen Dinge**). 

Tritt in diesen Stellen sowohl bei Bruno als bei Spi- 
noza die Natur als die unendliche Totalität des Seienden, 
als die Eine ewige Substanz aller einzelnen Dinge in einer 
Weise auf, dass sie als ein durch sich seiendes und be- 
stehendes Ganze, als die absolute, nur in sich selbst ge- 
gründete Einheit aller Gegensätze von der rein denkenden 
Erkenntniss erfasst wird, der das Einzelne und Veränder- 
liche als solches ein nicht für sich , und darum nicht wahr- 
haft Seiendes sein kann: so ist Spinoza mit Bruno auch 
darin eins, dass er diese Natur doch wieder nur als Werk 
und Darstellung einer höheren Einheit, ihre Unendlichkeit 
und Vollkommenheit als Ausfluss und Wirkung der gött- 
lichen Unendlichkeit hinstellt. Denn auch jene Seite der 
spinozistischen Lehre, nach der aus dem Gottesbegriff die 
Realität alles Idealen, die Wirklichkeit alles Möglichen ab- 
geleitet wird, nach der in der unendlichen Macht und Liebe 
Gottes der Grund liegt, warum das Wirkliche unendlich, 
der Libegriff aller Vollkommenheit sein muss — auch diese 
dem rein pantheistischen Standpunkte entgegengesetzte 
Seite findet in Bruno ihr Vorbild. Denn wenn er auch da 
und dort so spricht, als sei nur die Einheit der Welt er- 
kennbar, die überwesentliche und tibersubstantielle Einheit 
Gottes aber kein Gegenstand der Philosophie, sondern nur 



*) OPP- it. n, 28: Tutti si muovono dal prtncipio interna^ 
eVh la proprio anima. I, 186: Questi corridori (die Planeten) 
Kanno ü principio di meto intrinaeco, la proprio natura, la pro- 
prio anima , la proprio inteUigenza, 

**) n desio di conaeroarsi^ ü quäle spinge ogni coao come prin- 
cipio intrinaeco. 



— 118 - 

des Glaubens*), so stellt er doch an andern Stellen ganz 
bestimmt die in sich geschlossene, absolute, gegensatzlose 
Einheit Gottes der unendlichen, in die Gegensätze ent- 
wickelten Einheit des Universums gegenüber, ijnd betrachtet 
diese als Spiegelbild und Ausfluss von jener, als durch 
nothwendige Offenbarung und Mittheilung aus ihr hervor- 
gegangen**). 

Warum wollen oder können wir denken, fragt er***), 
dass die göttliche Wirksamkeit müssig gehe? Warum 
wollen wir sagen, dass die göttliche Güte, welche sich den 
unendlichen Dingen mittheilen und sich ins Unendliche er- 
giessen kann, karg sein und sich auf Nichts beschränken 
wolle, denn jedes Endliche ist Nichts im Vergleich mit 
dem Unendlichen? Warum sollte das Bild der Gottheit 
nicht in einem unbegrenzten Spiegel leuchten, der ihrem 
Wesen entsprechend unendlich und unermesslich wäre? 



*) Opp. it. I, 275: H conoscere questa unith (der Weltseele 
als Einheit von Potenz und Actus, Materie und Form) h ü scopo 
e termine di tutte le filosoße e contemplazioni naturali: lasdando 
ne* 8uoi termini la piü alta contemplazione , che asoende sopra Za 
natura, la quäle a chi non crede ^ impoaaibile e nidla ... Si vi 
monta per lume sopranaturale, non naturale, 

**) In den Dialogen de rinfinito, universo e mondi, Opp. it. ü, 
17 ff. , z. B p* 22: LHnfinito implicato nel simplicissimo et indi- 
viduo primo principio . . . venga esplicato in guesto suo simtdacro 
infinito et interminato, Vergl. damit De gli eroici furori II, 408 f. 
in der Erklärung einer Allegorie: [V eroico] Vede VAmfitrite, iL 
fönte di tutti numeri, di tutte specie, di tutte ragioni, cKh la mo- 
nade, vera essenza de Vessere di tutti, e se non la vede in sua 
essenza, in asnoluta luce, la vede ne la sua genitura, che V h eimile, 
ch*k la sua imagine: per che da la monade, cKh la divinitade, 
procede questa monade, ch^h la natura, Vuniverso, il mondo, dave 
si contempla e specchia, come il sole ne la Iv/na .... secondo che 
Vunitä ^ distinta ne la generata e generante, o pro- 
ducente e prodotta. 

***) Opp. it. n, 25. 



— 119 - 

Ans denselben Gründen, aus denen es angemessen, gnt, 
nothwendig ist, dass diese als endlich gedachte Welt sei, 
ist es angemessen nnd gut, dass alle andern unzähligen 
Welten seien, denen aus denselben Gründen die Allmacht 
das Sein nicht neidet, ohne deren Sein sie vielmehr der 
Tadel träfe, entweder dass sie nicht könnte oder nicht 
wollte . . . Welcher Grund will, dass wir glauben, die 
Macht, welche ein unendliches Gut machen kann, mache 
es endlich ? und wenn sie es endlich macht, warum sollen 
wir glauben, dass sie es unendlich machen kann, da Können 
und Thun in ihr Eins ist? Weil sie unveränderlich ist, ist 
in ihr kein Zufall in der Wirkung noch in der Wirkungs- 
kraft, sondern von bestimmter und deteiminirter Wirkungs- 
kraft hängt unabänderlich eine determiriirte und bestimmte 
Wirkung ab. Darum kann sie nicht anders sein als sie 
ist; sie kann nicht so sein, wie sie nicht ist; sie kann 
nicht anderes können als was sie kann, nicht anderes 
wollen als was sie will, und darum kann sie nothwen- 
digerweise nichts anderes machen als was sie macht... 
Was nie war, nie ist und nie sein wird, ist auch nicht 
möglich. Der Wille der unendlichen Macht ist, weil er 
unveränderlich ist, die Unveränderlichkeit selbst, ist aus- 
serdem die Nothwendigkeit selbst, weshalb in der That 
Eins und dasselbe Freiheit, Wille und Nothwendigkeit, 
Eins und dasselbe das Thun mit dem Wollen, Können und 
Sein ist. 

Vergleichen wir damit zuerst die Sätze, durch die 
Spinoza im zweiten Capitel (p. 18 ff.) beweist, dass in Gottes 
Verstand keine Substanz vollkommener sein könne, als sie 
in der Natur wirklich sei, d. h. dass jede Substanz nur als 
unendlich gedacht werden könne, dass überhaupt in Gottes 
Denken nichts sei, was nicht wirklich in der Natur sei: so 
beruft er sich hiefür darauf, dass es der göttlichen Macht 
und Güte zuwider wäre, dass es Neid der göttlichen All- 
macht sein müsste, wenn sie nicht dem von ihr Geschaffenen 



— 120 — 

alles gäbe, was sie geben kann; dass es zur Vollkommen- 
heit Gottes gehöre, Alles zu produciren, was producirbar 
ist; dass umgekehrt was nie ist, auch nicht möglich ist 
Das vierte Capitel handelt „Von Gottes nothwendiger Wir- 
kung" und behauptet, Gott könne nicht unterlassen, was 
er wirkt, Alles sei von Ewigkeit mit Nothwendigkeit prär 
destinirt; und der Grund für diese Annahme ist wie bei 
Bruno die ünveränderlichkeit Gottes , kraft der Gott nicht 
ohne das Wirken sein kann, das mit Nothwendigkeit aus 
seinem Wesen folgt; und ebenso schliesst er mit der Hin- 
weisung auf die göttliche Freiheit, die Eins sei mit seiner 
Vollkommenheit. 

Wenn nun auch in einem Theile dieser Stellen nur 
hypothetisch geredet wird, in apagogischen Beweisen oder 
aus dem Sinne der Gegner heraus , um ihre Einwendungen 
zu widerlegen; wenn auch Spinoza nirgends die Unter- 
scheidung Brunos zwischen dem Unendlichen, wie es über 
allen Gegensätzen ist und dem Unendlichen, wie es die 
Totalität aller Gegensätze ist, zwischen Gott und dem 
Universum macht, sondern beide ausdrücklich identificirt, 
so wird sich doch kaum läugnen lassen, dass seine Dar- 
stellung im Tractat überall die Spuren eines Processes 
trägt, in welchem ihm die ursprünglich auseinanderliegen- 
den Begriffe der transscendenten und der immanenten Ein- 
heit erst zu Einem Begriff zusammengegangen sind; dass 
er zwar die Identität von Natur und Gott im Princip schon 
völlig bewusst vollzogen, aber doch noch nicht bis zu der 
Consequenz des Satzes verfolgt hat, den das Scholion zu 
Eth. I, 17 ausspricht: Ad Dei naturam neque intellectum 
neque voluntatem pertinere. 

Weit deutlicher als im ersten Theile tritt die Ver- 
wandtschaft mit Brunos Gedanken und die Nachwirkung 
platonisirender Lehren im zweiten, psychologischen und 
ethischen Theile heraus. Mit Ausnahme der aus Cartesius 
berübergenommenen Aufzählung der einzelnen Passionen 



— 121 — 

sind die Grundgedanken alle in Brunos Schriften, besonders 
in den Dialogen Degli eroiei furori nachzuweisen. 

Zuerst ist es die Grundlage des ganzen zweiten Theils, 
die Unterscheidung der vier, beziehungsweise drei Arten 
und Stufen der Erkenntniss, welche sich bei Bruno fast 
mit denselben Ausdrücken findet, welche der Tractat ge- 
braucht. Allerdings bleibt Bruno sich in dieser Hinsicht 
nicht vollkommen gleich; er variirt nicht bloss zwischen 
den lateinischen und italienischen Schriften, sondeni inner- 
halb dieser selbst; er entwickelt das einemal eine längere 
Stufenleiter, indem er die sinnliche und imaginative Er- 
kenntniss in ihre specielleren Unterschiede gliedert, und 
über die intuctive Erkenntniss durch den Intellectus, noch 
den neuplatonischen Begriff der Mens als absoluter Ein- 
heit von Erkenntniss und Gegenstand, von Subject und 
Object, von Einem und Vielem, ein absolut zeitloses, mit 
dem göttlichen Denken identisches Erkennen setzt; das 
anderemal zieht er die ganze Eeihe der Unterschiede in 
die drei Hauptstufen der Imaginatio, Ratio, Mens zusam- 
men. Aber in der Schilderung gerade der . wichtigsten 
Stufen, der Eatiö und des Intellectus bleibt er sich gleich ; 
und eben diese wiederholt Spinoza. 

Die Batio ist nemlich die Fähigkeit zu schliessen, aus 
Bekanntem Unbekanntes, aus dem Einzelnen den allge- 
meinen Begriff, aus dem Grunde die Folge, aus der Wir- 
kung die Ursache zu erkennen; ihr Wesen ist das dis- 
cursive Denken, das vermittelst der Argumentation von 
Punkt zu Punkt fortschreitet, aber eben darum sein Object 
immer nur an einzelnen Punkten berührt, wie ein Blinder, 
der im Finstern tappt, immer im Suchen begriffen, nur 
eine Vorbereitung für die volle und wahre Erkenntniss. 

Diese ist Sache des Intellectus, und besteht in einer 
unmittelbaren, das Ganze des Objects gegenwärtig haben- 
den Anschauung, die zugleich Einheit des erkennenden 
Subjects und des erkannten Objects ist; wer so erkennt. 



— 124 — 

knngen zur Ursache Gott zu erkennen unternimmt, gleicht 
den Menschen in der platonischen Höhle, welche nnr die 
Schattenbilder an der Wand vorüberziehen sehen, aber des 
wahren Lichtes nicht theilhaftig sind*). 

Die Erkenntniss Gottes kann rmt eine unmittelbare, 
intuitive und darum nur eine durch die Oflfenbarung Got- 
tes selbst verliehene, plötzlicher Erleuchtung vergleichbare 
sein**). Gott selbst gibt sich dem menschlichen Geiste 
zu erkennen; ist er doch dem Geiste nahe und in ihm selbst 
gegenwärtig, ja näher als der Geist selbst sich ist***). 

Fast Satz fttr Satz finden wir diese Lehren bei Spinoza 
wieder. Durch nichts Aeusseres kann Gott sich uns zu 
erkennen geben. Wenn Gott aus einem Andern erkannt 
werden sollte, so müsste dieses unserem Verstände näher 
sein als Gott, der doch die Ursache aller Erkenntniss 
unserer selbst und der endlichen Dinge ist. Und gesetzt 
auch, es gäbe ein einzelnes endliches Ding, das uns be- 
kannter wäre als Gott, so könnten wir doch daraus nim- 



*) n,426. 

**) n, 425: La divina verith^ mostrandosi a quei pocchi^ a 
li quali si mostra , non proviene con misura di moto e tempo . . . 
ma subito e repentinamente , secondo il modo che conviene a tdU 
efficiente. Onde non ^ richiesto van dücorso di tempo, fatica di 
studio, et atto d'inquisizione per averla, ma cosi prestamente «*»n- 
gerisce, come proportionalmente il lume solare senza dimora si fa 
presente a cht se gli volta, e se gli apre . . . lAt, divina mente cerca 
et ellegge il suggetto . . . secondo il stw heneplacito vuol fürsi ritro^ 
vnre (die Offenbarung wird sowohl solchen zu Theil , die nicht sich 
dafür disponirt haben, als solchen, welche sie suchen und sich da- 
für vorbereiten; immer aber durch einen Act der Gottheit selbst, die 
sich zu erkennen gibt). 

***) II , 387 . , . venir oL piü intimo di sk , considerando che 
dio h vicinOy con sk e dentro di sk, piü chV egli medesimo esser non 
si possa. 341: Non necessario di cercare fuor di sh la divinitä. 
Perb hen si dice, il regno di Dio esser in noi, e la divinitade abüar 
in not per forza del riformato intelletto e voluntade. 



— 125 — 

mermehr zur Erkenntniss Gottes kommen; denn wie ist 
es möglich^ dass wir aus einem endlichen und begren^^ten 
Ding auf ein unendliches und unbegrenztes schliessen soll- 
ten? Und wiewohl wir schon einige Wirl^ungen oder Werke 
in der Natur bemerkten, deren Ursachen uns unbekannt 
wären, so wäre es dennoch unmöglich für uns, daraus zu 
schliessen, dass, um sie hervorzubringen, eine unendliche 
und unbegrenzte Ursache da sein müsse ; denn wie können 
wir daraus wissen, ob, um eine solche Wirkung hervorzur 
bringen, viele Ursachen zusammengewirkt haben, oder ob 
es nur eine einzige gewesen ist? Wer soll uns das sagen? 
Deshalb schliessen wir mit Recht, dass Gott, um sich den 
Menschen zu erkennen zu geben, weder Worte, noch Wun- 
derwerke, noch irgend ein anderes geschaflFenes Ding 
brauchen kann, sondern nothwendig dazu allein seiner selbst 
bedarf. Er gibt sich allein durch sein Wesen zu erken- 
nen*); aus seiner unmittelbaren OflFenbarung an den Ver- 
stand allein fliesst die intuitive Erkenntniss**), die keiner 
Logik bedarf, sondern Einigung mit ihrem Gegenstand 
und Genuss ihres Gegenstandes selbst' ist ***). Das discur- 
sive Denken, die Ratio, ist nur ein guter Geist, der zum 
höchsten Ziele hinführt, aber es nicht selbst erreicht. 
Diese unmittelbare Erkenntniss ist möglich, denn Gott, 
ohne den wir nicht sein noch begriflFen werden können, ist 
uns näher als irgend ein anderes Ding, näher als unser 
eigener Körper, wir erkennen ihn viel besser als wir uns 
selbst kennen ****). 

Aus der Erkenntniss geht die Liebe hervor, welche 
flir Bruno den eigentlichen Kern und Mittelpunkt des ganzen 
geistigen Lebens ausmacht , deren Schilderung nach ihren 



•) p. 216. 218. 
•*) p. 204.! 
*♦*) p. 98. 100. 
p. 188. 190« 



— 128 — 

ist die ht^chste Seligkeit; sie lässt alle irdischen Leiden- 
schaften, alle Furcht und Hoffnung , ja das Leben selbst 
yergessen; wer von ihr ergriffen ist, liebt die Flamme die 
ihn verzehrt mehr als andere die Kühlung, mehr seine 
Krankheit als andere die Gesundheit, mehr seine Ketten 
als andere die Freiheit*). Er ist Gefangener, ist Sklave; 
aber die göttliche Liebe drückt ihn nicht nieder auf den 
Grund, sondern erhebt^ und verherrlicht ihn hoch hinaus 
über alle Freiheit. Ihr Joch ist leichter als Luft ; wer ihr 
Sklave ist, ist ein so hochbeglückter Gefangener, dass er 
keinem Menschen noch Gotte die Freiheit neidet**). Der 
Antrieb zu grossen und herrlichen Thaten geht aus dieser 
Liebe hervor, zur Bekämpfung der Finsterniss, zum Jagen 
nach der Wahrheit***). 

Schritt für Schritt sehen wir auch hier, in der Lehre 
von der Liebe, die Sätze des Tractats den Gedanken Brunos 
entsprechen. Dieselbe Betonung der Liebe als des Grund- 
elements alles geistigen Lebens, die sich in dem Satze 
ausspricht, dass ohne Liebe der Mensch nicht bestehen 
könnte, dass er wegen seiner Schwachheit durch die Ver- 
einigung mit einem Andern sich stärken müsse, dass alles 
Guten und Bösen Quelle die Liebe sei, die auf diesen oder 
jenen Gegenstand falle; dieselbe Gegenüberstellung der 
niederen Liebe zu den vergänglichen Dingen und der hö- 
heren zum Ewigen und Göttlichen, entsprechend den ver- 
schiedenen Stufen der Erkenntniss; dieselbe Lehre, dass 
es unmöglich sei Gott zu erkennen und nicht zu lieben, 
dass mit der Liebe des höheren Gutes von selbst der Mensch 
von allen niederen Begierden sich reinige ; derselbe Be- 



*) n, 332 : In fiamma e aervitii convien ch\ io goda^ fugga la 
libertade e tema Ü ghiaccio, 

**) n, 402: Si altamente feltce cattivo, che iion tnvidi a sdolto 
aitr* uomo o divo, 
***) n, 401 ff. 



12? - 



gnff^mer ToUkommenen Vereinigung mit Gott, vermöge 
der Liebe und geliebter Gegenstand Eins werden*) Ja 
bis m die paradoxen Ueberschwenglichkeit^n des Ausdrucks 
folgt Spinoza seinem Vorbüde: denn jener mit Spinozas 
sonstiger Sprache so seltsam contrastirende Ausspruch 
unsere wahre Freiheit sei, dass wir mit den Uebfiehen 
Ketten semer Liebe gebunden sein und bleiben**) _ er 
erinnert zu deutlich an die zahlreichen Antithesen, in denen 
Bruno denselben Gedanken ausspricht, als dass wir nicht 
an eine Keminiscenz der volontaria cattivitä, des dolce, 
mente legare Brunos denken soUten. Ganz wie JBruno 
preist Spinoza die herrlichen Wirkungen der Liebe 
dass sie göttliche Gedanken erzeugt, und treibt sie andern 
mitzutheilen; wemi.Bruno von ihr sagt, dass sie einer un- 
endlichen Steigerung fähig sei, dass sie immer weiter und 
weiter strebe, unendlich sei um ihres unendlichen Ob 
jects wülen, und keine Grenze noch Mass ihrer Seliekeit 
kenne***): so sagt Spinoza fast mit denselben Worten*^). 
Die Liebe ist unbegrenzt, je mehr sie zunimmt, desto vor- 
trefflicher wird sie, und da sie auf ein Object geht das 
unendlich ist, kann sie allezeit zunehmen j ebenso wie Bruno 
bringt er die Unendlichkeit der Liebe mit der ünsterb 
üchkeit in Verbindung, nur mit dem Unterschiede dass 
Bruno aus der Unsterblichkeit des Menschen die Möglich 
keit einer ins UnendUche sich steigernden Liebe ableitet 
während für Spinoza umgekehrt die ins Unendliche wach' 
sende Liebe Gottes der Beweisgrund ftir die Unsterblich 
keit ist. Ja man könnte versucht sein zu glauben, Spinoza 
habe sich durch sein VorbUd zu einer offenbaren Incon- 

*) p. 120. vgl. oben S. 78. 

Ueffelyhe keeUnen z*jner lief de geboeyend zijn <^ bl^ea 
••*)n. p,372. '' 

•**»)^8nppl. p. 154. 

Sigirait, Sfinoxa's Xnetat. o 



-^ 130 — 

Sequenz hinreissen lassen. Denn während er sonst immer 
sich bemüht, die Erkennbarkeit Gottes festzuhalten, und 
die intuitive Erkenntniss Gottes als eine vollkommene Er- 
fassung seines Wesens schildert, sagt er mit einemmale 
(p. 204): Ich will keineswegs behaupten, dass wir Gott, 
so wie er ist, kennen müssen, sondern es ist genug, um 
mit ihm vereinigt zu sein , dass wir ihn einigermassen 
kennen; denn auch die Kenntniss, die wir von unserem 
Leibe haben, ist nicht der Art, dass wir ihn vollkom- 
men erkennen — und doch welche Vereinigung! welche 
Liebe! So kann also der Mensch in der Liebe das Un- 
endliche in sich aufgenommen haben, während er es in 
der Erkenntniss nicht erreicht. Eben dies ist wiederum 
die Lehre Brunos , der das Streben nach dem Höchsten 
für dasjenige erklärt, was dem heroischen Geiste zukomme, 
der sich tröstet, dass in der Beschränktheit seiner endli- 
ehen Natur er doch dieser höchsten Begeisterung föhig 
sei*). Spinozas Ausspruch erinnert zugleich an einen an- 
dern Platoniker, Picus von Mirandula, der in einem Briefe 
an Angelus Politianus ausruft: Sed vide mi Angele, quae 
nos insania teneat : Amare Deum, dum sumus in corpore, 
plus possumuSf quam vel eloqui vel cognoscere. Malumua 
tarnen semper quaerendo per cognitionem nunquam invenirej 
quod quaerimus , quam amando possidere **J, 

Ist unsere Vermuthung richtig, dass alle diese Ideen des 
Tractats nur aus der poetischen üeberschwenglichkeit des 
italienischen Dichters unvollkommen in die abstractere und 
farblosere Sprache des Philosophen tibersetzt sind, so kann 
es uns auch nicht wundern, wenn in der äusseren Form Spi- 
noza seinem Vorbilde nachzukommen und die Darstellüngs- 
weisC; welche diesem allein als die classische galt, anzu- 
wenden versucht — in jenen Ansätzen nemlich, die Un- 



*) II, 336. 

**) Joh. Pici Opp. ed. Basil. Ep. p. 250. 



— l3t — 

teröuchung dialogisch zu gestalten, in denen wir ohne 
Zweifel die frühesten Proben der schriftstellerischen Thätig- 
keit Spinozas haben. Der eine Dialog zeigt freilich auch 
hier den nüchterneren Geist des Philosophen; während 
Bruno die verschiedenen Richtungen, die er in Conflict setzt, 
vollkommen zu personificiren weiss, und die dramatische 
Lebendigkeit dadurch steigert, dass er historische Persön- 
lichkeiten, wie z. B. Fracastorio und Tansillo, auftreten 
lässt, begnügt sich Spinoza mit allegorischer Personification, 
und vertheilt Rede und Gegenrede an die Liebe, den Ver- 
stand, die Begierde, die Vernunft; aber in dem anderen 
Dialogen erinnert er um so mehr an Bruno, denn der 
Philosoph, der Spinozas eigene Ansicht darfegt, trägt genau 
denselben Namen, unter dem Bruno fast in allen Gesprächen 
auftritt, den er sich selbst auf den Titeln seiner Werke 
beilegt, den Namen Theöphilus. 

Mag nun aber aus Bruno oder aus einer andern Quell^ 
Spinoza die eigenthümlich mystische Ethik' seines Tr^ctats 
geschöpft haben — soviel ist jedenfalls unzweifelhaft, dass 
die Ideen des Neuplatonismus der Restaurationszeit auf 
ihn eingewirkt und die früheste Form seiner Lehre vor 
Allem im Gebiete der Ethik bestimmt haben. Steht dies 
aber fest, so lässt sich die innere Entwicklung, die er 
durchgemacht hat, aus der tiefen Verschiedenheit der An- 
regungen erklären, die er theils von dort, theüs aus der 
cartesianischen Philosophie empfing; sie stellt sich dar als 
ein Process, in dem er die heterogenen Elemente in einan- 
der zu verschmelzen suchte. Nicht so, als ob er sie äusser- 
lich vermittelt, durch gegenseitige Concessionen einen 
Compromiss gesucht hätte: seine Originalität bestand darin, 
dass er im Begriffe der absoluten Substanz den Punkt fand, 
von dem aus in consequenter Verfolgung ihrer Bestim- 
mungen sowohl die mechanische Physik des Gartesius als 
die idealistische Ethik des Piatonismus sich ableiten liess. 
Es ist ein Beweis der Kraft seines Geistes, dass man der 

9* 



— 132 — 

Ethik nur wenig mehr die tiefe EInft ansieht^ welche ur- 
sprünglich seine Metaphysik und Ethik, die Bestimmung de£t 
Gottesbegriflfs als der Einen Natur und seine Lehre von der 
Liebe Gottes trennte , die durch unmittelbare Offenbarung 
Gottes im Geiste erzeugt wird, dass er den Widerspruch 
verwischt hat, den der Tractat zwischen der Gleichstellung 
von Materie und Geist, als den beiden Attributen des gött- 
lichen Wesens, und der idealistischen Ueberordnung des 
Geistes über den Körper, des Denkens über die Ausdieh- 
nung schroff heraustreten lässt. Der Gott, der die Einheit 
der Natur, die Substanz als logische Zusammenfassung des 
Wirklichen im höchsten Gattungsbegriffe des Seins ist, 
dessen Wirken vor Allem in der mechanischen Nothwen- 
digkeit der materiellen Bewegung sich offenbart, ist ein 
anderer als der Gott der Neuplatoniker, der sich dem ein- 
zelnen Geiste offenbart, selbst geistig Gegenstand jener be- 
seligenden Liebe, jener mystischen Vereinigung, jener 
Verwandlung des endlichen Geistes in sein Object ist. 
Die verständige, auf die Entwicklung der Begriffe der 
Substanz und Causalität gestellte Betrachtung Gottes und 
der Welt, und die platonisirende Liebesbegeisterung liegen 
in einem Widerspruche, der desto schärfer ist, je weiter 
Spinoza in seiner Metaphysik sich von dem platonisiren- 
den Idealismus entfernt, und in der Auffassung des. Wirk- 
lichen der Eichtung zugewendet hat, welche das Materielle 
als das Erste, und die Ideen nur als die Abbilder des 
Wirklichen ansieht, je vollständiger er in der Physik des 
17. Jahrhunderts gefangen ist, und demgemäss die Materie 
als etwas durch sich Bestehendes, und die Bewegung der- 
selben nicht als Ausfluss einer innerlich sie treibenden Idee, 
sondern als die Fortpflanzung des Stosses annimmt, und sie, 
um die vorhandene Bewegung zu erklären, als eine ewige 
auch in philosophischem Sinne annehmen muss. Diese 
Gegensätze einer idealistischen Auffassung Gottes, nach 
der er der Urquell der Ideen und durch sie der Beweger 
der Welt ist, und der naturalistischen, die ihn vor Allem 



— 133 -^ 

als Naturnothwendigkeit fasst, die nur Object nicht Er- 
zeugniss des Denkens ist, — diese Gegensätze mussten fttr 
Spinoza versöhnt werden, und der Fortschritt vom Tractat 
zur Ethik, und damit die charakteristische Eigenthtimlich- 
keit seiner (xeistesrichtung besteht in der Art und Weise, 
wie er diese Versöhnung vollzogen hat. Es konnte bei 
einem Denker von Spinozas geistiger Individualität nur 
Einen Weg geben. Der „Klarheit und Deutlichkeit**, zu 
Liebe wurde der Idealismus geopfert. Alle jene zwar er- 
hebenden und erwärmenden, aber nicht klaren und deut- 
lichen, einem mehr poetischen als streng logischen Geiste 
entsprungenen Ideen von Vereinigung mit Gott, Genuss 
Gottes als Folge innerer Erleuchtung würden durch die 
fortschreitende begriffliche Bearbeitung, durch das Bedürf- 
niss strenger Deduction zurückgedrängt; indem Spinoza die 
dritte Erkenntnissweise und Alles was von ihr abhängt, in 
bestimmte BegriflFe zu fassen, ihr einen verständlichen In- 
halt zu geben suchte, musste er auf seinen naturalistischen 
Gottesbegriff zurückgehen, er musste zeigen, wie und durch 
welche Vermittlung dieser der Gegenstand einer intuitiven 
Erkenntniss sein könne, und so trat als Ziel des mensch- 
lichen Erkennens u'nd Denkens immer mehr nur die Er- 
kenntniss der Nothwendigkeit alles Einzelnen, und seines 
Begründetseins in dem Einen Sein auf. Er setzt mit an- 
dern Worten an die Stelle des platonischen Begriffes einen 
Gedanken, der dem Cartesius weit näher liegt, wenn dieser 
(Princ. phil. 1, 24) sagt: Perspicuum est optimam phüoso- 
phandi viam nos secuturos, si ex ipsius Dei cognitione rerum 
ab €0 creatarum explicationem deducere conemur, ut ita scien- 
tiam perfectissimamy quae est effectuum per causas, acquiramus. 
So wurde die dritte Erkenntniss zu dem, als was sie die 
Ethik beschreibt, wenn sie sagt, sie gehe von der adäquaten 
Idee des formalen Wesens der göttlichen Attribute fort zur 
adäquaten Idee der Essenz der Dinge. In diesen abstracten 
Ausdruck sind die Schilderungen unseres Tractats ver- 
trocknet ; und sein Inhalt ist kein anderer als Einsicht in 



— 134 — 

die logische Nothwendigkeit des Verhältnisses von Spb- 
stanz nnd Modus. Dies war die Beligion, welche dem 
consequenten Spinoza übrig blieb. Aber ein Best jener 
platonisirenden Mystik widerstand der Auflösung unseres 
ganzen Seins und Wesens in den materiellen MechanismuB 
der Bewegungen, die unsem Körper bilden, und in den 
logischen Mechanismus der Begriffe, und jene intellectuelle 
Liebe Gottes, die im ftinften Buche der Ethik freilich erst 
als Eesultat eines verwickelten Fortschritts der Erkennt- 
niss, nicht mehr als unmittelbare Gabe Gottes auftritt, ist 
der letzte Best der Lebenswärme, die einst den Tractat 
durchdrungen hatte, der letzte Hauch, der den erstarren- 
den Körper verklärt. 



Excurs 

über die Abfassiingszeit des Traetates. 

Eine Untersuchung über die Abfassungszeit der uns 
vorliegenden Schrift Spinozas ist darum ziemlich ver- 
wickelt, weil wir in derselben von vom herein mehrere 
Schichten verschiedenen Alters zu unterscheiden haben. 
Doch können zunächst nur zwei Hauptbestandtheile in Be- 
tracht kommen : die Hauptmasse der Abhandlung, und der 
Anhang. Ist für die erste die Zeit annähernd festgestellt, 
so darf angenommen werden, dass die dialogischen Frag- 
mente in Cap. 2, die für sich gar keinen Anhaltspunkt 
bieten, älter sind; über die Zusätze dagegen lässt sich 
schon deswegen im Allgemeinen nichts Bestimmtes aus* 
machen, da sie ohne allen Zweifel verschiedenen Zeiten 
angehören, indem einzelne derselben entschieden früher 
sind als der Anhang*), einer wenigstens den Anhang selbst 
begleitet ; das Yerhältniss jedes einzelnen Satzes aber zu 
untersuchen würde in ein endloses und unfruchtbares De- 
tail fuhren. 

Wir beschränken uns also auf die Erörterung der 
Frage, in welcher Zeit der Tractat selbst und der Anhang 
entstanden seien, und nehmen davon Veranlassung, über 
die Entstehung der Ethik überhaupt diejenigen Data zu- 
sammenzustellen, welche die neu publicirten Briefe zusam- 
men mit dem Inhalt der verschiedenen Schriften und den 
Andeutungen der bisher bekannten Briefe geben — eine 
Untersucjiung, welche auch flir die Erkenntniss der Grund- 
begriffe, des Spinozistischen Systems nicht ohne Bedeu- 
tung ist. 

•) Vgl. p. 26 Zna. 2 mit p, 238 prop. IV, 



— 136 — 

Einen äusserst wichtigen Anhaltspunkt bietet uns nun 
der Briefwechsel Spinozas mit Oldenburg, zumal in den 
ersten Briefen, welche unsere längst bekannte Sammlung 
eröffnen*). Oldenburg erinnert in seinem Briefe vom 
10. August 1661 (Ep. 1, 2) den Philosophen an ihre Ge- 
spräche „über Gott, fiber die unendliche Ausdehnung und 
das unendliche Denken, über Unterschied und Ueberein- 
»timmung dieser Attribute, über die Art der Einigung der 
menschlichen Seele mit ihrem Körper" und bittet um wei- 
tere Aufklärungen. In der Antwort darauf (ohne Datum, 
aber, da die Etickantwort vom 87. Sept. datirt ist, Ende 
August oder Anfang September 1661) entwickelt Spinoza 
(Ep. 2, 3 — 6) die Grundbegriffe seiner Lehre. Er giebt 
ihm die Definition Gottes: Ens constans infinitis attributüj 
quorum unumquodque est inftnitum sive summe perfectum 
in 8U0 genere; er fügt bei, dass er unter Attribut alles 
das verstehe, quod concipitur per se et in «e, adeo ut 
ipsius conceptus non involvat concepium alterius rei. Aus 
dieser Definition, fährt er fort, sei es leicht, die Existenz 
Gottes zu beweisen. Um dann der Frage Oldenburgs Ge- 
ntige zu thun, worin der wahre Unterschied der Ausdeh- 
nung und des Denkens bestehe, beginnt er drei Sätze auf- 
Äjistellen: 1) in der Natur können nicht zwei Substanzen 
existiren, die nicht durch ihr ganzes Weßen verschieden 
wären , 2) eine Substanz könne nicht hervorgebracht wer- 
den, sondern es gehöre zu ihrem Wesen zu existiren, 
3) jede Substanz mtisse unendlich oder höchst vollkommen 
in ihrer Gattung sein. Wenn diese Sätze bewiesen seien, 
so sei leicht zu sehen, wohiu er ziele. „Um aber (§. 6) 
dies klar und kurz zu beweisen, konnte ich nichts besse- 
res thun als es nach geometrischer Methode dargelegt 

*) Ich citjre die Briefe nach der Brudefschen Ausgabe, wo sie 
Boit Paragraphentheilüng versehen sind; da die Zählung derselben 
in allen Ausgaben dieselbe ist, so sind die Citate, abgesehen Ton 
den Paragraphen, für alle gültig. Die neu aufgefundenen oder zum 
erstenmal vollständig .mxtgetheilten Qriefe citire ich nach, den Seiten 
des Van Yloten'schen Supplementum. 



— 137 — 

Deiner Prtifdng unterwerfen und schicke es hierbei be- 
sonders/* 

Die Anmerkung, die die Herausgeber hier beifiigen, 
verweist auf die ersten Sätze der Ethik. Versuchen wir 
uns aber aus den Andeutungen der späteren Briefe, in 
denen diese Beilage besprochen wird, ihren Inhalt herzu- 
stellen, so zeigt sich bald, dass sie mit dem, was wir jetzt 
in der Ethik lesen, weder nach der Ordnung der Sätze, 
noch nach dem Wortlaute derselben tibereinstimmte*). 

Die Beilage enthielt nemlich zuerst Definitionen, de- 
ren Anzahl nicht genannt wird, dann 4 Axiome, endlich 
3 Sätze mit einem Schölion**). Sie lauteten so:j 
I. Definitiones. 

[1. Deum definio esse Ens constans infinitis attributis 
quorum unumquodque est infinitum sive summe perfectum 
in suo genere***). 

2) Per attributum intelligo omne id quod concipitur 
per se et in se, adeo ut ipsius conceptus non involvat con- 
ceptum alterius rei. Ut ex. gr. extensio per se et in se 
concipitur ; at motus non item. Nam concipitur in alio, et 
ipsius conceptus involvit extensionem ****)]. 

*) Böhmer hat S. 49 ff. seiner Schrift dieselbe Herstellung ver- 
sucht und für die Beweise mit grossem Scharfsinn die Ethik her- 
beigezogen. Ich habe mich oben begnügt, dasjenige zusammenzu- 
stellen, was durch die Stellen der Briefe unzweifelhaft belegt wird, 
und möchte, bei aller Anerkennung der Böhmer'schen Conjecturen, 
darüber nicht hinausgehen. Ich bemerke dabei, dass ich die nach- 
folgende Untersuchung völlig unabhängig von Dr. Böhmer*s Schrift, 
die mir längere Zeit nicht zur Hand war, angestellt habe. Dass 
ich in allen wesentlichen Punkten auf dieselben Resultate kam, — 
nur weniges wird durch die von Vloten publicirten Briefe noch be- 
stimmter zu erkennen möglich — beweist wohl für die Sicherheit 
derselben. Für manche Andeutung, die ich übersehen hatte, bin ich 
übrigens Dr. Böhmer zu Dank verpflichtet. 

**) Ep. 3, 5. 4, 6 steht Quarto denique von den Axiomen. 
4, 1: tres, quaa misi, propoaitionea, übereinstimmend mit 2, 5. 
***) Ep. 3, 3. 4, 7. 
^***) Ep. 2, 3. 4, 2. Ich setze die beiden Definitionen in Ellam- 



— 140 — 

So hatte also Spinoza seine Sätze im Angnst und 
September 1661 fonnulirt. Vergleichen wir nnn damit die 
entsprechenden Darstellungen des Tractats und des An- 
hangs, so springt sElsbald eine überraschende Ueberein- 
stimmnng in die Augen. Die Definition Gottes im zweiten 
Capitel des Tractats weicht von der Definition der Ep. 2 
nur unwesentlich ab, noch weniger die Formel, die das 
Corollarium des Anhangs gibt*). Die übrigen Definitio- 
nen finden sich in unserer Schrift nicht ausdrücklich her- 
vorgehoben, denn der Anhang unterlässt es auffallender- 
weise Definitionen aufzustellen und beginnt die „geo- 
metrische" Daretellung mit den Axiomen ; aber es ist im Ver- 
lauf der Untersuchung**) schon darauf hingewiesen worden, 
wie genau die Identität der Begriffe Substanz und Attribut 
dem Standpunkte des Ti-actats entspricht. In der Defijii- 
tion des Accidens tritt allerdings eine leichte Aenderung 
ein; fllr den Tractat (p. 78) ist Accidens oder Modus das, 
was nicht durch sich, sondern nur durch die Attribute 
existirt und durch diese als seine Gattungsbegriffe be- 
griff» wird; die Beilage des Briefs an Oldenburg lässt den 

zu verwerthen. Es handelt sich im Briefe um das Yerbältniss eines 
einzelnen Körpers zum Ganzen der Ausdehnung. Ratione Sub- 
stantiae unamquamque partem arctiorem unioneta cum stio toto 
habere concipio, Nam ut ante hac in prima mea Epistola, quam 
Ehenoburgi adkud käbitans tibi scripsiy conatus sum demonstrare^ 
guum de natura substantiae sit esse inßnitam, sequi ad naturam 
substantiae corporeae unamquamque partem pertinere , nee sine ea 
esse aut concipi posse. Denn es ist sonst keine Spur vorhanden, dass 
Spinoza auf die substantia corporea besonders eingegangen wäre. 
Als Consequenz freilich liegt, was Spinoza hier anführt, schon in 
den oben gegebenen Sätzen. 

*) Tract. Cap. 2: Ens de quo omnia sive infinita attributa di- 
cunturj quorum unumquodque in suo genere infinite perfectum est, 

Ep. 2: Ens constans infinitis atiributis, quorum unumquodque 
est infinitum sive summe perfectum in suo genere. 

Appendix: Infinitis constat attributis, quorum tmumguodgue 
ipsum infinitum et in genere suo perfectum est, 
**) S. 42. 



— 141 - 

Gattungsbegriff weg, und setzt wenigstens durch die Stellung 
den Modus der Substanz, nicht dem Attribute gegenüber. 
Weit schlagender wird die Uebereinstimmung, wenn 
wir zu den Axiomen und Sätzen tibergehen. Nach der 
ganzen Anlage des Tractats ist keine Veranlassung die 
Axiome ausdrücklich hervorzuheben, aber sie werden überall 
vorausgesetzt, insbesondere das dritte und vierte p. 20 
ausdrücklich auf den Satz begründet Ex nihilo nihil fit — 
gerade wie in Ep. 4, 6 ; das erste und zweite aber liegt in 
der Lehre von der Definition p. 78. Der Anhang da- 
gegen führt 7 Axiome auf, welche nach ihrem Wortlaut und 
ihrer Ordnung denen der Briefe sehr nahe kommen. Das 
erste ist in beiden Bedaction^n gleichlautend, nur dass der 
Anhang statt accidentibus „wijzen^^ (modis) setzt; das zweite 
der Briefe zerßült im Anhange in zwei zusammengehörige, 
mit leichter Aenderung des Gedankens *) ; die beiden fol- 
genden entsprechen sich bis auf unwesentliche Verschieden- 
heiten des Ausdrucks; am Schlüsse hat der Anhang zwei 
Axiome mehr, nemlicb: Hlud quod sui ipsius causa est, se 
ipsum non potuit determinare und lUud per quod res conser- 
vantur (onderhouden worden) natura st*a illis rebus prius est. 
Vom letzteren Axiome macht Spinoza in den uns vorliegen- 
den Sätzen und Beweisen des Anhangs keinen Gebrauch, 
dtii wenn wir das ^onderhouden worden^ in dem Sinne ver- 
stehen, in welchem p. 39 die Substanz yyvan alle eigen- 
schappen een onderhouder^^ heisst, so fällt das letzte Axiom 

*) Dem 2. Axiom der Briefe : Praeter substantias et accidentta 
nil datur realiter entspridit nemlich im Anhang : 2. Bes quae dif- 
feruntj vel realiter vel modalüer distinguuntur (cfir. Cart. Frinc. 
1, 69. 61). 3. Bee quae realiter distinguuntwr vel attributa diver ea 
hdbenty uti cogitationem et extensionem , vel diver sis adscribuntur 
attributisj uti intellectus et motuSj quorum unus ad cogitationem, 
alter' ad extensionem pertinet. Die Uebereinstimmung erhellt, so- 
bald wir uns erinnern, dass attributum und substantia gleichbedeu- 
tend sind; nur ist der Ausdruck des Axioms der Briefe klarer, weil 
er den Grund davon enthält, lorarum Alles, was sich unterscheiden 
lässt, sich nur in der einen oder andern Weise unterscheiden kann. 



~ 144 — 

read wir uns leieht denken können, dass die Fassung des 
ersten Axioms der Ethik: Omnia gitae sunt, ml in se vel 
in aUo sunty mit Rücksicht auf den Einwand vorgezogen 
wurde, den Oldenburg gegen den Satz: Praeter substantias 
et accidentia nil datur realiter erhoben hatte ; während noch 
bestimmter das sechste Axiom der Ethik: Idea vera dehet 
cum suo ideato convenire dadurch veranlasst scheint, dass 
Oldenburg die Begriffe für bloss subjective Erzeugnisse er- 
klärt hatte: findet sich im Anhang des Tractats keine An- 
deutung davon, dass Spinoza Oldenburgs Einwendungen 
schon gekannt hätte und ihnen begegnen wollte*), und so 
möchten wir uns der Annahme zuneigen, dass die Fassung 
des Anhangs eben fertig war, als Spinoza Oldenburgs 
Brief erhielt, und dass er ihm seine Sätze, soweit er sie 
eben ausgearbeitet hatte, durch die Definitionen erweitert, 
in einer schärferen, vereinfachten Redaction in jener Bei- 
lage zusandte. 

Somit glauben wir mit zienili<j}ier Wahrscheinlichkeit 
annehmen zu können, dass der Anhang kurz vor dem Sep^ 
temberl661, der Tractat aber eine unbestimmbare Zeit 
früher abgefasst, und Spinozas Schülern mitgetheilt wor- 
den ist. Daraus würde sich zugleich ergeben, dass der 
Tractat — was schon aus seiner weniger strengen Form 
wahrscheinlich ist, einige Jahre vor der Abfassung und 
Herausgabe der Principia philosophiae Cartesianae und der 
Cogitata metaphysica fällt. Denn diese Schriften sind ohne 
allen Zweifel in den Winter 1662/63 zu setzen. 

Wie verhält sich nun aber der Tractat zu der später 
aus ihm entwickelten Ethik? Die oberflächlichste Verglei- 
chung gerade des Anfangs der Ethik zeigt, dass kein Satz 
unverändert stehen geblieben ist. In welcher Zeit aber, 

*) Eine Einwirkung Oldenburgs könnte man höchstens in dem 
Zusatz zu p. 18 finden, wo Spinoza den Unterschied zwischen creare 
und generare auseinandersetzt. Denselben Unterschied hatte er 
Ep. 4, 8 dem Einwand Oldenburgs entgegengehalten, dass die Men- 
schen Substanzen und doch nicht causae sui seien. 



— 145 — 

und durch welche Mittelglieder etwa hindurch die erste 
Fassung in die letzte Redaction übergegangen ist, darüber 
haben wir freilich nnr spärliche Andeutungen. So lange 
man vollends die Briefe nur in der Form kannte , in der 
sie von Spinozas Freunden zuerst herausgegeben wurden, 
wurde man geradezu irre geführt, indem sie, wie sich jetzt 
herausstellt, verschiedene Citate abgeändert hatten, um sie 
der gedruckten Ethik zu accommodiren, während sie auf 
eine frühere Recension sich bezogen. Durch van Vlotens 
Mittheilungen sind wir in den Stand gesetzt, mit einiger 
Wahrscheinlichkeit das allmähliche Werden der Ethik zu 
verfolgen. 

Die wichtigsten Documente sind der Brief von Simon 
de Vries und Spinozas Antwort darauf, die beide in ver- 
stümmelter Gestalt in der bisherigen Sammlung als £p. 26 
und 27 stehen, von van Vloten aber p. 296 flf. vollständig 
aus den Originalien mitgetheilt werden. Wir erfahren dar- 
aus, zunächst, dass Simon de Vries in Amsterdam mit einigen 
Schülern Spinozas ein CoUegium gebildet hatte, in wel- 
chem sie, was Spinoza ihnen mittheilte, lasen und erklär- 
ten und über etwaige Schwierigkeiten ihn selbst zu be- 
fragen beschlossen hatten. Sie stehen eben am Anfang 
an den Definitionen und Axiomen. Aus verschiedenen 
Spuren geht nun hervor, dass Spinoza ihnen seine Sätze 
stückweise schickte, und dass er selbst keine Abschrift 
zurückbehielt. Denn wie sie über die dritte Definition Be- 
denken haben, schreibt er (Ep. 27, 8): Ipsa definitioy ut 
ipsam nifallorj tibi tradidiy sie sonat etc, Simon de Vries 
dankt femer für die ihm zugekommenen Schriften, die ihn 
sehr erfreut haben, besonders das Scholion zu Prop. 19; 
dieser Dank kann sich unmöglich auf dasjenige beziehen, 
was er schon längst hat, und dessen Dunkelheiten der Brief 
aufzuklären bittet, sondern nur auf eine neue Sendung. 
Während er Definitionen, Axiome und wenigstens 8 Sätze 
schon in Händen hat, hat er die Fortsetzung, die wohl 
neben dem 19. Satz auch die jetzt Eth. 1, 29 Schol. 

S 1 g w ar t , Spinoza's Tiactat. |q 



— 146 - 

Btebende üntersclieiduiig von natura natnrans und natnrata 
enthielt (Ep. 27, 7), eben erst erhalten. Ganz dasselbe 
wiederholt sich zwei Jahre später , Mai oder Juni 1666, 
wenn er einem andern Frennde und Schiller nrsprünglich 
den ganzen dritten Theil seiner Philosophie senden wollte, 
aber, um ihn und De Yries nicht länger hinzuhalten, einst- 
weilen einen Theil schickte, ungefähr bis zum 80. Satz*). 

So sehen wir, dass yom Jahre 1661 bis 1665 Spinoza 
in der Bearbeitung seiner Lehre nach geometrischer Me- 
thode allmählich fortrückt Im Winter von 1662 auf 63 
lesen seine Freunde zum zweitenmale schon**) die ersten 
Sätze, die schon weiter gediehen sind als der Anhang oder 
die Beilage an Oldenburg; Februar 1663 erhalten sie den 
19. Satz, 1665 den dritten Theil der Spinozischen Philo- 
sophie. 

Wie allmählich Spinoza fortschritt, erhellt wohl am 
besten daraus, dass nirgends von einem ersten Theile die 
Rede ist. Wo die Herausgeber in Ep. 26 Verweisungeü 
auf das erste Buch der Ethik setzten, da sind im Original 
nur die Sätze gezählt; und erst später scheint ein zweiter 
und dritter Theil hinzugekommen zu sein. Ob aber der 
dritte Theil, den der Brief vom Jahre 1665 'erwähnt, dem 



*) Suppl. p. 304. In demselben Briefe ist davon die Bede, dass 
entweder der Freund, an den der Brief gerichtet ist (nach van Ylo- 
tens Vermathung Bresser) oder Simon de Yries Spinozas Arbeit 
übersetzen wollen. Quod ad tertiam partem nostrae philoso' 
phiae attinet, ejus aliguam brevi vel tibi, si translator esse visy 
vel amico de Vries mittam. Ist von einer Uebersetzung ins Latei- 
nische oder ins Holländische die Rede? Das lässt sich bei den wider- 
sprechenden Zeugnissen, welche wir über die Sprache, in der die 
frühere Ethik abgefasst war, besitzen, nicht mit Sicherheit aus- 
machen. Wahrscheinlicher ist es mir auch hier, dass Spinoza latei- 
nisch schrieb, und dass seine Freunde die Uebersetzung ins Hollän- 
dische übernahmen, wie es später mit der vollendeten Ethik durch 
Jarrig Jellis geschah. 

^ p. 295 : Cum nostris coUegis non omnia eaJtis clare appareant^ 
— ideoque iterum collegii initium fecimus, — 



— 147 ~ 

dritten Buche der Ethik entspricht, oder ob er, was gleich- 
falls möglich wäre , damals der letzte war nnd das Werk 
abschloss,*) so dass aus den ursprünglichen zwei Theilen 
des Tractats zunächst drei und erst später ftlnf geworden 
wären, darüber lässt sich nichts Sicheres ausmachen. 
Aber wenn wir Ep. 36, 9 vom 13. März 1665 vergleichen, 
so finden wir, dass Spinoza dort schreibt, er habe in sei- 
ner noch nicht herausgegebenen Ethik (der Name kommt 
hier zum erstenmal vor) die Gerechtigkeit als das Be- 
streben, jedem das Seine zu geben, aus der klaren Er- 
kenntniss, welche die Frommen von sich und von Gott 
haben, abgeleitet. Er bezieht sich also ohne Zweifel auf 
das, was jetzt Eth. IV, prop. 34 — 38 steht. Wenn nun 
zwei Monate später der dritte Theil noch nicht vollendet 
ist, so lässt sich schliessen, dass die Ethik damals über- 
haupt nur aus drei Theilen bestand. Dasselbe ergiebt sich 
aus dem von van Yloten p. 300 ff. zum erstenmale mitge- 
theilten Briefe Oldenburgs vom Sept. 1665**) sowie aus 
Ep. 14 vom October desselben Jahres. Denn aus diesen 
geht hervor , dass Spinoza schon am 4. Sept. geschrieben 
hatte, dass er sich mit seinem theologisch -politischen 
Tractat beschäftigte; die Ethik hatte er also wohl voll- 
endet. Nun bleibt vom Mai oder Juni bis Anfang Sep- 
tember kaum Zeit, um einen vierten und ftlnften Theil 
der Ethik zu verfassen. 

Jedenfalls wissen wir, dass, was Spinoza seinen Freun* 
den damals mittheilte, weder der Anhang des Tractats, 
noch die Ethik war, die wir jetzt besitzen. 

Zunächst waren die Sätze anders gezählt. Die 
Definition Gottes stand zwar, wie in der Ethik, als sechste 
(Ep. 26, 8). Was dagegen Ep. 26 als dritte Definition 

*) Darauf könnte das nihil mittere antequam eam abBolverem 
hinweisen. Suppl. p. 304. 

**) « . . Video te non tarn philosophari quam, n üa loqui fae eH^ 
iheologitare; de angeUs quippe^ prophetia. miraculia eogüata tua 
eoneigruu . . . 

10» 



^ 148 ^ 

aufführt, ist in dem Anhange des Tractats oder den Brie- 
fen gar nicht nachzuweisen^ in der Ethik in die dritte und 
vierte Definition auseinandergefallen. War aber die dritte 
und vierte Definition der Ethik unter Einer Nummer früher 
zusammengefasst und doch die Definition Gottes beidemal 
die sechste, so müssen noch weitere Differenzen in den 
Definitionen selbst oder wenigstens in ihrer Ordnung statt- 
gefunden haben. Was dort drittes Scholion zum 8. Satze 
war, ist in der Ethik erstes Scholion zum zehnten, und 
das Scholion zum 19. Satze, über das Simon de Vries be- 
sondere Freude hat, kann unmöglich der ziemlich unbe- 
deutende Zusatz sein, der jetzt an dieser Stelle steht. 
Ebenso zählt im „dritten Theile" Spinoza (Suppl. p. 304) 
schon bis zum 80. Satze, ohne dass er damit vollendet 
wäre, während der dritte Theil der Ethik 58 Sätze und 
an sie anschliessend 48 Definitionen der Affecte giebt. 
Zu dieser abweichenden Zählung kommt eine abweichende 
Fassung der Sätze, soweit wir sie angeführt finden. 
Das dritte Scholion des 8. Satzes entspricht zwar grössten- 
theils dem, was wir jetzt als erstes des 10. lesen; 
aber als dritte Definition führt Spinoza an (Ep. 27, 8)- 
Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se con^ 
cipitur^ hoc est cujus conceptus non involvit conceptum aUe- 
rius rei. Idem per attrihutum intelligo^ nisi quod attrihutum 
dicatur respectu intellectusj substantiae certam talem naturam 
tribuentis. Diese Definition des Attributs weicht von der 
von 1661 , wo sie mit der Definition der Substanz völlig 
gleichlautete, wesentlich ab; ebenso aber auch von der 
Definition der Ethik, welche ihr jtanquam substantiae 
essentiam constituens^ anhängt. Der Satz femer, dass eine 
Substanz mehrere Attribute haben könne, war in doppelter 
Weise bewiesen. Der erste dieser Beweise findet sich 
jetzt ziemlich wörtlich gleichlautend als die zweite Hälfte 
des Scholion zum 10. Satze; der zweite aber, auf den 
Spinoza noch grösseres Gewicht legt, nemlich: quo plura 
attributa alicui enti tribuOy eo magis cogor ipsi existentiam 



~ 149 ~ 

tribuere, findet sich an dieser Stelle nicht, findet sich in 
denselben oder ähnlichen Worten überhaupt nicht in der 
Ethik, wenn auch der entsprechende Gedanke im Scholion 
zu Prop. 11 (den Beweisen für die Existenz Gottes) aus- 
geflahrt ist. 

Daraus geht mit Bestimmtheit hervor, dass in den 
Jahren 1663 bis 65 die Ethik noch nicht die jetzige Ge- 
stalt hatte. Eben so sicher aber lässt sicn aus den An- 
deutungen der Briefe erkennen, dass was Spinoza's Freunde 
damals lasen, der Ethik schon ziemlich nahe kam, jeden- 
falls sich weniger von ihr unterschied als vom Tractate 
und der Beilage an Oldenburg. Wir können insbesondere 
schliessen, dass die Axiome des Anhangs bereits zu Pro- 
positionen geworden waren, indem sonst kaum das Scho- 
lion 2u Eth. I, 10 schon als drittes Scholion zum 8. Satze 
hätte stehen können. 

Diese Andeutungen werden aber unterstützt durch Ep. 
29 vom 20. April 1663 , wo Spinoza wieder 3 Hauptsätze 
über die Substanz aufzählt. Hier stellt er voran, dass zu 
ihrem Wesen die Existenz gehöre; daraus folgt: 2): dass nur 
Eine Substanz derselben Natur existirt, sowie 3): dass jede 
Substanz unendlich ist Also wieder die Sätze des Trae- 
tats, des Anhangs und der Beilage, aber in einer charak- 
teristisch veränderten Ordnung, die ganz dem oben nach- 
gewiesenen Entwicklungsgange entspricht; dass die Sub- 
stanz durch sich selbst existire, wird ihm immer mehr zur 
wichtigsten Bestimmung ihres Begriflfs, während es zuerst 
ihre Unendlichkeit gewesen war. In den Briefen 39 — 41 
aus dem Jahre 1666, die nach Böhmer's Mittheilung in 
Fichte's Zeitschrift XLII, S. 85 an Huygens gerichtet 
sind, sehen wir ihn durchaus vom Begriffe eines durch sich 
selbst existirenden Wesens ausgehen, und daraus seine 
übrigen Bestimmungen ableiten. Es ist derjenige BegriflF, 
der in der ersten Definition der Ethik auch wirklich an 
die Spitze getreten ist, wenn auch in der Ausführung die 
frühere Ordnung wieder durchschlägt. 



— 150 — 

Dass die Ethik in der Gestalt, in der wir sie jetzt 
haben, vollendet gewesen, wissen wir erst aus dem Jahre 
1675, wo es sich auch um Herausgabe des tractatus 
quinquepartitu$ handelt*). Denn in den Briefen, welche 4675 
durch Vermittlung SchaUers zwischen Walter von Tschirn- 
hausen und Spinoza gewechselt wurden (Ep. 13-73), wird 
die Ethik von Anfang an so citirt, dass keine wesent- 
liche Differenz mehr zu entdecken ist; kleine Abwei- 
chungen im Einzelnen können sehr wohl auf Rechnung 
einer ungenauen oder abktlrzenden Anführung kommen**); 
höchstens könnte aus Ep. 66, 2 geschlossen werden , dass 
Spinoza die Ordnung der Axiome nach 1675 noch ge- 
ändert hat. 

Vergleichen wir nun die Gestalt, welche die ersten 
Sätze der Ethik mindestens vierzehn Jahre nach dem 
ersten Entwurf gewonnen haben, so verräth sie in einer 
grösseren Ausftthrlichkeit das Bestreben, jeden einzelnen 
Schritt im Gange des Denkens möglichst scharf und be- 
stimmt hervorzuheben. Sie löst, was früher enthymema- 
tisch zusammengefasst war, in die einzelnen Prämissen 
auf. Sie verweist ferner die Axiome, welche die Beilage 
an Oldenburg aufgezählt hatte, unter die Propositionen; 
mit vollem Recht, denn Spinoza hatte ja Sjßhon damals 
gezeigt, dass sie Folgerungen aus den Definitionen seien, 
die Würde von Axiomen also streng genommen nicht 
haben können. In den Definitionen und Axiomen der Ethik 
sehen wir femer das Resultat einer weit vollständigeren 
Analyse, welche bestrebt ist aller Voraussetzungen sich be- 
wusst zu werden, welche früher als selbstverständlich nicht 

*) Ep. 18 an Oldenburg. 
**) Die SteUen sind: Ep. 63, 1. 64, 3. 65, 2. 3 (hier hat der Brief 
»,,quo plus realitatis aut essehabeat, eoplura ei competant at- 
trihuta (mit dem Ausdruck der prop. 9), die entsprechende Stelle 
der Ethik, I, 10. Schol.: eo plura attributa, quae et necessitatem^ 
sive aetemitaUm et infinitatem exprimunt, kabeatj 65, 4 (vergl. mit 
Eih. 1, 23) 66, 2. 3 (der Brief führt Axioma 6 des ersten Theiles an, 
wo nur Ax. 4 gemeint sein kann) 4. 5. 6. 7, 8. 67, 1. 68. 



^ 151 ~ 

zum bestinunten Ausdruck gekommen waren, oder den- 
selben nur gelegenheitlich geftinden hatten. Aus diesem Be- 
streben und aus den vielen voraugehenden Versuchen den 
Gang der Entwicklung bald so bald so zu gestalten er- 
klärt sich endlich die immerhin künstliche und gezwun- 
gene Ordnung, welche den ursprünglichen Gang der Spe- 
culation Spinoza's verhüllt. Wir haben ein methodisches 
Kunststück vor uns, dessen Zweck die beweisende Dar- 
stellung von Gedanken ist, deren genetische Entwicklung 
in wesentlich anderer Weise vor sich gegangen wan Die 
Krjstalle welche nach einander angeschossen waren, sind 
zerschlagen und aufgelöst, um sie aufs Neue unter ver- 
änderten Bedingungen krjstallisiren zu lassen. 

Es ist von ^Interesse, im Einzelnen eine Yergleichung 
anzustellen, und darin zugleich die Resultate der hierher 
bezüglichen Untersuchungen zusammenzufassen. 

Was zunächst die Definitionen der Ethik betriflft, 
so lässt sich von der ersten, welche den Begriff der causa 
8ui entwickelt, in den früheren Schriften keine Spur ent- 
decken. Spinoza gebraucht zwar den Ausdruck von An- 
fang an, er erscheint schon im ersten Capitel des Trac- 
tats"*"), überall aber als ein traditioneller, dessen Bedeutung 
verständlich ist, und dem in der Gedankenentwicklung 
durchaus keine hervorragende Stelle zukommt**). Wie 
allmählich sich der Begriff eines Wesens, cujus essentia in- 
volmt existentiamy aus den alten ontologischen Beweisen her- 
ausgebildet und mit dem Begriffe der Substanz verschmol- 
zen hat, glauben wir oben gezeigt zu haben. 

Die zweite Definition stand im Wesentlichen gleich- 
lautend in der Beilage an Oldenburg, wenn auch dort viel- 
leicht res infinita anstatt der res finita definirt war. 

In der dritten, der Definition der Substanz, erscheint 



•) Suppl. p. 14. 

**) De intell. emend. p. 449: Si res sü in m, sivSf ut vulgo 
dicitur^ causa sm. 



— 152 — 

die Bestimmung: quod in se est, in den frühesten Bedac- 
tionen des Jahres 1661 noch nicht; sie erscheint ztun 
erstenmal in den Definitionen von 1663 (Ep. 27, 8). 

Die vierte Definition, die des Attributs, ist noch jünger. 
Die Beziehung auf einen intellectus erscheint zum ersten- 
mal 1663; der Beisatz: tamquam ejus essentiam constituens, 
und ebenso die Formel Attributum aetemam et infinitam 
essentiam exprimit, oder redlitatem sive esse aubstanüae 
exprimity sind später. 

Die flinfte Definition, die des Modus, ist im Wesent- 
lichen in der Beilage an Oldenburg enthalten. 

Die sechste, die Definition Gottes, hat den Terminus 
Substanz in den frtlhesten Redactionen nicht in sich 
aufgenommen, sondern setzt Ens; nach Ep.26, 8 war aber 
1663 schon Gott als die unendliche Substanz definirt. 

Die siebente und achte sind früher nicht nachzu- 
weisen. Die achte wird übrigens im Briefe an Huygens 
vom 10. April 1666 (Ep. 40, 2) noch nicht vorausgesetzt, 
denn dort wird aetemüas und indeterminata duratio noch 
nicht unterschieden. 

Von den Axiomen ist das erste dem Sinne nach 
gleichbedeutend mit dem zweiten der Beilage an Olden- 
burg. Alle übrigen sind jüngeren Datums. 

Die Propositionen endlich sind grösstentheils in 
den Axiomen und Propositionen des Tractats, des Anhangs 
und der Beilage an Oldenburg nachzuweisen. Es entspricht 
sich nemlich: 



Eth. 


Tract cap. 2. 


Anhang 


Beilage 


Prop. 1. 


— 


At. 1. 


Ax. 1. 


Prop. 2. 


— 


Ax. 4. 


Ax. 3. 


Prop. 3. 


— 


As. 5. 


Ax. 4 


Prop. 4. 


— 


Ax. 2 n. 3. 





Prop, 5. 


Prop. 2. 


Prop. 1. 


Prop. 1. 


Prop. 6. 


Prop, 3. 


Prop. 2. 


Prop. 2. 


Prop. 7, 


Prop. 4 


Prop. 4. 


Prop. 2. 


Prop. 8. 


Prop. 1, 


Prop. 3. 


Prop. a 



— 153 — 

Prop. 9 steht schon im Zusatz zum zweiten Capitel 
des Traetates; Prop. 10 entspricht der Definition des Attri- 
buts in den früheren ßedactionen, nur mit dem Unter- 
schied , dass dort die Attribute noch nicht auf Eine Sub- 
stanz bezogen waren; die Beweise zu Prop. 11 endlich, 
die Beweise fbr's Dasein Gottes , sind in dieser bestimm- 
ten Form nirgends Yorher nachzuweisen, und es lässt sich 
au)9 der Yergleichung der successiven Versuche schliessen, 
dass gerade dieser Punkt dem Philosophen die meisten 
Schwierigkeiten bereitete , und dass ihm keine der vielen 
Formen, die er nacheinander ersann, vollständig genügte. 

Zur Vervollständigung der vorangehenden Untersuchung 
ist es noch geboten, auch das Verhältniss des Traetates De 
deo et homine zum Tractatus de intellectus emenda- 
tione genauer zu ermitteln. Dass dieser einer frühen Zeit 
angehöre, bemerkte schon der Herausgeber der opera post- 
huma*); und die Briefe zeigen, wie frühe schon Spinoza mit 
seinem Gegenstande sich beschäftigte. In Ep. 8, 14 vom 
3. April 1663 fragt Oldenburg an, ob Spinoza sein wichtiges 
Werk, worin er über den Ursprung der Dinge und ihre Ab- 
hängigkeit von der ersten Ursache, sowie von der Verbes- 
serung unseres Verstandes handle, schon vollendet habe. 
Spinoza antwortete (Ep. 9,4), wenn die Veröflfentlichung der 
Principia Philosophiae Cartesianae ihm das Interesse ein- 
flnssreicher Männer seines Vaterlandes zuwende, so dass er 
unter ihrem Schutze und ohne Gefahr einer Belästigung 
seine Meinungen veröffentlichen könne, so werde er so- 
gleich einiges herausgeben; bis dorthin möge Oldenburg 
sich gedulden; dann aber werde er entweder den Traotat 
selbst oder ein Compendium desselben gedruckt erhalten. 

Aus dieser Stelle scheint hervorzugehen, dass Spinoza 
damals im Sinne hatte, beides in Einer Darstellung zu ver- 

*) Praef^ Paulus 11, p. 28: Tractattts de emendatione intellectua 
est ex prioribua noatri Phüosophi operihtM, testibua et stylo et con- 
ceptibm, p. 4l2 (in der Admonitio ad lectorem) . . . jam rnuUoß 
^drOe afmo9 ab auctare fmt conecriptuB, 



— 156 — 

schärfer ausgeführt, in abstracteren BegriflFen dargestellt, 
in besserer Ordnung entwickelt, mit deutlicheren Beispielen 
erläutert. Insbesondere ist die Definition der vierten Er- 
kenntnissart eine wesentlich andere, indem sie an die Stelle 
der wechselnden und unbestimmten Redensarten unserer 
Schrift die Formel setzt : Quarta perceptio est^ ubi res per- 
cipitur per sokcm suam essentlam,, vel per Cognition em suae 
proximae causae. Ebenso ist der BegriflF der idea vera yiel 
schärfer entwickelt, und der im Tractat selten und nur ge- 
legentlich vorkommende Terminus „adäquat" zu diesem 
Zwecke herbeigezogen. Der Briefwechsel mit Oldenburg, 
und dessen Zweifel (Ep. 3, 2) ob aus einer Definition auf 
die Existenz des Definirten geschlossen werden könne, 
musste ihm das Bedürfniss einer genauen Erörterung hier- 
über besonders nahe gelegt haben *). Unser Tractat hatte 
sich von der Vorstellung, dass die Objecte Ursachen der 
Ideen seien, noch nicht befreit ; der Tractat de intell. emend. 
sucht den inneren Unterschied der wahren und falschen 
Idee auf, wie sie rein aus dem Verstände unabhängig vom 
Object hervorgehen. Damit hängt aufs Engste zusammen, 
dass schon i%der Methodenlehre der Satz, das Intelligere 
sei blosses Leiden, vollkommen aufgegeben, das Leiden 
auf die Imaginatio beschränkt, der Verstand aber als actives 
Princip dargestellt ist. So tritt auch in der Methodenlehre 
der Satz, dass wer wisse, zugleich wisse, dass er vnsse, 
zuerst mit vollständiger Klarheit heraus; der ganze Be- 
griff der Methode ist auf den Begriff der reflexiven sich 
selbst als wahr bejahenden Erkenntniss gebaut, der im 
Tractat zwar in dem Satze veritas sui ipsius atque etiamfalsi- 
tätis index vorausgesetzt, aber nicht mit Bewusstsein her- 
ausgestellt ist, vielmehr von der Anschauung, dass 4as 

*) Gelegentlich möge eine Correctur des Spinozischen Textes 
hier stehen, auch auf die Gefahr hin, dass sie vielleicht anderswo 
schon bemerkt worden ist. Paulus II, 431. Bruder II, 22 steht; 
Unde aequitur, si detur aliquia Detbs avA omniacium gtiid, nihil 
prorsus noe poase fingere. Statt nos muss id oder eum stehen. 



^ 157 — 

Object sich mit überzeugender Klarheit manifestire, erstickt 
wird. Nur in den Sehlussworten des Anhangs wird auf 
die reflexive Idee, die Kenntniss unserer selbst hingewie- 
sen. (Suppl. p. 251.) 

Zu diesen Differenzen, zu denen die oben S. 34 er- 
örterte in der Lehre von der Definition hinzukommt, und 
die leicht durch eine ganze Reihe anderer Beispiele ver- 
mehrt werden könnten, gesellen sich andere Zeichen. Im 
Tractat ist keine Spur davon zu entdecken, dass Spinoza 
Bacoüs Schriften gelesen hat ; in der Methodenlehre ist die 
Bezugnahme auf Bacon unverkennbar*). Da nun in dem 

*) Vergl. p. 419 die Bestimmung der zweiten Art der Ei> 
kenntniss, der experientia vaga, h, e. experientia, quae non deter- 
minatur ah intellectu, sed tantum ita dicitur, quia casu sie occurrttj 
et ntdlum aliud hdbemus experimentum, quod hoc oppugnat — mit 
Bacons inductio per enumerationem simplicem uhi non invenitur 
instantia contradictoria, oder mit N. O. I, Aph. 25 und 70. Der 
Ausdruck selbst, experientia vaga, ist aus Aph. 100. In der An- 
merkung zu p. 423 spricht Spinoza die Absicht aus, ausfuhrlicher 
von der Erfahrung zu reden; die Worte: Empiricorum et recentium 
Phüosophorum procedendi methodum examinabo können sich nur 
auf Bacon beziehen. Einer Anregung durch Bacon ist wohl der 
Satz p. 428 zu verdanken : Ratio, cur in naturae inquisitione raro 
contingat, vt debito ordine ea investigetur, est propter praejudicia, 
guorum causaspostea in nostra philosophia explicahimus. Dieses Ver- 
sprechen hat er im Anhang des ersten Buchs erfüllt, seine Polemik 
gOgen den ZweckbegriflP aber, die unserem Tractate fremd ist, kann 
gleichfalls durch Bacons Sätze veranlasst sein. Am bestimmtesten 
aber weist durch Gedanken und Ausdruck die Stelle p. 453 auf Bacon 
hin, wo Sp. von der Erkenntniss des Einzelnen redet. Alia auxilia 
neoessario sunt quaerenda praeter illa, quibus utimur ad res aeter- 
nas eo/rumque leges intelligendum . . . quae omnia eo tendent, ut 
nostris sensibus sciamus uti, et experimenta certis legibus et ordine 
facerCj quae sufficiant ad rem, quae inquiritur, determinandamj ut 
tandem ex Os concludamus, secundum quasnam rerum aetemasnum 
leges facta sit, et intima ejus natura nobis innotescat. Darin ist 
dieselbe Aufgabe ausgesprochen, die sich Bacon für seine Methode 
gestellt hat; die res ßxae et aetemae earumque leges, die intima 
natura rei sind nichts anderes als die Baconischen Formen, deren 
Aufsuchung seine Methode lehren will, und gerade so unklar wie 



— 158 — 

ersten Briefe an Oldenburg Spinoza über Bacons Irrthümer 
spricht^ und zwar so, dass gegen die Annahme , er habe 
ihn eben erst gelesen, kein Grund vorliegt, so stimmt auch 
diese Anzeige damit überein, dass die Methodenlehre nach 
dem Traetate verfasst ist. Ja man könnte versucht sein 
zu glauben, die Bekanntschaft mit Bacons Organon habe 
erst den Entschluss einer besonderen Untersuchung über 
die Methode zur Beife gebracht, wenn nicht die cartesia- 
nische Dissertatio de methodo einen näheren und zureichen- 
den Anlass darböte. 

Auf der andern Seite weisen die Anmerkungen zur 
Methodenlehre auf eine Zeit hin, in welcher die Ethik noch 
im Werden war, und Spinoza eine umfassendere Anlage im 
Sinne hatte, als die spätere Ausführung erreichte. Schon 
der Name ist bezeichnend : er verweist immer auf seine 
„Philosophie" Wir suchen vergeblich die Erklärung, was 
vis nativa und was opera intellectualia, was quaerere 
in anima sei, und ob die Ideen selbst der Yerderbniss un- 
terliegen, die Spinoza in seiner „Philosophie" zu geben 
verspricht*). Wir gehen vielleicht wenig fehl, wenn wir 
annehmen, dass Spinoza damals, wo er an eine Methode 
für die Erkenntniss des Einzelnen so gut wie für die Er- 
kenntniss der ewigen Dinge dachte, Physik und Ethik 
in Einer Bearbeitung zusammenfassen wollte, dass er, an 
den Tractat von Qott und dem Menschen anknüpfend, seine 
Arbeit begann, aber von der ursprünglich ethischen Be- 
grenzung des Kreises festgehalten wurde. Das Wahr- 
scheinlichste ist, dass die Methodenlehre zwischen den 
Tractat und die von 1663 bis 1665 vorgenommene Bear- 
beitung der Ethik fällt. 

Baopn spricht er von Gesetzen im Zusammenhang mit diesen ewigen, 
sich gleichbleibenden Dingen, oder wie Bacon sie nennt, Naturen. 
*) p. 424. 426. 446. 



Druck der Hofbuchdraclcerdi (H. A. Pi«rer) in Altenbnrg. 



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