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600068359
^4
600068359.
600068359.
. . Spinoza^s
neuentdeckter Tractat
von
Gott, dem Menschen und dessen
(jlückseligkeit.
Erläutert mxA in seiner Bedeutung für das Verständnisi
des Spinozismus untersucht
von
Dr, Gkristoph Sigwart,
0. 5. Professor cfer Philosophie in Tübingen.
Gotha,
Verlag von Rud. Besser.
1866,
— IV —
immer Gefahr läuft, die längst bekannten Lehren des fer-
tigen Systems in die frühere Darstellung hineinzutragen.
Um so mehr habe ich bedauert, dass ich Trendelenburgs
am 15. März d. J in der Sitzung der Berliner Academie
gelesene Abhandlung über denselben Gegenstand nicht mehr
vergleichen konnte, um an der Auffassung eines so gründ-
lichen Kenners und scharfsinnigen Kritikers der spinozisti-
schen Philosophie meine eigene zu prüfen. Ich glaube
mich indess zu der Hoffnung berechtigt, dass mir nichts
Wesentliches entgangen ist, und dass das Bild, das mir
aus wiederholter Betrachtung entstand, die charakteristi-
schen Züge der damaligen Denkweise Spinoza's wieder-
gibt. Jedenfalls glaube ich gezeigt zu haben, dass der
neue Fund eine wesentliche Bereicherung unserer Mittel
ist 9 die innere Entwicklung und damit den wahren Sinn
des Spinozismus zu verstehen, und dass er insbesondere
die Einflüsse, welche auf ihren Urheber in seiner Jugend
eingewirkt haben, weit sicherer und vollständiger, als bis-
her möglich war, zu erkennen gestattet. Wenn ich in letz-
terer Hinsicht auf eine kaum zu verkennende directe Ab-
hängigkeit Spinoza's von Giordano Bruno geführt wor-
den bin, und dieselbe ausftlhrlich nachzuweisen versucht
habe, so will ich nicht behaupten, dass damit diese Unter-
suchung erschöpft sei ; vielleicht dass nebenher noch andere
Zusammenhänge bestehen, welche mir nicht gelang auf-
zufinden; ich begnüge mich, in Einer Richtung jedenfalls
gezeigt zu haben, dass der Tractat eine Nachforschung
lohnt, und werde mich freuen, wenn meine Untersuchung
von Andern vervollständigt wird.
Während des Druckes erst kam mir die Schrift zu:
Don Chasdai Greska's religions-philosophische
Lehren in ihrem geschichtlichen Einflüsse dargestellt von
Dr. M. Joel, Rabbiner der Synagogengemeinde zu Breslau.
Der in der mittelalterlichen jüdischen Literatur wohlbe-
wanderte Verfasser sucht darin zu beweisen , dass „eigent-
lich alle Keime za dem, was in Spinoza's Systeme das
— V —
Charakteristische ausmacht^ in Ghasdai sich yorJSnden'^ Es
ist ihm nun zwar gelungen, nicht bloss zu zeigen, dass
Spinoza diesen Talmudisten aus dem Ende des 14. und
Anfang des 15. Jahrhunderts gekannt hat — dies beweist
schon ein Citat in Spinoza's neunundzwanzj^tem Brief — ,
sondern auch wahrscheinlich zu machen, dass yerschiedene
Stellen theils der Cogitata metaphysica, theils der übrigen
Schriften Seminiscenzen an ihn enthalten. Allein dass das
Charakteristische in Spinoza's Lehren dorther stamme, da-
von hat er uns nicht zu überzeugen yermoclit; er scheint,
durch Anklänge Ton untergeordneter Bedeutung getäuscht,
theils Spinoza's Ideen in die Schriften Chasdai's hineinge-
lesen, theils mit den zwischen beiden bestehenden Differen-
zen es zu leicht genommen zu haben. Eine Lehre, welche
wie die Chasdai's die Einheit Gottes für unbeweisbar durch
philosophische Gründe und nur durch Offenbarung gewiss
erklärt (S. 32 und 33 der angeftihrten Schrift), kann nicht
den Keim zu dem enthalten, was in Spinoza's System das
Charakteristische ausmacht. Jedenfalls findet sich in un-
serem — vom Verfasser wie es scheint nicht gekannten —
Tractate, so gewiss er Spinoza's Bekanntschaft mit den in
der jüdischen und christlichen Dogmatik überall discutirten
theologischen Lehren darthut, kein bestimmterer Hinweis
auf eine derartige Abhängigkeit. -
Erst im letzten Augenblicke kann ich auch den eben
erschienenen zweiten Band von Erdmanns Grundriss der
Geschichte der Philosophie vergleichen. In dem Abschnitt
über Spinoza S. 47 — 76 ist unser Tractat wiederholt ver-
werthet und einige seiner eigenthümlichsten Gedanken her-
ausgehoben. Allein die Art, wie Erdmann ihn ftir seine
Darstellung Spinoza's benützt, ist wesentlich verschieden
von derjenigen, welche die vorliegende Schrift versucht.
Dort treten die Citate aus demselben nur als Ergänzung
einer in der Hauptsache auf die bisher schon bekannten
Schriften gegründeten Darstellung auf, so dass seine eigen-
thümliche Bedeutung als Ausdruck einer früheren Phajse
— VI —
philosophischen Denkens und sein mannigfaltiger Unter-
schied von der Ethik weniger zur Geltung kommt. Ungern
verzichte ich auf den Hinweis im Einzelnen, wie manche
treffende Bemerkung Erdmanns über den Charakter des
spinozischen Denkens überhaupt und besonders über die
Beziehung zwischen den Begriffen der- Substanz und der
Ursache, zwischen logischer Bedingtheit und realer Ab-
hängigkeit ihre volle Bestätigung im Tractate findet, wäh-
rend andererseits seine Auffassung des Verhältnisses der
Attribute zur Substanz, wie sich aus der folgenden Dar-
stellung auch ohne besonderen Nachweis ergibt, dem Trac-
tate gegenüber am wenigsten sich hätte durchführen lassen.
Erdmanns richtige Bemerkungen Über das allmähliche
Werden der Ethik (S. 49) finden ihre Bestätigung und wei-
tere Ausführung in meinem Excurse, in welchem ich be-
müht war, alle auf ihre Entstehungsgeschichte bezüglichen
Andeutungen zusammen zu stellen.
Tübingen, Anfangs November 1866.
Der Verfasser.
Inhaltsübersicht.
Seite
Einleitung 1
Der erste Theil des Tractates 7
1. Die Beweise für das Dasein Gottes 7
2. Das Wesen Gottes . 9
3. Der Begriff des Attributs 28
4. Der Begriff des Modus 44
5. VerhSltniss der beiden Attribute und ihrer Modi 52
Der zweite Theil des Tractates 61
1. Die Erkenntniss und ihre verschiedenen Arten . 64
2. Die Modi des Denkens, welche aus den verschie-
denen Erkenntnissarten folgen 76
3. Der ethische Process als die Verwirklichung des
höchsten Guts im Menschen 84
Die Quellen der Gedanken des Tractates .... 96
Cartesius 96
Die Cabbala . 99
Giordano Bruno 107
Ezcurs über die Abfassungszeit des Tractates . . 135
Der Tractat und die Briefe an Oldenburg . . . . 135
Der Tractat und die Ethik 144
Der Tractatus de intellectus emendatione .... 153
Als Spinoza's hinterlassene Werke noch in seinem
Todesjahre von einem seiner Freunde herausgegeben wur-
den, bemerkte dieser in der Vorrede, er theile Alles mit,
was er aus des Philosophen Concepten und einigen Ab-
schriften, die bei Freunden und Vertrauten versteckt ge-
wesen seien, habe zusammenbringen können. ;,Und, fährt
er fort, obgleich es glaublich ist, dass bei diesem oder je-
nem noch etwas von der Hand unseres Philosophen ver-
borgen liegt, was sich in diesem Bande nicht findet, so ist
doch anzunehmen, dass nichts darin enthalten sein werde,
was nicht zum Oefteren auch in diesen Schriften steht.^
Hat der Herausgeber nur eine unbestimmte Vermuthung
aussprechen können, so tauchten später bestimmtere Noti-
zen auf Job. Christoph Mylius in seiner Bibliotheca anonym
morum (1740) theilte mit, dass Spinoza die Ethik ursprüng-
lich holländisch verfasst, später erst ins Lateinische über-
setzt und in die Form der geometrischen Methode gebracht
habe; dabei sei ein Capitel über den Teufel weggeblieben,
von dem man sage, dass es in einem holländischen hand-
schriftlichen Exemplare noch vorhanden sei. Darauf hin
forderte schon Paulus in der Einleitung zum zweiten Bande
seiner Ausgabe Spinoza's (p. XV.) zur Publication dieser
Reliquien auf Aber jene holländisch geschriebene Ethik
mit dem Capitel über den Teufel war gänzlich verschollen,
bis im Herbst 1851 der gelöhrte Dr. Eduard Böhmer in
Halle auf einer Reise nach Holland ein mit zahlreichen
handschriftlichen Anmerkungen versehenes Exemplar der
Biographie Spinoza's von Colerus fand. Eine dieser An-
merkungen bestätigte, dass eine handschriftliche Abhand-
Sigwftrt, Spinozft^s Tractat. 1
— 2 —
lung Spinoza's in den Händen einiger Freunde der Phiio-
Bophie sei, welche dieselben Gedanken und Gegenstände
enthalte wie die Ethik, aber nicht nach mathematischer
Methode dargestellt; aus dem Stile lasse sich schliessen,
dass es eine der frühesten Arbeiten des Philosophen* sei.
Der Biographie aber angebunden fand sich auf 11 Octav-
blättern ein holländisch geschriebener Auszug derselben
Abhandlung unter dem Titel: Körte Schetz der Verhande^
Ung van Beaedictus de Spinoza: over Gody den Mensch ^ en
deszelfa welstand*) Dieser Auszug wurde im Jahre 1852
von Dr. Böhmer zusammen mit einer kritischen Synopsis
der verschiedenen Handschriften der Anmerkungen Spino-
za's zum theologisch-politischen Tractat herausgegeben, und
mit einer sehr gründlichen Erörterung über das Verhält-
niss der ihr zu Grunde liegenden Schrift zu Spinoza's Brie-
fen und zur Ethik begleitet .**)
Diese erste Entdeckung führte weiter. Derselbe Buch-
händler Friedrich Müller in Amsterdam, bei dem der erste
Fund gemacht worden war, erstand in einer Auction ein
holländisches JÜ anuscript, das einer Uebersetzung von Spi-
noza's Principia phüosophice Cartesiance angeheftet war, und
sich bald als jene Abhandlung auswies, deren kurze Skizze
Böhmer gegeben hatte. Capitel fttr Capitel stimmte tiber-
ein, auch die Notiz, mit der der Böhmefsche Auszug
schliesst, dass Spinoza das ganze Werk später mit vielen
Anmerkungen behufs der Erklärung und genaueren Bestim-
mung versehen habe, traf zu. Kurze Zeit darauf fand sich
ein zweites Exemplar derselben Abhandlung, gleichfalls in
holländischer Sprache, mit einer Bemerkung auf dem Titel,
wonach es eine spätere Uebersetzung eines ursprünglich
*) Kurze Skizze der Abhandlung B. Spinoza^s: Ueber Gott, den
Menseben und desselben Glückseligkeit.
♦*) Benedicti de Spinoza Tractatus de Deo et homine ejusque
felicitate lineamerUa atque adnotattones ad tractatum theologico-po^
litieum edidit etillueiravitEduardua Böhmer. Halae ad Salam 1852.
von Spinoza für seine Schüler lateinisch verfassten Trac-
tates Bein sollte. Dass der Tractat nur fUr Schüler, und
zwar für yertrante Schüler bestimmt war, sagt er selbst am
Schlosse, wo Spinoza die Freunde, iür die er schreibt, an
d^ Geist der Zeit erinnert, in der sie leben, und die weitere
Mittheilung der Schrift zwar nicht ausdrücklich verbietet,
aber ihnen die giösste Sorgfalt anempfiehlt. Daraus er«
klärt sich wohl auch, warum der Tractat selbst nach Spi-
noza's Tode nicht zum Vorschein kam und dann allmählich
vergessen wurde.
Im Jahre 1862 wurde denn auch diese Keliquie zu*
tammen mit verschiedenen mehr oder weniger wichtigen
Documenten, — unedierten oder nicht vollständig edier-
ten Briefen, Notizen über Spinoza's Leben u. s. w. —
durch einen holländischen Verehrer des Philosophen, van
Vloten, im Format der Bruder'schen Ausgabe herausge-
geben, unter dem Titel: Ad BenecUcti de Spinoza opera qum
supermnt omnia mpplementum. Der holländischen Abhand-
lung ist eine lateinische Ueberaetzung beigefügt.
Es ist lebhaft zu bedauern, dass die Herausgabe dieses
wichtigen Fundes nicht ebenfalls Dr. Böhmer's sorgfältiger
Hand anvertraut worden ist. Denn so wie das Buch vor-
liegt, lässt es sehr viel zu wünschen übrig. Vor allem ist
über das Verhältniss der beiden vom Herausgeber benütz-
ten Handschriften zu einander nur soviel gesagt, dass «er
„da und dort; wo die eine weniger klar gewesen, der an-
dern gefolgt sei;^' worauf sich dieses bezieht, ob nur auf
die Schriftzüge oder auf die Worte, und welche Diflferenzen
des Textes vorhanden u. s. w. — darüber lässt uns van
Vloten völlig im Dankehi. Was aber den mitgetheilten
Text selbst und noch mehr die lateinische Uebersetzung
betrifft, so finden sich der Incorrectheiten und groben Kach-
lässigkeiten so viele, dass eine zuverlässige und kritische
Ausgabe dringend gewünscht werden muss.*)
•) Ihr. Böhmer hat sich in Ficlite's Zeitschrift Bd. 42 S. 77 ff. der
dankenswertheuMühe einer Corrector unterzogen: die dort auf 7 Seiten
— 4 —
Vielleicht ist dnrch weitere Naehforschangen auch der
eine Punkt noch aufzuhellen, in welchem Verhältniss die
hier vorliegende Abhandlung zu dem von Mylius ange-
führten holländischen Manuscripte steht. Das Gapitel vom
Teufel trifft zu, denn es findet sich in dem Tractat, und
zwar ausdrücklich als besonderes Gapitel (Gap. 25 des
zweiten Theils); aber in Beziehung auf die Sprache besteht
noch ein Widerspruch zwischen der Mylius'schen Notiz,
welche die Schrift ursprünglich holländisch verfasst sein
lässt, und der Behauptung der Anmerkung auf dem Titel-
blatt der neuen Handschrift, nach welcher das Original la-
teinisch war. Nach den Datis, welche vorliegen, lässt sich,
wenn beide Angaben dieselbe Schrift meinen, mit Sicher-
heit nicht ausmachen, welche derselben richtig ist, die über-
wiegende Wahrscheinlichkeit spricht aber fllr die letztere.
Jedenfalls ist die neugefundene Schrift fUr das Ver-
ständniss des Spinozistischen Systems im Ganzen und im
Einzelnen von grösster Wichtigkeit, und in dieser Hinsicht
bis jetzt noch nirgends genügend gewürdigt worden .*)
Sie gibt sich alsbald als ein früherer, in loserer Form
sich haltender, in mancher Hinsicht unfertiger Entwurf der
Ethik zu erkennen. Die Hauptmasse derselben besteht aus
aufgezäblten corrigenda, unter denen freilich einzelne vertheidigt wer-
den können, Hessen sich noch um eine beträchtliche Anzahl der stö-
rendsten Nachlässigkeiten, besonders der Uebersetzung, vermehren.
*) Böhmer hat zwar a. a. 0. S. 76 auf diese Wichtigkeit hingewie-
sen, und in seiner Abhandlung in einigen Punkten den Tractat ausge-
beutet; aber eine allseitige Verwerthung desselben fehlt noch. H. Rit-
ter's Bericht in den Göttinger gel. Anis. 1862. 47. Stück S. 1841—51
macht selbst nicht den Anspruch aus mehr als einer flüchtigen Lecture
hervorgegangen zu sein; Kuno Fischer im eben erschienenen 2. Bande
der Geschichte der cartesianischen Philosophie begnügt sich S. 165
Anm. nach den Gesammtausgaben der Werke Spinoza^s auch unsem
Tractat als ,^briss der Ethik" anzuführen. Lehmans (Spinoza, sein
Lebensbild und seine Philosophie 1864) benutzt ihn nur ganz beiläufig.
Trendelenburgs am 15. März 1866 in der Berliner Academie gele-
sene Abhandlung über denselben ist noch nicht veröffentlicht
— 5 —
einer Abhandlung, deren erster Theil in 10 Capiteln von
Gott, deren zweiter in 26 Capiteln vom Menschen und
seiner Glückseligkeit handelt. Im ersten Theile sind dem
zweiten Capitel zwei kurze Dialoge angehängt, die den
Zusammenhang unterbrechen, indem sie theils Früheres
wiederholen, theils Späteres anticipiren; die unvermittelte
Einftihrung der bedeutungsvollen Personen des ersten — -
Inteüectusy Amor^ Ratio y Cupiditas — und die weit über das
zunächst liegende hinausgreifenden Gedanken des zweiten
legen die Vermuthung sehr nahe, dass wir in diesen Dia-
logen Fragmente früherer Arbeiten vor uns haben, welche
Spinoza an irgend einer Stelle seiner Abhandlung einver-
leibte, statt sie neu zu verarbeiten. Noch mehr als in
dieser Einfügung tritt aber der Charakter des unfertigen
Entwurfs in der grossen Zahl erklärender, berichtigender,
zuweilen in grösserer Ausdehnung eine schärfere Fassung
Buchender Zusätze hervor, welche besonders in den ersten
Capiteln häufig sind, und die fortgehende Arbeit des Phi-
losophen zeigen, während der höchst interessante A nhang
dem ersten Theil gegenüber den Versuch macht, die ma-
thematische Methode anzuwenden, freilich um schon nach
4 Sätzen damit abzubrechen, dem zweiten Theile gegen-
über einen engeren Zusammenhang der Lehre vom Men-
schen mit der Lehre von Gott herstellen zu wollen scheint.
In beiden Hinsichten steht der Anhang in der Mitte zwi-
schen dem ursprünglichen Entwurf und der Ethik, wie sie
uns längst ausgearbeitet vorliegt."^)
Uebersehen wir das allgemeine Verhältniss des Ent-
wurfs zum vollendeten Werke, so ist es derselbe Kreis
von (bedanken, den die frühere Schrift wie die spätere um-
schreibt; derselbe Gang im Wesentlichen, den schon der
Titel: „Von Gott, dem Menschen und seiner Glückseligkeit"
ankündigt; dieselben Grundbegriffe und Hauptsätze; in ein-
*) Ueber das Nähere hinsichtlich der Abfassungszeit s. d. Ezcu^s
am Schlosse.
— 6 —
»einen Partieen schon wörtliche üebereinstimmung^; in an-
deren wenigstens die deutlichen Ansätze zn späteren Leb*
ren. Aber bei alldem doch charakteristische Unterschiede.
Zunächst in der äusseren Haltung der Darlegung. In einer
Reihenfolge von Capiteln, die nicht immer streng zusam-
menhängen, werden die Gedanken entwickelt, allerdings
vielfach in der gedrängten, Satz um Satz in beweisender
Folge aneinanderreihenden Art des späteren Werks, oft
aber auch in Form einer Discussion verschiedener Ansich-
ten; ja die dialogische Form, welche an der angeführten j
Stelle die abhandlungsmässige Darstellung unterbricht , weist ^
darauf hin , dass Sp. wohl zuerst darin sich versucht und !
nur allmählich und durch viele Zwischenglieder hindurch
zu dem gebundensten Stile Übergegangen ist. So findet I
er weit mehr Eaum für Auseinandersetzungen mit der ge- *l
wohnlichen Ansicht der Dinge und mit den philosophischen
und theologischen Schulbegriffen seiner Zeit, als ihm die
straffe Form der Ethik übrig lässt; die lebendigere Bewe-
gung der Rede bringt manchen Ausdruck und manche Wen-
dung zu Tage, die treffend und leicht seine Meinung aus^
spricht, in der schweren Büstung der geometrischen Me-
thode aber erdrückt wurde. ^
Dieses Verhältniss ist es nun, das uns den neuen Fund
äusserst werthvoU macht. Indem er uns das System im
Werden zeigt, den Zusammenhang unvollendet, eine Beihe
von Lücken, die später geschlossen, von Inconsequenzen,
die später beseitigt werden mussten, vermögen wir hier
bis in« Einzelne die Erwägungen zu verfolgen, durch welche
Spinoza gerade zu charakteristischen und auffallenden Sätzen
gelangt ist, dort einen mit dem Ganzen schwer vereinbaren
Gedanken des späteren Werkes als einen Rest der frü-
heren Betrachtungsweise zu erkennen, der der Umschmel-
zung widerstanden hat. Und wenn in der Ethik alles, was
an das persönliche individuelle Leben erinnert, völlig unter-
drückt ist, jeder Nachklang einer Stimmung verhallt, jeder
Funke von Begeisterung erloschen, so dass ihr Yeifasaec
— 7 —
Beoht hatte, wenn er sie sogar von seinem Namen loslösen.
und ihr so ein von seiner individuellen Person ganz unab-
hängiges Dasein verleihen wollte: so ist auch in dieser
Hinsicht die neugefundene Schrift unreif, die Frucht haftet
noch an dem Stamme auf dem sie gewachsen ist, es ist indi-
viduelles Leben, persönliches Streben darin, wir sehen,
dass der Philosoph für sich philosophirt, und dass seina
Philosophie ihm das Mittel ist, sich selbst und seine per-
sönlichen Zwecke zu befriedigen. Weit stärker und leben-
diger tritt die ethisch religiöse Richtung der spinozischen
Philosophie hier heraus. Der Haupttheil des Tractats kann
betrachtet werden als Antwort auf die alte Frage: Was
soll ich thun, dass ich selig werde? Es ist jene Stimmung
einer von der Eitelkeit der Welt unbefriedigten religiösen
Sehnsucht tLber dieses Werk verbreitet, welche Spinoza im
Eingang zu seiner andern Jugendschrift, dem Tractatus de
inieüectus emendatione^ als das Motiv seines ganzen Lebens
und Philosophirens in einfacher und ergreifender Weise
dargestellt hat.
Versuchen wir, die wichtigsten Lehren des Tractates
im Einzelnen zu entwickeln.
Der erste Tlieil des Tractates.
L Die Beweise fürs Dasein Gottes.
Der Eingang der Schrift lässt freilich diese Sichtung
nicht hervortreten. Ohne alle Einleitung und Vorrede be^
ginnt das erste Capitel mit der Uebersohrift: Dass Gk)tt.
ist; und ebenso beschäftigt sich der ganze erste Theil
lediglich mit den metaphysischen Bestimmungen der Gottes-
idee — dem ersten Buche der Ethik entsprechend. Und
wenn wir jenes erste Capitel lesen , so glauben wir nicht
Spinoza, sondern Oartesius zu hören. Wie bei Cartesius.
tritt ein doppelter Beweis fürs Dasein Gk>ttes auf, ein
apriorischer und ein aposteriorischer. Der erstere lautet
in fast wörtlicher Uebereinstimmung mit der Form, die
— 8 —
ihm Gartesins in dem Fragment einer mathematischen Be-
handlnngsweise {Reap. ad secundas objectiones) gegeben hatte :
Was wir klar und deutlich als zur Natur eines Wesens
gehörig erkennen, das können wir mit Wahrheit von jenem
Wesen behaupten. Dass aber das Sein zur Natur Gottes
gehöre, können wir klar und deutlich erkennen ; also — *).
Oder in anderer Fassung, die gleichfalls theils an Carte,
sianische Sätze, theils an Spinoza's Cogitata metaphj/sica
cap. 2 erinnert: die Essenzen der Dinge sind unveränder-
lich und ewig, Gottes Existenz gehört zu seiner Essenz;
also — . Ebenso schliesst sich der aposteriorische Beweis
aufs Engste an den cartesianischen (a. a. 0. Prop. 2)
an, indem er darthut, aus der Idee Gottes, die wir haben,
folge mit Nothwendigkeit die reale Existenz ihres Objects,
weil die Idee Gottes ein reales Object von gleicher Voll-
kommenheit als ihre Ursache voraussetzt; und in den Er-
läuterungen dieses Beweises folgt er wiederum cartesiani-
schen Andeutungen {Princ. phä. 1, 16 — 18), wenn er unter-
sucht, warum die Idee Gottes keine Fiction sein könne.
Und was das Auffallendste ist: nicht Spinoza's Gottesbe-
griflf, den gleich das folgende Capitel kennt, wird dabei
vorangestellt, um daraus die Existenz Gottes zu beweisen,
sondern ohne irgend eine Definition Gottes wird vorausge-
setzt, dass die Existenz im Wesen Gottes liege. Erst nach-
träglich, in dem späteren Zusätze, nimmt er die ihm
eigenthttmliche Definition Gottes aus dem zweiten Capitel
ins erste herüber, um zu zeigen, dass zur Natur eines We-
sens, das unendlich viele Attribute hat, auch das Attribut
Sein gehöre. Eß ist als ob Spinoza zuerst im Sinne ge-
habt hätte, seine Schüler cartesianische Philosophie zu leh-
ren — wie er ja auch sonst verfuhr •— , und dann erst mit
seinen eigenen Gedanken hervorgetretejn wäre. Schliesst sich
auch der Wortlaut des Tractates nicht so enge an die Schriften
des Cartesius an, wie die Darstellung der JPrincipia phäo-
•) Vgl Def. 9 und Prop, 1 bei Carteaius.
^ 9 —
sopMcB Cartedanas in Prop. 5 und 6 des ersten Theils, so steht
doch die Aofstellnng des aposteriorischen Beweises, den
die Ethik hekanntUch anfgibt, auch mit den Lehren der
späteren Capitel des Tractats in einem Widerspruch, auf
den schon das Ende des ersten Capitels hinweist, indem
es den apriorischen Beweis ftir besser als den aposteriori-
schen erklärt *)
2. Das Wesen Gottes.
Erst im zweiten Capitel wendet sich die Untersuchung
der Frage zu: Was Gott sei; und an der Spitze des-
selben steht die Definition: Gott ist ein Wesen, von
welchem Alles oder unendliche Eigenschaften
ausgesagt werden, von welchen Eigenschaften
jede in ihrer Gattung unendlich vollkommen ist.
Diese Definition steht als ganz unvermittelte Behaup-
tung da; wir sehen uns im ersten Entwurf vergeblich nach
einer Andeutung um, wie wohl Spinoza dazu gekommen
sein möge; erst der spätere Zusatz gibt sie, und zwar in
ganz charakteristischer Weise so, dass er die Definition
als Erklärung des Ausdrucks ens perjectissimum hinstellt —
eines Ausdrucks, den er offenbar mit dem ihm zugehörigen
Begriff als gegeben und keiner weiteren Einfahrung bedttrf-
tig betrachtet. Nihäi nuUa attributa, sagt der Zusatz mit
Cartesius {Princ. phä. 1, 11. 52.); Etwas hat einige Attri-
bute, weil es etwas ist; je mehr etwas ist (je mehr Sea-
Utät es hat), desto mehr Attribute muss es haben; Gott, der
das vollkommenste, unendliche Wesen, der Alles ist, muss
also unendliche, vollkommene und alle Attribute haben.
Betrachten wir die Definition selbst näher, so fällt vor
Allem im Vergleich mit der späteren Begriffsbestinmiung
Gottes in der sechsten Definition der Ethik auf, dass der
Begriff der Substanz noch nicht in die Defini-
*) p. 14. des Suppl,
— 10 —
tion Gottes aufgenommen ist Die ErOrterang des
Begriffii der Substanz folgt vielmehr erst naeh; ,|Um unsere
Meinung bierin klar auszudrücken/ werden zunächst vier
Sätze Yorausgeschickt, welche die Bestimmungen des Sub-
stanzbegriffs betreffen, ganz abgesehen davon, ob nun der
Snbstanzbegriff auf Gott bezogen werden soll oder nicht.
Das Yerhältniss dieser Erörterungen zur Lehre von Gott
ist einer der schwierigsten Punkte des Tractats.
HOren wir zunächst, welchen Gang derselbe nimmt
Unter den Sätzen; welche behufs der Erläuterung des Grottes-
bcgriffs vorausgeschickt werden, ist der erste: Keine
Substanz ist endlich, sondern jede Substanz
muss in ihrer Gattung unendlich vollkommen
sein, d. h. in Gottes unendlichem Verstand kann keine
Substanz vollkommener sein als sie in der Natur bereits
ist. Der Beweis dieses Satzes wird apagogisch geführt
Wäre eine Substanz nicht unendlich, so mfisste sie ent-
weder von sich selbst oder von ihrer Ursache determi-
nirt sein. Das erste ist nicht:, denn es ist unmöglich, dass
eine Substanz sich selbst hätte determiniren wollen, und
zwar eine solche, die durch sich selbst existirte; das zweite
nicht, denn die Ursache einer Substanz ist nothwendig
Gott; hätte Gott die Substanz determinirt, so hätte er ent-
weder nicht die Macht oder nicht den Willen gehabt, sie
unendlich zu machen; jenes streitet mit seiner Allmacht,
dieses mit seiner Güte; also ist jede Substanz in ihrer
Gattung unendlich.
Daraus folgt der zweite Satz: Es giebt nicht
zwei Substanzen, die sich gleich sind; sonst
müssten sie sich gegenseitig beschränken, könnten also
nicht unendlich sein.
Der dritte Satz lautet: Eine Substanz kann die
andere nicht hervorbringen. Denn eine Substanz,
die hervorgebracht wäre, müsste, da ihr bestimmtes Wesen
nicht aus Nichts entstehen kann, von einer gleichartigen
~ 11 -
nnd ebenfalls nnendlicben Substanz bervoi^ebracht sein.
Dies ist nach dem zweiten Satze nnmöglich; also kann
keine Substanz heryorgebracht sein. Dasselbe folgt ans
einer andern Betrachtung. Was geschaffen ist, ist nicht
aus Nichts hervorgegangen. Ist es aus Etwas hervorge-
gangen, so kann dieses nicht mehr dasselbe sein, nachdem
ein anderes aus ihm hervorgegangen, nicht mehr unend-
lich, wenn es etwas aus sich entlassen. Aus der Unend-
lichkeit einer Substanz folgt also ebenso sehr, dass sie
nicht von einer andern hervorgebracht sein kann, als dass
sie keine andere hervorbringen kann. Ueberdem würde
die Frage nach der Ursache einer Substanz auf einen
regressus in inßnitum führen. Die Substanz betrachten wir
als Princip alles dessen, was aus ihren Eigenschaften hervor-
geht; suchen wir ihre Ursache, so müssen wir die Ursache
dieser Ursache und so fort ins Unendliche suchen. Weil
wir nun irgendwo stehen bleiben müssen^ geschieht es bei
dieser Einen Substanz.
Der vierte Satz endlich sagt: In Gottes unend-
lichem Verstände ist keine Substanz, die nicht
formaliter (d. h. wirklich) in der Natur wftre^
Der Beweis dieses Satzes folgt für Spinoza 1) aus Gk>tte8
unendlicher Macht» in der kein Grund sein kann eins vor
dem andern zu schaffen; (wenn also irgend eine Substanz
real existirt, so müssen aus demselben Grunde alle mög-
lichen Substanzen real existiren, es gibt zwischen ver-
schiedenen Substanzen kein verschiedenes Yerhältniss von
Möglichkeit und Wirklichkeit, Essenz und Existenz)
2) aus der Einfachheit seines Willens; 3) daraus, dass er
nicht unterlassen kann, das Gute zu thun; 4) daraus, dass
was nicht ist, nie werden kann, da eine Substanz die an-
dere nicht hervorbringen kann (d. h. wenn eine Substanz,
die möglich ist, nicht auch wirklich wäre, so wäre sie fac-
tisch unmöglich, ftir immer von der Möglichkeit des Seins
ausgeschlossen).
— 12 —
Und nun fllhrt Spinoza fort: ,;Aus diesem Allem folgt,
dass von der Natur Alles in Allem aasgesagt wird, und
dass also die Natur aus unendlich vielen Attributen be-
steht, deren jedes in seiner Gattung vollkommen ist, was
vollkommen mit der Definition übereinstimmt, die man von
Grott gibt/' Oder, wie es ganz ähnlich der Anhang im
CoroUarium des vierten Satzes*) ausdrückt, welcher ebenso
behauptet hatte, es sei unmöglich im unendlichen Verstand
die Idee der Essenz einer Substanz zu setzen, die nicht
realiter in der Natur ist : „D i e N a t u r wird durch sich selbst
und durch nichts Anderes erkannt. Sie besteht aus unend-
lich vielen Attributen, deren jedes selbst unendlich und in
seiner Gattung vollkommen ist, zu dessen Wesen die Exi-
stenz gehört, so dass ausser ihr kein Wesen noch Sein ist
und sie genau übereinkommt mit dem Wesen des allein
herrlichen und hochgelobten Gottes/'
Und nachdem er dann (p. 22 und 24) den Einwand
widerlegt hat, es streite mit der Allmacht Gottes, dass er
nicht mehr hervorbringen könne, als er hervorgebracht
habe, fährt er p. 26 fort: Die Gründe für die Behauptung,
dass alle jene Attribute, die in der Natur sind, nur Ein
Wesen**) und nicht verschiedene sind, da wir sie doch
eines ohne das andere klar und deutlich zu erkennen ver-
mögen, sind die folgenden:
1) Wir haben schon früher gefunden, dass ein unend-
liches und vollkommenes Wesen existiren müsse, und unter
einem solchen kann kein anderes verstanden werden, als
ein solches, von dem Alles in Allem ausgesagt werden
muss. Je mehr ein Ding Wesen hat, desto mehr Eigen-
schaften muss man ihm zuschreiben, dem unendlichen We-
sen also unendliche Eigenschaften.
*) p. 238.
**) Van Yloten setzt ungenau in der lat. Uebersetzung subetcmHa,
Das hoUändische hat weezen.
— 13 —
2) Der zweite Grund ist die Einheit, die wir
überall in der Natur sehen; denn wenn mehrere
solehe unendliche Wesen in ihr existirten, könnten sie un-
möglich zusammen eine Einheit bilden. Oder, wie es der
Zusatz formulirt: Wenn es verschiedene Substanzen gäbe,
die nichl; auf ein einiges Wesen bezogen würden, dann
wäre ihre Vereinigung unmöglich, weil wir klar sehen, dass
Eue keine Gemeinschaft mit einander haben, wie Denken
und Ausdehnung, aus denen wir doch bestehen.
3) Eine Substanz kann die andere nicht hervorbringen,
also auch eine Substanz, die nicht ist, nicht werden; nun
sehen wir, dass in keiner Substanz (die wir doch als real
existirend wissen) wenn sie als eine besondere gedacht
wird, irgend eine Nothwendigkeit vorhanden ist, dass sie
existirt, denn zu ihrer besonn deren Essenz gehört die
Existenz nicht; daraus muss denn nothwendig folgen, dass
die Natur, welche aus keiner Ursache kommt, und von der wir
dennoch wohl wissen, dass sie ist, ein vollkommenes Wesen
sein muss, zu dessen Begriflf die Existenz gehört. Auch
diesen Beweisgrund versucht der Zusatz zu verdeutlichen:
Wenn keine Substanz anders als existirend sein kann, und
doch die Existenz nicht aus ihrem Wesen folgt, so lange
sie gesondert (afgescheiden) begriffen wird, so folgt, dass
sie nicht etwas besonderes sein kann, sondern etwas an
einem andern, d. h. ein Attribut eines andern sein muss,
nemlich des ^ alleinigen oder All- Wesens. Oder so: Alle
Substanz existirt; keine Existenz einer Substanz folgt aus
ihrem Begriffe für sich; darum kann keine existirende
Substanz (genauer: keiner Substanz Existenz) aus ihr selbst
begriffen werden, sondern muss einem andern zugehören;
das heisst, wenn wir in unserem Verstände das substan-
tielle Denken und die substantielle Ausdehnung denken,
so verstehen wir sie nur ihrem Wesen nach, nicht in ihrer
Existenz, d. h. so, dass ihre Existenz nothwendig zu ihrem
Wesen gehörte. Wenn wir aber beweisen, dass sie (die
ausgedehnte oder denkende Substaiiz) eine Eigenschaft
— 14 —
Ctottes iflt^ dann beweisen wir a priorii dass sie ist; und
a posteriori, hinsichtlich der Ausdehnung, aas den modis,
weil diese sie nothwendig zn ihrer Grundlage (onderwerpy
mtbfeetum) haben müssen.
Wir haben diese Sätze vollständig mitgetheilt, weil
wir glauben, dass sie ftlr die Erkenntniss der Genesis der
Grundbegriffe von der grössten Wichtigkeit sind. Die
Frage, die sich uns zunächst entgegendrängt, ist die: In
welchem Verhältniss stehen hier die Begriffe Gott, Sub-
stanz, Natur? Wie kommt Spinoza dazu, Gott als die
Eine Substanz, wie kommt er dazu, die Natur als Gott zu
setzen? Offenbar liegen diese drei Begriffe ursprünglich
auseinander, stellen drei verschiedene Ausgangspunkte des
Denkens dar; durch welchen Process wachsen sie zusam-
men, und welche Bedeutung hat demgemäss der Satz, der
die Gleichung zwischen Gott, Substanz und Natur aus-
spricht?
So wie zunächst der Begriff Gottes auftritt, als des
allervollkommensten Wesens, des Inbegriffs aller Eealitäten,
erscheint er, wie schon bemerkt, als ein gegebener. Er ist
eine Erbschaft der früheren Metaphysik, die Spinoza ohne
weiteres antritt; er nimmt auch das dazu gehörige Inven*
tar, die Bestimmungen der obersten Ursache, des Schöp-
fers aller Dinge, vorläufig unbeanstandet mit in sein Den-
ken auf. Freilich zeigt sich bald, dass es fllr ihn eine
ganz abstracto Formel ist, die ihren bestimmten Inhalt erst
erwartet; ein algebraischer Ausdruck so zu sagen, in wel-
chen die bestimmten Werthe erst eingesetzt werden müssen,
damit er etwas Wirkliches adäquat ausdrückt.
Von ihm ursprünglich verschieden ist der Begriff der
Substanz. Es erschwert ausserordentlich die Eröilemng
desselben, dass Spinoza von vom herein nii^gends eine De-
finition von Substanz gibt. Er setzt ohne Weiteres voraus,
dass das Wort unzweideutig sei und in seinem richtigen Sinne
verstanden werde; und doch geht scdbon aus dem ersten
— 15 -
(Satisey 4&Kn &^ keine endlicbe Sabstanz gebe, hervor, daes
er einen weit bestimmteren Begriff damit verbindet als die
gewöhnliche Terminologie. Dieser Begriff lässt sieh aber
nur ans den Prädicaten, die er ihm beilegt, entnehmen.
Verfolgen wir diese, nnd den ganzen Znsammenhang
der Ausfühmng, so ist tdar, dass in dem Leser zunächst
der Gedanke vieler Substanzen erweckt wird, deren jede
nur in ihrer Gattung unendlich und vollkommen ist; die
von einander zwar unabhängig sind und unfähig einander
zu erzeugen und von einander erzeugt zu werden, die aber
in gemeinsamer Abhängigkeit von Gott stehen, der als ihr
Schöpfer, als ihre Ursache gedacht wird. Und suchen
wir ein concretes Bebpiel zu diesem Begriff, so blicken
ganz deutlich die denkende und die ausgedehnte Substanz
durch die Hülle der abstracten Bestimmungen als die Sub-
jecte heraus, die eigentlich gemeint sind. Die denkende
und die ausgedehnte Substanz — darin liegt freilich
implicite schon . die Theorie, dass die Welt des Den-
kens und die Welt der Ausdehnung je ein Ganzes, eine
Totalität, ein einheitliches Subject bilden, dessen Erschei-
nungen und Seinsweisen nur die einzelnen Dinge sind;
darin liegt das BedtLrfniss, das Viele Gleichartige als be-
sondere Darstellungen eines unendlichen Einen zu fassen.
Es gibt keine endliche Substanz, — jede Substanz ist
il^rem Wesen nach unendlich, — es gibt nicht zwei Substan-
zen^ die sich gleich wären, heisst dann soviel als: Alle
einzelnen Dinge, die dasselbe Wesen haben, sind Darstel-
lungen Einer und derselben Substanz; alle einzelnen Kör-
per können nur auf ein die ganze £örperwelt, alle ein-
zelnen Ideen nur auf ein die ganze Ideenwelt umfassendes
Subject bezogen werden.
Damit, dass so zunächst an viele, je in ihrer Gattung
unendliche Substanzen gedacht werden müss, stimmt ttber-
ein, dass eine wichtige Bestimmung in dieser ersten Aua-
filhrung fehlt; nemlich die; es liege im Wesen der Sub-
stanz zu existiren. Nur ftir Gott gilt, da$s die Existenz
— 16 —
ans seinem Wesen folgt; nnd Gott existirt nothwendig nieht
deshalb, weil er Substanz ist, sondern deshalb, weil er ab-
solut Yollkommen ist. Wohl wird auch jetzt schon be-
hauptet, dass alles, was als Substanz gedacht werde, exi-
stire; aber der Grund davon liegt nicht im Wesen der Sub-
stanz, sondern im Wesen Gottes; in Gottes unendlichem
Verstände kann keine Substanz gedacht werden, die nicht
eben so wirklich wäre, der Grund fllr die Existenz der Sub-
stanzen ist Gottes Allmacht und Güte, vermöge der Alles
was er denkt wirklich ist. Für die Substanz, sofern sie
als besondere, nur in ihrer Gattung unendliche und vollkom-
mene gedacht wird, wird im Gegentheil ausdrücklich ver-
neint, dass aus ihrem Wesen die Existenz folge.*)
Ist so die Existenz der Substanzen nur darauf gegrün-
det, dass Alles, was im göttlichen Verstände ist, auch wirk-
lich sein muss, so kann es auch nicht befremden, dass
immer ohne Bedenken von Gott als Ursache der Substan-
zen, vom Erschaffen derselben die Bede ist; die Beweis-
ftOirungen alle ruhen auf der Annahme dieses Gedankens,
der in dem vorliegenden Zusammenhange nirgends als ein
widersprechender bezeichnet wird. Alles führt zu der An-
nahme, dass der Grundsatz : Eine Substanz kann die andere
nicht hervorbringen, nicht auf das Verhältniss Gottes zu
den Substanzen Anwendung findet, dass damit nur das zeit-
liche Verhältniss'^*) zwischen den einzelnen Substanzen,
nicht ihr Gegründeteein in Gott negirt wird.
*) Scheinbar in Widersprach damit steht der oben angeführte
Beweis zu dem ersten Satze über die Substanz, wenn es dann heisst:
Eine Substanz konnte sich unmöglich selbst determiniren, und zwar
eine Substanz die durch sich selbst gewesen ist. Aber man bemerke,
dass hier nur hypothetisch gesprochen, eine Seite eines Dilemma
erörtert wird. Wäre die Substanz endlich, so hätte sie sich entwe-
der selbst determinirt, oder wäre sie von ihrer Ursache determinirt
worden. Im ersten Falle ist naturlich vorausgesetzt, dass sie keine
Ursache hat, also Ton sich selbst existirt.
**) ^S^' P- ^2* ^^ quod nondum est, nonqnam esse potest, com
una subBtantia aiteram produeere nequeat.
— 17 ~
Haben so die ersten Erörterungen des Begriffs der
Substanz eine Vielheit von Substanzen im Sinne, deren
jede nur in ihrer Gattung unendlich ist, deren Existenz
in der unendlichen Vollkommenheit Gottes gegründet ist,
so erhebt sich die Frage : Wie kommt nun Spinoza zu dem
Satze: Es gibt nur Eine Substanz, und diese ist Gott?
Unser Tractat zeigt, dass diese Verschmelzung des
Begriffs der Substanz mit dem Begriffe Gottes ursprünglich
nicht stattgefunden hat durch die blosse Aualyse des Be-
griffs der Substanz, vermöge der daraus entwickelt worden
wäre, dass es in ihrem Wesen liege zu existiren, dass sie
causa mi und darum vollkommen sei. Diese Analyse
vollzieht allerdings Spinoza später (bes. Ep. 39. 40. 41.):
schon der Anhang entwickelt sie vollkommen klar; aber in
der Entwicklung des Tractats tritt der Begriff der Natur
dazwischen» und erst durch ihn hindurch wird der Begriff
der Einen Substanz, welche Gott ist, gewonnen. Der
Satz: Gott ist die eine Substanz, geht erst aus dem
andern hervor: die Natur ist Gott
Der Begriff der Natur erscheint als ein unabhängiger
Ausgangspunkt neben dem Begriffe Gottes und dem Sub-
stanzbegriffe. Auch dieser Begriff tritt unvermittelt auf,
ohne durch eine Definition eingeführt zu sein. Im ersten
Gapitel ist natura gleichbedeutend mit essentia gebraucht;
im zweiten bezeichnet es die Totalität des Seienden, Bealen,
wenn es im ersten und vierten Satze heisst, dass in Gottes
Verstand keine Substanz sei, die nicht ebenso vollkommen
in der Natur existire. Dem Inbegriff des bloss Möglichen,
Gedachten, wird also die Natur als die Gesammtheit des
Bealen, Wirklichen gegenübergestellt, und es wird aus dem
Wesen Gottes bewiesen, dass Natur und göttlicher Ver-
stand, Eeales und Ideales denselben Umlang haben, und
in allen Punkten sich decken.
Wie ist es nun zu verstehen, wenn für Spinoza ans
der Erörterung des Begriffs der Substanz folgt, „dass
Sigwart, Spinoza's Tractat. 2
— 18 ~
von d^r K ato r Alles in Allem ausgesagt wird; dass die
ÜTatnr aus unendlich vielen Attributen besteht^ deren jedes
in seiner Gattung yoUkommen ist, dass sie also mit der
Definition, die man von Gott gibt, völlig übereinstimmt ?''
Man könnte versucht sein^ diesen überraschenden
üebergang, durch den mit einem Schlage die Natur gleich
Gott gesetzt wird, sich so zu erklären, dass man als den
Grundgedanken Spinoza's den der Identität von Denken und
Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit hinstellte. Gott würde
den Inbegriff alles Seienden implicite, als gedachte Einheit,
als ideale Möglichkeit darstellen ; die Natur den Inbegriff
alles Seienden als explicirte Totalität, als verwirklichte
Idee, als realisirte Potenz. Aus der Identität von Denken
und Sein würde von selbst die Gleichung zwischen Gott
und der Natur folgen, kraft der in der Totalität des Wirk-
liehen ebensoviel gesetzt ist als im Wesen Gottes ideell
liegt; und der eigenthümliche Standpunkt Spinoza's, sein
Realismus würde eben darin bestehen, dass für seine Auffas-
sungsweise diejenige Seite der Gleichung, auf der das Reale
steht, mit Einemmale in den Vordergrund tritt, dass er das
unendliche Wesen Gottes als des Inbegriffs aller Realität
statt in der intelligibehi Einheit, in der es sich in der
Formel des ens perfectissimum darzustellen pflegt, vielmehr
in der expliciten Gesammtheit anzuschauen vorzöge.
Man würde damit das Verhältniss der Begriffe Gott
und Natur in einem Sinne fassen, der dem ganzen Geiste des
Spinozismus nicht widerstrebt und sich wiederholt geltend
macht; aber man würde damit schwerlich den Entwicklungs-
gang seiner Gedanken getroffen haben. Vielmehr wenn
wir Alles überlegen, erscheint diese Art vom Begriffe Gottes
auf den der Natur zu kommen durch den Nachweis, dass
Alles, was in Gottes Verstände sei, auch wirklich sein
müsse, als ein Gang, den bloss die Darstellung nimmt, als
ein künstlicher Versuch den traditionellen Gottesbegriff, wie
er von Cartesius überkommen war , mit dem Begriffe der
- J9 -
^fatur zu vermitteln; ein Vemch, der dadurch bßd^pg^ VV^
dass Spinoza mit den Gartesianischen Bew^isep fürs Dasei^i
Gottes seinß Apftihrung begonnen hatte. Dew die Auffa^i-
snng der Natijr als des Inbegriffs alles Seienden, al? der ab-
soluten, durch sich selbst existirenden Einheit upd Totalit&t,
in der ß.lles Mögliche wirklich, alles Ideale zugleich real ist,
ist nach andern Stellen fllr Spinoza ein völlig ursprünglicher,
nicht aus seinem Gottesbegriff erst abgeleitete! Gedanke, eine
Grundanschauung, die den Werth eines Axioms ftlr ihn
b^-t. Dies geht einmal daraus hervor, dass in der ange-
führten Stelle das Resultat — die Natur ist Gott — , offenbar
iiicht mit Evidenz aus den Prämit^scn hervorgeht, sondern
in völlig überraschender Weise hervortritt ; femer daraus,
dass für die Einheit der Substanz neben dem, Gottesbegriff
als zweiter, davon völlig unabhängiger Grund die Einheit
der Natur auftritt, die wir tiberall sehen, dass gleich
darauf die Natur als dasjenige bezeichnet wird, was von
keiner Ursache kommt, und von dem wir doch wisseiji,
dass es ist. Viel schlagender aber zeigt den Begriff der
Natur als einen fundamentalen der erste Dialog, der seiner
ganzen Haltung nach von den bisher besprochenen -Aus-
führungen unabhängig einen selbstständigen Anlauf nimmt,
und dessen Darstellung uns um so wichtiger ist, weil wir
in ihm einen noch früheren Versuch vermuthen dürfen.
Den Dialog, dessen Personen die Liebe, der Intellectus,
die Ratio und die Begehrlichkeit sind^ eröffnet die Liebe
mit einer Frage an den Intellectus. Meine VoUtom-
menheit, sagt sie, hängt von deiner Vollkommenheit
ab; deine Vollkommenheit aber von dem Gegenstand, den
du begreifst. Sage mir nun^ ob du ein höchst vollkommenes
Wesen begriffen hast, das von nichts Anderem begrenzt
wird, und in welchem auch ich begriffen bin. Die Natur
in ihrer Totalität, antwortet der Intellectus, betrachte
ich als unendlich und höchst vollkonunen. Und diesen
Ausspruch bestätigt die Ratio: denn, sagt sie, wenn wir
die Natur begrenzen wollten, müsstei^ wir sie, was unge-
2*
~ 20 —
reimt ist^ durch das Nichts begrenzen, und zwar durch ein
einiges, ewiges, durch sich selbst unendliches Nichts. Diese
Ungereimtheit vermeiden wir, wenn wir sie als ewige, un-
endliche, allmächtige Einheit setzen, die unendliche Natur
nemlich, in der Alles begriflTen ist; ihre Negation nen-
nen wir Nichts. Und ähnlich wie hier die Idee der
Einheit und Unendlichkeit der allumfassenden Natur vor*
angestellt ist, geschieht es auch im Anhang. Dort fehlt
jede Definition Gottes, jeder Beweis für seine Existenz,
jede Nennung eines allervoUkommensten Wesens. Die vier
ersten Sätze beziehen sich allein auf das Wesen der Sub-
stanz, die in ihrer Gattung unendlich ist, durch sich selbst
existirt, und von keiner andern erzeugt werden kann. Und
dann folgt ohne weiteren Uebergang das schon oben ange-
ftthrte Corollarium: Die Natur wird durch sich selbst und
durch nichts Anderes erkannt. Sie besteht aus unendlich
vielen Attributen, deren jedes unendlich und in seiner
Gattung vollkommen ist, zu dessen Wesen die Existenz ge-
hört, so dass ausser ihr kein Wesen ist noch sein kann,
und sie also genau mit der Definition des allein herrlichen
und hochgelobten Gottes übereinkommt.
Der Dialog zeigt uns nun aber nicht bloss den Begriff
der unendlichen Natur als einen ursprünglichen, sondern
auch den Uebergang von hier zu der Behauptung der
Einen Substanz. Gegen die Behauptung nemlich, dass
die Jlatur Eine sei, erhebt die „Begehrlichkeit" Einsprache.
Ihr stimmt es wunderlich zusammen, dass die Einheit mit
der Verschiedenheit, welche sie überall in der Natur sieht,
übereinkommen soll Die denkende Substanz hat keine
Gemeinschaft mit der ausgedehnten Substanz, und eine
begrenzt die andere; neben und über diese beiden aber noch
eine dritte zu stellen, verwickelt in offenbare Widersprüche.
So kennt also die Begehrlichkeit nur Verschiedenheit in
der Natur, und will bei den zwei getrennten Substanzen,
der denkenden und der ausgedehnten stehen bleiben.
Gegen sie wendet sich zuerst die Liebe, welche sich nicht
~ 21 —
mit Vielem und Entgegengesetztem vereinigen kann, ohne
dass Hass und Reue daraus folgt; und dann werden jene
Gründe von der Ratio (p. 38. 40) widerlegt: „Wenn du
sagst, o Begehrlichkeit, dass du verschiedene Substanzen
sehest, das sag' ich dir ist falsch; denn ich sehe klar,
dass es nur eine einzige gibt, die durch sich selbst be-
steht und aller andern Eigenschaften Träger ist*). tWenn
du dann das Körperliche und Geistige Substanzen nennen
willst, in Hinsicht auf die Modi die davon abhängen,
wohlan, dann musst du sie auch Modi nennen in Hin-
sicht auf die Substanz, von welcher sie abhängen; denn
als durch sich selbst bestehend werden sie von dir nicht
begriflfen; sondern auf dieselbe Weise, wie Wollen, Füh-
len," Denken, Lieben u. s. w. verschiedene Modi dessen
sind, was du die denkende Substanz nennst, auf welche
du sie alle beziehst und zu Einem machst'*''^): so schliesse
ich auch durch deine eigenen Beweise, dass die unend-
liche Ausdehnung und das unendliche Denken zusammen
mit andern unendlichen Attributen, oder, deiner Redeweise
zufolge, Substanzen nichts Anderes sind als Modi des eini-
gen, ewigen, unendlichen und durch sich selbst bestehen-
den Wesens, in dem Alles Eins und einig ist, und ausser-
halb welcher Einheit man sich nichts denken kann/'
Diese Ausführung des Dialogs lässt keinen Zweifel
übrig, dass ftlr Spinoza der erste und höchste Begriff, den
der menschliche Verstand denkt, der der unendlichen, all-
umfassenden Einheit der Natur ist. Sie ist das Ewige,
Unendliche, Allmächtige, sie ist dasjenige, das von keiner
Ursache kommt, durch sich selbst existirt, und keiner Ab-
leitung bedarf; es wird nicht gefragt, woher sie ist; wir
*) p. 39: toant klaardyh eie ik, dat *er maar een eenige tV,
die door zieh zelf hestaat , en van alle andere eigengchappen een
onderhouder ta. Vergl. auch p. 206: Da die ganze Natur nur
Eine Substanz ist, so sind aUe Dinge durch die Natur vereinigt zu
Einem, nemlieh Grott.
**) p. 41: waar toe gy die alle brengt en tot een tnaaht.
— 22 —
riehen sie^ und sehen ihre Einheit. Diese allumfassende
Einheit wird näher dadurch bestimmt, dass sie die Eine
Substanz genannt wird, in der die Selbstständigkeit der
denkenden und ausgedehnten Substanz untergeht. Die
Natur ist das Eine Sein, die Trägerin von Allem; alle& Be-
sondere kann nur als Bestimmung und Eigenschaft dieses
Einen Seins gedacht werden, und das liegt eben in dem
Ausdruck: sie ist die Eine Substanz. Es ist dabei bemer-
kenswerth, welche Bedeutung für Spinoza hier der Sub-
stahzbegriflf hat. Diejenige Seite desselben, welche durch
seinen Gegensatz gegen den Begriff des Modus bezeichnet
ist, vermöge der er etwas ftlr sich und nicht an einem an-
dern Existirendes bezeichnet, verschmilzt sich mit dein an-
dern Momente, nach welchem er den Einen Grund vieler
Erscheinungen, das Eine Sein in vielen Dingen aus-
drückt; und die letztere Seite des Begriffs bildet offenbar
den nervus probandi in dem Beweise, dass, wie alle Er-
scheinungen des Denkens auf Eine denkende Substanz be-
zögen und in ihr zur Einheit zusammengefasst werden, so
auch Denken und Ausdehnung selbst mit allen andejren
Stibstanieil nur Modi des Einen Wesens sein können, in wel*
chfeifi Alles Eins und einig ist. Es ist der Begriff der Ein-
heit, zu dem Spinoza's Denken hindrängt; nur in diesem
Gedanken findet er Ruhe; nur die allumfassende, absolut
unendliche Einheit des Seins bedarf fär ihn keiner wei-
teren Erklärung, sie existirt durch sich selbst and noth-
wendig, die Besonderheiten existiren nur an ihr und durch
sie« DarauS) dass Alles in letzter Instanz nur begriffen
werden kaün, wenn es Eine Einheit bildet, geht ihm her-
vor, da«B eh nur Eine Substanz gibt.
Nur so ist es erklärlich, wie nach einer Seite hin
Spinoza, iti Ufebereinstimmtmg mit den Sätzen tibfer die
Substanz am Anfange des zweiten Capitels, den Sprach-
gebraucii noch gelten lassen kann, vermöge dessen die
denkende und die ausgedehnte Substanz de& von ihnen ab-
hängige^ Modis gegenüber immerhin Substanzen genannt
— 23 —
werden sollen*) Es ist dieselbe Unterseheidtitig, die atieh
jene Sätze machen: Denken und Ausdehnung sind Sub-
stanzen, sofern sie in ihrer Gattung unendlich, alles ein^»
zelne Denken und alle einzelne Ausdehnung nur Modifica-
tlonen ihres unendlichen Seins^ sind; aber sie sind nicht
durch sich selbst; so lange sie als besondere gefasst wer-
den; durch sich selbst ist nur die Einheit^ ausser der Nichts
ist, und ihre Existenz kann also als nothwendig nur be^
griffen werden, sofern sie in dieser Einheit eingeschlossen^
Bestimmungen des Einen Allwesens sind. Insofern als sie
ihrer Existenz nach abhängig sind von der Existenz des
Einen, darf man sie nicht Substanzen nennen.
Am Schlüsse des Dialogs wird nun der Begriff der
unendlichen Einheit noch mit dem der Ursache und dem
des Granzen in Beziehung gesetzt. Ist die Einheit eine
allumfassende, ausser der Nichts ist, so ist sie nothwendig
zugleich das Ganze, die Totalität des Seins. Aber, Wendet
die Begehrlichkeit ein, das Ganze sei ja nur ein Ens ra*
tionis; ein blosser Begriff; das Beäle sind allein die Theile,
und nur vom Verstände werden sie zum Ganzen zusammen-
gefasst. Wolle man die Substanz als Einheit festhalteUi
80 könne man sie nur als die Eine Kraft denken, aus der
die einzelnen Erscheinungen hervorgehen, als die Eine
Ursache der verschiedenen Wirkungen; dann aber könne
sie nicht zugleich Ganzes sein.
Dies, entgegnet die Eätio, wäre richtig, wenn es nur
eine übergehende Ursache gäbe; diese ist allerdings ausser-
halb ihrer Wirkungen, und kann nicht zugleich die Tota-
lität derselben sein. Die immanente Ursache (inblijvende
oorzaak) aber, die nichts producirt, was ausser ihr wärei
ist Ursache und Ganzes zugleich. Der Verstand ist Ur-
Sache seiner Ideen, sofern sie von ihm abhängen; er ist
hinsichtlich des Bestehens seiner Begriffe (d. h. sofern seine
*) Cum extensio substantia sitj aagt er selbst noch p. 30, nach»
dem er sie schon als Attribut Gk>ttes bestimmt hatte.
— 24 —
Begriffe als wirklich existirend gedacht werden); ihr Ganzes.
Ebenso ist Gott nach einer Seite immanente Ursache seiner
Wirkungen, nach der andern ihre Totalität.
Freilich, den Begriff des Ganzen auf die unendliche
Einheit, auf das Verhältniss der immanenten Ursache zu
ihren Wirkungen anzuwenden, hat seine eigenthttmlichen
Schwierigkeiten, mit denen Spinoza sich wiederholt be-
schäftigt. Nicht nur darum, weil Theile des Unendlichen
selbst wieder unendlich sein mttssten*), sondern haupt«
sächlich aus dem von Spinoza consequent festgehaltenen
Gesichtspunkte, dass der Begriff des Ganzen nur ein Enn
rationisy eine secunda intentio**) nach scholastischer Rede-
weise sei. Das Ganze unterscheidet sich vom Allgemeinen
(Universale) nur dadurch, dass das Allgemeine aus ver-
schiedenen nicht vereinigten Individuen desselben Ge-
schlechts, das Ganze aus verschiedenen vereinigten Indivi-
duen desselben Geschlechts oder verschiedener Geschlechter
gebildet wird.***) So kann es keine wesentliche Bestim-
mung sein; es setzt die Dinge, die zum Ganzen vereinigt
werden, als vollkommen fertige Existenzen schon voraus,
und ihre Vereinigung zum Ganzen fügt ihrem Begriffe
nichts hinzu. So erklärt es sich, wie Spinoza selbst in der
Anwendung des Begriffs schwankt ; nachdem er im ersten
Dialoge den Verstand als immanente Ursache seiner Ideen,
Gott als immanente Ursache seiner Werke selbst als
,Ganze^ bezeichnet hatte, wendet er im zweiten Dialoge
die Sache so, dass Gott zusammen mit seinen Werken ein
Ganzes bilde, so dass diese als ein von ihm Verschiedenes
zu ihm hinzukommen ; und er erläutert ausführlich, warum
die Essenz Gottes nicht vermehrt werde, wenn man seine
Wirkungen mit ihm zu Einem Ganzen zusammenfasse. So
•) p. 32.
**) Dieser oder ein gleichbedeutender Ansdrack liegt jedenfalls
SU Grunde, wo der holländische Text ^weede kundigheid^ (p- 41) hat.
•••) p. 46.
— 25 —
wenig als die £sseiiz eines geschnitzten Kopfes vermehrt
wird, wenn man ihn mit einer geschnitzten Brust zu einem
Ganzen vereinigt; so wenig die Idee des Dreiecks ver-
mehrt wird; wenn ich einen Aussenwinkel hilde und dar-
aus den Satz ableite^ dass der Aussenwinkel den beiden
inneren Gegenwinkeln gleich ist^ so wenig wird Gottes
Essenz vermehrt , wenn ich mir die von Gott gewirkten
Dinge aufs Engste mit ihm vereinigt denke. Denn es
wird dadurch kein neues Attribut in Gott gesetzt.
Scheint es nach dieser AusfUhrung, als ob der Begriff
des Ganzen nur angewendet werden könnte , wenn man sich
die Wirkungen Gottes als besondere Individuen neben Gott
als Individuum denkt, oder wenn man ihn zu einem blossen
Ens rationis machen wollte, zu der nur vom Verstände zu-
sammengefassten Totalität der Einzeldinge : so will doch
Spinoza es nicht aufgeben, Gott auch als Ganzes seiner
Wirkungen zu betrachten, und die Ausdrücke, dass er aus
Allem, was ist besteht (p. 212), dass alle Dinge in Eins,
nemlich Gott, vereinigt sind (p. 206), dass in ihm keine Modi
sind, als die in den Creaturen sind (p. 212), lassen keine
andere Deutung zu, als dass Gott die Totalität alles Seins
ist, — wie ja auch in der Ethik immer wieder das Einzelne
als Theil des unendlichen Seins Gottes dargestellt wird.
Es scheint uns vollkommen deutlich zu sein, dass nur
darum, weil das Ganze nach gewöhnlicher Logik die Theile
voraussetzt, Spinoza mit diesem Begriffe so vorsichtig ist.
An und ffXr sich ist ihm der Gedanke der unendlichen Ein-
heit, der Natur in ihrer Totalität der ursprüngliche ; der Be-
griff der Ursache wird demselben conformirt durch die Un-
terscheidung der immanenten und der transeunten Ursache,
oder vielmehr, durch den Begriff der causa immanens wird
der Begriff der unendlichen Einheit erst in ein vollkommen
klares Yerhältniss zu dem Vielen, was sie in sich befasst,
gebracht Wenn man nur den Begriff der Einheit hätte/
so könnte es scheinen, als ob damit nur ein Ens rationis,
— 26 —
eine Zusammenfassnng Vieler im meDschlichen VerBtande,
ein Totam gemeint wäre ; aber die Einheit ist eine reale,
sie ist das Prins zn dem Vielen, sie ist Ursache, aber eine
solche, die die Wirknng nicht aus sich entlässt, sondern
in sich befasst, und darum kann man sie, sobald feststeht,
dass sie causa ist, auch ohne Gefahr des Missrerständ-
nisses Totum nennen, indem man die einzelnen Dinge als
wirklich existirend fasst. Die reale Einheit ist durch den
Begriff der causa gesichert.
Geht aus dieser Ausführung des ersten Dialo^rs her-
Yor^ dass für Spinoza die Einheit der unendlichen Natur
ein durch sich selbst gewisser Begriff ist, eine ufsprttng-
liche Anschauung, auf die er nur hinzuweisen braucht, um
zu zeigen, dass ihr gegenüber ron selbstständigen Sub-
stanzen nicht die Rede sein könne : so begreifen wir nun
auch, warum in der vorangehenden Ausführung des zwei-
ten Capitels für den Satz, dass alle Attribute, die in der
Natur sind, nur Ein Wesen sind, zwei von einander gang
unabhängige Gründe angeführt werden können: einmal
der l^egriff Gottes, als des absolut unendlichen Wesens,
dessen nothwendige Existenz bewiesen worden ist; tttid
dann die Einheit, die wir überall in der Natur sehen, und
die unmöglich wäre, wenn mehrere von einander unabhängige
Substanzen da wären ; die Einheit, die wir in uns selbst, als
Einheit von Denken und Ausdehnung, verwirklicht wissen.
Wir haben deutlich in dem Dialoge und in dem ihm
vorangehenden zweiten Capitel zwei einander nicht con-
gruente Entwicklungen. Der Dialog geht aus von der läeb
der unendlichen Einheit der Natur, und weist sie gegen
die Behauptung verschiedener Substanzen als die Eine
allumfassende Substanz nach, welche nicht bloss als Totalität^
sondern zugleich als Ursache gefasst werden muss. Die
Entwicklung des Capitels stellt den Gottesbegriff voran und
versucht aus ihm und dem Begriff der Substanz die Folge-
sitze abzuleiten; aber sievemiag das nicht durchzufthren,
- 27 -
ohnö daöfl sie gleichfalls den Begriff der Natur als einen
selbstständigen Ansgangspnnkt hereinnimmt, und dadurch
den Gang der Beweise verwickelt. Der Dialog femer setzt
ahne Weiteres die Begriffe der denkenden und der ausge-
dehnten Substanz als gegeben voraus; die ihm vorange-
hende Ausführung des zweiten Gapitels hat sie wohl im
Sinn bei ihren Erörterungen über das Wesen der Substanz,
versucht aber erst, nachdem sie diesen Begriff zu dem des
Einen Wesens in Beziehung gesetzt hat, Ausdehnung und
Denken als seine uns bekannten Attribute nachzuweisen,
auch dies aber, indem sie immer schon voraussetzt, dass
die Ausdehnung ihrem Wesen nach unendlich, d. h. nach
den Definitionen des zweiten Gapitels Substanz sei. Der
Dialog argumentirt klar und consequent von der An-
sehanung der wirklichen Natur als unendlicher Totalität
aus; das zweite Gapitel versucht aus abstracten Begriffen
zu deduciren, vermag aber den Begriff der Natur doch
tdcht zu entbehren.
Den Sinn der Einen wie der andern Ausftlhrung aber
können wir in dem Satze zusammenfassen : Was man ver-
möge des Begriffes der Substanz an und für sich als
verschiedene von einander unabhängige Substanzen denken
könnte, wie Denken und Ausdehnung, das lässt sich als
wirklich exfstirend nur denken, wenn man es als Be-^
Stimmung des Einen unendlichen Allwesens denkt, das
allein durch sich selbst existirt. Was wir für Sub-
stanzen halten wollten^ das weist sich als Attribut
der Einen Natur, der Einen Substanz aus, die Inbegriff
alles Seins ist, deren Existenz unmittelbar gewiss, mit
ihrem Wesen identisch ist. Diese Natur, dieses allumfas-
sende Wesen ist Gott.
Wit haben, um den Zusammenhang nicht zu unter-
bl^cchen, einö längst nahe gelegene Frage zu erörtern
verschoben — in welches Verhältniss der Tractat die Be-
griffe Substanz und Attribut bringt. Wir hoffen zeigen
~ 28 —
ZQ können^ dass dieser schwierigste Punkt des Spinozisti*
sehen Systems aus dem Tractate neues Licht gewinnt. Die
Erörterung desselben wird uns auch den Substanzbegriff von
einer neuen Seite zeigen.
3. Der Begriff des Attributs.
Es wiederholt sich bei diesem Begriffe dasselbe^ was
wir beim Begriff der Substanz beobachtet haben. Er wird
von vom herein nicht definirt; wir müssen aus dem Zu-
sammenhang errathen , in welchem Sinne Spinoza das Wort
brauchte ; und die Gonsequenz der aus der Erörterung des Be-
griffs sich ergebenden Folgerungen wird unterbrochen durch
den schon sonst feststehenden Satz von der Einen Substanz
mit unendlich vielen Attributen, deren jedes unendlich ist.
Fragen wir zunächst nach der Bedeutung des Worts,
das im holländischen Texte durch Eigensehap gegeben ist*),
*) Es ist freilich schwer, unter der iminei^in sehr wahrschein-
lichen YorauBsetzung, dass wir im holländischen Texte eine Ueber-
setzung aus dem Lateinischen vor uns haben, über Spinosa's Sprach-
gebrauch in der lateinischen Urschrift völlig ins Klare zu kommen,
und sicher zu sein, dass überall, wo der holländische Text Eigen'
schappen hat, im lateinischen Original cuttrilmta stand. Yan Yloten
hat das angenommen, indem er überall, wo das Holländische Eigen-
schap hat, dafür attributum setzt, das holländische Tooeigening
und eigen dagegen mit praprietas und proprium Viedergibt.
Ich kann Dr. Böhmer nicht beistimmen, wenn er (Fichte's Zeit-
schrift Bd. 42, S. 7S) meint, er und v. Yloten hätten eigenschap nicht
durch attributum wiedergeben sollen, sondern überall durch pro-
prietas. Denn eigenschap steht im holländischen Texte an allen
den Stellen, wo nach dem Sprachgebrauch der Ethik gar nichts An-
deres stehen kann als attribtOurn, Ebenso ist proprietas für toeeige-
ning gewiss die richtige Uebersetzung, wie sich an allen Stellen, wo
es vorkommt, leicht aus dem Zusammenhang ergibt. Die Stellen
S. 60 und 62, wo im hoUändischen Text eigenschap steht, während
y. Yloten proprietas übersetzt, erledigen sich einfach durch die ein-
leitenden Worte des Cap. 3.S. 51, wo es heisst: Wy zuUen teegen-
woordig aanvangen om te handelen van die e igenschapp en Goda^
weihe wy eigene genaamd hebben^ Darauf bezieht sich zurück
S. 61 : JDus verre van de eerate eigenschap Gods^ und S. 63 Cap. 6.
- 29 —
so wird es von rom herein in ganz allgemeinem Sinne
gebraneht.
Wenn der Znsatz zn S. 6 nnter den unendlich vielen
Eigenschaften Gottes auch die Eigenschaft, welche „Sein"
ist, findet, so ist ihm also Eigenschaft oder Attribut
Alles was von einem Subjecte prädicirt werden kann.
Sonst ist von dieser Ausdehnung des Worts keine Spur;
es bezeichnet vielmehr einfach die Kategorie der Qualität,
in dem Sinne, in welchem Cartesius (Princ. Phil. I, 52)
aUHbuta mit proprietates und qualitates gleichbedeutend
braucht, wenn er sagt: nihili nuüa sunt attributa^ nullaeoe
proprietates aut qualtatesy oder (ib. 56) modi, attributa und
qualitates als Ausdrücke nennt, die dasselbe, nur von ver-
schiedenen Gesichtspunkten aus, bezeichnen. Was ein Ding
ist, wird durch seine Attribute ausgedrückt, sein qualitativ
bestimmtes So oder So sein. So erscheint das Wort, wenn
er ausführt, was etwas sei, sei es dadurch, dass ihm ein
oder einige Attribute zukommen ; das unendliche Sein, das
alle Bealität in sich begreife, müsse darum auch alle Attri-
bute in sich befassen.
Eine genauere Abgrenzung erfährt der Begriff Attribut
in specieller Erörterung der Attribute Gottes. Es wird
(p. 34 ff.) von den Attributen Gottes geredet, welche wahr-
haft Attribute sind, durchweiche wir ihn in sich selbst
De derde eigenschap. Das ist nur abgekürzte Bedeweise für die
nähere Bestimmung eigenschap ^ die toy eigen noemen^ wie sich aas
dem dazwischen stehenden Anfang des 5. Cap. ergibt. Van Yloten
hat also in diesem Fall den genaueren Ausdruck gesetzt. Das hollän-
dische eigenschap begreift attributum im späteren Sinn und Spinoza*s
prcprietas als seine Species unter sich. Die Annahme, dass in dem
ursprünglich lateinischen Text überall attributum gestanden habe,
wo jetzt im holländischen eigenschap steht, kommt übrigens mit
keiner einzigen Stelle in Widerspruch, sobald wir, was wir ohne-
dies müssen, voraussetzen, dass Spinoza zunächst attributum in dem
weiteren und allgemeineren Sinn genommen habe, in dem er es
nach damaligem Sprachgebrauch nehmen konnte, um erst allmählich
den ihm ganz eigenthümlichen Begriff des Attributs zu fixiren.
- 90 ^
VüoA nicht als auBser «ieh wirkend bereifen. Dius AP^W'
tritt damit gegenüber dem proprium^ mit d^pi. es im
Eingange der Schrift noch verwechselt wfir; das proprium
bezieht sich auf die Kategorie der Relation, ist eine „aus-
wendige Benennung", drückt die Art und Weise der Wir-
kung aus. Es dient wohl dazu ein Ding von allen andern
zu unterscheiden, aber es sagt nicht, was es seinem inne-
ren Wesen, seiner Natur nach sei.*) Es ist nur ein ab-
stracter Verstandesbegriflf, kein solcher, der an sich selbst
einen bestimmten Inhalt hätte, er bezeichnet nichts Sub-
stantielles. So sind ewig, einzig, unveränderlich, Ursache,
Lenker aller Dinge als Prädicate Gottes propria; sie sagen
nicht, was Gott seiner Natur nach ist.**) Spinoza unter-
scheidet auch wohl im Zusatz zu p. 72 propria, die Gott nach
allen Attributen zukommen, wie Ewigkeit, Causalität, und
solche, die ihm nur nach einem einzigen zukommen, wie All-
wissenheit nach. dem Attribute des Denkens, Allgegenwart
nach dem Attribute der Ausdehnung, während im Tejte p.75.
76 die Prädicate allwissend, barmherzig u. s. w. eben-
deswegen von Gott verneint werden, weil sie ein be-
stimmtes Attribut und nicht bloss Gott als das durch sich
selbst bestehende Wesen voraussetzen.
Drückt nun das Attribut das Wesen eines Dinges aus,
wie es in «ich ist, so erheilt dai'aus auob da^ Yerhältniss
dieses Begriffs zu dem der Substanz. Ist die Substanz
ihrem Wesen nach unendlich, so muss nothwendig auch
ihr Attribut unendlich, eben Ausdruck dieses unendlichen
Wesens sein, Substanz und Attribut sind im Begriffe
schlechterdings d^selbe, die Substanz wird ^Is das was
sie ist eben durch das Attribut gedacht; und so geltep
*) p. 34. 74. Ejnsdem attribtUi und ejusdem naturae sagt das-
flelbe. p. 236.
♦*) Dieselben Prädicate heissen aber wieder p. 36 Attribute (Ei-
geuBcliappen). Einige derselben, die göttliche Causalität, Providenz^
Prädestination, werden in besonderen Capiteln abgehandelt.
— 31 —
Ton Sübstana and Attribut ganz dieselben BestimiiraBgeii.
Omnis Bubstantia, sive ejus attributa, infimta estfBhgt des-
halb Spinoza.*) Dieses Yerhältniss ist mn so einleuch-
tender, so lange wir von der Substanz nur wissen^ dass sie
in ihrer Gattung unendlich ist; denn was ihre Gattung,
ihre unterscheidbare Bestimmtheit ist, wird eben durch das
Attribut angegeben. Die Substanz ist durch ihr Attribut
das Princip der von ihr abhängigen Dinge, sofern diese
ein bestimmtes Wesen haben müssen; man sagt dasselbe,
wenn man sagt, dass sie Modi ihrer Substanz, als dass sie
Modi ihres Attributs sind; sie können ohne ihr Attribut
nicht bestehen.
Insoweit scheinen die Bestimmungen klar zu sein.
Derselbe Begriff kann Attribut heissen, sofern darin ein
unendliches Quäle ausgedrückt ist, Substanz sofern er als
ftlr sich existirend gedacht wird ; jedes Attribut setzt aller-
dings, sobald man es als existirend denkt, eine Substanz
voraus, deren Attribut es ist; aber abgesehen ron der
Existenz drückt es nichts als ein unendliches Wesen aus.
Der logische Charakter des Attributbegriffs erhellt be-
sonders deutlich, wo er den Begriffen der einzehien Dinge
gegenübergestellt wird. Diesen gegenüber sind Attribute
diejenigen Begriffe, welche keinen andern mehr voraus-
setzen der in ihnen mitgedacht würde : sie sind mit andern ^
Worten die höchstenGattungsbegriffe desSeien-
den, diejenigen Begriffe, die durch keine höhere Gattung
mehr definirt werden können.**) Diese ganz charakteri-
stische Bestimmung wird im Zusammenhange mit der Lehre
von der Definition weiter entwickelt. Wir setzen um ihrer
Wichtigkeit willen die ganze Stelle (p. 76 ff.) her.
,^]Nach der gewöhnlichen Meinung besteht eine regel-
rechte Definition aus genus und differentia. Obgleich das
•) p. 236.
**) p. 46: Omnia aitrihviay guaeah aUa eausa non pendent, et
ad quae describenda non opus sit genere ,. .
- 32 -
ftber von allen Logikern zugestanden wird, weiss ich doch
nicht, woher sie das haben; denn wenn diese Regel Mrahr
wäre, so gäbe es nichts was wir wissen könnten. Wir
wttrden nemlich dann die oberste Gattung, die keinen he-
beren Gattungsbegriff mehr über sich hat, nicht dnrch eine
Definition vermittelst des genua und der differentia zu be-
schreiben, also nicht vollkommen zu erkennen vermögen;
und wenn wir die höchste Gattung, welche der Erkennt-
nissgrund für alle andern Dinge ist, nicht kennen, so kön-
nen wir noch viel weniger die andern Dinge, welche darch
diesen Gattungsbegriff erklärt werden, begreifen oder er-
kennen.
Da wir jedoch frei und durch die Meinungen der
Schule nicht gebunden sind, so werden wir, der wahren
Logik zufolge, andere Gesetze der Definition aufstellen^ ,
der Unterscheidung gemäss, die wir in der Na-
tur machen
Wir haben nun schon gesehen, dass die Attribute oder,
wie Andere sie nennen, Substanzen, Sachen sind, oder, um
besser und eigentlicher zu reden, Ein durch sich selbst
bestehendes Wesen ist (das hoU. hat ia) und deshalb durch i
sich selbst sich selbst zu erkennen gibt und offenbart. /
Und was das Andere anbelangt, so sind das nur Modi der I
Attribute, ohne welche sie nicht bestehen noch verstanden
werden können. Darum muss nun die Definition von
zweien Arten oder Sorten sein; nemlich
1) die Definition der Attribute, die eines selbstständi- i
gen Wesens sind ; welclie keine Gattung oder irgend etwas
Anderes brauchen, wodurch sie besser verstanden oder er-
klärt wttrden, weil sie als Attribute eines durch sich selbst
bestehenden Wesens auch durch sich selbst erkannt werden.*)
*) Der holländische Text bietet hier Schwierigkeiten, tmd wexm
er anders vom Herausgeber richtig gegeben ist, so würde gerade
diese Stelle die Angabe, dass wir eine Uebersetzung vor uns haben,
in hohem Grade bestärken. Der erste Satz lautet: Wy hebben «u
— 33 —
2) Die Definitionen der Dinge, die nicht durch sich
selbst bestehen, sondern allein durch die Attribute, deren
Modi sie sind, und durch welche, als ihre Gattungsbegriffe,
sie verstanden werden müssen.
Diese Stelle wird nun aus zwei Gründen verwickelt:
einmal weil die logische Betrachtung des Attributbegriflfs
alreede gezien , dat de Eigenschappen , zoo anderen die noemen^
zelfstandigheeden, zaaken zijn, of^ om beeter en eigendlyker te zeggen,
een door zieh zeJfs bestaande weezen is , en derhcdven door zieh zelf
zieh zelfs te kennen geeft en vertoont. Da schon eine frühere SteUe
sagt , ^dat alle deeze eigenschappen, die in de natuur zijn^ tnaar een
eenig wezen en geenzins verscheiden bennen*, der Ausdruck also: die
Attribute sind Ein Wesen, nichts Anstössiges haben kann , so erle-
digt sich der auffällige Singular is, geeft ^ vertoont ganz einfach,
wenn wir annehmen, dass der Uebersetzer einen lateinischen Infinitiv
irrthümlicher Weise in den Singular, statt Plural verwandelt hat.
Das Lateinische hätte geheissen: Vidimus aitriliUa sive secundum
aliorum dicendi rationem substantias res esse, vel, ut melius dica-
mus, unwm ens esse per se existens, ideoque per se semet ipsum
cognoscere faciens et manifestans. So gibt auch van Yloten die
Stelle wieder, nur dass er das wesentliche unum auslässt.
Weniger sicher lässt sich das folgende zurechtlegen. Die erste
Art der Definition ist Van de Eigenschappen, die van een zelf be-
staande weezen zijn. Das kann nicht anders gelautet haben als:
Attributorum quae entis sunt per se exisientis (sc, attributa) , wie-
wohl man nach dem vorangehenden eher erwartet hätte: guae ens
sunt per se existens. Die folgende Zeile ist klar. Dann aber heisst
es : want acmgezien zy als Eigenschappen van een loeezen door zieh
zelf bestaande zijn, zoo worden zy ook door zieh zelfs bekend. Die
Uebersetzung van Vlotens: nam quia, uti entis cujusdam attri-
buta, per se existunt, etiam per se nota fiunt, ist jedenfalls falsch.
Entweder muss das Lateinische geheissen haben: nam quia ut entis
illius unici attributa per se existunt, etiam per se nota fitmt; oder,
was mir noch wahrscheinlicher ist, sollte das door eich zelf bestaande
doppelt stehen, so dass das Lateinische gelautet hätte: nam quia
ut entis per se exisientis attributa per se existunt, etiam per se nota
fiunt. Dass den Attributen das per se existere zugeschrieben wird,
ist durch den (regensatz, dass die andern Dinge nur durch die attri-
buta bestehen, und durch die Gleichung attributa = ens per se
existens gerechtfertigt.
- S ig wart, Spinoza's Traciat. 3
— 34 -
und die metaphysische Betrachtung des Attributs ungeson-
dert ineinander fliessen, und dann, weil von den Attribu-
ten nicht mehr in abstracto die Bede ist, sondern schon
von den Attributen des Einen, absolut unendlichen , durch
sich selbst bestehenden Wesens. Dadurch kommt aber in
den Begriff des Attributs eine Bestimmung herein, die auf
den ersten Anblick eine contradictio in adjecto scheint: dass
es durch sich selbst existire.
Sehen wir von dieser doppelten Verwickelung ab und
versuchen wir die Fäden, die zu diesem Knoten zusammen-
laufen, einzeln auseinanderzulegen, so ist zunächst die lo-
gische Unterscheidung ganz klar zwischen Begriffen, die zu
ihrer Definition eines höheren Gattungsbegriffs bedürfen, und
solchen, welche als oberste und höchste Gattungsbegriffe
durch sich selbst klar sein müssen. Es ist die Vor-
aussetzung alles Denkens und Erkennens, dass es solche
Begriffe gebe*). Was so durch sich selbst begriffen wird,
heisst Attribut.
*) p. 76. 78. Die Lier entwickelte Lehre von der Definition ist der
im Tractatus de intcllectus emendatione (p. 449 ff. bei Paulas) ent-
haltenen sehr ähnlich. Der oben entwickelten Unters clicidung der
Definitionen der Attribute und der Modi entspricht dort die Unter-
scheidung der Definition der ungeschaffenen und der geschaffenen
Dinge; die ersteren, die in sich, causa sui sind, müssen durch
ihre blosse Essenz begriffen werden, so dass jede Ursache aus-
geschlossen, die Existenz in der Definition selbst eingeschlossen ist;
die Definition der geschaffenen Dinge muss ihre nächste Ursache
mit enthalten. Der bemer^cnswcrthe Unterschied ist aber, dass im
tract. de intell. emcnd. die metaphysische Auffas.^ung ganz an die
Stelle der logischen getreten, statt des gcnus die causa genannt
wird , dass ferner gefordert wird, in der Definition des ungeschaffenen
Dings müsse seine Existenz eingeschlossen liegen. Dies bezeichnet
gegenüber der Darstellung unseres Tractats einen entschiedenen
Fortschritt. Denn während in diesem die Natur der Attributbegriffe,
vermöge der sie durch sich selbst verstanden werden, daraus abge-
leitet wird, dass sie ein durch sich selbst bestehendes Wesen aus-
machen, wobei die Erkenntniss, dass dieses Wesen durch sich selbst
bestehe, anderswoher vorausgesetzt wird: wird im Tract. de intell.
emend. gefordert, dass diese letztere Erkenntniss mit der Definition
— 35 —
Es ist klar, dass es ebejosogut Substanz heisaen
könnte, und nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch so
heisst. So lange wir nur von dem logischen Gesichtspunkte
der Beziehung des vielen Gleichartigen auf seinen höchsten
Gattungsbegriff, seiner Zusammenfassung zur Einheit aus-
gehen, lässt sich wieder zwischen Attribut und Substanz kein
innerer Unterschied entdecken. Denken und Ausdehnung
sind solche Begriflfe*). Sie werden von allen Begriffen
der einzelnen Dinge vorausgesetzt, und setzen selbst keinen
weiteren voraus. Logisch betrachtet haben wir das Becht
sie Substanzen zu nennen; da sie aber zugleich das Quäle
bezeichnen, sind sie eo ipso auch Attribute**).
Nun sind nach dem ganzen Geiste des Systems die
logischen Verhältnisse mit den realen identisch. Den rea-
len hat sich die Untersuchung zuerst zugewandt. Es war
zuerst von den Substanzen, ihrer Unendlichkeit u. s. t die
selbst gegeben sei, in der logischen Unabhängigkeit zagldch der
Erkenntnissgrund der metaphysischen Aseität liege. Dies passt aber
natürlich nur auf die Definition der Substanz, die Ursache ihrer
selbst und aller andern Dinge ist; der unklare Begriff des durch
sich selbst existirenden Attributs ist damit aufgegeben, frelüdli zu-
gleich der Begriff des Attributs überhaupt umgangen.
' Auf denselben Tractat de intell. emend. weist auch der Zusatz
p. 50 hin: die folgenden Eigenschaften (causa, Providentia, praede-
stinatio etc.) sind propria, weil sie nichts sind als Adjectiva, welche
nicht ohne ihre Substantiva gedacht werden können. Unter den Be-
geln für die Definition der res increata (Paulus p. 451) steht nem-
Uch, sie dürfe keine Substantiva enthalten, welche adjectivirt wer-
den können, d. h. sie dürfe nicht durch abstracta gegeben wer.
den. Was Spinoza hier abstracta nennt, heisst in unserem Tractat
propria.
*) Vergl. auch Cart. princ, phil. 1 , 48 : Non autem plura quam
duo summa genera rerum agnosco: unum est verum intelleclua-
lium, sice cogitativarum^ aliud rerum materialium,
**) Cogitatio et extensio spectari possunt ut constüuentes na-
turas suhslantiae intelligentis et corporeae, tuncgue non a^Mer cau'
dpi debent quam ipsd suhsiantia cogitans et substantia extetua.
Cart. princ. 1, 63.
3*
— 36 —
Sede; von dem was durch sich selbst existirt, der absolut
unendlichen Einheit, und dem was nur existirt, weil jene
unendliche Einheit existirt; von der Causa und dem was
von ihr abhängig ist. Es ist natürlich, dass dieses reale
Verhältniss nun hier als Grund des logischen erscheint.
Was durch sich ist, muss auch durch sich begriflfen werden.
Was von keiner andern Ursache abhängt, dessen BegriflF
kann auch von keinem andern Begriffe abhängig sein. Es
muss durch sich selbst klar sein/ sich durch sich selbst
offenbaren. Was durch sieh selbst ist, ist nur das Eine,
schlechthin unendliche Sein. Jeder Begriff also, der wahr-
haft unabhängig, höchster Gattungsbegriff ist, kann es nur
sein, weil er das Wesen dieses Eiiien beschreibt, ein Aus-
druck seiner durch sich existiren<^ Unendlichkeit ist.
Alle höchsten Gattungsbegriffe sind also nothwendig Be-
griffe, deren Inhalt dasselbe Eine ist, sind seine Attribute;
und insofern kann man auch von den Attributen sagen,
dass sie durch sich selbst sind und sich selbst klar machen ;
eben weil sie nichts anderes sind als die Substanz selbst.
Oder, um es von anderer Seite darzustellen: Aus dem
blossen Begriffe des Attributs als höchsten Gattungsbegriffs,
oder, was gleichbedeutend ist, der in ihrer Gattung unend-
lichen Substanz ; folgt an und fßr sich und direct nicht,
dass alle Attribute Einer und derselben Substanz ange-
. hören, alle Substanzen nur Attribute des Einen Wesens
sind. Im Gegentheil: je bestimmter logisch die Begriffe
Substanz und Attribut identificirt werden, desto weniger
folgt aus der blossen Analyse der Begriffe, dass verschie-
dene Attribute, wie wir sie factisch in unserem Denken
finden, nicht auch verschiedene Substanzen seien. Aber so
lange wir sie getrennt halten, finden wir keinen Grund
ihrer Existenz; ihre Existenz folgt nicht aus ihrem Wesen.
Um sie als existirend, als real zu begreifen, können wir sie
nur auf das Eine Allwesen beziehen, das allein nothwen-
dig existirt. Dadurch wird, was zunächst als nur in ihrer
Gattung vollkommene Substanz zu denken war, zum
— 37 -
Attribut der Einen Substanz, mit keiner andern Modifica-
tion des Begriffs, als dass der Grund der Existenz jetzt flir
alle derselbe, nicht mehr für die verschiedenen Attribute
verschieden ist. Sind sie Attribute des durch sich exi-
stirenden Wesens, so nehmen sie an seiner Aseität Antheil^
sie sind gleichfalls durch sich selbst.
Wir finden, indem wir nach durch sich selbst klaren,
höchsten GattungsbegriflFen suchen, Ausdehnung und Den-
ken. Sowohl Ausdehnung als Denken wird durch sich
selbst begriffen. Sie sind Attribute. Beziehen wir sie auf
zwei Substanzen, so heisst das so viel: der Grund durch den
das Denken existirt, ist ein anderer als der, durch den die
Ausdehnung existirt. Aber wir kennen nur Eines, das durch
sich selbst existirt, das absolut unendliche Sein; was existirt,
muss durch dieses und als seine Bestimmung existiren;
und auch factisch existiren sie nicht unabhängig von einan-
der, sie bilden das Eine Ganze der Natur, sie bilden im
Menschen eine Einheit und darum kann ich sie nicht als
gesonderte Substanzen, sondern nur als Attribute Eines und
desselben Wesens, der Natur oder Gottes denken. Dieser
Gedanke liegt auch vollkommen deutlich in dem Satze,
mit dem der Beweis zur Prop. 3 des Anhangs (p. 236)
beginnt: keine Substanz ist von einer andern hervor-
gebracht; wenn sie also realiter existirt, so ist sie entwe-
der ein Attribut Gottes, oder ausserhalb Gott ihre eigene
Ursache.
Daraus lässt sich endlich verstehen, wie der Zusatz
zu p. 72 sagen kann: Anlangend die Attribute, aus wel-
chen Gott besteht, so sind sie nichts als unendliche Sub-
stanzen, deren jede selbst unendlich vollkommen sein muss;
und ebenso wie p. 182 Spinoza die reale Existenz der
Körperwelt folgendermassen beweisen kann: Gott ist ein
Wesen von unendlich vielen Attributen, deren jedes unend-
lich ist; die Ausdehnung ist ein in seiner Gattung unend-
liches Attribut, also nothwendig ein Attribut Gottes^ Gott
— 40 —
fassenden Einheit zusammen, deren Einheit er im BegriflFe
der Einen Substanz mit zwei Attributen, deren aUes um-
fassende Unendlichkeit er im Begriffe der Substanz mit
unendlich vielen Attributen fixiite.
«
Dieser ganze Gedankenzusammenhang, den wir eben
verfolgt haben, um das Verhältniss des Attributbegriffs
zum Begriffe der Substanz und zum Begriffe Gottes aus-
einanderzulegen , diese ganze Identificirung von Attribut
und Substanz, ruht nun offenbar darauf, dass in den all-
gemeinen Begriff der Substanz die Bestimmung, dass sie
durch sieh selbst existirt, noch* nicht aufgenommen, er also
mit dem Begriffe Gottes noch nicht schlechthin identisch
gesetzt ist. Dies geschieht erst im vierten Satze des An-
hangs. Er lautet: Zum Wesen einer Substanz gehört es,
von Natur zu existiren: so sehr dass es unmöglich ist, in
einem unendlichen Verstand die Idee des Wesens einer Sub-
stanz zu setzen, die in der Natur nicht existirt. Damit
ist also die Existenz der Substanz nicht mehr auf die
Identität des göttlichen Denkens mit dem Sein gegründet;
sie folgt aus dem Wesen der Substanz selbst, und die
Uebereinstimmung der Idee der Substanz im unendlichen
Verstand mit der Realität ist nicht Grund, sondern Folge
ihrer nothwendigen Existenz. Der Beweis für diesen Satz
argumentirt rein aus dem Begriffe der Substanz. Die wahre
Essenz des Objects einer Idee ist etwas von dieser Idee
Verschiedenes, und entweder [durch sich]*) wirklich existi-
rend oder begriffen in einem anderen wirklich existiren-
den Ding. Nun ist es ein Widerspruch, dass, was als
Substanz gedacht wird, in Wirklichkeit an einem anderen
existire; also ist die Substanz ein Ding, das durch sich
selbst besteht.
Es ist keine Frage, dass dieser Schritt consequent
war. Es ist so zu sagen der ontologische Beweis flir den
*) Dieses ,durch sich' muss, wie aus dem Zusammenhang un-
zweifelhaft ^hellt, ergänzt werden.
— 41 —
Substanzbegriff; die volle Uebereinstimmung de» Denkens
und Seins ist jetzt erst hergestellt Aber nun treten andere
Schwierigkeiten ein: es muss aus dem Begriffe der Sub-
stanz nachgewiesen werden, dass nur Eine absolut unend-
liche ist; und es muss auseinandergesetzt werden, wie die
verschiedenen Begriffe, die durch sich selbst klar sind, und
also Anspruch haben als durch sich selbst seiend gedacht
zu werden , wie z. B. Denken und Ausdehnung zu diesem
Begrifle der Einen Substanz sich verhalten; es kommt jetzt
nicht mehr die Anschauung der Einen unendlichen Natur
zu Hülfe, sondern rein aus den Definitionen heraus ist der
Begriff der Substanz mit dem Begriff Gottes zu identificiren.
Das ist die Aufgabe, die sich der Anfang der Ethik stellt;
und damit ist zugleich eine andere Bestimmung des Ver- -
hältnisses zwischen Substanz und Attribut nothwendig ge-
worden, welche erklärt, wie denn viele Attribute und doch
Eme Substanz möglich sind.
Es ist von Interesse in Spinoza's Schriften den Gang
zu verfolgen, welchen die Bestimmung des Verhältnisses
zwischen Substanz und Attribut nimmt. Aus dem Tractat
geht unzweifelhaft hervor, dass die Schwierigkeit, der das
Scholion zu Prop. 10. der Ethik begegnet, die Schwierig-
keit, zwei von einander völlig getrennte, in gar keiner
logischen Beziehung stehende Attribute Einer Substanz zu-
zuschreiben, für Spinoza damals gar nichtj vorhanden war,
einfach deswegen nicht, weil der ihn beherrschende Ge-
danke der der Einheit der unendlichen Natur, der Totalität
des Seienden ist, in der ohne Widerspruch zwei von ein-
ander unterschiedene Welten, deren jede in sich unendlich
ist, zusammengedacht werden können. Für diesen Stand-
punkt ist es kein Widerspruch, dass Zwei Eins und Eins
Zwei seien; so lange der Ausdruck erlaubt ist, dass Gott
aus unendlich vielen Substanzen besteht, so verhält sich
das Eine Wesen zu seinen Attributen wie das Ganze zu
den Theilen, und dass sie Attribute, nicht Substanzen
heissen, drückt nichts aus, als dass sie eben zur Einheit
— 44 —
er durchaus Cartesius gefolgt, so würde sich damit die De-
finition der Substanz ^quod per se concipüur^ nicht vertragen,
wenigstens in dem Sinne nicht, in dem er die Formel sonst
braucht, da von einem directen concipere der Substanz
abgesehen von ihrem Attribut gar nicht die Bede sein
könnte; und Cartesius spricht (§. 53) von Begriffen, die
durch sich verstanden werden, im Gegensatz gegen die,
welche nur durch andere erklärt werden können, eben in
Beziehung auf die Attribute. Dazu kommt, dass bei Car-
tesius der Begriff des Attributs seine ursprüngliche Bedeu-
tung eines Prädicats, einer Eigenschaft, durchaus beibe-
halten hat; während er bei Spinoza einen substantiellen
Inhalt gewinnt, in den Sätzen, dass ein Attribut auf das
andere wirke u. s. f. immer eine Hypostasirung vorausge-
setzt ist. Diese Incongruenz des Inhalts mit dem Wort-
laute und seiner ursprünglichen Bedeutung, die Spinoza
nachträglich wieder einflihrt und benützt, nachdem sie
factisch verloren gegangen war, scheint mir die Haupt-
quelle der Schwierigkeiten zu sein, welche seine späteren
Aeusserungen über diesen Gegenstand bieten.
4. Der Begriff des Modus.
Eben so unvermittelt wie der Begriff des Attributs,
und eben so wenig scharf begrenzt von Anfang an wird
der Begriff des Modus eingeführt. Es wird vorausgesetzt,
dass man die Bedeutung des Wortes kenne; und in dem
ersten Dialog wird der Begriff des Attributs von dem des
Modus nicht unterschieden.*; „Wenn man das Körperliche
*) vgl. Gart. Princ. phil. 1, 56: . . , per modos plane idem in-
teUigimuSy quod alibi per attrihuta vel qualitates, Sed cum con-
sideramus suhstantiam ah Ulis affici vel variarij vocamus modos;
cum ab üta vc^tattone talem posae denomtnariy vocamus qualitates;
ac denique cum generaliier spectamus tantum ea stihstanUae inesse^
vocamus attributa.
— 45 —
und Intellectnelle Substanzen nennen will^ gegenüber den
Modis (wijzen), die davon abhängen, so mnss man sie
ihrerseits Modi nennen gegenüber der Substanz, von der
sie abhängig sind. Gerade so wie Wollen, Empfinden
n. s. w. nur verschiedene Weisen der denkenden Sub-
stanz sind, auf welche sie bezogen und in welcher sie
zur Einheit zusammengefasst werden — so sind auch
Denken und Ausdehnung selbst mit allen anderen unend-
lich vielen Attributen oder nach anderer Redeweise Sub-
stanzen nur Modi des einen ewigen, unendlichen, durch sich
existirenden Wesens".*) Dieser Sprachgebrauch, nach wel-
chem Attribut und Modus dasselbe bezeichnen können, setzt
voraus, dass Denken und Ausdehnung zu dem Einen Sein
sich in derselben Weise verhalten, wie die einzelnen Ideen
zu dem Einen unendlichen Denken, die einzelnen Körper
und ihre Eigenschaften zu der Einen Ausdehnung, d. h.
dass das Eine Sein ebenso der höchste Gattungsbegriflf zu
Denken und Ausdehnung ist, wie Denken und Ausdehnung
zu den unter ihnen befassten einzelnen Modis. Diesen
Sprachgebrauch muss also Spinoza aufgeben und den Be-
griff des Modus im Unterschiede vom Attribut bestimmter
fassen, sobald er die Attribute selbst als höchste Gattungs-
begriffe hinstellt — in der oben schon angeführten Stelle
über die Definition p. 78 ff. Danach ist Modus alles das,
was, um begriffen zu werden, eines höheren Begriffs be-
darf, und also auch um zu existiren eines Anderen, das
durch sich selbst existirt. Damit ist also der Unterschied
von- Modus und Attribut festgestellt.
Das Yerhältniss des Modus zu dem, dessen Modus er
ist, erscheint weit häufiger unter der geläufigeren Bezeich-
nung der Wirkung einer Ursache, oder des Ge-
schöpfes.**) Gott ist causa aller Dinge, sofern ohne ihn
nichts bestehen noch begriffen werden kann. Und zwar
*) p. 38. 40.
**) Modi eive creaturae p. 80.
— .48 —
wegung in der Materie ist von Ewigkeit gewesen, wird
in alle Ewigkeit unveränderlich bleiben, ist in ihrer Art
unendlich, kann aber nicht durch sich selbst existiren
noch begriffen werden, sondern nur vermittelst der Aus-
dehnung. Von ihr will ich, da sie eigentlicher zur Ab-
handlung über die Natur als hieher gehört, nur sagen, dass
ich sie Gottes Sohn und unmittelbares Werk und Ge-
schöpf nenne. Ebenso ist der Intellectus Gottes Sohn,
unmittelbares Werk und Geschöpf, von Ewigkeit zu Ewig-
keit unveränderlich; sein Wesen ist, alles klar und deut-
lich in allen Zeiten zu verstehen, woraus ein unendliches
vollkommenes und unveränderliches Genügen entspringt,
das nicht nachlassen kann zu thun was es thut".*)
Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass Spi-
noza hier die Idee des ?^6yog oder voug im alexandrinischen
oder neuplatonischen Sinne im Auge hat; dass er aus Gott
den Intellectus als die Quelle und Gesammtheit aller Ideen
hervorgehen lassen und ihn als unmittelbar Erzeugten ein
schieben will zwischen die Eine Ursache und die Vielheit
der Ideen der einzelnen endlichen Dinge, die erst als Wir-
kungen und Geschöpfe des Sohnes aufgefasst werden
(denn ausdrücklich sind die allgemeinen Modi Ursachen
der einzelnen Dinge) ; und kaum lässt sich die Vermuthung
abhalten, dass er, indem er die ewige Genüge, aus der
ewiges Wirken hervorgehe, damit in Verbindung bringt,
an jene Deutung der Trinitätslehre gedacht habe, wonach
der Geist als die Einheit des Vaters und des Sohnes, und
zugleich als das Princip des schaffenden göttlichen Lebens
*) p. 82. vergl. p. 244 f. Wenn an letzterer SteUe das Attri-
hulum cogitans selbst als der Sohn Gottes bezeiclinet zu werden
scheint, so würde das nur beweisen, wie vollständig der ursprüng-
liche Begriff von Attribut für Spinoza in einer Hypostasirung des-
selben untergegangen ist. Allein die Worte: attributum cogita/na
sive iiUellectum in re cogitcmte filium Dei diximiis, müssen wohl
so erklärt werden, dass ^sive intellectum in re cogäante^ als berich-
tigender Ausdruck gesetzt ist.
— 49 —
gedacht wird. Aus dieser Einführung theologischer Be-
griffe darf dann der weitere Schluss gezogen werden, dass
er der unveränderlichen Bewegung, die er aus der Physik
des Cartesius als Dogma hertibernahm, die Bedeutung habe
geben wollen, dass sie das Princip der Vielheit der ein-
zelnen Dinge sei*), wie er denn auch die einzelnen Körper
nur nach der bestimmten Proportion von Ruhe und Bewe-
gung unterscheidet. Für jene dunkele und durch die be-
kannte Stelle des 66. Briefs bisher nur sparsam erhellte
Lehre der Ethik von den unendlichen Modis kann es wohl
keinen vollständigeren Commentar geben, als diese später
unterdrückte Hereinziehung des Ao/ocbegriffs. Hier ist
offenbar der Punkt, in welchem die Behauptung eines ema-
natistischen Elements in der Spinozistischen Lehre einen
Anhalt und eine Bestätigung finden kann; hier zeigt sich
aber auch zugleich der mächtige Einfluss, den die carte-
sianische Physik auf Spinoza ausgeübt hat, und die na-
turaliö^tische Grundlage seines Gottesbegriffs, wenn er die
Bewegung, die er als eine anfangslose und ewige anneh-
men muss, ebenso wie den unendlichen Verstand zu einer
Art göttlichen Wesens hypostasirt.
lieber die besonderen Modi ist es schwer, nähere
Bestimmungen zu finden. Was Spinoza darunter versteht,
ist vollkommen klar, aber über ihr Verhältniss zu den
allgemeinen Modis spricht er sich so wenig deutlich aus
als in der Ethik. Es ist hauptsächlich Eine Stelle im
zweiten Dialogenfragment, wo er darauf zu reden kommt**).
Es lässt sich einwerfen: Wenn Gott immanente Ursache
der Dinge ist und die Wirkung einer immanenten Ur-
sache dauert so lange die Ursache dauert, wie ist es
möglich, dass die einzelnen Dinge vergehen? Diesen Ein-
*) Vergl. die Epp. 70 und 72, wo Spinoza noch 1676 erklärt,
ans dem Begriffe der Ausdehnung allein lasse sich die Vielheit ver-
schiedener Körper jiicht begreifen.
**) p. 48.
ISigwart, Spino»'8 Tractat. 4
- 50 —
wnrf beantwortet er mit einer Unterscheidimg. Es gibt
unter dem, was nothwendig erfordert wird dass eine Sache
sei, Einiges, was die Sache hervorbringt, und Einiges, was
sie möglich macht (die hervorbringende Ursache und die
Bedingung); z, B. um ein Zimmer zu erleuchten, öffne ich
ein Fenster; aber die Oeffnung des Fensters macht das
Licht nicht, sondern macht nur möglich, dass es ein-
dringen kann. Oder, damit ein bestimmter Körper sich be-
wege, braucht es einen Körper, der die Bewegung^ die jener
erlangen soll, schon hat. Das Hervorbringende der Be-
wegung ist die Bewegung; die Bedingung aber der stos-
sende Körper. Aus Gott gehen die allgemeinen unverän-
derlichen Ursachen hervor; die Bedingungen ihrer Wir-
kung im Einzelnen liegen wieder im Einzelnen. Die Ab-
hängigkeit irgend einer einzelnen Sache von einzelnen Be-
dingungen hebt also die unmittelbare Causalität Gottes nicht
auf. Diese Unterscheidung zwischen Ursache und Bedingung
hat Spinoza in der Ethik wieder aufgegeben, wenn er I, 28
das Einzelne zum Sein und Wirken determinirt sein lässt
durch eine Ursache, welche endlich ist und determinirte
Existenz hat, d. h. durch Gott, sofern er durch eine bestimmte
einzelne Modification modificirt ist; dagegen stimmt zu der
früheren Anschauungsweise eine Stelle desTractats de intell.
emendatione. Dort spricht er von einer doppelten Causal-
reihe, der seriea rtrum fixarum aetemarumque und der seriea
rerum singularium mutabiUum*), Die letztere ZU erkennen
ist unmöglich, theils wegen der zahllosen Menge des Ein-
zelnen, theils wegen der unendlich vielen Umstände (cir-
cumstantiae) für jedes einzelne Ding, deren jeder Ursache
sein kann, d^ss das Ding existirt oder nicht existirt. Darum
ist es nicht möglich, diese Gausalreihe des Einzelnen zu
verfolgen; es ist aber auch nicht nothwendig, denn die
Ordnung der Existenz des Einzelnen gibt uns nichts als
Relationen, „auswendige Benennungen^' **), höchstens Um-
*) Vol. II. p. 452. der PauluB*8chen Ausgabe.
**) Vgl. oben p. 28.
-^ 51 ~
stände, was Alles weit verschieden ist von dem Wesen
der Dinge. Dieses ist aus den festen und ewigen Dingen
und den Gesetzen in diesen Dingen abzuleiten, nach denen
alles Einzelne geschieht und geordnet wird. Diese ver-
änderlichen einzelnen Dinge hängen so innig und wesent-
lich von jenen festen ab, dass sie ohne sie nicht sein noch
begriflfen werden können. So werden jene ewigen und
festen Dinge, obgleich Einzelwesen, wegen ihrer Allgegen-
wart und weit sich erstreckenden Macht die Stelle von
Universalien oder Gattungsbegriffen für die Definition der
einzelnen veränderlichen Dinge einnehmen, und die causae
proximae aller Dinge sein.
Diese Ausführung will offenbar eben so zwischen der
wesentlich hervorbringenden Ursache, die den einzelnen
veränderlichen Dingen gegenüber ein Allgemeines ist, und
der flir den einzelnen Fall eintretenden Bedingung oder
dem Umstände unterscheiden, wie der Tractat, wenn er
dem, was eine Sache hervorbringt, das gegenüberstellt,
was die Sache möglich macht. Das Hervorbringende, die
eigentliche Ursache des Einzelnen ist in der Körperwelt
immer die Bewegung, in der Ideenwelt der Intellectus;
und Bewegung sowohl als Intellectus sind eine res fixa
und aetema, kein blosser Allgemeinbegriff, sondern ein
Existirendes und insofern auch Einzelnes, kein Universale
oder blosses ens rationis. Die Bedingung ist die bestimmte
und wechselnde Vertheilung von Ruhe und Bewegung
im Einzelnen, die vorübergehende Wirklichkeit einzelner
Ideen*).
An die Erörterung des Verhältnisses zwischen Gott
und seinen Modis, das durch den Causalitätsbegriff ausge-
drückt wird, schliessen sich in C'ap. 4. 6. und 10: die wei-
teren Ausführungen an, in denen die absolute Notb-
*) Ohne Zweifel hat Spinoza hier die baconische Unterschei-
dang der Formen ron den verar lassenden Ursachen vor Augen ge-
habt. S. daß Nähere im Excurs.
4*
— 62 —
wendigkeit des göttlichen Wirkens behauptet und be-
wiesen wird. Da sie nichts Charakteristisches enthalten^
führen wir nur kurz die Hauptgedanken an: Es streitet
mit der Vollkommenheit Gottes, dass er unterlassen könnte,
was er wirkt; Gott wäre veränderlich, wäre ein anderer
Gott, also nicht das Yollkommenste Wesen, wenn andere
Wirkungen von ihm ausgegangen wären. Seine Freiheit
besteht nur darin, dass er als causa prima von keinem
anderen Dinge gezwungen nur durch seine Vollkommenheit
Ursache aller Vollkommenheit ist. Er wirkt nicht, was er
wirkt, weil es gut ist; denn damit würde etwas ausser ihn
gestellt, das ihn verpflichtete, oder sein Begehren be-
stimmte.
Daraus ergibt sich femer, dass Alles in der Natur
nothwendig ist, dass es also nichts bloss Mögliches, d. L
nichts gibt, was sein und auch nicht sein könnte. Alles,
was nicht durch seine Ursache mit Nothwendigkeit be-
stimmt ist, ist unmöglich; Alles, was nicht die Ursache,
warum es ist, in sich selbst hat, ist durch eine Ursache
ausser ihm bestimmt.
Daraus folgt ferner, dass Alles absolut vollkommen ist
und die Begriffe von Ordnung und Unordnung, Gut und Böse
nur subjective Bedeutung haben, nur Belationen und aus der
Gewohnheit, allgemeine Begriffe zu bilden, entstanden sind.
Den allgemeinen Begriffen aber entspricht keine Realität;
die realen Dinge sind durch besondere Begriffe bestimmt.
Jedes Ding ist darin vollkommen, dass es mit seiner be-
sonderen Idee übereinstimmt; und die Vollkommenheit der
Welt besteht darin, dass Gott allen Dingen von den klein-
sten zu den grössten ihr Wesen gibt, oder vielmehr, dass
er Alles vollkommen in sich selbst hat.
5. VerhältnisB der beiden Attribute und
ihrer Modi.
Die Gausalverhältnisse unter den einzelnen Modis kön-
nen aber nicht vollständig dargestellt werden, ohne dass
— 5.3 —
das Verhältniss der beiden Attribute, von denen
sie abhängen, erörtert wird. Die sehr bemerkenswerthen
Sätze, welche abweichend von der späteren Auflfassung
der Tractat hierüber aufstellt, werden uns einerseits den
Begriff der Natur noch näher aufklären, andererseits eine
Beihe von scheinbaren oder wirklichen Inconsequenzen der
Ethik als Folge der früheren Betrachtungsweise erscheinen
lassen.
Eben jene Ansicht nemlich, welche die Ethik so sorg-
fältig und vorsichtig zu vermeiden trachtet, dass eine Wech-
selwirkung stattfinde zwischen Körperwelt und Welt
der Gedanken, ein gegenseitiges Leiden des einen Attri-
buts von dem andern, ist nicht nur nicht ausgeschlossen,
sondern sie wird ausdrücklich durch die Einheit der Natur,
welche nur Ein Ganzes ausmache, begründet.
Zwar wird scheinbar die spätere Lehre in ihrer gan-
zen Strenge vorgetragen, wenn es heisst, dass alle Modi,
welche die Ausdehnung voraussetzen, auf das Attribut der
Ausdehnung, alle welche Denken voraussetzen, auf das
Attribut des Denkens bezogen werden müssen; wenn ge-
lehrt wird, dass Bewegung und Ruhe als die einzigen
Modificationen der Ausdehnung immer nur von Bewegung
und Ruhe hervorgebracht werden können, und dass keine
Weise des Denkens in einem Körper Bewegung oder Ruhe
zu erzeugen vermöge; dass ebenso umgekehrt die Wir-
kungen des Denkens, da sie keine Beziehung auf die Aus-
dehnung haben, keineswegs der Ausdehnung, sondern allein
dem Denken als ihrer Ursache zugeschrieben werden müs-
sen*). Aber hart daneben wird ganz unbefangen davon
gesprochen, dass ein Attribut auf das andere wirke, und
von dem andern leide**). Durchweg erscheint das Kör-
perliche als Ursache seines entsprechenden Abbilds in
*) p. 184. 186. Wir nehmen einiges aus dem zweiten Theile
voraus.
♦•) p. 186. 188.
- 54 -^
der Welt der Ideen*); jedem existirenden Ding entspricbt
seine Idee, die von ihm ausgeht, von ihm ihren Ursprung
hat, und deshalb mit ihm entsteht, sich verändert und ver-
geht**). Gerade die späteste Fassung des Anhangs lehrt dag
am bestimmtesten. Aus der Unendlichkeit des denkenden
Attributs wird abgeleitet, dass nichts real existiren könne,
dessen Idee nicht im Attribut des Denkens wäre — denn
dann wäre dieses nicht vollkommen; aber nirgends wird
nun das Verhältniss der einzelnen Ideen zum Attribut des
Denkens so dargestellt, dass sie allein aus ihm hervoiv
giengen; keine Spur von dem fünften Satze des zweiten
Buchs der Ethik, dass die Objecte der Ideen nicht Ursache
der Ideen seien, dass nur parallel den Modificationen der
Ausdehnung die Ideen allein aus dem unendlichen Denken
folgen, und nur sich selbst unter einander bedingen: son-
dern immer gehören zur bestimmten Idee zwei Ursachen,
einmal das Attribut des Denkens, und dann das real exi-
stirende Object***); und auch hier noch findet sich der
Ausdruck, dass die Idee von der Existenz ihres Objectes
ausgeht (ontstaatj, und daher mit ihm sich verändert und
vergeht.
Die Idee eines einzelnen Dinges nun, welche von ihm
im Attribut des Denkens erzeugt wird und Alles das ideell
(objective) enthält, was in dem Dinge real (formaliter) ist,
ist mit ihm vermöge der allgemeinen Einheit der Natur ver-
einigt und heisst insofern seine Seele. Die Einheit der
Seele mit dem Körper aber besteht in nichts Anderem als
in ihrer Abhängigkeit von der Existenz und allen Verän-
derungen des Körpers****). Daraus folgt sogleich, dass
•) p. 206.
*•) p. 208. 240. 244.
***) p. 242. , , . ad existentiam ideae sive eesentiae ohfectivae
nihil aliud postulatur nisi attrihutum cogitana et ohjectum sive
essentia formalis. Jenes bedingt so zu sagen die Fonn, dieses den
Inhalt der Idee.
») p. 240.
~ 55 -
Alles beseelt ist. Dieser Gedanke erscheint bekanntlich
anch in der Ethik fSchol. zu Prop. 13 des 2. Buchs), wird
aber dort nicht weiter verfolgt; hier dagegen hält Spinoza
ihn fest und flihrt ihn in eigenthümlicher Weise aus. Jedes
Dinges Seele erkennt ihren Körper, und es ist die ur-
sprüngliche Wirkung des Körpers auf die Seele,
dass diese ihres Körpers und dessen, was in ihm vorgeht,
bewusst wird*). Aus diesem Begriffe der Seele geht ferner
hervor, dass nichts in uns ist, dessen wir uns nicht be-
wusst werden könnten; denn da nichts ohne seine zuge-
hörige Idee ist, so ist auch von Allem, was — sei es im
Attribute der Ausdehnung oder in einem der anderen un-
endlich vielen Attribute — real ist, Wissen und Bewusst-
sein da und mit ihm verbunden.
Insoweit hängt also die Seele durchaus vom Körper ab;
denn da die Bewegungen und Veränderungen des Körpers
nur von körperlichen Veränderungen erzeugt werden, so
ist es unmöglich, dass die Seele den Körper bewege. Aber
nur in dem Sinne, dass sie keine Bewegung in ihm zu
erzeugen vermag. Wohl aber steht es ihr zu, eine
schon vorhandene Bewegung in ihrer Bichtung zu
ändern; im menschlichen Körper vermag die 'Seele die
Bewegung der Lebensgeister, von deren verschiedener Ver-
theilung (nach der cartesianischen Theorie) alle Functionen
desselben abhängen, bald dahin, bald dorthin zu lenken
und dadurch bestimmte Bewegungen der Glieder zu veran-
lassen, und diese Macht der Seele ist nur dann vermin-
dert oder aufgehoben, wenn entweder keine Bewegung der
Lebensgeister vorhanden ist, wie in Folge von Hunger
oder Ermüdung, oder wenn die Lebensgeister eine zu
starke eigene Bewegung haben, wie in der Trunkenheit.
Kommt die Richtung der eigenen Bewegung aus mechani-
schen Ursachen mit der von der Seele bestimmten in Con-
flict, 60 entstehen Bangigkeiten der Art, wie wir sie zu-
*) p. 18Z
— 56 —
weilen in uns wahrnehmen, ohne ihre Ursache zn kennen.
Der Grund aber, warum die Seele überhaupt Einfluss hat
auf die Bewegungen ihres Körpers, ist der, dass sie mit
ihm so verbunden ist, dass sie Ein Ganzes mit ihm aus-
macht; und diese Einheit ist nur eine Folge oder vielmehr
eine besondere Erscheinung der Einheit der Natur über-
haupt, in welcher die Attribute, obgleich unter sich unter-
schieden, doch ein einiges Ganze bilden, in dem also im
Grunde immer das Ganze es ißt, das im Einzelnen wirkt*).
Diese Ableitung des einzelnen Geschehens nicht bloss
aus dem entsprechenden Attribut, sondern aus dem Ganzen,
das alle Attribute umfasst, erscheint zunächst in einer
charakteristischen Stelle des zweiten Capitels**). Nachdem
die Ausdehnung als Attribut Gottes nachgewiesen ist, wird
der Einwand erhoben, dass damit die Bewegung noch
nicht erklärt sei. Diese setze vielmehr eine äussere Ur-
sache voraus, da kein ruhender Körper sich selbst bewe-
gen könne. Darauf antwortet Spinoza : Ich gebe zu, dass,
wenn ein Körper ein für sich existirendes Wesen wäre,
und keine andere Eigenschaft hätte als Länge, Breite und
Tiefe, in ihm keine Ursache der Bewegung wäre ; aber weil
wir früher gesagt haben, die Natur sei ein Wesen, dem
alle Attribute zukommen, so kann ihr nichts fehlen, um
Alles hervorzubringen, was hervorgebracht werden kann.
Verfolgen wir femer die Consequenz des Gedankens,
dass der Wille einer Seele Einfluss auf eine körperliche
Bewegung habe, so werden wir sagen, dass zwar die vor-
handene Summe der Bewegung ewig und unveränderlich,
ein allgemeiner Modus der Ausdehnung und nur von ihr
*) Dasselbe erklärt der Zusatz zu p. 196: Es hat gar keine
Schwierigkeit, wie ein Modus, der von dem andern unendlich ver-
schieden ist, in diesem wirken könne; denn er ist ein Theil des
Ganzen, die Seele ist nie ohne den Leib, noch der Leib ohne die
Seele.
♦*) p. 34.
— 57 —
abhäogig sei; dass aber die einzelne Bewegung ebenso
gut wie aus der Körperwelt, auch aus der Welt der Ideen
bestimmt sein kann, und dass es also das Attribut des Den-
kens ist, welches durch Vermittlung bestimmter Ideen im
Einzelnen die Bewegung ändert und lenkt. So kann Spi-
noza sagen, dass die Eine denkende Substanz, welche in
unendlichen Ideen ausgedrückt ist nach den unendlichen
Dingen, welche in der Natur sind, den Leib des Petrus
durch die Idee dieses Leibes und den Leib des Paulus
durch dessen Idee in Bewegung setze; und die Ansicht
liegt nahe, dass überhaupt alle Bewegung im Einzelnen
vielmehr aus den Ideen als aus blosser mechanischer Noth-
wendigkeit komme, dass also die allgemeine Beseelung
zugleich das Princip der bestimmten Bewegungs- und Wir-
kungsweise der Körper enthalte.
Diese Ansicht hat denn auch Spinoza wirklich ausge-
sprochen. Indem nemlich jede Seele ihren Körper erkennt,
gehen aus dieser Erkenntniss als dem unmittelbaren Modus
des Denkens andere Modi hervor, insbesondere Liebe zum
Objecto der Erkenntniss. Jede Seele liebt also ihren Kör-
per, und so zeigt sich evident, dass die natürliche Liebe,
welche jedes Ding hat, seinen Körper zu erhalten, keinen
andern Ursprung haben kann, als die Idee dieses Körpers,
welche im denkenden Attribut ist*). Bedenken wir nun, dass
dieser Selbsterhaltungstrieb allen einzelnen Wesen
innewohnt, und dass, wenn ihm überhaupt eine reale Be-
deutung zukommt, dies nur die sein kann, dass das be-
stimmte Sein und Wirken jedes Dinges eben als Folge
seines Selbsterhaltungstriebs erscheint: so begreift sich, dass
schliesslich das wirkliche Geschehen auch der Körperwelt
ebenso gut auf die denkende Substanz, als auf die ausge-
dehnte zurückgeführt werden kann, einerseits als mecha-
nisch nothwendiges Geschehen, andererseits als allgemeines
*) p. 242.
— 68 —
Leben erscheint*). So erklärt sich femer die eigenthtlm-
liche Art, wie Spinoza auch hier wieder einen theologischen
Begriff herbeizieht , am ihn nach seinen Yoraussetzungen
*) Es geht aus yerschiedenen Stellen hervor, dass Spinoza über
die letzte Ursache der Bewegung und damit über die Principien
der Physik ein eigenes Werk schreiben wollte, aber damit nie ins
Beine gekommen ist. In der angeführten Stelle des zweiten Capi^^
tels leitet er sie aus dem Ganzen der Natur ab, der alle Attribute
zukommen ; später (p. 82) setzt er die ewige Bewegung als den un-
mittelbaren allgemeinen Modus der Ausdehnung, den Sohn Gottes,
ohne dass man begreift, wie aus dem höchsten Begriff der Ausdeh-
nung der der Bewegung oder der Gegensatz von Buhe und Bewe-
gung mit Noth wendigkeit folgt; er will aber die Lehre von der
Bewegung nicht weiter verfolgen, da sie mehr zum Tractat von
der Wissenschaft der Natur gehöre; im Anhange p. 246
sagt er: Wir setzen als eine bewiesene Sache voraus, ^dass in der
Ausdehnung keine andere Modification als Bewegung und Buhe ist,
und jeder bestimmte Körper nichts ist als ein bestimmtes Verhäit-
niss von Ruhe und Bewegung — eine Voraussetzung, deren Beweis
sich nirgends findet. Die Ethik führt als Axiom ein : Alle Körper
sind entweder in Bewegung oder Buhe. Das Auffallendste ist aber
ein Zusatz zu der Stelle p. 82, wo die ewige unveränderliche Bewe-
gung der Sohn Gottes genannt wird. Er lautet: Was hier von der
Bewegung in der Materie gesagt wird, ist nicht ernstlich gesagt;
denn der Verfasser glaubt ihre Ursache noch zu finden, wie es ihm
a posteriori schon einigermassen gelungen ist; doch dieser Satz (vom
Sohne Gottes) kann hier wohl so stehen, weil nichts darauf gebaut
wird oder davon abhängig ist. Bitter in den Gott, gelehrten An-
zeigen 1862 S. 1844 nimmt daran Anstoss, dass in dieser Anm. von
Spinoza in der dritten Person gesprochen werde; allerdings ist es
die einzige Stelle der Art Aber da er die Idee, die ewige Bewe-
gung den Sohn Gottes zu nennen, in der That völlig aufgegeben
und sich, wie wir sonsther wissen, fortwährend mit den höchsten Pro-
blemen der Physik beschäftigt hat, so köimen wir den Zusatz, auch
wenn er nicht von Spinoza selbst herrühren sollte, doch imbedenk-
lich ab richtige Notiz gelten lassen. Ep. 63 nemlich fragt Tschim-
hausen, wann man endlich die Generalia in physicis zu erwarten
habe, und bittet um die Definition der Bewegung und die Erklärung,
wie. die Verschiedenheiten der Körper a priori deducirt werden kön-
nen, da doch die Ausdehnung .an sich gedacht untheilbar, unverän-
derlich etc. sei. Spinoza antwortete Ep. 64, da er das noeh nicht
— 59 —
umzudeuten, den Bcgriflf der Vorsehung nemlich, von
der er Gap. 5 des ersten Theiles sagt: sie ist für mich
nichts Anderes als jenes Streben, das wir in der ganzen
Natur und allen einzelnen Dingen auf die Erhaltung des
eigenen Seins gerichtet finden. Sie ist Providentia generalis,
sofern jedes Ding als Theil der ganzen Natar erzeugt und
erhalten wird, Providentia singularis, sofern jedes Ding
als ein Ganzes für sich betrachtet werden kann und als
solches in seinem Sein sich erhält*). Schwerlich wäre
Spinoza darauf gekommen, gerade diesen Ausdruck, der
ein Bestimmen des Einzelnen durch das göttliche Denken
in sich schliesst, so umzudeuten, wenn ihm nicht der Trieb
des Wirkens und Sicherhaltens etwas Geistiges, und seine
Lehre von der allgemeinen Beseelung eine ernstlich ge-
meinte gewesen wäre. So kehrt sich ihm also dann das
Verhältniss der Idee und ihres Objects um; die Existenz
der Idee ist wohl einerseits abhängig von der Existenz
ihres Objects; aber andererseits ist das Beharren dieses
Objects, seine bestimmte Wirkungsweise wieder abhängig
von der Idee, von der Liebe, die jedes Ding zu seinem
Sein hat. Damit hängt es zusammen, dass er die Einheit
zwischen Object und Idee, Körper und Seele unter dop-
peltem Gesichtspunkte fasst: das einemal ist ihm diese
Einheit die durchgängige Abhängigkeit der Idee vom Ob-
ject; das anderemal beruht sie auf der Liebe, welche die
Seele zum Körper hat**).
in Ordnung gebracht habe, spare er es auf eine andere Gelegen-
heit auf; später, Ep. 72, erklärt er die Ableitung der Vielheit der
Dinge aus dem blossen Begriff der Ausdehnung für unmöglich, und
den Cartesianischen Begriff der Materie für falsch , aber auch jetzt
schiebt er eine bestimmte Erklärung darüber hinaus.
*) p. 62. In den Cog. met. p. 118 hat Spinoza den Selbster-
haltungstrieb als Leben von der Beseelung unterschieden.
**) Vergl. p. 241 : ... hoe dezelve (die Seele) haar oorspronk
van het lichaam hee/t als ooh haare verandering alleenig af hangt
van het lichaam ^ weüc hy my de vereeniging van stiel tn lichaam
ig — mit pag 189: Nadien het eerete H welk de aiel komt te kenMn
— 60 —
Es bedarf wohl kaum einer Hinweisung darauf, wie
ans der einfachen Thatsache, dass Spinoza sich ursprüng-
lich seine anthropologischen und psychologischen Begriffe
auf Grund der Voraussetzung einer Wechselwirkung zwi-
schen Idee und Object gebildet hat, die schwankende und
geradezu inconsequente Darstellung der Ethik sich erklärt*)-
Im Princip ist dort jede Wechselwirkung aufgehoben;
die ganze Ansicht des Tractates vom Verhältniss der bei-
den Attribute ist durch den siebenten Satz des zweiten
Buches mit seinem Scholion fundamental verändert. Wäh-
rend früher Denken und Ausdehnung als zwei verschiedene,
nebeneinander bestehende Welten gegolten hatten, welche
als Object und Idee desselben sich entsprechend zusammen
die Einheit der Natur bilden, sind sie jetzt im Oanzen wie
im Einzelnen dasselbe Sein, das hier als Ausdehnung, dort
als Denken „ausgedrückt ist'* und „begriffen wird." Eine
Substanz ist es, die bald unter dem einen, bald unter dem
andern Attribut gefasst wird; und jeder einzelne Modus
derselben ist ein und dasselbe Ding, ob er jetzt als Körper,
jetzt als Idee des Körpers gedacht wird. Indem so Denken
und Ausdehnung nur als verschiedene Seiten derselben Dinge
erscheinen, — gerade hier streift Spinoza am nächsten an
den Gedanken, dass sie nur verschiedene Betrachtungsweisen
eines in sich Einen sind — werden sie am gründlichsten
getrennt; es ist im Einzelnen keinerlei Verhältniss zwischen
ihnen möglich; Ausdehnung bezieht sich immer nur auf
Ausdehnung, Denken nur auf Denken. Allein diese Be-
trachtungsweise wird nicht streng durchgeführt; unter der
Hand tritt die frühere Auffassungsweise wieder ein, für
welche Körper und Ideen verschiedene Dinge sind; wo der
Begriff der Seele bestimmt wird, kann Spinoza es doch
het lichaam ia, zoo homt daar tiyt kervoort^ dat de «id het zelve
bemint^ en daar dus mee vereemgd word,
*) Der Tract. de intelL emend. hat noch deuüiehe Spuren der
früheren Ansicht*, wenn er p. 449 von Ideen redet, quae . . , ex fot'
tuüU motibue corporis factae eunt.
— 61 —
nicht hindern y dass überall der Leib als das prins er-
scheint nnd die Seele von seinen Modificationen und Af-
fectionen abhängig; und wenn er später den Versuch macht
den Leib auch von der Seele abhängen zu lassen, be-
greifen wir nicht, wie das möglich ist, nachdem er den
Gedanken der allgemeinen Beseelung und der Möglichkeit
der Einwirkung auf Bewegungen vom Gebiete des Den-
kens aus factisch aufgegeben und in der Körperwelt eine
durchaus mechanische Betrachtung durchgeführt hat, nach-
dem ihm insbesondere der conatus suum esse conservandi
zur blossen actualis essentia ohne alle Beziehung auf die
Idee geworden ist. Allerdings ist vom BegriflPe des Attri-
buts aus der spätere Versuch consequent; dagegen lässt
der frühere um so deutlicher den Werth erkennen, welchen
der Gedanke der Einheit der Natur flir Spinoza hat, und
zeigt diese Einheit der Natur selbst in einer lebendigeren
und anschaulicheren Fassung.
Der zweite Tlieil des Tractates.
Mit dem Bisherigen sind nun die metaphysischen Vor-
aussetzungen entwickelt, welche dem zweiten Theil
unseres Tractates zu Grunde liegen. Freilich ist der
Gang desselben kein so regelmässiger, wie in der Ethik.
Die psychologischen und ethischen Lehren, welche die
Hauptmasse dieses zweiten Theiles bilden, erscheinen nicht
als Folgerungen aus einem Begriffe des Menschen, der sei-
nerseits die einfache Anwendung der Lehre vom Verhält-
niss der beiden Attribute auf den menschlichen Körper
und die menschliche Seele wäre ; vielmehr zeigt sich nach
der kurzen Einleitung, in welcher nur bewiesen ist, dass
der Mensch nicht Substanz sein, sondern nur aus Modis
der Attribute Gottes bestehen könne, ein völlig neuer An-
fang; erst gegen das Ende konmit die Rede auf das Ver-
hältniss von Leib und Seele zurück^ und schliesst so nach*-
träglicb an die Bestimmungen des ersten Theiles an. Wir
werden kaum fehl gehen, wenn wir auch darin einen Be-
weis sehen, dass Spinoza's Speculation von rerschiedenen
Punkten ihren Ausgang genonmien hat, und erst allmählich
zu Einem Ganzen zusammengewachsen ist.
Jener neue Anfang trägt durchaus den Charakter einer
empirisch-psychologischen Untersuchung. „Von den Weisen,
aus denen der Mensch besteht, werden wir nun anfangen
zu handeln. Wir werden sagen, was sie sind; was sie
wirken, was ihre Ursache ist. Was das Erste betrifft,
wollen wir mit denen beginnen, welche uns zu allererst
bekannt sind, nemlich den Begriffen, durch welche wir
von uns selbst und den Dingen ausser uns Kenntniss
haben"*). Und nun folgt die Aufzählung der verschiedenen
Arten unserer Erkenntniss, welche ganz ähnlich der Trac-
tatus de intellectus emendatione und das 2. Scholion zu
Eth. IL prop. 40 enthält. Wir erhalten nemlich unsere
Kenntnisse
1. durch Hörensagen oder Erfahrung, welche beide Er-
' kenntnissquellen uns einen Glauben geben, der ein
blosser Wahn (opinio) ist,
2. durch wahren Glauben, auf Grund richtiger Schlüsse,
3. durch deutliches Erkennen vermittelst unmittelbarer
Anschauung.
Die erste Erkenntnissart ist dem Irrthum unterworfen,
und gibt keine Gewissheit. Die zweite nennen wir Glau-
ben, weil die Dinge dabei nicht von uns gesehen werden,
sondern wir nur im Verstände die Ueberzeugung erlangen,
dass sie sich nicht anders verhalten oder verhalten können.
Die dritte Erkenntnissart ist weitaus die vorzüglichste:
sie beruht nicht auf Ueberzeugung durch Gründe, sondern
auf dem Gefühl und Genuss der Sache selbst**).
*) p. 95. 97.
**) Das Beispiel an dem Spinoza diese drei, beziehungsweise
Tier Erkenntnissarten erläutert, ist dasselbe, das er später immer auf-
wendet, die Eegel de tri.
— 63 —
«
Diese Sätze über die drei Erkenntnissarten bilden
nun die Grundlage aller weiteren Ausführungen des zweiten
Theiles. Denn die Erkenntniss ist der ursprünglichste,
unmittelbarste Modus des Denkens, die Voraussetzung
aller anderen Modi; von den verschiedenen Arten und For-
men der Erkenntniss hängen alle weiteren Zustände und
Thätigkeiten der Seele ab, Begierde und Leidenschaft, Ge-
fühl und Wollen. Aus der ersten Erkenntnissart entstehen
die Leidenschaften, die mit der Vernunft streiten, aus der
zweiten die guten Bestrebungen, aus der dritten die wahre
und aufrichtige Liebe mit Allem, was aus ihr sprosst*).
Mit diesem Satz ist der Gang der Darstellung in der
Hauptsache vorgezeichnet.
Versuchen wir die charakteristischen Hauptzüge der-
selben herauszuheben, so ist es freüich schwer, der Ord-
nung Spinoza's zu folgen. Wir erwarten, dass er zunächst
die Unterschiede der verschiedenen Erkenntnissarten näher
erläutert und dann ihre Folgen aufzeigt. Allein der ethi-
sche Gesichtspunkt tritt so sehr als der bestimmende auf,
dass er die psychologische Entwicklung vielfach durch-
bricht und verwirrt. Während in der Einleitung zum dritten
Buche der Ethik Spinoza versichert, die menschlichen Af-
fecte und Leidenschaften betrachten zu wollen, als ob sie
Linien, Flächen und Körper wären, ist er hier noch viel
zu sehr von dem praktischen Zwecke seines Philosophirens
erfüllt, um sich auf den Boden dieser kühlen Objectivität,
dieser reinen Naturlehre des Menschen zu stellen; ersetzt
die Thätigkeiten des Erkennens und ihre Folgen alsbald
in Beziehung auf das höchste Gut, und kaum hat er den
ersten seiner Sätze, dass aus dem Wahne die Leidenschaf-
ten entstehen, an ein paar kurzen Beispielen dargethan, so
geht er alsbald zu der Frage über, welche AflFecte ver-
nünftig und gut, welche unvernünftig und schlecht sind.
Die zweite Erkenntnissart dient ihm vor Allem dazu, den
♦) p. 100.
- H —
Massstab des Gnten und Bösen an die Thätigkeiten nnd
Zustände des Menschen anzulegen und sie mit der Idee
des vollkommenen Menschen zu vergleichen.
Indem er so ungeduldig auf sein Ziel loseilt^ zu zeigen,
worin die wahre Glückseligkeit des Menschen bestehe, wird
die Darstellung des Eigenthümlichen besonders der zweiten
Erkenntnissart — von der ersten sagt er nur sehr wenig —
zerrissen; nur zerstreut und gelegentlich, zum Theil nach-
träglich eingeschaltet finden wir die darauf bezüglichen
Sätze.
Versuchen wir der üebersicht wegen das Zerstreute
zu sammeln, und ohne uns an die Reihenfolge der Capitel
zu halten, den inneren Zusammenhang herzustellen, so ist
vor Allem die Frage zu beantworten, was die Erkenntniss
überhaupt ist, und wie sie zu Stande kommt; und ferner,
in welchem Verhältniss die verschiedenen Erkenntnissarten
zu einander stehen. Erst dann kann von ihren weiteren
psychologischen und ethischen Wirkungen die Rede sein.
1. Die Erkenntniss und ihre verschiedenen Arten.
Als der wichtigste Satz tritt an die Spitze, dass
alles Erkennen ein blosses Leiden (een zuyvere
lijding) ist*), denn es entsteht dadurch, dass unsere Seele
in der Art verändert wird, dass sie andere Modi des Den-
kens erhält, die sie zuvor nicht hatte. Die active Rolle
fällt dabei dem Objecto zu; das Object bietet sich zur Er-
kenntniss dar; die Erkenntniss ist nur Gewahrwerden der
Essenz und Existenz der Dinge, so dass wir selbst nie
etwas über eine Sache bejahen oder verneinen, sondern
die Sache selbst ist es, die etwas von sich in uns bejaht
oder verneint**). Diese Bestimmung gilt nach dem Zusätze
zum 1. Cap. p. 96 ausdrücklich von allen drei Erkennt-
*) p. 159. 167.
♦•) p. 166.
— 65 —
nissarten: Die Weisen, heisst es, aus welchen der Mensch
besteht, sind Begriflfe, getheilt in Wahn, wahren Glauben
und klare deutliche Erkenntniss, verursacht durch die
Objecte, jeder nach seiner Art, Diese Ansicht stimmt
mit dem oben geschilderten Verhältniss beider Attribute
völlig überein.
Wenn dem so ist, wie ist Irrthum und falsche Mei-
nung möglich? Ist nicht jede Vorstellung, die wir haben,
als Wirkung- des Objects nothwendig wahr? Diesen Ein-
wand macht sich Spinoza selbst, und beantwortet ihn
durch die Untersuchung, was wahr und falsch sei.
Wahrheit, sagt er p. 156, ist eine Bejahung oder Ver-
neinung einer Sache, die mit derselben Sache übereinkommt.
Falschheit ist Bejahung oder Verneinung einer Sache,
die mit derselben Sache nicht übereinkonunt.
Wenn Wahrheit und Falschheit nur in der Beziehung
aufs Object besteht, so könnte man sag^a, dass also die
wahre und die falsche Idee nur durch ein äusseres Ver-
hältniss, nicht durch ihr inneres Wesen sich unterscheiden;
dass sie, bloss als modi cogitandi betrachtet, nicht zu un-
terscheiden seien. Man kann ferner fragen, woran denn je-
der erkennen kann, ob seine Idee wahr oder falsch ist? Die
Antwort auf diese Frage ist zugleich eine Erledigung
jenes Einwandes. Die allerklarsten Dinge geben nicht
nur sich selbst, sondern auch die Falschheit zu erkennen.
Wer die Wahrheit hat^ weiss zugleich, dass er die Wahr-
heit hat; diese innere Evidenz also ist das Merkmal, an
dem Jeder erkennt, dass seine Idee wahr ist, und ist zu-
gleich der innere Unterschied, der den wahren und falschen
Ideen an sich selbst auch abgesehen von der Beziehung
auf ihr Object zukonmoit Wer die Falschheit hat, kann
dagegen wähnen, er habe die Wahrheit; wie einer der
träumt, wohl träumen kann, dass er wache, nicht aber einer
der wacht, denken dass er träume.
Nichtsdestoweniger bleibt aber sowohl die wahre als
die falsche Vorstellung Wiikung des Objects; und die
S ig wart, Spinoza's Tractat. 5
^ m —
Frage ist noch zu beantworten : wie ein Object eine fabiche
Vorstellung seiner selbst erzeugen kann? Allein dadurch,
dass es nicht mit seiner Totalität ^ sondern partiell wirkt.
Je weniger und minder die Aflfectionen sind, die einer von
einem Objecto erleidet, je schwächer die Ursache der Idee
ist, desto weniger wird diese dem Objecto entsprechen; desto
veränderlicher und unbeständiger wird sie sein, während
die vom ganzen Objecto ausgehende Idee seine Essenz aus-
drückt, also unveränderlich und immer sich selbst gleich ist.
Somit unterscheidet also Spinoza die wahre und falsche
Idee als totale und partielle, als beständige und veränder-
liche Perception. Streng genommen falsch und irrig ist die
partielle Perception freilich erst dann, wenn wir, während
wir ein Object nur zum Theil wahrnehmen, uns einbilden,
die Wahrnehmung komme vom ganzen Object*). Das Object
wirkt also doch nicht allein; unser eigenes Thun, unsere
Imagination kommt dazu; aber Spinoza unterlässt auf
diesen Factor zu achten.
Der Act, durch den wir bejahen und verneinen, ist
das Wollen; und der Wille seinem allgemeinen Begriff
nach ist die Macht zu bejahen und zu verneinen. Weiter
erstreckt sich die Bedeutung des Wollens nicht ; es ist mit
dem bejahenden oder verneinenden Urtheil erschöpft; und es
ist darum wohl zu unterscheiden von dem Begehren, wel-
ches die Neigung der Seele zu dem ist, was sie fttr gut
erkennt. Das Begehren setzt das Urtheil, dass etwas gut
sei, voraus; und dieses, wie jedes Urtheil überhaupt, ist
ein Act des Willens**).
Es erhellt daraus, dass der Wille sowohl im Gebiete
des Wahns als der wahren Erkenntniss thätig ist, sowohl
die falschen als die wahren Urtheile durch ihn zu Stande
kommen***). Es erhellt ebenso, dass der Wille nicht frei
*)
p-
158.
168.
**)
p-
160.
***)
p-
160 Zusatz.
— 67 —
mm iAxm. Th^ils ans allgemeinen Gründen: denn was
den Grund seiner Existenz nicht in sich selbst hat, ist von
einer äussern Ursache mit Nothwendigkeit determinirt *) ;
theils aus der bestimmten Natur seiner Function : denn jedes
ürtheil ist die Wirkung des Objects, also blosse passio**).
Der Wille als aJlgemeine Fähigkeit ist nur ein Allgemein-
hegriflf zu den einzelnen Willensacten, ein Ens rationis,
(Jem nichts Wirkliches entspricht, er kann also auch nicht
Ursache der einzelnen Willensacte sein, demi aus Nichts
wird Nichts***).
Spinoza hat es im Tractate völlig unterlassen auszu-
flihren, in welchem Verhältniss der so bestimmte Wille zur
Erkenntniss der Objecte stehe. Er hat die cartesianische
Unterscheidung, dass wir uns in der Aufnahme der Ideen
zwar leidend, im Urtheilen aber frei verhalten, nirgends be-
rührt und stillschweigend aufgegeben ; er hat nirgends ver-
sucht zu unterscheiden, was denn der Erkenntniss vor und
abgesehen von dem Wollen zukomme. Beides, die Percep-
tion der Objecte und das Urtheil über sie, fliesst ihm völlig
ineinander; und erst die Ethik II, 49 hat mit Bewusstsein
nachgewiesen, wie in der Idee selbst das Urtheil schon
liege.
Verfolgen wir nun die einzelnen Erkenntnissarten.
Der Wahn, der aus Hörensagen oder Erfahrung kommt,
fällt nach dem bisherigen mit der unvollkommenen Einwir-
kung des Objects auf den Verstand und dem daraus her-
vorgehenden falschen Urtheile zusammen. Spinoza geht
sehr rasch darüber hinweg.
Ausflihrlicher behandelt er die zweite Erkenntnissart,
den wahren Glauben, auch Ratio (Reeden) genannt.
Ihr Wesen wird, übereinstimmend mit der ersten vorläufi-
gen Angabe, p. 110 näher so beschrieben: Sie zeigt uns,
wie sich die Dinge verhalten müssen, aber nicht, wie sie
*) p. 160. 162.
«*) p. 166.
***).p.ilß4.,166.
— 68 —
in Wahrheit sind; sie weiss es auf Grund von Schlüssen
und Beweisen, aber nicht unmittelbar; wie der, der die
vierte Proportionalzahl zu drei gegebenen durch Sechnung
findet, weiss, dass die gefundene Zahl zur dritten sich ver-
halten muss, wie die zweite zur ersten, aber das Ver-
hältniss nicht unmittelbar sieht. Der Gegenstand, der so
nur mittelbar erkannt wird, bleibt also ausser uns, wir reden
von ihm als von etwas, das so, wie wir es denken, ausser
unserem Verstände sein muss. Diese Erkenntnissart trttgt
nicht; denn wir sind überzeugt, dass unsere Schlüsse rich-
tig sind; aber sie setzt uns nicht in den inneren Besitz
ihres Objects. Daher definirt der Zusatz: der Glaube ist
ein kräftiges Bezeugen der Gründe, durch welche ich in
meinem Verstände überzeugt bin, dass die Sache wahrlich
so ausser meinem Verstand ist , wie ich in meinem Ver-
stand davon überzeugt bin.
Die weitere Ausführung und Anwendung dieser allge-
meinen Sätze ist im höchsten Grade lückenhaft. Spinoza
zählt unter den Wirkungen dieser Erkenntnissart auf, dass
sie uns Wahrheit und Falschheit zeige; aber er unterlässt
es, diese Fähigkeit aus ihrem Wesen nachzuweisen.
Noch grössere Schwierigkeiten zeigen sich, wenn wir
den allgemeinen Satz anwenden wollen, dass alle Erkennt-
niss Wirkung des Objects sei. Denn als das Hauptge-
biet der zweiten Erkenntnissart erscheinen die allgemeinen
BegriflFe, die entia rationis, vor allem die Begriffe des
Guten undBösen, denen, wie Spinoza wiederholt aus-
drücklich lehrt, nichts Wirkliches entspricht, deren Object
ein reines Nichts ohne alle Realität ist. Er hat nirgends
versucht, zu zeigen, wie diese allgemeinen BegriflFe aus
Wirkungen von Objecten entstehen können. Ja er setzt
sich in oflFenbaren Widerspruch mit seinem ersten Satze.
Er leitet schon die allgemeine Erörterung der Be-
griflfe bonum und malum im 10. Gap. des ersten Theiles
mit der Bemerkung ein, dass einige Dinge in unserem
— 69 —
Verstand und nicht ebenso in derNatnr sind; und so sind
denn diese auch nur allein unser eigen Werk, und
dienen nur dazu, um die Dinge unterschiedentlich zu ver-
stehen; dahin gehören alle Eelationen, die sich auf ver-
schiedene Dinge beziehen, und diese nennen wir Entia
rationis. Zu diesen gehören bonum und malnm : sie drücken
die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung eines be-
sonderen Dings mit dem Allgemeinbegriff aus, den wir
uns davon gebildet haben, und dieser Allgemeinbegriff
selbst ist wieder ein blosses ens rationis, dem nichts Wirk-
liches entspricht*). Auf den Menschen angewandt: wir
bilden uns die Idee eines vollkommenen Menschen; und
indem wir dann uns selbst untersuchen, sehen wir, was
in uns ein Mittel ist, um zu dieser Vollkommenheit zu ge-
langen, und das nennen wir gut; und im Gegentheil das,
was uns daran hindert, nennen wir schlecht. Um also
über das, was für den Menschen gut und schlecht ist, zu
verhandeln, muss ich einen Begriff des vollkommenen
Menschen haben; ebenso kann ich nur in Beziehung auf
den Menschen überhaupt von seinem höchsten Zweck reden,
denn den wirklichen Zweck der einzelnen Menschen kenne
ich nicht. Aber den allgemeinen Zweck des Menschen,
und was flir den Menschen bonum und malum sind, kann
ich eben deshalb wohl erkennen, weil ich es darin mit
blossen Modis des Denkens zu thun habe.
Damit hat nun Spinoza die Lehre von einer Erkennt-
niss aufgestellt, die sich unmöglich unter seinen allgemei-
nen Begriff der Erkenntniss subsumiren lässt. Sie ist keine
passio, sondern allein unser eigen Werk; sie ist keine Wir-
kung des Gegenstands, denn ihr Gegenstand existirt nicht;
sie bewegt sich rein in Gedankendingen, und ist nur da-
durch möglich, dass sie sich auf nichts anderes bezieht.
Es ist also ein von der Wirklichkeit der Dinge ganz los-
gelöstes, nur seine eigenen Begriffe vergleichendes Denken.
•) p. 84. 86.
~ 70 —
Wie er nichtsdestoweniger eine solche Erkenntniss eine
wahre nennen kann, wenn er doch Wahrheit als Ueher-
einstimmnng einer Idee mit ihrem Gegenstand definirt —
diese Frage hat sich Spinoza hier gar nicht vorgelegt. Er
scheint diese Lücke später gesehen und in der Ethik ver-
sucht zu haben, auch einem Theil der AUgemeinbegrifFe, den
notiones communes und proprietates, eine reale Bedeutung
zu geben und die durch sie vermittelte Erkenntniss als
eine wahre nachzuweisen, indem er hervorhebt, dass alles
Reale in Einigem übereinkommt , das eben darum keines
einzelnen Dinges Wesen ausdrückt (Eth. II, 37. 39).
Schwierigkeiten anderer Art begegnen uns, wenn wir
fragen: wie sich die zweite Erkenntnissart zur Erkennt-
niss der wirklichen Dinge und ihres Wesens verhält ? Wir
wissen aus dem ersten Theile, dass Gott die Ursache aller
Dinge ist und dass ohne ihn kein Ding sein noch be-
griffen werden kann — fällt diese Erkenntniss ins Gebiet
der Ratio oder nicht?
Nach einer ausdrücklichen Antwort auf diese Frage
suchen wir vergeblich. Es wird zwar (p. 112) als zweite
Wirkung des wahren Glaubens aufgeführt, dass er uns zu
einer klaren Erkenntniss führe, vermöge der wir Gott lieben,
und dass er uns die Dinge, die ausser uns sind, im Ver-
stände gewahr werden lässt; aber es ist unklar, ob der
Glaube nur zu jener Erkenntniss hin, oder in sie hinein
führt ; und ebenso, ob zu den Dingen, die ausser uns sind,
auch Gott gehört oder nicht? Die Bedeutung der ratio
wird mit solcher Vorliebe in der Erkenntniss dessen ge-
sucht, was für den Menschen gut ist und ihn zur Vollkom-
menheit führt, dass ihre übrigen Functionen dabei mehr
vorausgesetzt als deutlich entwickelt werden.
Versuchen wir diesen Voraussetzungen nachzugehen:
so fragt sich zuerst: Was ist die Idee des vollkommenen
Menschen? Da alle übrigen menschlichen Thätigkeiten
durch die Erkenntniss bedingt sind, so muss der voUkom-
- ti -
menat6 Mensch derjenige sein, der die dritte Erkenntniss-
art besitzt; da femer diese dritte Erkenntnissart in einem
unmittelbaren Gennss ihrer Objecte, in einer inneren Ver-
einigung mit ihnen besteht^ so ist die Erkenn tniss um so
vollkommener, je vollkommener ihr Object* Der Mensch
ist also der vollkommenste, der mit dem vollkommensten
Objecto, Gott, geeinigt ist, und ihn so geniesst.
Ist es die ratio, welche diese Sätze aufstellt, so muss
sie also Gott als das vollkommenste Object erkennen; und
diese Erkenntniss , da sie auf einer Vergleichung Gottes
mit anderen Objecten beruht, eine Relation ausdrückt, fällt
auch ganz naturgemäss in ihr Gebiet. Demnach finden
wir auch überall vorausgesetzt, dass der wahre Glaube
Gott als das höchste Gut erkennt, oder vielmehr als
das einzige Gut, neben dem nichts Anderes gut ist. Diese
Erkenntniss ist aber identisch mit der andern, dass Gott
das Sein und Wesen aller Dinge und ihre erste Ursache
ist, von der sie schlechthin abhängig sind.
Wenn nemlich von Gott als dem höchsten Gut die
Bede ist, so wird das Wort gut scheinbar in anderem Sinne
gebraucht, als wo es sich von dem handelt, was für den
Menschen gut ist. Schon der erste Theil hatte im 7. Cap.
p. 76 erklärt: Wer unter dem Satze „Gott ist das höchste
Gut" etwas anderes versteht, als dass Gott unveränder-
lich ist, und eine Ursache aller Dinge, der ist in seinen
eigenen Begriffen verwirrt und versteht sich selbst nicht;
und dem ganz entsprechend ist der Massstab, an dem ge-
messen wird, ob etwas ein grösseres oder geringeres Gut
sei, die grössere oder geringere Essentia, die grössere oder
geringere Realität. Ein Ding ist um so grösser, herrlicher?
besser, vollkommener — die Ausdrücke sind für Spinoza
gleichbedeutend, — je mehr Realität es hat. Da wir nun
wissen, dass Gtott allein Wesen hat, und alle anderen Dinge
nur seine Modi sind, so folgt, dass wir Gott allein als gut
und als Inbegriff aller Yollkommenbeit betrachten müssen.
— 12 —
Damit ist also, wenn Gott das höchste Gut heisst, der
Begriff „gut" von der Beziehung auf den Menschen völlig
losgelöst. Gott ist das höchste Gut schlechthin; nicht für
den Menschen. Aber im Grunde geht aus dieser Bedeu-
tung doch hervor, dass er das höchste Gut auch für den
Menschen ist ; denn des Menschen Vollkommenheit besteht
in nichts Anderem, als in seiner Realität; und seine Realität
ist in dem Masse grösser, als das Object seiner Erkennt-
nisse mit dem er sich vereinigt, mehr Realität hat.
Insofern also ist Alles in Uebereinstimmung, die zweite
Erkenntnissart erkennt die verschiedenen Grade der Rea-
lität und vergleicht sie; und die Basis dieser Vergleichung
ist die Erkenntniss, dass Gott alle Realität in sich hat.
Soll nun aber ihr Charakter gewahrt werden, dass sie
uns die Dinge nicht in uns, sondern nur ausser uns zeigt,
so darf diese Erkenntniss Gottes eben nur in der Erkenntniss
seiner Relation zu uns, d. h. unserer totalen Abhängigkeit
von ihm bestehen. Diesen Gesichtspunkt hat offenbar
Spinoza im Auge, wenn er zusammenfassend im 18. Gap.
von dem Nutzen der Erkenntnisse spricht, die aus dem
wahren Glauben hervorgehen und hier voranstellt.
Erstens: daraus, dass wir von dem allervollkommen-
sten Wesen so abhängen, dass wir als ein Theil von dem
Ganzen, d. h. von ihm, das unsrige beitragen zur Hervor-
bringung so vieler geschickt geordneter und vollkommener
Werke als von ihm abhängen, daraus folgt, dass wir Die-
ner Gottes sind und dass es unsere grösste Vollkommen-
heit ist, es nothwendig zu sein.
Zweitens, dass wir nach Verrichtung eines vortreff-
lichen Werkes darüber nicht hoffärtig werden, sondern
alles, was wir thun, Gott zueignen als der ersten und ein-
zigen Ursache von allem was wir verrichten.
Haben wir nun aber so die Erkenntniss Gottes als
des höchsten Gutes und unserer totalen Abhängigkeit von
ihm der zweiten Erkenntnissart zugeschrieben ^ so erhebt
- 73 -
sich die Frage : Wie stimmt das zu der Behauptnng, dass
Gott nur nmnittelbar erkamit werden könne? Wenn es Sache
der zweiten Erkenntnissart ist, die Dinge nns so zu zeigen,
wie sie ausser dem Verstände sind, wie kann sie sich auf
Gott beziehen, der in uns, von Natur mit uns geeinigt ist?
Wenn sie mittelbar, durch Schlüsse erkennt, wie kann sie
Gott erkennen, der nur durch sich selbst, und durch nichts
anderes erkennbar ist? Ist es überhaupt möglich 5 ohne
und abgesehen von der unmittelbaren Erkenntniss Gottes,
die der dritten Stufe angehört, etwas von Gott zu wissen?
Stellen wir, um diese Frage zu entscheiden, zusam-
men, was Spinoza über diese dritte Erkenntniss art
sagt. Sie beruht nicht auf einer Ueberzeugung durch Gründe,
sondern auf dem Gefühl und Genuss der Sache selbst'*').
Sie ist ebenso unmittelbar wie die sinnliche Erkenntniss **),
eine Anschauung des Objects, nicht durch etwas anderes,
sondern durch das Object selbst***), durch die unmittelbare
Offenbarung des Objects an den Verstand; sie hat ihr Object
in sich, nicht ausser sich****). Wenn nach diesen allge-
meinen Bestimmungen es scheint, als könnten Objecto aller
Art durch diese dritte Erkenntnissart erkannt werden, so
wird sie im Verlauf doch nur auf Gott bezogen und p. 204
geradezu gesagt : Die dritte f) Erkenntnissart ist die Er-
kenntniss Gottes. E& liegt nun im Wesen Gtottes, dass er
nur so, und nicht aus einem Andern erkannt werden kann.
Er ist der Grund aller Erkenntniss; er wird nur durch sich
selbst erkannt ; und wir sind von Natur so mit ihm yer-
einigt, dass wir ohne ihn nicht sein noch bestehen können.
*) p. 100.
*•) p. 200. 202.
**♦) p. 98. 100.
••*•) p. 112.
t) Spinoza nennt sie hän£g als die vierte, mdem er den Wahn in
zwei Stufen, Erkenntniss durch Hörensagen und durch Erfahrung,
Bählt Wir setzen der Gleiohmäsaigkeit wegen immer „drittens wie
die Ethik.
— 74 -
Jede Vermittlung durch Worte und Zeichen ist unmög-
lich *). Die dritte Erkenntniss ist eine unmittelbare Ver-
einigung mit Gott**).
Diese Behauptungen sind so entschieden, sie sind zu-
gleich so vollkommen im Begriffe Gottes und in der ganzen
Lehre von der Erkenntniss gegründet, dass nicht abzu-
sehen ist, wie eine Erkenntniss Gottes anders als durch
Intuition möglich sein soll ; wie im Gebiete der zweiten
Erkenütnissart überhaupt von einer Erkenntniss Gottes
die Rede sein kann. Spinoza äussert sich im Tractat nir-
gends über diesen Widerspruch. Er setzt im Grunde för
den wahren Glauben die Erkenntniss Gottes immer schon
voraus, wie er sie auch im Begriffe des vollkommenen
Menschen anticipirt hat. Und doch stellt er andererseits
wieder den wahren Glauben als Vorstufe zur dritten Er-
kenntniss hin. Er ist wie eine Treppe, über welche wir
zu dem angestrebten Platze emporklimmen, oder wie ein
guter Geist, der uns sonder Falschheit und Betrug von dem
höchsten Gute Botschaft bringt, um uns dadurch zu reizen,
dass wir es selbst suchen und uns damit vereinigen***).
Und andererseits kommt ihm auch wieder in die dritte Er-
kenntnissart eine Spur einer Vermittlung herein. Wo er
sie näher zu erklären unternimmt (p. 204 und 206), da
kommt er darauf zurück, dass die Seele des Mensche
die Idee des Körpers ist. Das erste Object ihrer Erkennt-
niss ist also der Körper. „Weil nun aber keine Idee
Buhe finden kann in der Erkenntniss des Leibes, son-
dern weil sie übergeht zu der Erkenntniss dessen, ohne
welchen der Leib und seine Idee selbst weder bestehen
noch verstanden werden können, so wird sie dann, wenn
*) p. 216. 218.
**) p. 230.
***) p. 224. Vgi 114: vera fides aolummodo propterea bona,
guod Sit via ad claram oognitionem nosgue excitet ad res qua»
vere amabiles sunt.
— 75 —
gie ihn erkannt hat, alsbald durch Liebe noch mehr mit
ihm vereinigt". Die dritte Erkenntnissart ist also darge-
stellt als die Selbsterkenntniss der Seele in ihrem wahren
Wesen; aber diese Selbsterkenntniss entsteht nicht dnrch
OflFenbamng Gottes, sondern durch ein Fortschreiten zu
ihrem Grunde.
Dasselbe Schwanken verräth sich, wenn p. 176 die
Glückseligkeit des Menschen schon als Wirkung der zwei-
ten Erkenntnissart, p. 224 aber erst als Wirkung der dritten
Erkenntnissart hingestellt wird.
Wir werden uns diese Widersprüche erklären, wenn
wir bedenken, dass es sich für Spinoza durchaus um die
ethische Bedeutung der verschiedenen Erkenntnissstufen,
um die Willensrichtungen handelt, die daraus hervorgehen.
Das Gebiet der zweiten Erkenntnissart verengt sich für sein
Denken immer zu der Untersuchung, welche unter unsem
Zuständen gut, welche schlecht sind ; welche uns zur Glück-
seligkeit führen, welche nicht. Nur für diesen Zweck hat
er die Unterscheidung der drei Erkenntnissarten eingeführt;
die metaphysische Erkenntniss Gottes hat er entwickelt,
ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, und sie steht ihm so
zu sagen über diesen Unterschieden. Dies hat ihn gehin-
dert, sich über das Verhältniss der zweiten Erkenntnissart
zur Gotteserkenntniss klare Rechenschaft zu geben.
Aber er hat diese Lücke selbst eingesehen, und im
weiteren Verlauf seines Denkens ausgefüllt. Denn die
Ethik versucht U, 40 Schol. 2, und in den darauf sich
beziehenden Sätzen (II, 41 — 47, V, 4. 6 flf.) die zweite
und dritte Erkenntnissart ganz allgemein in Beziehung auf
alle Dinge auseinanderzuhalten, indem sie der zweiten die
notiones communes und proprietates zuweist, die dritte
aber in der Erkenntniss der Dinge aus ihrer Ursache sucht.
Es ist dabei freilich aus dem Schol. zu Prop. 47 nicht
klar, ob Sp. die Erkenntniss Gottes, die nach Prop. 46 in
der Erkenntniss jedes einzelnen Dings eingesohlosseD/ iai,
— 76 —
noch zur zweiten oder schon zur dritten Erkenntnissart
rechnet, da er als das Wesen der dritten Erkenntnissart
nicht, wie der Tractat, die unmittelbare Erkenntniss Gottes
hinstellt, sondern sie so beschreibt, dass sie von der adäquar
ten Idee der formellen Essenz einiger göttlichen Attribute
fortschreite zur adäquaten Erkenntniss des Wesens
der Dinge. Wenn das Schol. zu Prop. 47 darauf hinweist,
dass die dritte Erkenntnissart durch Deduction aus dem
allen bekannten Wesen Gottes gebildet werde, so führt
dies darauf, dass die Idee Gottes und seiner Attribute beiden
Erkenntnissarten gemeinsam, und der Punkt ist, an dem die
von dem Einzelnen zu der darin mitgedachten Idee Gottes
aufsteigende analytische Richtung in die synthetische über-
geht. Damit hängt es wesentlich zusammen, dass in der
Ethik die dritte Erkenntnissart ebenso wie die zweite auf
die Dinge bezogen wird. Alle jene Unterscheidungen
aber, durch welche die Ratio herab-, die intuitive Erkennt-
niss hinaufgesetzt wird, sind gefallen ; die ratio geht ganz
Yon selbst in die höhere Erkenntnissart über.
2. Die Modi des Denkens, welche aus den ver-
schiedenen Erkenntnissarten folgen.
Auch bei diesem Gegenstande vermissen wir eine klare
Abgrenzung der Hauptbegriffe. Die oben schon angege-
bene vorläufige Eintheilung des zweiten Gapitels lässt aus
dem Wahne die Passionen, die mit der Vernunft streiten,
aus dem wahren Glauben die guten Bestrebungen, aus der
intuitiven Erkenntniss die wahre Liebe hervorgehen. Aber
die nähere Art und Weise dieses Hervorgehens wird nicht
fiir die Pässionen überhaupt beschrieben, deren Begriff zu-
dem nirgends genau bestimmt ist, sondern nur fttr die
Liebe und das damit verwandte Begehren; die Mehrzahl
der Passionen wird empirisch als vorhanden aufgezählt,
als Material fttr die Beurtheilung der ratio, ob sie gut sind
— 77 "—
oder nicht; nur die Liebe in ihren verschiedenen Formen
erfährt eine Art von Deduction aus dem Wesen des Men-
schen. Sichtlich sind auch hier wieder unterscheidbare
Ausgangspunkte vorhanden ; einerseits eine detaillirte Lehre
von den Fassionen; andererseits eine Theorie, nach wel-
cher die Liebe, welche dort nur als eine Passion neben
anderen erscheint, vielmehr das universale, dem Erkennen
gleichstehende, wenn auch von ihm abhängige Princip der
ganzen ethischen Seite des Lebens ist. Aus der Durch-
kreuzung dieser beiden Betrachtungsweisen ergeben sich
die Ungleichheiten dieses Abschnitts.
lieber Einen Grundsatz ist sich jedoch Spinoza voll-
kommen klar: dass die Erkenntniss die einzige Voraus-
setzung aller übrigen Erscheinungen der Seele ist. Es ist
schlechterdings unmöglich, dass Jemand, ohne in einer der
verschiedenen Erkenntnissarten zu erkennen, d. h. ohne
Vorstellung eines Objects, zu irgend einer Liebe, Begierde,
oder andern Art von Wollen bewogen werden könnte*).
Er weist also insbesondere diejenige Theorie ab, welche
die Passionen direct aus dem Körper entstehen lässt. Der
Körper mit seiner Bewegung und Ruhe wirkt direct nichts
als die Idee, welche ihn zum Object hat; und erst aus
dieser folgen Liebe und Hass, Traurigkeit und Freude; der
Art der Erkenntniss gemäss werden in der Seele die Pas-
sionen hervorgebracht **). Damit erklärt sich Spinoza gegen
die cartesianische Theorie , welche (De pass. I^ 27) die
passiones definirt als commotiones animae, quae ad eam
speciatim refer'untur quaeque producuntur^ conservantur et cor*
roborantur per oLlquem motum spirituum.
Wir können das Detail der einzelnen Passionen, die
Spinoza rein als gegebene Zustände nacheinander aufzählt
und definirt, um so mehr übergehen, als ihr Ursprung aus
der Erkenntniss im Einzelnen sehr schwankend behandelt
*; p. 102. 186.
•*) p. 180 — 192.
^ T8 -
wird. Von einzetaen, wie z. B. dem Staunen f Fiarwon-
deringj wird gezeigt, daas sie nur aus dem Wahne hervor-
gehen können*); andere, wie z.B. Begehren, können aus
dem Wahne hervorgehen, ebensogut aber aus der wahren
Erkenntniss; während die Definition des edeln Stolzes**)
und der Demuth voraussetzt, dass sie auf wahrer Erkennt-
niss beruhen; denn der Stolz ist in dem, der seine eigene
Vollkommenheit nach ihrem wahren Werthe erkennt; die
Demuth in dem, der seine UnvoUkommenheit erkennt So
wenig ist die Genesis der Passionen in eine bestimmte Be-
ziehung zu der Unterscheidung der Erkenntnissarten ge-
setzt.
Eine genauere Untersuchung verlangt der Begriff der
Liebe und des Begehrens; denn für die Psychologie
und Ethik des Tractates im Unterschiede von der späteren
Lehre ist nichts chararakteristischer, als die hohe Bedeu-
tung, welche der Liebe zukommt.
Die Liebe ist Vereinigung mit einem Objecto, das
wir als gut erkennen, und zwar eine solche Vereinigung,
durch welche die Liebe und ihr Gegenstand Eins und das-
selbe werden, zusammen Ein Ganzes ausmachen***). Es
liegt in unserer Natur, dass wir irgend etwas lieben
müssen. Wegen der Schwäche unserer Natur könnten wir
nicht bestehen, ohne irgend etwas zu geniessen, womit
wir vereinigt und wodurch wir verstärkt werden****).
Sie gehört also zu unserem Wesen. Sie ist die Grundlage
alles Guten und Bösen, je nach dem Gegenstand, auf den
sie fällt t).
♦) p. 102.
**) p. 132. Das Holländische hat Edelmoedigheid ; offenbar eine
missverständliche Uebersetzung des lateinischen Generositas, das
Cartesius De pass. UI, 152 im Sinne von Ehrgefühl braucht.
***) p. 104. 116. 118. 120.
****) p. 118.
t) p. 152.
— 7Si -
Auf welchen Gegenstand sie feilt, ist von der Er-
kenntniss abhängig. Wir lieben nothwendig, was wir als
gut erkennen. Das ürtheil, dass etwas gut sei, ist Sache
des Willens, und wie oben bewiesen wurde, eine nothwen-
dige Wirkung des Objects; darum auch die Liebe noth-
wendig. Wenn wir ein Objeet lieben, und ein anderes
kennen lernen, das besser ist als das erste, so geht die
Liebe mit Nothwendigkeit auf dieses über; je grösser und
h^rrlioher das Objeet, desto grösser auch die Liebe. Von
4er Liebe unterscheidet sich das Begehren nur dadurdi,
dass es seinen Gegenstand ausser sich hat. Es ist die
sich nach aussen streckende Lust, oder das Streben, das-
jenige was wir entbehren zu erhalten*). Es setzt ebenso
wie die Liebe das ürtheil voraus, dass etwas gut sei, also
einen Act des Willens**), und geht aus dem Willensacte
ebenso nothwendig hervor, wie die Liebe. Während aber
diese aus dem Wahne und der dritten Erkenntnissart ent-
springt, geht das Begehren aus dem Wahne und der zweiten
Erkenntnissart hervor. Der Wahn zeigt uns nemlich die
Dinge theils ausser uns theils in uns ; die zweite Erkeimt-
nissart nur ausser uns ; die dritte nur in uns. In der Aus-
führung tritt übrigens das Begehren ganz hinter der Liebe
zurück.
Von der Liebe hängt ab, was der Mensch ist; seine
Vollkommenheit oder UnvoUkommenheit, sein Elend oder
seine Seligkeit. So lange wir zur wahren Erkenntniss nicht
gekommen sind, wird sich unsere Liebe auf vergängliche
Dinge richten; daraus entsteht Hass gegen den, der uns
den geliebten Gegenstand nimmt, Traurigkeit, wenn er sich
verändert, und alle möglichen Passionen: ein elender 2!u-
stand, denn wie können wir gewinnen, wenn wir mit ver-
gänglichen Dingen Eins werden, die allem möglichen Lei-
den unterworfen sind, das uns selbst mit betrifft?***).
•) p. 106. 160.
**) p. 130. 160.
**♦) p. 120. Vgl. De intell. emend. p, 416.
- 8a —
Wenn wir aber die wahre Erkenntniss haben , dass Gott
allein Wesen hat, dass Gott das höchste Gut ist, so ent-
steht aus der Liebe Gottes die höchste, unveränderliche
Seligkeit, und alle Passionen verschwinden, denn Gott ver-
ändert sich nicht und kann nicht verloren werden; in ihm
ruht unsere Liebe, wir werden darin mit ihm eins und
selbst vollkommen. Da ihr Object unendlich ist, ist sie
unendlicher Steigerung fähig'*').
Die Wirkungen dieser Liebe beschreibt Spinoza näher
als Wiedergeburt, Unsterblichkeit und Frei-
heit.
Zuerst als Wiedergeburt. Wie aus der Vereini-
gung unserer Seele mit dem Körper, aus der durch ihn
gegebenen Eenntniss der körperlichen Dinge und den da-
durch hervorgerufenen Passionen alle die Wirkungen ent-
stehen, die wir fortwährend durch die Bewegung der Le-
bensgeister in uns gewahr werden: so entstehen, wenn
einmal unsere Erkenntniss und Liebe auf dasjenige ge-
fallen ist, ohne welches wir weder bestehen noch begriffen
werden können, und das keineswegs körperlich ist,
auch Wirkungen in uns aus solcher Vereinigung, die un-
vergleichlich grösser und herrlicher sind^ da die Wirkungen
nothwendig nach der Natur dessen sich richten, womit wir
vereinigt sind. Wenn wir solche vortreffliche Wirkungen
in uns gewahr werden, können wir mit Wahrheit sagen,
dass wir wiedergeboren sind; denn unsere erste Ge-
burt war, da wir uns mit dem Leibe vereinigten, woraus
die genannten Wirkungen und Bewegungen der Geister
entstanden sind; aber diese unsere zweite Geburt ist, wenn
wir ganz andere Wirkungen der Liebe in uns gewahr wer-
den, die der Erkenntniss des unkörperlichen Gegenstandes
gemäss sind, und die soviel von den ersten verschieden
sind, als der Unterschied von körperlich und unkörperlich,
von Geist und Fleisch beträgt Um so mehr mag dies
*) p. iw.
— 81 —
eine Wiedergeburt genannt werden , weil aus dieser Liebe
und Vereinigung erst eine ewige und unveränderliche Be-
ständigkeit folgt*).
Die zweite Wirkung der Gottesliebe ist nemlicb die
Unsterblichkeit (Onsterffelyhheid) der Seele. So lange
die Seele nur mit dem Leibe vereinigt ist, und als Idee
des Leibes nur diesen erkennt und liebt, entspricht die
Veränderung und Dauer der Seele der Veränderung und
Dauer des Leibes; sie vergeht, wenn der Leib vergeht.
Wenn sie aber mit Gott, ohne den sie nicht sein noch be-
griffen werden kann, vereinigt ist, so muss sie mit ihm
unveränderlich und beständig bleiben**). Eö kann kein
Zweifel sein, dass Spinoza mit diesen Worten eine Un-
sterblichkeit der Seele im gewöhnlichen Sinne lehren will.
Nicht nur setzt er der endlichen Dauer des Leibes eine
onendliche Dauer gegenüber (eeuwigduurmdheid) ; die
ganze Unterscheidung der Ethik zwischen Ewigkeit und
unendlicher Dauer ist dem Tractate noch fremd. Er be-
gründet die Ewigkeit der Seele nicht darauf, dass ihr
Körper im göttlichen Verstände sub aetemitatis specie ge-
dacht werde, er vergisst, so zu sagen, dass er sie zur
Idee des Körpers gemacht hat; wie er Gott als rein gei-
stiges Wesen dem Körper gegenüberstellt, so löst er auch
die Seele vom Körper los und betrachtet die Idee Gottes
*) p. 206. 208.
**) p. 208. 210. vgl. 154. Im ZusammenhaDg mit diesem letz-
teren Gedanken widerlegt Spinoza im 25. Cap. die Möglichkeit des
Teufek». Ist der Teufel ein Wesen, das Gott vollkommen entgegen-
gesetzt ist und von Gott nichts in sich hat, so ist er identisch mit dem
Nichts. Ist er ein denkendes Wesen, das nichts Gutes will noch thut,
und sich ganz gegen Gott wendet, so kann er ebenso keinen Moment
existiren; ^denn aus der Vollkommenheit eines Dings folgt seine
Dauer; je mehr Eealität, d. h. Göttlichkeit ein Ding ia sich hat,
desto beständiger ist es. Für ein denkendes Wesen besteht das
Mass seiner Realität in dem Masse seiner Liebe und Vereinigung
mit Gott. Da im Teufel davon gerade das Gegentheü stattfindet,
80 hat er keine Realität und kann also nicht bestehen.
Sigirait, SpinoM's Inctat. 6
als ihren einzigen Inhalt. Indem er femer p. 154 die
Liebe €k>ttes einer Steigemng ins Unendliche fähig sein
lässt, weist er ausdrücklich auf einen in der Zeit sich voll-
ziehenden Process hin. So ist auch der Gegensatz, den
er dem ewigen Leben gegenüberstellt, ausdrücklich der
zeitliche Genuss des höchsten Gutes. Selbst wenn wir
nur diesen hätten, müssten wir doch Gott als das höchste
Gut erkennen, und die Liebe zu ihm ftlr unsere höchste
Seligkeit; es ist eine' grosse Ungereimtheit, wenn Viele,
die für grosse Theologen gelten, behaupten, wenn der Er-
kenntniss Gottes kein ewiges Leben folgte, würde man
seiner sinnlichen Wollust und weltlichem Vergnügen naeh-
trachten *).
Die letzte Wirkung der Gottesliebe ist endlich die
Freiheit. Was ist Freiheit? Frei ist, was den Grund
seiner Wirkungen in ^ioh selbst, nicht ausser sich hat.
Je mehr ein Ding Essenz hat, desto mehr Activität und
desto weniger Passivität hat es; desto weniger wird es
also von äusseren Ursachen bestimmt, desto mehr von sich
selbst. Darum ist Gott als die immanente Ursache von
Allem zugleich die allerfreieste Ursache. Was aus einer
freien Ursache hervorgeht, dauert so lange seine Ursache
dauert, und kann nicht von aussenher gestört werden; es
bildet mit seiner Ursache Ein Ganzes, ist durch sie und
wird durch sie begriffen.
Ist Gott die absolut freie Ursache, weil er alle Eea-
lität ist, so ist jedes Ding um so freier, je mehr Bealität
es hat, je enger es also mit Gott vereinigt ist, je weniger
es von äusseren Ursachen abhängt. Der wahre Verstand
hängt von keinen äusseren Ursachen ab; er ist unmittelbar
von Gott als seiner ewigen und unveränderlichen Ursache
hervorgebracht; er ist unvergänglich, und verhält sich zu
seinen Wirkungen selbst als immanente Ursache, die mit
ihren Wirkungen Ein Ganzes bildet, und selbst ewig ist.
*) p. 222. 224.
~ BS —
Je yollkommener die Werke sind, die wir ausser uns
selbst wirken (d. h. je mehr nur yon uns selbst und je
weniger yon aussen abhängig), desto mehr ist es möglich,
dass auch sie mit uns sich vereinigen und Eine und die-
selbe Natur mit uns ausmachen. In dieser Weise gesehieht
es, dass, wenn ich durch meine Vereinigung mit Gott in
mir wahre Ideen hervorbringe, und dieselben meinen Näch-
sten bekannt mache, damit dieselben mit mir zugleich des
Heils theilhaftig werden, dann hiedurch in ihnen ein gleiches
Begehren wie in mir entsteht, dass ihr Wille derselbe mit
dem meinigen ist, und wir so eine einige Natur aus-
oiachen, die in Allem tlbereinkommt.
So schliesst also Spinoza, indem er unsere Freiheit
definirt als den festen Bestand, den unser Verstand durch
seine unmittelbare Vereinigung mit Gott gewinnt, um in
sich Ideen und ausser sich Werke hervorzubringen, die mit
seiner Natur tibereinstimmen, ohne irgend einer äusseren
Ursache unterworfen und durch sie veränderbar oder ver-
wechselbar zu sein*).
So erscheint also die wahre Erkenntniss als unmittel-
bare Wirkung Gottes in uns, als immanentes Thun des gött-
lichen Denkens in uns, das ganze System unserer Gedan-
ken als göttliche Activität. Wie sich freilich diese Auf-
fassung mit dem Satze vereinigen lasse, dass alles Er-
kennen blosse passio, blosse Wirkung des Objects sei, hat
Spinoza so wenig untersucht, als wie dieselbe zu der ün-
sterblichkeitslehre in dem eben vorgetragenen Sinne sich
verhalte. Ist der menschliche Verstand eine unmittelbare,
von keinen andern Ursachen abhängige Wirkung Gottes, so
ist er nothwendig in demselben Sinne ewig, wie Gott ewig
ist. Wir erkennen aber in diesen letzten Sätzen, mit denen
Spinoza den Tractat schliesst und die in ihrem ganzen
Tone merklich von den unmittelbar vorangehenden ab-
stechen, die Grundlage der späteren Ausführung der Ethik.
*) p. 224—230.
6*
— 84 —
Noch ist eine Frage zu beantworten, die sich Spinoza
im Znsammenhange mit der Lehre von der Liebe Gottes
stellt Gibt es, fragt er p.210, anch eine Liebe Gottes
zn nns? Er antwortet mit Nein. Wir können Gott keine
Weisen des Denkens zuschreiben ausser denen, welche in
den Greaturen sind, also auch nicht sagen, dass Gott die
Menschen liebe; am allerwenigsten so, dass er sie liebe,
wenn sie ihn lieben, und hasse, wenn sie ihn hassen; denn
dies würde einerseits voraussetzen, dass die Menschen frei
und andererseits, dass Gott von einer äusseren Ursache
abhängig und veränderlich wäre. Wenn wir aber sagen,
dass Gott die Menschen nicht liebt, so ist das nicht so zu
verstehen, als ob er die Menschen (so zu sagen) allein
laufen liesse, sondern weil die Menschen mit Allem, was
da ist, zusammen so in Gott sind, dass Gott aus ihnen
allen besteht, so muss er so begriffen werden, dass in ihm
keine eigentliche Liebe zu etwas Anderem Statt haben
kann, weil es ftlr ihn kein Anderes gibt. Daraus folgt
weiter, dass Gott weder andere Gesetze den Menschen ge-
geben hat, als die Naturgesetze, welche sie nicht über-
treten können, noch sich irgendwie äusserlich geoffenbart
hat. Jede äussere Offenbarung setzt die innere schon vor-
aus. Es sind die Grundgedanken des theologisch -politi-
schen Tractats, die hier kurz angedeutet werden.
3. Der ethische Prooess, die Veihiclrklichung
des höchsten Guts im Menschen. .
Wir haben bisher die verschiedenen Stufen derErkennt-
niss und die aus ihnen hervorgehenden Wirkungen im Zur
sammenhange dargestellt Aber es ist in beschreibender
Weise geschehen; die ethische Betrachtungsweise, welche
die verschiedenen Stufen menschlicher Thätigkeit darauf
ansieht, ob sie ihn zur Vollkommenheit fahren oder nicht,
ist zwar als Aufgabe der Batio erkannt worden; aber wir
haben das Ganze noch nicht unter diesen Gesichtspunkt
— 85 ~
gefltcUt, wir haben die Frage, um deren Beantwortung es
Spinoza vor Allem zu thun ist: Wie kommt der Mensch
zum höchsten Gute, und was hat er zu thun, damit er es
erreiche, nicht beantwortet. Es ist unsere Aufgabe, dies
nachzuholen, die menschlichen Thätigkeiten aus dem Ge-
sichtspunkte des Zwecks zu betrachten, der erreicht wer-
den soll
Als diesen Zweck, als das Ideal des vollkommenen
Menschen haben wir die Vereinigung mit Gott, als dem
vollkommensten Wesen erkannt« Der Ausgangspunkt, das
Gegebene, sind die passiones. Welche derselben führen
diesem Ziele zu, welche davon ab? welche sind gut, welche
nicht? So stellt sich zunächst die Frage, welche die Batio
zu beantworten hat
Demgemäss sollen Gap. 5 und ff. alle passiones nach
diesem Gesichtspunkte beurtheüt werden. Aber dieser Ge-
sichtspunkt der Vereinigung mit Gott in der Liebe wird
nur Anfangs festgehalten ; und bald treten andere, viel ab-
stractere und allgemeinere neben ihn, nemlich bald der,
ob die passiones mit der Vernunft übereinstimmen, und in
dem ihre Stelle finden können, der seinen Verstand recht
gebraucht, bald der, ob die passiones den Menschen
schwächen oder stärken, ihn in seinem Sein vorwärts oder
rückwärts bringen, dasselbe vermehren oder vermindern.
Das natürliche ^ Streben geht immer auf Steigerung und
Stärkung des eigenen Seins; und nur was in dieser Rich-
tung liegt, ist gut.
Allerdings sind diese verschiedenen Fassungen nicht im
Widerspruch mit einander. Denn die Bedeutung der Erkennt-
niss und Liebe Gottes für den Menschen ist doch vor Allem
die, dass er einerseits das Princip aller wahren Erkenntniss
aufnimmt, andererseits vollkommen, weil der Vollkommen-
heit Gottes theilhaftig wird, seine Realität, seine Existenz-
kraft dadurch steigert, unsterblich und frei wird. Dasselbe
Ziel also, das formell als Erhaltung und Erhöhung des eigenen
— 86 —
Seins erscheint, ist bestimmter nnd inhaltsvoller gedacht
die Erkenntniss nnd Liebe Gottes. Und so kann am Ende
neben der Liebe Gottes als ethischem Princip das andere
erscheinen, den eigenen Nutzen zu suchen, wie es unsere
Natur mit sich bringt*). Unser wahrer Nutzen ist ja kein
anderer, als Gott zu lieben und nach den Regeln der Ver-
nunft zu leben. Nur ist es fElr den Standpunkt des Tractats
charakteristisch, dass die Liebe Gottes voransteht, und erst
hernach mit ihr zuerst das vernünftige Leben und dann
die natürliche Selbsterhaltung identificirt wird.
Von diesen Gesichtspunkten aus erscheinen nun die
meisten passiones als malae. Der Hass kann nicht bestehen ;
er setzt die Liebe zu einem Gut voraus, das beschädfgt
werden kann; wer aber Gott liebt, liebt nichts, was Scha-
den leiden mag, und hält alles Andere für die Elendigkeit
selber; um dessen willen vermag also kein Hass in ihm
zu entstehen**). Oder von anderem Gesichtspunkte aus:
Aus Hass und Abscheu entsteht Traurigkeit, weil wir uns
damit eines Dinges, das Realität hat, berauben, ebenso wie
wir durch die Liebe unser Dasein verstärken und erhöhen
durch Einigung mit dem geliebten Gegenstand***). Hass
und Abscheu schwächen uns also, sind dem allgemeinen
Streben nach Erhaltung des eigenen und alles anderen
Seins zuwider, also passiones malae****). Dasselbe gilt
*) p. 224.
**) p. 106.
***) In diesem Zusammenbang erscheint auch der Mensch als
ein Gut für den Menschen. Es ist unser Interesse, dass nicht bloss
wir selbst, sondern Alles, wozu wir in Beziehung stehen, besser und
ToUkommener werde. Da nun unter den uns gegenwärtigen Dingen
ein Tollkommener Mensch das allerbeste für uns ist, so ist es für
uns und für alle Menschen das Beste, dass wir sie zu allen Zeiten,
zu dieser Vollkommenheit zu leiten trachten ; denn dann können wir
von ihnen und sie von uns die beste Frucht haben. Dieser später
ih der Ethik ausgeführte Gedanke wird hier nicht weiter verwerthet,
und nur noch einmal p. 22S berührt.
♦*♦*) p. 126. 128.
— 87 —
von der Traurigkeit, von der Bene als einer Art der
Traurigkeit u. s. f.
Was fibrig bleibt und von der ratio als gut erkannt
wird, sind zuerst die passiones, die auf richtiger Erkennt-
niss unserer selbst beruhen, wie Stolz und Demuth, denn
sie sind die Voraussetzungen unseres Fortsehrittes zur Voll-
konunenheit; vor Allem aber die Liebe mit der. daraus
folgenden Freude, weil sie unser Dasein erhöht und uns,
auf Gott gerichtet, in den Besitz des höchsten Gutes selbst
setzt.
Wer also vermöge der ratio die richtige Erkenntniss
des Guten und Bösen hat, der weiss, dass er jene Leiden-
schaften alle vermeiden und in sich ertödten solL
Aber diese Erkenntniss hat nicht die Kraft»
uns wirklich von den schlechten Leidenschaf-
ten zu befreien.
Allerdings, wer von Anfang und immer sdnen Ver-
stand recht gebraucht und in der wahren Erkenntniss
gelebt hätte, der könnte unmöglich in diesen Sumpf ver-
fallen. Allein wir haben die Leidenschaften; jenes ver-
ntlnftige Leben ist ein Ideal, dem wir nicht entsprechen;
und die blosse Erkenntnisse dass wir ihm nicht entspre-
chen, hebt die Leidenschaften nicht auf Es geschieht zu-
weilen, dass wir sehen, dass eine Sache gut oder böse ist,
aber die Kraft nicht in uns finden, das Gute zu thun und
das Böse zu lassen. Woher dies? Einzig aus dem Ver-
hältniss der ratio zu den Leidenschaften selbst Die Lei-
denschaften entspringen theils aus Hörensagen, theils aus
eigener Erfahrung. Bei denen, die aus eigener Erfahrung
entspringen, haben wir den Gegenstand derselben unmit-
telbar vor uns, und so wirkt er mit einer Macht, die durch
die blosse Ueberzeugung auf Gründe hin nicht aufgehoben
werden kann. Die unmittelbare Wirkung ist stärker ah
die mittelbare*).
*) p. 200. 202 und Zusatz/
— 88 —
So folgt deim, dass nur wieder durch eine nnmittel-
bare Wirkung die Leidenschaften vemichtet werden können,
durch ein Object, das uns ebenso unmittelbar gegenwärtig
ist, als die Objecte der sinnlichen Erfahrung. Dies ist aber
nur möglich innerhalb der dritten Erkenntnissart. Nur die
Liebe Gottes, die aus seiner unmittelbaren Offenbarung an
uns koibmt, hebt die Leidenschaften auf; sie hebt sie aber
nothwendig auf. Wenn also verlangt wird, dass die Lei-
denschaften unterdrückt werden, damit man zur Erkenntniss
und Liebe Gottes gelangen könne, so heisst das ebensoviel,
als wenn man verlangte, ein Unwissender solle erst seine
Unwissenheit ablegen, ehe er zur Erkenntniss koomie;
denn nur die wahre Erkenntniss ist es, durch welche sie
vemiclhtet werden.
Sollte dieses Verhältniss von Wahn, wahrem Glauben
und intuitiver Erkenntniss Gottes nicht dasselbe sein, wor-
über Einige unter anderem Namen so viel geschrieben
haben? Wer sieht nicht, wie passend wir unter dem
Wahne die Sünde, unter dem Glauben das Gesetz, das die
Sün^e zeigt, unter der wahren Erkenntniss die Gnade,
die uns von Sünden frei macht, verstehen können*)? Durch
diese theologische Parallele hat Spinoza treffend und kurz
die Ethik des Tractats charakterisirt Wir begreifen hier-
aus am besten, wie er den wahren Glauben immer nur
als Vorstufe, als Weg zum wahren Heil bezeichnen muss.
Vergleichen wir nun den Boden, auf dem Spinoza hier
steht, mit dem Gebäude, das er später aufführte, so zeigt sich
auf allen Punkten die eindringende Umbildung, welcher er
seine Begriffe unterworfen hat. Zunächst erscheint die Lehre
vom Menschen in der Ethik als eine directe Portsetzung der
Lehre von Gott und seinen Modis. Das Verhältniss von
Leib und Seele ist unmittelbar angeknüpft an die Lehre
von den beiden Attributen. In gleich consequentem Fort-
schritt erörtert er eingehend das Wesen der sinnlichen Er-
*) p. 180.;Zußatz.
-- 89 —
kenntn^s, über welche der Tractat nur sehr allgemeine
und nnbestimmte Sätze aufgestellt hatte ; er bestimmt nach
einer Seite das Wesen der Erkenntniss des eigenen Kör-
pers, er fahrt nach der andern die Andeutung aus, mit der
der Schluss des Anhangs auf die reflectirte Idee hingewiesen
hatte. Die Unterscheidung der drei Erkenntnissarten läöst
er zwar in der Hauptsache stehen; aber auch hier vervoll-
ständigt und verdeutlicht er seine Lehre. Im Gebiete des
Wahns wird die Erkenntniss aus Hörensagen zu der umfas-'
senderen Erkenntniss aus Zeichen erweitert, die Erfahrung
bestimmter als experientia vaga auf einzielne dnnliche Wahr-
nehmungen bezogen. Wie er die Lehre von der zweiten und
dritten Erkenntnissart umgebildet hat, ist schon hervorge-
hoben. Während der Tractat die Lehre von Wahrheit und
Falschheit der Ideen nur gelegentlich zwischen einschob,,
geht sie hier als Untersuchung der Bedingungen adäquater
Ideen voran. In Beziehung auf die Gotteserkenntniss ist
das Schwanken des Tractates zwischen einer adäquaten.
Erkenntniss (p, 78) und einer solchen, die nicht vollkom-
vmener ist als die des Körpers, beseitigt, der Sinn, in dem.
wir Gott erkennen, genau bestimmt. Das Verhältniss von,
Verstand und Willen ist ins Klare gebracht.
Noch tiefer eindringend ist die Umbildung, welche die
Lehre von den Passionen, oder wie er sie jetzt, um den
Ausdruck passio nur in seinem engeren Sinne brauchen zu
können, nennt, Affecten, nach jeder Hinsicht erfahren
hat. Was wir im Tractate vermissten, eine allgemeine
Definition der Passion und eine Ableitung der einzelnen
Passionen, das ist mit der pünktlichsten Genauigkeit ge-
leistet; und als hätte Spinoza einen Hauptfehler seines
Tractates, den Widerspruch, in den er durch die Behaup-
tung gerieth, dass das Erkennen blosse passio sei, recht
auffallend gut machen wollen, stellt er gleich am Eingange
des dritten Buches den Unterschied zwischen actio und
passio aiif, um ihn von nun an ganz consequent zu hand-
haben. Indem er zugleich das Streben der Selbsterhaltung
— 90 —
zur Basis der ganzen Lehre macht, gewinnt er yon yora
herein einen Gresichtspnnkt, für den ihm die Unterscheidung
derjenigen Affecte, die gut^ und derjenigen, die schlecht
sindy aus ihrer Definition selbst sich ergeben kann ; denn
gut ist, was ans der actio, schlecht, was ans der passio
kommt; die actio aber ist die adäquate, die passio die in-
adäquate Erkenntniss. So ist die Ableitung der Affecte aus
dem Wahn einerseits, aus der Erkenntniss andererseits gleich
von vom herein mit dem andern Unterschiede combinirt.
Bei dieser Umbildung geht nun aber gerade mit den
Begriffen, welche im Tractat die hervorragendste Rolle
spielten, mit den Begriffen des Begehrens und der Liebe
eine gründliche Veränderung vor.
Der Hauptsatz des Tractates, dass Begierde und Liebe
aus dem Urtheil hervorgehe, dass etwas gut sei, der Satz,
auf dem die ganze Ausflihrung des Tractates ruht, wird
von dem Scholion zu III. 9 ausdrücklich aufgehoben: wir
erstreben, wollen, begehren, wünschen nichts deswegen,
weil wir es ftir gut halten, sondern umgekehrt, wir halten
es deswegen für gut, weil es in der Richtung unseres
natürlichen Selbsterhaltungstriebs liegt. Das Urtheil über
gut und schlecht ist also von dem rein theoretischen Boden,
auf dem der Tractat es gehalten hatte, auf den praktischen
verpflanzt. (Vgl. Eth. IV, 8.)
Mit diesem Satze ist die ganze Lehre von den Affecten
auf einen andern Grund gestellt. Jener Selbsterhaltungs-
trieb, den der Tractat schon aus einer auf Erkenntniss
ruhenden Liebe erklärte, ist mit dem Wesen eines Dinges
selbst als dem Grunde aller seiner Aeusserungen identificirt,
er ist nicht mehr Folge einer Erkenntnissthätigkeit, sondern
blinder Trieb. Das Begehren ist nur der bewusste Trieb.
Die ganze Lehrp von den Affecten wird auf die Definition
der Laetitia und Tristitia gebaut, wonach jene die passio
sein soll, durch welche der Mensch zu grösserer Vollkom-
menheit, diese, durch welche er zu geringerer Vollkom-
^ 91 -
menheit übergeht, also die Bejahung und Yerneinnng seines
Selbsterhaltungstriebs. So sind Laetitia, Tristitia und Cupi-
ditas die primären Affecte. Von dieser Grundlage aus
wird die Beihe der einzelnen ÄflFecte systematisch geordnet
und ihre Begriffe deducirt. Consequent wird dann auch
die Liebe total verschieden definirt; sie ist jetzt (SchoL
zu III, 13) Freude, begleitet von der Vorstellung einer
äusseren Ursache ; und ganz ausdrücklich verwirft die Er-
klärung der 6. Definition Spinoza's eigene frühere Lehre,
freilich zunächst in der Form, in der Cartesius (De pass.
n, 79) sie gegeben hatte, wenn sie sagt, diejenigen, welche
die Liebe als den Willen zur Vereinigung mit dem ge-
liebten Gegenstand erklären, seien unklar und verwechselo
eine proprietas mit dem Wesen. So gibt denn auch Spi-
noza alle jene Sätze auf, wonach die Liebe eine unent-
behrliche, mit der Existenz selbst gegebene Weise des
Denkens ist; an ihre Stelle ist in dieser Hinsicht der blosse
Selbsterhaltungstrieb getreten; die Liebe ist, statt alles
Guten und Bösen Quelle zu sein, ein Affect neben vielen
anderen geworden.
Im engsten Zusammenhange damit steht es, )venn nun
nicht mehr Gott als das höchste Gut dargestellt wird, wie
überall im Tractat, sondern die Erkenntniss Gottes, und
zwar nicht deswegen, weil darin der Mensch mit d^m voll-
kommensten Ob]ecte sich einigt, sondern deshalb, weil er
darin am meisten activ ist und sich selbst erhält. Dadurch,
durch das Innewerden der eigenen Förderung durch die
Erkenntniss Gottes ist die Liebe Gottes begründet. Nir-
gends mehr gebraucht Spinoza den Ausdruck einer Vereini-
gung mit Gott, oder den charakteristischen „Gott geniessen";
an ihre Stelle tritt die intellectuelle Liebe Gottes, hervor-
gegangen aus der Erkenntniss Gottes als des ewigen Seins,
nicht aus der Erkenntniss Gottes als des höchsten Gutes.
Ist so die psychologische Reihenfolge der Begriffe Gut
und Liebe völlig umgekehrt, so muss auch die Ethik sich
ganz anders gestalten. Zunächst ist die Thatsache, die der
- 92 ~
Tractat nur vorausgesetzt hatte, dass wir Leidenschaften
haben, als nothwendig nachgewiesen (Eth. IV, 1—7). Der
Satz des Tractates, dass die wahre Erkenntniss des Guten
und Bösen, bloss sofern sie wahr ist, die schlechten Affecte
nicht vernichten könne, wird allerdings IV, 14 wiederholt;
aber während der Tractat daraus schliesst, dass nur die
Erkenntniss und Liebe Gottes Macht habe über die Affecte,
weil das bessere Object allein die Liebe zu den schlech-
teren zu verdrängen vermöge, wird in der Ethik diese
passive Auffassungsweise in eine active verwandelt. Der
Passivität der Affecte tritt der Selbsterhaltungstrieb ent-
gegen, die Macht der Activität, deren Ziel kein anderes als
klares Denken und Erkennen ist; vermöge des ursprüng-
lichen Triebs auf Erkenntniss erscheint dem Menschen, so-
bald er von seinem Denken Gebrauch macht, die Erkennt-
niss als das wahre Gut, und die Erkenntniss Gottes, die
Bedingung und Vollendung aller wahren Erkenntniss, als
das höchste Gut. (IV, 26—28.) Aus denselben Vorder-
sätzen wird dann auch in systematischem Zusammenhang
mit dem Ganzen die vereinzelte Behauptung des Tractats
begründet, dass der Mensch ftir den Menschen unter den
einzeben Dmgen das grösste Gut sei, und so die Einige
kdt der Menschen mit dem höchsten Gute in Verbindung
gesetzt So darf also nur das Denken entwickelt, die
Activität gesteigert werden, um die Passivität der Affecte
n überwinden, und selbst den Körper in Uebereinstimmung
mit der Ordnung der Ideen zu bringen; und das Mittel
also, das der Anfang des 5. Buches gegen die Affecte em-
pfiehlt, ist lediglich ihre klare und deutliche Erkenntniss,
in der zugleich die Erkenntniss Gottes eingeschlossen ist
Somit wird doch der blossen Erkenntniss die Macht zuge-
wiesen, den Menschen zu befreien; die Klarheit des Den-
kens, die Einsicht in die allgemeine Nothwendigkeit reicht
dazu hin; und es ist auch von dieser Seite nicht abzu-
sehen, was die dritte Erkenntnissart mehr und Neues dazu
hringen soIL
- m —
Aber Spinoza hält sie dennoch fest nnd leitet nnr
ans ihr die intellectuelle Liebe Gottes ab. Aber auch in
dieser Hinsieht zeigt sich die nachbessernde Bearbeituag:
Im Tractate war das Verhältniss der Seele zu Gott ent-
gegengestellt ihrem Verhältniss zum Leib, das Geistige
hoch über das Körperliche erhoben: Es war vergessen,
dass die Ausdehnung ein Attribut Gottes, und dass die
Seele nur die Idee ihres Leibes sein soll; sie hatte ein
unabhängiges Dasein gewonnen, das Verhältniss zum Leib
war nur £ine Seite ihres Wesens. Daraus hatte sich ihm
seine Lehre von der Unsterblichkeit ergeben. Diese Incon-
sequenz musste ausgeglichen werden. Im Begriffe der
Seele, als Idee des Körpers, musste die Möglichkeit der
Unsterblichkeit gefunden werden. Indem die Seele ihren
Körper erkennt, erkennt sie ihn nicht bloss, wie er zeitKeh
ist, sondern sie erkennt ihn sub specie aeternitatis, sie er-
kennt sein ewiges Wesen, wie es mit.Nothwendigkeit aus
der göttlichen Natur folgt Nicht weil die Seele Gott liebt,
ist sie unsterblich, sondern weil der Körper selbst eine^
seits zeitlich, andererseits ewig ist, ist auch die Seele einer-
seits zeitlich, andererseits ewig. Ewig, aber nicht un-
sterblich. Wenn es möglich wäre, die Ewigkeit durch die
Zeit auszudrücken, so würde ebensogut Präexis4;enz als
Postexistenz folgen (V, 23. Schol.). Aber sie ist ewig,
sofern sie ein Theil des ewigen, göttlichen Denkens iBt^
das gar keine Beziehung zur Zeit hat Das ist die Cor-
rectur, die Spinoza einführt, und die, wie oben bemerkt^
erst durch das letzte Capitel des Tractates vorbereitet war.
Endlich noch die intellectuelle Liebe, mit der Gott sich
selbst liebt Der Tractat hatte verneint, dass Gott den Men-
schen liebe. Die Ethik wiederholt (V, 17, Coroll): Eigent-
lich zu reden, Hebt Gott Niemanden. Aber die intellectuelle
Liebe der Ethik ist auch von Seiten des Menschen nur im
uneigentlichen Sinne Liebe, nachdem sie auf die Ewigkeit
eines Theiles der menschlichen Seele gegründet ist Damit
ist die Entwicklung, welche der Tractat im Uebergang
~ 04 ~
von der Liebe der yergängliohen Dinge zu der Liebe Gottes
findet y aufgehoben; was eyrig ist, kann nicht mehr oder
minder werden, nicht in der Zeit wachsen, also auch nicht
den Affect erregen, der den Uebergang zu grösserer Vollr
kommenheit begleitet. Es ist nur der ruhige, immer gleiche
Besitz der Vollkommenheit. Davon hat Spinoza ein sehr
bestimmtes Bewnsstsein, wenn er Y, 31. Schol. sagt, um
was er sagen woUe, deutlicher zu machen, wolle er so
sprechen, als ob die Seele erst anfienge zu sein und die
Dinge unter der Form der Ewigkeit zu betrachten. Darin
zeigt sich deutlich, dass ihm die intellectueUe Liebe zu^
erst von einer andern Betrachtungsweise aus entstanden
ist, dass er sie aber beizubehalten bemüht ist, auch nach-
dem die ursprünglichen Voraussetzungen sich geändert
haben. Und nun kann er in demselben Sinne allerdings
auch von einer intellectuellen Liebe reden, mit der Gott
sich selbst liebt. Die Frage ist nur, ob der Satz des
Tractats, dass es in Gott keine anderen Weisen des Den-
kens gebe, als die in den Greaturen sind, damit aufgeho-
ben ist, oder nicht; ob so, wie die intellectueUe Liebe der
Seele ein Theil der unendlichen Liebe Gottes ist, die Liebe
Gottes zu sich selbst nur die Totalität der in den endlichen
Geistern gesetzten Liebe ist. Wenn der Tractat ganz ent-
schieden fUr rein pantheistische Gonsequenz spricht, und
ausserdem Beispiele genug einer Umdeutung theologischer
Begriffe bietet ; so darf andererseits nicht übersehen wer-
den, dass im Tractat auch der dritte Satz des zweiten
Buches der Ethik sich nirgends findet, wonach in Gott eine
Idee seines Wesens ist. Nur so viel lässt sich mit Be-
stimmtheit sagen: Wenn Spinoza in der Ethik über den
Naturpantheismus hinausgegangen und ein Selbstbewusst-
sein Gottes als des Unendlichen gelehrt hätte, so wäre das
nicht in seiner ursprünglichen Denkweise begründet «ge-
wesen, sondern lediglich aus seiner Lehre von den Ideen
als vervollständigende Gonsequenz hervorgegangen, wonach
von Allem was ist, im Attribut des Denkens eine Idee ist.
• 96 ~
Im Tractat hat dabei Spinoza entschieden an die einzeben
endlichen Dinge und ihre Ideen gedacht; die Conseqnenz
forderte, auch eine Idee ihrer Totalität, ihres gemeinschaft-
lichen Grundes, in Gott zu setzen. Diese Gonsequenz zieht
zunächst der Zusatz zu p. 204: Wenn in der Natur kein
Ding ist, dessen Idee nicht in seiner Seele gegeben wäre,
so erhellt daraus auch, was wir im ersten Theile sagten,
dass der unendliche Verstand, den wir den Sohn Gottes
nannten, von aller Ewigkeit her in der Natur sein muss;
denn da Gott von Ewigkeit gewesen ist, so muss auch
seine Idee in dem Denken, d. h. in ihm selbst von Ewig-
keit sein, und diese Idee kommt mit ihm selbst objectiv
ttberein, d. h. so dass ideell in ihr gesetzt ist, was reell in
Gott ist. Erscheint so der Logos als Inbegriff aller Ideen
zugleich als die Idee Gottes selbst, djie in ihm ist, so drückt
denselben Gedanken der Anhang des Tractats (p. 240) so
aus, dass er in Gott eine unendliche Idee setzt, welche
die ganze Natur ideell in sich hat; weil die Natur oder
Gott die Essenzen aller geschaffenen Dinge in sich begreift,
muss in seinem Denken diese unendliche Idee sein; und
p. 244 wird dann ausdrücklich wieder auf den Sohn Gottes
hingewiesen, der das reale Wesen (essentiam formalem)
aller Dinge ideell in sich hat. Hier ist klar, dass von einem
Selbstbewusstsein Gottes nicht die Rede sein kann, denn
der Inhalt der Idee Gottes ist nur die Totalität alles Ein-
zelnen*); aber es folgt daraus nicht, dass Spinoza nicht
weiter gegangen sein könnte. Denn er hat auch erst in
den letzten Worten des Tractats noch auf die auf sich selbst
bezogene Idee*"^), das Selbstbewusstsein, freilich zunächst
nur des Menschen, hingewiesen, aber ohne den Gedanken
dort weiter zu entwickeln.
*) Ebendahin scheint es zu deuten, wenn im Zusats zu p. 90
unterschieden wird zwischen den Ideen, welche die einzelnen ezisti-
renden Dinge repräsentiren, und der cognitio sive idea, quae totam
naturam omnium entium in sua essentia intemexam cognoscit sine
particulari eorum ezistentia.
**) p. 251. een weerkeerig denkbeeld.
- ,96 ^
Die Quellen der Gedanken des Tractates.
üebersehen wir die bisherige AuseinandersetzuDg : so
ergibt sich^ dass die Ethik in ihrer vollendeten Gestalt die
Frucht einer langen und gründlichen Gedankenarbeit ist,
durch welche die lose zusammenhängenden Theile des
Tractates miteinander verschmolzen, Inconsequenzen aus-
geglichen, die GrundbegriflFe nach allen Seiten geklärt und
entwickelt, und Alles, was sich nicht lügen wollte, über
Bord geworfen worden ist. Aber wir sehep auch, wie alle
Grundgedanken schon im Tractate vorhanden waren, und
wie eine Reihe von Sätzen der Ethik ihr volles Verständ-
niss erst finden, wenn wir sie als Reste der früheren An-
schauungsweise erkennen. Die Einsicht in die Genesis des
Spinozistischen Systems würde vollendet sein, wenn wir
^u zeigen vermöchten, aus welchen Quellen die Bestim-
mungen des Tractates selbst geflossen sind.
Es lässt sich nach dem bekannten Verhältnisse Spinoza's
zu Cartesius erwarten, dass im Tractat sein^ Abhängig-
keit von diesem noch stärker hervortreten werde, als später.
Liegt er doch der Zeit nach jedenfalls den' Princ. philoso-
phiae Cartesianae nahe. In der That wird diese Erwartung
vollkommen bestätigt. Das erste Capitel mit den Beweisen
fürs Dasein Gottes ist ganz nach Cartesius. Die Bestim-
mung des Verhältnisses von Leib und Seele schliesst sich,
wenn auch die Zirbeldrüse nicht vorkommt, doch enge an
Cartesius. an. Die Meinung, dass die Seelp die Bewe-
gung der Lebensgeister zwar nicht erzeugen, aber ihre
Richtung verändern könne, ist cartesianisch, und nur aus
der cartesianischen Physik erklärbar. In vielen einzelnen
Punkten haben wir Gelegenheit gehabt, die Parallelen aus
Cartesius herbeizuziehen. In der Lehre von den Aflfecten
schliesst sich Spinoza, was die Ordnung der Aufzählung der
— 97 —
einzelnen Affecte betrifft, fast sklavisch an Gajrtesius' Buch
De passionibus animae an"^). Ebenso ist die Betrachtung
*) Schon Ed, Böhmer hat das aus dem von ihm vorgefondenen
Anszuge erkannt und S. 48 seiner Schrift eine vergleichende Tabelle
gegeben, aus der die Uebereinstimmung in der beiderseitigen Ord-
nung erhellt. Die Uebereinstimmung wäre noch auffallender hervor-
getreten, wenn Böhmer nicht die erste Aufzählung der Affecte bei
Cart de pass. II, Art. 53 ff. zu Grunde gelegt hätte, sondern die
Ordnung, in der er sie im zweiten Theile von Art. 69 an und dann
im dritten ausführlicher abhandelt. Mit den sechs Affecten, welche
Cartesius als die primitiven dort aufführt, admiratio, amor, odium,
cupiditas, laetitia, moeror beginnt auch Spinoza, und zwar in der-
selben OrdnAig, zweimal seine Aufzählung; und ebenso folgt er,
mit unbedeutenden Auslassungen, auch fortan seiner Vorlage, um
erst gegen das Ende einige Umstellungen vorzunehmen. Die nach-
folgende Zusammenstellung wird das am besten erkennen lassen:
Cartesius de passionibus
Spinoza
(nach der Uebersetzung)
II, 69—148. Admiratio
II, Cap. 3. u. Cap. 4. ex. Admiratio
Amor
ib. Cap. 5. Amor
Odium
ib. Cap. 6. Odium (aversio)
Cupiditas
ib. Cap. 7. Cupiditas
Laetitia
ib. Laetitia
Moeror
ib. Tristitia
m, 149—152. E3dstimatio et de-
Cap. 8. Existimatio et con-
spectus
temptus
153—156. Generositas et hu-
Generositas, humili-
militas
tas
157—161. Superbia et humili-
Superbia, abjectio
tas vitiosa
162—164. Vener&tio et dedig-
natio
165. Spes et metus
Cap. 9. Spes et metus
166. Securitas et desperatio
Securitas, desperatio
167—169. Zelotypia
170. Animi fluctuatio
Animi fluctuatio
171. Animositas et audacia
Intrepiditas et auda-
172. Aemulatio
cia
Aemulatio
174—176. Pusillanimitas et
Pusillanimitas et con-
constematio
stematio
Invidia (Böhm. Zelo-
eis i. CT_i «_ m i._*
typia, Belgzugt)
Sigwart, Spmoza*s Tractat.
— Gel-
der Affecte in der Hissicht, ob sie gnt seien oder nicht, ein
Hauptgesichtspunkt bei Cartesius ; somit der grösste Theil
der zweiten Hälfte des Tractates eine, im Einzehien aller-
dings selbstständige, Nachahmung seines Vorbildes. Jene
Lehre ; dass das Erkennen eine blosse passio, ein blosses
Aufnehmen von Ideen sei, und ebenso dass der Wille im
Bejahen und Verneinen bestehe, ist fast mit denselben Wor-
ten, wenn auch mit anderer Tendenz, von Cartesius aus-
gesproehen worden.
Allein der Versuch, den Tractat ganz und nach allen
Seiten aus dem System des Cartesius zu erkläf en, ihn als
ein Uebergangsglied zwischen die Meditationen und die
Ethik einzuschieben, würde sich doch in keiner Weise durch-
fahren lassen. Man würde den ganzen Sinn und Geist dieses
Tractates, seine eigenthümlichsten Züge verkennen, wenn man
ihn so auJBfassen wollte. Bei genauerer Betrachtung ergibt
sich vielmehr, dass wohl viele Lehren aus Cartesius aufge-
nommen, die wichtigsten Begriffe von ihm angeeignet sind,
aber nur um sie als Bausteine zu einem Gebäude zu ver-
wenden, dessen Grundidee eine ganz andere, dessen Sfyl
dem des Cartesius geradezu entgegengesetzt ist. Die so
stark hervortretende ethisch religiöse Tendenz , die Lehre
von der dreifachen Erkenntniss, die Betonung der Ein-
heit und Unendlichkeit der Natur, die allgemeine Besee-
lung, die Lnmanenz Gottes, die Lehre von der Liebe Gottes
in, 177. Conscientiae morsns IF, Cap. 10. Conscientiae morsus
178—181. Irrisio et jocus Cap. 11. Irrisio et jocus
182—184. Invidia Invidia
186—189. Commiseratio Cap. 14. Commiseratio
190. AoqTiiescentia in se ipso
191. Poenitentia Poenitentia
192. Favor Cap. 13. Favor
193—194. Gratitudo et ingra- Gratitado et ingra-
tituda titudo
195 — 103. Indignatio et ira Lra, indignatio
204—206. Gloria et pudor Cap. 12. Honor et pudor
207. Impudentia. Impudentia.
— 99 ~
und dem Genosse Gottes , der aus seiner nnmittelbaren
Selbstoffenbamng entspringt ^ jene ganze pantheistisehe
Mystik des holländischen Einsiedlers ist so sehr das reine
/Widerspiel der verstandesklaren, nüchtern räsonnirenden
Weise des französischen Cavaliers, dass es schlechterdings
undenkbar ist, wie nur aus Gartesius die Lehre des Spi-
noza hervorgegangen sein sollte. Schon die Darstellung
der Ethik, in der doch diese Mystik des Tractates nur noch
sehr abgeschwächt und durch die scharfe Logik der mathe-
matischen Methode zersetzt erscheint, hat auf die Yer-
muthung gefUhrt, dass orientalische Ideen durch Vermitt-
lung der cabbalistischen Literatur auf Spinoza eingewirkt
haben. Zeigt er sich doch im theologisch-politischen Tractat
mit dieser Literatur vertraut*), weist er doch, als Oldenburg
seine Immanenzlehre bedenklich findet, im 2L Briefe aus-
drücklich auf jene Traditionen hin. „Dass Alles in Gott
lebe, webe und sei, behaupte ich mit Paulus und vielleicht
mit allen alten Philosophen, wenn auch in anderer Weise;
und ich könnte auch sagen, mit allen alten Hebräern, so-
viel sich aus gewissen, freilich vielfach gefälschten Tradi-
tionen schliessen lässt.^' Ja an einer der wichtigsten Stel-
len der Ethik, II, 7 Schol., wo er lehrt, dass die denkende
und ausgedehnte Substanz und ebenso alle Modi der den-
kenden und ausgedehnten Substanz Ein und Dasselbe, nur
unter verschiedenen Attributen seien, erinnert er sich, dass
*) Das Uftheil, das er dort Cap. 9 (Paulus I, 297) fallt, Bcheint
freilich dieser Vermuthung yon yomherein sehr ungünstig zu sein.
Er schreibt: Legi etiam et insuper nom nugatores aliguos cabbalistasj
qtWTTum ins<m%am nunguam mirari aoMs potui. Aber dieses weg-
werfende Urtheil bezieht sich im Zusammenhang lediglich auf die
cabbalistische Ansicht von der Bedeutung des alttestamentlichen
Textes; und Spinoza hätte diese verwerfen und doch den specula-
tiven Gehalt ihrer Lehre in sich au&ehmen können; jedenfalls be-
weist diese SteUe ausdrücklich, dass er Cabbalisten nicht nur ge-
lesen, sondern personlich gekannt hat. Zu seinen Lebzeiten erschie-
nen in Amsterdam mehrere cabb. Werke; so 1642 ein Commentar
zur Jezira des Abraham ben David.
7»
— 100 —
dasselbe einige Hebräer wie durch einen Nebel gesehen zu
haben scheinen, wenn sie behaupten, dass Qott^ der gött-
liche Verstand und die von ihm gedachten Dinge Eins und
Dasselbe seien*).
Kein Wufider also, wenn bald nach Spinozas Tode von
Kennern der cabbalistischen Literatur der Versuch gemacht
wurde, aus der Ethik die Uebereinstimmung seiner Lehre
mit der Cabbala nachzuweisen. Job. Georg Wächter ver-
suchte dies zuerst in seiner Schrift: Der Spinorismus im
Jtldenthumb, Amsterdam 1699, später in seinem Elucidarius
Cabbalisticus, Bom 1706. Das letztere Schriftchen führt
nicht weniger als zwanzig Beweise aus Spinozas Schriften
dafür auf, dass er in allen wesentlichen Lehren mit der
Cabbala tibereinstimme — ein Nachweis, an dem man frei-
lich nicht nur bestimmte Citate aus cabbalistischen Schrif-
ten vermisst, sondern auch leicht gründliche Missverständ-
nisse der spinozistischen Philosophie entdeckt. Dieselbe
Ueberzeugung sprach Beimmann in seinem „Versuch einer
Einleitung in die Historie der Theologie insgemein und der
Jüdischen Theologie insbesondere" (Magdeburg und Leipzig
1717) sehr entschieden aus. ;,Weil fast alle diejenigen, die
vor und wider ihn geschrieben, sich auf den Gedanken
bringen lassen, als wenn ihn die Cartesianische Philosophie
dahin Verleitet hätte, so wird es nicht undienlich sein, einige
Ursachen anzuführen, warum wir von dieser Meinung ab-
gehen, und vielmehr die Bechnung machen müssen, dass
ihn die Cabbalistische Theologie der Juden in diesen Irr-
garten geleitet habe .... Die Uebereinstimmung seines
Systematis mit dem Cabbalistischen ist so augenscheinlich
und handgreiflich, dass wir unserem Verstand und Sinnen
öffentlich Gewalt anlegen müssten, wenn wir dieselbe nicht
sehen und merken wollten. Die Cabbalisten haben in der
*) Dieses Citat lasst sich allerdings ebenso gut auf Moses Mai-
monides, Moreh Nebokhim Cap. 68 beziehen als (mit Franck p. 21)
auf Mose Corduero*s Pardes Rimonim. Die gemeinschaftliche Quelle
beider ist Aristoteles.
— 101 — .
That eben die Grundsätze, die der Spinoza hat, und der
Unterschied bestehet nur blosserdings darin, dass er die-
selbe in eine gewisse Knnstform verfasset und auf eine
geometrische Art vorgetragen hat"*).
Wäre nun diese Ansicht richtig, so liesse sich er-
warten, dass in Spinoza's frühester Schrift ebenso deutliche
Spuren grösserer Abhängigkeit von der Cabbala heraus-
treten, wie es unzweifelhaft gegenüber von Cartesius der
Fall ist. In der That wird diese Erwartung nicht ganz ge-
täuscht. Zwar von der äusseren Hülle der cabbalistischen
Literatur, ihrer eigenen Terminologie, ihrer Buchstaben-
deutung u. s. f. findet sich so wenig eine Spur als in der
Ethik ; und an einem ausdrücklichen Hinweise, wie ihn diese
im Schol. zu II, 7 bietet, fehlt es gänzlich. Allein in ein-
zelnen Zügen werden wir unwillkürlich geneigt sein, cab-
balistische Einflüsse zu vermuthen. Jene wiederholte Be-
zeichnung des intellectus infinitus als des eingebomen Soh-
nes Gottes und seiner ersten Creatur; die Bedeutung, die
diesem Intellectus infinitus beigelegt wird, dass er in sich
das Wesen aller Dinge in ewig unveränderlicher Weise er-
kenne; die Stellung, die im Tractate weit deutlicher als
in der Ethik dieser Intellectus als ewiger, unmittelbarer
Modus zu Gott einerseits und zu den von ihm geschaffenen
einzelnen Modis andererseits einnimmt, erinnert deutlich
an den Adam Kadmon der Cabbalisten, der ebenso der ein-
gebome Sohn Gottes und der Inbegriff aller Ideen heisst,
der ebenso als die einzige unmittelbare Production Gottes
die mittelbaren Productionen erst möglich macht. Wenn
Spinoza ausruft: Wahrlich ein Werk so gross wie es der
Grösse des Werkmeisters geziemt — wer dächte nicht an
die Lehre, welche die Grösse und Herrlichkeit Gottes da-
*) a. a. 0. p. 637. Vergl. über diese Frage H. C. W. Sigwart,
Der Spinozismus historiscli und philosophiscli erläutert, IS 39. p. 4.
80 ff. 219. 240. Franck, Die Cabbala, übersetzt von Gellinek 1844.
p. 19 ff. Joel Beligionsphilosophie des Sohar 1849. p. 4 ff. ondp. 146,
wo weitere Literatur angeführt ist.
— 104 —
dem .verborgenen Gott, der sich in dem Urmenschen und
den 10 Sephiroth oflFenbart, mit anderen Philosophemen
zu vermittehi bestrebt waren. Unter diesen ist, soweit sie
uns zugänglich waren, für keinen die äussere und innere
Wahrscheinlichkeit, dass er die verborgene Quelle der Leh-
ren Spinoza's gewesen sein könnte, grösser als für Babbi
Abraham Cohen Jrira. Er war portugiesischer Abkunft, wie
Spinoza, aber aus Portugal ausgewandert starb er in Holland
im Jahre 1631 ; sein ursprünglich portugiesisches Werk „Die
Himmelspforte*' wurde in Amsterdam von dem Vorsteher
derselben Synagoge, welcher Spinoza angehörte, dem Rabbi
Isaak Abuhab ins Hebräische übersetzt. Dieses Werk, das
Knorr von ßosenroth 1677 in der Cabbala denudata in latei-
nischer Uebersetzung herausgab, unterscheidet sich durch
seine systematische Anordnung, seine philosophische Sprache,
seine begriffliche Klarheit, seine ausdrückliche Rücksicht-
nahme auf andere philosophische Systeme; und der Ein-
gang desselben, der beweist, dass ein durch sich nothwen-
diges Wesen sein müsse, und dass dieses nur Eines sein
könne, könnte wohl verleiten ein EvQrjyca auszurufen. Allein
trotz mancher überraschender Uebereinstimmung tritt bei
näherer Betrachtung doch im ganzen Begriffsapparat der
beiden Schriften ein tiefgreifender Unterschied heraus. Die
Philosophie Cohen Jrira's ist im Wesentlichen, wie er selbst
gesteht, die des Plotinos. Das Eine unterschiedslose über
alle Gegensätze hinausliegende nur mit negativen Bestim-
mungen zu denkende Sein, das zugleich das absolut Gute
ist, ist ein wesentlich anderer Begriff als das ens constans
infinitis attributis, oder die Natura Spinoza's ; die Art, wie
die Welt aus ihm durch den intellectus hervorgeht,* ist
eine Contraction der Unendlichkeit, an die Spinoza nie
gedacht hat; sie wird tiberdem nicht auf die Nothwendig-
keit der göttlichen Natur, sondern auf seinen Willen, seine
Güte begründet. Die Unterscheidung der vier verschie-
denen Welten, die Ansicht von der Materie als einem
Product geistiger Kräfte, die Ansicht von der menschliehen
— 105 —
Seele — alles das liegt weit ab von der Kosmologie un-
seres Tractates. Auch in der Erkenntnisslehre und Ethik
ist das, was den Ideen unseres Tractates am nächsten
-liegt, ausdrücklich als die Lehre der Philosophen, der Pla-
toniker bezeichnet, die mit der cabbalistischen verwandt
sei*), während des Rabbi eigene Lehre eine völlig andere
Basis hat — die Idee eines Eingiessens der höheren Intel-
ligenz in die niedere. Mag man also den Einfluss der Cab-
bala noch so hoch anschlagen — hätte er neben Car-
tesius nur diese gekannt, so wären die meisten seiner
Ansichten durchaus originell, und wir fänden keine An-
knüpfungspunkte.
Dasselbe Resultat ergibt sich, wenn wir die gleich-
falls schon ausgesprochene Hypothese an unserem Tractate
prüfen, dass. Moses Maimonides von bedeutendem Einflüsse
auf unsern Philosophen gewesen sei. Man mag das in
Hinsicht des Tractatus theologico-politicus mit einigem Er-
folge durchfuhren können; aber die Metaphysik des Moreh
Nebokhim wird Niemand in der Spinozistischen Philosophie
wieder zu entdecken vermögen. Es genügt darauf hinzu-
weisen, dass Maimonides das nothwendige Hervorgehen
der Welt aus Gott läugnet, und eine Schöpfung aus seinem
freien Willen lehrt**). Ebensowenig lassen sich in der
Ethik desselben mehr als oberflächliche Vergleichungs-
punkte auffinden.
Alles gegen einander abgewogen: So wenig sich be-
streiten lässt, dass für Spinoza die Richtung seines Den-
kens im Ganzen auf eine Lehre, welche die Welt aus dem
ewigen Sein und Wesen des Einen Gottes hervorgehen
lässt, und in allen Dingen nur die Offenbarung göttlicher
Attribute sieht, durch Eindrücke aus der cabbalistischen
Lehre mitbestimmt gewesen sein mag, und so wahr-
scheinlich es immerhin ist, dass an einzelnen Punkten des
*) Cabb. denud. Porta Coel. p. 183.
**) Moreh Neboklüm Cap. 12 ff.
— 108 —
don*). Sie waren in Paris, während Spinoza lebte, von
den Philosophen gekannt und gelesen; der Pater Mer-
senne kannte sie, und ebenso Huet, der Gegner des Car-
tesius**). Dass sie von England frühzeitig nach Hol-
land kamen, lässt sich nicht nur aus der lebhaften Ver-
bindung schliessen, in welcher diese Länder überhaupt
standen ; sie waren tiberdem zum Theil Brunos vertrautem
Freunde Philipp Sidney gewidmet, der als Führer engli-
scher Hülfstruppen im Kampfe flLr die Unabhängigkeit der
vereinigten Niederlande fiel. Spinoza war, wie sein Bio-
graph Boulainvilliers versichert, des Italienischen mächtig***).
Freilich, auch Bruno's Name erscheint nirgends in
Spinoza's Schriften oder Briefen; kein ausdrückliches Zeug-
niss weist darauf hin, dass er ihn gekannt und gelesen.
Allein Spinoza hat seinen politischen Tractat geschrieben,
dessen Ansicht vom Wesen und Ursprung des Staates sich
aufs Engste an die Theorie von Hobbes anschliesst, und
doch mit keiner Silbe darin seinen Vorgänger erwähnt;
wäre er nicht zufällig gefragt worden, worin er sich denn
von Hobbes unterscheide, so hätten wii- nicht einmal die
kurze briefliche Notiz, die das einzige äussere Zeugniss
für seine Bekanntschaft mit den Schriften des englischen
Philosophen ist, und doch würde Niemand nach Verglei-
chung der beiden Schriften einen Augenblick zweifeln
können, dass Spinoza von Hobbes abhängig ist. In der
Schrift über die Methode treten wiederholt Gedanken auf,
die sicher aus Bacons Novum Organum herstammen; aber
wiederum erfahren wir nicht aus dieser Schrift selbst, son-
dern aus Briefen, dass er sich mit Bacon beschäftigte. Und
so gewiss unser Tractat selbst in sehr vielen Punkten von
Cartesius abhängig ist, so ist doch dessen Name nur ein
*) Bartholmess, Giordano Bnmo 11, p. 63.
**) Ebendas. I, p. 256 f.
***) Paulus II, 598. Quelque veraS gu'ü fiU dcms FH^breu, dans
V Italien et dans VEapagnal . . .
— 109 —
einziges Mal genannt ^ nnd zwar nicht als. des Meisters,
dessen Lehren der Traetat wiederholt, sondern bei Ge-
legenheit eines Einwandes, fttr dessen Widerlegung auf
Cartesius verwiesen wird.*) Und es ist nicht etwa Spi-
noza allein, der nach unsem Begriffen so undankbar enir
lehnt. Bacon vor ihm, Leibniz nach ihm reproduciren oft
Anderer Gedanken, ohne ihren Gewährsmann zu nennen.
Mit Spinoza selbst war Walter von Tschirnhausen enge be-
freundet; er las die Ethik im Manuscript, und eine Beibe
von Briefen, in denen in eingehendster Weise die wichtig-
sten Punkte des Systems besprochen werden, wurden zwi-
schen beiden gewechselt; das hinderte nicht, dass nach
Spinoza's Tode Tschimhausen seine Medicina mentis her-
ausgab, deren Grundgedanken durchweg aus Spinoza's
Mcthodenlehre stammen, ohne seines Lehrers und Freun-
des auch nur mit einem Worte zu gedenken. Jene Zeit
hatte nicht den historischen Geist der unsrigen, dass ihr
die Thatsache, wer einen Gedanken zuerst ausgesprochen,
von so grossem Werth und ein Gegenstand peinlicher Ge-
wissenhaftigkeit gewesen wäre; auf die Wahrheit oder
Falschheit der Ideen vor Allem gerichtet, nahm sie unbe-
fangen die Wahrheit als ein allgemeines Gut, und nannte
Namen nur, wo sie verneinte oder bestritt, oder wo es galt,
mit ausgebreiteter Erudition zu glänzen. Bei Tschimhausen
mag der weitere Grund mitgewirkt haben, dass er sich
scheute, durch den Namen des geächteten Atheisten sich
zu compromittiren; aber eben derselbe Grund konnte auch
den in dieser Hinsicht ängstlich vorsichtigen Spinoza
abhalten, sich zu dem Manne zu bekennen, der in Folge
seiner ungestümen Angriffe gegen die Aristoteliker über-
all Verfolgt und Verstössen, unstät und flüchtig von Ort zu
Ort gezogen war, den man als Verfasser des Spaccio de
la bestia trionfante fttr einen frivolen Gottesläugner und fttr
fähig hielt, das Buch De tribus impostoribus geschrieben
zu haben. Aber auch ohne diese Bücksicht hatte Spinoza,
•) p. 78.
— 108
don*). Sie waren in Paris, w*'
den Philosophen gekannt ur
senne kannte sie, und eben^
tesius**). Dass sie von ^
land kamen, lässt sich r | C
bindung schliessen, ir ; ^ f^
standen; sie waren ti^ \ ^ '-
Freunde Philipp Sic' - ' ' ^ •
scher Hülfstrupper \ i ^'
vereinigten Nied , *'-
graphBoulainv^*' -
Freilich
Spinoza's S
niss weis^
Allein P
desser
aufs
do'
■
dßBB er selbst
wollte, zuerst
^ym zn bebandeln,
wähnt finden, ist
*ö, denen er ir
viel «u verd?
' zu leben
no BniP
liehe
^za's aui^
.Köammenhangs ausg^
.a vollkommen sicheren An-
der
^1 zunächst die metaphysischen Grund-
aö. In einzelnen Sätzen zwar ist auch hier
.omstinmiung so vollständig, dass man versucht
^ Beminiscenzen zu denken. Bruno ist erflillt von
Einheit alles Seins, die zu erkennen die Aufgabe der
Philosophie ist*); er nennt diese Einheit Substanz**); alle
Attribute des Einen Princips sind ihm unendlich***); die
Gottheit ist ihm nicht ausserhalb der Welt, sondern in der-
gelben, als immanentes Princip ****); die Welt zerfällt ihm
in ausgedehnte und denkende Substanz, welche doch in
der Wurzel eins sind, und nur ein Sein ausmachen f); die
*) Giordano Bruno opere ed. ; Ad. Wagner, I, 275: Ogni cosa
k uno f et ü conoscere questa unitä h ü scopo e termine di tutte le
filosofie e contemplazioni naturali.
**) ib. I, 287. jprimo ente e wniveraal sustanza.
***) ib. II, 25 : Jo dico Dio tutto infinito, per che da 8h eaclude
ogni terminej et ogni suo aitribtUo k uno et infinito, II, 30: Per
che ü primo principio h semplicissimo, perb, ae aecondo uno aUri.
Imto fuaae ßnitOj aarebhe finito aecondo tutti gli attributi,
«***j I^ 275 : ... non cercano la divinitä fuor de Vinfinito
mondo e le infinite coae, ma dentro gueato e in quelle.
f) I, 264: Volete che aia doppia auatanza^ altra apiritudU
~* 113 —
Materie ÄlsPrüieh
in Gott %n ietzer
und Reale», De
ebenßo wie ftr
^e Welt der
^Cj alles M
*on der
lern k
id ^
LI, die a..
.j Begriff des ßösei-
feilt, iDdem Spinoza dieee mecha-
fiel ihm jene Weltseele Brunos;
Kimmungen und Bildern, unter
ich vorstellt, bleiben ihm nnr
mz und der CauBalitat, die
f) nnd wenn Spinoza in
>tj so ist es nicht die
und Erzeugerin aller
wig alles Einzelne
m Klicken trägt,
tze einer mecha-
henrorgehen-
I
Harmonie des ans nnenui^.
ahßohit vollkomtneuen GansF^en au*.
Gedanken^ welche Spiuoza um Bruü
könnte. Allein tiber diesen Anklängen dtlrki.
der SpinoziBtischen Ethik Ton der Lehre Ikhn*
'rik sehen,
j:emein,
siud^
ms,
z
ultra eorpörahf die in s^ntT/m l'una « takra ^4
egaöTß t't U7m radicef Opp. lat ed, G frörer p, 2%:
velin (Iwrr. duplex üorpfireum et tncorpnrfurfi ei /
.ivi/iuilumj est unum inßnitum fv. inCt^fporca «JA *u?*^</r<.
l infimsibÜiiiti'e «ui^j^tfinlm von^tJtten»,
*) Opp. H, l, 276: Ui mutzet ^ ehfi ettpUca h tvv
plfcatOi deiw &i$üre chiamatm cma dimna €t ottintapan^,:
f inadrc tii ro^e imturali^ anzt la natura ittUä m ^tat^^
. » *tf den 4fi Ci^ntempldf t* uu cAsmr dfinno nn l^ i^tync.
♦*) De In emuta^ prineipio tt wno iJiiil* *I. I}e Pififimtop uni
vBTifO mondi Dial. L
•♦♦) De ia canJfa atc, öiüL 2,
•*♦*) Opp, !t I, t^2t iVe Tttfk?, infimiOt itnmolile^ th*^ Ist imätitnmt
eÄ* Ä r iwif«, m id irt^a h moUi^idinfit ^ n«fl*€r^, ch^ per m»0r4 tncdo
e moiti/onnUä de t miie^ la qttah ri^ina a d^maminivp enaa ^mt
coita^ non fa iv . ' rht /ü ^ntc «ia piü rV • k itiu moltimodo^ »
molti/orme e > ^ui^, II, 25 t Dn .. oU/. t cerla efß*
eacia flipend<f dtUrmmata r h/rnntii,
f) Opp» tttt p. 2T^k C'Wi . . .,^ , . . «t rxri ^Mtu»
univtrsi wdtmm ^ye<femv4* CÜ(, pt. 306.
^ 110 -
der seines eigenen Namens so wenig achtete, dass er selbst
nach seinem Tode ihn verschwiegen haben wollte , zuerst
das Becht, auch Anderer Gedanken als anonym zu behandeln.
Dass wir also Bruno's Namen nirgends erwähnt finden, ist
kein Beweis, dass nicht unter den Männern, denen er in
der Vorrede zum dritten Theile der Ethik viel ^n verdan-
ken gesteht, weil sie über die rechte Weise zu leben viel
Herrliches geschrieben haben, auch Giordano Bruno ge-
wesen ist: wenn wir nur im Uebrigen deutliche Spuren
einer solchen Abhängigkeit finden.
Die bisher bekannten Schriften haben, so manchmal
auch die Verwandtschaft Bruno's und Spinoza's aufgefallen,
und auch die Vermuthung eines Zusammenhangs ausge-
sprochen worden ist, doch keinen vollkommen sicheren An-
haltspunkt geben können.
Man hatte dabei zunächst die metaphysischen Grund-
begriffe im Sinne. In einzelnen Sätzen zwar ist auch hier
die Uebereinstimmung so vollständig, dass man versucht
ist, an Reminiscenzen zu denken. Bruno ist erfllllt von
der Einheit alles Seins, die zu erkennen die Aufgabe der
Philosophie ist*); er nennt diese Einheit Substanz**); alle
Attribute des Einen Princips sind ihm unendlich***); die
Gottheit ist ihm nicht ausserhalb der Welt, sondern in der-
selben, als immanentes Princip ****); die Welt zerfällt ihm
in ausgedehnte und denkende Substanz, welche doch in
der Wurzel eins sind, und nur ein Sein ausmachen f); die
*) Giordano Bruno opere ed. 2 Ad. Wagner, I, 275: Ogni cosa
h nno , et il conoscere questa unüä k ü scopo e termine di tuUe le
filosofie e contemplazioni naturalis
**) ib. I, 287. jprimo erde e universal stutanza,
***) ib. II, 25 : Jo dico Dio tutto infinito, per che da ah esclude
ogni termine^ et ogni auo attributo h uno et infinito, II, 30: Per
che il primo principio k semplicissimOy perb, se aecondo uno abtri-
Imto fuaae ßnito, aarehhe finito aecondo tutti gli attributi,
****) I, 275 : ... non cercano la divinitä fuor de Vinfinito
mondo e le infinite coae, ma dentro gueato e in quelle.
t) I, 264: Volete che aia doppia auatanza, altra apirituaU
- 111 -
Materie als Princip der körperlichen Dinge ist nicht weniger
in Gott zu setzen, als der unendliche Verstand*). Ideales
und Reales, Denken und Sein verhalten sich für Bruno
ebenso wie flir Spinoza; alles Gedachte verwirklicht sich,
die Welt der Ideen ist nicht grösser als die Welt der
Dinge, alles Mögliche ist wirklich, jede Potenz ist actus**);
und von der andern Seite gibt es nichts bloss Materielles,
mit jedem körperlichen Ding ist seine Seele als seine bil-
dende und bewegende Kraft verknüpft, und der Satz, dass
AUes beseelt sei, ist ein oft wiederholter Gedanke ***J). Der
BegriJBf des Modus, die Ewigkeit der Substanz im Wechsel
der Modi, die absolute Nothwendigkeit ihrer Production****);
der Begriff des Bösen als blossen Mangels der sich in der
Harmonie des aus unendlich vielen Stufen bestehenden
absolut vollkommenen Ganzen auflöst f) — alles das sind
Gedanken, welche Spinoza aus Bruno geschöpft haben
könnte. Allein über diesen Anklängen dürfen die Differenzen
der Spinozistischen Ethik von der Lehre Bruno's nicht über-
aUracorporalef che ifh somma Vwna e Valtra si riduea ad uno
essere et una radicef Opp. lat ed. Gfrörer p. 28: Universum (ni
velis dicere duplex corporeum et tncorporeum et harum utrumque
infinitum) est unum infinitum ex incorporea et corporea, sensibili
insensihüique substantia consistens.
*) Öpp- it- I) 276 : La matena, che esplica lo che tiene im-
plicato, deve essere chiamata cosa divina et ottima parente, genitrice
e madre dt cose naturalis anssi la naiura iutta in sustanza, 279 :
... «6 ben si contempla, k un esser divino ne le cose,
**) De la causa, principio et uno Dial« 3. De VinfinitOy um-
verso e mondi Dial. 1.
*♦♦) De la causa etc. Dial. 2.
*•♦*) Opp. it. I, 282: Ne Vuno, infinüo^ immohile, cNkla sustanza,
cÄ' h V ente, vi si trova la moUitudine, il numero, che per essere modo
e moüi/ormitä de V ente, la guale viene a denominar cosa per
cosa, non fa guesto, che lo ente sia piib ehe uno, ma moUimodo, e
mcltiforme e moltifigwrato. 11, 25: Da determinata e certa effi-
cacia dipende determinato e certo effetto immutabilmente.
t) Opp. lat. p. 276: Omnia esse valde bona ... si ad ipsius
universi ordinem spectemusm cfir. p. 306.
— 112 —
sehen werden. Nicht nnr, dasB in Bmno's geistreiehem
Eklekticismus neben der Immanenz des Göttlichen in der
Welt auch der Begriff einer nenplatoniscben Transcendenz
hergeht, in der das Eine über alle Kategorien hinansge-
rtlckt, tibersubstantieU und überwesentlich, der Welt als
ihr jenseitiger Grund gegenüber steht, dass das Univer-
sum, das hier als das absolute Eine, als alles Sein er-
scheint, dort nur als Spiegelbild der göttlichen Einheit
und Unendlichkeit dargestellt wird — ein solches Schwan-
ken kann man ja wenigstens in einzelnen Spuren auch
bei Spinoza nachzuweisen unternehmen; das Wichtigste ist
das Verhältniss des geistigen und materiellen Princips, das
Bruno in einer der spinozistischen Grundanschauung ganz
entgegengesetzten Weise auffasst. Er betont die unauflös-
bare Einheit beider; von dem aristotelischen Gegensatz
zwischen Materie und Form ausgegangen, versucht er nach-
zuweisen, dass dieser Gegensatz und alle damit zusam-
menhängenden von Potenz und Actus, von wirkender
und Zweck -Ursache vollkommen sich decken, dass die
Materie überall von Geist und Leben durchdrungen, die
Einheit der Gegensätze, die Weltseele, das überall wir-
kende Princip, die wahre Einheit dei: Welt sei, allgegen-
wärtig in allen Dingen, die Form aller Formen, die Eine
Ursache. Seiner dichterischen AuflFassung, nach der die
Eine Weltseele in künstlerischem Thun die Formen der
Welt gestaltet, und alle Bewegung nur Ausdruck eines
inneren Lebens ist, eines sich Suchens und Fliehens der
verwandten und entgegengesetzten Seelen, trat schroff die
Ansicht des Cartesius gegenüber, die in ihrer Trennung
von Materie und Geist, in ihrer Unterscheidung der gei-
stigen und materiellen Substanz die Aristoteliker des 16,
Jahrhunderts zu Vorläufern hatte, um aufs Neue eben den
Dualismus zu begründen, den Bruno hatte vernichten wollen;
alle Bewegung, selbst die der organischen Wesen, wurde
lediglich auf den Stoss der corpuscula begründet, und das
Geistige als eine Welt fUr sich der mechanischen Welt
— 113 —
der Körper gegenübergestellt. Indem Spinoza diese mecha-
nische Physik adoptirte, zerfiel ihm jene Weltseele Brunos ;
aus dem Beichthum von Bestimmungen und Bildern, unter
denen Bruno das Eine Princip sich vorstellt, bleiben ihm nur
die abstracten Begri£fe der Substanz und der Causalität, die
er um so consequenter entwickelt, und wenn Spinoza in
der Ethik Gott und Natur identificirt, so ist es nicht die
lebensYolle Natur Brunos, die Mutter und Erzeugerin aller
Dinge, die selbst unveränderlich und ewig alles Einzelne
aus ihrem Schosse gebiert und auf ihrem Bücken trägt,
sondern nur die Einheit der nach dem Gesetze einer mecha-
nischen Nothwendigkeit aus ihren Ursachen hervorgehen-
den Dinge.
So hat am Ende, wenn wir allein auf die Ethik sehen,
Spinoza mit Bruno nur diejenigen Bestimmungen gemein, *
welche dem letzteren am wenigsten eigenthümlich sind,
und gerade in der bestimmten Form seines Pantheismus,
in der Zugrundelegung des Begriffs der Einen Substanz
mit ihren von einander absolut unabhängigen Attributen,
ist Spinoza den charakteristischen Ideen Brunos ferne ge-
blieben.
Merkwürdig ist nun aber, dass gerade diejenigen Sätze
aus dem ersten Theile unseres Tractats, welche später ver-
blassen und verschwinden, viel näher bei Brunos Anschau-
ungsweise stehen, und viel bestimmter an ihn erinnern.
Die Stellung, welche der Begriff der Natur einnimmt,
ist, wie wir oben gesehen haben, eine ganz eigenthümliche.
Sie tritt als der Träger der Prädicate auf, welche den Gottes-
begriff constituiren, der Ewigkeit, Unendlichkeit, Vollkom-
menheit, allumfassenden Einheit; sie ist von sich selbst und
von keiner andern Ursache her; sie wird durch sich selbst
erkannt, und durch nichts Anderes ; sie ist die Eine Sub-
stanz, deren Wesen unendlich, in der Alles Eins ist> ausser
der nichts gedacht werden kann, von der Alles in Allem
ausgesagt wird. In dem ersten Dialogenfragment wird auf
Sigwart, Spinoza's Txaotat 8
— 114 —
die Frage, ob es ein höchst Yollkommenes Wesen gehe, ge-
antwortet: die Natur betrachte ich in ihrem Ganzen als
nnendlich nnd höchst vollkommen; sie ist ewige, unend-
liche, allmächtige Einheit, ihre Negation ist das Nichts.
Diese Anffassung des Begriffs der Natur stimmt nun aber
genau überein mit den Ideen, welche Bruno in seinen
Articuli de Natura et mundo aufgestellt und zu Paris an
Pfingsten 1586 in dreitägiger Disputation vertheidigt hat
Im ersten und zweiten Artikel wird festgestellt, dass Ge-
genstand des wahren begrifflichen Wissens nur etwas sein
könne, das ewig, unveränderlich, wahr, beständig, einfach,
£lds, immer es selbst und liberall es selbst sei. Ein solcher
Gegenstand ist nur die gesammte Natur, als Eine Sub-
stanz gedacht. Sie ist das durch den Begriff als Grund
und Princip alles Einzelnen Erkennbare, das Allgemeine,
das in allem Besonderen sich findet, dessen Modi Arten nnd
Wirkungen überall sich offenbaren. In den folgenden Ar-
tikeln wird, mit bestimmter Hinweisung auf Xenophanes
und Parmenides, gelehrt, dass das Seiende unendlich in
Kaum und Zeit, und darum Eines, sich selbst gleich, un-
veränderlich und unbeweglich sei. Dieses nannte Xeno-
phanes die Substanz der Dinge, das Ganze der Natur;
Eine Substanz ist in Gott, in der Natur, im Universum.
Dieses Eine aber ist Einheit eines materiellen und geistigen
Princips, eine Materie, welche die Form in sich selbst trägt,
und aus ihrem Schosse hervorbringt, eine fiberall mit Noth-
wendigkeit wirkende, nie irrende Macht Alles ist Eine
Substanz, welche nicht wird, sondern ist; aber dieser Einen
Substanz kommen unzählige Bestimmungen zu, nach ver-
schiedenen Bücksichten, in denen das Einzelne erscheint,
so ist sie der verschiedensten, selbst entgegengesetzter
Prädicate fähig. Wenn Eine Substanz aller Dinge, Ein
Subject, Eine Natur ist, so werden von Einem mit Becht
alle Prädicate ausgesagt; die Natur als die allgemeine
Substanz aller Dinge ist der gemeinsame Träger aller
G^egensätze.
— 115 —
Sehen wir Bruno hier, und ebenso im Dialogen De la
causa prineipio et uno vor Allem die Einheit betonen,
so ist es gewiss nicht zufällig, dass eben dieser Begriff auch
für Spinoza, wo er von der Natur redet, der wichtigste ist.
Gerade in dem mehrfach angeführten Dialogen steht das
Prädicat der Einheit überall voran, und der Begriff der
Natur ist ihm der Träger dieser Einheit*). Ebenso über-
einstimmend ist die Art, wie er das Prädicat der Unend-
lichkeit fasst Bruno denkt immer zunächst an die
räumliche Unendlichkeit des Universums ; dass das Coper-
nicanische System die Sphären des Aristoteles gesprengt
und die Welten frei in den nach allen Seiten sich dehnen-
den Aether hinausgeworfen hat, ist der Gedanke, der fort-
während den Hintergrund seiner Betrachtungen bildet;
daraus erklärt sich die Definition des Unendlichen, dass es
dasjenige sei, was keine Grenzen habe, jenseits dessen
nichts sei, ftir das es kein Ausserhalb gebe. Ausführlich
widerlegt er im ersten der Dialogen De V infinite universo
e mondi jede Art von Vorstellungsweise, durch die man
die räumliche Begrenztheit der Welt unterstützen könnte.
Wenn die Welt begrenzt wäre, wäre sie im Nichts ; Omne
erit in nihilo. Man kann keine Grenzen denken ohne ein
Jenseitiges; das Jenseitige muss entweder leerer oder er-
füllter Baum sein; durch anderes als Baum lässt sich
Räumliches nicht begrenzen. Wenn man also sagt, ausser-
halb der begrenzten Welt sei Nichts, so sage ich, es sei
das Leere, und zwar ein solches Leere, das kein Mass und
keine Grenze jenseits hat. Und dies ist viel schwerer vor-
zustellen, als das Universum unendlich und unbegrenzt zu
denken**).
*) p. 26. Unitas, quam uhigue in natura videmits. p 36. naturam
panentes unitatem aetemam infinitam etc. p. 40. Ena unicum aeter-
num infinüum ei a se existena, in quo omnia unum et tmicum eunt^
et extra quam unitatem nidla res fingt poteet^
**) Bruno Opp, it. 11, 18—20.
8*
— 116 ~
Sollte es nicht eine Beminiscenz dieser Stelle sein,
wenn Spinoza p. 36 sagt: Wenn wir die Natur begrenzen
wollen, müssen wir sie (was ungereimt ist) durch das
Nichts begrenzen, und zwar durch das Nichts mit folgen-
den Eigenschaften: einig, ewig, unendlich; und diese. Un-
gereimtheit vermeiden wir, wenn wir sie als ewige, un-
endliche Einheit setzen*)? Sollte ferner der Satz p. 28:
In natura nee totum nee partes sunt nicht auf Brunos
Artikel Op. lat. p. 29 zurückweisen: Universum cum sit
infinitum, totum quoddam non est, neque ip&ius aliquid est
pars?
Noch grösseres Gewicht als auf diese Parallelen möchte
ich auf jene Stellen unseres Tractats legen, wo er die Be-.
wegung der Körper nicht auf mechanische Weise nur aus
der Bewegung anderer Körper erklärt, sondern theils die
BewegUDg im Ganzen aus der Einheit der Natur ableitet,
theils die Möglichkeit, dass Modi des Denkens auf Modi
der Ausdehnung wirken können, durch dieselbe Einheit der
Natur begründet ; uud ebeuso auf die Art und Weise wie
der Tractat die Lehre von der allgemeinen Beseelung be-
nützt, um den allen Dingen gemeinsamen Selbsterhaltungs-
trieb zu erklären. Denn eben in diesen später aufgege-
benen Sätzen steht Spinoza offenbar Brunos Ideen weh
näher als der cartesianischen Physik. Für Bruno ist das
Princip aller Bewegung die Weltseele als die innere Ein-
heit der Natur, die in fortwährendem Schaffen und Her-
vortreiben die einzelnen Formen entstehen und vergehen
lässt; aus dieser inneren Einheit kommt nicht nur das
organische Leben, bei dem sich die Durchdringung der
äusseren Leiblichkeit durch die belebende Seele von selbst
*) An Brunos Satz von unendlich vielen Welten erinnert auch,
wenn Spinoza p. 104 die Philosophen, die meinen, ausser der Erde
existiren keine anderen Welten, mit dem Bauer vergleicht, der nie
üher sein Feld hinausgekommen war, und wie er einmal einen weiten
Weg machen muss, sich wandert, wie viele Felder es gebe.
— 117 —
zeigt, ihre Darstellung ist die Bewegung überhaupt, denn
auch in den Himmelskörpern ist das Princip ihrer Be-
wegung ihr Beseeltsein. Alle bewegen sich vermöge eines
inneren Princips, welches ihre eigene Seele ist*). Der
Zweck der Bewegung ist aber kein anderer, als die Selbst-
erhaltung der einzelnen Dinge**).
Tritt in diesen Stellen sowohl bei Bruno als bei Spi-
noza die Natur als die unendliche Totalität des Seienden,
als die Eine ewige Substanz aller einzelnen Dinge in einer
Weise auf, dass sie als ein durch sich seiendes und be-
stehendes Ganze, als die absolute, nur in sich selbst ge-
gründete Einheit aller Gegensätze von der rein denkenden
Erkenntniss erfasst wird, der das Einzelne und Veränder-
liche als solches ein nicht für sich , und darum nicht wahr-
haft Seiendes sein kann: so ist Spinoza mit Bruno auch
darin eins, dass er diese Natur doch wieder nur als Werk
und Darstellung einer höheren Einheit, ihre Unendlichkeit
und Vollkommenheit als Ausfluss und Wirkung der gött-
lichen Unendlichkeit hinstellt. Denn auch jene Seite der
spinozistischen Lehre, nach der aus dem Gottesbegriff die
Realität alles Idealen, die Wirklichkeit alles Möglichen ab-
geleitet wird, nach der in der unendlichen Macht und Liebe
Gottes der Grund liegt, warum das Wirkliche unendlich,
der Libegriff aller Vollkommenheit sein muss — auch diese
dem rein pantheistischen Standpunkte entgegengesetzte
Seite findet in Bruno ihr Vorbild. Denn wenn er auch da
und dort so spricht, als sei nur die Einheit der Welt er-
kennbar, die überwesentliche und tibersubstantielle Einheit
Gottes aber kein Gegenstand der Philosophie, sondern nur
*) OPP- it. n, 28: Tutti si muovono dal prtncipio interna^
eVh la proprio anima. I, 186: Questi corridori (die Planeten)
Kanno ü principio di meto intrinaeco, la proprio natura, la pro-
prio anima , la proprio inteUigenza,
**) n desio di conaeroarsi^ ü quäle spinge ogni coao come prin-
cipio intrinaeco.
— 118 -
des Glaubens*), so stellt er doch an andern Stellen ganz
bestimmt die in sich geschlossene, absolute, gegensatzlose
Einheit Gottes der unendlichen, in die Gegensätze ent-
wickelten Einheit des Universums gegenüber, ijnd betrachtet
diese als Spiegelbild und Ausfluss von jener, als durch
nothwendige Offenbarung und Mittheilung aus ihr hervor-
gegangen**).
Warum wollen oder können wir denken, fragt er***),
dass die göttliche Wirksamkeit müssig gehe? Warum
wollen wir sagen, dass die göttliche Güte, welche sich den
unendlichen Dingen mittheilen und sich ins Unendliche er-
giessen kann, karg sein und sich auf Nichts beschränken
wolle, denn jedes Endliche ist Nichts im Vergleich mit
dem Unendlichen? Warum sollte das Bild der Gottheit
nicht in einem unbegrenzten Spiegel leuchten, der ihrem
Wesen entsprechend unendlich und unermesslich wäre?
*) Opp. it. I, 275: H conoscere questa unith (der Weltseele
als Einheit von Potenz und Actus, Materie und Form) h ü scopo
e termine di tutte le filosoße e contemplazioni naturali: lasdando
ne* 8uoi termini la piü alta contemplazione , che asoende sopra Za
natura, la quäle a chi non crede ^ impoaaibile e nidla ... Si vi
monta per lume sopranaturale, non naturale,
**) In den Dialogen de rinfinito, universo e mondi, Opp. it. ü,
17 ff. , z. B p* 22: LHnfinito implicato nel simplicissimo et indi-
viduo primo principio . . . venga esplicato in guesto suo simtdacro
infinito et interminato, Vergl. damit De gli eroici furori II, 408 f.
in der Erklärung einer Allegorie: [V eroico] Vede VAmfitrite, iL
fönte di tutti numeri, di tutte specie, di tutte ragioni, cKh la mo-
nade, vera essenza de Vessere di tutti, e se non la vede in sua
essenza, in asnoluta luce, la vede ne la sua genitura, che V h eimile,
ch*k la sua imagine: per che da la monade, cKh la divinitade,
procede questa monade, ch^h la natura, Vuniverso, il mondo, dave
si contempla e specchia, come il sole ne la Iv/na .... secondo che
Vunitä ^ distinta ne la generata e generante, o pro-
ducente e prodotta.
***) Opp. it. n, 25.
— 119 -
Ans denselben Gründen, aus denen es angemessen, gnt,
nothwendig ist, dass diese als endlich gedachte Welt sei,
ist es angemessen nnd gut, dass alle andern unzähligen
Welten seien, denen aus denselben Gründen die Allmacht
das Sein nicht neidet, ohne deren Sein sie vielmehr der
Tadel träfe, entweder dass sie nicht könnte oder nicht
wollte . . . Welcher Grund will, dass wir glauben, die
Macht, welche ein unendliches Gut machen kann, mache
es endlich ? und wenn sie es endlich macht, warum sollen
wir glauben, dass sie es unendlich machen kann, da Können
und Thun in ihr Eins ist? Weil sie unveränderlich ist, ist
in ihr kein Zufall in der Wirkung noch in der Wirkungs-
kraft, sondern von bestimmter und deteiminirter Wirkungs-
kraft hängt unabänderlich eine determiriirte und bestimmte
Wirkung ab. Darum kann sie nicht anders sein als sie
ist; sie kann nicht so sein, wie sie nicht ist; sie kann
nicht anderes können als was sie kann, nicht anderes
wollen als was sie will, und darum kann sie nothwen-
digerweise nichts anderes machen als was sie macht...
Was nie war, nie ist und nie sein wird, ist auch nicht
möglich. Der Wille der unendlichen Macht ist, weil er
unveränderlich ist, die Unveränderlichkeit selbst, ist aus-
serdem die Nothwendigkeit selbst, weshalb in der That
Eins und dasselbe Freiheit, Wille und Nothwendigkeit,
Eins und dasselbe das Thun mit dem Wollen, Können und
Sein ist.
Vergleichen wir damit zuerst die Sätze, durch die
Spinoza im zweiten Capitel (p. 18 ff.) beweist, dass in Gottes
Verstand keine Substanz vollkommener sein könne, als sie
in der Natur wirklich sei, d. h. dass jede Substanz nur als
unendlich gedacht werden könne, dass überhaupt in Gottes
Denken nichts sei, was nicht wirklich in der Natur sei: so
beruft er sich hiefür darauf, dass es der göttlichen Macht
und Güte zuwider wäre, dass es Neid der göttlichen All-
macht sein müsste, wenn sie nicht dem von ihr Geschaffenen
— 120 —
alles gäbe, was sie geben kann; dass es zur Vollkommen-
heit Gottes gehöre, Alles zu produciren, was producirbar
ist; dass umgekehrt was nie ist, auch nicht möglich ist
Das vierte Capitel handelt „Von Gottes nothwendiger Wir-
kung" und behauptet, Gott könne nicht unterlassen, was
er wirkt, Alles sei von Ewigkeit mit Nothwendigkeit prär
destinirt; und der Grund für diese Annahme ist wie bei
Bruno die ünveränderlichkeit Gottes , kraft der Gott nicht
ohne das Wirken sein kann, das mit Nothwendigkeit aus
seinem Wesen folgt; und ebenso schliesst er mit der Hin-
weisung auf die göttliche Freiheit, die Eins sei mit seiner
Vollkommenheit.
Wenn nun auch in einem Theile dieser Stellen nur
hypothetisch geredet wird, in apagogischen Beweisen oder
aus dem Sinne der Gegner heraus , um ihre Einwendungen
zu widerlegen; wenn auch Spinoza nirgends die Unter-
scheidung Brunos zwischen dem Unendlichen, wie es über
allen Gegensätzen ist und dem Unendlichen, wie es die
Totalität aller Gegensätze ist, zwischen Gott und dem
Universum macht, sondern beide ausdrücklich identificirt,
so wird sich doch kaum läugnen lassen, dass seine Dar-
stellung im Tractat überall die Spuren eines Processes
trägt, in welchem ihm die ursprünglich auseinanderliegen-
den Begriffe der transscendenten und der immanenten Ein-
heit erst zu Einem Begriff zusammengegangen sind; dass
er zwar die Identität von Natur und Gott im Princip schon
völlig bewusst vollzogen, aber doch noch nicht bis zu der
Consequenz des Satzes verfolgt hat, den das Scholion zu
Eth. I, 17 ausspricht: Ad Dei naturam neque intellectum
neque voluntatem pertinere.
Weit deutlicher als im ersten Theile tritt die Ver-
wandtschaft mit Brunos Gedanken und die Nachwirkung
platonisirender Lehren im zweiten, psychologischen und
ethischen Theile heraus. Mit Ausnahme der aus Cartesius
berübergenommenen Aufzählung der einzelnen Passionen
— 121 —
sind die Grundgedanken alle in Brunos Schriften, besonders
in den Dialogen Degli eroiei furori nachzuweisen.
Zuerst ist es die Grundlage des ganzen zweiten Theils,
die Unterscheidung der vier, beziehungsweise drei Arten
und Stufen der Erkenntniss, welche sich bei Bruno fast
mit denselben Ausdrücken findet, welche der Tractat ge-
braucht. Allerdings bleibt Bruno sich in dieser Hinsicht
nicht vollkommen gleich; er variirt nicht bloss zwischen
den lateinischen und italienischen Schriften, sondeni inner-
halb dieser selbst; er entwickelt das einemal eine längere
Stufenleiter, indem er die sinnliche und imaginative Er-
kenntniss in ihre specielleren Unterschiede gliedert, und
über die intuctive Erkenntniss durch den Intellectus, noch
den neuplatonischen Begriff der Mens als absoluter Ein-
heit von Erkenntniss und Gegenstand, von Subject und
Object, von Einem und Vielem, ein absolut zeitloses, mit
dem göttlichen Denken identisches Erkennen setzt; das
anderemal zieht er die ganze Eeihe der Unterschiede in
die drei Hauptstufen der Imaginatio, Ratio, Mens zusam-
men. Aber in der Schilderung gerade der . wichtigsten
Stufen, der Eatiö und des Intellectus bleibt er sich gleich ;
und eben diese wiederholt Spinoza.
Die Batio ist nemlich die Fähigkeit zu schliessen, aus
Bekanntem Unbekanntes, aus dem Einzelnen den allge-
meinen Begriff, aus dem Grunde die Folge, aus der Wir-
kung die Ursache zu erkennen; ihr Wesen ist das dis-
cursive Denken, das vermittelst der Argumentation von
Punkt zu Punkt fortschreitet, aber eben darum sein Object
immer nur an einzelnen Punkten berührt, wie ein Blinder,
der im Finstern tappt, immer im Suchen begriffen, nur
eine Vorbereitung für die volle und wahre Erkenntniss.
Diese ist Sache des Intellectus, und besteht in einer
unmittelbaren, das Ganze des Objects gegenwärtig haben-
den Anschauung, die zugleich Einheit des erkennenden
Subjects und des erkannten Objects ist; wer so erkennt.
— 124 —
knngen zur Ursache Gott zu erkennen unternimmt, gleicht
den Menschen in der platonischen Höhle, welche nnr die
Schattenbilder an der Wand vorüberziehen sehen, aber des
wahren Lichtes nicht theilhaftig sind*).
Die Erkenntniss Gottes kann rmt eine unmittelbare,
intuitive und darum nur eine durch die Oflfenbarung Got-
tes selbst verliehene, plötzlicher Erleuchtung vergleichbare
sein**). Gott selbst gibt sich dem menschlichen Geiste
zu erkennen; ist er doch dem Geiste nahe und in ihm selbst
gegenwärtig, ja näher als der Geist selbst sich ist***).
Fast Satz fttr Satz finden wir diese Lehren bei Spinoza
wieder. Durch nichts Aeusseres kann Gott sich uns zu
erkennen geben. Wenn Gott aus einem Andern erkannt
werden sollte, so müsste dieses unserem Verstände näher
sein als Gott, der doch die Ursache aller Erkenntniss
unserer selbst und der endlichen Dinge ist. Und gesetzt
auch, es gäbe ein einzelnes endliches Ding, das uns be-
kannter wäre als Gott, so könnten wir doch daraus nim-
*) n,426.
**) n, 425: La divina verith^ mostrandosi a quei pocchi^ a
li quali si mostra , non proviene con misura di moto e tempo . . .
ma subito e repentinamente , secondo il modo che conviene a tdU
efficiente. Onde non ^ richiesto van dücorso di tempo, fatica di
studio, et atto d'inquisizione per averla, ma cosi prestamente «*»n-
gerisce, come proportionalmente il lume solare senza dimora si fa
presente a cht se gli volta, e se gli apre . . . lAt, divina mente cerca
et ellegge il suggetto . . . secondo il stw heneplacito vuol fürsi ritro^
vnre (die Offenbarung wird sowohl solchen zu Theil , die nicht sich
dafür disponirt haben, als solchen, welche sie suchen und sich da-
für vorbereiten; immer aber durch einen Act der Gottheit selbst, die
sich zu erkennen gibt).
***) II , 387 . , . venir oL piü intimo di sk , considerando che
dio h vicinOy con sk e dentro di sk, piü chV egli medesimo esser non
si possa. 341: Non necessario di cercare fuor di sh la divinitä.
Perb hen si dice, il regno di Dio esser in noi, e la divinitade abüar
in not per forza del riformato intelletto e voluntade.
— 125 —
mermehr zur Erkenntniss Gottes kommen; denn wie ist
es möglich^ dass wir aus einem endlichen und begren^^ten
Ding auf ein unendliches und unbegrenztes schliessen soll-
ten? Und wiewohl wir schon einige Wirl^ungen oder Werke
in der Natur bemerkten, deren Ursachen uns unbekannt
wären, so wäre es dennoch unmöglich für uns, daraus zu
schliessen, dass, um sie hervorzubringen, eine unendliche
und unbegrenzte Ursache da sein müsse ; denn wie können
wir daraus wissen, ob, um eine solche Wirkung hervorzur
bringen, viele Ursachen zusammengewirkt haben, oder ob
es nur eine einzige gewesen ist? Wer soll uns das sagen?
Deshalb schliessen wir mit Recht, dass Gott, um sich den
Menschen zu erkennen zu geben, weder Worte, noch Wun-
derwerke, noch irgend ein anderes geschaflFenes Ding
brauchen kann, sondern nothwendig dazu allein seiner selbst
bedarf. Er gibt sich allein durch sein Wesen zu erken-
nen*); aus seiner unmittelbaren OflFenbarung an den Ver-
stand allein fliesst die intuitive Erkenntniss**), die keiner
Logik bedarf, sondern Einigung mit ihrem Gegenstand
und Genuss ihres Gegenstandes selbst' ist ***). Das discur-
sive Denken, die Ratio, ist nur ein guter Geist, der zum
höchsten Ziele hinführt, aber es nicht selbst erreicht.
Diese unmittelbare Erkenntniss ist möglich, denn Gott,
ohne den wir nicht sein noch begriflFen werden können, ist
uns näher als irgend ein anderes Ding, näher als unser
eigener Körper, wir erkennen ihn viel besser als wir uns
selbst kennen ****).
Aus der Erkenntniss geht die Liebe hervor, welche
flir Bruno den eigentlichen Kern und Mittelpunkt des ganzen
geistigen Lebens ausmacht , deren Schilderung nach ihren
•) p. 216. 218.
•*) p. 204.!
*♦*) p. 98. 100.
p. 188. 190«
— 128 —
ist die ht^chste Seligkeit; sie lässt alle irdischen Leiden-
schaften, alle Furcht und Hoffnung , ja das Leben selbst
yergessen; wer von ihr ergriffen ist, liebt die Flamme die
ihn verzehrt mehr als andere die Kühlung, mehr seine
Krankheit als andere die Gesundheit, mehr seine Ketten
als andere die Freiheit*). Er ist Gefangener, ist Sklave;
aber die göttliche Liebe drückt ihn nicht nieder auf den
Grund, sondern erhebt^ und verherrlicht ihn hoch hinaus
über alle Freiheit. Ihr Joch ist leichter als Luft ; wer ihr
Sklave ist, ist ein so hochbeglückter Gefangener, dass er
keinem Menschen noch Gotte die Freiheit neidet**). Der
Antrieb zu grossen und herrlichen Thaten geht aus dieser
Liebe hervor, zur Bekämpfung der Finsterniss, zum Jagen
nach der Wahrheit***).
Schritt für Schritt sehen wir auch hier, in der Lehre
von der Liebe, die Sätze des Tractats den Gedanken Brunos
entsprechen. Dieselbe Betonung der Liebe als des Grund-
elements alles geistigen Lebens, die sich in dem Satze
ausspricht, dass ohne Liebe der Mensch nicht bestehen
könnte, dass er wegen seiner Schwachheit durch die Ver-
einigung mit einem Andern sich stärken müsse, dass alles
Guten und Bösen Quelle die Liebe sei, die auf diesen oder
jenen Gegenstand falle; dieselbe Gegenüberstellung der
niederen Liebe zu den vergänglichen Dingen und der hö-
heren zum Ewigen und Göttlichen, entsprechend den ver-
schiedenen Stufen der Erkenntniss; dieselbe Lehre, dass
es unmöglich sei Gott zu erkennen und nicht zu lieben,
dass mit der Liebe des höheren Gutes von selbst der Mensch
von allen niederen Begierden sich reinige ; derselbe Be-
*) n, 332 : In fiamma e aervitii convien ch\ io goda^ fugga la
libertade e tema Ü ghiaccio,
**) n, 402: Si altamente feltce cattivo, che iion tnvidi a sdolto
aitr* uomo o divo,
***) n, 401 ff.
12? -
gnff^mer ToUkommenen Vereinigung mit Gott, vermöge
der Liebe und geliebter Gegenstand Eins werden*) Ja
bis m die paradoxen Ueberschwenglichkeit^n des Ausdrucks
folgt Spinoza seinem Vorbüde: denn jener mit Spinozas
sonstiger Sprache so seltsam contrastirende Ausspruch
unsere wahre Freiheit sei, dass wir mit den Uebfiehen
Ketten semer Liebe gebunden sein und bleiben**) _ er
erinnert zu deutlich an die zahlreichen Antithesen, in denen
Bruno denselben Gedanken ausspricht, als dass wir nicht
an eine Keminiscenz der volontaria cattivitä, des dolce,
mente legare Brunos denken soUten. Ganz wie JBruno
preist Spinoza die herrlichen Wirkungen der Liebe
dass sie göttliche Gedanken erzeugt, und treibt sie andern
mitzutheilen; wemi.Bruno von ihr sagt, dass sie einer un-
endlichen Steigerung fähig sei, dass sie immer weiter und
weiter strebe, unendlich sei um ihres unendlichen Ob
jects wülen, und keine Grenze noch Mass ihrer Seliekeit
kenne***): so sagt Spinoza fast mit denselben Worten*^).
Die Liebe ist unbegrenzt, je mehr sie zunimmt, desto vor-
trefflicher wird sie, und da sie auf ein Object geht das
unendlich ist, kann sie allezeit zunehmen j ebenso wie Bruno
bringt er die Unendlichkeit der Liebe mit der ünsterb
üchkeit in Verbindung, nur mit dem Unterschiede dass
Bruno aus der Unsterblichkeit des Menschen die Möglich
keit einer ins UnendUche sich steigernden Liebe ableitet
während für Spinoza umgekehrt die ins Unendliche wach'
sende Liebe Gottes der Beweisgrund ftir die Unsterblich
keit ist. Ja man könnte versucht sein zu glauben, Spinoza
habe sich durch sein VorbUd zu einer offenbaren Incon-
*) p. 120. vgl. oben S. 78.
Ueffelyhe keeUnen z*jner lief de geboeyend zijn <^ bl^ea
••*)n. p,372. ''
•**»)^8nppl. p. 154.
Sigirait, Sfinoxa's Xnetat. o
-^ 130 —
Sequenz hinreissen lassen. Denn während er sonst immer
sich bemüht, die Erkennbarkeit Gottes festzuhalten, und
die intuitive Erkenntniss Gottes als eine vollkommene Er-
fassung seines Wesens schildert, sagt er mit einemmale
(p. 204): Ich will keineswegs behaupten, dass wir Gott,
so wie er ist, kennen müssen, sondern es ist genug, um
mit ihm vereinigt zu sein , dass wir ihn einigermassen
kennen; denn auch die Kenntniss, die wir von unserem
Leibe haben, ist nicht der Art, dass wir ihn vollkom-
men erkennen — und doch welche Vereinigung! welche
Liebe! So kann also der Mensch in der Liebe das Un-
endliche in sich aufgenommen haben, während er es in
der Erkenntniss nicht erreicht. Eben dies ist wiederum
die Lehre Brunos , der das Streben nach dem Höchsten
für dasjenige erklärt, was dem heroischen Geiste zukomme,
der sich tröstet, dass in der Beschränktheit seiner endli-
ehen Natur er doch dieser höchsten Begeisterung föhig
sei*). Spinozas Ausspruch erinnert zugleich an einen an-
dern Platoniker, Picus von Mirandula, der in einem Briefe
an Angelus Politianus ausruft: Sed vide mi Angele, quae
nos insania teneat : Amare Deum, dum sumus in corpore,
plus possumuSf quam vel eloqui vel cognoscere. Malumua
tarnen semper quaerendo per cognitionem nunquam invenirej
quod quaerimus , quam amando possidere **J,
Ist unsere Vermuthung richtig, dass alle diese Ideen des
Tractats nur aus der poetischen üeberschwenglichkeit des
italienischen Dichters unvollkommen in die abstractere und
farblosere Sprache des Philosophen tibersetzt sind, so kann
es uns auch nicht wundern, wenn in der äusseren Form Spi-
noza seinem Vorbilde nachzukommen und die Darstellüngs-
weisC; welche diesem allein als die classische galt, anzu-
wenden versucht — in jenen Ansätzen nemlich, die Un-
*) II, 336.
**) Joh. Pici Opp. ed. Basil. Ep. p. 250.
— l3t —
teröuchung dialogisch zu gestalten, in denen wir ohne
Zweifel die frühesten Proben der schriftstellerischen Thätig-
keit Spinozas haben. Der eine Dialog zeigt freilich auch
hier den nüchterneren Geist des Philosophen; während
Bruno die verschiedenen Richtungen, die er in Conflict setzt,
vollkommen zu personificiren weiss, und die dramatische
Lebendigkeit dadurch steigert, dass er historische Persön-
lichkeiten, wie z. B. Fracastorio und Tansillo, auftreten
lässt, begnügt sich Spinoza mit allegorischer Personification,
und vertheilt Rede und Gegenrede an die Liebe, den Ver-
stand, die Begierde, die Vernunft; aber in dem anderen
Dialogen erinnert er um so mehr an Bruno, denn der
Philosoph, der Spinozas eigene Ansicht darfegt, trägt genau
denselben Namen, unter dem Bruno fast in allen Gesprächen
auftritt, den er sich selbst auf den Titeln seiner Werke
beilegt, den Namen Theöphilus.
Mag nun aber aus Bruno oder aus einer andern Quell^
Spinoza die eigenthümlich mystische Ethik' seines Tr^ctats
geschöpft haben — soviel ist jedenfalls unzweifelhaft, dass
die Ideen des Neuplatonismus der Restaurationszeit auf
ihn eingewirkt und die früheste Form seiner Lehre vor
Allem im Gebiete der Ethik bestimmt haben. Steht dies
aber fest, so lässt sich die innere Entwicklung, die er
durchgemacht hat, aus der tiefen Verschiedenheit der An-
regungen erklären, die er theils von dort, theüs aus der
cartesianischen Philosophie empfing; sie stellt sich dar als
ein Process, in dem er die heterogenen Elemente in einan-
der zu verschmelzen suchte. Nicht so, als ob er sie äusser-
lich vermittelt, durch gegenseitige Concessionen einen
Compromiss gesucht hätte: seine Originalität bestand darin,
dass er im Begriffe der absoluten Substanz den Punkt fand,
von dem aus in consequenter Verfolgung ihrer Bestim-
mungen sowohl die mechanische Physik des Gartesius als
die idealistische Ethik des Piatonismus sich ableiten liess.
Es ist ein Beweis der Kraft seines Geistes, dass man der
9*
— 132 —
Ethik nur wenig mehr die tiefe EInft ansieht^ welche ur-
sprünglich seine Metaphysik und Ethik, die Bestimmung de£t
Gottesbegriflfs als der Einen Natur und seine Lehre von der
Liebe Gottes trennte , die durch unmittelbare Offenbarung
Gottes im Geiste erzeugt wird, dass er den Widerspruch
verwischt hat, den der Tractat zwischen der Gleichstellung
von Materie und Geist, als den beiden Attributen des gött-
lichen Wesens, und der idealistischen Ueberordnung des
Geistes über den Körper, des Denkens über die Ausdieh-
nung schroff heraustreten lässt. Der Gott, der die Einheit
der Natur, die Substanz als logische Zusammenfassung des
Wirklichen im höchsten Gattungsbegriffe des Seins ist,
dessen Wirken vor Allem in der mechanischen Nothwen-
digkeit der materiellen Bewegung sich offenbart, ist ein
anderer als der Gott der Neuplatoniker, der sich dem ein-
zelnen Geiste offenbart, selbst geistig Gegenstand jener be-
seligenden Liebe, jener mystischen Vereinigung, jener
Verwandlung des endlichen Geistes in sein Object ist.
Die verständige, auf die Entwicklung der Begriffe der
Substanz und Causalität gestellte Betrachtung Gottes und
der Welt, und die platonisirende Liebesbegeisterung liegen
in einem Widerspruche, der desto schärfer ist, je weiter
Spinoza in seiner Metaphysik sich von dem platonisiren-
den Idealismus entfernt, und in der Auffassung des. Wirk-
lichen der Eichtung zugewendet hat, welche das Materielle
als das Erste, und die Ideen nur als die Abbilder des
Wirklichen ansieht, je vollständiger er in der Physik des
17. Jahrhunderts gefangen ist, und demgemäss die Materie
als etwas durch sich Bestehendes, und die Bewegung der-
selben nicht als Ausfluss einer innerlich sie treibenden Idee,
sondern als die Fortpflanzung des Stosses annimmt, und sie,
um die vorhandene Bewegung zu erklären, als eine ewige
auch in philosophischem Sinne annehmen muss. Diese
Gegensätze einer idealistischen Auffassung Gottes, nach
der er der Urquell der Ideen und durch sie der Beweger
der Welt ist, und der naturalistischen, die ihn vor Allem
— 133 -^
als Naturnothwendigkeit fasst, die nur Object nicht Er-
zeugniss des Denkens ist, — diese Gegensätze mussten fttr
Spinoza versöhnt werden, und der Fortschritt vom Tractat
zur Ethik, und damit die charakteristische Eigenthtimlich-
keit seiner (xeistesrichtung besteht in der Art und Weise,
wie er diese Versöhnung vollzogen hat. Es konnte bei
einem Denker von Spinozas geistiger Individualität nur
Einen Weg geben. Der „Klarheit und Deutlichkeit**, zu
Liebe wurde der Idealismus geopfert. Alle jene zwar er-
hebenden und erwärmenden, aber nicht klaren und deut-
lichen, einem mehr poetischen als streng logischen Geiste
entsprungenen Ideen von Vereinigung mit Gott, Genuss
Gottes als Folge innerer Erleuchtung würden durch die
fortschreitende begriffliche Bearbeitung, durch das Bedürf-
niss strenger Deduction zurückgedrängt; indem Spinoza die
dritte Erkenntnissweise und Alles was von ihr abhängt, in
bestimmte BegriflFe zu fassen, ihr einen verständlichen In-
halt zu geben suchte, musste er auf seinen naturalistischen
Gottesbegriff zurückgehen, er musste zeigen, wie und durch
welche Vermittlung dieser der Gegenstand einer intuitiven
Erkenntniss sein könne, und so trat als Ziel des mensch-
lichen Erkennens u'nd Denkens immer mehr nur die Er-
kenntniss der Nothwendigkeit alles Einzelnen, und seines
Begründetseins in dem Einen Sein auf. Er setzt mit an-
dern Worten an die Stelle des platonischen Begriffes einen
Gedanken, der dem Cartesius weit näher liegt, wenn dieser
(Princ. phil. 1, 24) sagt: Perspicuum est optimam phüoso-
phandi viam nos secuturos, si ex ipsius Dei cognitione rerum
ab €0 creatarum explicationem deducere conemur, ut ita scien-
tiam perfectissimamy quae est effectuum per causas, acquiramus.
So wurde die dritte Erkenntniss zu dem, als was sie die
Ethik beschreibt, wenn sie sagt, sie gehe von der adäquaten
Idee des formalen Wesens der göttlichen Attribute fort zur
adäquaten Idee der Essenz der Dinge. In diesen abstracten
Ausdruck sind die Schilderungen unseres Tractats ver-
trocknet ; und sein Inhalt ist kein anderer als Einsicht in
— 134 —
die logische Nothwendigkeit des Verhältnisses von Spb-
stanz nnd Modus. Dies war die Beligion, welche dem
consequenten Spinoza übrig blieb. Aber ein Best jener
platonisirenden Mystik widerstand der Auflösung unseres
ganzen Seins und Wesens in den materiellen MechanismuB
der Bewegungen, die unsem Körper bilden, und in den
logischen Mechanismus der Begriffe, und jene intellectuelle
Liebe Gottes, die im ftinften Buche der Ethik freilich erst
als Eesultat eines verwickelten Fortschritts der Erkennt-
niss, nicht mehr als unmittelbare Gabe Gottes auftritt, ist
der letzte Best der Lebenswärme, die einst den Tractat
durchdrungen hatte, der letzte Hauch, der den erstarren-
den Körper verklärt.
Excurs
über die Abfassiingszeit des Traetates.
Eine Untersuchung über die Abfassungszeit der uns
vorliegenden Schrift Spinozas ist darum ziemlich ver-
wickelt, weil wir in derselben von vom herein mehrere
Schichten verschiedenen Alters zu unterscheiden haben.
Doch können zunächst nur zwei Hauptbestandtheile in Be-
tracht kommen : die Hauptmasse der Abhandlung, und der
Anhang. Ist für die erste die Zeit annähernd festgestellt,
so darf angenommen werden, dass die dialogischen Frag-
mente in Cap. 2, die für sich gar keinen Anhaltspunkt
bieten, älter sind; über die Zusätze dagegen lässt sich
schon deswegen im Allgemeinen nichts Bestimmtes aus*
machen, da sie ohne allen Zweifel verschiedenen Zeiten
angehören, indem einzelne derselben entschieden früher
sind als der Anhang*), einer wenigstens den Anhang selbst
begleitet ; das Yerhältniss jedes einzelnen Satzes aber zu
untersuchen würde in ein endloses und unfruchtbares De-
tail fuhren.
Wir beschränken uns also auf die Erörterung der
Frage, in welcher Zeit der Tractat selbst und der Anhang
entstanden seien, und nehmen davon Veranlassung, über
die Entstehung der Ethik überhaupt diejenigen Data zu-
sammenzustellen, welche die neu publicirten Briefe zusam-
men mit dem Inhalt der verschiedenen Schriften und den
Andeutungen der bisher bekannten Briefe geben — eine
Untersucjiung, welche auch flir die Erkenntniss der Grund-
begriffe, des Spinozistischen Systems nicht ohne Bedeu-
tung ist.
•) Vgl. p. 26 Zna. 2 mit p, 238 prop. IV,
— 136 —
Einen äusserst wichtigen Anhaltspunkt bietet uns nun
der Briefwechsel Spinozas mit Oldenburg, zumal in den
ersten Briefen, welche unsere längst bekannte Sammlung
eröffnen*). Oldenburg erinnert in seinem Briefe vom
10. August 1661 (Ep. 1, 2) den Philosophen an ihre Ge-
spräche „über Gott, fiber die unendliche Ausdehnung und
das unendliche Denken, über Unterschied und Ueberein-
»timmung dieser Attribute, über die Art der Einigung der
menschlichen Seele mit ihrem Körper" und bittet um wei-
tere Aufklärungen. In der Antwort darauf (ohne Datum,
aber, da die Etickantwort vom 87. Sept. datirt ist, Ende
August oder Anfang September 1661) entwickelt Spinoza
(Ep. 2, 3 — 6) die Grundbegriffe seiner Lehre. Er giebt
ihm die Definition Gottes: Ens constans infinitis attributüj
quorum unumquodque est inftnitum sive summe perfectum
in 8U0 genere; er fügt bei, dass er unter Attribut alles
das verstehe, quod concipitur per se et in «e, adeo ut
ipsius conceptus non involvat concepium alterius rei. Aus
dieser Definition, fährt er fort, sei es leicht, die Existenz
Gottes zu beweisen. Um dann der Frage Oldenburgs Ge-
ntige zu thun, worin der wahre Unterschied der Ausdeh-
nung und des Denkens bestehe, beginnt er drei Sätze auf-
Äjistellen: 1) in der Natur können nicht zwei Substanzen
existiren, die nicht durch ihr ganzes Weßen verschieden
wären , 2) eine Substanz könne nicht hervorgebracht wer-
den, sondern es gehöre zu ihrem Wesen zu existiren,
3) jede Substanz mtisse unendlich oder höchst vollkommen
in ihrer Gattung sein. Wenn diese Sätze bewiesen seien,
so sei leicht zu sehen, wohiu er ziele. „Um aber (§. 6)
dies klar und kurz zu beweisen, konnte ich nichts besse-
res thun als es nach geometrischer Methode dargelegt
*) Ich citjre die Briefe nach der Brudefschen Ausgabe, wo sie
Boit Paragraphentheilüng versehen sind; da die Zählung derselben
in allen Ausgaben dieselbe ist, so sind die Citate, abgesehen Ton
den Paragraphen, für alle gültig. Die neu aufgefundenen oder zum
erstenmal vollständig .mxtgetheilten Qriefe citire ich nach, den Seiten
des Van Yloten'schen Supplementum.
— 137 —
Deiner Prtifdng unterwerfen und schicke es hierbei be-
sonders/*
Die Anmerkung, die die Herausgeber hier beifiigen,
verweist auf die ersten Sätze der Ethik. Versuchen wir
uns aber aus den Andeutungen der späteren Briefe, in
denen diese Beilage besprochen wird, ihren Inhalt herzu-
stellen, so zeigt sich bald, dass sie mit dem, was wir jetzt
in der Ethik lesen, weder nach der Ordnung der Sätze,
noch nach dem Wortlaute derselben tibereinstimmte*).
Die Beilage enthielt nemlich zuerst Definitionen, de-
ren Anzahl nicht genannt wird, dann 4 Axiome, endlich
3 Sätze mit einem Schölion**). Sie lauteten so:j
I. Definitiones.
[1. Deum definio esse Ens constans infinitis attributis
quorum unumquodque est infinitum sive summe perfectum
in suo genere***).
2) Per attributum intelligo omne id quod concipitur
per se et in se, adeo ut ipsius conceptus non involvat con-
ceptum alterius rei. Ut ex. gr. extensio per se et in se
concipitur ; at motus non item. Nam concipitur in alio, et
ipsius conceptus involvit extensionem ****)].
*) Böhmer hat S. 49 ff. seiner Schrift dieselbe Herstellung ver-
sucht und für die Beweise mit grossem Scharfsinn die Ethik her-
beigezogen. Ich habe mich oben begnügt, dasjenige zusammenzu-
stellen, was durch die Stellen der Briefe unzweifelhaft belegt wird,
und möchte, bei aller Anerkennung der Böhmer'schen Conjecturen,
darüber nicht hinausgehen. Ich bemerke dabei, dass ich die nach-
folgende Untersuchung völlig unabhängig von Dr. Böhmer*s Schrift,
die mir längere Zeit nicht zur Hand war, angestellt habe. Dass
ich in allen wesentlichen Punkten auf dieselben Resultate kam, —
nur weniges wird durch die von Vloten publicirten Briefe noch be-
stimmter zu erkennen möglich — beweist wohl für die Sicherheit
derselben. Für manche Andeutung, die ich übersehen hatte, bin ich
übrigens Dr. Böhmer zu Dank verpflichtet.
**) Ep. 3, 5. 4, 6 steht Quarto denique von den Axiomen.
4, 1: tres, quaa misi, propoaitionea, übereinstimmend mit 2, 5.
***) Ep. 3, 3. 4, 7.
^***) Ep. 2, 3. 4, 2. Ich setze die beiden Definitionen in Ellam-
— 140 —
So hatte also Spinoza seine Sätze im Angnst und
September 1661 fonnulirt. Vergleichen wir nnn damit die
entsprechenden Darstellungen des Tractats und des An-
hangs, so springt sElsbald eine überraschende Ueberein-
stimmnng in die Augen. Die Definition Gottes im zweiten
Capitel des Tractats weicht von der Definition der Ep. 2
nur unwesentlich ab, noch weniger die Formel, die das
Corollarium des Anhangs gibt*). Die übrigen Definitio-
nen finden sich in unserer Schrift nicht ausdrücklich her-
vorgehoben, denn der Anhang unterlässt es auffallender-
weise Definitionen aufzustellen und beginnt die „geo-
metrische" Daretellung mit den Axiomen ; aber es ist im Ver-
lauf der Untersuchung**) schon darauf hingewiesen worden,
wie genau die Identität der Begriffe Substanz und Attribut
dem Standpunkte des Ti-actats entspricht. In der Defijii-
tion des Accidens tritt allerdings eine leichte Aenderung
ein; fllr den Tractat (p. 78) ist Accidens oder Modus das,
was nicht durch sich, sondern nur durch die Attribute
existirt und durch diese als seine Gattungsbegriffe be-
griff» wird; die Beilage des Briefs an Oldenburg lässt den
zu verwerthen. Es handelt sich im Briefe um das Yerbältniss eines
einzelnen Körpers zum Ganzen der Ausdehnung. Ratione Sub-
stantiae unamquamque partem arctiorem unioneta cum stio toto
habere concipio, Nam ut ante hac in prima mea Epistola, quam
Ehenoburgi adkud käbitans tibi scripsiy conatus sum demonstrare^
guum de natura substantiae sit esse inßnitam, sequi ad naturam
substantiae corporeae unamquamque partem pertinere , nee sine ea
esse aut concipi posse. Denn es ist sonst keine Spur vorhanden, dass
Spinoza auf die substantia corporea besonders eingegangen wäre.
Als Consequenz freilich liegt, was Spinoza hier anführt, schon in
den oben gegebenen Sätzen.
*) Tract. Cap. 2: Ens de quo omnia sive infinita attributa di-
cunturj quorum unumquodque in suo genere infinite perfectum est,
Ep. 2: Ens constans infinitis atiributis, quorum unumquodque
est infinitum sive summe perfectum in suo genere.
Appendix: Infinitis constat attributis, quorum tmumguodgue
ipsum infinitum et in genere suo perfectum est,
**) S. 42.
— 141 -
Gattungsbegriff weg, und setzt wenigstens durch die Stellung
den Modus der Substanz, nicht dem Attribute gegenüber.
Weit schlagender wird die Uebereinstimmung, wenn
wir zu den Axiomen und Sätzen tibergehen. Nach der
ganzen Anlage des Tractats ist keine Veranlassung die
Axiome ausdrücklich hervorzuheben, aber sie werden überall
vorausgesetzt, insbesondere das dritte und vierte p. 20
ausdrücklich auf den Satz begründet Ex nihilo nihil fit —
gerade wie in Ep. 4, 6 ; das erste und zweite aber liegt in
der Lehre von der Definition p. 78. Der Anhang da-
gegen führt 7 Axiome auf, welche nach ihrem Wortlaut und
ihrer Ordnung denen der Briefe sehr nahe kommen. Das
erste ist in beiden Bedaction^n gleichlautend, nur dass der
Anhang statt accidentibus „wijzen^^ (modis) setzt; das zweite
der Briefe zerßült im Anhange in zwei zusammengehörige,
mit leichter Aenderung des Gedankens *) ; die beiden fol-
genden entsprechen sich bis auf unwesentliche Verschieden-
heiten des Ausdrucks; am Schlüsse hat der Anhang zwei
Axiome mehr, nemlicb: Hlud quod sui ipsius causa est, se
ipsum non potuit determinare und lUud per quod res conser-
vantur (onderhouden worden) natura st*a illis rebus prius est.
Vom letzteren Axiome macht Spinoza in den uns vorliegen-
den Sätzen und Beweisen des Anhangs keinen Gebrauch,
dtii wenn wir das ^onderhouden worden^ in dem Sinne ver-
stehen, in welchem p. 39 die Substanz yyvan alle eigen-
schappen een onderhouder^^ heisst, so fällt das letzte Axiom
*) Dem 2. Axiom der Briefe : Praeter substantias et accidentta
nil datur realiter entspridit nemlich im Anhang : 2. Bes quae dif-
feruntj vel realiter vel modalüer distinguuntur (cfir. Cart. Frinc.
1, 69. 61). 3. Bee quae realiter distinguuntwr vel attributa diver ea
hdbenty uti cogitationem et extensionem , vel diver sis adscribuntur
attributisj uti intellectus et motuSj quorum unus ad cogitationem,
alter' ad extensionem pertinet. Die Uebereinstimmung erhellt, so-
bald wir uns erinnern, dass attributum und substantia gleichbedeu-
tend sind; nur ist der Ausdruck des Axioms der Briefe klarer, weil
er den Grund davon enthält, lorarum Alles, was sich unterscheiden
lässt, sich nur in der einen oder andern Weise unterscheiden kann.
~ 144 —
read wir uns leieht denken können, dass die Fassung des
ersten Axioms der Ethik: Omnia gitae sunt, ml in se vel
in aUo sunty mit Rücksicht auf den Einwand vorgezogen
wurde, den Oldenburg gegen den Satz: Praeter substantias
et accidentia nil datur realiter erhoben hatte ; während noch
bestimmter das sechste Axiom der Ethik: Idea vera dehet
cum suo ideato convenire dadurch veranlasst scheint, dass
Oldenburg die Begriffe für bloss subjective Erzeugnisse er-
klärt hatte: findet sich im Anhang des Tractats keine An-
deutung davon, dass Spinoza Oldenburgs Einwendungen
schon gekannt hätte und ihnen begegnen wollte*), und so
möchten wir uns der Annahme zuneigen, dass die Fassung
des Anhangs eben fertig war, als Spinoza Oldenburgs
Brief erhielt, und dass er ihm seine Sätze, soweit er sie
eben ausgearbeitet hatte, durch die Definitionen erweitert,
in einer schärferen, vereinfachten Redaction in jener Bei-
lage zusandte.
Somit glauben wir mit zienili<j}ier Wahrscheinlichkeit
annehmen zu können, dass der Anhang kurz vor dem Sep^
temberl661, der Tractat aber eine unbestimmbare Zeit
früher abgefasst, und Spinozas Schülern mitgetheilt wor-
den ist. Daraus würde sich zugleich ergeben, dass der
Tractat — was schon aus seiner weniger strengen Form
wahrscheinlich ist, einige Jahre vor der Abfassung und
Herausgabe der Principia philosophiae Cartesianae und der
Cogitata metaphysica fällt. Denn diese Schriften sind ohne
allen Zweifel in den Winter 1662/63 zu setzen.
Wie verhält sich nun aber der Tractat zu der später
aus ihm entwickelten Ethik? Die oberflächlichste Verglei-
chung gerade des Anfangs der Ethik zeigt, dass kein Satz
unverändert stehen geblieben ist. In welcher Zeit aber,
*) Eine Einwirkung Oldenburgs könnte man höchstens in dem
Zusatz zu p. 18 finden, wo Spinoza den Unterschied zwischen creare
und generare auseinandersetzt. Denselben Unterschied hatte er
Ep. 4, 8 dem Einwand Oldenburgs entgegengehalten, dass die Men-
schen Substanzen und doch nicht causae sui seien.
— 145 —
und durch welche Mittelglieder etwa hindurch die erste
Fassung in die letzte Redaction übergegangen ist, darüber
haben wir freilich nnr spärliche Andeutungen. So lange
man vollends die Briefe nur in der Form kannte , in der
sie von Spinozas Freunden zuerst herausgegeben wurden,
wurde man geradezu irre geführt, indem sie, wie sich jetzt
herausstellt, verschiedene Citate abgeändert hatten, um sie
der gedruckten Ethik zu accommodiren, während sie auf
eine frühere Recension sich bezogen. Durch van Vlotens
Mittheilungen sind wir in den Stand gesetzt, mit einiger
Wahrscheinlichkeit das allmähliche Werden der Ethik zu
verfolgen.
Die wichtigsten Documente sind der Brief von Simon
de Vries und Spinozas Antwort darauf, die beide in ver-
stümmelter Gestalt in der bisherigen Sammlung als £p. 26
und 27 stehen, von van Vloten aber p. 296 flf. vollständig
aus den Originalien mitgetheilt werden. Wir erfahren dar-
aus, zunächst, dass Simon de Vries in Amsterdam mit einigen
Schülern Spinozas ein CoUegium gebildet hatte, in wel-
chem sie, was Spinoza ihnen mittheilte, lasen und erklär-
ten und über etwaige Schwierigkeiten ihn selbst zu be-
fragen beschlossen hatten. Sie stehen eben am Anfang
an den Definitionen und Axiomen. Aus verschiedenen
Spuren geht nun hervor, dass Spinoza ihnen seine Sätze
stückweise schickte, und dass er selbst keine Abschrift
zurückbehielt. Denn wie sie über die dritte Definition Be-
denken haben, schreibt er (Ep. 27, 8): Ipsa definitioy ut
ipsam nifallorj tibi tradidiy sie sonat etc, Simon de Vries
dankt femer für die ihm zugekommenen Schriften, die ihn
sehr erfreut haben, besonders das Scholion zu Prop. 19;
dieser Dank kann sich unmöglich auf dasjenige beziehen,
was er schon längst hat, und dessen Dunkelheiten der Brief
aufzuklären bittet, sondern nur auf eine neue Sendung.
Während er Definitionen, Axiome und wenigstens 8 Sätze
schon in Händen hat, hat er die Fortsetzung, die wohl
neben dem 19. Satz auch die jetzt Eth. 1, 29 Schol.
S 1 g w ar t , Spinoza's Tiactat. |q
— 146 -
Btebende üntersclieiduiig von natura natnrans und natnrata
enthielt (Ep. 27, 7), eben erst erhalten. Ganz dasselbe
wiederholt sich zwei Jahre später , Mai oder Juni 1666,
wenn er einem andern Frennde und Schiller nrsprünglich
den ganzen dritten Theil seiner Philosophie senden wollte,
aber, um ihn und De Yries nicht länger hinzuhalten, einst-
weilen einen Theil schickte, ungefähr bis zum 80. Satz*).
So sehen wir, dass yom Jahre 1661 bis 1665 Spinoza
in der Bearbeitung seiner Lehre nach geometrischer Me-
thode allmählich fortrückt Im Winter von 1662 auf 63
lesen seine Freunde zum zweitenmale schon**) die ersten
Sätze, die schon weiter gediehen sind als der Anhang oder
die Beilage an Oldenburg; Februar 1663 erhalten sie den
19. Satz, 1665 den dritten Theil der Spinozischen Philo-
sophie.
Wie allmählich Spinoza fortschritt, erhellt wohl am
besten daraus, dass nirgends von einem ersten Theile die
Rede ist. Wo die Herausgeber in Ep. 26 Verweisungeü
auf das erste Buch der Ethik setzten, da sind im Original
nur die Sätze gezählt; und erst später scheint ein zweiter
und dritter Theil hinzugekommen zu sein. Ob aber der
dritte Theil, den der Brief vom Jahre 1665 'erwähnt, dem
*) Suppl. p. 304. In demselben Briefe ist davon die Bede, dass
entweder der Freund, an den der Brief gerichtet ist (nach van Ylo-
tens Vermathung Bresser) oder Simon de Yries Spinozas Arbeit
übersetzen wollen. Quod ad tertiam partem nostrae philoso'
phiae attinet, ejus aliguam brevi vel tibi, si translator esse visy
vel amico de Vries mittam. Ist von einer Uebersetzung ins Latei-
nische oder ins Holländische die Rede? Das lässt sich bei den wider-
sprechenden Zeugnissen, welche wir über die Sprache, in der die
frühere Ethik abgefasst war, besitzen, nicht mit Sicherheit aus-
machen. Wahrscheinlicher ist es mir auch hier, dass Spinoza latei-
nisch schrieb, und dass seine Freunde die Uebersetzung ins Hollän-
dische übernahmen, wie es später mit der vollendeten Ethik durch
Jarrig Jellis geschah.
^ p. 295 : Cum nostris coUegis non omnia eaJtis clare appareant^
— ideoque iterum collegii initium fecimus, —
— 147 ~
dritten Buche der Ethik entspricht, oder ob er, was gleich-
falls möglich wäre , damals der letzte war nnd das Werk
abschloss,*) so dass aus den ursprünglichen zwei Theilen
des Tractats zunächst drei und erst später ftlnf geworden
wären, darüber lässt sich nichts Sicheres ausmachen.
Aber wenn wir Ep. 36, 9 vom 13. März 1665 vergleichen,
so finden wir, dass Spinoza dort schreibt, er habe in sei-
ner noch nicht herausgegebenen Ethik (der Name kommt
hier zum erstenmal vor) die Gerechtigkeit als das Be-
streben, jedem das Seine zu geben, aus der klaren Er-
kenntniss, welche die Frommen von sich und von Gott
haben, abgeleitet. Er bezieht sich also ohne Zweifel auf
das, was jetzt Eth. IV, prop. 34 — 38 steht. Wenn nun
zwei Monate später der dritte Theil noch nicht vollendet
ist, so lässt sich schliessen, dass die Ethik damals über-
haupt nur aus drei Theilen bestand. Dasselbe ergiebt sich
aus dem von van Yloten p. 300 ff. zum erstenmale mitge-
theilten Briefe Oldenburgs vom Sept. 1665**) sowie aus
Ep. 14 vom October desselben Jahres. Denn aus diesen
geht hervor , dass Spinoza schon am 4. Sept. geschrieben
hatte, dass er sich mit seinem theologisch -politischen
Tractat beschäftigte; die Ethik hatte er also wohl voll-
endet. Nun bleibt vom Mai oder Juni bis Anfang Sep-
tember kaum Zeit, um einen vierten und ftlnften Theil
der Ethik zu verfassen.
Jedenfalls wissen wir, dass, was Spinoza seinen Freun*
den damals mittheilte, weder der Anhang des Tractats,
noch die Ethik war, die wir jetzt besitzen.
Zunächst waren die Sätze anders gezählt. Die
Definition Gottes stand zwar, wie in der Ethik, als sechste
(Ep. 26, 8). Was dagegen Ep. 26 als dritte Definition
*) Darauf könnte das nihil mittere antequam eam abBolverem
hinweisen. Suppl. p. 304.
**) « . . Video te non tarn philosophari quam, n üa loqui fae eH^
iheologitare; de angeUs quippe^ prophetia. miraculia eogüata tua
eoneigruu . . .
10»
^ 148 ^
aufführt, ist in dem Anhange des Tractats oder den Brie-
fen gar nicht nachzuweisen^ in der Ethik in die dritte und
vierte Definition auseinandergefallen. War aber die dritte
und vierte Definition der Ethik unter Einer Nummer früher
zusammengefasst und doch die Definition Gottes beidemal
die sechste, so müssen noch weitere Differenzen in den
Definitionen selbst oder wenigstens in ihrer Ordnung statt-
gefunden haben. Was dort drittes Scholion zum 8. Satze
war, ist in der Ethik erstes Scholion zum zehnten, und
das Scholion zum 19. Satze, über das Simon de Vries be-
sondere Freude hat, kann unmöglich der ziemlich unbe-
deutende Zusatz sein, der jetzt an dieser Stelle steht.
Ebenso zählt im „dritten Theile" Spinoza (Suppl. p. 304)
schon bis zum 80. Satze, ohne dass er damit vollendet
wäre, während der dritte Theil der Ethik 58 Sätze und
an sie anschliessend 48 Definitionen der Affecte giebt.
Zu dieser abweichenden Zählung kommt eine abweichende
Fassung der Sätze, soweit wir sie angeführt finden.
Das dritte Scholion des 8. Satzes entspricht zwar grössten-
theils dem, was wir jetzt als erstes des 10. lesen;
aber als dritte Definition führt Spinoza an (Ep. 27, 8)-
Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se con^
cipitur^ hoc est cujus conceptus non involvit conceptum aUe-
rius rei. Idem per attrihutum intelligo^ nisi quod attrihutum
dicatur respectu intellectusj substantiae certam talem naturam
tribuentis. Diese Definition des Attributs weicht von der
von 1661 , wo sie mit der Definition der Substanz völlig
gleichlautete, wesentlich ab; ebenso aber auch von der
Definition der Ethik, welche ihr jtanquam substantiae
essentiam constituens^ anhängt. Der Satz femer, dass eine
Substanz mehrere Attribute haben könne, war in doppelter
Weise bewiesen. Der erste dieser Beweise findet sich
jetzt ziemlich wörtlich gleichlautend als die zweite Hälfte
des Scholion zum 10. Satze; der zweite aber, auf den
Spinoza noch grösseres Gewicht legt, nemlich: quo plura
attributa alicui enti tribuOy eo magis cogor ipsi existentiam
~ 149 ~
tribuere, findet sich an dieser Stelle nicht, findet sich in
denselben oder ähnlichen Worten überhaupt nicht in der
Ethik, wenn auch der entsprechende Gedanke im Scholion
zu Prop. 11 (den Beweisen für die Existenz Gottes) aus-
geflahrt ist.
Daraus geht mit Bestimmtheit hervor, dass in den
Jahren 1663 bis 65 die Ethik noch nicht die jetzige Ge-
stalt hatte. Eben so sicher aber lässt sicn aus den An-
deutungen der Briefe erkennen, dass was Spinoza's Freunde
damals lasen, der Ethik schon ziemlich nahe kam, jeden-
falls sich weniger von ihr unterschied als vom Tractate
und der Beilage an Oldenburg. Wir können insbesondere
schliessen, dass die Axiome des Anhangs bereits zu Pro-
positionen geworden waren, indem sonst kaum das Scho-
lion 2u Eth. I, 10 schon als drittes Scholion zum 8. Satze
hätte stehen können.
Diese Andeutungen werden aber unterstützt durch Ep.
29 vom 20. April 1663 , wo Spinoza wieder 3 Hauptsätze
über die Substanz aufzählt. Hier stellt er voran, dass zu
ihrem Wesen die Existenz gehöre; daraus folgt: 2): dass nur
Eine Substanz derselben Natur existirt, sowie 3): dass jede
Substanz unendlich ist Also wieder die Sätze des Trae-
tats, des Anhangs und der Beilage, aber in einer charak-
teristisch veränderten Ordnung, die ganz dem oben nach-
gewiesenen Entwicklungsgange entspricht; dass die Sub-
stanz durch sich selbst existire, wird ihm immer mehr zur
wichtigsten Bestimmung ihres Begriflfs, während es zuerst
ihre Unendlichkeit gewesen war. In den Briefen 39 — 41
aus dem Jahre 1666, die nach Böhmer's Mittheilung in
Fichte's Zeitschrift XLII, S. 85 an Huygens gerichtet
sind, sehen wir ihn durchaus vom Begriffe eines durch sich
selbst existirenden Wesens ausgehen, und daraus seine
übrigen Bestimmungen ableiten. Es ist derjenige BegriflF,
der in der ersten Definition der Ethik auch wirklich an
die Spitze getreten ist, wenn auch in der Ausführung die
frühere Ordnung wieder durchschlägt.
— 150 —
Dass die Ethik in der Gestalt, in der wir sie jetzt
haben, vollendet gewesen, wissen wir erst aus dem Jahre
1675, wo es sich auch um Herausgabe des tractatus
quinquepartitu$ handelt*). Denn in den Briefen, welche 4675
durch Vermittlung SchaUers zwischen Walter von Tschirn-
hausen und Spinoza gewechselt wurden (Ep. 13-73), wird
die Ethik von Anfang an so citirt, dass keine wesent-
liche Differenz mehr zu entdecken ist; kleine Abwei-
chungen im Einzelnen können sehr wohl auf Rechnung
einer ungenauen oder abktlrzenden Anführung kommen**);
höchstens könnte aus Ep. 66, 2 geschlossen werden , dass
Spinoza die Ordnung der Axiome nach 1675 noch ge-
ändert hat.
Vergleichen wir nun die Gestalt, welche die ersten
Sätze der Ethik mindestens vierzehn Jahre nach dem
ersten Entwurf gewonnen haben, so verräth sie in einer
grösseren Ausftthrlichkeit das Bestreben, jeden einzelnen
Schritt im Gange des Denkens möglichst scharf und be-
stimmt hervorzuheben. Sie löst, was früher enthymema-
tisch zusammengefasst war, in die einzelnen Prämissen
auf. Sie verweist ferner die Axiome, welche die Beilage
an Oldenburg aufgezählt hatte, unter die Propositionen;
mit vollem Recht, denn Spinoza hatte ja Sjßhon damals
gezeigt, dass sie Folgerungen aus den Definitionen seien,
die Würde von Axiomen also streng genommen nicht
haben können. In den Definitionen und Axiomen der Ethik
sehen wir femer das Resultat einer weit vollständigeren
Analyse, welche bestrebt ist aller Voraussetzungen sich be-
wusst zu werden, welche früher als selbstverständlich nicht
*) Ep. 18 an Oldenburg.
**) Die SteUen sind: Ep. 63, 1. 64, 3. 65, 2. 3 (hier hat der Brief
»,,quo plus realitatis aut essehabeat, eoplura ei competant at-
trihuta (mit dem Ausdruck der prop. 9), die entsprechende Stelle
der Ethik, I, 10. Schol.: eo plura attributa, quae et necessitatem^
sive aetemitaUm et infinitatem exprimunt, kabeatj 65, 4 (vergl. mit
Eih. 1, 23) 66, 2. 3 (der Brief führt Axioma 6 des ersten Theiles an,
wo nur Ax. 4 gemeint sein kann) 4. 5. 6. 7, 8. 67, 1. 68.
^ 151 ~
zum bestinunten Ausdruck gekommen waren, oder den-
selben nur gelegenheitlich geftinden hatten. Aus diesem Be-
streben und aus den vielen voraugehenden Versuchen den
Gang der Entwicklung bald so bald so zu gestalten er-
klärt sich endlich die immerhin künstliche und gezwun-
gene Ordnung, welche den ursprünglichen Gang der Spe-
culation Spinoza's verhüllt. Wir haben ein methodisches
Kunststück vor uns, dessen Zweck die beweisende Dar-
stellung von Gedanken ist, deren genetische Entwicklung
in wesentlich anderer Weise vor sich gegangen wan Die
Krjstalle welche nach einander angeschossen waren, sind
zerschlagen und aufgelöst, um sie aufs Neue unter ver-
änderten Bedingungen krjstallisiren zu lassen.
Es ist von ^Interesse, im Einzelnen eine Yergleichung
anzustellen, und darin zugleich die Resultate der hierher
bezüglichen Untersuchungen zusammenzufassen.
Was zunächst die Definitionen der Ethik betriflft,
so lässt sich von der ersten, welche den Begriff der causa
8ui entwickelt, in den früheren Schriften keine Spur ent-
decken. Spinoza gebraucht zwar den Ausdruck von An-
fang an, er erscheint schon im ersten Capitel des Trac-
tats"*"), überall aber als ein traditioneller, dessen Bedeutung
verständlich ist, und dem in der Gedankenentwicklung
durchaus keine hervorragende Stelle zukommt**). Wie
allmählich sich der Begriff eines Wesens, cujus essentia in-
volmt existentiamy aus den alten ontologischen Beweisen her-
ausgebildet und mit dem Begriffe der Substanz verschmol-
zen hat, glauben wir oben gezeigt zu haben.
Die zweite Definition stand im Wesentlichen gleich-
lautend in der Beilage an Oldenburg, wenn auch dort viel-
leicht res infinita anstatt der res finita definirt war.
In der dritten, der Definition der Substanz, erscheint
•) Suppl. p. 14.
**) De intell. emend. p. 449: Si res sü in m, sivSf ut vulgo
dicitur^ causa sm.
— 152 —
die Bestimmung: quod in se est, in den frühesten Bedac-
tionen des Jahres 1661 noch nicht; sie erscheint ztun
erstenmal in den Definitionen von 1663 (Ep. 27, 8).
Die vierte Definition, die des Attributs, ist noch jünger.
Die Beziehung auf einen intellectus erscheint zum ersten-
mal 1663; der Beisatz: tamquam ejus essentiam constituens,
und ebenso die Formel Attributum aetemam et infinitam
essentiam exprimit, oder redlitatem sive esse aubstanüae
exprimity sind später.
Die flinfte Definition, die des Modus, ist im Wesent-
lichen in der Beilage an Oldenburg enthalten.
Die sechste, die Definition Gottes, hat den Terminus
Substanz in den frtlhesten Redactionen nicht in sich
aufgenommen, sondern setzt Ens; nach Ep.26, 8 war aber
1663 schon Gott als die unendliche Substanz definirt.
Die siebente und achte sind früher nicht nachzu-
weisen. Die achte wird übrigens im Briefe an Huygens
vom 10. April 1666 (Ep. 40, 2) noch nicht vorausgesetzt,
denn dort wird aetemüas und indeterminata duratio noch
nicht unterschieden.
Von den Axiomen ist das erste dem Sinne nach
gleichbedeutend mit dem zweiten der Beilage an Olden-
burg. Alle übrigen sind jüngeren Datums.
Die Propositionen endlich sind grösstentheils in
den Axiomen und Propositionen des Tractats, des Anhangs
und der Beilage an Oldenburg nachzuweisen. Es entspricht
sich nemlich:
Eth.
Tract cap. 2.
Anhang
Beilage
Prop. 1.
—
At. 1.
Ax. 1.
Prop. 2.
—
Ax. 4.
Ax. 3.
Prop. 3.
—
As. 5.
Ax. 4
Prop. 4.
—
Ax. 2 n. 3.
Prop, 5.
Prop. 2.
Prop. 1.
Prop. 1.
Prop. 6.
Prop, 3.
Prop. 2.
Prop. 2.
Prop. 7,
Prop. 4
Prop. 4.
Prop. 2.
Prop. 8.
Prop. 1,
Prop. 3.
Prop. a
— 153 —
Prop. 9 steht schon im Zusatz zum zweiten Capitel
des Traetates; Prop. 10 entspricht der Definition des Attri-
buts in den früheren ßedactionen, nur mit dem Unter-
schied , dass dort die Attribute noch nicht auf Eine Sub-
stanz bezogen waren; die Beweise zu Prop. 11 endlich,
die Beweise fbr's Dasein Gottes , sind in dieser bestimm-
ten Form nirgends Yorher nachzuweisen, und es lässt sich
au)9 der Yergleichung der successiven Versuche schliessen,
dass gerade dieser Punkt dem Philosophen die meisten
Schwierigkeiten bereitete , und dass ihm keine der vielen
Formen, die er nacheinander ersann, vollständig genügte.
Zur Vervollständigung der vorangehenden Untersuchung
ist es noch geboten, auch das Verhältniss des Traetates De
deo et homine zum Tractatus de intellectus emenda-
tione genauer zu ermitteln. Dass dieser einer frühen Zeit
angehöre, bemerkte schon der Herausgeber der opera post-
huma*); und die Briefe zeigen, wie frühe schon Spinoza mit
seinem Gegenstande sich beschäftigte. In Ep. 8, 14 vom
3. April 1663 fragt Oldenburg an, ob Spinoza sein wichtiges
Werk, worin er über den Ursprung der Dinge und ihre Ab-
hängigkeit von der ersten Ursache, sowie von der Verbes-
serung unseres Verstandes handle, schon vollendet habe.
Spinoza antwortete (Ep. 9,4), wenn die Veröflfentlichung der
Principia Philosophiae Cartesianae ihm das Interesse ein-
flnssreicher Männer seines Vaterlandes zuwende, so dass er
unter ihrem Schutze und ohne Gefahr einer Belästigung
seine Meinungen veröffentlichen könne, so werde er so-
gleich einiges herausgeben; bis dorthin möge Oldenburg
sich gedulden; dann aber werde er entweder den Traotat
selbst oder ein Compendium desselben gedruckt erhalten.
Aus dieser Stelle scheint hervorzugehen, dass Spinoza
damals im Sinne hatte, beides in Einer Darstellung zu ver-
*) Praef^ Paulus 11, p. 28: Tractattts de emendatione intellectua
est ex prioribua noatri Phüosophi operihtM, testibua et stylo et con-
ceptibm, p. 4l2 (in der Admonitio ad lectorem) . . . jam rnuUoß
^drOe afmo9 ab auctare fmt conecriptuB,
— 156 —
schärfer ausgeführt, in abstracteren BegriflFen dargestellt,
in besserer Ordnung entwickelt, mit deutlicheren Beispielen
erläutert. Insbesondere ist die Definition der vierten Er-
kenntnissart eine wesentlich andere, indem sie an die Stelle
der wechselnden und unbestimmten Redensarten unserer
Schrift die Formel setzt : Quarta perceptio est^ ubi res per-
cipitur per sokcm suam essentlam,, vel per Cognition em suae
proximae causae. Ebenso ist der BegriflF der idea vera yiel
schärfer entwickelt, und der im Tractat selten und nur ge-
legentlich vorkommende Terminus „adäquat" zu diesem
Zwecke herbeigezogen. Der Briefwechsel mit Oldenburg,
und dessen Zweifel (Ep. 3, 2) ob aus einer Definition auf
die Existenz des Definirten geschlossen werden könne,
musste ihm das Bedürfniss einer genauen Erörterung hier-
über besonders nahe gelegt haben *). Unser Tractat hatte
sich von der Vorstellung, dass die Objecte Ursachen der
Ideen seien, noch nicht befreit ; der Tractat de intell. emend.
sucht den inneren Unterschied der wahren und falschen
Idee auf, wie sie rein aus dem Verstände unabhängig vom
Object hervorgehen. Damit hängt aufs Engste zusammen,
dass schon i%der Methodenlehre der Satz, das Intelligere
sei blosses Leiden, vollkommen aufgegeben, das Leiden
auf die Imaginatio beschränkt, der Verstand aber als actives
Princip dargestellt ist. So tritt auch in der Methodenlehre
der Satz, dass wer wisse, zugleich wisse, dass er vnsse,
zuerst mit vollständiger Klarheit heraus; der ganze Be-
griff der Methode ist auf den Begriff der reflexiven sich
selbst als wahr bejahenden Erkenntniss gebaut, der im
Tractat zwar in dem Satze veritas sui ipsius atque etiamfalsi-
tätis index vorausgesetzt, aber nicht mit Bewusstsein her-
ausgestellt ist, vielmehr von der Anschauung, dass 4as
*) Gelegentlich möge eine Correctur des Spinozischen Textes
hier stehen, auch auf die Gefahr hin, dass sie vielleicht anderswo
schon bemerkt worden ist. Paulus II, 431. Bruder II, 22 steht;
Unde aequitur, si detur aliquia Detbs avA omniacium gtiid, nihil
prorsus noe poase fingere. Statt nos muss id oder eum stehen.
^ 157 —
Object sich mit überzeugender Klarheit manifestire, erstickt
wird. Nur in den Sehlussworten des Anhangs wird auf
die reflexive Idee, die Kenntniss unserer selbst hingewie-
sen. (Suppl. p. 251.)
Zu diesen Differenzen, zu denen die oben S. 34 er-
örterte in der Lehre von der Definition hinzukommt, und
die leicht durch eine ganze Reihe anderer Beispiele ver-
mehrt werden könnten, gesellen sich andere Zeichen. Im
Tractat ist keine Spur davon zu entdecken, dass Spinoza
Bacoüs Schriften gelesen hat ; in der Methodenlehre ist die
Bezugnahme auf Bacon unverkennbar*). Da nun in dem
*) Vergl. p. 419 die Bestimmung der zweiten Art der Ei>
kenntniss, der experientia vaga, h, e. experientia, quae non deter-
minatur ah intellectu, sed tantum ita dicitur, quia casu sie occurrttj
et ntdlum aliud hdbemus experimentum, quod hoc oppugnat — mit
Bacons inductio per enumerationem simplicem uhi non invenitur
instantia contradictoria, oder mit N. O. I, Aph. 25 und 70. Der
Ausdruck selbst, experientia vaga, ist aus Aph. 100. In der An-
merkung zu p. 423 spricht Spinoza die Absicht aus, ausfuhrlicher
von der Erfahrung zu reden; die Worte: Empiricorum et recentium
Phüosophorum procedendi methodum examinabo können sich nur
auf Bacon beziehen. Einer Anregung durch Bacon ist wohl der
Satz p. 428 zu verdanken : Ratio, cur in naturae inquisitione raro
contingat, vt debito ordine ea investigetur, est propter praejudicia,
guorum causaspostea in nostra philosophia explicahimus. Dieses Ver-
sprechen hat er im Anhang des ersten Buchs erfüllt, seine Polemik
gOgen den ZweckbegriflP aber, die unserem Tractate fremd ist, kann
gleichfalls durch Bacons Sätze veranlasst sein. Am bestimmtesten
aber weist durch Gedanken und Ausdruck die Stelle p. 453 auf Bacon
hin, wo Sp. von der Erkenntniss des Einzelnen redet. Alia auxilia
neoessario sunt quaerenda praeter illa, quibus utimur ad res aeter-
nas eo/rumque leges intelligendum . . . quae omnia eo tendent, ut
nostris sensibus sciamus uti, et experimenta certis legibus et ordine
facerCj quae sufficiant ad rem, quae inquiritur, determinandamj ut
tandem ex Os concludamus, secundum quasnam rerum aetemasnum
leges facta sit, et intima ejus natura nobis innotescat. Darin ist
dieselbe Aufgabe ausgesprochen, die sich Bacon für seine Methode
gestellt hat; die res ßxae et aetemae earumque leges, die intima
natura rei sind nichts anderes als die Baconischen Formen, deren
Aufsuchung seine Methode lehren will, und gerade so unklar wie
— 158 —
ersten Briefe an Oldenburg Spinoza über Bacons Irrthümer
spricht^ und zwar so, dass gegen die Annahme , er habe
ihn eben erst gelesen, kein Grund vorliegt, so stimmt auch
diese Anzeige damit überein, dass die Methodenlehre nach
dem Traetate verfasst ist. Ja man könnte versucht sein
zu glauben, die Bekanntschaft mit Bacons Organon habe
erst den Entschluss einer besonderen Untersuchung über
die Methode zur Beife gebracht, wenn nicht die cartesia-
nische Dissertatio de methodo einen näheren und zureichen-
den Anlass darböte.
Auf der andern Seite weisen die Anmerkungen zur
Methodenlehre auf eine Zeit hin, in welcher die Ethik noch
im Werden war, und Spinoza eine umfassendere Anlage im
Sinne hatte, als die spätere Ausführung erreichte. Schon
der Name ist bezeichnend : er verweist immer auf seine
„Philosophie" Wir suchen vergeblich die Erklärung, was
vis nativa und was opera intellectualia, was quaerere
in anima sei, und ob die Ideen selbst der Yerderbniss un-
terliegen, die Spinoza in seiner „Philosophie" zu geben
verspricht*). Wir gehen vielleicht wenig fehl, wenn wir
annehmen, dass Spinoza damals, wo er an eine Methode
für die Erkenntniss des Einzelnen so gut wie für die Er-
kenntniss der ewigen Dinge dachte, Physik und Ethik
in Einer Bearbeitung zusammenfassen wollte, dass er, an
den Tractat von Qott und dem Menschen anknüpfend, seine
Arbeit begann, aber von der ursprünglich ethischen Be-
grenzung des Kreises festgehalten wurde. Das Wahr-
scheinlichste ist, dass die Methodenlehre zwischen den
Tractat und die von 1663 bis 1665 vorgenommene Bear-
beitung der Ethik fällt.
Baopn spricht er von Gesetzen im Zusammenhang mit diesen ewigen,
sich gleichbleibenden Dingen, oder wie Bacon sie nennt, Naturen.
*) p. 424. 426. 446.
Druck der Hofbuchdraclcerdi (H. A. Pi«rer) in Altenbnrg.
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