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Full text of "Sören Kierkegaard als Philosophy"

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S.  BASCH's         ^ 

Eushhandlung  u.  Antiquariat 

nerlin  IV. 

Friedricbslrasse  135 

nahe  d.  Schiffbauerdamin. 


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Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff)  in  Stuttgart. 
Schriften  von  S.  Kierkegaard; 

Angriff  auf  die  Christenheit. 

Uebersetzt  von 

A.  Dorner  und  Christoph  Schrempf. 

1896.    XXIV  u.  632  Seiten.    8«.    In  2  Teile  brosch.    Preis  8  M.  50  Pf. 


Die  Akten. 

Erste  Hälfte:  Kierkegaards  letzte  Schriften  (1851—55) 
enthaltend.  Inhalt:  I.  Ueber  meine  Wirksamkeit  als  Schrift- 
steller. —  II.  Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  anbefohlen.  — 
III.  S.  Kierkegaards  letzte  Aufsätze  in  Zeitungen  und  Flugschriften. 
—  A.  Artikel  im  Vaterland.  —  B.  Dies  soll  gesagt  werden  — 
so  sei  es  denn  gesagt.  —  C.  Der  Augenblick. 


Zweite  Hälfte:  Anhang.  Inhalt:  I.  Eine  erste  und  letzte 
Erklärung.  —  II.  Aus  Anlass  einer  mich  betreffenden  Aeusserung 
Dr.  A.  Gr.  Rudelbachs.  —  III.  Der  Gesichtspunkt  für  meine  Wirk- 
samkeit als  Schriftsteller.  —  IV.  Richtet  selbst.  —  V.  Der  Augen- 
blick. —  VI.  Gottes  Unveränderlichkeit. 


Daraus  Sonderdruck: 

Richtet  selbst. 

Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  anbefohlen  (II.  Reihe). 
112  Seiten  8«.     Preis  1  M.  50  Pf. 


Deutsche  Et.  Kirchenzeitnng :  Mit  der  Uebersetznng  und  Herausgabe  dieser 
Schriften  des  seltsamen  Dänen  hat  Seh  rempfeine  grosse  und  verdienstvolle  Arbeit 
verrichtet.  ...  S.  Kierkegaard  ist  ohne  Zweifel  einer  der  merkwürdigsten  Schrift- 
steller der  christlichen  Kirche,  von  einer  erschütternden  Kraft,  die  Mark  und  Bein 
durchbohrt,  und  von  einer  Abstrusität,  die  zuweilen  an  Wahnsinn  streift.  Er  möchte 
der  Totengräber  einer  Christenheit  sein ,  die  mit  dem  Christentum  keinen  Ernst 
macht,  und  verurteilt  unerbittlich  das  Scheinwesen,  mit  dem  nicht  bloss  die  Kirchen, 
sondern  auch  die  Frommen  sich  zufrieden  geben. 


Die  Grenzboten :  Unter  allen  modernen  Richtern  der  Christenheit  ist  der  in 
Deutschland  und  wohl  überhaupt  in  der  AVeit  am  wenigsten  bekannte  S.  Kierke- 
gaard, der  radikalste  gewesen.  .  .  .  Wir  wollten  nur  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  Worte  wie  die  seinen  bei  der  gegenwärtigen  Stimmung  in  Deutschland  einen 
tiefen  Eindruck  hervorbringen  müssen. 


Leben  und  Walten  der  Liebe. 

Uebersetzt  von  A.  Dorner. 

1890.     XV,  278  u.  241  Seiten  8«.    Preis  geh.  5  M.,  geb.  6  M. 


Frommanns  Klassiker  der  Philosophie 

herausgegeben 


Richard  Falckenberg 

Dr.  u.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Erlangen. 


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III. 


S.  Kierkegaard 


VON 


Harald  Höffding. 


SÖREN  KIERKEGAARD 


ALS  PHILOSOPH 


VON 


HARALD  HOFFDING 


PROFESSOR  DER  PHILOSOPHIE  AN  DER  UNIVERSITÄT  KOPENHAGEN. 


Mit  einem  Vorwort 

von 

CHRISTOPH  SCHREMPF 

LIC.  THEOL.  .  ^ 


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STÜTTGAET. 
Fß.  FEOMMANNS  VERLAG  (E.  HAUFF). 

1896. 


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k277 
H7 


LIBRARY 

'751771 

WIIVERSITY  OF  TORONTO 


Druck  von  L.  Weil  in  Ellwangen. 


Inhalt: 


Vorwort  des  Herausgebers S.    III 

Einleitang 1 

I.  Die  romantisch-specnlative  Keligionsphilosophie     ...  6 

II.  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark    .  17 

III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit 29 

IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie 67 

jl^  Die  Erkenntnistheorie 61 

B.  Die  Ethik 74 

a.  der  Sprang 74 

b.  die  Stadien 87 

a.  die  ästhetische  Lebensanschauung  ....  88 

ß,  die  ethische  Lebensanschaanng 97 

y.    die  religiöse  Lebensanschauung 116 

0.  der  Massstab 127 

V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentum  ......  134 

A.  Persönlicher  Durchbruch 134 

B.  Das  letzte  Wort 162 

Schluss 160 


Vorwort. 

Als  mir  diese  Schrift  durch  die  Freundlichkeit  des 
Herrn  Verfassers  zukam,  erregte  sie  in  mir  sofort  den 
doppelten  Wunsch,  sie  als  einen  wichtigen  Beitrag  zum 
Verständnis  S.  Kierkegaards  ins  Deutsche  zu  übersetzen 
und  eine  zum  Teil  stark  abweichende  Darstellung  des 
Philosophen  Kierkegaard  daneben  zu  stellen.  Aber  ich 
konnte  weder  das  eine  noch  das  andere  ausführen.  Auch 
die  vorliegende  Übersetzung  ist  nicht  von  mir  gefertigt, 
sondern  von  Herrn  Pfarrer  a.  D,  A.  Dorner  in  Fellbach 
bei  Cannstatt;  doch  habe  ich  sie  so  durchgesehen  und 
auch  durchgearbeitet,  dass  ich  sie  wie  eine  eigene  Ar- 
beit vertreten  kann.  Und  statt  etwa  gleichzeitig  eine- 
besondere  Darstellung  von  Kierkegaards  philosophischem. 
Denken  zu  geben,  kann  ich  zunächst  nur  hier  in  eineni 
Vorwort  andeuten,  warum  und  wiefern  ich  ihn  anders-  wn 
betrachten  und  beurteilen  würde.  Das  aber  möchte  iclr^BI 
doch  nicht  unterlassen,  da  es  nicht  bloss  dem  Verständ- 
nis Kierkegaards,  sondern  auch  der  richtigen  Auffassung 
dieser  Studie  über  ihn  dienlich  sein  kann.  — 

Es  steht  mir  nicht  zu,  die  Vorzüge  dieser  Schrift 
rühmend  hervorzuheben.  Sie  wird  für  sich  selbst  spre- 
chen. Sie  wird  namentlich  selbst  den  Nachweis  liefern, 
dass  Sören  Kierkegaard  nicht  bloss  als  geistreicher 
„ästhetischer"  Schriftsteller,  auch  nicht  bloss  als  charak- 
terfester Vertreter  eines  etwas  ernsthafteren  Christen- 
tums, sondern  in  der  That  als  wirklicher  Philosoph 
aufmerksame  Beachtung  verdient.  Ich  meine  sogar,  dass 
er  unter  den  „Klassikern  der  Philosophie"  ziemlich  weit, 
vorne  steht.  Denn  er  hat  in  Erkenntnistheorie,  Ethik 
und  Religionsphilosophie  eine  bestimmte,  nicht  so  leicht. 


IV  Vorwort. 

zu  charakterisierende  Richtung  wirklich  „klassisch" 
vertreten;  und  seine  ästhetischen  Gedanken  seien  nicht 
bloss  geistreich,  sondern  oft  auch  wirklich  gut.  —  Den 
Freund  Kierkegaards  wird  es  wohlthuend  berühren,  dass 
in  der  vorliegenden  Schrift  die  streng  wissenschaftliche 
Untersuchung  immer  wieder  die  persönliche  Sympathie 
des  Verfassers  für  diesen  seltsamen  Denker  durchscheinen 
lässt,  der  ein  so  tief  unglückliches  und  so  beneidenswert 
reiches  Leben  geführt  hat.  Ohne  diese  persönliche 
Sympathie  wird  ja  auch  kaum  jemand  die  oft  sehr  not- 
wendige, aber  gewiss  auch  sich  lohnende  Greduld  haben, 
den  verwickelten  Gedankengängen  Kierkegaards  unver- 
drossen nachzugehen,  ohne  die  einzelnen,  oft  unbequemen 
Päden  abzureissen  und  fallen  zu  lassen.  —  Dass  hier 
«in  Philosoph  der  Continuität  den  Irrationalismus  Kier- 
kegaards darstellt  und  auf  seinen  wirklichen  Wahrheits- 
gehalt prüft,  kann  auch  der  Verehrer  Kierkegaards 
nicht  bedauern,  sondern  nur  mit  Freude  begrüssen. 
Zudem  hebt  ja  der  Herr  Verfasser  an  allen  wichtigen 
Punkten  die  Verschiedenartigkeit  seines  Denkens  so 
oiFen  und  klar  hervor,  dass  dem  Leser  jederzeit  frei 
steht,  sich  auf  die  andere  Seite  zu  schlagen  und  von 
a,nderen  Voraussetzungen  aus  anders  zu  urteilen. 

Das  möchte  ich  selbst  nun  allerdings  nicht  selten  thun. 

Ich  gehe  nämlich  bei  der  Betrachtung  Kierkegaards 
mit  Herrn  Professor  Höffding  davon  aus,  dass  er  nicht 
wie  andere  Philosophen  ein  System  der  Erkenntnis  geben 
wollte,  sondern  vielmehr  nur  „eine  psychologische  und 
ethische  Einleitung  zu  einer  Lebensanschauung  oder 
eine  Theorie  der  Lebensanschauung"  (S.  55).  Kierke- 
gaard ist  an  seinem  Denken  nie  rein  theoretisch,  bloss 
,, wissenschaftlich"  interessiert,  sondern  immer  eudämo- 
nistisch,  ethisch,  pädagogisch.  Er  denkt,  auch  wo  es 
nicht  so  auffällig  hervortritt,  immer  nur,  um  die 
Methoden  zu  gewinnen,  wonach  man  leben  kann  und 
soll.     Dann   muss   aber   die   Wahrheit    seines    Denkens, 


Vorwort.  V 

wenn  es  solche  hat,  wesentlich  immer  darin  bestehen, 
dass  er  eine  brauchbare  methodische  Anweisung  für  die 
Gestaltung  des  Denkens  und  Lebens  bietet.  So  betrach- 
tet scheint  mir  nun  mancher  „wissenschaftlich"  unhalt- 
bare Gedanke  ,, praktische"  Wahrheit  zu  haben.  Ich 
denke  z.  ß.  an  die  Unterscheidung  der  ,, wesentlichen" 
und  ,, unwesentlichen"  Erkenntnis.  Sie  ist  wissenschaft- 
lich kaum  durchzuführen;  davon  hat  mich  der  Verfasser 
dieser  Schrift  überzeugt  (cf.  S.  61  f.).  Aber  es  ist  in 
jedem  Augenblick  des  Lebens  für  den  Menschen  eine 
sittliche  Frage,  worauf  er  jetzt  sein  Denken  zuerst 
richten  soll.  Darauf  giebt  Kierkegaard  die  Antwort: 
auf  das  Wesentliche  —  auf  das,  was  du  verstehen  musst, 
um  als  sittliche  Persönlichkeit  existieren  zu  können. 
Und  diese  Antwort  scheint  mir  auf  eine  durchaus  rich- 
tige Methode  des  Lebens,  bezw.  Philosophierens  hinzu- 
weisen, obgleich  Kierkegaards  einzelne  Regeln  für  die 
Benutzung  derselben  nicht  immer  brauchbar  sein  mögen. 
In  seinem  nie  rein  theoretisch,  stets  eudämonistisch, 
ethisch,  pädagogisch  —  kurz:  praktisch  interessierten 
Denken  ^eht  nun  Kierkegaard,  wie  er  nicht  anders  kann,  JB 
stets  von  sich  aus  und  auf  sich  zurück.  Das  wird  ja 
wiederum  in  dieser  Schrift  energisch  hervorgehoben. 
Er  suchte  immer  zuerst  eine  Existenzweise  für  sich, 
eine  Lebensmethode,  wonach  er  selbst  leben  konnte. 
Dieser  Egoismus  gehört  zum  Grossartigsten  und  Bedeut- 
samsten an  ihm.  Dann  wird  aber  die  erste  Frage  zu 
seiner  Beurteilung  sein:  ob  die  von  ihm  entdeckte  Me- 
thode für  ihn  passte;  ob  er  sich  die  richtige  Brille 
schliff,  die  seinem  Auge  ein  Maximum  von  Sehfähigkeit 
verlieh;  ob  er  sich  die  richtige  Krücke  schnitzte,  die 
ihm  das  noch  erreichbare  Maximum  von  Bewegungs- 
fähigkeit gewährte.  Darüber  lässt  sich  streiten.  Ich 
wäre  doch  geneigt,  diese  Frage  ohne  wesentliche  Ein- 
schränkung zu  bejahen.  Seine  charakteristischen  Lebens- 
bedingungen waren:     die  „Angst"  vor  sich  selbst,    vor 


^ 


VI  Vorwort. 

der  Welt,  vor  „Gott";  die  innere  Gebundenheit  an  das 
historisch  überlieferte  Christentum  als  an  die  Wahrheit; 
eine  unendlich  feine  Sensibilität  für  subjektive  Wahr- 
haftigkeit, und  ein  brennendes  Verlangen  nach  intensivem 
Leben,  In  dieser  psychologischen  Constitution  musste 
ihm  aber  die  Wahrheit  im  einzelnen  und  ihm  ganzen, 
also  namentlich  ,,Gott*',  mit  Notwendigkeit  als  das 
„Paradox"  erscheinen,  das  er  durch  den  „Sprung"  des 
,, Glaubens"  nicht  sowohl  erfasste,  als  nur  immer  wieder 
umklammerte.  In  seiner  Verfassung  musste  ihm  nament- 
lich das  ,, ethische  Stadium"  des  Lebens,  das  er  mit  so 
grosser  Begeisterung  zeichnete,  sich  mit  Notwendigkeit 
unter  den  Händen  verflüchtigen.  Denn  in  der  „Angst", 
in  dieser  ,, impertinenten  Unruhe",  bei  dem  immer  wieder 
durchbrechenden  Gefühl  der  „Uneinsartigkeit"  mit  dem 
Wahren,  dem  Guten,  mit  ,,Gott"  —  da  kann  man  un- 
möglich der  ruhigen,  liebevollen  Ausgestaltung  dieses 
angstvollen  Lebens  sich  hingeben.  Aber  so  seltsam,  ja 
unheimlich  uns  seine  Existenz  oft  anmutet:  er  hat  sie 
doch  durchgebracht;  er  ist  dem  wirklichen  Wahnsinn 
entgangen;  er  hat  sogar  noch  eine  grosse  und  wertvolle 
Arbeitsleistung  vollbracht.  Ich  schliesse  daraus,  dass 
seine  Methode  zu  existieren  für  ihn  richtig  war  — 
während  z.  B.  Friedrich  Nietzsche  die  richtige  Methode 
für  sich  nicht  fand,  da  er  sonst  nicht  wahnsinnig  ge- 
worden wäre.  Zudem  war  Nietzsche  von  Hause  aus, 
wie  mir  scheint,  bei  weitem  weniger  gefährdet  als 
Kierkegaard. 

Gesetzt  nun,  Kierkegaard  habe  für  sich  richtig 
pliilosophiert,  so  steht  uns  noch  die  Frage  aus,  ob  die 
von  ihm  gefundene  Methode  menschlicher  Existenz  auf 
Allgemeingültigkeit  Anspruch  machen  kann.  Ist  aber 
seine  Philosophie,  wie  ich  annehme,  eine  im  wesentliclien 
richtige  Philosophie  der  „Angst"  (aus  der  auch  seine 
innerliche  Gebundenheit  an  das  Christentum  fliesst):  so 
fällt   jene    Frage    mit    der    anderen  zusammen,    ob    die 


Vorwort.  Vll 

,,Anggt"  eine  vermeidbare  und  zu  vermeidende  Krank- 
heit des  Menschen  ist  oder  die  notwendige  Existenzform 
des  endlichen  Geistes,  die  dominierende  Stimmung 
des  Menschen,  der  zum  intensiven  ßewusstsein  seiner 
selbst  gekommen  ist.  Ist  sie  das  Letztere,  wie  Kierke- 
gaard annimmt,  wie  auch  ich  anzunehmen  geneigt  bin, 
so  liegt  gerade  in  der  Lehre  vom  ,, Paradox",  vom 
,, Sprung",  vom  ,, Glauben"  wesentliche  Wahrheit;  so 
liegt  auch  in  Kierkegaards  höchst  bedenklicher  Auf- 
fassung der  Ethik  wesentliche  Wahrheit,  obgleich  eben 
diese  einer  sehr  sorgfältigen  Revision  bedarf.  Denn 
dann  wird  das  Geistesleben  zum  stäten  und  stets  kriti- 
schen Kampf  ums  Dasein ;  und  für  die  Ausgestaltung  des 
Lebens  fehlt  die  Zeit,  die  Kraft,  das  Interesse.  Es  ist 
richtig,  was  Bröchner  einwendet  (S.  122):  dass Kierkegaard 
für  die  Verfolgung  der  endlichen  Ziele  eigentlich  keine 
Zeit  und  Kraft  übrig  lasse.  Aber  wenn  das  Leben 
des  endlichen  Geistes  ein  so  kritischer  Kampf  ums  Da- 
sein ist,  wie  Kierkegaard  meint,  ist  es  eben  Thatsache, 
dass  der  Geistesmensch  die  endlichen  Angelegenheiten 
höchstens  zum  Notbehelf  besorgen  kann.  Ist  dagegen 
die  ., Angst"  (oder  ,, Schwermut")  nur  eine  vermeidbare 
und  zu  vermeidende  Krankheit  des  Menschen,  oder  nur 
eine  begleitende,  nicht  die  dominierende  Stimmung 
des  Geisteslebens:  so  hat  Kierkegaards  Philosophie 
wesentlich  nur  pathologisches  Interesse,  obgleich  sie 
auch  dann  (da  Kierkegaard  unstreitig  eine  ganz  ausser- 
ordentliche formale  Begabung  hatte)  sehr  lehrreich  sein 
mag.  Dieses  Entweder-Oder  lässt  sich  aber  objektiv 
nie  entscheiden.  Das  letzte  Wort  meiner  Auffassung 
Kierkegaards  kann  daher  nur  sein,  dass  er  an  sich  ge- 
glaubt hat  —  und  dass  er  in  seiner  angstvollen  Schwer- 
mut ein  zwar  tief  schmerzliches,  aber  bewundernswert 
reiches  Dasein  geführt  hat,  das  er  auch  mit  keinem 
andern  vertauscht  hätte. 

In  diesen  Bahnen  bewegt  sich  etwa  meine  kritisch- 


Yin  Vorwort. 

aneignende  Betrachtung  Kierkegaards.  Dass  ich  dabei 
unterwegs  immer  wieder  mit  dem  Verfasser  dieser  Schrift 
zusammentreffe,  kann  ich  hier  nur  anmerken,  nicht  im 
einzelnen  nachweisen.  Doch  will  ich  noch  besonders 
hervorheben,  dass  auch  ich  bei  meiner  Betrachtungsweise 
auf  Bedenken  gegen  Kierkegaard  hingetrieben  werde, 
wie  sie  in  dem  Schlusswort  dieser  Schrift  so  nach- 
drücklich ausgesprochen  werden.  —  — 

Ich  fürchte  nicht,  das  die  vorstehenden  kurzen  Be- 
merkungen dem  Leser  bei  dem  Studium  dieser  Abhand- 
lung hinderlich  sein  werden.  Erschweren  könnten  sie's 
allerdings  etwas.  Aber  das  ist  nach  Kierkegaard  nur 
Gewinn.  Am  Erwünschtesten  wäre  mir,  wenn  sie  zu- 
sammen mit  der  Darstellung  des  Verfassers  den  Leser 
zum  Studium  der  eigenen  Schriften  Kierkegaards  füh- 
ren würden. 

Von  diesen  wird  leider  die  „Abschliessende  unwis- 
senschaftliche Nachschrift  zu  den  philosophischen  Bissen" 
(nach  der  zweiten  Ausgabe  zitiert)  kaum  je  eine  Über- 
setzung ins  Deutsche  erleben;  wer  Kierkegaard  als 
Philosophen  gründlich  studieren  will,  muss  sich  also 
bequemen,  ihn  dänisch  zu  lesen.  Nicht  übersetzt  ist 
auch  „Die  Wiederholung'  (ebenfalls  nach  der  zweiten 
Auflage  zitiert).  Dagegen  sind  übersetzt:  „Entweder- 
Oder"  (von  Michelsen  und  Gleiss,  Leipzig,  Fr.  B,ichter), 
„Furcht  und  Zittern"  (von  Ketels,  Erlangen,  Deichert). 
„Der  Begriff  der  Angst"  und  „Philosophische  Bissen" 
(von  mir,  Leipzig,  Fr.  Richter,  unter  dem  Titel:  „Zur 
Psychologie  der  Sünde,  der  Bekehrung  und  des  Grlaubens" 
zusammen  herausgegeben),  ,, Stadien  auf  dem  Lebenswege" 
(von  A.  Bärthold,  Leipzig,  Fr.  Richter),  ,,Die  Krankheit 
zum  Tode"  und  die  „Einübung  im  Christentum"  (von 
A.  Bärthold,  Halle,  J.  Fricke).  Von  den  erbaulichen 
Schriften  ist  ausser  einigen  Predigten  namentlich  über- 
setzt: „Leben  und  Walten  der  Liebe"  (von  A.  Dorner, 
Leipzig,     Fr.     Richter),      sodann     „Zur    Selbstprüfung 


Vorwort.  JX 

der  Gegenwart  anbefohlen"  (von  Hansen,  Erlangen, 
Deichert),  das  aber  eigentlich  schon  unter  die  agitato- 
rischen Schriften  gehört.  Ferner  wird  gleichzeitig  mit 
dieser  Schrift  und  im  selben  Verlag  herausgegeben 
werden :  ,,Sören  Kierkegaards  Angriff  auf  die  Christen- 
heit", Band  I,  ,,die  Akten".  Darin  finden  sich,  über- 
setzt von  A.  Dorner  und  mir,  sämtliche,  von  ihm  selbst 
herausgegebene  und  nachgelassene  Schriften  Kierke- 
gaards aus  der  letzten  Periode  seiner  Schriftstellerei, 
also  von  den  im  folgenden  angezogenen  namentlich  die 
letzten  Zeitungsartikel,  ,,Dies  soll  gesagt  werden,  so 
sei  es  denn  gesagt",  ,,Der  Augenblick",  ,,der  Gresichts- 
punkt  für  meine  schriftstellerische  Wirksamkeit", 
„Richtet  selbst".  —  Da  ein  ernsthaftes  Studium  Kierke- 
gaards doch  immer  auf  den  dänischen  Grundtext  zurück- 
greifen muss  und  die  Uebersetzungen  zudem  oft  ungenau 
und  gekürzt  sind  (namentlich  Entweder-Oder,  dessen 
kunstvoller  Aufbau  in  der  Uebersetzung  zerstört  ist),  so 
wurde  in  der  Regel  neben  den  Uebersetzungen  das  Ori- 
ginal zitiert,  und  zwar  von  Entweder-Oder  die  4.,  dem 
„Begriff  der  Angst",  den  ,, Bissen",  der  „Krankheit  zum 
Tode"  die  2.,  den  „Stadien"  und  der  ,, Einübung"  die 
3.  Auflage.  —  Die  ,,hinterlassenen  Papiere"  sind  ohne 
Angabe  des  Titels  nach  den  Jahrgängen  zitiert,  die 
die  einzelnen  Bände  enthalten. 

Die  Interpreten  Kierkegaards  ergänzen  sich  insofern 
auf  das  Trefflichste,  als  sie  von  den  verschiedensten 
Standpunkten  ausgehen.  Georg  Brandes  (S.  K.,  ein 
literarisches  Charakterbild)  behandelt  ihn  nach  der 
•Methode  moderner,  psychologischer  Literaturgeschichts- 
schreibung, wobei  sich  Kierkegaard  oft  seltsam  genug 
ausnimmt.     A.  Bärthold   hat  in  mehreren   Schriften*) 


*)  „S.  K.,  eine  Verfasserexistenz  eigener  Art" ;  „Aus  und  über 
S.  K.,  Früchte  und  Blätter"  (beide  bei  Frantz,  Halberstadt);  „Noten 
zu  S.  K.'s  Lebensgeschichte";    „Lessing  und  die  objektive  Wahrheit, 


X  Vorwort. 

Kierkegaard  hauptsächlich  als  den  vorgeführt,  der  in 
der  bestehenden  Christenheit  ..Unruhe"  weckte  „zur 
Verinnerlichung".  Dabei  scheint  mir  aber  Kierkegaard 
als  Skeptiker  (also  als  Philosoph)  und  als  „rettender 
Feind  der  Christenheit"  zu  kurz  gekommen  zu  sein.  — 
Endlich  habe  ich  in  der  Einleitung  zu  den  von  mir 
übersetzten  Schriften  Kierkegaards  dessen  Lebensan- 
schauung kurz  zu  skizzieren  versucht  und  dabei  (Seite 
XLIIfF.)  auf  einige  wesentlichen  Schwierigkeiten  in  seiner 
Theorie  und  Darstellungsweise  aufmerksam  gemacht. 
Und  in  dem  ersten  Bande  der  „Zeitschrift  für  Theologie 
und  Kirche''  (Mohr,  Freiburg  i  B.)  habe  ich  speziell 
Kierkegaards  Stellung  zu  Bibel  und  Dogma  untersucht 
und  den  Nachweis  angetreten,  dass  seine  pietätsvolle 
Gläubigkeit  durch  die  Betonung  der  Gleichzeitigkeit 
gesprengt  wird.  Eine  ausführliche,  genetisch  kritische 
Darlegung  der  Gedanken  und  Methoden  Kierkegaards 
möchte  ich  in  dem  zweiten  Bande  des  oben  genannten 
Werks  bringen:   ,,S.  K.'s  Angriff  auf  die  Christenheit.'' 

Aber  man  lese  lieber  Kierkegaard  selbst.  Er  ge- 
hört mit  Carlyle,  Emerson,  de  Lagarde  u.  a.  zu  den 
Menschen,  die  man  kennen  sollte,  um  die  sittliche  und 
religiöse  Situation  unserer  Zeit  und  sich  darin  zu  ver- 
stehen. Ins  Deutsche  ist  nun  so  viel  von  ihm  übersetzt, 
dass  man  das  merken  kann.  Und  wer  es  gemerkt  hat, 
wird  Sorge  tragen,  dass  er  ihn  besser  kennen  lernt,  als 
dies  durch  Uebersetzungen  geschehen  kann. 

Cannstatt,  im  September  1895. 

Chr.  Schrempf. 


aos  S.  K.'s  Schriften  zasammeugestellt";  „Die  Bedeutnug  der  ästhe- 
tischen Schriften  8.  K.'s"-;  „Zur  theologischen  Bedeutung  S.  K.'s"  (bei 
J.  Fricke,  Halle);  „S.  K.'s  Persönlichkeit  in  ihrer  Verwirklichung 
der  Ideale"  (Gütersloh,  Bertelsmann). 


Einleitung. 


Es  war  für  Sören  Kierkegaard  ein  schwermütiger 
Gedanke,  dass  die  Zeit  kommen  würde,  da  auch  er  den 
^Dozenten  und  Professoren"  in  die  Hände  fallen  und 
zum  Gegenstand  der  Darstellung  gemacht  werden  sollte. 
Ja,  er  sah  voraus,  dieser  wehmütige  Gedanke  selbst 
werde  dabei  mit  dociert  werden.  Was  ihm  hieran  zu- 
wider war,  das  war  sicher  nicht  die  Aussicht,  Gegen- 
stand der  Kritik  zu  werden,  vielmehr  etwas,  das  mit 
seinem  ganzen  Gedankengang  aufs  engste  zusammenhing;. 
Einmal  verabscheute  er  die  ^hinterlistige"  Bewunderung,, 
die,  wenn  der  Kampf  zu  Ende,  wenn  der  Ruhm  ge- 
wonnen ist,  hintennachkommt  und  des  Propheten  Grab 
schmückt  und  dabei  vergisst,  dass  sich  vielmehr  in  dem 
Verhalten  gegen  das  Grosse,  mit  dem  man  wirklich 
zusammenlebt,  erweisen  soll,  ob  und  wieweit  man  ge- 
sinnt und  gewillt  ist,  das  Grosse  anzuerkennen.  Seines- 
Lebens  That  war,  dass  er  den  Selbstbetrug  entlarvte, 
worin  uns  ;,die  aus  der  Geschichte  auf  Flaschen  ge- 
zogene Idealität"  (wie  er  sich  ausdrückte)  so  leicht 
gefangen  hält.  Sodann  gehörte  es  aber  auch  zu  seinen. 
Hauptgedanken,  dass  es  keine  zusammenhängende  psy- 
chologische und  historische  Entwicklung  gebe.  Dass 
man  eine  Erscheinung  auf  dem  Gebiete  des  Geistes, 
die  Wirksamkeit  eines  Denkers  oder  Schriftstellers  als 
Glied  in  der  Entwicklung  darzustellen  versuchte,  als 
von  bestimmten  inneren  und  äusseren  Bedingungen  ge- 
tragen, und  die  weitere  Entwicklung  selbst  wieder 
tragend  und  vermittelnd:  das  schien  ihm  das  Phänomen 
herunterzuziehen  und  seines  Wertes  zu  berauben.  Er 
wollte  nicht  „auf  Paragraphen  gezogen  werden/ 

1 


2  Einleitung. 

Sollte  mein  Versuch  einer  Charakterisierung  und 
Würdigung  dieses  grössten  Denkers  unseres  Volkes 
einer  Rechtfertigung  gegenüber  seinem  eigenen  Protest 
bedürfen,  so  muss  ich  fürs  erste  bemerken,  dass  ich 
von  einer  ganz  anderen  Auffassung  des  Verhältnisses 
zwischen  Psychologie  und  Ethik  ausgehe  als  er.  Ich 
habe  die  Überzeugung,  dass  auch  die  in  idealem  Licht 
sich  uns  präsentierenden  Gestalten  unter  ganz  bestimmten 
psychologischen  und  historischen  Bedingungen  auftreten, 
ebendarum  aber  auch  an  ihrem  idealen  Gehalt,  —  so- 
weit ihnen  ein  solcher  wirklich  zukommt  —  dadurch, 
dass  wir  sie  innerhalb  ihrer  bestimmten  Begrenzung 
und  Bedingtheit  betrachten,  nichts  verlieren.  Im  Gegen- 
teil ist  diese  Betrachtung  ganz  notwendig,  wenn  wir 
so  den  bleibenden  Gehalt  von  dem  absondern  wollen, 
was  etwa  vorübergehende  und  rein  individuelle  Umstände 
hinzugethan  haben.  Und  geboten  ist  dies  nicht  am 
wenigsten  bei  einem  Denker  von  so  ausgeprägtem  und 
eigentümlichem  Charakter  wie  Sören  Kierkegaard.  Wenn 
die,  die  von  ihm  lernen  wollen,  selbst  Persönlichkeiten 
sind  oder  sein  wollen,  so  müssen  sie  seine  persönliche 
Eigentümlichkeit  erst  in  ihrer  Bestimmtheit  sehen,  um 
dann  zu  entscheiden,  was  sie  nach  ihrer  Natur  und 
unter  ihren  Verhältnissen  von  ihm  sich  zueignen  können. 
Also  gerade  die  Rücksicht  auf  das  grosse  Gewicht,  das 
wir  im  Sinne  Sören  Kierkegaards  auf  die  persönliche 
Aneignung,  die  persönliche  Wahrheit  legen  müssen, 
heisst  uns  seine  Persönlichkeit  und  sein  Wirken  einer 
psychologisch  -  geschichtlichen  und  kritischen  Unter- 
suchung unterziehen. 

Was  sodann  die  Gefahr  betriift,  dass  wir  uns  gegen- 
über Gestalten  der  Vorzeit  gar  leicht  selbst  betrügen, 
so  möge  mir  das  persönliche  Bekenntnis  gestattet  sein, 
dass  ich  bei  meiner  Beschäftigung  mit  den  Schriften 
Sören  Kierkegaards,  die  ich  nach  einer  Unterbrechung 
von    etlichen    zwanzig   Jahren    in    dem    letzten  Jahre 


Einleitang.  3 

wieder  aufgenommen  habe,  aufs  neue  seine  Macht  er- 
fahren musste,  unsern  Blick  gegen  uns  selbst  zu  kehren 
und  uns  durch  die  Erweckung  einer  Selbsterkenntnis, 
-der  wir  uns  sonst  so  gerne  entziehen,  zu  verwunden. 
Es  steckt  in  diesen  Schriften  ein  Stachel,  den  bei  ernst- 
licher Vertiefung  in  sie  jeder  empfinden  muss,  gleich- 
viel, mit  welchen  Voraussetzungen  er  im  übrigen  daran 
gehe.  Es  gilt  von  ihnen  ein  Wort  aus  dem  Prediger, 
das  Sören  Kierkegaard  in  seinen  Tagebüchern  und  Reden 
•()fters  benützt:  „Bewahre  deinen  Fuss,  wenn  du  zum 
Hause  des  Herrn  gehest!'^  Er  erklärte  dieses  Wort  so: 
Du  könntest  leicht  erfahren  müssen,  dass  das  Ideal 
höher,  die  Forderung  strenger  ist,  als  du  dir  gedacht 
hattest;  hüte  dich  daher,  zu  kommen,  das  Ideal  za 
hören!  —  Die  Voraussetzungen,  mit  denen  ich  jetzt 
das  Studium  dieser  Schriften  wieder  aufnahm,  waren 
•gewiss  gar  andere  als  vor  bald  30  Jahren,  da  ich  als 
junger  Student  der  Theologie  zum  erstenmale  mit  ihnen 
bekannt  wurde.  Sie  führten  mich  dazumal  in  ein  inneres 
Kämpfen  und  Ringen  hinein,  teils  praktisch-persönlicher, 
teils  theoretischer  Art.  Nach  langem  Widerstreben 
musste  ich  seiner  strengen  Auffassung  des  Christlichen 
weit  mehr  Berechtigung  zuerkennen  als  der  gewöhnlichen, 
idyllischen  und  harmonischen.  Wenn  uns  das  Christen- 
tum im  Leben  wie  im  Glauben  wirklich  ein  und  alles 
:sein  soll,  so  hat  Sören  Kierkegaard  die  Folgen  daraus 
gezogen.  Ich  versuchte  mir  eine  Zeit  lang  dadurch  zu 
helfen,  dass  ich  zwischen  Glauben  und  Wissen,  zwischen 
Ideal  und  Wirklichkeit  unterschied.  Allein  ich  kam, 
mehr  infolge  persönlicher  Lebensführung  als  durch  Stu- 
dium, zu  der  Erkenntnis,  dass  man  auf  diese  Weise 
immöglich  durchschlüpfen  kann.  Die  Hauptfrage  musste 
ja  doch  die  sein,  ob  ich  in  meinem  persönlichen  Leben, 
in  meiner  geistigen  Haushaltung  mich  wirklich  von 
übernatürlichem  Beistand  getragen  wisse  und  in  meiner 
Lebensführung  wirklich  mich  von  den  Idealen  und  Geboten 

1* 


4  Einleitaag. 

religiöser  Ethik  Gleiten  lasse.  Die  Selbsterkenntnis- 
gab  mir  allmählich  nach  langer  Unruhe  und  viel  Peii* 
hierauf  eine  klare  Antwort,  die  mir  für  mein  ganzes 
Leben  bestimmend  gewesen  ist.  Halte  ich  mich  an 
das,  was  der  OefFentlichkeit  zukommt,  so  muss  ich  be- 
merken, dass  ich  nun  darauf  geführt  wurde,  durch 
Studien  in  der  Geschichte  der  Pliilosophie  und  Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  und  Ethik 
den  Bedingungen,  Formen  und  Gesetzen  des  mensch- 
lichen Geistes  nachzugehen.  Ich  erfuhr,  dass  das 
„Humane"  durchaus  nicht  nur,  wie  Sören  Kierkegaard 
in  einem  seiner  Tagebücher  sagt,  ein  verflüchtigtes 
Christentum  ist,  sondern  eine  Lebensanschau ang  und 
Lebensführung  bezeichnet,  die,  von  den  Griechen  be- 
gründet, durch  das  Christentum  vertieft  und  verinner- 
licht  und  endlich  von  der  theoretischen  und  praktischen 
Arbeit  der  neueren  Zeit  ausgeweitet  und  geklärt,  sich 
zwar  nicht  so  leicht  in  kurze  Formen  zusammenfassen 
lässt,  aber  nichtsdestoweniger  ihre  Macht  selbst  auf 
ihre  Gegner  ausübt,  wie  sie  auch  von  vorübergehenden. 
Verirrungen  und  Verzerrungen  in  ihrer  weiteren  Ent- 
wicklung nicht  aufgehalten  werden  kann.  Von  diesent 
Standpunkt  des  Humanismus  aus  (wenn  wir  einmal 
einen  -ismus  haben  sollen)  blicke  ich  jetzt  auf  Kierke- 
gaards Wirksamkeit  zurück.  Und  da  ist  es  für  micli 
von  Bedeutung  gewesen,  zu  sehen,  welch  ein  Wert 
seinem  Auftreten  auch  von  diesem  Standpunkt  aus  zu- 
erkannt werden  muss.  Ich  habe  durchaus  nicht  in 
polemischer  Absicht  auf  ihn  zurückgegriffen,  obgleich 
verschiedene  Betrachtungsweisen,  mit  denen  ich  auch 
sonst  zusammengestossen  bin,  bei  ihm  mit  einer  genialen 
Klarheit  und  Konsequenz  hervortreten,  die  es  besonders 
lehrreich  machen,  sie  hervorzuheben.  Indem  ich  viel- 
mehr mit  der  Verehrung,  die  ich  dem  grossen  Denker 
immer  noch  zolle,  ihm  meinen  Dank  abstatte  für  die 
Förderung,  die  er  mir  für  meine  persJhiliche  Entwicklung. 


Einleitung.  5 

•gewährt  hat,  will  ich  zugleich  dafür  Zeugnis  ablegen, 
dass  er  manchen,  die  ihm  im  Glauben  ferne  stehen,  viel 
.sein  kann.  Er  hört  in  dieser  Hinsicht  nicht  auf  unser 
„Zeitgenosse  zu  sein.  —  Ich  hoffe  dafür  Entschuldigung 
'/AI  finden,  dass  ich  hier  soviel  von  mir  selbst  geredet 
habe.  Es  war  mir  darum  zu  thun,  an  einem  einzelnen, 
an  dem  mir  zunächstliegenden  Beispiele  zu  zeigen,  wie 
;Sören  Kierkegaard  fortwirkt. 


I. 
Die  romantisch-spekulative  Religionsphilosophie. 

1.  Beim  Eintritt  in  das  neunzehnte  Jahrhundert 
war  die  Verbindung  von  Religion,  Philosophie  und  Kunst 
die  Losung  in  der  Welt  des  Geistes.  Man  hegte  den 
begeisterten  Glauben,  dass  die  Wahrheit  Eine  sei  und 
dass  alles  Wertvolle,  gleichviel,  auf  welchem  Gebiete 
und  in  welcher  Form  es  auch  auftrete,  in  dieser  Einem 
Wahrheit  einbegriffen  sei,  wenn  man  sich  nur  offenen 
Sinnes  in  sie  vertiefe.  Keine  Schranken  für  das  Denken 
—  und  doch  auch  keine  Störung  der  Harmonie  mit  dem 
religiösen  Gefühle  und  der  künstlerischen  Phantasie : 
das  war  die  grosse  Idee,  die  die  leitenden  Geister  in 
den  ersten  Dezennien  erfüllte.  Sie  meinten  in  der 
strengen  Form  des  Gedankens  nur  das  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  was  unter  anderen  Formen  das  Leben  und 
Element  des  neuerwachenden  religiösen  Sinnes  und  des 
so  mächtigen  poetischen  Dranges  bildete.  Der  Glaube 
der  E-eligionsphilosophen  war  nach  Form  und  Inhalt 
nicht  sehr  verschieden  von  der  Antwort  Fausts  auf 
Gretchens  bekümmerte  Frage,  wie  es  mit  seiner  Religion 
stehe,  Faust  spricht  ein  Gefühl  der  Unendlichkeit,. 
Innigkeit  und  Fülle  aus,  das  durch  das  Leben  in  der 
Natur  und  mit  den  Menschen  erweckt  wird  und  das 
sich  in  einem  endlichen  Ausdruck  nicht  zusammenfassen, 
in  einem  Namen  nicht  erschöpfen  lässt  —  „Name  ist 
Schall  und  Rauch !'^     Und  Gretchen  meint: 

So  ungefähr  sagt  das  der  Pfarrer  auch. 
Nur  mit  ein  bischen  andern  Worten. 

Diese  Worte  können  zum  Motto  für  die  damalige 
Auffassung  des  Verhältnisses  zwischen  Glauben  und 
Wissen  dienen,   wie  sie  —  mit   charakteristischen   un<l 


I.  Die  romantisch-spekalatiye  Religionsphilosophie.  J 

bedeutungsvollen  Unterschieden  —  bei  Schleiermacher 
und  Hegel  hervortritt. 

2.  Gerade  zum  Beginn  des  Jahrhunderts  (1799)  gab 
Friedrich  Schleiermacher  (1768 — 1834)  seine 
„Reden  über  die  Religion  an  die  G-ebildeten  unter  ihren 
Verächtern"  heraus.  Er  verstand  hier  die  Religion  als 
ein  unmittelbares  Bewusstsein  davon,  dass  alles  Endliche 
in  und  von  einem  Unendlichen,  alles  Zeitliche  in  einem 
Ewigen  sein  Bestehen  hat;  und  zwar  fällt  ihm  das 
Ewige  und  Unendliche  nicht  ausserhalb  des  Zeitlichen 
und  Unendlichen,  sondern  ist  vielmehr  das  innere  Wesen 
und  die  Seele  von  diesem.  Während  wir  in  unserem 
Erkennen  und  Handeln  uns  mit  dem  Endlichen,  Be- 
stimmten und  Begrenzten  zu  thun  machen,  um  dieses 
aufzufassen  oder  zu  verändern,  leben  wir  in  unserem 
Gefühl  ein  ganzes,  ungeteiltes  Leben,  ein  universelles 
Leben,  wo  der  Gegensatz  und  die  Begrenzung  aufgehoben 
ist  und  die  allem  theoretischen  und  praktischen  Streben 
anklebende  Einseitigkeit  wegfällt.  Das  Gefühl  ist  das 
Gebiet  der  Religion,  weil  es  ein  Leben  im  Ganzen  und 
Universellen  ist,  —  weil  sich  in  ihm  der  Instinkt  für 
das  Universum  kundgiebt,  der  nichts  andres  ist  als 
eben  die  Religion.  Jedes  Gefühl  hat  nach  Schleiermacher, 
wenn  es  nur  nicht  krankhaft  und  verderbt  ist,  einen 
religiösen  Charakter.  Und  wie  sich  so  das  religiöse  Gefühl 
nicht  im  Gegensatz  zum  Leben  in  der  Erfahrungswelt, 
sondern  als  Vertiefung  desselben  äussert,  so  stellt  sich 
auch  die  Gottheit  nicht  als  ein  von  dieser  Welt  ge- 
sondertes Wesen  dar,  sondern  als  deren  innere  Einheit 
und  beseelende  Kraft.  Auch  die  Unsterblichkeit  ist  nicht 
eine  Existenz,  die  die  gegenwärtige  ablösen  soll,  sondern 
besteht  darin,  dass  man  schon  mitten  in  der  Zeit  das 
Ewige  in  sich  fühlt. 

Später  entwickelte  Schleiermacher  seine  Auffassung 
der  Religion  in  mehr  theologischer  Form  in  dem  „christ- 
lichen Glauben-'  (1821).     Er  bestimmt  hier  das  religiöse 


g  I.  Die  romantisch-spekalative  Eeligionsphilosopbie. 

Oefühl  als  scUechthiniges  Anhängigkeitsgefiihl  und  bringt 
damit  ein  Moment  von  der  grössten  Bedeutung  für  die 
religiöse  Psychologie  zur  Geltung.  Es  ist  überhaupt  der 
feine  psychologische  Sinn,  der  den  Arbeiten  Schleier- 
machers bleibende  Bedeutung  giebt.  Sowohl  seine  frühere 
Beschreibung  des  religiösen  Gefühls  als  des  universellen 
Einheitsgefühls,  als  der  Zentralisierung  des  Gefühlslebens 
gegenüber  dem  Dasein,  wie  die  spätere  Bestimmung 
desselben  als  des  Abhängigkeitsgefühls  sind  wertvolle 
Beiträge  zur  Psychologie  der  Religion,  obgleich  nähere 
Bestimmungen  notwendig  sind. 

Das  Dogma  ist  für  Schleiermacher  stets  etwas 
Abgeleitetes,  Sekundäres.  Dogmatische  Sätze  sind 
ursprünglich  als  Ausdruck  für  das  religiöse  Gefühl  ent- 
standen. Zuerst  schafft  sich  dieses  in  dichterischer  und 
rhetorischer  Weise  Luft ;  die  so  entstandenen  Ausdrucks- 
formen entwickeln  sich  darauf  im  Gewände  der  Lehre 
als  Bekenntnisse,  Und  da  die  dichterischen  Ausdrücke 
oft  in  scheinbaren  Widerstreit  mit  einander  kommen 
mussten,  auch  wo  das  zu  Grund  liegende  Gefühl  in 
Wirklichkeit  dasselbe  war,  so  wurde,  um  volle  Klarheit 
herzustellen,  eine  reflektierende  und  dialektische  Be- 
handlung notwendig.  Durch  diese  Mittelstufe  entstanden 
die  dogmatischen  Sätze,  die  darum  nach  Gültigkeit  und 
Bedeutung  sich  von  solchen  Sätzen  unterscheiden,  die 
auf  rein  theoretischem  oder  philosophischem  Wege  ge- 
wonnen sind.  Schleiermacher  will  eine  gewisse  Scheidung 
zwischen  der  Glaubenslehre  und  der  Philosophie  durch- 
führen; er  stützt  sie  auf  seine  Erkenntnislehre  (die  wir 
aus  der,  nach  seinem  Tode  herausgegebenen,  unvollendeten 
„Dialektik"  kennen)  und  weist  darin  einerseits  kritisch 
die  Grenzen  des  Erkennens  nach,  um  andrerseits  einem 
unmittelbaren  Gefühlsverhältnis  zur  Gottheit  seinen  Raum 
offen  zu  halten,  von  deren  Wesen  nach  seiner  Auffass- 
ung das  theoretische  Denken  sich  keinen  abgeschlossenen 
Begriff  bilden  kann. 


I.  Die  romantisch'spekalative  Religionspbilosophie.  9 

Durch  diese  feine  und  geistreiche  Auffassung  stellte 
•sich  Schleiermacher  in  bestimmten  Gegensatz  zu  den 
■zwei  herrschenden  Richtungen  der  Zeit,  zu  der  Ortho- 
doxie und  dem  Rationalismus.  Er  verwarf  den  äusseren 
Buchstabenglauben  der  ersteren  und  die  oberflächlichen 
Wegdeuteleien  der  letzteren.  Sein  Werk  hat  eine 
bleibende  Bedeutung  für  die  Religionsphilosophie,  und 
•er  steht  als  der  grösste  Denker  da,  den  die  Theologie 
neben  Augustin  und  Zwingli  aufweisen  kann. 

3.  Sehleiermacher  wollte  nicht  bloss  ein  freier 
Denker  über  die  Religion  sein,  er  wollte  die  kirchliche 
Theologie  darstellen  und  meinte  dies  von  seinem  Stand- 
punkte aus  thun  zu  können  —  eine  grosse  Selbsttäuschung, 
mit  der  er  seiner  Zeit  den  Tribut  bezahlte ;  denn  an 
seiner  persönlichen  Wahrheitsliebe  ist,  allen  Vorwürfen 
orthodoxer  und  radikaler  Fanatiker  zum  Trotz,  nicht  zu 
zweifeln.  Er  war  die  am  meisten  sokratische  Persönlich- 
keit unter  den  Philosophen  seiner  Zeit.  Ein  seltener 
Sinn  für  Individualitäten  und  ein  entschiedenes  Bewusst- 
sein  von  dem  Recht  und  der  Bedeutung  des  Individuellen 
■charakterisiert  sein  Leben,  das  uns  in  einer  reichhaltigen 
und  interessaaiten  Sammlung  seiner  Briefe  offen  vor  Augen 
liegt,  und  beseelt  sein  Denken  Dass  sich  aber  ein  kirchlicher 
Theologe  auf  solch  einen  Standpunkt  nicht  stellen  kann, 
das  sah  er  nicht.  Die  Kirche  als  historische  Gemeinschaft 
baut  auf  die  Annahme  der  Offenbarung  als  einer  objek- 
tiven Thatsache,  als  des  absoluten  und  adäquaten  Aus- 
drucks für  die  ewige  Wahrheit,  und  tritt  daher  gegen- 
über dem  Gefühlsleben  der  einzelnen  Individuen  mit 
dem  Anspruch  auf  unbedingte  Autorität  auf.  Für 
Schleiermacher  wurden  die  Dogmen  in  Wirklichkeit  nur 
Symbole,  der  Massstab  ein  subjektiver,  und  es  ist  von 
tjeinem  Standpunkt  aus  zu  Ludwig  Feuerbach,  für  den 
die  Theologie  bloss  Psychologie  ist,  nur  noch  ein  Schritt- 
Symbole  können  nicht  aufgezwungen  werden :  sie  können 
mur  frei  gewählt   oder  gebildet  werden  und  lassen  sich 


10  I*  Die  romantisch-spekalative  Religiontphilosophie. 

verändern,  ohne  dass  darum  das  zu  Grunde  liegende 
Gefühl  sich  ändern  müsste.  Das  kann  aber  die  Kirche 
in  Betreff  ihrer  Dogmen  nicht  einräumen;  es  würde 
ja  dann  auch  der  Oifenbarungsbegriff  selbst  wegfallen. 
Für  Schleiermacher  war  sogar  Gottes  Persönlichkeit 
nur  eine  symbolische  Vorstellung.  Wenn  aber  mit  Rück- 
sicht auf  alle  religiösen  Vorstellungen  zwischen  Bild 
und  Sache  prinzipiell  zu  unterscheiden  ist,  so  ist  da» 
eine  Aufhebung  der  positiven  Religion,  die  jedenfalls 
an  gewissen  Punkten  geltend  machen  muss,  dass  die 
Wahrheit  in  ihrer  ganzen  Fülle  und  in  ihrer  adäquaten 
Form  in  die  Welt  hereingetreten  ist. 

Und  bei  näherem  Nachsehen  zeigt  sich  zugleich, 
dass  die  Bestimmung  des  religiösen  Gefühls  selbst  (in 
beiden  Formen,  zuerst  als  eines  Einheitsgefühls  und 
später  als  eines  Abhängigkeitsgefühls)  auf  mehr  the- 
oretischen Voraussetzungen,  also  auf  mehr  Philosophie 
ruht,  als  Schleiermaclier  sich  bewusst  ist.  Das  religiöse 
Gefühl  hat  nach  seiner  Voraussetzung  einen  harmonischen 
Charakter.  Es  ist  gerade  dasjenige  Gefühl,  durch  das 
alle  Disharmonie,  Einseitigkeit,  Unvollkommenheit  und 
Sünde  überwunden  wird.  Das  Abhängigkeitsgefühl  be- 
kommt zuletzt  den  Charakter  des  Vertrauens  und  der 
Begeisterung.  Dies  setzt  aber  eine  optimistische  und 
harmonische  Weltanschauung  voraus ;  es  darf  keine  Er- 
fahrungen geben,  die  eine  ganz  andere  Totalstimmung 
gegenüber  dem  Dasein  mit  sich  bringen  könnten  oder 
doch  dem  religiösen  Gefühle  ein  minder  harmonisches- 
Gepräge  geben  würden.  Schopenhauer  und  Sören 
Kierkegaard  treten  in  diesem  Punkte  zu  der  roman- 
tischen, harmonisierenden  Auffassung  der  Welt  in  den 
denkbar  schroffsten  Gegensatz. 

Ueberhaupt  ist  es  für  die  Entwicklung  des  geistigen, 
besonders  des  religiösen  Lebens  in  unserem  Jahrliundei*t 
bezeichnend,  dass  sich  die  Gegensätze  stetig,  je  länger 
je    mehr,    verschärfen.     Das    Jahrhundert   beginnt   mit 


I.  Die  romantisch-spekalative  Religionsphilosophie.  ]  1 

Harmonie  und  Versöhnung;  mit  steigendem  Nachdruck 
aber  vollzieht  sich  die  Spaltung  und  Scheidung.  Schleier- 
macher erlebte  zwar  den  Radikalismus  eines  Strauss 
und  Feuerbach  nicht  mehr,  deren  Vorläufer  er  selbst 
ist,  teils  durch  seine  kritischen  Untersuchungen  der 
neutestamentlichen  Schriften  (infolge  deren  er  z.  B.  die 
Echtheit  des  ersten  Briefs  an  Tiraotheus  und  die  Be- 
richte über  die  Kindheitsgeschichte  Jesu  aus  geschicht- 
lichen Gründen  verwarf),  teils  durch  seine  psychologische 
Methode.  Dagegen  musste  er  noch  die  Verschärfung 
auf  dem  orthodoxen  Flügel  bemerken.  Im  Jahre  1821 
schrieb  er  in  der  Vorrede  zur  dritten  Ausgabe  seiner 
„Reden  über  die  Religion  an  die  Gebildeten  unter  ihren 
Verächtern*',  die  Zeiten  haben  sich  so  auffallend  ge- 
ändert, dass  die  Personen,  an  welche  diese  Reden  ge- 
richtet wurden,  gar  nicht  mehr  zu  existieren  scheinen, 
und  wenn  man  sich  unter  den  Gebildeten  umsehe,  so 
möchte  man  eher  nötig  finden,  Reden  an  Frömmelnde- 
und  an  Buchstabenknechte  zu  schreiben,  an  unwissend- 
und  lieblos  verdammende  Aber-  und  Übergläubige.  — 
Die  Zeiten  hatten  sich  geändert,  und  sie  sollten  sich 
noch  mehr  verändern. 

4.  Neben  Schleiermacher,  und  diesem  polemisch 
gegenüberstehend,  wirkte  in  den  zwanziger  Jahren  aa 
der  Berliner  Universität  ein  anderer  Religionsphilosoph, 
der  den  Wunsch  der  Zeit  nach  Harmonie  zwischen. 
Glauben  und  Wissen  noch  stärker  als  er  zum  Ausdruck 
bringt.  Es  war  Hegel  (1770  —  1831).  Das  Charakter- 
istische an  diesem  Denker,  dessen  Schriften*)  durch 
ihre  abstrakte  Form  den  meisten  unserer  Zeit  ein  tieferes 


*)  Aosfäbrlich  ist  Hegels  religions-philosophische  Anschaanng 
dargestellt  in  seiner  nach  seinem  Tod  herausgegebenen  „Philosophie 
der  Religion";  in  kürzerer  Form  hat  er  sie  schon  1817  in  der 
„Enzyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften"  ausgesprochen. 
Am  leichtesten  ist  seine  Auffassung  des  Christentums  der  „Philosophie 
der  Geschichte"  zu  entnehmen. 


12  ^-  Die  romantisch-speknlative  Rcligionspbilosophie. 

Eindringen  in  das,  was  an  seinen  Ideen  wirklich  be- 
deutend ist,  freiJich  schwer  machen,  war  ein  feines 
Verständnis  für  die  Einheit  des  geistigen  Lebens  in 
allen  seinen  verschiedenen  Formen  und  Gebieten.  i)a 
er  nun  in  dem  menschlichen  Geistesleben  eine  Form 
für  die  Offenbarung  eines  ewigen  Weltgeistes  sah,  so 
gelang  ihm  der  Entwurf  einer  idealistischen  Entwick- 
lungslehre, in  deren  Rahmen  er  —  oft  sehr  willkürlich 
<und  mit  mehr  oder  weniger  geistreicher  Umdeutung  — 
^Ues  eingliederte,  was  ihm  sein  reiches  Wissen  aus  den 
verschiedenen  Gebieten  zur  Verfügung  stellte.  Da  sich 
.das  Göttliche  auf  allen  Gebieten  und  in  allen  Formen 
des  Daseins  äussert,  so  anerkennt  Hegel  keine  absoluten 
Gegensätze.  Alle  Unterschiede  und  Gegensätze  sind 
Momente  der  Entwicklung,  die  dazu  dienen,  dieser 
Inhaltsfülle  und  Energie  zu  geben,  selbst  aber  immer 
wieder  in  einer  höheren  Einheit  aufgehoben  und  ver- 
einigt werden.  Die  Weltentwicklung  geht  durch  stetiges 
Hetzen  und  Aufheben  von  Gegensätzen  vor  sich.  Die 
Kontrastwirkung  ist  für  Hegel  gewissermassen  das 
Grundphänomen,  das  erst  Licht  ins  Dasein  bringt.  Es 
zeigt  uns  ja,  wie  die  Gegensätze  einander  hervorrufen 
und  nicht  getrennt  werden  können.  Ein  höheres  Gebiet 
oder  eine  höhere  Form  für  das  Dasein  ist  nach  Hegel- 
scher Auffassung  dadurch  angezeigt,  dass  Gegensätze 
durchlaufen  sind  und  ihr  Resultat  in  einer  neuen  Ein- 
heitsform niedergelegt  haben.  Die  Mediation,  die  Aus- 
gleichung und  Aufhebung  von  Gegensätzen  (oder  von 
Widersprüchen,  wie  sie  Hegel  unrichtig  nennt),  wurde 
das  Schlagwort  der  Anhänger  Hegels.  In  einem  Gegen- 
satz stehen  zu  bleiben  war  ein  Zeichen,  dass  man  in 
dem  Endlichen  und  Aeusserlichen  befangen  war ;  es 
^alt  die  höhere  Einheit  zu  gewinnen,  die  Gegensätze 
in  Harmonie  zu  vereinigen.  —  Eine  geniale  Idee  und 
-ein  grossartiges  Ziel!  Aber  es  ist  ein  langer  Weg  von 
der   allgemeinen  Idee    zu   der    speziellen    theoretischen 


I.  Die  romantisch-spekulative  Religionsphilosophie.  1  3. 

und  praktischen  Durcbfülirnng,  und  Hegel  und  dessen 
Anhänger  verwechselten  gar  zu  oft  das  Programm  mit 
der  Ausführung. 

Das  Verhältnis  zwischen  Philosophie  und  Religion 
war  nach  Hegel  dies,  dass  beide  einen  und  denselben 
Inhalt  haben,  nur  dass  die  Philosophie  diesen  Inhalt  in 
der  Sprache  des  abstrakten  Denkens  ausdrückt,  die 
Religion  dagegen  in  der  Sprache  des  Gefühles  und  der 
Phantasie.  Es  besteht  also  nur  ein  formaler  Unter- 
schied, der  das  Wesentliche  nicht  berühren  soll.  Was 
der  Gläubige  als  historische  Thatsachen  auffasst,  z.  B.- 
die  Weltscböpfung,  Gottes  Menschwerdung  in  Christus 
u.  s.  f.,  das  sind  für  die  Philosophie  ewige,  für  alle 
Zeiten  gültige  Wahrheiten  und  Gesetze.  So  ist  die 
christliche  Lehre  von  dem  leidenden  Gott  für  die  Phi- 
losophie nicht  Beschreibung  einer  einzelnen  Reihe 
liistorischer  Vorkommnisse,  sondern  ihr  wesentlicher' 
Inhalt  —  den  nur  der  Philosoph  in  seiner  klaren, 
adäquaten  Form  ergreift  —  ist  die  Wahrheit,  dass  das 
Unendliche  und  Göttliche  in  der  endlichen  Welt  lebt, 
während  doch  jede  endliche  Form  unvollkommen  ist 
und  zerbrochen  werden  muss.  Das  Unendliche  entfaltet 
sich  also  in  der  Welt  nur  durch  den  .stetigen  Unter- 
gang endlicher  Formen.  Nur  in  dem  ganzen  unendlichen 
Prozess  immer  neuer  und  immer  wieder  untergehender 
Lebensformen  besteht  das  ewige  Leben  der  Gottheit. 

Schon  an  diesem  einen  Beispiel  wird  es  klar,  dass 
Hegel  so  gut  wie  Schleiermacher  die  Dogmen  in  Wirk- 
lichkeit zu  Symbolen  macht,  nur  dass  sie  bei  ihm 
Symbole  für  allgemeine  Ideen,  nicht  für  subjektive  Ge- 
fühle werden.  Wie  bei  Schleiermacher  so  war  es  denn 
auch  bei  Hegel  eine  Selbsttäuschung,  dass  er  Glauben 
und  Wissen  versöhnt  zu  haben  meinte.  Es  war  aber 
Hegels  bestimmte  Ueberzeugung,  dass  durch  Umgiessung 
des  Glaubensinhalts  in  philosophische  Form  nichts  von. 
wesentlicher     Bedeutung     verloren    gehe;      er     meinte 


14  !•  Di()  romantisch-spekalative  Religionsphilosophie. 

vielmehr,  er  werde  erst  so  recht  zum  Eigentum  des 
Menschengeistes.  Er  sah  nicht,  was  erst  Strauss  und 
Feuerbach  scharf  nachwiesen,  dass  die  Uragie.ssung 
wirklich  einen  üebergang  zu  einer  ganz  andern  Lebens- 
und Weltanschauung  bedeutete,  als  die  ist,  welche  der 
positiven  Religion,  besonders  dem  Christentum,  das  hier 
natürlich  vor  allem  in  Betracht  kommt,  wirklich  eignet. 
Das  ganze  Verhältniss  zwischen  Christentum  lAid  Hu- 
manität fasste  Hegel  ganz  wie  Schleiermacher  als  ein 
harmonisches  auf.  Der  romantische  Optimismus  ist  für 
beide  charakteristisch. 

5.  Doch  rausste  sich  schon  vom  rein  philosophischen 
und  humanen  Standpunkt  aus  ein  Bedenken  gegenüber 
dem  Hegeischen  Grundgedanken  von  der  Einheit  der 
■Gegensätze  erheben.  Eine  höchste  Einheit,  worin  alle 
Gegensätze  des  Daseins  ihre  Versöhnung  finden,  als 
wirklich  angenommen,  so  sind  doch  wir  als  existierende 
Wesen,  mitten  in  dieser  Welt  der  Gegensätze,  von  ihr 
gar  weit  entfernt.  Im  Wogenschlage  der  Gegensätze 
schwanken  wir  auf  und  ab ;  wir  sind  von  der  Erfahrung 
abhängig,  stossen  mit  unserm  Denken  wie  mit  unserm 
Handeln  auf  Schranken,  haben  nur  einen  beschränkten 
Horizont,  und  was  wir  schliesslich  erreichen,  ist  oft 
problematisch,  wenn  wir  nicht  gar  mit  dem  Kopf  gegen 
die  Wand  laufen!  Für  uns  ist  daher  jene  Einheit 
■ein  unerreichbares  Ideal,  und  die  Versöhnung,  die  sie 
enthält,  besteht  nur  für  die  Phantasie  oder  für  den 
Glauben.  Diesen  wesentlichen  Punkt  —  den  Unterschied 
ijwischen  Methaphysik  auf  der  einen  und  Psychologie 
und  Ethik  auf  der  andern  Seite  —  übersah  Hegel,  und 
darin  lag  sein  grösster  philosophischer  Fehler.  Die 
Folge  war,  dass  er  (und  seine  Anhänger  noch  mehr) 
die  rein  abstrakte  und  logische  Konstatierung  des  Zu- 
sammenhanges von  Gegensätzen,  z.  B.  entgegengesetzter 
Standpunkte,  mit  einer  Ueberwindung  derselben  ver- 
wechselte,    die   man    nur   wirklicher    Arbeit    verdankt 


L  Die  romantisch-speknlative  Religionsphilosophie.  15 

oder  —  auf  ethischem  Gebiet  —  durch  wirkliches 
Durch  leben  und  praktische  Versöhnung  der  wider- 
strebenden Tendenzen,  in  denen  das  Leben  sich  bewegt, 
erreichen  muss.  Hiezu  kommt,  dass  im  Verlauf  des 
Lebens  stets  neue  Gregensätze  und  damit  neue  Probleme 
auftauchen;  es  kann  die  höhere  Einheit  also  nie  ein 
für  allemal  gewonnen  werden.  Die  Theorie  von  der 
Einheit  der  Gregensätze  stellt  also  ein  Ideal  auf,  giebt 
uns  aber  keinen  wirklichen  Besitz.  Hegel  machte  den 
grossen  Fehler,  dass  er,  um  mit  seinen  eigenen  Worten 
zu  reden,  darauf  ausging,  das  Ideal  zum  System  um- 
zuschreiben. Damit  Hess  er  (wie  wir  das  nicht  bloss 
an  seiner  Religionsphilosophie,  sondern  auch  an  seiner 
Ethik  und  Staatslehre  sehen)  weder  die  Wirklichkeit 
noch  das  Ideal  zu  ihrem  Rechte  kommen. 

Sören  Kierkegaards  Opposition  gegen  Hegel  ver- 
dankt ihre  Bedeutung  nicht  zum  geringsten  Teil  der 
scharfsinnigen,  einschneidenden  Art,  wie  er  diesen 
Hauptpunkt  in  der  Hegeischen  Philosophie  angriff.  Auch 
ist  wohl  zu  beachten,  dass  wir  hier  nicht  den  Ideen 
eines  einzelnen  Philosophen  gegenüberstehen;  vielmehr 
ist  die  Hegelsehe  Lehre  in  diesem  Punkt  wirklich  von 
typischer  Arl  Sie  repräsentiert  —  nach  ihrer  besten 
Deutung  —  das  natürliche  Bestreben,  von  dem  das 
menschliche  Geistesleben  niemals  abgehen  kann,  Zu- 
sammenhang und  Harmonie  zu  finden,  durch  eigene 
Kraft  Herrschaft  und  Überblick  über  das  Leben  zu 
gewinnen.  Und  —  in  einer  oberflächlichen  Verwen- 
dung —  stellt  sie  ein  Phantasieverhältnis  zum  Dasein 
dar,  eine  schöngeistig-beschauliche  Stellung  zu  Problemen, 
Krisen  und  Gegensätzen,  die  man  als  ein  interessantes 
Schauspiel  sich  entfalten  lässt,  von  deren  Konflikten 
man  aber  nicht  berührt  wird,  indem  man  sich  selbst 
als  die  verwirklichte  „höhere  Einheit"  betrachtet.  — 
Mag  man  diesem  System,  worin  sich  die  romantische 
Bewegung  seit  Beginn   des  Jahrhunderts   in  abstrakter 


16  I.  Die  romantiscIi-speknlatiTe  Religionsphilosophie. 

Form  auf-  und  zusammenfasste,  auch  die  beste  Deutung: 
geben,  so  musste  es  doch  eine  ernstliche  Reaktion  lier- 
vorrulen,  die  in  Theorie  und  Praxis  wieder  die  Wirk- 
lichkeit in  ihrem  bestimmten,  konkreten  und  individuellen 
Charakter  betonte.  Und  indem  Sfjren  Kierkegaard  mit 
der  wünschenswertesten  Entschiedenheit  diese  Reaktion 
auf  dem  ethisch-religiösen  Gebiete  einleitet,  bringt  er  sie- 
zugleich  in  eine  solche  Form,  dass  sie  als  stetiger  Protest 
gegen  ähnliche  Tendenzen  in  der  menschlichen  Natur. 
wie  sie  auch  spätere  Zeiten  darbieten,  fortwirken  kann, 

Goethe's  Faust  hatte  übrigens  bereits  ausgesprocheuy 
um  was  es  sich  hier  handelte.  Wie  er  in  des  Nostra- 
damus  Buch  das  Symbol  für  das  Universum  sieht,  ruft 
er  anfangs  begeistert  aus: 

Wie  alles  sich  zam  Ganzen  webt, 
Eins  in  dem  andern  wirkt  und  lebt! 
—  es  stimmt  ihn  aber  bald  wehmütig,   dass  diese  Ein- 
heit der  Gegensätze   nicht  in   der  Form    der  Wirklich- 
keit gegeben  ist : 

Welch  Schauspiel!  aber  ach!  ein  Schauspiel  nur!' 

Sören  Kierkegaard  erkannte  es  als  seine  Lebens- 
aufgabe, einzuschärfen,  was  das  vorangehende  romantisch- 
spekulative Geschlecht  vergessen  hatte :  dass  nämlich 
das  Leben  etwas  anderes  und  mehr  ist  als  ein  Schau- 
spiel für  uns. 


n. 

Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen 
in  Dänemark."^) 

1.  Johann  Ludwig  Heiberg  (1791— 1860)  war 
der  Apostel  Hegelscher  Philosophie  in  Dänemark.  Zum 
erstenmal  e  ergriff  er  das  Wort  für  sie  in  einer  Ab- 
handlung aus  dem  Jahre  1825,  mit  der  er  sich  an  dem 
von  Howitz  veranlassten  deterministischen  Streite  be- 
teiligte. Später  wandte  er  sie  besonders  auf  ästhetische 
und  theologische  Gegenstände  an.  Er  fand  in  Hegels 
Philosophie  einen  Ausdruck  für  dasselbe,  was  Groethe  in 
seiner  Lebensanschauung  und  in  seinen  Dichtungen  an- 
strebte. „Hegels  System",  sagt  er,  ,,ist  ganz  dasselbe  wie 
das  Goethe's.  Dass  zwei  so  grosse  Geister  zu  gleicher 
Zeit  zum  selben  Resultate  gekommen  sind,  kann  uns 
von  diesem  nur  eine  günstige  Vorstellung  erwecken. . .  . 
Um  die  Hegel'sche  Philosophie  mit  ein  paar  Worten  zu 
charakterisieren,  kann  man  sagen,  sie  versöhne  gleich 
der  Goethe'schen  Poesie  das  Ideal  mit  der  Wirklichkeit, 
unsere  Ansprüche  mit  dem,  was  wir  besitzen,  unsere 
Wünsche  mit  dem,  was  wir  erreicht  haben."  lieber 
das  Verhältnis  zwischen  Religion  und  Philosophie  im 
besonderen  hat  sich  Heiberg  nicht  nur  in  seinen. 
Abhandlungen  und  in  seiner  Zeitschrift  „Perseus", 
sondern  auch  in  seinen  grossen  philosophischen  Gedichten 
ausgesprochen,  die  sicher  das  Trefflichste  sind,  was 
unsere  Litteratur  in  dieser  Richtung  besitzt.  Wenn  er 
in  der  Reformationskantate  sagt,  dass  „das  Denken 
empor  zum  Höchsten  stieg,    so  oft   sich's  in  sich  selbst 


*)  Zu  dem  Folgenden  vergleiche  man  Arcbiv  für  Geschichte  der 
Philosophie,  2.  Band,  1889,  S.  50  ff:  Harald  Höffding,  die  Philosophie 
in  Dänemark  im  19.  Jahrhnndert. 

2 


18      n.  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in- Dänemark. 

vertiefte '^,    so  spricht  er  damit  Hegels  Grundge  danken 
aus.     Denn    auf    dem    selbsteigenen  Weg  des  Denkens, 
indem  das  Denken  sich  aus  seiner  eigenen  Natur  heraus 
klar  entfaltet,  werden  ja  nach  Hegel  dieselben  Ideen  ge- 
funden, die  den  wesentlichen  Inhalt  der  Religion  ausmachen. 
Freilich  besteht  ja  wohl  ein  grosser  Unterschied  in  der 
Form;    die    Religion    verfügt   auf   ihrem  unmittelbaren 
Gebiet  über  Bilder  und  Symbole,  gegen  deren  Farben- 
pracht   die    Denkformen    arm    und    gering    erscheinen 
möchten.  Allein  Heiberg  tröstet  sich  im  „Protestantismus 
in  der  Natur",    dem  Gedichte,    worin    er  sich  \'ielleicht 
zum  höchsten  Flug  erhebt,  dass  die  ganze,  dem  Vergehen 
unterworfene    Aussenwelt    in    uns    wieder    Leben    und 
Wirklichkeit   gewinnen   soll,    wenn  wir   nur   den  Blick 
einwärts   wenden  wollen.     Was    uns    entschwindet,    ist 
nur  die  äussere,  anschauliche  Form,    die    die  kindliche 
Phantasie   schmerzlich   vermisst   und   mit   der  sie  alles 
verloren  glaubt.  Für  Heiberg  aber  geht  damit  so  wenig 
wie  für  Hegel  etwas  verloren.  Es  schien  ihm  für  seine 
Zeit  bezeichnend,    dass    sie    erkennen  wollte,    was    die 
früheren  Zeiten    gefühlt   und    geglaubt  hatten.    Dieses 
Erkennen   soll    aber   nach  seiner  Meinung  „Gefühl  und 
Glauben  durchaus  nicht  vernichten,  sondern  im  Gegen- 
teil  befestigen;    denn    erst    wenn    wir    einmal    wissen, 
dass  sie  die  Wahrheit  enthalten,  können  wir  uns  ihnen 
ungestört  überlassen."  —  Diese  Auffassung  erregte  bei 
den  Theologen  aber   doch  Bedenken,    und  so  gelang  es 
der  spekulativen  Religionsphilosophie   in    dieser  klaren 
und  entschiedenen  Form  bei  uns  nicht,  grösseren  Anhang 
zu  gewinnen.     Sie  musste  sich  erst  einer  dogmatischen 
Modifikation  eigentümlicher  Art  unterziehen. 

2.  Hans  Märten sen  (1808—1884)  fühlte  sich 
von  der  Hegeischen  Denkweise  schon  als  Jüngling  stark 
angezogen,  da  sie  ihm  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis 
des  Göttlichen  zu  eröffitien  schien,  während  Schleier- 
macher,  der  ihn  zur  selben  Zeit  stark  beeinflusste,    die 


n.  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark.      19 

•spekulativen  Probleme  scliliesslich  liegen  liess.  Als 
Schleiermacher  ein  Jahr  vor  seinem  Tode  bei  einem 
Besuch  in  Kopenhagen  eines  Tages  mit  dem  jugend- 
lichen, liebenswürdigen  Kandidaten  der  Theologie  einen 
Spaziergang  machte,  fragte  ihn  dieser  „ganz  naiv",  ob 
•er  eine  Erkenntniss  des  „göttlichen  Wesens  an  sich, 
•des  inneren,  ewigen  Lebensprozesses  in  Grott"  für  mög- 
lich halte.  Schleiermacher  erwiderte  ruhig :  „Ich  halte 
es  für  eine  Täuschung."*)  Allein  die  spekulative  Be- 
geisterung des  jungen  Theologen  liess  sich  durch  die 
Warnung  des  alten  Meisters  nicht  dämpfen.  Hegels 
Denkweise  lockte  ihn,  obgleich  er  bei  Hegel,  der  ihm 
.zu  abstrakt  logisch  war,  nicht  stehen  bleiben  konnte. 
Er  ahnte  wohl  auch,  dass  für  Hegel  wie  für  Schleier- 
macher  die  Dogmen  konsequenterweise  nur  Symbole 
werden  können.  Er  traute  sich  die  Kraft  zu  etwas  noch 
■Grösserem  zu,  als  diese  Denker  für  erreichbar  gehalten 
hatten:  er  wollte  Glauben  und  Wissen  so  versöhnen, 
dass  er  beider  Form  beibehielt.  Eigentümlich  für  Mar- 
tensen  war,  dass  er  einem  mystischen  und  phantasie- 
reichen Schauen  das  Denken  beigesellen  wollte,  d.  h. 
ein  Denken,  das  unter  den  Bildern,  die  vor  der  vom 
Gemüt  erregten  Phantasie  aufstiegen,  einen  gewissen 
Zusammenhang  herzustellen  suchte.  Sein  Ideal  waren 
die  alten  Mystiker  und  Philosophen;  er  wollte  in  den 
Fusstapfen  Meister  Eckarts  und  Jakob  Böhme's 
wandeln.  Von  den  Denkern  seiner  Zeit  bewunderte  er 
vornehmlich  den  katholischen  Philosophen  Franz 
Baader,  der  gleichfalls  die  Philosophie  Jakob  Böhmes 
•erneuern  wollte.  Seine  Abweichung  von  Hegel  brachte 
•er  schon  frühzeitig  (1836)  in  der  Kritik  einer  Heiberg'- 
schen  Abhandlung  und  in  seiner  Disputation  über  die 
„Autonomie  des  Selbstbewusstseins  in  der  christlichen 
Dogmatik"  (1837)  zum  Ausdruck.  Gegen  Hegel  machte 

*)  S.  Martensen,  mein  Leben  (Karlsrahe  u.  Leipzig,  H.  Reuther 
1883)  I.  S.  81  f. 

2* 


20     !!•  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark. 

er  besonders  die  Unmöglichkeit,  ohne  Voraussetzungen 
zn  denken,  geltend.  Der  Mensch  hat  sich  ja  nicht  selbst 
erschaiFen,  sondern  ist  von  Gott  gesetzt  —  hat  also 
Gott  zu  seiner  Voraussetzung,  seiner  Autorität.  Angesichts 
des  Schöpfungsdogmas  darf  nicht  Selbständigkeit  (Auto- 
nomie), sondern  nur  die  Abhängigkeit  von  Gott  (Tlieo- 
nomie)  die  Losung  werden.  Spekulation  auf  Grund  des 
Glaubens,  das  ist  die  Aufgabe.  Es  muss  mit  dem 
alten  Worte  Ernst  gemacht  werden,  dass  Gottesfurcht 
der  Weisheit  Anfang  ist.  Später,  in  seiner  Dogmatik, 
formulierte  er  dies  so,  dass  die  Glaubenslehre  als 
Wissenschaft  nur  für  das  durch  Glauben  und  Gnade 
wiedergeborene  Selbstbewusstsein  möglich  sei. 

Man  kann  Martensen  die  Einsicht,  dass  seine  höhere- 
Wissenschaft  verschiedener  Voraussetzungen  bedurfte, 
nicht  absprechen,  wogegen  es  einen  wohl  befremden 
kann,  dass  er  nicht  selbst  sich  fragte,  welchen  Wert 
eine  Wissenschaft  noch  habe,  die  auf  so  vielen  und  so 
ungeheuren  Voraussetzungen  ruht.  Aber  der  jugend- 
liche Theologe  hatte  Begeisterung,  und  begeistert  wurden 
die,  die  ihn  hörten.  Man  datierte  von  seinem  Auftreten 
^eine  neue  Aera"  und  erwartete  ein  goldenes  Zeitalter 
für  die  Theologie.  In  seinen  Vorlesungen  über  die  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  führte  er  seine  Zuhörer 
zuerst  zu  Hegels  Philosophie  als  dem  notwendigen 
Resultat  der  Entwicklung  des  Denkens,  und  wenn  ihnen 
das  hinlänglich  imponiert  hatte,  kam  Verwunderung 
und  Bewunderung  in  zweiter  Potenz,  wann  er  die  Not- 
wendigkeit und  Möglichkeit  eines  noch  höheren  Stand- 
punkts zeigte  —  fortschreitend  über  den  grössten  Denker 
der  Zeit  hinaus!  In  seiner  Dogmatik  führte  er  seine 
Zuhörer  wie  späterhin  seine  Leser  von  Dogma  zu  Dogma, 
ohne  dass  eine  wesentliche  Schwierigkeit  Aufenthalt 
verursachte.  Dreieinigkeit,  Inkarnation,  Versöhnung 
werden  gleich  einer  Bildergalerie  voll  grosser  Begeben- 
heiten  im  Reiche    des  Geistes    vorgeführt,   daneben  oft 


11.  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark.      2 1 

geistvolle  und  tiefsinnige  Bemerkungen,  und  jeder  An- 
stoss  für  das  Denken  ist  sorgfältig  weggeschafft.  Das 
muss  wohl  von  der  Wiedergeburt  herrühren.  Nur  an 
einem  Punkte  stutzt  der  dogmatische  Denker;  da  will 
es  auch  dem  wiedergeborenen  Bewusstsein  nicht  ge- 
lingen, Klarheit  in  die  Sache  zu  bringen :  in  der  Frage 
nach  der  ewigen  Verdammnis.  Hier  findet  er  —  -  zur 
Ehre  für  sein  Humanitätsgefühl,  wenn  auch  nicht  zur 
Ehre  seiner  Orthodoxie  —  für  das  Denken  doch  eine 
crux. 

Philosophisch  betrachtet  hat  sich  Martensen  für's 
erste  an  der  Wahrheit  versehen,  dass  das  Denken  stets 
Voraussetzungen  braucht.  Er  hat  nicht  gesehen,  dass 
man  diese  Voraussetzungen  stets  auf  ein  Minimum  be- 
schränken und  sie  sodann  (in  der  Erkenntnislehre)  durch 
den  Nachweis  ihrer  Begründung  in  der  menschlichen 
Natur  legitimieren  muss.  Wir  konstruieren  nur  die 
Voraussetzungen,  die  zum  Verständnis  der  für  die  Er- 
fahrung gegebenen  Wirklichkeit  notwendig  sind  und 
als  in  der  menschlichen  Natur  wurzelnd  nachgewiesen 
werden  können,  —  Und  für's  zweite  hat  er  nie  eine 
Aufklärung  darüber  gegeben,  wie  es  eigentlich  zugeht, 
dass  die  Schwierigkeiten,  welche  die  Dogmen  dem 
natürlichen  Bewusstsein  darbieten,  für  das  wieder- 
geborene Bewusstsein  wegfallen.  Bekommt  man  denn 
mit  der  Wiedergeburt  eine  andere  Logik  ?  Und  müsste 
in  diesem  Falle  nicht  eine  Darstellung  dieser  höheren 
Logik  von  grösster  Wichtigkeit  sein?  Oder  sollte  der 
ganze  Unterschied  darin  liegen,  dass  man  nicht  mehr 
denkt?  Und  geht  es  immer  so  leicht,  dass  man  zu 
denken  aufhört,  die  Vernunft  gefangennimmt?  —  Es 
fehlte  jedenfalls  nicht  an  solchen,  die  hier  den  schmerz- 
lichsten Widerspruch,  den  leidenschaftlichsten  Zusammen- 
stoss  zwischen  verschiedenen  Kräften  empfanden  und 
an  diesem  Versuch  einer  „höheren"  Wissenschaftlichkeit 
schweres  Ärgernis  nahmen. 


22     II'  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark. 

Vom  religiösen  Gresichtspunkte  aus  musste  sich  da» 
Bedenken  erheben,  ob  man  auch  noch  Zeit,  Lust  und 
Kraft  zur  Spekulation  habe,  nachdem  man  die  genannten 
Voraussetzungen  gewonnen  hatte.  Diese  konnten  ja 
möglicherweise  derart  sein,  dass  man  sie  stets  von 
neuem  erwerben  musste,  dass  die  Aneignung  nicht  ein- 
für  allemal  vor  sich  gehen  konnte,  und  dass  diese  Auf- 
gabe der  stets  wiederkehrenden  Aneignung  „die  höhere 
Einheit"  unmöglich  machte,  auch  in  der  Form,  wie 
Martensen  sie  mit  seinem  übermütigen  Versuch,  Hegel 
noch  zu  überbieten,  aufgefasst  hatte. 

3.  Mit  Heiberg  und  Martensen  hielt  die  deutsche- 
spekulative Philosophie  ihren  Einzug  bei  uns.  Doch 
schon  ehe  Sören  Kierkegaard  seinen  wuchtigen  Angriff" 
auf  diese  Richtung  eröffnete,  waren  ihr  dänische  Denker 
mit  energischem  und  wohlbegründetem  Widerspruche 
entgegengetreten.  Wie  Treschow  zu  Anfang  des  Jahr- 
hunderts durch  sein  nüchternes  kritisches  Denken  und 
seine  gesunde  Psychologie  den  Unklarheiten  Schelling'- 
scher  Philosophie  entgegengewirkt  hatte,  so  trat  bereits 
in  den  dreissiger  Jahren  Friedrich  Christian 
Sibbern(l785 — 1872)  mit  einschneidender  Kritik  gegen 
die  Hegel'sche  Philosophie  auf.  Sibbern  war  nach  seiner 
innersten  Natur  und  nach  seiner  ganzen  Entwicklung 
unempfönglich  für  eine  Philosophie,  die  alles  aus  sich 
selbst  heraus  spinnen  wollte  und  durch  ihre  spekulativen 
Abstraktionen  das  wirkliche  Leben  aus  den  Augen  ver- 
lor. Charakteristisch  ist  für  ihn  in  dieser  letzteren 
Hinsicht  ein  Zug,  den  er  selbst  erzählt.  „Ich  erinnere 
mich,  dass  Sören  Kierkegaard  in  seiner  Hegerschen 
Zeit  mich  einmal  auf  dem  Alten  Markte  traf  und  fragte, 
wie  sich  die  Philosophie  zu  dem  Leben  in  der  Wirk- 
lichkeit verhalte.  Die  Frage  machte  mich  stutzig,  da 
all  mein  Philosophieren  auf  die  Erforschung  des  Lebens 
und  der  Wirklichkeit  ausging;   später  musste  ich  dann 


II.  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark.     23 

freilich  gewahr  werden,  dass  diese  Frage  sich  einem 
Hegelianer  ganz  natürlich  aufdringen  musste,  da  ein 
solcher  die  Philosophie  ja  nicht  existenziell  studiert.*^ 
(S.  Kierkegaards  eft   Pap.  1833-43,  S.  LH  f.) 

Für  Sibbern  musste  das  Denken  stets  etwas  Ge- 
gebenes, eine  faktische  Grundlage  haben.  Die  Philo- 
sophie muss  explikativ  sein,  d.h.  sie  muss  sich  den 
in  der  gegebenen  Erfahrung  vorliegenden  Inhalt  klar 
und  deutlich  machen,  ehe  sie  spekulativ  werden, 
d.  h.  von  dieser  Grundlage  ausgehend  weitergehende 
Hypothesen  aufstellen  kann.  Hiezu  kam  noch,  dass 
Sibbern  in  der  interessanten  Entwicklungsphilosophie, 
auf  die  er  schon  frühzeitig  gekommen  war,  das  Dasein 
als  einen  grossen  Prozess  oder  als  ein  System  von 
Prozessen  auffasste,  die  von  vielen  ungleichartigen 
Ausgangspunkten  aus  vor  sich  gehen.  Er  legt  auf  den 
sporadischen  Charakter  der  Entwicklung  besonderes 
Gewicht.  Da  nun  der  forschende  Mensch  selbst  einer 
von  diesen  vielen  Ausgangspunkten  ist  und  selbst  in- 
mitten eines  dieser  sporadischen  Entwicklungsprozesse 
steht,  so  kann  er  das  Ganze  unmöglich  überschauen. 
Wiewohl  wir  Glieder  in  dem  universellen  Dasein  sind 
und  daher  dessen  innerstes  Wesen  sich  auch  bei  uns 
regen  muss,  können  wir  uns  doch  von  unserer  Stelle 
aus  kein  abgeschlossenes  Bild  des  ganzen  Weltlebens 
entwerfen.  Ein  philosophisches  System  im  Sinne  Hegels 
ist  also  für  Sibbern  überhaupt  ein  unmögliches  Unter- 
nehmen. 

Sibberns  religionsphilosophische  Gedanken  liefen 
darauf  hinaus,  dass  man  die  religiöse  wie  jede  andere 
Erfahrung  als  gegeben  zunächst  einfach  hinnehmen  soll. 
Dann  handle  es  sich  darum,  in  ihren  Inhalt  sich  hinein- 
zuleben, um  so  den  wirklichen  Gehalt  und  die  Gültig- 
keit derselben  zu  entdecken.  Er  war  ebensosehr  gegen 
die  rationalistische  oder  spekulative  Umsetzung  des 
lebendigen,  persönlichen  Glaubens  in  abstrakte  Begriffe, 


•24       II-  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark. 

wie  gegen  die  orthodoKe  Geltendmachung  der  Dogmen 
als  äusserer,  objektiver  Wahrheiten.  Anfangs  Hess  sich 
Sibbern  hierin  durch  seinen  Gegensatz  gegen  die  dürre 
Verständigkeit  des  Rationalismus  leiten.  Mit  den  Jahren 
aber  fühlte  er  sich  mehr  und  mehr  von  der  orthodoxen 
Richtung  abgestossen  und  zweifelte  nachgerade  daran, 
inwieweit  der  Inhalt  der  Religion  wirklich  in  demselben 
Sinne  für  gegeben  gelten  dürfe  wie  die  der  Wissen- 
schaft zu  Grunde  liegenden  Erfahrungen.  So  kommt 
denn  bei  Sibbern  in  einer  Reihe  merkwürdiger  Uni- 
versitätsprogramme aus  den  Jahren  1846 — 49  eine  aus- 
gesprochen kritische  Stellung  gegenüber  dem  positiven 
religiösen  Glauben  zum  Vorschein.  Es  war  nicht  sowohl 
historische  Kritik,  was  in  ihm  den  Zweifel  weckte, 
wieviel  in  der  Religion  wirklich  gegeben  sei,  als 
vielmehr  die  psychologische  Überzeugung,  dass  manches, 
was  als  ursprünglicher  Ausdruck  religiöser  Bewegung 
gelte,  nicht  unmittelbarer  Ertrag  persönlicher  Erfahrung 
sein  könne,  sondern  vielmehr  einer  komplizierteren  Ent- 
wicklung entstamme,  wobei  allerlei  Voraussetzungen 
und  Reflexionen  bestimmend  mitgewirkt  haben.  Im 
ganzen  wurde  er  mehr  und  mehr  von  der  objektiven 
und  historischen  Seite  an  der  Religion  ab  und  auf  das 
innere  persönliche  Leben  hingeleitet,  das  die  Quelle 
ihres  Lebens  ist.  Und  indem  er  hiemit  seinen  weit- 
tragenden Gedanken  verband,  dass  alle  Entwicklung 
sporadisch,  von  einzelnen  Ausgangspunkten  aus,  vor 
sicli  gehe,  musste  er  die  Anerkennung  des  Rechts  der 
Subjektivität  fordern.  So  führte  der  alternde  Denker 
den  Satz  konsequent  durch,  den  sein  jüngerer  Freund, 
Sören  Kierkegaard,  bereits  etliche  Jahre  zuvor  ent- 
wickelt hatte:  dass  nämlich  die  Subjektivität  die  Wahr- 
lieit  ist;  nur  dass  er  ihn  nicht  mit  Kierkegaard  bloss 
auf  die  Notwendigkeit  persönlicher  Aneignung  gründet, 
sondern  besonders  darauf  Gewicht  legt,  dass  das  wirk- 
liche geistige  Leben  sich  in  den  einzelnen  Persönlichkeiten 


IL  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark.     25 

je  besonders  regt,  und  man  durch  das  gewaltsame 
Hineinzwängen  aller  einzelnen  in  eine  gemeinscliaftliche 
Form  der  Lebensanschauung  eben  diese  einzelnen  Lebens- 
quellen verstopfe. 

Dass  Sibberns  Einfluss  auf  seine  Zeit  kein  stärkerer 
wurde,  hängt  besonders  mit  seinem  Mangel  an  leicht- 
verständlicher Darstellung  zusammen.  Sein  Stil  leidet 
an  Breite  und  mancherlei  Sonderbarkeiten,  die  der 
rechten  Würdigung  des  Mannes  nach  seiner  besonderen 
Bedeutung  hindernd  im  Wege  standen. 

4.  Ein  jüngerer  Freund  und  Amtsgenosse  von 
Sibbern,  der  Dichter  und  Philosoph  Paul  Möller 
(1794—1838),  verdient  in  der  Besprechung  der  älteren 
Zeitgenossen  Sören  Kierkegaards  besondere  Erwähnung, 
da  er  Kierkegaard  persönlich  am  nächsten  stand.  Paul 
Möller  war  eine  Zeit  lang  für  Hegels  Philosophie  sehr 
eingenommen  gewesen,  stellte  sich  aber  später  derselben 
kritisch  gegenüber.  Als  Universitätslehrer  wirkte  er 
am  meisten  durch  seine  Vorlesungen  über  die  Geschichte 
der  Philosophie.  Er  hatte,  wie  seine  „Gredankensplitter" 
zeigen,  einen  aufgeschlossenen  Sinn  für  die  persönliche 
Seite  beim  Philosophieren,  hielt  sich  nicht  nur  an  den 
objektiven  Inhalt  der  philosophischen  Theorien,  sondern 
ging  von  diesem  Inhalt  zurück  auf  die  philosophierende 
Persönlichkeit.  In  seinem  Entwurf  einer  Abhandlung 
über  die  Affektation  äussert  sich  Paul  Möllers  Sinn  für 
die  Bedeutung  der  persönlichen  Wahrheit  besonders 
charakteristisch  und  so,  dass  er  in  bedeutsamer  Weise 
als  Sören  Kierkegaards  Vorgänger  vor  Augen  tritt. 
Dieser  Entwurf  vermag  wohl  auch  eine  ungefähre  Vor- 
stellung davon  zu  geben,  um  was  sich  die  häufigen 
Unterredungen  Paul  Möllers  mit  Sören  Kierkegaard 
bewegt  haben. 

Affektation  ist  nach  Paul  Möller  eine  Mischung 
von  Falschheit  und  Selbstbetrug.  Sie  entsteht  dadurch, 
dass  man   sein  will,    was  man  seiner  Natur  nach  nicht 


26       II'  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeltgenossea  in  Dänemark. 

sein  kann,  und  darum  sich  selbst  und  andern  einbildet, 
man  sei  anders,  als  man  in  Wirklichkeit  ist,  ^.Der 
Affektierte  thut  vorsätzlich,  was  nur  Bedeutung  hat, 
wenn  es  durch  Naturgewalt  oder  Naturantrieb  oder 
höhere  Notwendigkeit  hervorgerufen  ist.''  Paul  Möller 
aber  hat  einen  klaren  Blick  dafür,  dass  Affektation  in 
diesem  Sinne  auf  gewissen  Stufen  der  Entwicklung 
infolge  der  Natur  der  Verhältnisse  nicht  zu  vermeiden 
ist.  Denn  wenn  die  Persönlichkeit  sich  entwickeln  und 
erweitern  soll,  so  muss  sie  notwendig  ihre  Grenzen 
überschreiten  und  fremden  Stoff  in  sich  aufnehmen, 
ohne  dieses  Fremde  doch  sofort  zu  ihrem  wirklichen 
Eigentum  machen  zu  können.  Hiedurch  entsteht  als 
Durchgangspunkt  eine  augenblickliche  Affektation. 
Dauernd  wird  sie,  wenn  das  aufgenommene  fremde 
Prinzip  konsequent  durchgeführt  wird,  obwohl  es  in  der 
Persönlichkeit  nicht  Wurzel  fassen  kann.  Moralisches 
Gefühl,  Selbstgefühl,  aber  auch  Immoralität,  können  so 
Schalen  sein,  worin  man  sich  vor  sich  selbst  und  andern 
versteckt,  indem  man  daran  Gefallen  findet,  ohne  sie 
doch  wirklich  auszufüllen.  Eine  wissenschaftliche  Sprache 
ohne  Einsicht  in  die  entsprechenden  Gedanken,  und 
übertriebene  Symmetrie  in  einem  wissenschaftlichen 
System  sind  mehr  theoretische  Formen  derselben  Er- 
scheinung. 

Paul  Möller  betont  die  Wichtigkeit  der  Ueberein- 
stimmung  zwischen  dem  Innern  und  Aeussern  sogar  so 
stark,  dass  er  erklärt,  keine  L  ebensäusserung 
habe  Wahrheit,  in  der  nicht  schöpferische 
Originalität  liege.  Er  stellt  diesen  Satz  mit  dem 
vollen  Bewusstsein  seiner  Paradoxie  auf.  Denn  wieviel 
Wahrheit  verbleibt  wohl  in  der  Welt,  wenn  wir  nur 
in  dem  wahr  sind,  was  wir  selbst  hervorbringen  ? 
Allein  er  hat  die  Ueberzeugung,  dass  in  dem,  was  wir 
uns  falsch  angeeignet  haben,  und  in  dem  objektiven, 
konventionellen     Gepräge,     das     wir    unsrem     Leben 


II,  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark.       27 

^eben,  eine  grosse  Gefahr  für  dessen  Ursprünglichkeit 
und  Keiclitum  liegt.  ,,AfFektation  kommt  oft  davon 
her,  dass  man  nicht  die  Kraft  hat,  durch  Geltend- 
machen seines  wahren  Charakters  mit  der  Welt  in 
Kollision  zu  kommen.  .  .  .  Jeder  hat  von  der  Natur 
sein  bestimmtes  Gepräge,  lässt  es  aber  aus  falscher 
Rücksicht  auf  andere  verwischt  werden.  ...  Er  will 
sich  nicht  mit  seiner  eigenen  Person  hervorwagen,, 
glaubt  auch  nicht  an  ihre  unendliche  Tiefe.  Würde 
jeder  Einzelne  unbekümmert  um  den  Vorwurf  der  Ein- 
fältigkeit über  die  Dinge  urteilen,  wie  sie  sich  ihm 
darstellen,  so  müsste  das  herrliche  Charaktere  ergeben." 
Auf  seinem  Sterbebette  Hess  Paul  Möller  durch 
Sibbern  Sören  Kierkegaard  grüssen.  Diese  drei  bilden 
eine  einheitliche  Denkerfamilie.  Die  Idee  der  persön- 
lichen Wahrheit  und  deren  Bedeutung  haben  alle  drei 
erfasst,  obwohl  es  nur  einem  beschieden  war,  sie  in 
ihrer  ganzen  Kraft  und  Strenge  zu  entwickeln.  Und 
Sören  Kierkegaard  hegte  auch  eine  grosse  Sympathie 
für  seine  zwei  Lehrer.  —  In  der  Einleitung  zu  den 
„Hinterlassenen  Papieren"  wird  folgender  Vorfall  mit- 
geteilt: Ein  etwas  jüngerer  Mitschüler  von  Kierkegaard 
habe  einmal,  von  schweren  Gedanken  gedrückt,  Sören 
Kierkegaard  im  Friedrichsberger  Parke  getroffen.  jjOhne- 
dass  im  übrigen  ein  Wort  über  die  mich  drückende 
Stimmung  gewechselt  wurde",  erzählt  der  Betreffende 
weiter,  ,,trat  Sören  Kierkegaard  plötzlich  zu  mir  heran 
und  fragte  mich  mit  einem  Blick  und  einer  Stimme  voll 
Mitleid,  ob  ich  Professor  Sibbern  kenne?  An  den  soll 
ich  mich  wenden,  der  sei  ein  ganzer  Mann;  er  sei 
die  Liebenswürdigkeit  selbst,  und  bei  ihm  finde  man 
Beruhigung!"  —  Was  Paul  Möller  betrifft,  so  gab 
Kierkegaard  seiner  Begeisterung  für  ihn  Ausdruck  in 
der    Zueignung     zum    „Begriff    der    Angst":*)      „Dem 


*)  Dieselbe  ist  in  der  deutschen  Uebersetzung  weggelassen  worden. 


^8     II-  Sören  Kierkegaards  ältere  Zeitgenossen  in  Dänemark. 

verewigten  Professor  Paul  Martin  Möller,  dem  glücklichen 
Liebhaber  der  Griechen,  dem  Bewunderer  Homers,  dem 
Mitwisser  des  Sokrates,  dem  Dolmetscher  des  Aristoteles 
—  Dänemarks  Freude  in  seiner  Freude  über  Dänemark ; 
dem  »weit  Verreisten«,  dessen  doch  stets  »im  dänisclien 
Sommer  gedacht  wird«  —  dem  Gegenstand  meiner 
Bewunderung,  meines  Sehnens  —  ihm  sei  diese  Schrift 
gewidmet." 

Diese  Widmung  deutet  zugleich  an,  dass  Paul 
Möller  Kierkegaard  in  das  Studium  der  Griechen,  das 
für  ihn  so  erfolgreich  wurde,  eingeführt  und  eingeleitet 
hat.  Es  will  überhaupt  in  Kierkegaards  Mund  viel 
heissen,  wenn  er  seinen  verstorbenen  Lehrer  einen  Mit- 
wisser des  Sokrates  nennt.  Hierin  liegt  die  xA.ndeutung 
«iner  sehr  wesentlichen  geistigen  Verbindung  zwischen 
den  zwei  Männern,  der  man  bisher  keine  Beachtung 
geschenkt  hat. 


III. 
Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

1.  Es  giebt  Gedanken,  die  nur  auf  einem  bestimmten. 
Boden  und  nur  in  einem  gewissen  Klima  fortkommen 
können.  Und  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  Sören 
Kierkegaards  Gedanken  zu  dieser  Art  gehören.  Sie 
sind  dem  Weine  gleich,  der  nur  auf  Lavagrund  gedei- 
hen kann.  Diesen  Grund  müssen  wir  zuerst  kennen 
lernen.  Und  der  Grund  liegt  tief.  Wir  werden  über 
Hin  hinaus  auf  seine  Familie  und  seine  Rasse  zurück- 
gewiesen und  auf  die  Ueberlieferungen,  die  die  geistige 
Atmosphäre  seiner  Kindheit  bildeten.  —  Für  die  Gül- 
tigkeit oder  Ungültigkeit  der  Gedanken  ist  solch  ein 
Nachweis  nicht  massgebend.  Mögen  die  Bedingungen, 
denen  sie  ihre  Entwicklung  zu  verdanken  haben,  noch 
so  besondere  gewesen  sein,  so  benimmt  das  ihrem  Wert 
an  sich  noch  durchaus  nichts.  Es  könnte  ja  sein,  dass 
besonders  wertvolle  Gedanken  gerade  nur  unter  solchen 
Verhältnissen  sich  bilden  konnten !  —  Diese  Verhält- 
nisse müssen  aber  ans  Licht  gezogen  und  erkannt  wer- 
den, wenn  die  Frage  entschieden  werden  soll,  ob  die 
Gedanken  auch  unter  anderen  Verhältnissen  Lebens- 
kraft haben. 

2.  Seine  Familie  stammt  aus  dem  westlichen  Jüt- 
land.  In  dem  westjütischen  Stamme  findet  sich  neben 
zäher  Ausdauer,  Klugheit  und  Humor  auch  ein  nicht 
geringer  Hang  zu  Schwermut  und  Lebensüberdruss. 
Selbstmord  kommt  hier  häufig  vor. 

Auf  der  Heide  in  dem  Kirchspiel  Säding  bei  Ring- 
köbing  hütete  im  Jahre  1768  ein  zwölfjähriger  Hirten- 
knabe seine  Schafe.  Er  litt  Hunger  und  Kälte,  und  die 
Einsamkeit  und  Verlassenheit  drückten  ihm  schwer  aufs 


:30  III-  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

•Gemüt.  Da  ging  er  in  seiner  Verzweiflung  auf  einen 
Hügel  und  fluchte  dem  Gott,  der  ihm  dies  elende  Leben 
gegeben  hatte.  —  Dieser  Knabe  war  Sören  Kierkegaard'« 
Vater.  In  den  „hinterlassenen  Papieren"  findet  sich 
(aus  dem  Jahre  1846)  folgender  Abschnitt,  der  in  der 
gedruckten  Ausgabe  nicht  mitgeteilt  ist : 

,,Das  entsetzliche  Schicksal  des  Manns,  der  ein.st 
.als  kleiner  Knabe,  als  er  auf  der  Jütischen  Heide 
Schafe  hütete  und  viel  auszustehen  hatte,  hungerte  und 
fror,  auf  einen  Hügel  stieg  und  Gott  fluchte  —  und  der 
Mann  vermochte  das  nicht  zu  vergessen,  als  er  82 
.Jahre  alt  geworden  war." 

Als  der  Herausgeber  des  ersten  Bandes  der  hinter- 
lassenen Papiere  dem  Bischof  P.  C.  Kierkegaard,  dem 
Bruder  Sören  Kierkegaards,  diese  Stelle  zeigte,  brach 
der  bejahrte  Mann  in  Thränen  aus  und  sagte:  ,,Das  ist 
unseres  Vaters  Geschichte  und  unsere  mit !"  In  der 
'Geschichte  der  Kierkegaardischen  Familie  spielt  jener 
Vorfall  eine  grosse  Rolle,  als  "Wirkung  wie  als  Ursache. 
Er  ist  ein  Zeugnis  von  der  Macht  der  Schwermut,  die 
.alles  stärker  und  tiefer  fühlte  als  andere,  von  der 
{Leidenschaft,  die  jede  Stimmung  und  jeden  Gedanken 
auf  die  höchste  Spitze  trieb.  Er  stellt  sich  aber  auch 
.als  drohendes  Symbol  dar,  das  den  Trübsinn  in  stets 
neue  Bewegung  versetzte  und  den  Gedanken  an  den 
'Gott,  der  die  Sünden  der  Eltern  an  den  Kindern  heim- 
sucht, wach  erhielt. 

Der  Knabe  von  der  Heide,  Michael  Pedersen  Kierke- 
gaard, kam  nach  Kopenhagen  zu  einem  Wollwaren- 
händler  in  die  Lehre.  Er  arbeitete  sich  zu  einem 
reichen  Mann  empor,  konnte  aber  jenen  Augenblick  auf 
der  Heide,  wo  er  die  Sünde  wider  den  heiligen  Geist 
begangen  zu  haben  glaubte,  nie  vergessen.  Seine 
schwermutsvolle  Angst  machte  sich  oft  in  verzweifelten 
Worten  Luft  und  gab  seinem  häuslichen  Leben  eine 
^düstere  Färbung,  wiewohl   es   sonst    ein   geistesfrischer 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  31 

Mann  war.  der  es  in  Witz  und  Scharfsinn  mit  seinen 
hochbegabten  Söhnen  aufnehmen  konnte.  Schon  in  sei- 
nem 40.  Jahre  hatte  er  sich  vom  Geschäft  zurückge- 
zogen und  lebte  seitdem  meist  mit  philosophischen 
Studien  beschäftigt;  besonders  eifrig  studierte  er  den 
deutsclien  Philosophen  WolfF.  —  Zum  Verständnis  der 
folgenden  Charakteristik  Sören  Kierkegaards  mag  be- 
merkt werden,  dass  ausser  der  Belastung  von  selten 
des  schwermütigen,  grübelnden  Vaters  sich  auch  noch 
andere  hereditäre  Einflüsse  geltend  machten.  Die  Mutter 
wird  als  eine  vortreffliche  Frau  von  einfachem  und 
heiterem  Sinn  geschildert  —  ein  nicht  eben  seltener 
Kontrast,  der  an  Goethes  Eltern  erinnert,  wo  „des  Lebens 
«rnstes  Führen"  sich  ebenfalls  vom  Vater,  die  ;,,Froh- 
natur'^  von  der  Mutter  herschrieb.  Ganz  gewiss  aber 
traten  bei  Sören  Kierkegaard  die  widersprechenden 
Elemente  ganz  anders  in  Gegensatz  zu  einander  als 
bei  jenem  Altmeister  der  Lebensharmonie. 

Der  jüngere  Sohn,  Sören  Aaby  Kierkegaard, 
wurde  am  5.  Mai  1813  in  Kopenhagen  geboren.  Von 
seinem  äusseren  Lebensgange  ist  nicht  viel  zu  berichten ; 
und  doch  liesse  sich  jetzt,  da  sämtliche  hinterlassenen 
Papiere  vorliegen,  eine  interessante  Biographie  von 
ihm  herstellen,  so  gewiss  bei  einer  Natur  wie  der 
seinigen  die  äusseren  Vorkommnisse  nicht  das  Wesent- 
liche sind.  Georg  Brandes  hat  in  seiner  Schrift  über 
Sören  Kierkegaard  eineCharakteristik  seiner  litterarischen 
Persönlichkeit  gegeben,  die  kaum  besser,  kaum  glän- 
zender zu  denken  ist.  Ich  glaube  aber,  dass  Brandes, 
gerade  weil  sein  Auge  besonders  der  litterarischen 
Thätigkeit  Sören  Kierkegaards  zugekehrt  war,  sich  ver- 
leiten Hess,  ein  zu  grosses  Gewicht  auf  einzelne  Vor- 
kommnisse in  seinem  Leben  zu  legen,  die  zwar  sicher- 
lich Motive  und  Stoffe  für  sein  Schaffen  lieferten,  die 
üichtung  seines  Geistes  aber  nicht  durchaus  bestimmten. 
Auch    kann   ich  mich    darin  nicht   mit  Brandes   einver- 


32  in>  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

standen  erklären,  dass  Pietät  nnd  Verachtung  die  zwei 
Gnmdleidenscliaften  Kierkegaards  sein  sollen.  Nach 
meiner  Aviffassiing  nehmen  sie  eine  mehr  untergeordnete 
Stelle  in  seiner  Psychologie  ein.  —  Übrigens  ist,  be- 
sonders mit  Rücksicht  auf  diesen  letzten  Punkt,  doch 
zu  bemerken,  dass  Brandes  sein  Buch  schrieb,  als  erst 
die  zwei  ersten  Bände  der  hinterlassenen  Papiere  ver- 
(»ffentlicht  waren. 

3.  Der  entscheidende  Grundzug  in  Sören  Kierkegaards 
ganzer  Persönlichkeit  muss  in  seiner  Schwermut  gesucht 
werden.  Er  lag  auch  schon  in  seiner  Rasse  und  in 
seinem  Temperament  und  wurde  durch  die  Erziehung 
noch  gefördert.  „Ich  bin  nicht  Mensch ;  ich  bin  schwer- 
mütig bis  zur  Grenze  der  wirklichen  Gemütskrankheit", 
sagt  er  an  einer  Stelle  seiner  Aufzeichnungen,  wo  er 
sich  über  alle  Verhältnisse  seines  Lebens  Rechenschaft 
ablegt  (1849,  S.  402).  Es  war  die  Schwermut,  was 
seiner  grossen  Pietät  und  überhaupt  seinem  Respekt 
vor  aller  Autorität  zu  Grunde  lag.  Daher  eben  sein 
Bedürfnis  für  absolute  Halt-  und  Stützpunkte,  sowie 
seine  Scheu  vor  dem  verwirrenden  Neuen.  Er  musste 
etwas  haben,  das  ihn  tragen  und  erheben  konnte,  wenn 
sich  ihm  alles  in  bodenloses  Dunkel  aufzulösen  schien. 
Nur  auf  einer  derartigen  absolut  festen  Grundlage 
konnten  andere  Seiten  seiner  Natur,  namentlich  sein 
mächtiger  dialektischer  Drang,  sich  frei  und  kräftig 
entfalten.  In  religiöser  Hinsicht  führte  sein  innerer 
Druck  dazu,  dass  er  seine  scharfsinnige  Reflexion  und 
Kritik  nur  auf  die  Frage  der  Aneignung  des  religiösen: 
Inhalts,  nicht  aber  auf  die  Prüfung  des  inneren  Zu- 
sammenhangs und  der  Gültigkeit  dieses  Inhalts  selbst 
verwendete.  Auch  das  Gefühl  der  Verachtung,  das 
sich  bei  ihm  regen  konnte,  lässt  sich  leicht  aus  den 
Folgen  der  Schwermut  für  sein  inneres  Leben  begreifen. 
Die  gewöhnlichen  ;,leichtlebigen"  Menschen  mussten  auf 
ihn,     der     gewohnt     war,     zwischen    Abgründen     und 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  8S 

Schrecknissen  hinzugehen,  einen  sonderbaren  Eindruck  ma- 
chen, wie  ihn  auch  eben  die  Schwermut  dazu  verleitete,, 
das  Benehmen  der  Menschen  und  ihre  Motive  sich  in 
grelleren  Farben  auszumalen,  als  sie  der  wirklichen 
Erfahrung  entsprochen  hätten.  Dagegen  war  Verachtung 
nicht  ein  ursprttngliclier  Grundzug  seiner  Natur.  Eher 
ein  ebenfalls  an  dem  Schwermütigen  wohl  erklärliche» 
tiefes  Mitgefühl  für  Mensclien,  besonders  Leidende  oder 
solche,  die  er  für  Leidende  hielt.  So  ist  es  von  meli- 
reren  Seiten  her  bezeugt,  dass  er  einen  merkwürdigen 
Blick  dafür  hatte,  ob  die  Leute  seiner  Umgebung  etwas; 
drückte,  und  dass  er  auf  so  rücksichtsvolle  und  zarte 
Weise  wie  kein  anderer  zu  beruhigen  und  zu  trösten 
verstand.  Es  gewährte  nicht  bloss  ihm  selbst  Trost 
und  Linderung,  auf  der  Strasse  umherzugehen  und  mit 
Leuten  aus  dem  Volke  zu  reden,  sondern  er  hatte 
herzliche  Teilnahme  für  sie  und  verstand  die  Kunst^ 
sich  in  ihre  Lage  liineinzuversetzen.  Und  noch  zuletzt, 
als  seine  Auffassung  des  Christentums  sich  verschärfte 
und  er  die  Zeit  herankommen  sah,  da  das  Ideal  in 
seiner  vollen  Strenge  geltend  gemacht  werden  sollte, 
zögerte  er  damit  eine  Zeit  lang  aus  Teilnahme  für  das. 
Glück,  das  er  stören,  für  die  Unruhe  und  das  Leiden,  das 
er  da  und  dort,  wo  bisher  eine  milde  und  harmonische 
Lebensanschauung  geherrscht  hatte,  verursachen  müsste.. 
Es  ist  natürlich  unmöglich,  die  verschiedenen  Eigen- 
schaften und  Neigungen  irgend  eines,  zumal  aber  eines 
so  reich  ausgestatteten  Menschen  aus  einer  einzigen 
Ursache  abzuleiten.  Derlei  Menschen,  deren  Bedeutung 
gerade  darauf  beruht,  dass  sie  geistige  Erfahrungen 
machen  müssen,  die  den  meisten  andern  erspart  oder 
versagt  bleiben,  werden  in  ihrer  Natur  stets  mehrere 
ungleichartige  Ausgangspunkte,  mehrere  Grundrichtungen 
haben,  die  erst  durch  einen  Kampf  in  Harmonie  gebracht 
werden  müssen.  Die  Aufgaben,  die  sie  zu  lösen  haben, 
sind  ihnen  vor  allem   durch  ihre  eigene  Natur  gestellte 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  3 


84  III'  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

Neben  der  Schwermut  als  herrschendem  Grundzug 
ist  bereits  eine  grosse  Kraft  des  Denkens,  eine  Anlage 
zu  dialektischer  Arbeit,  zu  zersetzender  Reflexion  er- 
wähnt worden.  Er  drückt  sich  selbst  hierüljer  so  aus: 
^Gebunden  in  qualvollem  Elend  bin  ich  einem  Vogel 
gleich,  dem  man  die  Flügel  gestutzt  hat,  während  ich 
doch  im  Besitz  meiner  vollen  geistigen  Ki'aft,  einer  ge- 
wiss aussergewöhnlichen  Kraft,  geblieben  bin"  fl849, 
S.  401).  Diese  Kraft  äusserte  sich  nicht  nur  in  Re- 
flexion und  Denken,  sondern  auch  in  einer  Phantasie, 
die  mit  jedem  Vibrieren,  jedem  Auf  leuchten  der  Stim- 
mung Bilder  voll  Glanzes  und  sprechender  Lebendigkeit 
entwerfen  konnte,  und  in  einer  Kunst  der  Sprache,  die 
man  zuvor  in  der  dänischen  Litteratur  kaum  gesehen 
hatte.  In  äusserer  Hinsicht  günstig  gestellt,  konnte  er 
diese  Geistesgaben  nach  eigener  Lust  ausbilden.  Der 
•Gebrauch  dieser  Gaben  war  wie  der  Gebrauch  jeder 
natürlichen  Kraft  mit  Wohlbehagen  verbunden;  sie  an- 
zuwenden war  ihm  ein  Bedürfnis  für  sich  selbst,  aucli 
wenn  sie  hauptsächlich  im  Dienste  der  herrschenden 
Stimmungen  verwendet  wurden. 

Li  seiner  Schrift  ,,Der  Gesichtspunkt  für  meine 
schriftstellerische  Wirksamkeit"  (S.  58)  schreibt  sich 
Kierkegaard  neben  der  ,, ungeheuren  Schwermut''  eine 
,, ebenso  ungeheure  Fertigkeit"  zu,  ,, dieselbe  unter  an- 
scheinender Munterkeit  und  Lebenslust  zu  verdecken." 
Durch  diese  Aeusserung  bringt  er  gewiss,  wie  über- 
haupt in  seinem  Rückblick  auf  seine  schriftstellerische 
Wirksamkeit,  mehr  System  und  Willkür  in  sein  Ver- 
halten, als  der  Wirklichkeit  entsprach.  Neben  der 
Schwermut  lag  in  ihm  ein  Element  ganz  entgegenge- 
setzter Art,  ein  Drang,  sich  ausgelassenem  Spiele  hin- 
zugeben, sich  in  Witz  und  andern  geistigen  Kraft- 
übungen zu  ergehen,  ein  Drang,  der  sich  natürlich  mit 
dem  Drang,  seine  Geisteskraft  zu  gebrauchen,  verband. 
Nach   der   Charakteristik,   die    ihm   nach  altem  Brauch 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  35 

•der  Eektor  der  Schule  bei  dem  Uebergang  auf  die 
Universität  ausstellte,  soll  er  die  Kinderschuhe  erst 
spät  ausgetreten  haben;  auch  liatte  er  gewiss  einen 
:grossen  Trieb  nach  Freiheit  und  Unabhängigkeit,  und 
«ein  Temperament  war  lebhaft  und  munter.  Denselben 
Eindruck  gewannen  späterhin  im  Leben  auch  andere  von 
ihm.  Dieser  Zug  kann  nicht  von  Anfang  an  Verstellung 
gewesen  sein.  Er  hatte  vielmehr  einen  unwillkürlichen 
Hang  hiezu,  einen  Hang,  der  bei  anderer  Erziehung 
mit  der  Zeit  vielleicht  einen  günstigen  Einfluss  auf 
meinen  Cliarakter  gewonnen  hätte.  Aeusserte  er  sich 
.nun,  wenn  die  Schwermut  sich  in  sich  selbst  zurückzog, 
oder  in  natürlicher  Reaktion  gegen  dieselbe,*)  so  konnte 
<er  thatsächlicli  die  Verschlossenheit  der  Schwermut 
verdecken,  aber  bloss  willkürlich  hervorgebracht  war 
.seine  Munterkeit  sicher  nicht.  Es  verhält  sich  damit 
-ohne  Frage  wie  mit  seinen  eifrigen  und  regelmässigen 
Spaziergängen  in  den  Strassen  der  Stadt,  die  er  später 
auch  als  ein  Grlied  seiner  durchdachten  Pläne  darstellte, 
die  ursprünglich  aber  auch  dem  Bedürfnis  entstammten, 
sich  Bewegung  zu  machen,  Menschen  zu  treffen  und 
sicli  mit  ihnen  in  Rapport  zu  setzen. 

,,Icli  bin  ein  Janus  bifrons  —  mit  dem  einen  Ge- 
sicht lache  [ich,  mit  dem  andern  weine  ich,"  schreibt 
«r  mit  24  Jahren.  Keines  von  beiden  war  blosse  Maske, 
auch  wenn  er  das  eine  meist  vor  andern,  das  andere 
mehr  in  der  Einsamkeit  trug.  Denn  es  ist  ja  der 
Schwermut  eigentümlich,  dass  sie  sich  in  Gegenwart 
.anderer  zurückzieht,  wie  auch  die  Kobolde  beim  Auf- 
gang der  Sonne  verschwinden.  Eben  durch  diese  Eigen- 
schaft der  Schwermut  wurde  diese  zu  einem  so  ver- 
hängnisvollen   Element    in    der     Persönlichkeit     Sören 


*)  „In  der  verborgenen  Tiefe  de»  Gefühls  liegen  die  Saiden  der 
Traner  nnd  der  Freude  so  nahe  neben  einander,  dass  die  letzteren 
nnr  allzn  leicht  ankliDgen,  wenn  die  ersteren  berührt  werden."  (1836, 
S.  174.J 

3* 


36  III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

Kierkegaards.  Die  Neigung  zur  Eiiusamkeit,  zur  Iso- 
lation, die  Unmöglichkeit,  sich  andern  zu  öffnen,  die  sie 
bewirkt,  wurden  ausschlaggebend  für  sein  Geschick. 
Die  dumpfe  Trauer  machte  ihn  stumm  —  ist  es  aber 
nicht  sündhaft,  sich  seiner  nächsten  Umgebung  nicht 
aufschliessen,  sich  nicht  herzlich  hingeben  zu  können  ? 
und  werden  nicht  jedenfalls,  w^o  solche  isolierende 
Schwermut  herrscht,  die  innigsten  Verhältnisse  zwi- 
schen den  Menschen  unmöglich  gemacht?  Wenn  erzählt 
wird,  dass  Jesus  einen  Teufel  austrieb,  „und  der  war 
stumm "^,  so  deutete  Sören  Kierkegaard  dies  auf  den 
Dämon  der  Trauer,  der  Schwermut,  die  in  ihrem  Egois- 
mus, um  ihre  Herrschaft  über  den  Menschen  nicht  zu 
verlieren,  diesen  stumm  macht,  der  Verbindung  mit 
andern  entzieht  (1848,  S.  1).  Und  damit  war  ihm  in 
seinem  Innern  ein  ungeheures  Problem  gestellt :  ob  es 
Krankheit  sei  oder  Sünde,  was  ihn  so  banne  ?  ;,Es  ist 
und  bleibt  doch  die  schwerste  Anfechtung,  wenn  ein 
Mensch  nicht  weiss,  ob  sein  Leiden  Krankheit  des  Ge- 
müts oder  Sünde  ist**  (1844,  S.  74).  Hier  war  etwas,. 
das  die  grübelnde  Dialektik  wohl  in  Bew^egung  setzen 
konnte.  Gedankenströmungen  und  Bilderreihen  konnten 
sich  aus  dem  einen  der  möglichen  Gesichtspunkte  ent- 
wickeln, um  dann  plötzlich  zu  verschwinden  und  neuen, 
von  dem  andern  Gesichtspunkte  aus  sich  darbietenden 
Vorstellungsreihen  Platz  zu  machen;  und  die  Bewegung 
musste  um  so  ruheloser  und  heftiger  werden  unter  dem 
Schwergewicht  seiner  streng  orthodoxen  Erziehung  und 
dem  Drucke  der  Erinnerung,  dass  den  Vater  die  Schwer- 
mut gar  zur  Gotteslästerung  getrieben  hatte. 

Eine  Schilderung  des  Verhältnisses  zwischen  Vater 
und  Sohn  geben  uns  die  ;, Stadien  auf  dem  Lebenswege" 
(S.  2ü4) :  „Es  war  einmal  ein  Vater  und  ein  Sohn. 
Ein  Sohn  ist  wie  ein  Spiegel,  w^orin  der  Vater  sich 
selbst  .sieht,  und  für  den  Sohn  ist  umgekehrt  der  Vater 
gleichsam   ein    Spiegel,   worin  er  sich  selbst  .sieht,   wie 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  37 

•er    einst    sein   wird.      Doch    betrachteten    sie    einander 
selten   so,    denn    ihr    täglicher  Verkehr   zeigte   nur   die 
Munterkeit  einer  lebhaften  Unterhaltung.     Nur  kam  es 
bisweilen  vor,  dass  der  Vater  stehen  blieb,   mit  seinem 
traurigen  Antlitz  vor  den  Sohn  hintrat,  ihn  betrachtete 
und    sagte :     ,, ,, Armes    Kind,    du   gehst   in   stiller  Ver- 
zweiflung.'"'   Weiter  wurde  nie  davon  geredet,  wie  das 
zu   verstehen   sei,    so   wahr   es   auch  war."    —    In    den 
hinterlassenen   Papieren    spricht  sich  Kierkegaard  weit 
bestimmter   und    schärfer   darüber   aus,    wie   der  Vater 
,,die  ganze  Last  seiner  Schwermut  auf  ein  armes  Kind 
■warf";  wie  sein  Vater  ihn  unglücklich  machte  und  sei- 
ner Jugend  beraubte.    ,,Die  Freude,  Kind  zu  sein,  habe 
ich  denn  nie  gehabt"  (1847,  S.  121:   1849,  S.  3).     Und 
sicher  beruht  es  auch  auf  eigener  Erfahrung,    wenn   er 
in   seiner   „Unwissenschaftlichen   Nachschrift"    (S.  566) 
sagt:     ,, Eines    Kindes    Dasein    in    die    entscheidenden 
christlichen  Kategorien  hineinzuzwängen,    ist  eine  Ver- 
gewaltigung, und  wäre  sie  auch  noch  so  wohl  gemeint." 
Es  gab  eine  Zeit  in  seiner  Jugend,  da  er  sich  we- 
nigstens in  der  Phantasie  frei  machte.     Ein  Motto,  das 
er  in  seinem  Tagebuch  aus  dieser  Zeit  angebracht  hat, 
scheint  darauf  hinzudeuten,  dass  es  ihm  als  das  Höchste 
erschien,  in  Kontemplation  zu  leben  und  die  Welt,  ohne 
sich  persönlich  um  sie  zu  kümmern,    ihren  Gang  gehen 
.zu  lassen.     Aesthetische  und  philosophische   Interessen 
hatten    ihn    ganz    gefangen  genommen.     Erst    dass    er 
erfuhr,  was  seinen  Vater  drückte,    scheint  ihn  aus  die- 
ser Lebensrichtung  herausgerissen  zu  haben.   In  seinem 
Tagebuch   schreibt   er  hierüber  (1833—43,  S.  4):     „Da 
kam  das  grosse  Erdbeben,  die  fürchterliche  Umwälzung, 
die   mir  plötzlich  eine   neue,   unfehlbare   Deutung  aller 
Phänomene  aufnötigte.     Da  ahnte  ich,  dass  meines  Va- 
ters hohes  Alter  nicht   göttlicher   Segen,    vielmehr    ein 
Fluch    sei,    dass    die    ausgezeichneten    Geistesgaben    in 
unserer    Familie    nur    dazu    dienen,      uns     gegenseitig 


38  Iir.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

aufzureiben.  ,  .  .  Eine  Schuld  musste  auf  der  ganzen; 
Familie  lasten,  eine  Strafe  Gottes  auf  ihr  liegen:  sie- 
sollte verschwinden,  ausgetilgt  werden  von  Gottes 
gewaltiger  Hand,  ausgelöscht  wie  ein  missglückter 
Versuch." 

Damit    hat    er    den    Schlüssel  zu  der  ,, stillen  Ver- 
zweiflung" gefunden.     Seine  religiöse   Entwicklung  hat 
hiedurch,  wie  durch  sein  ganzes  Temperament  und  seine- 
ganze Erziehung,  eine  Anfangsgeschwindigkeit  erhalten, 
die    seine    Bahn    hoch   über   die    meist  begangenen,  be- 
quemen Wege  hinausführte.     Auch    das   innere   Brüten, 
zu   dem   er   angelegt   w^ar,    bekam   nun  ein  Symbol,    an 
dem  es  sich  halten  konnte.     Er   war   praktisch   in   die 
alttestamentliche   Frömmigkeit   auf  eine  "Weise   hinein- 
geführt worden,    wie  sie    sehr   wenigen   beschieden   ist. 
Das  patriarchalische  Gottesverhältnis  stand  für  ihn  nicht 
in  dem  gewöhnlichen,  idyllischen  Lichte.    Auch  gehörte 
er  nicht  zu  denen,  die  zwischen  dem  Alten  und  Neuen  Te- 
stament einen  grossen  Unterschied  hätten  machen  können. 
Sören   Kierkegaard   fand   seine   Schwermut   selbst 
mit    dem   eigentümlichen  Gefühlszustand  verwandt,   der 
in    den    Klöstern   des   Mittelalters    nicht   ungew^öhnlich 
war   und  Acedia  genannt  wurde.     Er  äusserte  sich  als 
geistige   Erschlaffung,    Unlust  zu   religiösen  Uebungen,. 
Sehnsucht  nach  der  Welt  und  Abscheu  vor  der  Beichte 
(odium  professionis).    Kierkegaard  meinte  darin  wieder- 
zufinden,   was    sein    Vater    die    „stille    Verzweiflung" 
nannte.    In  der  Abneigung  vor  der  Beichte  fand  er  als- 
tieferen  Grund  die  Scheu,  sich  überhaupt  gegen  andere 
auszusprechen,  und  meinte,  die  Beschreibung  mit  seiner 
eigenen  Erfahrung   belegen    zu  können.     Zugleich  fand 
er,   es   verrate    einen   tiefen   Blick   in    die    menschliche 
Natur,  wenn   die  mittelalterlichen    Ethiker   die   Acedia 
unter  die  Hauptlaster  rechneten  (1838,  S.  225).    Es  war 
eine  Klosterkrankheit,  und  er  sagt   gelegentlich    auch  r 
, Hätte  ich  im  Mittelalter  gelebt,  so  wäre  ich  wohl  ins 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  39 

Kloster  gegangen."  Seine  Schwermut  untersciiiecl  sich 
von  der  mittelalterlichen  Acedia  darin,  dass  sie  weit 
mehr  in  seiner  Natur  begründet  war  als  letztere.  Die 
Acedia  trat,  wie  es  scheint,  besonders  als  natürliche 
Reaktion  auf,  als  eine  Erschlaffung  nach  der  starken 
mystischen  Anspannung,  als  eine  Reaktion  nach  er- 
zwungener Andacht  —  sie  war  ein  „desenchantement 
de  dien"',  wie  sie  ein  französischer  Philosoph  bezeichnet 
hat.  Doch  hat  Kierkegaards  Gefühlszustand  sicher  teil- 
weise auch  diesen  Charakter  gehabt.  Infolge  der  Ver- 
gewaltigung, die  nach  seiner  eigenen  Aussage  frülie 
schon  an  ihm  begangen  wurde  (zumal  gegen  die  Ele- 
mente in  seiner  Natur,  die  nach  anderer  Richtung  hin- 
wiesen als  die  Schwermut),  wäre  zu  einer  Reaktion  der 
genannten  Art  reiche  Veranlassung  vorhanden  gewesen. 
4.  Aus  dieser  Schwermut  als  dem  von  Hause  aus 
stärksten,  durch  Erziehung  und  väterlichen  Einfluss 
noch  gesteigerten,  zu  höherer  Anspannung  erhitzten  Ele- 
mente seiner  Natur  erklärt  sich  nun  auch,  wenn  wir 
die  Aeusserungen  in  den  hinterlassenen  Papieren  in  Be- 
tracht ziehen,  seine  Verlobungsgeschichte.  —  Nach 
einem  ästhetisierenden  und  philosophierenden  Jugend- 
leben, das  mehreremale  durch  gewaltsame,  stürmische 
innere  Erregungen,  wie  durch  jenes  „Erdbeben"  und 
seines  Vaters  Tod,  war  unterbrochen  worden,  verlobte 
er  sich  mit  einem  ganz  jungen  Mädchen,  hob  aber  die 
Verlobung  das  Jahr  darauf  zum  grossen  Leid  und  Aer- 
gernis  für  die  beiderseitigen  Angehörigen  wieder  auf. 
Er  hat  diese  Episode  in  der  dritten  Abteilung  der 
„Stadien"  geschildert,  und  in  den  hinterlassenen  Papie- 
ren kommt  er  immer  wieder  darauf  zurück.  Mir  scheint 
die  ganze  Erklärung  in  dem  oft  variierten  Ausruf  zu 
liegen:  ^Ach,  sie  vermochte  das  Schweigen  meiner 
Schwermut  nicht  zu  brechen!"  (1843,  S.  137).  Er  hatte 
kein  Glück  mit  ihr  zu  teilen;  im  Gegenteil,  es  kam 
ihm  dadurch,    dass  er  ihren  lichten,    leichten  Sinn  und 


40  HI-  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

ihr  unmittelbares  Glück  kennen  lernte,  erst  reeht  zum 
Bewusstsein,  was  für  ein  unglückseliger  Mensch  er  selbst 
war.  ;.Eben  ihr  unmittelbares,  jugendliches  Glück  neben 
meiner  entsetzlichen  Schwermut  musste  mich,  besonders  in 
einem  solchen  Verhältnis,  mich  selbst  verstehen  lehren ; 
denn  ich  hatte  zuvor  nie  geahnt,  wie  schwermütig  ich 
war ;  ich  hatte  eigentlich  keinen  Massstab  dafür,  wie 
glücklich  ein  Mensch  sein  kann.''  (1848,  S.  117.)  Wie 
seine  Ausgelassenheit  und  sein  Denkvermögen  gerade 
durch  den  Kontrast  mit  seiner  Schwermut  gesteigert 
wurden,  so  umgekehrt  diese,  wenn  ihr  das  Glück  gegen- 
übertrat. Wie  musste  dieses  Gewebe  von  Wirkungen 
und  Gegenwirkungen  der  verschiedenen  Elemente  in 
seinem  Innern  und  seiner  inneren  und  äusseren  Erfahr- 
ungen mit  unwiderstehlicher  Konsequenz  seiner  Sinnes- 
richtung ein  immer  schärferes  Gepräge  verleihen ! 

Aus  seiner  „Elendigkeit",  wie  er  sich  ausdrückt, 
daraus,  dass  ihm  die  einfachsten  Bedingungen  mensch- 
lichen Daseins  versagt  seien,  aus  seiner  isolierenden, 
ihn  dämonisch  in  sich  verschliessenden  Schwermut  leitet 
er  nicht  nur  die  Unmöglickeit  für  ihn  ab,  in  ein  Ver- 
hältnis einzugehen,  das  wie  der  Ehestand  auf  Offenheit 
und  Innerlichkeit  gegenüber  einem  anderen  beruht,  son- 
dern auch  die  Unmöglichkeit,  in  ein  Amt  einzutreten. 
,.Es  ist  mir  stets  leicht  geworden,  mit  den  Leuten  aus- 
zukommen, und  von  jeher  daran  gewohnt,  gebunden 
zu  sein,  habe  ich  mir  nie  einfallen  lassen,  dass  mir 
dfis  eigentlich  schwer  werden  könnte.  Aber  nun  kommt 
wieder  meine  Elendigkeit:  ich  kann  nicht,  weil  ich  nicht 
Mensch  bin,  weil  ich  schwermütig  bin  bis  zur  Grenze 
wirklicher  Gemütskrankheit.  Denn  das  kann  ich  wohl 
verbergen,  solange  ich  unabhängig  bin ;  aber  für  einen 
Dienst,  wo  ich  nicht  selbst  alles  bestimme,  bin  ich  so 
unbrauchbar.''   (1849,  S.   402.) 

Mit  bewundernswerter  Klarheit  und  Ehrlichkeit 
giebt  Sören  Kierkegaard  Rechen sciiaft,    wie    er   anders 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  41 

;gestellt  wurde  als  andere  Menschen.  Hätte  es  bei  ihm 
gestanden,  so  hätte  er  die  Ehe  gewählt  und  eine  ge- 
sellschaftliche Stellung  gesucht  wie  so  viele  andere. 
Nur  sein  kranker  Sinn  machte  ihm  dies  unmöglich,  wäh- 
rend es  ihm  andererseits  seine  pekuniären  Verhältnisse 
ermöglichten,  für  eine  Zeitlang  —  es  wurde  aber  seine 
ganze  Lebenszeit  daraus  —  ohne  lohnende  Arbeit  zu 
leben.  Es  war  durchaus  nicht  so,  dass  ihn  streng  ide- 
ale und  prinzipielle  Bedenken  vom  Eintritt  in  irgend 
eine  gesellschaftliche  Stellung  abgehalten  hätten.  Dass 
er  der  Einzelne  wurde,  ist  den  inneren  Problemen  zu- 
zuschreiben, mit  denen  er  unter  seinen  psychologischen 
Voraussetzungen  zu  kämpfen  hatte.  Erst  als  er  aus 
psychologisch-individuellen  Gründen  der  gewöhnlichen 
Lebensweise  der  Menschen  entnommen  und  auf  einen  ein- 
samen Posten  gestellt  war,  entdeckte  er  das,  was  ihm 
sonst  kaum  so  zum  Bewusstsein  gekommen  wäre.  Was 
in  seinen  Augen  das  höchste  Ideal  war,  zeigte  sich  ihm 
mit  einer  Klarheit  und  Konsequenz,  die  für  den,  der 
als  Glied  in  das  manchfaltige  und  bedingte  Menschen- 
leben eingereiht  ist,  nur  schwer  erreicht  wird.  So  sieht 
man  von  einem  Leuchtturm  draussen  im  Meere  gar 
mancherlei,  was  man  vom  Festlande  aus  nicht  sehen 
kann;  und  doch  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  die,  die 
es  sehen,  gerade  dazu  hinauszogen,  das  zu  sehen.  Die 
Schwermut  wurde  sozusagen  seine  Warte,  von  der  aus 
er  das  Leben  beobachtete.  Schon  im  Altertum  meinte 
man  (das  ist  z.  B.  in  den  sogenannten  aristotelischen 
.,Problemen"  ausgesprochen),  das  melancholische  Tem- 
perament sei  dem  Genie  eigentümlich.  Verstand  man 
dazumal  unter  Melancholie  auch  nicht  ganz  dasselbe, 
was  wir  heutzutage,  so  kann  diese  Ansicht  doch  auf 
manche  Fälle  passen.  Manche  Erfahrungen  und  Ent- 
deckungen können  nur  von  solchen  gemacht  werden, 
die,  das  Bleigewicht  der  Schwermut  an  den  Füssen,  ins 
Meer  des  Lebens  niedertauchen. 


42  III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

Die  grossen  Männer,  deren  Leben  und  Denken 
durch  ihre  Kraft  anzuziehen  oder  abzustossen  entschei- 
dende und  typische  Bedeutung  gewinnt,  haben  immer 
grosse  innere  Probleme  zu  lösen  gehabt  und  dieselben 
auf  eine  "Weise  gelöst,  die  auch  für  andere  von  Wert 
wird.  Treten  sie  aktiv  und  angreifend  auf,  so  wird  die 
Hauptursache  darin  liegen,  dass  die  innere  Arbeit  an 
sich  selbst  sie  zu  einer  Wendung  nach  aussen  drängt. 
In  ihrem  inneren  Leben  haben  sie  den  scharfen  Blick 
für  das  Ideal  und  das,  was  dem  Ideale  im  Wege  steht, 
erworben.  Es  spielte  sich  ein  inneres  Drama  ab,  bevor 
das  äussere  zur  Aufführung  kommt.  Was  für  die  Zeit- 
genossen sich  oft  wie  Eitelkeit,  Anmassung,  Kritisier- 
sucht, Menschenverachtung  ausnimmt  oder  von  ihnen 
so  ausgelegt  wird,  das  ist  bei  den  wirklich  grossen 
Männern  die  Frucht  teuer  erkaufter  Erfahrungen,  die  sie 
nicht  für  sich  allein  behalten  können,  ohne  sich  selbst 
aufzugeben,  Sören  Kierkegaard  gehört  unstreitig  zu 
dieser  Klasse.  Dass  sein  inneres  Leben  durch  die  Klar- 
heit, die  er  über  einige  der  wichtigsten  Lebensfragen 
bringen  konnte,  für  andere  von  Bedeutung  werden 
würde,  war  seine  eigene  Ueberzeugung.  Hierin  bestand 
eigentlich  der  Glaube,  den  er  an  seine  Mission  hatte. 
„Weit  zurück  in  meiner  Erinnerung",  sagt  er,  „geht  der 
Gedanke,  dass  in  jeder  Generation  zwei  oder  drei  seien, 
die  für  die  andern  geopfert,  die  dazu  verwendet  wür- 
den, in  schrecklichen  Leiden  zu  entdecken,  was  den 
andern  zugute  kommt;  und  schwermütig  fand  ich  das 
Verständnis  meiner  selbst  darin,  dass  ich  hiezu  auser- 
sehen sei." 

5.  Wenn  Kierkegaard  sich  seine  Schwermut  mit 
ihren  Wirkungen  bald  als  Krankheit  bald  als  Schuld 
darstellte,  so  rührte  das  sicher  zum  Teil  davon  her, 
dass  die  Schwermut  eine  besondere  Macht  hat,  den 
Sinn  bei  Möglichkeiten,  die  er  sonst  nicht  ans  Licht 
ziehen  würde,    sich    aufhalten    zu    lassen    und    diesen 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  4^ 

Möglichkeiteniiicht  bloss  ein  düsteresG-epräge  zu  verleihen, 
sondern  sie  als  Wirklichkeit  erscheinen  zu  lassen.  Dies 
geschieht  natürlich  um  so  leichter,  wo  schon  eine  leben- 
dige Phantasie  und  eine  subtile  Dialektik  darauf  war- 
ten, die  Möglichkeiten  zu  entfalten  und  zu  verarbeiten. 
Jedes  starke  Gefühl  hat  die  Neigung,  sich  im  Sinne 
auszubreiten  und  allen  auftauchenden  Vorstellungen 
teils  einen  absoluten  Charakter,  teils  eine  ihnen  sonst 
abgehende  Wirklichkeit  zu  verleihen,  wie  dasselbe  auch 
die  Vergangenheit  zurückruft  und  die  Zukunft  vorweg- 
nimmt, um  sich  Klarheit  und  Deutlichkeit  über  sich 
selbst  zu  verschaffen.*)  Die  Schwermut  neigt  zu  einem 
Leben  in  Möglichkeiten  —  bald  in  der  Anticipation, 
bald  in  der  Erinnerung.  Dass  Kierkegaard  mit  beidem^ 
wohlvertraut  war,  sieht  man  nicht  bloss  aus  seinen 
Schriften,  wo  er  die  grosse  Bedeutung  des  Lebens  in 
der  Möglichkeit  für  die  Erkenntnis  seiner  selbst  ein- 
schärft und  zugleich  vor  der  Verwechselung  der  Mög- 
lichkeit mit  der  Wirklichkeit  warnt,  sondern  auch  aus 
seinen  hinterlassenen  Papieren,  die  zugleich  zeigen,  wie- 
er  auch  hier  aus  seiner  persönlichen  Erfahrung  schöpfte, 
was  er  in  seinen  Schriften  entwickelte.  Mit  der' 
Schwermut  verband  sich  hier  natürlich  der  Drang  des 
Dichters,  Bilder  zu  schaffen,  die  Vorstellungen  in  kon- 
kreter Entwicklung  vorzuführen,  und  so  seiner  Stim- 
mung bald  direkt  Ausdruck  zu  geben,  bald  indirekt, 
durch  scharfe  Aussprache  ihres  geraden  Gegenteils, 
Folgende  Aeusserungen  zeigen,  welche  Macht  das  Vor- 
wegnehmen der  Zukunft  wie  die  Erinnerung  an  die 
Vergangenheit  über  ihn  selbst  hatte,  und  welche  Gefahr 
er  darin  sah. 

Im  Jahre  1839  (25.  Juli)  schreibt  er  in  sein  Tage- 
buch :     ,,Darum  finde  ich  so  wenig  Freude   am  Dasein, 


*)  Man  vergleiche,  was  in  meiner  Psychologie  (2.  deutsche  Aus- 
gabe, Leipzig  1892,  S.  417—423)  über  die  „Expansion  des  Gefühls" 
gesagt  wird. 


44  in.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

weil  jeder  in  meiner  Seele  erwachende  Gredanke  sofort 
mit  solcher  Energie  in  einer  so  übernatürlichen  Grösse 
auftritt,  dass  ich  mich  recht  eigentlich  an  ihm  verhebe, 
und  die  ideale  Anticipation  giebt  mir  so  wenig  eine 
Aufklärung  über  das  Dasein,  dass  ich  auf  sie  hin  im 
Gegenteil  zu  unmächtig  bin,  das  der  Idee  Entsprechende 
zu  finden,  zu  unruhig  und  sozusagen  zu  nervös,  um 
darin  zur  Ruhe  zu  kommen.'^  (1833—43,  S.  230  ff.)  Es 
ist  leicht  verständlich,  dass  die  Schwermut  in  derlei 
stets  wiederkehrenden  Erfahrungen  des  Missverhältnis- 
ses zwischen  dem  Vorausgedachten  und  dem,  was  die 
Wirklichkeit  brachte,  nur  weitere  Nahrung  finden  musste. 
„Für  mich",  heisst  es  in  einer  Notiz  etwa  aus  dersel- 
Iben  Zeit  (1833-43,  S.  336)  „ist  nichts  so  gefährlich 
wie  die  Erinnerung.  Habe  ich  mir  erst  ein  Leben.s- 
verhältnis  in  die  Erinnerung  aufgenommen,  so  ist  es 
mir  unmöglich,  wieder  Interesse  dafür  zu  gewinnen  . .  . 
Bekomme  ich  erst  Zeit,  die  schon  so  oft  gemachte  Er- 
fahrung wieder  zu  machen,  dass  Erinnerung  mehr  denn 
alle  Wirklichkeit  sättigt  —  so  ist's  vorbei."  —  Hier  ge- 
winnt wieder  das  Leben  in  der  Vorstellung  das  Ueber- 
gewicht  über  das  Leben  in  der  Wirklichkeit.  Eben- 
dahin deutet  eine  Notiz,  die  der  zwanzigjährige  Kier- 
kegaard beim  Tode  eines  Bruders  machte :  „Ich  habe 
♦bemerkt,  dass  meine  Trauer  nicht  eine  mich  momentan 
ergreifende,  sondern  eine  mit  der  Zeit  zunehmende  ist, 
►und  ich  bin  sicher,  wenn  ich  einmal  alt  werden  sollte, 
.so  werde  ich  des  Verstorbenen  erst  recht  gedenken  . , . 
Was  meinen  nun  verstorbenen  Bruder  betrifft,  so  bin 
ich  gewiss,  dass  die  Trauer  nach  langer  Zeit  erst  recht 
aufwachen  wird."  (1833—43.  S.   16.) 

Während  die  Schwermut  durch  ihren  Hang,  Mög- 
lichkeiten und  Vorstellungen  zu  erzeugen  und  festzu- 
halten, dem  dichterischen  Drang  und  dem  dialektischen 
Trieb  die  Schleusen  öffnete,  wurde  sie  hiedurch 
andei'erseits  auch  wieder  abgeleitet;    unter    der    Denk- 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  45- 

und  Phantasiearbeit,  die  alle  innere  Kraft  und  Aufmerk- 
samkeit in  Anspruch  nahm,  wurde  sie  niedergehalten. 
Die  ganze  erste,  grossartige  Periode  seines  Schaffens 
(1843 — 1846),  in  die  seine  genialsten  Werke  fallen,  hat 
sich  Kierkegaard  selbst  von  diesem  Gresichtspunkt  aus 
erklärt.  „Gleich  jener  Prinzessin  in  1001  Nacht  fristete 
ich  mir  das  Leben  durch  Erzählen,  d.  h.  Produzieren. 
Produzieren  war  mein  Leben.  Eine  ungeheure  Schwer- 
mut, innere  Leiden  sympathetischer  Art,  alles,  alles 
konnte  ich  bezwingen  —  wenn  ich  produzieren  durfte." 
(Hint.  Pap.  1849,  S.  245;  vgl.  schon  1847,  S.  148.) 
Ohne  diesen  tiefen  Drang  zu  Denk-  und  Phantasiearbeit 
wäre  er  geistig  zu  Grunde  gegangen.*)  Es  war  ein 
selbstständiges  Element  in  seiner  Natur,  das  unter 
andern  Verhältnissen  sich  in  anderer  Weise  hätte  ent- 
wickeln können,  als  es  so  der  Fall  war.  Dieses  suchte 
einen  Abüuss,  und  dessen  Richtung  wurde  durch  das, 
was  sich  sonst  in  seinem  Sinne  regte,  bestimmt.  Die 
ganze  schriftstellerische  Thätigkeit  war  aber  kaum  von 
Anfang  an  so  klar  und  bestimmt,  wie  er  später  meinte, 

*}  Dies  stätig  wiederkehrende,  rhythmische  Spiel  von  Schwermut 
nnd  Denkbewegung  ist  in  folgender  Aufzeichnung  aus  dem  Jahre 
1843  geschildert:  „Es  ist  sonderbar,  wie  streng  ich  in  einer  Hinsicht 
erzogen  wurde.  Ab  und  zu  werde  ich  in  die  düstre  Höhle  versetzt ;  - 
da  krieche  ich  umher  in  Qual  und  Schmerz,  sehe  nichts,  keinen  Aus- 
weg. Dann  erwacht  plötzlich  ein  Gedanke  in  meiner  Seele,  so  leben- 
dig, als  hätte  ich  ihn  zuvor  nie  gehabt,  wiewohl  er  mir  nicht  fremd 
ist,  aber  ich  war  ihm  vorher  gleichsam  nur  zur  linken  Hand  ange- 
traut, jetzt  werde  ich  das  zur  rechten.  Hat  er  sich  nun  in  mir 
festgesetzt,  so  werde  ich  etwas  liebkost  und  auf  die  Arme  genommen, 
und  ich,  der  wie  eine  Heuschrecke  zusammengeschrumpft  war,  ich 
lebe  nr.n  wieder  auf,  bin  gesund  und  frisch,  froh,  blutwarm  und 
geschmeidig  wie  ein  neugeborenes  Kind.  Dann  muss  ich  gleichsam 
mein  Wort  darauf  geben,  dass  ich  diesen  Gedanken  bis  zur  letzten 
Konsequenz  verfolgen  will;  ich  setze  mein  Leben  zum  Pfand,  und  nun 
schwellt  der  Wind  die  Segel.  Anhalten  kann  ich  nicht,  und  die 
Kräfte  halten  aus.  Dann  werde  ich  fertig,  und  nun  beginnt  alles  von 
vorne."     (1833—43,  S.  417.) 


46  III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

in  einer  Richtung  angelegt  oder  einem  Ziele  zugekehrt. 
Es  war  von  Anfang  an  weit  mehr  Unwillkürliches  hei 
ihm,  als  er  bei  seinem  späteren  Rückblick  auf  seine 
Wirksamkeit  einräumen  wollte. 

6.  Blieben  wir  bei  den  bisher  besprochenen  Ele- 
menten seines  Wesens  stehen,  so  dürften  wir  in  ihm 
nicht  mehr  (und  damit  freilich  auch  schon  nichts  Ge- 
ringes) zu  finden  hofi^en,  als  eine  Dichternatur  und  zu- 
gleich vielleicht  einen  tüchtigen  Psychologen.  Sören 
Kierkegaard  hat  in  dieser  Beziehung  auch  oft  genug 
vor  sich  selbst  gewarnt.  War  es  seine  Ueberzeugung, 
dass  die  Menschen,  zumal  in  seiner  Zeit,  gar  zu  oft  ein 
blosses  Gedanken-  und  Phantasieverhältnis  zum  Leber 
.und  zu  des  Lebens  grossen  Vorbildern  mit  einer  wirk- 
lichen Beziehung  zu  ihnen  verwechseln,  so  kannte  er, 
wie  wir  schon  wissen,  diese  Gefahr  von  sich  selbst  au.s. 
Er  kannte  aber  auch  das  Gegengewicht.  Denn  ebenso 
bezeichnend  für  ihn,  wie  das  hochgespannte  Stimmungs- 
leben, die  unermüdliche  Dialektik  und  die  gegen  alle 
Gefühlsnüancen  und  Gedankenübergänge  gefügige  Phan- 
tasie, war  der  energische,  thatkräftige  Wille,  mit  dem 
er  sich  zu  konzentrieren,  die  Elemente  seines  Wesens 
zusammenzuhalten  und  alle  Ströme  seines  reichen  Innen- 
lebens auf  ein  Ziel  hinzuleiten  suchte.  Mit  vollem 
Rechte  hat  er  geltend  gemacht,  dass  er  auf  keiner 
.Stufe  bloss  Dichter  oder  Denker  gewesen  sei.  Schon 
als  22j ähriger  Jüngling  schrieb  er  Folgendes  in  sein 
Tagebuch:  „Was  ich  eigentlich  brauche,  ist  das,  dass 
ich  mit  mir  selbst  darüber  ins  Klare  komme,  was  ich 
thun  soll.  Nicht,  was  ich  erkennen  soll,  ist  für  mich 
die  Frage  —  ausser  sofern  jedem  Handeln  ein  Erken- 
^nen  vorausgehen  muss  — ,  vielmehr  handelt  es  sich  für 
mich  um  das  Verständnis  meiner  Bestimmung :  dass  ich 
sehe,  was  die  Gottheit  eigentlich  von  mir  will;  es  gilt, 
eine  Wahrheit  zu  finden,  die  Wahrheit  für  mich  ist, 
.die    Idee    zu    finden,    für    die   ich    leben    und 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  47 

sterben  will.  Und  was  nützte  mir  liiezu,  dass  ich 
eine  sogenannte  objektive  Wahrheit  ausfindig  machte  . .  . 
wenn  sie  für  mich  selbst  und  mein  Leben  iieine 
tiefere  Bedeutung  hätte?  .  .  .  Was  ich  brauchte,  wäre 
das,  dass  ich  ein  volles  menschliches  Leben 
führte  anstatt  eines  blossen  Erkenntnislebens,  so 
dass  ich  meine  Gedankenentwicklungen  nicht  auf  ein 
sogenanntes  Objektives  basieren  würde,  —  auf  etwas, 
das  doch  jedenfalls  nicht  mein  eigen  ist,  sondern  auf 
etwas  gründen  würde,  das  mit  den  tiefsten  Wurzeln 
meines  Daseins,  wodurch  ich  sozusagen  mit  dem  Gött- 
lichen verwachsen  bin,  fest  zusammenhängt,  und  ob  auch 
die  ganze  Welt  in  Trümmer  stürzte.  Sieh,  dasbrauche 
ich  und  danach  strebe  ich."*) 

Der  mächtige  Drang  zu  denken  ist  also  von  Hause 
aus  ein  Drang,  existenziell  zu  denken,  so  zu 
denken,  dass  die  innerste  Persönlichkeit  dabei  ist  und 
in  ihrem  Kern  und  ihrer  Richtung  dadurch  bestimmt 
wird.  Er  wollte  so  denken,  wie  er  einmal  ein  Buch 
(Görres'  Athanasius)  gelesen  zu  haben  bekennt:  „Mit 
Leib  und  Seele,  niit  der  Herzgrube."  Aber  dieser 
Drang,  alles  in  sich  einem  Ziele  zuzuleiten,  die  geson- 
derten, widerstrebenden  Bestandteile  in  seinem  Wesen 
zur  Einheit  zusammenzufassen,  hatte  einen  starken  Wider- 
stand zu  überwinden.  Und  doch  schien  die  zur  Zeit 
herrsehende  Denkweise  den  Weg  dazu  gebahnt  zu 
haben.  Die  höhere  Einheit,  die  Harmonie  der  Gegen- 
sätze war  ja  die  Losung  der  Zeit,  und  in  seiner  Um- 
gebung hörte  er  jugendliche  spekulative  Virtuosen  diese 
Schlagworte  in  der  vollen  Ueberzeugung  wiederholen, 
dass  sie  ihnen  Genüge  thun  könnten.  Es  galt  ja  zu 
mediieren,  die  Mediation  zu  finden;  in  einem  Entweder- 
Oder,     in    einem    Extrem     oder     einem     unversöhnten 


*)  1833-43,  y.  45—47.  —  Der  Sperrdruck  rührt  von  Kierke- 
gaard her. 


48  II^>  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

gegensätzlichen  Verhältnis  stecken  zu  bleiben,  war  das 
Zeichen  eines  schwachen  Kopfes  oder  des  bornierten  Fest- 
haltens  an  einem  „überwundenen  Standpunkte'^  Diese 
Phrasen  mochten  Sören  Kierkegaard  um  die  Ohren 
schwirren,  wenn  er  von  seinen  einsamen  Betrachtungen 
oder  von  seinen  inneren  Kämpfen  kam,  die  ihn  genug- 
sam lehrten,  dass  es  sich  hier  nicht  um  eine  Methode, 
einen  Kunstgriff  handle,  der  ein  für  allemal  gelernt 
werden  könnte,  dass  vielmehr  die  „Vermittlung",  die 
Versöhnung,  wenn  sie  in  der  Wirklichkeit  des  Lebens, 
nicht  nur  in  phantastischer  Abstraktion  oder  auf  dem 
Papier  versucht  werde,  den  angestrengtesten  Willen^ 
die  peinlichste  Ausdauer  fordere  und  eine  Aufgabe  sei, 
die  stets  von  neuem  gelöst  werden  müsse.  Allein  — 
wie  er  1837  in  sein  Tagebuch  schrieb  —  „es  giebt 
manche,  die  zu  einem  Lebensresultat  kommen  wie  die 
Schulbuben;  sie  hintergehen  die  Lehrer  und  schreiben 
das  Facit  aus  dem  Rechenbuch  ab,  ohne  selbst  die 
Aufgabe  gerechnet  zu  haben. ^  (1833 — 43,  S.  llL)  Kier- 
kegaard war  hier  der  strenge  Revisor  —  vor  allem  bei 
sich  selbst.  Er  durchlebte  die  Elemente  des  Lebens 
und  lernte  aus  eigener  Erfahrung,  welch  schwere  Arbeit 
es  sein  kann,  aus  ihnen  eine  Totalität  herzustellen. 
Ein  oberflächlicher  Aufputz  verdeckt  so  oft  das  elende 
Machwerk.  Er  erklärte  denn  der  „höheren  Einheit" 
mit  ihrem  Sowohl  —  Als  -  auch  den  Kampf  auf  Tod  und 
Leben.  Der  Distinktion,  der  Disjunktion,  dem  Entweder- 
Oder  gab  er  einen  Ehrenplatz,  und  der  „Wiederholung'' 
wurde  die  Stelle  der  Mediation  zugewiesen.  ..Alles 
Reden  von  einer  höheren  Einheit,  die  absolute  Gegen- 
sätze vereinigen  soll,  ist  ein  metaphysisches  Attentat 
auf  die  Ethik."  (1844,  S.  150.)  Man  setzt  ohneweiteres 
voraus,  es  sei  alles  in  Ordnung  und  die  Elemente  fügen 
sich  wie  von  selbst  zusammen,  sodass  kein  besonderer 
Anspannungsakt,  kein  neuer  Einsatz  notwendig  oder 
stets  zu  wiederholen  sei.    Oft  rührt  es  aber  auch  davon 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  4& 

her,  dass  man  keinen  wirkliclien  Naturgrund  in  sieb 
hat.  Mit  Beziehung  auf  sich  selbst  sagt  er:  „Ich  sitze 
und  lausche  den  Tönen  in  meinem  Innern,  dem  froherb 
Locken  der  Musik  und  dem  tiefen  Ernste  der  Orgel;, 
sie  in  einander  zu  verarbeiten  ist  eine  Aufgabe  nicht 
fiir  einen  Komponisten,  sondern  für  einen  Menschen. 
der  in  Ermangelung  grösserer  Anforderungen  an  das 
Leben  sich  auf  die  einfache  beschränkt,  sich  selbst 
verstehen  zu  wollen.  —  Mediieren  ist  keine  Kunst,, 
wenn  man  keine  Momente  in  sich  hat."  (1833—43,  S.  418.) 

Mit  der  Zeit  wurden  die  Gegensätze  für  ihn  stär- 
ker und  stärker,  die  Momente  immer  streitlustiger,  ob- 
gleich seine  Kraft  in  gleichem  Schritte  damit  wuchs,. 
—  oder  vielleicht  richtiger,  weil  seine  Kraft  wuchs : 
denn  wäre  sie  nicht  gewachsen  (ob  auch  zu  krankhafter- 
TJeberspannung),  so  hätte  er  so  grosse  Disharmonien, 
nicht  festhalten  und  mit  ihnen  operieren  können.  Aller 
rationale  und  natürliche  Zusammenhang  im  Leben  wurde- 
zuletzt  für  ihn  gesprengt,  und  er  verdammte  endlich  das- 
natürliche  Menschenleben  überhaupt  als  in  seiner  inner- 
sten Wurzel  verpfuscht  und  verderbt. 

Es  ist  nämlich  wohl  zu  beachten  und  wird  im  Fol- 
genden seinen  näheren  Nachweis  finden,  dass  Sören 
Kierkegaards  Entrüstung  und  Polemik  wohl  zunächst 
durch  die  romantisch-spekulative  Abschwächung  der 
Gegensätze  des  Lebens  veranlasst  wurde,  eine  Ab- 
schwächung, die  besonders  im  Munde  der  Epigonen  und 
Nachschwätzer  fad  und  oberflächlich  wurde ;  dass  es; 
aber  doch  nicht  bloss  eine  derartige  vorübergehende 
Zeit  und  Moderichtung  war,  der  er  ans  Leben  gehen 
wollte.  Er  zielte  höher.  Was  er  bekämpfen  wollte,, 
war  eigentlich  jede  humane  und  natürliche  Lebens- 
anschauung und  Lebensführung,  der  Glaube  an  des  Le- 
bens ungebrochene  Kraft,  an  dessen  Vermögen,  auf 
seinen  eigenen,  natürlichen  Wegen  die  Probleme  zu. 
lösen,  die  seine  eigene  Entfaltung  mit  sich  bringt.    Ani 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  4 


50  ^^^-  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

sich  selbst  ist  ja  die  Idee  von  ,,der  höheren  Einheit" 
auch  nur  ein  modernisierter  Ausdruck  für  die  Harmonie, 
die  das  griechische  Denken  auf  seine  Weise  suchte  und 
fand  und  der  jedes  menschliche  Denken  immer  wieder 
nachgehen  muss,  von  so  grosser  Bedeutung  für  den 
Reichtum  und  die  Tiefe  des  Lebens  es  auch  ist,  dass 
die  Gegensätze  nicht  abgeschwächt  werden,  und  dass 
man  nicht  zu  früh  und  auf  unsicherem  Grunde  der 
,, Mediation"  Feste  feiert. 

Kierkegaard  wurde  sich  auch  stets  klarer  bewusst, 
gegen  welche  Macht  er  eigentlich  kämpfte.  Als  die  Zeit 
des  „Systems"  dahin  war,  war  sein  Kampf  nicht  zu  Ende. 
Er  sah  klar,  dass  die  naturwissenschaftliche  Welt- 
anschauung auf  ihrem  naturalistischen  Wege  dieselbe 
Kontinuität  und  denselben  inneren  Zusammenhang  im 
Leben  festhalten  wollte,  den  die  spekulative  Auffassung 
auf  ihrem  idealistischen  Wege  gefunden  haben  wollte. 
Es  war  derselbe  Feind  in  neuer  Gestalt.  —  Doch  war 
es  Schade,  dass  Kierkegaard  keine  grösseren  Repräsen- 
tanten des  Humanismus  als  die  spekulativen  Epigonen 
gegenüberstanden.  Er  hatte  nicht  Widerstand  genug 
zu  überwinden.  Sein  Werk  wurde  daher  nicht  so  be- 
deutungsvoll, wie  es  sonst  hätte  werden  können.  — 

Die  höhere  Einheit  war  nach  Kierkegaard  nicht 
bloss  deshalb  so  schwer  zu  erreichen,  weil  es  scharfe 
Gegensätze,  widerstrebende  Momente  zu  überwinden 
giebt,  sondern  auch  weil  alle  menschliche  Existenz  im 
Werden  ist.  Existenz  bedeutet  nach  seiner  Definition 
ausdrücklich,  dass  man  in  derZeit  ist,  und  auf  dieses 
letztere  legt  er  (wie  wir  bei  seiner  Erkenntnislehre 
ausführlicher  zeigen  werden)  ein  sehr  grosses  Gewicht. 
Solange  wir  in  der  Zeit  sind,  stehen  wir  stets  neuen 
Möglichkeiten  und  neuen  Aufgaben  gegenüber,  deren 
Lösung  problematisch  ist.  All  unser  Wissen  und  unsere 
Harmonie  ist  darauf  gegründet,  dass  wir  hinterdrein 
klug  sind.  „Das  Leben  muss  r  ü c k w ä r  t  s  verstanden 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  51 

werden.  Dagegen  muss  man  .  .  .  —  vorwärts 
leben.  Ein  Satz^,  der,  jemehr  er  durchdacht  wird, 
gerade  damit  endet,  dass  das  Leben  in  der  Zeitlichkeit 
nie  recht  verständlich  wird,  weil  ich  ja  keinen  Augenblick 
volle  Ruhe  gewinnen  kann,  um  die  Stellung  des  Rück- 
schauers einzunehmen."  (1843,  S.  441.)  —  Jedes  ge- 
wonnene Resultat  muss  aufs  neue  als  Einsatz  gewagt, 
•aufs  neue  debattiert  werden,  um  unter  der  stätigen 
Entwicklung  und  der  stätigen  Arbeit  womöglich  aufs 
neue  gewonnen  zu  w-erden.  Hier  zeigt  sich  der  Begriff 
der  Wiederholung  in  seiner  Bedeutung  für  Kierke- 
gaards Denken.  Er  hängt  mit  seiner  Betonung  der 
Wirklichkeit,  der  Existenz  als  des  Seins  in  der  Zeit 
■enge  zusammen.  Was  in  der  Vergangenheit  gewonnen 
wurde,  hat  in  der  Zukunft  nur  einen  möglichen  Wert. 
Eis  gilt  eine  Umsetzung  dieser  Möglichkeit  in  die 
Wirklichkeit;  jede  derartige  Umsetzung  ist  aber  eine 
Wiederholung,  da  ja  das  zu  Verwirklichende  für  die 
Vorstellung,  ak  Möglichkeit,  zum  voraus  existierte.  (Auf 
den  BegriiF  der  Wiederholung  werden  wir  bei  Kierke- 
gaards Etliik  zurückkommen).  —  ^^_ 
7.  Noch  ist  das  Verhältnis  der  dichterischen  Be-^J 
.gabung  Sören  Kierkegaards  zu  seiner  Begabung  als 
Denker  zu  berühren.  Diese  zwei  Seiten  in  seiner  Na- 
tur arbeiten  stets  zusammen.  Dadurch  wird  ihm  ein 
besonderer  Platz  in  der  Litteratur  angewiesen,  ausser- 
halb der  gewöhnlichen  Rubriken,  Einesteils  hätte  er 
vielleicht  grössere  Wirkung  erzielt,  wenn  er  hätte 
Dichterwerke  geben  können,  die  kein  Verständnis  pliilo- 
-sophischer  Gedanken  forderten,  und  theoretische  Werke 
mit  weniger  Parenthesen,  Ausmalungen  und  Bildern. 
Viele,  die  eine  Dichtung  für  sich  gemessen  möchten 
oder  reinem  und  strengem  Denken  folgen  wollen,  gehen 
nun  an  ihm  vorüber.  Allein  das  innige  Zusammenwirken 
seines  Dichtens  und  Denkens  kam  von  der  innigen 
Verbindung  des  einen  wie  des  andern  mit  seiner  eigenen, 

4* 


^ 


52  m*  Sören  Kierkegaards  Persöalichkeit. 

innersten  Natur.  Sie  arbeiten  beide  im  Dienste  seiner- 
Persönlichkeit.  Sein  Drang  zum  Denken  war  ein  Drang, 
im  Zusammenhang  mit  Lebenserfahrungen  and  Stim- 
mungen zu  denken ;  daher  bedurfte  er  stets  konkreter 
Situationen  und  Beispiele.  Und  die  Stimmung,  die  stets 
mit  dabei  ist,  erlaubt  sich  dann  ihre  kleinen  Ausflüge, 
hat  ihre  Nebenwirkungen,  zu  deren  Entfaltung  und 
Klärung  die  allezeit  willige  und  blitzschnelle  Phantasie- 
ihren  Beistand  leiht.  Daher  die  reiche  Fülle  von  Poesie, 
wie  sie  uns  in  kurzen  Wendungen  und  Ausdrücken,  oder 
in  parenthetischen  Expektorationen  oder  in  ausmalenden 
Bildern  überall  in  seinen  Schriften  entgegentritt. 

„Mein  Denken'',  sagt  er  selbst  (1848,  S.  147),  „ist 
präsentisch;  ich  habe  soviel  Phantasie  als  Dialektik." 
Dass  er  sich  nicht  in  Abstraktionen  verlor,  die  dem 
Leben  und  der  Gegenwart  ferne  stehen,  bringt  er  hier 
treffend  in  Verbindung  damit,  dass  bei  ihm  Phantasie 
und  Denken  zusammenarbeiten.  Da  uns  wirkliche  Er- 
fahrung selten  oder  nie  einen  Charakter,  eine  Leiden- 
schaft oder  einen  Seelenzustand  in  voller  und  durchge- 
führter Konsequenz  darstellt,  so  nimmt  er  die  Phantasie 
zu  Hilfe  und  konstruiert  —  durch  ein  Denkexperiment, 
das  sich  streng  an  die  entscheidenden  Begriffsbestim- 
mungen hält,  die  eingeübt  werden  sollen,  —  Gestalten 
und  Situationen  zur  Veranschaulichung  und  Vergegen- 
wärtigung der  geistigen  Verhältnisse  vind  Probleme,  mit 
denen  er  sich  beschäftigt.  Seine  berühmtesten  Werke:. 
„Entweder-Oder",  „Stadien  auf  dem  Lebenswege,  „die 
Wiederholung^,  sind  solche  „Versuche  in  experimentie- 
render Psychologie".  —  Doch  glaube  ich,  dass  auch  in 
dieser  Beziehung  mehr  Unwillkürliches  und  weniger 
systematische  Anlage  in  seiner  schriftstellerischen  Wirk- 
samkeit ist,  als  er  .sich  oft  den  Anschein  giebt.  Die 
Bilder  haben  .sich  sicher  her  vorgedrängt,  ehe  er  sie 
brauchte,  und  er  hat  —  jedenfalls  sehr  oft  —  erst  hin- 
tennach  gesehen,   wozu  sie  verwendet  werden  konnten. 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  53 

Und  WO  die  konstruierende  Absichtlichkeit  stärker  ein- 
gegriffen hat,  da  geschah  es  nicht  selten  auf  Kosten 
des  dichterischen  und  (wie  wir  in  einem  späteren  Ab- 
schnitt zeigen  werden)  des  philosophischen  Gehalts 
seiner  Produkte. 

Kierkegaard  legt  grossen  Wert  darauf,  dass  man 
sich  seihst  durch  Möglichkeiten  prüfe,  da  die  Wirklich- 
keit des  Lebens  zur  Erziehung  des  Charakters  nicht 
hinreiche.*)  Es  ist  aber  bezeichnend  für  ihn,  dass  er 
nur  eine  Misslichkeit  an  dieser  Methode  der  Möglich- 
keiten hervorhebt,  nämlich  die,  dass  man  sich  leicht 
grössere  Tüchtigkeit  erschleichen  kann,  als  man  wirk- 
lich besitzt.  ,,In  der  Möglichkeit  kann  man  schwer  sich 
selbst  prüfen;  es  ist  wie  wenn  einer,  ohne  die  Stimme 
zu  brauchen,  probieren  wollte,  ob  er  eine  starke  Stimme 
habe.  Ich  habe  seither  vergeblich  ein  Mittel  ausfindig 
zu  machen  gesucht,  sich  selbst  in  der  Möglichkeit  zu  kon- 
trollieren".**) Dagegen  übersieht  er  die  andere  denkbare 
Misslichkeit :  dass  die  konstruierten  Möglichkeiten  so 
trübe  und  abnorm  seien,  dass  man  Kraft  und  Mut 
jzu  einem  Kampf  mit  Schatten  verbrauchte,  ohne  dass 
einen     das    Leben     in     der    Welt     der    Möglichkeiten 


*)  „Erst  wer  durch  die  Möglichkeit  gebildet  wird,  wird  nach 
«einer  Unendlichkeit  gebildet  .  .  .  Die  Endlichkeit  und  die  endlichen 
Verhältnisse,  in  welchen  einem  Individaum  sein  Platz  angewiesen  ist, 
mögen  sie  nun  klein  und  alltäglich  sein  oder  welthistorisch  wichtig, 
bilden  nur  endlich,  und  man  kann  sie  allezeit  betragen,  allezeit 
etwas  anderes  aus  ihnen  machen,  allezeit  etwas  abfeilschen,  allezeit 
ihnen  irgendwie  entschlüpfen,  allezeit  sie  sich  etwas  vom  Leib  halten, 
allezeit  verhindern,  dass  man  absolut  von  ihnen  lerne."  (Begriff  der 
Angst  S.  157f.  [165f.])  —  Hält  man  diese  Aeusserung  mit  der  oben 
im  Text  genannten  aus  den  „Stadien"  zusammen,  so  ergiebt  sich, 
dass  weder  Möglichkeit  noch  Wirklichkeit  den  erziehen  können,  der 
sich  selbst  betrügen  will.  Keine  der  beiden  Methoden  hat  einen 
absoluten  Vorzug,  An  und  für  sich  aber  liegt  in  Kierkegaards  Betonung 
der  Möglickeiten  etwas  sehr  Treffendes  (vergl.  meine  EthikS.  127 — 133). 

**)  Stadien  auf  dem  Lebenswege,  S.  298  [271,]. 


54  IIL  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit. 

für  den  Kampf  mit  der  Wirklichkeit  fähiger  machte. 
Sodann  kann  man  mit  der  Wirklichkeit  mitunter  doch 
fertig  werden ;  allein  die  Möglichkeit  ist  wie  ein  Schat- 
ten oder  Nebel,  der  sich  immer  wieder  bildet,  so  oft  er 
auch  zerhauen  wurde.  Der  Kampf  mit  den  Möglich- 
keiten wird  daher  leicht  zu  einem  Schöpfen  in  das  Fass 
der  Danaiden.  Kierkegaard  hat  hier  weit  mehr,  als  er 
wünschte  und  wollte,  als  Romantiker  gewirkt.  Er  hat 
manchen  eine  eingebildete  Welt  vorgezaubert,  die 
der  wirklichen  alle  Kraft  und  allen  Saft  auszog.  Für 
nicht  wenige  sind  seine  Schriften  gleich  der  Höhle  des- 
Löwen gewesen,  in  die  alle  Spuren  hineinführten,  aber 
keine  wieder  heraus.  Andere  haben  sich  durch  einen 
resoluten  „Ruck  der  Entscheidung",  den  er  in  anderem 
Zusammenhang  selbst  empfiehlt,  gewaltsam  von  seiner 
Welt  der  Möglichkeiten  losreissen  müssen. 

So  gross  war  sein  Eifer  für  persönliche  Wahrheit^ 
dass  er  ausdrücklich  konstatiert  haben  wollte,  diese 
Gedankenexperimente  decken  sich  nicht  mit  seiner  eige- 
nen Anschauung.  Daher  dichtete  er  nicht  bloss  Charak- 
tere und  Situationen,  sondern  auch  Verfasser.  Die 
Pseudonymen  Verfasser,  denen  die  meisten  seiner 
Schriften  zugeschrieben  werden,  bilden  einen  ganzen 
Kreis  von  Individualitäten,  die  auf  verschiedenem 
Standpunkte  stehen.  Eben  sein  Streben,  ,,existenziell 
zu  denken",  führt  ihn  zu  diesen  Pseudonymen.  Mit  wel- 
cher Virtuosität  er  sich  so  psychologisch-dichterisch 
in  allerlei  mögliche  Schriftstellerindividualitäteu  hinein- 
zuversetzen wusste,  kann  man  aus  dem  Schriftchen 
„Vorworte"  ersehen,  das  eine  Sammlung  von  Vor- 
reden zu  verschiedenen  fingierten  Schriften  fingierter 
Verfasser  ist. 

Sein  Denken  ist  aber  nicht  bloss  präsent,  an  an- 
schauliche Verhältnisse  und  Situationen  gebunden ;  es 
ist  auch,  was  übrigens  eng  damit  zusammenhängt,  sub- 
jektiv, d.h.  ein  Denken,  wie  es  aus  dem  persilnlichen 


III.  Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit.  55 

Leben,  der  Lebensanschauung  und  Lebensführung  des 
einzelnen  Individuums,  dem  praktischen  Verhalten  in 
den  Verhältnissen  und  Möglichkeiten  des  Lebens,  her- 
vorgeht und  in  ihm  verbraucht  wird.  Solch  ein  sub- 
jektives Denken  ist  mit  Leidenschaft  verbunden;  denn 
zu  existieren  ist  ein  ungeheurer  Widerspruch.  Der 
subjektive  Denker  darf  sich  nicht  in  Abstraktion  über 
die  Existenz  hinwegschwingen  ;  seine  Aufgabe  ist  vielmehr, 
dass  er  das  Abstrakte  und  Allgemeine  konkret  verstehe, 
worin  er  doch  als  dieser  einzelne  Mensch  existiert. 
In  der  Phantasie  oder  auf  dem  Katheder  kann  einer 
leicht  das  Ideal  sein;  dagegen  ist  es  eine  äusserst  an- 
strengende Lebensaufgabe,  als  Idealist  existieren  zu 
sollen.  Der  subjektive  Denker  ist  Künstler,  nicht  Mann 
der  Wissenschaft;  denn  sein  Denken  geht  Hand  in 
Hand  mit  seinem  Willen.*)  —  Als  solche  subjektiven 
Denker  bewunderte  Kierkegaard  besonders  Sokrates  und 
Lessing,  auch  Jakobi  und  Hamann.  Seine  Doktordisser- 
tation handelte  von  Sokrates.**)  Sokrates  und  Lessing 
hat  er  glänzend,  aber  auch  höchst  einseitig  charakteri- 
siert;  namentlich  hat  er  sie  sicher  ,, subjektiver"  ge- 
macht, als  sie  in  der  Wirklichkeit  waren. 

Kierkegaard  hat  mit  seiner  Forderung  subjektiven 
Denkens  eine  wichtige  Idee  aufgestellt.  Sie  enthält 
nicht  nur  die  Mahnung,  die  Wege  der  spekulativen 
Abstraktion  zu  verlassen  und  zur  kritischen  Besinnung 
über  die  Voraussetzungen  und  Schranken  zurückzugehen, 
innerhalb  deren  unser  Denken  zu  arbeiten  hat.  Sie  ver- 
anlasst ihn  vielmehr  auch,  eine  psychologische  und 
ethische  Einleitung  zu  einer  Lebensanschauung  oder 
eine  Theorie  von  der  Kunst  der  Lebensanschauung  zu 
geben.     Sören  Kierkegaards  Philosophie  ist  eine  solche 

*)  Ueber  Aufgabe  und  Stil  des  subjektiven  Denkers  vergl. 
„Nachschrift"  S.  267ff. 

**)  „Ueber  den  Begriff  der  Ironie  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
Sokrates."  1841. 


■^ 


56  ni,  Sören  Kierkegaards  Persöulichkeit. 

Theorie.  Sie  will  wohl  vor  allem  die  christliche  Le- 
bensanschauung beleuchten,  ist  aber  in  einer  Weise  an- 
gelegt und  durchgeführt,  dass  sie  für  jede  Lebens- 
anschauung Bedeutung  gewinnen  kann.  — 

Sören  Kierkegaards  schriftstellerische  Wirksamkeit 
2;erfällt  wesentlich  in  zwei  Perioden.  In  der  ersten 
(1843 — 46)  ist  er  beschäftigt  mit  dem  Kampfe  gegen 
die  spekulativ-ästhetische  Verflüchtigung  der  Existenz 
mit  dem  Nachweis  der  Gegensätze,  Uebergangs- 
verhältnisse  und  Bedingungen  auf  dem  Gebiete  der 
Lebensanschauungen.  Er  giebt  hier  eine  Art  ver- 
gleichende Lebensphilosophie.  In  der  zweiten  Periode 
(1849 — 55)  führt  er  seinen  grossen  Kampf  gegen  die 
abschwächende  Auffassung  und  Behandlung  des  Christen- 
tums durch  die  Kirche.  Auch  diese  letzte  Periode  hat 
philosophische  Bedeutung,  da  Kierkegaard  hier  seine 
letzten  Konsequenzen  hinsichtlich  des  Verhältnisses 
zwischen  Religion  und  Humanität  zieht.  — 

Bei  der  Charakteristik  der  ersten  Periode  können 
natürlich  doch  ab  und  zu  sehr  wohl  Aeusserungen  aus 
späterer  Zeit  benutzt  werden,  wenn  sie  nur  Gedanken 
zum  AvTsdruck  bringen,  die  bereits  in  früherer  Zeit 
entwickelt  waren. 


IV. 
Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Die  Aufgabe,  die  sich  Kierkegaard  als  Denker 
:stellte,  war  nach  seiner  eigenen  Aussage  die :  Schwierig- 
keiten zu  machen.  Heutzutage,  meint  er,  werde  alles 
nur  immer  leichter  gemacht.  In  der  äusseren  Welt 
erleichtern  Eisenbahnen  und  Telegraphen  das  Zusammen- 
kommen und  den  Verkehr ;  und  in  der  Welt  des  Geistes 
stellte  man  die  Versöhnung  aller  Gegensätze,  die  har- 
monische Einheit  aller  widerstrebenden  Elemente  in 
Aussicht.  So  setzte  er  sich  denn  vor,  wieder  etwas 
schwierig  zu  machen  ;  —  sonst  müsste  ja  auch  denen, 
die  alles  leicht  machen  wollten,  zuletzt  der  StoiF  aus- 
gehen. („Nachschrift"  S.  137.) 

Von  den  heimischen  Denkern,  die  ihn  während 
seiner  Entwicklung  beeinflussten,  ist  bereits  im  Vorher- 
gehenden die  Rede  gewesen.  Hier  sei  nur  erwähnt,  dass 
besonders  Martensens  Vorlesungen  über  spekulative 
Philosophie  seine  Kritik  herausforderten.  Schon  in  seiner 
Dissertation  über  Sokrates  fanden  sich  Andeutungen  einer 
mehr  kritischen,  subjektiven  und  existenziellen  Auf- 
fassung des  Denkens,  sowie  Zweifel  an  der  möglichen 
Herstellung  eines  so  glatten  und  kontinuierlichen  Zu- 
sammenhangs unserer  Erkenntnis,  wie  ihn  die  spekulative 
Philosophie  erreicht  zu  haben  glaubte.  Als  Schelling  im 
Jahre  1841  seine  Aufsehen  erregenden  Vorlesungen 
laegann,  in  denen  er  Hegels  Philosophie  durch  eine  neue, 
höhere  und  positivere  ersetzen  wollte,  da  war  Kierke- 
gaard unter  den  vielen,  die  von  überall  her  nach  Berlin 
eilten,  um  die  neue  Weisheit  kennen  zu  lernen.  Anfangs 
schienen  seine  Erwartungen,    mit    denen   er   gekommen 


58  IV.  Suren  Kierkegaards  Philosophie. 

war,  sich  erfüllen  zu  wollen.  Er  schrieb  in  sein  Tage- 
buch: „Ich  bin  so  froh,  so  unbeschreiblich  froh,  Schellings 
zweite  Vorlesung  gehört  zu  haben.  So  habe  ich  denn 
lange  genug  geseufzt,  und  die  Gedanken  haben  in  mir 
lange  genug  geseufzt;  wie  er  das  Wort  "Wirklichkeit 
aussprach,  „„Verhältnis  der  Philosophie  zur  Wirklich- 
keit^'", da  hüpfte  die  Frucht  des  Gedankens  vor  Freude  in 
mir,  wie  in  Elisabet.  Ich  erinnere  mich  fast  jedes  Wortes, 
das  er  von  diesem  Augenblick  an  sagte.  Hier  giebt's 
vielleicht  Klarheit.  Dieses  einzige  Wort,  es  erinnerte 
mich  an  alle  meine  philosophischen  Leiden  und  Qualen". 
(1833—43,  S.  297.)  Die  erwartete  grössere  Klarheit  blieb 
aus ;  denn  etliche  Monate  darauf  schrieb  Kierkegaard 
an  seinen  Bruder :  „Lieber  Peter,  Schelling  ist  ein  ganz 
erschrecklicher  Schwätzer",  und  er  reiste  noch  vor 
Schluss  der  Vorlesungen  heim.  Doch  wurde  jene  Regung 
der  Frucht  des  Gedankens  der  Beginn  seines  folgenden 
Gedankenlebens.  Schelling  betonte  nämlich  sehr  .stark, 
dass  die  spekulative  Philosophie  nicht  über  das  Mögliche 
und  das  Abstrakte,  Allgemeine  hinauskommen  könne, 
und  dass  die  Beziehung  zur  absoluten  Wirklichkeit, 
besonders  wie  der  religiöse  Glaube  sie  auffasse,  nur 
durch  einen  der  Sehnsucht  und  dem  praktischen,  per- 
sönlichen Bedürfnis  entspringenden  Willensakt  (also 
nach  Kierkegaards  späterem  Ausdruck :  durch  einen 
Sprung)  gesetzt  werden  könne.  Der  Gegensatz  zwischen 
dem  Denken  und  der  Existenz,  zwischen  dem  Allgemeinen 
und  dem  Einzelnen,  und  die  Unmöglichkeit  eines  stä- 
tigen  Uebergangs  von  einem  zum  andern  befestigte  sich 
hier  für  Kierkegaard  so,  dass  er  ihn  nicht  wieder  ver- 
gass.  Mit  Recht  wurde  er  durch  die  willkürliche  und 
phantastische  Weise  abgestossen,  wie  Schelling  weiter- 
philosophierte, nachdem  er  jenen  Bruch  mit  der  Kon- 
tinuität des  Denkens  festgestellt  hatte ;  und  die  einzelnen 
genialen  Gedankenblitze,  von  denen  seine  Phantastereien 
hin  und  wieder  unterbrochen  wurden,  konnten  ihn  nicht 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  59* 

blenden.  Ancli  hätte  ihn  Schellings  Endresultat  kaum 
angesprochen :  der  Versuch  einer  Heilung  des  Bruchs 
durch  Aufzeigung  eines  neuen  Zusammenhangs  und  die 
Verheissung  einer  künftigen  Religion,  eines  „dritten 
Reiches"  (worauf  schon  früher  Lessing  hingewiesen  hat 
und  heutzutage  wieder  Henrik  Ibsen)  —  einer  neuen 
Religion,  zu  der  das  Christentum  nur  eine  Einleitung 
sein  sollte  und  die  in  ihrer  höheren  Form  über  den 
Gegensatz  zwischen  Mythologie  und  Offenbarung  durch 
freies  religiöses  Selbstverständnis  hinausführen  sollte. 
Kierkegaard  blieb  bei  dem  von  Schelling  nachgewiesenen 
Bruche  stehen.  Man  kann  in  seinen  philosophischen- 
Schriften  (besonders  im  „Begriff  der  Angst")  Schellings 
Einfluss,  zum  Teil  auch  dessen  Terminologie,  deutliche 
erkennen. 

Ein  jüngerer  deutscher  Philosoph,  dem  Kierkegaard 
viel  verdankt,  ist  Adolf  Trendelenburg.  Während 
seines  erwähnten  Aufenthalts  in  Berlin  vrar  er  von- 
Schelling  und  den  Hegelianern  so  hingenommen,  dass 
er  zu  seinem  späteren  Bedauern  nicht  dazu  kam,  Tren-- 
delenburg  zu  hören.  Dieser  war  der  erste,  der  eine 
erkenntnistheoretische  Kritik  der  spekulativen  Methode 
gab  und  in  seinen  ,, logischen  Untersuchungen"  (1840)  eine 
mehr  kritische  Erkenntnislehre  entwickelte,  die  nicht 
geringen  Einfluss  auf  Kierkegaards  Gedankengang  aus- 
übte. Kierkegaard  spricht  in  der  „  Unwissenschaftlichen 
Nachschrift"  (S.  96)  von  Trendelenburg  als  „einem 
Manne,  der  gesund  denkt  und  vom  griechischen  Geiste- 
günstig beeinliusst  ist",  und  in  seinen  hinterlassenen 
Papieren  (1847,  S.  22)  sagt  er  sogar:  „Es  giebt  doch 
keinen  Philosophen  der  Neuzeit,  von  dem  ich  soviel 
Förderung  gehabt  habe,  wie  von  Trendelenburg." 

Soviel  er  aber  auch  andern  verdanken  mochte,  so 
lag  doch  der  wesentliche  Grund  seiner  Philosophie  in- 
seiner  eigenen  Persönlichkeit  und  der  ursprünglichen. 
Natur  und   Richtung    seines  Denkens.     Durch  einsame- 


ißO  IV«  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

JTorschung  und  Reflexion  entwickelten  sicli  seine  Ge- 
danken bald  zur  vollkommenen  Keife.  Nach  seiner 
Heimkehr  von  Berlin  lebte  er  seinen  Studien  und  sei- 
ner ausserordentlich  fruchtbaren  schriftstellerischen 
Thätigkeit,  die  nur  durch  Spazierfahrten,  durch  Aus- 
flüge nach  den  Wäldern  Nordseelands  und  einmal  durch 
eine  zweite  Reise  nach  Berlin  unterbrochen  wurde. 
Durch  sein  Umherschlendern  auf  den  Strassen  und 
•brassen  wurde  er  bald  eine  bekannte  Kopenhagener  Fi- 
gur, wie  Sokrates  es  in  Athen  war,  und  er  fand  auch 
.seinen  Aristophanes.  Bewegung  war  ihm  gesundheits- 
halber Bedürfnis.  Es  brachte  ihm  aber  auch  eine  Lin- 
derung seiner  Schwermut  und  Trauer,  mit  dem  gemei- 
•nen  Mann  aus  dem  Volk  zu  reden,  sich  in  seine  Verhält- 
nisse hineinzuversetzen  und  Hilfe  und  Trost  zu  bringen. 
.Sodann  war  es  für  ihn  als  Psychologen  wie  als  Schrift- 
steller lehrreich,  das  einfache  Volk  zu  hören,  wie  es 
sich  gegen  seinesgleichen  ausspricht :  ,, Worüber  man 
vergeblich  in  Büchern  Aufklärung  suchte,  darüber  be- 
kommt man  plötzlich  Licht,  wenn  man  ein  Dienstmäd- 
chen mit  dem  andern  reden  hört;  einen  Ausdruck,  den 
man  vergeblich  seinem  eigenen  Hirn  auspressen  wollte, 
in  Wörterbüchern,  selbst  in  der  Gesellschaft  Gelehrter 
vergeblich  gesucht  hat,  bekommt  man  im  A^orbeigehen 
aus  dem  Munde  eines  gemeinen  Soldaten  zu  hören,  der 
nicht  einmal  weiss,  wie  reich  er  ist.  Und  wie  einer, 
►der  in  dem  grossen  Wald  geht,  mit  Staunen  über  dem 
Ganzen  bald  einen  Zweig,  bald  ein  Blatt  sich  bricht, 
dann  wieder  einem  Vogelschrei  lauscht,  so  geht  es 
einem,  wenn  man  sich  unter  die  Menge  mischt :  da  sieht 
man  jetzt  eine  Aeusserung  eines  Seelenzustandes,  dann 
wieder  eine  andere,  man  lernt  und  wird  nur  immer 
noch  lernbegieriger.  So  lässt  man  sich  nicht  von  Bü- 
chern betrügen,  als  käme  das  Menschliche  so  selten  vor; 
so  wendet  man  sich  auch  nicht  an  die  Zeitungen:  das 
Beste    an    der  Aeusserung,    das  Liebenswürdigste,    der 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  611 

psychologische  kleine  Zug  wird  docli  manchmal  nicht 
wiedergegeben".*)  —  -  Wie  das  Willkürliche  immer  erst 
nach  dem  Unwillkürlichen  kommt,  so  fasste  er  auch 
erst  später  diese  Gänge  auf  den  Strassen  und  Gassen 
als  ein  taktisches  Mittel  auf:  er  habe  den  Eindruck 
seiner  Person  abschwächen  wollen,  damit  seine  religiöse  • 
Schriftstellerei,  die  seine  eigentliche  Aufgabe  gebildet 
habe,  nur  durch  ihre  wirkliche  eigene  Kraft  habe  wirken 
können.  Die  Technik  der  indirekten  Mitteilung  habe 
das  so  verlangt!  Wir  brauchen  uns  auf  diese  Künstelei 
hier  nicht  näher  einzulassen.  Ich  wollte  nur  seine- 
Lebensverhältnisse  in  der  Zeit  seiner  eigentlichen  phi- 
losophischen Schriftstellerei  (1843 — 46)  etwas  veran- 
schaulichen. 


A.     Sören  Kierkegaards  Erkenntnistheorie. 

1.  Wenn  Kierkegaard  die  Frage  erörtert,  welche 
Erkenntnis  ein  existierender  Mensch  gewinnen  könne, 
so  denkt  er  nicht  an  alle  mögliche  Erkenntnis,  sondern 
nur  an  die  von  ihm  so  genannte  ,,w  es  ent liehe"  Er- 
kenntnis, d.h.  an  die  Erkenntnis,  die  sich  wesentlich 
auf  das  erkennende  Individuum  selbst  in  seinen  Exi- 
stenzverhältnissen bezieht,  an  die  ethisch-religiöse  Er- 
kenntnis, Alles  andere  Wissen  —  das  empirische, 
mathematische  und  historische  Wissen  —  ist  ihm  gleich- 
gültig, weil  es  mit  der  Existenz  nichts  zu  thun  hat, 
(,, Nachschrift"  S.  176.)  Schon  hier  macht  er  eine  sehr 
wesentliche  Unterscheidung  und  bringt  ein  Entweder — 
Oder  an.  Denn  es  ist  doch  sehr  fraglich,  ob  nicht 
vieles  von  jenem  angeblich  gleichgültigen  Wissen  ein- 
greifende Bedeutung  für  die  ethisch-religiöse  Erkennt- 
nis hat  und  gehabt  hat.  Wenn  diese  nicht  zu  aller 
Zeit  dieselbe  ist,    so    rührt    dies    teilweise    von  jenem 


*)  Stadien  anf  dem  Lebenswege,  S.  [458]. 


•^2  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

scheinbar    „gleichgültigen"    Wissen    her,    das   auch  auf 
die    Gebiete    des    geistigen    Lebens,    die   man  ihm  ver- 
schliessen  möchte,  bewussten  oder  unbewussten  Einfluss 
hat.*)    Kierkegaard  jedoch  nimmt  die  Richtigkeit  jener 
Unterscheidung    ein    für    allemal    als    gegeben    an    und 
•steckt  sich  damit  die  Grenze  für  seine  Untersuchung  ab. 
2.  Der  Gedankengang  in  Kierkegaards  Erkenntnis- 
theorie   richtet    sich    polemisch    gegen  Hegel    und    die 
andern,    die    (wie  Martensen)  meinten,    wenn  man  sich 
•nur  auf  den  Grund  des  Glaubens  stelle  und  ein  wieder- 
geborenes Bewusstsein  bekommen    habe,    so    habe    man 
auch  die  Bedingungen  für  eine  höhere,  zuvor  unerreich- 
bare    Erkenntnis     erhalten.       Hegel     gegenüber     wird 
bemerkt,    dass   er  auf  Kants  Einwendungen  gegen  eine 
Erkenntnis    der    absoluten  Wirklichkeit    eigentlich   gar 
nicht  geantwortet  habe.  Das  Denken  kann  die  Wirklich- 
keit   nicht    erreichen :    denn  sowie    es  dieselbe  erreicht 
,haben  wollte,  hat  es  sie  in  ge  dachte  Wirklichkeit  oder 
in  Möglichkeit    umgesetzt;    das  Denken  kann  über  sich 
selbst  nicht  hinauskommen.    Gegen  die  spekulative  Theo- 
logie aber  wird  bemerkt,  der  Glaube  habe  kein  Interesse, 
sich  selbst  auf  andere  Weise  als  durcli  stätes  Verbleiben 
in    der  Leidenschaft   des  Glaubens   zu  verstehen.     Man_ 
könne  vom  Höchsten  in  der  Welt  nur  als  glücklich  oder 
unglücklich  Verliebter  ein  Bewusstsein  haben ;  wer  mit 

spekulativem  Vorwitz  auftrete,  bekomme  in  Wirklichkeit 

nichts  zu  erfahren.    Nehme  man  die  Leidenschaft  hinweg, 

*)  Von  der  entgegengesetzten  Seite  aas  kritisierte  Bröchner 
(Glauben  und  Wissen,  Kopenh.  1868,  S.  219)  die  genannte  Kierke- 
gaard'sche  Unterscheidung,  indem  er  zeigte,  dass  der  Widersprach, 
der  durch  das  Paradox  sich  in  der  „wesentlichen"  Erkenntnis  geltend 
macht,  wegen  des  Zusammenhangs  im  bewassten  Leben  auch  die 
„unwesentliche''  Erkenntnis  beeintlussen  muss,  so  dass  Kierkegaard  in 
Wirklichkeit  dieser  nicht  einmal  die  für  sie  geltendgemachte  relative 
'Gültigkeit  zuschreiben  kann.  —  Es  ist  im  Grund  auch  eine  Inkon- 
sequenz, dass  Kierkegaard  der  „unwesentlichen"  Erkenntnis  über- 
haupt irgendeinen  Wert  beimisst. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  63 

die  von  der  Ungewissheit  als  einem  heilsamen  Zucht- 
meister stets  neu  erweckt  werde,  so  sei  eben  damit  auch 
der  Glaube  dahin.  Der  Existierende  sei  stets  im  Werden, 
und  die  Zeit  sei  nie  abgeschlossen;  daher  könne  nie.. 
volle  G-ewissheit  erreicht  werden,  und  unser  Wissen 
könne  über  Annäherungen  und  Vermutungen  nie  hinaus- 
kommen,' womit  wir  auf  den  Gebieten  der  unwesentlichen 
Erkenntnis  uns  anch  gar  wohl  begnügen  lassen  können. 
Solle  aber  das  Ewige  und  Unbedingte  ergriffen  und 
festgehalten  werden,  so  sei  dies,  weil  der  Abschluss 
nicht  gewonnen  werden  könne,  nur  in  Leidenschaft 
möglich.  Es  sei  nur  verwerfliche  Bequemlichkeit  oder 
Ungeduld,  wenn  man  etwas  Fertiges  und  Abgeschlossenes 
haben  zu  müssen  glaube.  Ueber  das  ewige  Streben  nach 
Wahrheit  kommen  wir  nicht  hinaus.  —  Kierkegaard 
nimmt  mit  Begeisterung  Lessings  berühmtes  Wort  auf: 
wenn  Gott  in  der  Rechten  alle  Wahrheit  und  in  der 
Linken  das  stets  lebende  Streben  nach  Wahrheit  hielte, 
so  würde  er  ihm  in  die  Linke  fallen,  da  die  ewige 
Wahrheit  nicht  für  ein  endliches  Wesen  sei.  Doch  ist 
Lessings  Begründung  dieser  seiner  Wahl  eine  etwas 
andere  als  die  Kierkegaards.  Lessing  geht  davon  aus,fH 
dass  nicht  der  Besitz,  sondern  nur  das  Erwerben  dem 
Menschen  Wert  giebt,  indem  durch  das  Suchen  seine 
Kräfte  sich  erweitern  und  er  so  an  Vollkommenheit 
wächst.  Dies  ist  eine  mehr  positive  und  psychologische 
Begründung  als  die,  welche  wir  im  Folgenden  bei  Kierke- 
gaard finden  werden ;  dieser  ist  zu  sehr  Asket  und  zu 
sehr  mit  der  Vorbereitung  seiner  Lehre  vom  Paradox 
beschäftigt,  um  Lessing  auf  seinem  natürlichen  Wege 
zu  folgen. 

Die  genauere  Entwicklung  von  Kierkegaards  Erkennt- 
nistheorie wird  durch  die  Begründung  der  zwei  Sätze 
gegeben:  dass  ein  logisches  System  gegeben  werden 
könne,  ein_  System  des  Daseins  aber  nicht  gegeben 
werden  könne. 


^ 


Q4  ^V.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

3.  Ein  logisches  System  kann  gegeben« 
werden.  Wir  können  eine  znsammenhängende  Reihe 
allgemeiner  Bestimmungen  entwickeln,  die  für  unser 
Denken  Gültigkeit  haben.  Hier  muss  man  sich  aber 
hüten,  von  der  Wirklichkeit  hergenommene  Begriffe 
einzuschmuggeln.  Das  logische  System  ist  eine  Hypo- 
these, deren  Grültigkeit  für  die  Wirklichkeit  fraglich 
ist.  Und  es  ist  besonders  zu  untersuchen,  ob  wir  diese 
Hypothese  bilden,  nachdem  wir  die  Wirklichkeit  durch 
Erfahrung  kennen  gelernt  haben,  also  als  eine  Art 
Abbreviatur  für  diese,  oder  ob  wir  sie  unabhängig  von 
der  Erfahrung  bilden,  —  Kierkegaard  äussert  den 
Wunsch,  diese  letzte  Frage  bei  einer  andern  Gelegen- 
heit ausführlicher  zu  behandeln ;  was  er  jedoch  nie 
gethan  hat.  Es  ist,  wie  man  leicht  sieht,  die  Frage,  ob 
die  empirische  oder  die  rationalistische  Auffassung  der 
Grundvoraussetzungen  des  Denkens  die  richtige  sei. 

Eine  besondere  Schwierigkeit  bei  Aufstellung  des 
logischen  Systems  liegt  für  Kierkegaard  darin,  wie  man 
dazu  kommen  könne,  mit  ihm  zu  beginnen,  d.  h.  irgendwo' 
als  an  einem  Ausgangspunkte  einzusetzen.  Denn  die 
einfachsten  Voraussetzungen  entdecken  wir  ja  erst  durch 
Reflexionen,  indem  wir  von  den  abgeleiteten  Annahmen 
zu  Annahmen  zurückgehen,  worauf  sie  sich  gründen  — 
wann  sind  wir  aber  weit  genug  zurückgegangen?  und 
wie  können  wir  die  Reflexion  zum  Stillstand  bringen? 
Diese  hat  ja  auf  dem  einen  Punkte  so  wenig  Grund  Halt 
zu  machen,  wie  auf  dem  andern,  und  wird  also,  sich  selbst 
überlassen,  ins  Unendliche  fortgehen.  Oder  wie  man 
auch  sagen  kann :  Der  Zweifel  kann  sich  nicht  selbst 
zum  Stehen  bringen.  Es  muss  zu  einem  Bruch,  zu  einem 
gewollten  Abbrechen  kommen.  Man  muss  einen  Ent- 
schluss  fassen,  die  rückwärtsgehende  Gedankenreihe 
abzubrechen,  und  den  Punkt,  bis  zu  dem  man  gekommen 
ist,  als  Prinzip  und  Ausgangspunkt  für  das  System 
festsetzen.      Was   wird     dann     aber    aus     der   Voraus- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  65 

setzungslosigkeit  ?  Denn  dass  man  mit  dem  logischen 
System  beginnt,  wird  ja  so  darch  etwas  Nichtlogische^ 
bewirkt,    durch    das,    was   mich  zum  Beschluss  bewegt. 

,,Wie,  wenn  wir  so,  anstatt  des  Geredes  oder 
Träumens  von  einem  absoluten  Anfang,  von  einem  Sprung 
redeten?"  („Nachschrift"  S.  100.) 

—  Gegenüber  dem  Hegeischen  absoluten  Gedanken- 
system, das  sich  wie  ein  Zirkel  ganz  in  sich  selbst 
abschloss,  ist  diese  Beweisführung  Kierkegaards  schla- 
gend. Vergleicht  man  sie  mit  der  oberflächlichen 
Katechismusrede,  mit  der  Martensen  ,,über  Hegel 
hinausging",  so  hat  man  den  Unterschied  zwischen  den 
beiden  Denkern  an  einem  einzelnen  Beispiele  klar  vor 
Augen.  ■ —  Doch  ist  es  eine  Frage,  ob  das  Anfangen 
hier  mit  einer  so  grossen  Schwierigkeit  behaftet  ist^ 
wie  Kierkegaard  meint.  Wir  finden  allerdings  unsere 
letzten  Voraussetzungen  durch  E-eflexion  oder,  wie 
Cartesius  es  nennt,  durch  Zweifeln,  oder,  wie  man  gewiss 
am  allerbesten  sich  ausdrückt,  durch  Analyse.  Allein 
in  unserem  Suchen  nach  Voraussetzungen  haben  wir 
stets  eine  bestimmte  Aufgabe  vor  Augen,  die  mit  Hilfe 
der  gesuchten  Voraussetzungen  gelöst  werden  soll.  Die- 
Aufgabe  ist,  dass  wir  zum  Verständnis  des  in  der  Er- 
fahrung gegebenen  Daseins  oder  eines  Teils  davon 
gelangen.  Wir  haben  daher  einen  bestimmten  Massstab, 
wie  weit  wir  zu  gehen  brauchen  —  soweit  nämlich, 
bis  wir  gefunden  haben,  was  zur  Lösung  jener  Aufgabe 
nötig  ist.  Können  wir  noch  weiter  gehen,  so  entdecken 
wir  noch  fernerliegende  Voraussetzungen,  die  sich  mit 
derselben  logischen  Notwendigkeit,  wie  die  erstgefun- 
denen darbieten ;  vorläufig  aber  werden  wir  von  diesen 
Voraussetzungen  keinen  Gebrauch  machen.  Fortschrei- 
tende Erfahrung  kann  vielleicht  dazu  führen,  dass  wir 
auch  sie  verwenden.  —  Es  ist  also  nicht  die  Willkür, 
die  den  Anfang  der  Logik  bestimmt,  und  ihre  ersterL 
Grundsätze  haben  mehr  als  rein  arbiträre   Giltigkeit. 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  B 


€6  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

4.  Ein  System  des  Daseins  aber  kann 
nicht  gegeben  werden.  Dies  kommt  fürs  erste 
davon  her,  dass  alle  Existenz,  weil  in  der  Zeit,  nie  ab- 
geschlossen ist.  Sowohl  das  Existierende,  das  erkannt 
wird,  als  das  Existierende,  das  erkennt,  sind  in  der 
Zeit^  iin  Werden.  Besonders  das  Letztere  darf  nicht 
vergessen  werden.  Die  spekulative  Philosophie,  die  alles 
zu.  erklären  wähnte,  hat  vergessen,  dass  der  Urheber 
des  Systems,  so  unbedeutend  er  auch  sein  mag  (,,so 
«ine  wirkliche  Bagatelle,  wie  der  existierende  Herr 
Professor,  der  das  System  schreibt"),  selbst  doch  auch 
mit  zu  dem  Dasein  gehört,  das  erklärt  werden  soll,  und 
dass  er  ja  mit  seiner  Existenz  nie  fertig  ist.  An 
das  System  könnte  man  erst  denken,  wenn  man  auf  die 
abgeschlossene  Existenz  zurückblicken  könnte  —  das 
würde  aber  voraussetzen,  dass  man  nicht  mehr  existierte ! 
Wie  wir  schon  gehört  haben,  lebt  man  das  Leben  vor- 
wärts, versteht  es  aber  rückwärts.  —  Und  selbst  das 
nachträgliche  Verständnis  von  rückwärts,  die  Einsicht 
in  die  Notwendigkeit  der  Entwicklung  in  der  Ver- 
gangenheit, dürfte  auf  einer  Illusion  beruhen:  denn 
wie  kann,  was  als  zukünftig  nur  möglich  ist,  dadurch, 
dass  es  zur  Vergangenheit  gehört,  notwendig  werden? 
Sollte  das  Vergangene  notwendiger  sein,  als  das  Zu- 
künftige? Wir  verstehen  ja  doch  die  Vergangenheit 
erst  recht,  wenn  wir  uns  in  sie  als  Zeitgenossen  des 
Geschehenen  hineindenken  —  dann  sehen  wir  sie  ja 
^ber  als  werdend,  nicht  abgeschlossen,  also  noch  grossen- 
teils  bloss  möglich!  („Philosophische  Bissen"   S.  236  ff.) 

Für  den  Existierenden  sind  ausserdem  Denken  und 
Sein  nicht  eins,  sondern  zwei  gesonderte  Dinge.  Wir 
denken  entweder  rückwärts  an  das,  was  gewesen  ist, 
oder  vorwärts  an  das,  was  kommen  wird.  Gleichzeitig- 
keit, absolute  Einheit  des  Denkens  und  des  Seins  ist 
für  ein  existierendes  Wesen  unmöglich  und  existiert  nur 
als  Phantasterei.     In  unser  Denken  kann  keine  Konti- 


IV,  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  67 

aiuität  kommen,  da  dieses  stets  von  der  Aufgabe  in  der 
Existenz  unterbroclien  wird.  Jegliche  Einheit  und 
Kontinuität  ist  nur  Abstraktion. 

Und  endlich :  nur  das  Einzelne,  Konkrete  existiert ; 
■existieren  heisst  etwas  Einzelnes  sein.  Gegenstand  des 
Denkens  ist  aber  nur  das  Allgemeine  und  Abstrakte. 
Auch  liierin  liegt  ein  Missverhältnis  zwischen  Denken 
und  Existenz. 

Dass  ein  System  des  Daseins  von  unserem  Denken 
sich  nicht  bilden  lässt,  hat  gleichwohl  für  Kierkegaard 
nicht  die  Folgerung,  dass  ein  solches  System  nicht 
existiert.  Es  giebt  ein  System  des  Daseins  —  doch  nur 
für   „den,   der   selbst  ausserhalb  des   Daseins   und  doch 

im  Dasein  ist  —  der  in  seiner  Ewigkeit  für  immer  ab- 

...         .  .  1 

U('S(]il()ss(Mi   ist   und  doch  das  Dasein  in  sich  einschliesst,     j 

für  Gott."  *j  Für  den  Menschen  aber  ist  das  Dasein  \ 
irrational,  ein  Paradox.  Das  Paradox,  das  Widersinnige 
und  Widersprechende  ist  nach  Kierkegaard  kein  Zu- 
geständnis, es  ist  vielmehr,  wie  er  sich  ausdrückt,  eine 
.„ontologische  Bestimmung'^  (1847,  S.  18),  es  bezeichnet 
das  Verhältnis  zwischen  einem  existierenden  erkennenden 
Geiste  und  der  ewigen  Wahrheit. 

Es  ist  auch  zuzugeben,  dass  durch  den  scharfen 
Widerspruch  zwischen  der  ewigen  Wahrheit  (der  ewigen 
Abgeschlossenheit  des  Daseins  in  Gott)  und  der  in  stätem 
Werden  begriffenen  Existenz  sich  ein  Paradox  ergiebt. 
Denn  wie  kann  von  irgend  einem  Gesichtspunkt 
.aus  und  für  irgend  einen  Gedanken,  von  dem  wir 
uns  einen  Begriff  bilden  können,  das,  was  stets  wird, 
.als   abgeschlossen   sich  darstellen?     Kierheo^aard  macht 


*)  „Nachschrift"  S.  104.  Einige  Seiten  nachher  sagt  Kierke- 
.gaard:  „Jedes  System  muss  pantheistisch  sein,  eben  weil  es  ab- 
geschlossen sein  will"  (S.  107).  Die  eigentümliche  Konsequenz  hievon 
ist,  dass  Gott  —  Pantheist  ist.  Andererseits  zieht  Kierkegaard  selbst 
jtus  dem  Satz,  dass  Existieren  =  Werden  ist,  die  befremdende 
Folgerung:  „Gott  existiert  nicht,  da  er  ewig  ist."     (8.  178.  807). 

5* 


68  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

bestimmt  geltend,  dass  „Bewegung  sich  nicht  sub  specie- 
aeterni  denken  lässt",  d.  h.  nicht  vom  Gesichtspunkt 
der  Ewigkeit  aus,  unter  Absehen  von  der  Zeit  („Nach- 
schrift", S.  283);  wie  kann  dann  aber  Gott  von  der 
Existenz,  von  dem  ganzen  im  Werden  begriffenen  Dasein 
wissen,  da  sich  ja  „Existenz  ohne  Bewegung  nicht  denken. 
lässt?"  —  Es  sind  liier  zwei  Gedanken  gewaltsam  ver- 
bunden, die  Kierkegaard  beide  festgehalten  wissen  will.. 
Die  Erkenntnistheorie  aber  muss  hier  gewiss  sein  Lieb- 
lingswort Entweder  —  Oder  gegen  ihn  selbst  kehren  und 
sagen:  entweder  muss  der  Begriff  des  absoluten  Systems 
in  Gott  eine  Illusion  sein,  oder  muss  das  stäte  Werden; 
ein  Schein  sein.  —  Kierkegaard  hätte  bei  der  Wahl, 
der  ersten  Alternative  seine  theistischen  Voraussetzungen 
noch  nicht  aufzugeben  gebraucht.  Er  konnte  mit  andern 
philosophischen  Theisten  den  Schluss  ziehen,  dass  Gott 
selbst  im  Werden  begriffen  sein  muss,  dass  Gottes  Wesen 
nicht  abgeschlossen  ist.  (Damit  wäre  er  auch  dem 
eigentümlichen  Schluss,  dass  Gott  Pantheist  sein  miisste^ 
entgangen.)  Diese  Idee  wurde  gleichzeitig  mit  Kierke- 
gaards philosophischer  Schriftstellerei  von  dem  eigent- 
lichen Begründer  des  modernen  philosophischen  Theismus,. 
C.  H.  Weisse,  entwickelt.*)  Damit  wäre  der  scharfe 
Gegensatz  aufgehoben  —  das  absolut  Abgeschlossene- 
in der  Gottesidee  aber  ebendamit  ganz  gewiss  hinfällig.. 
—  Wenn  man  sich  daran  hält,  dass  das  Dasein,  das 
wir  kennen,  sich  in  der  Zeit  entfaltet,  und  dass  wir* 
uns  von  keiner  anderen  Form  des  Daseins  eine  Vor- 
stellung bilden  können,  so  kann  von  einem  abgeschlossenen 
System  keine  Rede  sein.  Das  Dasein  wird  dann  aber- 
auch  zu  keinem  Paradox.  Es  wird  irrational  in  mathe- 
matischem Sinne,  indem  nur  eine  approxi- 
mative Erkenntnis    desselben    möglich    wird.     Es   steht 


*)  Das  philosophische  Problem  der  Gegenwart.  1842.  (Vgl. 
auch  H.  Böffding,  „Lotzes  Lehren  über  Raum  and  Zeit",  Philosv 
Monatshefte  XXIV,  S.  433—39). 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  69 

vor  uns  wie  VT",  was  wir  ja  mit  beliebig  vielen  Dezi- 
malen bestimmen  können,  olme  je  den  exakten  Wert 
angeben  zu  können.  Das  Dasein  könnte  ja  so  reich 
und  vielseitig  sein,  dass  es  für  den  mächtigsten  und 
umfassendsten  Gedanken,  den  wir  uns  vorstellen  können, 
.vStofF  genug  in  sich  hätte.  Das  ist  aber  etwas  ganz 
anderes,  als  dass  es  für  uns  paradox  sei,  d.  h.  für  uns 
unüberwindliche  Widersprüche  enthalte.  Die  Unerschöpf- 
lichkeit des  Daseins  für  das  Denken  entspricht  genau 
der  Lessingschen  Idee  des  ewigen  Strebens  nach  Wahr- 
heit. Wenn  wir  diese  Idee  festhalten,  so  müssen  wir 
als  objektives  Gegenstück  ein  stätig  werdendes  und  in 
:seinem  Werden  unüberschaubares  Dasein  annehmen. 

Kierkegaard  geht  davon  aus,  dass  wir,  auch  in  Be- 
ziehung auf  die  „wesentliche"  Erkenntnis,  uns  nicht  mit 
Annäherungen  und  Hypothesen  begnügen  können.  Warum 
-denn  nicht?  Wenn  es  nur  wirkliche  Annäherungen  sind 
imd  Hypothesen,  die  durch  die  Erfahrung  immer  mehr 
verifiziert  werden?  Dann  haben  wir  Grund  genug,  unsere 
Hoffnung  nicht  aufzugeben,  dass  wir  ein  immer  klareres 
Verständnis  gewinnen  werden  und  im  Kampfe  mit  derWelt 
bestehen  können.  Und  von  einer  solchen  Hoffnung  ist 
ja  unser  Trieb  nach  Erkenntnis  durchaus  getragen.  Es 
wird  sich  jedoch  im  Eolgenden  zeigen,  dass  Kierkegaard 
den  Begriff  der  Annäherung  auf  eine  ganz  merkwürdige 
Weise  behandelt. 

5.  Dass  die  wesentliche  Wahrheit  paradox  ist,  hat 
bei  Kierkegaard  seinen  Grund  darin,  dass  der  Gedanke 
Gottes  als  des  absolut  Ewigen  mitten  in  dem  ununter- 
brochenen Werden  des  Daseins  festgehalten  werden  soll. 
Darauf  beruht  es  auch,  dass  die  wesentliche  Wahrheit 
nur  mit  der  Leidenschaft  des  Glaubens  festgehalten 
werden  kann. 

Frau't  man,  wie  die  Gottesidee  für  Kierkegaard 
in  die  Erscheinung  tritt,  so  ist  seine  Antwort, 
dass  Gott    ein  Postulat,    eine   Notwehr    ist,    ohne   die 


II 


70  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

wir  das  Leben  nicht  aushalten  können  (,, Nachschrift"^ 
S.  178).  Ein  Bild,  das  seinen  Gedanken  gut  zum  Aus- 
druck bringen  möchte,  wäre  etwa  folgendes:  Gott  ist 
ein  Notanker,  dessen  wir  auf  dem  wilden  Meere  der 
Existenz  bedürfen  und  an  welchem  unter  dem  Wogen- 
gange  stets  gerüttelt  wird.  Wir  bedürfen  eines  absolut 
festen  Halts,  eines  Hakens,  woran  die  Kette  des  Dar. 
s'eins  befestigt  werden,  eines  Punkts,  wo  die  unendliche^ 
K,eflexion  E.uhe  finden  kann.  Was  aber  postuliert  wif^T" 
ist  von  dem  postulierenden  Wesen  qualitativ  ver- 
schieden: selbst  der  Begriff  Existenz  soll  ja  auf  Gott 
nicht  passen!  ^ott_  ist_  nach  Kierkegaard  nicht  etwa 
die  höchste  Steigerung,  das  höchste  Ideal  des  Mensfihep- 
„Zwischen  Gott  und  Mensch  l)est('ht  ein  absoluter  Unter- 
schied*'; die  ,, Qualitäten  sind  absolut  verschieden" 
(„Nachschrift"  S.  383).  —  Dann  geht  es  aber  so,  dass- 
die  Notwehr,  wozu  der  Mensch  in  der  Angst  des  Da- 
seins flüchtet,  selbst  neue  Schwierigkeiten  macht  und 
das  Leiden  verschärft:  denn  nun  gilt  es,  die  absolut, 
verschiedenen  Qualitäten  zu  vereinigen,  sie  zusammen- 
zudenken! —  Der  Glaube  an  Gott  entsteht  dadurch, 
dass  der  Mensch  ,,in  unendlichem  Interesse  nach  einer 
andern  Wirklichkeit  als  seiner  eigenen  fragt"  —  woraus, 
dann  aber  sofort  neue  Probleme  sich  ergeben. 

Es  ist  einleuchtend,  dass  Kierkegaard  nach  seiner 
Anschauung  es  nicht  so  leicht  hatte  wie  Martensen,  auf 
dem  Grunde  des  Glaubens  eine  spekulative  Theologie 
aufzubauen.  Dieser  Grund  war  vulkanischer  Natur,  in 
stäter  Bewegung,  wie  er  ja  seine  Entstehung  selbst  einer 
Revolution  verdankte.  Hier  war  weder  Ort  noch  Zeit 
zu  bauen;  die  einzige  Aufgabe  konnte  hier  sein,  in. 
leidenschaftlicher  Bekümmernis  für  die  Bewahrung  dessen, 
zu  kämpfen,  was  man  hatte. 

Eine  objektive  Gewissheit,  eine  Bekräftigung  durck 
die  [Erfahrung  kann  nie  gewonnen  werden^  Nicht  _nur 
ist  die  Zukunft,  wie  oft  bemerkt,  stets  gleich  ungewiss- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  71 

auch  wenn  man  die  Natur  betrachtet,    um  in  ihr  eine^ 
Bestätigung  für  Gottes  Allmacht  und  Weisheit  zu  finden,  ^ 
entdeckt  man  neben  Spuren  dieser  Art  auch  Spuren  ent- 
gegengesetzter Richtung.  (,,Nachschrift"  S.  182.)  Aus  der_ 
objektiven  Ungewissheit  kommen  wir  also  nicht  heraus^ 
—  und  da  es  doch  Leben  und  Todfgilt,  wird  diese  objektive 
Ungewissheit  mit  unendlicher  Leidenschaft  umfasst.    Die 
Wahrlieit  kann  nur  in  der  Form  der  Subjektivität,    als. 
Gegenstand  des  persönlichen  Gefühls   und  der  Leiden- 
schaft, festgehalten  werden, 

6.  Nachdem  Kierkegaard  so  entwickelt  hat,  dass 
die  Wahrheit  nur  auf  subjektive,  persönliche  Weise 
ergrifi'en  und  festgehalten  werden  kann  —  dass  die 
Wahrheit  die  Subjektivität  ist,  kehrt  er  den  Satz  um 
und  stellt  fest:  die  Subjektivität  ist  die  Wahrheit. 
Denn  nur  was  mit  subjektiver  Energie  und  Leidenschaft 
ergriffen  wird,  nur  das  kann  die  Wahrheit  sein.  Wenn  von 
zwei  Menschen  der  eine  in  persönlicher  Unwahrheit  zu 
dem  wahren  Gotte  betet,  der  andere  „mit  der  ganzen 
Leidenschaft  der  Unendlichkeit"  zu  einem  Götzen,  so 
betet  der  erstere  in  Wirklickheit  zu  einem  Götzen, 
während  der  andere  in  Wahrheit  zu  Gott  betet.  ^^flH 
kommt  zu  allererst  auf  ein  Wie,  nicht  auf  ein  Was  an, 
auf  die  persönliche  Innerlichkeit  und  Energie,  nicht  auf 
den  Inhalt,  an  den  diese  Innerlichkeit  sich  anknüpft. 
Und  je  grösser  die  objektive  Ungewissheit,  je  wider- 
sprechender der  Inhalt  für  den  ist,  der  ihn  in  persön- 
licher Existenz  festhalten  soll,  desto  höher  steigt  die 
Innerlichkeit  und  Leidenschaft.  Die  Wahrheit  ist  ein 
Wagestück.  Dem  Satze,  dass  die  Subjektivität  die  Wahr- 
heit ist,  entspricht  der  andere  Satz,  dass  die  Wahrheit 
(objektiv  gesehen)  das  Paradox  ist.  („Nachschrift"  S.  1 79  ff.) 

Mit  diesem  seinem  berühmten  Satz,  dass  die  Sub- 
jektivität die  Wahrheit  ist,  hat  Kierkegaard  den  Lessing- 
schen  Satz  noch  verschärft,  dass  unser  Verhältnis  zur 
Wahrheit  nur  in  einem  ewigen  Suchen  nach  ihr  bestehen 


^ 


72  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

könne.  Der  ganzeWert  wird  von  dem  objektiven  (dogmati- 
schen) nack  dem  subjektiven  (psychologischen)  Pol  ver- 
legt. Der  Sinn  ist  eigentlich:  die  Wahrheit  hat  nur 
dann  Wert,  wenn  sie  in  persönlichem  Fühlen  und 
Streben  angeeignet  und  festgehalten  wird.  Der  persön- 
liche Nährwert  der  Wahrheit  ist  das  Entscheidende. 
Der  Massstab  liegt  in  der  Bewegung,  die  im  inneren 
Leben  der  Persönlichkeit  geweckt  wird. 

Eigentlich  hat  Sören  Kierkegaard  hiemit  auf  seine 
Weise  dasselbe  ausgesprochen,  was  Ludwig  Feuerbach 
einige  Jahre  zuvor  im  ,, Wesen  des  Christentums'"  mit 
dem  Satze  geltend  machte,  dass  Theologie  Psychologie 
sei.*)  Nur  infolge  einer  Inkonsequenz  kann  Kierkegaard 
von  der  Subjektivität  einen  bestimmten  Inhalt,  einen 
bestimmten  objektiven  Glauben  verlangen:  die  Haupt- 
sache ist,  dass  diese  im  Zustande  des  Strebens 
nach  Wahrheit  ist;  zu  was  sie  in  Beziehung  steht, 
muss  gleichgültig  sein.  Es  muss  auf  die  Fülle  und  Höhe 
des  persönlichen  Lebens  ankommen,  und  es  muss  vor- 
läufig eine  offene  Frage  bleiben,  ob  für  die  Entwicklung 
eines  solchen  Lebens  ein  bestimmter  dogmatischer 
Glaubensinhalt  notwendig  ist. 

Allein  er  zieht  nicht  die  vollkommene  Konsequenz 
seines  Satzes.  Sonst  hätte  er  sich  darauf  führen  lassen, 
das  Prinzip  der  freien  Persönlichkeit  zu  proklamieren. 
Er  giebt  die  Annahme  eines  von  der  Persönlichkeit 
selbst  verschiedenen  Massstabes  für  die  Wahrheit,  die 
für  ihn  in  dem  kirchlichen  Dogma  gegeben  ist,  nicht 
auf.  Und  doch  wird  eine  genauere  Untersuchung  (die 
wir  vornehmen  wollen,  wenn  wir  erst  seine  Ethik  kennen 
gelernt  haben)  zeigen,  dass  diese  dogmatische  Richt- 
schnur nicht  die  letzte  ist.    Er  ist  zu  sehr  Denker,    um 


*)  Das  „Wesen  des  Christentums"  erschien  1841,  die 
„Unwissenssch.  Nachschrift"  1846.  Kierkegaard  weist  in  diesem 
Bache  und  bereits  in  den  „Stadien  auf  dem  Lebenswege"  ausdrück- 
lich auf  Fenerbachs  Auffassung  des  Christentums  hin. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  73 

sich  bei  ilir  beruhigen  zu  können.  Sein  letzter  Mässstab 
ist  formeller  Natur :  die  Aneignung  des  dogmatischkirch- 
lichen Glaubensinhalts  ist  ihm  d  arum  die  höchste  Form 
persönlichen  Lebens,  weil  sieden  stärksten  Widerspruch, 
das  grösste  Leiden  und  die  höchste  Leidenschaft  in 
der  Subjektivität  hervorruft.  Der  letzte  und  entschei- 
dende Vorwurf  gegen  ihn  wird  darum  dahin  lauten,  dass 
•er  die  Persönlichkeit  von  dem  realen,  natürlichen  und 
sozialen  Zusammenhang,  worin  ihr  Leben  allein  positiven 
Inhalt  gewinnen  kann,  losgerissen  hat.  Denn  nur  in  der 
freien,  mit  der  Wirklichkeit  kämpfenden  und  von  der 
Wirklichkeit  lernenden  Subjektivität  kann  die  Wahrheit 
wohnen  —  nicht  aber  in  der  Subjektivität,  die  durch 
formelle,,  asketische  Uebungen  sich  in  den  Gehorsam 
gegen  einen  naturwidrigen,  lebensfeindlichen  Inhalt 
hineinzwängt.  —  Doch  kann  dieser  Punkt  nur  durch 
die  Untersuchung  von  Kierkegaards  Ethik  klarer  be- 
leuchtet werden. 

Das  Grosse  an  Kierkegaards  Erkenntnistheorie  ist 
der  Ernst,  womit  er  den  Zusammenhang  des  Denkens 
mit  dem  persönlichen  Leben  erfasst.  Es  ist  etwas  Grie- 
•chisches  an  ihm.  Er  will  von  dem  abstrakten  Denken 
und  Kontemplieren  zum  persönlichen,  existenziellen 
Denken  zurückkehren. 

Unsere  Ideen  werden  nur  allzu  leicht  Soldaten  in 
.der  Friedenszeit.  Sören  Kierkegaard  hat  die  Ideen  aus 
dem  Frieden  der  Kontemplation  hinausgeführt  in  den 
Kampf  und  in  die  Unruhe  des  Lebens  und  ihnen  die 
Wahlstatt  angewiesen,  wo  die  Gültigkeit  der  ,, wesent- 
lichen" Erkenntnis  ihre  Probe  bestehen  soll.  Wäre  der 
•dogmatische  Hemmschuh  nicht  gewesen,  so  hätten  seine 
Gedanken  weit  mehr  direkt  universelle  Bedeutung  ge- 
wonnen. Nun  ist  erst  eine  Uebersetzung,  ein  Ausschei- 
dungsprozess  vorzunehmen,  ehe  sie  die  Rolle  für  die 
Menschheit  spielen  können,  die  ihnen  zukommt. 


74  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

B.  Sören  Kierkegaards  Ethik. 

a.  Der  Sprung. 
1.  In  der  Geschichte  des  Denkens  ist  die  wichtige- 
Thatsache  zu  beachten,  dass  sich  zwei  Arten  von  Den- 
kern gegenüberstehen.  Der  einen  Art  ist  es  um  Auf- 
findung der  Einheit,  des  Zusammenhangs,  der  Kontinuität 
zu  thun,  um  die  Aufzeigung  von  allmählichen  Ueber- 
gängen  und  Zwischengliedern  zwischen  den  scheinbar 
entgegengesetztesten  Formen  des  Daseins,,  um  den  Nach- 
weis, dass  die  scheinbar  qualitativ  verschiedenen 
Phänomene  aus  denselben  Elementen  bestehen,,  nur  das* 
diese  verschiedenartig  gemischt  und  ungleich  zusammen- 
gesetzt seien.  Die  andere  Art  richtet  gerade  umgekehrt 
ihr  Hauptinteresse  auf  die  Fixierung  der  bestimmten 
Unterschiede,  auf  den  Nachweis,  dass  an  gewissen 
Punkten  im  Dasein  ein  qualitativ  Neues  auftrete,  auf 
Betonung  der  jähen  Uebergänge,  der  plötzlichen  Wen- 
dungen, der  scharfen  Grenzen  zwischen  verschiedenen 
Gebieten.  Für  die  Denker  der  ersteren  Art  wird  der 
HauptbegrifF  der  kontinuierliche,  allmähliche  Uebergang, 
derblos  graduelleUnterschied,die quantitativ eVerschie- 
denheit;  für  die  letzteren  die  Distinktion,  die  Disjunktion, 
die  qualitative  Verschiedenheit.  Die  beiden  Arten  und 
Richtungen  stossen  bei  einer  Reihe  grosser  Probleme- 
auf dem  Gebiete  der  Natur-  \\n.e  der  Geisteswissenschaft 
zusammen.  So  bei  der  Frage  nach  der  Einheit  oder 
der  ursprünglichen  Verschiedenartigkeit  der  Naturkräfte, 
nach  der  Einheit  der  Materie  oder  der  qualitativeni 
Verschiedenheit  der  Grundstoife,  nach  der  Entstehung- 
des  Lebens,  der  Entstehung  der  Arten,  nach  dem  Ver- 
hältnis des  bewussten  Lebens  zum  Materiellen,  nach 
der  gegenseitigen  Beziehung  der  höheren  und  niedereren 
Bewusstseinserscheinungen  zu  einander,  nach  dem  Ver- 
hältnis der  Willensentscheidung  zuan  Kausalgesetz  u.  s.  f. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  75 

"VVo  sich  nicht  quantitativ  feststellen  lässt,  wie  gross 
die  Annäherung  ist,  wieweit  die  Kontinuität  reicht,- 
odcr  wie  gross  der  Abstand  zwischen  den  in  der  Er- 
fcihrung  auftretenden  Gegensätzen  ist,  da  wird  sich 
der  Unterschied  der  beiden  Denkweisen  besonders  geltend 
machen;  also  in  der  Wissenschaft  des  Organischen  stärker 
als  in  der  Wissenschaft  des  Unorganischen,  in  der 
Wissenschaft  des  Geistes  stärker  als  in  der  Natur- 
wissenschaft. Und  von  besonderer  Bedeutung  wird  er 
in  der  Philosophie  werden,  da  es  sich  ja  hier  um  die 
Feststellung  der  Voraussetzungen  und  Gesichtspunkte 
für  die  Betrachtung  des  Ganzen  handelt. 

Beide  Arten  haben  ihre  wissenschaftliche  Berechtig-- 
ung.  Sie  stellen  die  zwei  Grundfaktoren  unseres 
Erkennens  dar,  die  Synthese  und  die  Analyse,  die  sich, 
wie  Goethe  bemerkt  hat,  wie  Ein-  und  Ausatmung  zu 
einander  verhalten.  —  Man  könnte  vielleicht  meinen,, 
die  erstere  müsse  die  eigentlich  wissenschaftliche  Richtung 
sein,  da  ja  die  Synthese  die  Grundform  unseres  Geistes 
und  unseres  Denkens  ist,  und  da  jede  Wissenschaft 
darauf  ausgeht,  Zusammenhang  und  Einheit  im  Dasein 
zu  finden.  Es  ist  aber  doch  nicht  minder  wesentlich^, 
dass  wir  uns  des  ganzen  qualitativen  Reichtums,  den 
das  Dasein  in  sich  begreift,  bewusst  bleiben.  Auch 
gewinnt  die  Synthese  selbst  erst  dann  wirkliche  Be- 
deutung, wann  der  Inhalt  der  Erfahrung  in  seiner  ganzen 
Verschiedenartigkeit  vor  uns  ausgebreitet  ist,  mit  allen 
seinen  qualitativen  Nuancen  und  Gegensätzen;  nur  dann 
hat  die  Synthese  etwas  zu  verarbeiten.  Sören  Kierke- 
gaard hat  uns  gelehrt,  dass  es  keine  Kunst  sei,  eine 
Einheit  zu  proklamieren,  wenn  es  keine  gegensätzlichen 
Elemente  zu  überwinden  giebt. 

Dass  Sören  Kierkegaard  entschieden  zu  der  zweiten 
Klasse  von  Denkern  gehört,  ist  kein  Zweifel.  Er  ist 
einer  der  ersten  in  der  Reihe  von  Denkern,  die  die 
Rückkehr  zu  der  kritischen  Philosophie  einleitete,    die- 


76  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

der  letzten  Greneration  eigentümlich  ist.  Er  selbst  be- 
zeiclmete  sein  Denken  im  Gegensatz  zu  dem  Hegels 
als  qualitative  Dialektik.  („Nachschrift"  S.  360.) 
Damit  wollte  er  als  sein  Hauptbestreben  kennzeichnen, 
dass  er  der  qualitativen  Distinktion  Geltung  verschaffe 
imd  die  festen  Grenzen  zwischen  den  verschiedenen 
Gebieten  aufzeige,  während  die  vorhergehende,  roman- 
tisch-spekulative Periode  bis  zum  Uebermass  in  der 
Einheit  und  Kontinuität  schwelgte.  Sein  Schlagwort 
Avar  Entweder-Oder.  Diesen  Titel  gab  er  seinem 
-ersten  bedeutungsvollen  Werke  ;  das  war  die  Kategorie, 
die  er  als  die  entscheidende  betonte;  unter  diesem 
Namen  war  er  den  Gassenjungen  bekannt.  Er  erklärte 
^er  Kontinuität  und  dem  allmählichen  Uebergang  den 
Krieg;  sie  sind  für  ihn  nur  die  Kategorien  der  Ober- 
flächlichkeit und  der  Weichlichkeit.  Das  Leben  und  die 
Wirklichkeit  führt  nach  seiner  Behauptung  immer  wieder 
an  Kreuzwege,  gebt  durch  stets  wiederholte  Sprünge 
vorwärts.  Etwas  Entscheidendes  tritt  immer  nur  durch 
.einen  Ruck  ein,  durch  eine  plötzliche  Schwenkung,  die 
.sich  weder  aus  dem,  was  vorausgeht,  vorhersehen  lässt, 
noch  dadurch  bestimmt  wird. 

Das  Geistesleben  unterliegt  in  dieser  Hinsicht  nach 
Kierkegaard  ganz  andern  Bedingungen  als  das  Natur- 
leben. Er  bestreitet  auf  das  bestimmteste  das  Bestehen 
jeder  Analogie  zwischen  geistiger  Entwicklung  und 
organischer  Entwicklung.*)  Qualitative  Metamorphose,  in 
der  das  neue  Stadium,  der  höhere  Zustand  infolge  eines 
entscheidenden  Bucks  oder  Sprungs  in  Kraft  tritt,  ist 
.das  für  die  Entwicklung  des  Geisteslebens  Eigentüm- 
liche, während  die  organische  Entwicklung,  z.  B.  das 
Wachstum  einer  Pflanze,  in  einer  successiven  Entfaltung 
vdes  bereits  im  KJeime  wesentlich  Vorhandenen  ist. 
Indem  der  Uebergang  ein  Sprung  ist,  wird  der  innere 
natürliche  Zusammenhang,  ,,die  Immanenz"  abgebrochen, 

*)  Vgl.  besonders  „Nachschrift"  8.  620. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  77 

es  wird  ein  absolut  Neues  gesetzt,  „eine  Transcendenz" 
etabliert.  („Nachsclirift"  S.  271.)  Die  Kontinuität,  die 
das  Denken  zu  stände  bringen  kann,  ist  rein  abstrakt 
und  in  der  Wirklichkeit  illusorisch;  der  wirkliche  Zu- 
sammenhang muss  im  Geistesleben  durch  stets  neue 
Anspannung  hergestellt  werden,  durch  die  Arbeit  der 
Wiederholung,  die  in  der  neuen  Wirklichkeit  das  früher 
Gewonnene,  das  durchaus  nicht  von  selbst  fortbesteht, 
festhält.  („Nächschrift"  S.  287,  „Wiederholung"  S.33f  92.)- 

2.  Diese  Eigentümlichkeit  an  Sören  Kierkegaards 
Denken  tritt  in  seiner  Auffassung  des  Verhältnisses 
zwischen  Psychologie  und  Ethik  besonders  deutlich 
zu  Tage,  wie  ja  überhaupt  die  Eigentümlichkeit  eines 
Denkers  in  der  Regel  an  diesem  Punkte  sich  am  deut- 
lichsten offenbart. 

Was  die  Fähigkeit  betrifft,  die  grössten  Gegensätze- 
und    die    feinsten  Nuancen,    die    gewaltsamsten   Krisen 
und  die  leisesten  Regungen  innerhalb  des  Seelenlebens 
zu  erfassen,    so   war   er    ein  Psychologe    ersten  Rangs.- 
Er  war  auf  dem  Gebiet   des  inneren  Lebens   heimisch, 
und  er  hatte  dichterische  Kraft,  was  er  geschaut,  auch 
darzustellen.  —  Allein  er  hatte  nicht  bloss  das  Interesse 
des  Beobachters.    Er  hatte  auch  einen  leidenschaftlichen 
Trieb,  zu  verstehen.    Sein  ganzes  kräftiges  Hervorheben 
des  Paradoxen,  des  Irrationalen,  des  plötzlichen  Ruckes, 
der  den  Zusammenhang  aufhebt,  würde  ja  unverständlich 
sein,    wenn    er   nicht    selbst    das  Bedürfnis    nach  Fest- 
haltung der  Kontinuität  gehabt  hätte.     Die  Lehre  von 
der  Wahrheit  als  dem  Paradoxe  ist  der  Ausdruck  dafür, . 
dass  dieses  Verlangen  getäuscht  worden  ist.    Wer  keinen- 
lebhaften  Erkenntnistrieb  hat,  dem  bleibt  diese  Täusch- 
ung erspart,  er  entdeckt  das  Irrationale  nicht  und  wird 
durchaus  kein  Verständnis    für  die  Leidenschaft  haben, 
die   einen  Geist   wie  Kierkegaard    beim  Anprall  gegen 
die  Grenze  des  Erkennens  ergreift.   Nur  wer  mit  vollem 
Dampfe    einherfährt,    empfindet   den  Schmerz,    anhalten, 
zu  sollen.  —   „Das  Paradox",  sagt  Kierkegaard,  (Philos.- 


78  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Bissen,  S.  210  [52]),  „ist  des  Gedankens  Leidenschaft, 
und  der  Denker,  der  das  Paradox  meidet,  ist  wie  der 
Liebende,  der  die  Leidenscliaft  fern  halten  will  —  ein 
mittelmässiger  Patron.  Jeder  Leidenschaft  höchste 
Potenz  ist  aber,  dass  sie  ihren  eigenen  Untergang  will, 
und  so  ist  es  auch  des  Verstandes  höchste  Leidenschaft, 
dass  er  den  Anstoss  will,  obgleich  der  Anstoss  auf  die 
eine  oder  andere  Weise  sein  Untergang  werden  muss. 
Dies  ist  also  die  höchste  Leidenschaft  des  Denkens, 
etwas  zu  entdecken,  das  es  selbst  nicht  denken  kann." 

Hieraus  kann  man  ersehen,  dass  auch  bei  der  Ein- 
teilung der  Denker  in  zwei  Klassen  innerhalb  seiner 
eigenen  Klasse  nur  der  gross  sein  kann,  bei  dem  sich 
ein  starker  Trieb  in  der  Richtung  der  anderen  Klasse 
regt.  Nur  ein  starkes  Bedürfnis  nach  Zusammenhang 
entdeckt  und  empfindet  den  Bruch,  den  Ruck. 

Als  Psychologe  hält  Kierkegaard  den  Zusammenhang 
fest,  solange  er  kann;  als  Ethiker  aber  setzt  er  den 
Sprung,  den  Ruck  der  Entscheidung.  Nach  ihm  ist  es 
die  Aufgabe  der  Psychologie,  die  Möglichkeiten  für  die 
neuen  Zustände,  die  successiven  und  quantitativen  An- 
näherungen an  sie  aufzusuchen.  Sie  hat  es  mit  den 
Anläufen,  Motiven  und  Vorbereitungen  zu  thun.  Soweit 
sie  aber  auch  in  ihrer  „Berechnung  des  Möglichkeits- 
winkels'' kommt,  —  wenn  der  Punkt  kommt,  wo  die 
eigentliche,  ethisch  bedeutungsvolle  Entscheidung  statt- 
findet, so  erfolgt  ein  qualitativer  Ruck,  der  das  Neue 
setzt ;  es  geht  eine  radikale  Aenderung  vor  sich,  die  in 
dem  Vorausgehenden  ihre  Erklärung  in  keiner  Weise 
.finden  kann. 

3.  Kierkegaard  entwickelt  dieses  Verhältnis  zwischen 
der  psychologischen  und  der  ethischen  Betrachtungsweise 
in  der  genialen  Abhandlung  ,,der  Begriff  der  Angst." 
—  Er  behandelt  hier  die  Willensentscheidung  beim 
„FalP'  nach  dem  Bericht  im  ersten  Buch  Mosis.  Man 
.möchte  denken,    es  wäre  der  Klarheit  förderlicher   ge- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  79 

wesen,  wenn  er  liiezu  eines  seiner  gewöhnlichen  psycho- 
logischen Experimente  verwendet  hätte.  Doch  ist  der 
Unterschied  nicht  gross;  denn  wiewohl  er  gegen  die 
mythische  Fassung  jenes  alten  Berichts  protestiert,  be- 
handelt er  ihn  faktisch  doch  als  Mythus,  und  zwar  mit 
aller  wünschenswerten  Freiheit.  —  Es  gilt  zu  schildern, 
■wie  der  Mensch,  der  doch  im  Stande  der  Unschuld  ge- 
dacht ist,  fallen  konnte. 

Zuerst  versucht  es  die  Psychologie,  Möglichkeiten 
und  Annäherungen  aufzufinden.  Die  Angst  giebt  eine 
.•solche  an  die  Hand.  Während  die  Furcht  sich  auf  eine 
bestimmte  Möglichkeit  bezieht,  richtet  sich  die  Angst 
auf  eine  unbestimmte  Möglichkeit,  einen  Traum,  der  in 
•der  Phantasie  der  Unschuld  auftaucht,  der  an  sich  selbst 
«in  Nichts  ist  —  und  doch  vor  den  Menschen  hintritt, 
als  wäre  er  etwas.  Und  ausser  diesem  Wechselspiel  des 
Kommens  und  Verschwindens  macht  sich  bei  der  Angst 
noch  ein  anderes  geltend,  das  Wechselspiel  der  An- 
ziehung und  Abstossung,  der  Sympathie  und  Antipathie, 
des  Anlaufens  und  Zurückweichens.  Der  Gregenstand 
der  Angst  übt  eine  Macht  über  den  Sinn  aus,  zieht 
diesen  an  sich  —  und  stösst  ihn  doch  weg.  So  ist  es 
bei  der  Schamhaftigkeit.  Wessen  schämt  sich  der 
Schamhafte?  Es  wurde  ja  nichts  gesagt  und  nichts 
gethan;  es  ging  nur  eine  Möglichkeit  an  ihm  vorüber, 
ohne  dass  sie  auch  nur  in  einen  bestimmten  Gedanken 
gefasst  worden  wäre  —  und  diese  Möglichkeit  wurde 
abgewiesen,  obwohl  sie  kaum  beachtet  wurde.  Wessen 
hat  er  da  sich  zu  schämen,  worüber  zu  erröten?  So  ist 
es  auch  beim  Schwindel.  Die  Möglichkeit,  man  könnte 
sich  fallen  lassen,  sein  Gleichgewicht  verlieren,  bietet 
sich  dar,  wenn  der  Blick  den  Abgrund  misst;  sie  be- 
kommt keine  Zeit,  sich  zu  befestigen,  sie  wird  abge- 
wiesen, immer  wieder  abgewiesen  —  und  doch  ängstet 
sie,  weil  sie  zieht. 

Hier  ist  eine  Möglichkeit,  eine  Annäherung  —  die 


30  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

aber  nach  Kierkegaard  doch  nichts  erklärt,  wenn  die 
Entscheidung  kommt,  wenn  der  Fall  wirklich  eintritt. 
Dieser  kommt  mit  einem  Ruck,  oder  wie  ein  Sprung 
—  durch  alles  Vorausgehende  nicht  zu  begreifen,  noch 
zu  begründen.  —  Ebenso  plötzlich,  wie  so  alle  Möglich- 
keit und  Annäherung  weggefegt  wird,  tritt  die  Ethik 
an  Stelle  der  Psychologie.  Sie  fragt  nach  dem  Qualitäts- 
unterschiede, nach  dem  Gegensatz  zwischen  gut  und 
böse  und  kümmert  sich  um  alles,  was  die  Psychologie- 
mühsam über  „die  Winkel  der  Möglichkeit"  ausgerechnet 
hat,  nicht  im  mindesten.  Die  Wirklichkeit  steht  in 
keinerlei  Beziehung  zur  Möglichkeit.  —  Diese  Auf- 
fassung soll  dann  auch  allgemein  für  das  Verhältnis 
der  einzelnen  Handlungen  zu  dem  erworbenen  Charakter 
und  für  das  Verhältnis  des  Einzelnen  zu  der  vom  Ge- 
schlecht ererbten  Natur  gelten:  das  von  der  Vergangen- 
heit (von  der  des  Geschlechts  und  der  eigenen  des  Indi- 
viduums) Gegebene  sind  Möglichkeiten,  Annäherungen, 
die  in  dem  Augenblicke  der  wirklichen  Entschei- 
dung nichts  bedeuten.  Und  das  obschon  Kierkegaard 
einräumt,  dass  durch  Gewohnheit  und  Übung  die  Mög- 
lichkeiten und  Dispositionen  im  Charakter  des  Einzelnen 
sich  summieren,  wie  dies  mit  Stammes-  und  Geschlechts- 
eigenschaften in  der  Entwicklung  des  ganzen  Geschlechts 
geschieht.  Die  quantitative  Steigerung  soll  die  neue, 
durch  die  Entscheidung  gesetzte  Qualität  in  keiner 
Weise  erklären  können!  Das  kontinuierliche  Wachsen 
der  Möglichkeiten  wird  durch  den  Ruck  der  Verwirk- 
lichung abgebrochen.  — 

Kierkegaard  gerät,  soviel  ich  sehen  kann,  mit  dieser 
Auffassung  in  einen  sehr  grossen  Widerspruch  mit  sich 
selbst.  Seine  Anerkennung  der  Psychologie  in  dieser 
ihrer  Unabhängigkeit  von  der  Ethik  muss  auf  der  Be- 
deutung beruhen,  die  den  von  der  Psychologie  nach- 
weisbaren Möglichkeiten  und  Annäherungen  beigemessen 
werden  kann.     Nun  sollen  diese  aber,    soweit  sie  auch. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  gl 

wohl  gehen,    zuletzt    doch    nicht    das    allermindeste  zu 
bedeuten   haben!     Wir    bekommen    also    Möglichkeiten, 
die  keine  Möglichkeiten  für  etwas  sind,  Annäherungen, 
die  keine  Annäherungen    an    etwas  sind!     Das  psycho- 
logische Verständnis   —  und    mit    ihm    nicht    bloss  die 
theoretische  Psychologie,    sondern  auch   die  praktische 
Menschenkenntnis  —  wird  damit  nutzlos,  ja  illusorisch. 
Kierkegaard    ist    im    „BegriiF    der  Angst"    seinem 
Schlagwort    „Entweder  -Oder"    untreu    geworden    und 
hat  die  Durchführung  eines  Sowohl — Als-auch  probieren 
wollen.      Ja,     genau    genommen,      hat    er    beides,     ein 
„Entweder — Oder"  und  ein  „Sowohl — Als-auch"  haben 
wollen.    Er  hat  nicht  zwischen  Sprung  und  Kontinuität 
wählen,  sondern  beide  verbinden  wollen !  Damit  erreichte 
er    aber    nur,    dass    er   in   die  Scylla  geriet,    ohne   der 
Charybdis  zu  entrinnen.    Er  hat  durch  die  Lösung  des- 
Bandes    zwischen    Möglichkeit    und    Wirklichkeit    das- 
Interesse     der    Ethik    wie     der    Psychologie    verletzt.. 
Denn  wenn    die  Psychologie    sich    nicht    darein    finden 
kann,    dass   die  von   ihr  nachgewiesenen  Möglichkeiten 
(die  ja  freilich  nicht  alle  sind,    da  sie   nicht  alle  ent- 
decken   kann)    die  wirkliche  Entscheidung   nicht   bloss;^J| 
zum    Teil    nicht,    sondern   gar   nicht   sollen    begründen 
können,  ebenso  wenig  kann  die  Ethik  sich  darein  finden, 
dass  das  ethische  Urteil    nur  das  fertige  Resultat,    die 
scharfe    Wendung    und    nicht    auch    die  Anläufe,    Dis- 
positionen,   Motive    treffen    soll.     Für    die    praktische 
ethische  Betrachtung  ist  es  gerade  von  Wert,  dass  mani 
die  Möglichkeiten   zu   fassen  bekomme,    damit  die  ver- 
derbliche Wirklichkeit  im  Wachstum    aufgehalten    und 
die  guten  Keime  geschirmt  und  gepflegt  werden. 

Bei  genauerem  Zusehen  zeigt  sich,  dass  Kierkegaard 
das  sittliche  Urteil  wirklich  auch  auf  das  dem  Ruck 
der  Entscheidung  Vorangehende,  auf  die  Anläufe  vor 
dem  Sprung  ausdehnt.  Wohl  macht  er  bestimmt  geltend, 
dass  die  Angst  nicht  eine  Unvollkommenheit  am. 

Hoff  ding,  S.  Elierkegaard.  6 


■^ 


32  ^^-  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Menschen  sei;  später  aber  erklärt  er  doch  die  Angst 
,.für  so  selbstisch  als  möglich"  und  redet  davon,  wie 
die  unbestimmte  Möglichkeit  mit  ihrer  süssen  Beäng- 
stigung beschwerend  ängste  und  wie  die  Angst  mit 
ihrem  Gregenstande  eine  „geheime  Kommunikation 
unterhalte".  („Angst"  S.  49.  58  f.  103  [48.  58.  106].) 
Hier  ist  die  Schätzung  zurückverlegt,  oder  es  ist  eine 
Entscheidung  vor  der  —  Entscheidung  angenommen; 
d.  h.  die  Möglichkeit  ist  (wie  sie  das  auch  ist)  als  eine 
teilweise  Wirklichkeit  behandelt.  Kierkegaard  hat  die 
souveräne  Verachtung  für  das  Approximative  und 
Hypothetische,  die  seiner  Unterscheidung  zwischen 
,  wesentlichem"  und  „unwesentlichem  Erkennen"  zu 
•Grunde  lag,  nicht  durchführen  können.  Er  protestiert 
•dagegen,  dass  man  „den  Kreis  des  Sprungs  in  eine 
gerade  Linie  auseinanderlege",  allein  er  hat  nicht  daran 
.gedacht,  dass  der  Kreisbogen,  je  grösser  der  Radius 
des  Kreises  ist,  sich  um  so  mehr  einer  geraden  Linie 
nähert,  oder  dass  man  sich  eine  Kreisperipherie  als 
eine  unendliche  Zahl  unendlich  kleiner  gerader  Linien 
denken  kann.  Die  Kontinuität  im  Denken  und  in  der 
Natur  lässt  sich  nicht  so  leicht  vertreiben,  wie  Kierke- 
gaard meinte. 

4.  Wir  haben  bisher  den  Sprung  oder  Ruck  nur 
von  der  negativen  Seite  besprochen,  die  Entscheidung 
nur  als  ein  Abbrechen  aufgefasst.  Kann  man  aber  nicht 
auch  eine  positive  Beschreibung  oder  Bestimmung  davon 
geben?  Es  ist  für  Kierkegaard  als  Denker  bezeichnend, 
dass  er  zwar  mit  der  Kategorie  des  Sprungs  die  Brücke 
hinter  sich  abbrechen  will,  sich  aber  doch  nicht  ent- 
halten kann,  mit  seinem  Denken  immer  wieder  die  Stelle, 
wo  der  Bruch  geschieht,  zu  umkreisen.  Er  möchte 
•dem  unbegreiflichen  Sprung  so  nahe  als  möglich  zu 
Leibe  rücken.  Er  ist  meines  Wissens  der  einzige 
indeterministische  Denker,  der  den  Sprung  zu  beschreiben 
versucht    hat.     Dieser  Versuch    ist,    philosophisch   be- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  83 

trachtet,  eine  der  merkwürdigsten  Gedankenentwick- 
Inngen,  die  sicli  bei  ihm  finden. 

„Die  Geschichte  des  individuellen  Lebens^,  sagt  er, 
„schreitet  in  einer  Bewegung  von  Zustand  zu  Zustand 
fort.  Jeder  Zustand  wird  durch  einen  Sprung  gesetzt .... 
Jedem  derartigen  Sprunge  geht  ein  Zustand  als  nächste 
psychologische  Approximation  voraus.  Dieser  Zustand 
ist  Gegenstand  der  Psychologie."  („Angst"  S.  113  [117].) 
Der  Sprung  liegt  also  zwischen  zwei  Zuständen. 
Oder,  wie  es  an  einer  andern  Stelle  genauer  heisst,  er 
liegt  zwischen  zwei  Augenblicken:  ,,Die  Angst 
kann  man  mit  dem  Schwindel  vergleichen.  Wessen 
Auge  veranlasst  wird,  in  eine  gähnende  Tiefe  hinunter- 
zuschauen, der  wird  schwindlig  ...  In  diesem  Schwindel 
sinkt  die  Freiheit  zu  Boden.  Weiter  kann  die  Psy- 
chologie nicht  kommen,  und  will  es  auch  nicht.  Im 
selben  Augenblicke  ist  alles  verändert,  und  indem  die 
Freiheit  sich  wieder  erhebt,  sieht  sie,  dass  sie  schuldig 
ist.  Zwischen  diesen  beiden  Augenblicken  liegt  der 
Sprung,  den  keine  Wissenschaft  erklärt  hat,  noch  er- 
klären kann."     (ib.  S.  58  [58].) 

Es  scheint  klar  zu  sein,  dass,  wenn  der  Sprung 
zwischen  zwei  Zuständen  oder  zwischen  zwei  Augen- 
blicken liegt,  ihn  kein  Auge  beobachten  kann.  Die 
Beschreibung  desselben  wird  dann  also  eigentlich  keine 
Beschreibung,  da  er  nie  Phänomen  werden  kann.  Was 
Kierkegaard  mit  seiner  Beschreibung  erfassen  will, 
gleitet  ihm  zwischen  den  Fingern  durch.  Er  beschreibt 
eine  Aufeinanderfolge  von  zwei  Augenblicken  oder 
Zuständen  (und  was  kann  hier  wohl  auch  anderes  beob- 
achtet oder  beschrieben  werden  ?) ;  was  aber  dazwischen 
liegt,  bekommt  er  nicht  mit  und  kann  er  nicht  mit- 
iDekommen.  Und  doch  redet  er  so  dogmatisch  davon 
als  nur  möglich.  —  Ich  habe  auf  die  angeführten  Stellen 
im  „Begriff  der  Angst"  viel  Nachdenken  verwendet  und 
war  zuerst  der  Auffassung    geneigt,    dass  Kierkegaard 

6* 


84  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

meine,  der  Sprung  lasse  sich  nicht  beobachten.  Danm 
wäre  seine  Entwicklung  ein  Seitenstück  zu  Humes 
berühmtem  Nachweis,  dass  die  Kausalität  sich  nicht 
beobachten  lasse,  da,  was  wir  beol)achten,  stets  nur 
Succession  sei.  Sowenig  sich  Kausalität  oder  Kontinui- 
tät beobachten  lässt,  so  wenig  der  Bruch  der  Kontin,ui- 
tät.  Die  Augenblicke  lösen  einander  ab  —  wie  ver- 
halten sich  aber  zwei  Augenblicke  zu  einander?  Hier 
ist  das  grosse  Problem,  das  die  zwei  im  Vorangehenden 
gezeichneten  Klassen  von  Denkern  scheidet,  von  denen; 
die  eine  durch  das  Kausalitätsverhältnis  die  Kontinuität 
geltend  macht,  die  andere  durch  das  indeterminierte 
Auftreten  neuer  Qualitäten  die  Diskontinuität  festhält.. 
Könnte  die  Sache  durch  Beobachtung  entschieden  wer- 
den, so  wäre  der  Streit  leicht  beizulegen.  Allein  selbst 
durch  die  genaueste,  ins  Minutiöseste  gehende  Beob- 
achtung kommen  wir  nur  dazu,  dass  wir  die  Augenblicke  in 
kleinere  Avigenblicke  zerteilen,  und  das  Problem,  das 
Grundproblem  in  allem  unserem  Erkennen  kehrt  immer 
wieder  zurück.  —  Ich  kann  aber  bei  genauerer  Er- 
wägung Kierkegaard  einen  klaren  Blick  für  das  Prin- 
zipielle in  der  Frage  nicht  zuerkennen.  Seine  dog- 
matischen Voraussetzungen  und  seine  Neigung  zu 
dichterischen  Bildern  haben  ihm  hier  den  Blick  für  das 
Problem  in  seiner  Schärfe  getrübt.  Sonst  hätte  er 
wohl  [auch  darauf  aufmerksam  werden  müssen,  dass  er- 
ja  eigentlich  die  ganze  Entscheidung  (die  Willens- 
entscheidung!) unbe wusst  vor  sich  gehen  lässt.  Denn 
was  zwischen  zwei  Bewusstseinszuständen  oder  zwei 
Bewusstseinsaugenblicken  liegt,  das  geschieht  unbewusst, 
tritt  nicht  über  die  Schwelle  des  Bewusstseins.  Eine 
Willensentscheidung  von  der  Art,  mit  der  Kierkegaard 
zu  thun  hat,  sollte  nun  doch  wohl  ein  Wollen  in  höchster 
Form,  eine  Wahl  im  eigentlichen  Sinne,  ein  Entschluss, 
ein  willkürlicher  Akt  sein.  AVie  kann  aber  ein  Ent- 
schluss zwischen  zwei  Augenblicken  liegen  ?  Das  können 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  85 

mur  jene  Entschliessungen,  zu  denen  man  im  Schlafe 
kommt.  Nur  unwillkürliclie  Akte  können  unbewusst 
sein.  Kierkegaard  hat  sich  aber  den  ,, Sprung"  doch 
schwerlich  als  eine  Reflexbewegung  gedacht!  — 

Sehen   wir  genauer   hin,    so     schiebt    Kierkegaard 
a,uch   schliesslich    die   Entscheidung    unwillkürlich   dem 
«rsten    der   zwei  Augenblicke   zu,    zwischen    denen   sie 
nach    seiner   Behauptung   liegen    soll.      Denn    die  Ent- 
■scheidung  liegt  doch  eigentlich  in  dem  Augenblick,  da 
„das  Individuum  in  der  Ohnmacht  der  Angst  zu  Boden 
.sinkt"  (ib.  S.  71  [72]).   Wir  bekommen  dann  eine  Kau- 
.salitätsreihe :   Angst — Schwindel — Hinsinken — Fall,  und 
was  ist  nun  aus  dem  Sprung  geworden?    Wer  hinsinkt, 
springt  nicht;    das  Hinsinken  ist   (selbst  wenn  man  in 
dem  Hinsinken  vielmehr  sich   zu  Boden   sinken  las  st) 
nichts  anderes   als  ein  beginnendes  Fallen,    ein  Fallen, 
das  verhindert  werden  könnte  —  wenn  man  nicht  gerade 
an    einem    Abgrund    stünde.  —  Noch    deutlicher    tritt 
dieses  Zurückverlegen   der  Entscheidung   in   einer   zum 
Teil  schon   angeführten  Stelle   hervor:    „Wessen  Auge 
veranlasst  wird,    in   eine    gähnende   Tiefe    hinunter   zu 
.schauen,    der    wird    schwindlig.     Worin    liegt    aber 
die    Ursache   hievon?     Ebenso   sehr   in   seinem 
Auge  wie  in  dem  Abgrund;  —  wenn  er  nur  nicht 
hinunterstierte!"  („Angst"  S.58[58]).   Die  Schuld  liegt 
also  nur  teilweise   am  Auge ;   Kierkegaard   giebt   auch 
hier  sein  Entweder— Oder  auf.     Was   aber  die  Haupt- 
sache ist:  hat  das  Auge  hier  eine  Schuld?     Es  ist  ein 
unwillkürlicher    Trieb,    das    Auge    umherschweifen    zu 
lassen,    ein    Trieb,    den  man    nicht  böse  nennen   kann. 
Dass  das  Auge  bei  diesem  seinem  unwillkürlichen  Um- 
herschweifen,   das  der  Weg   zu  allen   bedeutungsvollen 
Erfahrungen    und  damit  zu  jeder   höheren  Entwicklung 
ist,    nun   unter    anderem   auch    an   den  Abgrund   gerät 
und  diesen  mit  unwillkürlicher  Aufmerksamkeit  betrachtet, 
kann  nicht  seine  eigene  Schuld  sein;  es  wusste  ja  nicht 


86  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

zum  voraus,  dass  der  Abgrund  da  sei,  wusste  auch 
nicht,  was  ein  Abgrund  ist.  Und  wenn  der  Schwindel 
dadurch  erwacht,  dass  die  Vorstellung  von  dem  mög^- 
lichen  Fall  entsteht  und  auf  den  Sinn  einwirkt,  so  ist 
darin  wohl  ein  Übergang  vom  Unwillkürlichen  zum 
Willkürlichen  (insoweit  man  unter  Willkür  ein  Ver- 
halten versteht,  das  durch  vorausgehende  Vorstellungen 
bestimmt  wird) ;  dieser  Übergang  selbst  geht  ja  aber 
unwillkürlich  vorsieh,  kraft  des  Gesetzes  der  Ideen- 
assoziation. Selbst  wenn  der  Fall  vorsätzlich  geschieht, 
so  ist  ja  (wie  uns  Shakespere  und  Spinoza  gelehrt 
haben)  ein  Vorsatz  ohne  Erinnerung  nicht  möglich,  und 
die  Erinnerung  kann  sich  ebenso  unwillkürlich  darbieten, 
wie  sich  der  Abgrund  dem  umherschweifenden  Auge 
darbietet.*) 

Es  ist  also  möglich,  die  psychologische  Kontinuität 
noch  weiter  durchzuführen  als  Kierkegaard  es  gethan 
hat,  und  durch  sein  Vorausdatieren  des  Punkts,  auf  den 
er  die  entscheidende  Schuld  verlegt,  räumt  er  im  Grrunde 
ein,  dass  die  Ethik  mit  dem  ^Sprung"  nicht  steht 
und  fällt. 

Kierkegaard  hat  also  im  „Begriff  der  Angst''  der 
Psychologie  weit  mehr  gegeben,  als  er  konsequenterweise 
darf.  Es  waren  aber  nur  vorübergehende  Zugeständnisse. 
Sein  Hauptbegriif  ist  und  bleibt  Entweder— Oder,  der 
Ruck  oder  Sprung  der  qualitativen  Entscheidung;  mit 
ihm  operiert  er  in  seiner  Ethik  überall.  Auch 
in  seinen  streng  religiösen  Schriften,  besonders  später- 
hin, als  seine  Auffassung  des  Christlichen  sich  ver- 
schärfte, ist  keine  Spur,  dass  die  Entscheidung  zwischen 
zwei  Bewusstseinaugenblicken  liegen  soll.  Da  schiebt 
er  alle  Psychologie  beiseite,  indem  er  z.  B.  behauptet: 
;,Auszusagen,    dass    einer    mit    Wissen    das    Unrecht 


*)  Näheres  über  die  hier  berührte  psychologische  Frage  in  meiner 
Psychologie  S.  445  ff.  und  in  meiner  Abhandlang  in  der  Vierteljahrs- 
schrift für  wissenschaftl.  Philosophie  XIV,  204  f.;  301—305. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  87 

thue,  dass  er  das  Unrecht  thue,  während  er  das  Rechte 
weiss,  dazu  hat  das  Grriechentum  nicht  den  Mut". 
(Krankheit  zum  Tode  S.  103  f.  [96].  Was  mit  Wissen 
geschieht,  muss  einen  Augenblick  oder  einen  Zustand 
ausfüllen,  den  man  beobachten  kann.  Kierkegaard  hat 
uns  freilich  diese  Beobachtung  nicht  gegeben.  Er  hat 
nicht  gewollt.    Aber  —  er  hat  auch  nicht  gekonnt. 

b.  Die  Stadien. 

Der  wichtigste  Beitrag  zur  Ethik  aus  Sören  Kierke- 
gaards Feder  ist  seine  Darstellung  der  von  ihm  so 
genannten  „Stadien  des  Lebens*'.  Jedes  Stadium  ist 
ein  Lebenszustand,  eine  Lebensanschauung,  die  Kierke- 
gaard teils  in  dichterischer  Form,  teils  mit  begriiFs- 
mässiger  Strenge  dargestellt  hat,  ohne  dass,  wie  wir 
im  Folgenden  sehen  werden,  die  dichterische  und  die 
philosophische  Darstellung  gegenseitig  immer  mit  einander 
übereinstimmen.  Doch  tritt  seine  glänzende  dichterisch- 
psychologische Begabung  nirgends  so  klar  wie  hier 
hervor.  Eine  vergleichende  Lebensphilosophie  zu  geben 
war  er  ausgerüstet  wie  wenige,  und  was  er  in  seiner 
Weise  und  von  seinem  Standpunkte  aus  in  dieser 
Richtung  geleistet  hat,  wird  unter  andern  Formen  und 
von  andern  Gesichtspunkten  aus  sicher  fortgesetzt  werden. 
Der  Drang  zu  ^^subjektivem  Denken",  zum  Denken  über 
das  Leben  im  engeren  Anschluss  an  das  Leben,  scheint 
sich  immer  mehr  geltend  zu  machen;  und  es  liegt  hier 
eine  Aufgabe  vor,  die  von  blossen  Novellisten  nicht 
befriedigend  gelöst  werden  kann.  Es  muss  tiefer  als 
nur  so  gegraben  werden. 

Der  Übergang  zwischen  den  verschiedenen  Stadien 
vollzieht  sich  nach  Kierkegaard  durch  einen  Sprung, 
wie  wir  ihn  soeben  erörtert  haben.  Innerhalb  jedes 
Stadiums  entfalten  sich  die  Konsequenzen  des  durch 
den  Sprung  gesetzten  Standpunkts.  —  Es  werden  drei 
Hauptstadien    unterschieden:    das   ästhetische,    ethische 


S3  I^>  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

und  religiöse.  Zwischen  dem  ästhetischen  und  dem 
ethischen  Stadium  bildet  die  Ironie  eine  Übergangsform, 
wie  der  Humor  eine  Zwischenform  zwischen  dem  ethischen 
und  dem  religiösen  Stadium  bildet. 

a.  Die   ästhetische  Lebensanschauung. 

1.  Das  erste  Stadium  ist  das  ästhetische.  Es  ist 
im  ersten  Teil  von  „Entweder  — Oder*'  und  in  der  ersten 
Abteilung  der  „Stadien  auf  dem  Lebenswege"  geschildert. 
Was  die  allgemeinen  Begriffsbestimmungen  betrifft,  so 
tritt  das  für  dieses  Stadium  Entscheidende  in  der  Ab- 
handlung ^Die  Wechselwirtschaft,  Versuch  einer  sozialen 
Klugheitslehre''  (im  ersten  Teile  von  Entweder— Oder) 
am  deutlichsten  hervor. 

Diese  Art,  das  Leben  zu  nehmen,  sucht  das  Leben 
in  blosse  Möglichkeiten  zu  verwandeln,  mit  denen  man 
die  Phantasie  ihr  freies  Spiel  treiben  lässt.  Alles  wird 
zum  Gregenstand  des  Geniessens  gemacht.  Dabei  ist 
aber  nicht  sowohl  an  unmittelbaren,  sinnlichen  Genuss 
zu  denken,  wiewohl  dieser  mit  dazu  gehört,  als  vielmehr 
an  die  Willkür,  womit  alles  aufgefasst  und  behandelt 
wird.  ;,In  der  Willkür  liegt  das  ganze  Geheimnis. 
Man  meint,  willkürlich  zu  sein  sei  keine  Kunst;  und 
doch  gehört  ein  tiefes  Studium  dazu,  so  willkürlich  zu 
sein,  dass  man  sich  nicht  selbst  darin  verirrt,  dass  man 
vielmehr  selbst  Vergnügen  davon  hat."  (Entweder  — Oder 
S.  237  [I,  299  f.]).  Die  Hauptsache  ist,  dass  man  sich 
das  ganze  Dasein  in  ein  Kaleidoskop  verwandelt,  das 
man  stets  schüttelt,  um  an  den  verschiedenen  zufälligen 
Kombinationen,  die  so  nach  Willkür  geschaffen  werden 
können,  sein  Vergnügen  zu  haben. 

Damit  man  dieses  freie  Spiel  nach  Belieben  treiben 
kann,  darf  man  sich  nicht  persönlich  in  einem  Lebens- 
verhältnis binden,  nicht  an  einem  Punkt  im  Dasein 
sich  so  niederlassen,  dass  man  festgebunden  würde. 
Denn   dann  würde    der  Hervorbringung   neuer   kaleido- 


ly.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  89 

;skopischer  Situationen  die  Fortsetzung  und  Wiederholung 
des  begonnenen  Lebens  in  den  Weg  treten.  Man  muss 
sich  „in  vollständiger  Schwebe"  halten.  Daher  ist 
wohl  Berührung  mit  Menschen,  oft  auch  eine  kurze  ge- 
meinsame Wanderung  rätlich  —  immer  aber  sichere 
man  sich  eine  solche  Geschwindigkeit,  dass  man  das  Zusam- 
mengehen abbrechen  kann,  wenn  man  will.*)  Freundschaft 
ist  ein  zu  festes  und  solides  Verhältnis.  Und  selbst 
wenn  ein  notwendiger  Bruch  unbehagliche  Erinnerungen 
zurücklassen  sollte,  so  kann  das  Unbehagliche  ja  einen 
pikanten   Beigeschmack    geben,    den    der    Virtuose    des 


*)  Die  ästhetische  Lebensanschanang  nach  Kierkegaards  Schil- 
derung erinnert,  besonders  in  diesem  Zuge,  an  Aristippus  von  Cyrene. 
"Was  er  als  das  Höchste  geltend  machte,  war  allerdings  der  Genuss 
des  Augenblicks;  dieser  aber  war  nach  ihm  gerade  durch  die  voll- 
kommene Freiheit  bedingt,  die  sich  nie  binden  und  gefangen  nehmen 
lässt.  Daher  wollte  er  \\fie  er  nach  Xenophons  Memorabilien  II,  1 
lim  Gespräche  mit  Sokrates  sagt)  in  keine  öffentliche  Stellung  ein- 
treten, sondern  überall  Fremdling  oder  Gast  sein.  (Ovd  slg 
nohTslav  sf-iauTOV  xuTuy.Xdo),  ccXXa  ^svoi;  Tcavraxov  el/iU.) 
Er  will  frei  sein,  weder  Herr  noch  Sklave.  Nach  den  sonst  von 
ihm  berichteten  Zügen  wusste  er  mit  besonderem  Geschick  gegenüber 
•dem  Bestrickenden  im  Genüsse  selbst  sich  seine  Freiheit  zu  wahren. 
In  dieser  Kunst  war  er  ein  wahrer  Virtuos.  Der  Widerspruch  in 
seiner  Lßbensanschauung  bestand  darin,  dass  sie  soviel  Kunst  und 
Vorbereitung  verlangte,  mit  Benutzung  schon  gemachter  Erfahrungen 
und  Vorausberechnnng  der  Zukunft,  dass  mancher  Augenblick 
ohne  unmittelbaren  Genuss  hingehen  mnsste.  Genau  genommen 
•musste  für  Aristippus  das  Höchste  die  Virtuosität  selbst  sein  —  und 
so  ist  es  auch  bei  dem  moderneu  Hedonismus,  wie  ihn  Kierkegaard 
beschreibt.  Bezeichnend  für  den  Unterschied  zwischen  der  modernen 
und  der  antiken  Lebensauffassung  ist  es  gerade,  dass  in  dem  heutigen 
Hedonismus  ein  ganz  besonderes  Gewicht  auf  die  Willkür,  auf  das 
aktive  Experimentieren,  das  bewnsste  Schaffen  von  Situationen  ge- 
legt wird.  Bei  Aristippus  äussert  sich  die  Willkür  bloss  in  der 
Kunst,  sich  die  Freiheit  der  Wahl  zwischen  dem,  was  sich  darbietet, 
nicht  nehmen  zu  lassen;  es  fehlt  das  etwas  romantische  Arrangieren, 
'Welches  das  grössere  Selbstbewusstsein  unserer  Zeit  und  zugleich 
ihr  weniger  naives  und  zuversichtliches  Verhältnis  zum  Leben  mit 
sich  bringt. 


90  I^«  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Genusses  gerne  mitnimmt.  Ahnlicli  ist  es  mit  der  Ehe^ 
Die  Liebe  hat  ihre  Zeit;  gelobt  man  aber,  dass  sie 
ewig  währen  soll,  so  gelobt  man  mehr,  als  man  halten 
kann.  Und  zudem  ist  bei  der  Ehe  die  Gefahr,  dass 
man  seine  Freiheit  verliert :  „man  kann  sieh  nicht  Reise- 
stiefel bestellen,  wann  man  will,  man  kann  nicht  unstät 
umherflanieren."  („Wohl  hat  man  Beispiele,  dass  eine 
Zigeunerin  ihren  Mann  auf  dem  Rücken  durch's  Leben 
getragen  hat;  das  ist  aber  einerseits  eine  Seltenheit,, 
andererseits  auf  die  Länge  ermüdend  —  für  den  Mann.") 
Endlich  wird  man  durch  den  Eintritt  in  den  Ehestand 
genötigt,  sich  unter  die  Herrschaft  von  Sitte  und  Brauch 
zu  beugen;  eine  ganze  Schar  von  Rücksichten  und 
Pflichten  schliesst  das  willkürliche  TJmhertummeln  aus.. 
Also  wohl  Erotik,  aber  keine  Ehe.  Und  ebenso  wenig 
eine  Berufsarbeit:  damit  würde  man  sich  zu  einem 
Zapfen  in  der  grossen  Gesellschaftsmaschine  machen; 
und  hörte  auf,  selbst  Herr  des  Betriebs  zu  sein.  Man 
soll  natürlich  nicht  unthätig  sein,  sondern  allerlei  brot- 
lose Künste  treiben  und  dafür  sorgen,  dass  die  Be- 
schäftigung stets  das  Gepräge  des  Müssiggangs  behält.  — 
2.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  der  Charakter  dieses 
Stadiums  in  dem  Verhältnis  von  Mann  und  Weib.  Es 
ist  ja  in  diesem  Verhältnis  Gelegenheit  genug  für  die 
Verwertung  der  Wechselwirtschaft  oder  des  Kaleido- 
skops, da  es  eine  ganze  Skala  durchlaufen,  in  sehr 
verschiedenen  Richtungen  vibrieren,  in  den  mancherlei 
abgeleiteten  Verhältnissen  sich  verzweigen  kann.  Hier- 
ist die  Möglichkeit  für  eine  ganze  Reihe  der  entgegen- 
gesetztesten Stimmungen  und  Leidenschaften  geboten : 
vom  frechen  Spott  zum  tiefen  Ernst,  von  leichtfertiger 
Liebelei  zu  herzlicher  Hingebung,  von  aufschäumender 
Begeisterung  zu  besonnener  Treue,  von  brutaler  Regung 
eines  reinen  Naturtriebs  zu  dem  sublimen  Gefühl  gei- 
stiger Zusammengehörigkeit.  Durch  seine  Konsequenzen 
führt    das    Geschlechtsverhältnis     ausserdem    über    die- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  91 

gegenseitigen  Beziehungen  der  einzelnen  Individuen 
hinaus  and  verkettet  sie  mit  dem  Leben  der  Gresellschaft,. 
des  Geschlechts;  es  greift  in  dieses  ein,  wie  andrerseits 
dieses  sein  Geschick  und  seinen  Charakter  bestimmt. 
Hier  ist  also  ein  weiter  Spielraum.  Wird  eine  der 
vielen  Saiten  mit  der  nötigen  Kunst  angeschlagen,  so 
kann  man  eine  grössere  oder  geringere  Anzahl  der  andern- 
mitanklingen  lassen,  ohne  doch  überwältigt  zu  werden.- 
Kein  Wunder,  dass  die  Dichter  hier  zu  allen  Zeiten 
einen  Hauptvorwurf  für  ihre  Arbeit  gefunden  haben. 
Und  eben  darum  hat  Kierkegaard  sein  „ästhetisches 
Stadium"  hauptsächlich  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
geschildert.  Hier  ist  einer  der  Punkte,  wo  er  mit 
vollen  Händen  seine  glänzendsten  Bilder  und  Darstel- 
lungen ausgeschüttet  hat,  und  viele  kennen  ihn  nur  als 
Verfasser  dieses  Teils  seiner  Werke.*)  Hier,  wo  es 
sich  nicht  um  Untersuchung  seiner  litterarischen  Kunst 
und  Grösse  handelt  —  eine  solche  würde  meine  Kraft 
übersteigen  und  ist  ohnedies  schon  in  Georg  Brandes' 
Schrift  so  glänzend  durchgeführt  worden,  dass  ich  nur  auf 
diese  hinzuweisen  brauche  — ,  sondern  um  die  philo- 
sophische Bedeutung  seiner  Darstellung,  kann  ich  mich 
damit  begnügen,  einige  der  besonders  charakteristischen 
Punkte  hervorzuheben. 

„Der  junge  Mensch",  der  dem  ,,Gastmahl"  an- 
wohnt, hält  sich  über  den  komischen  Widerspruch 
an  dem  Verhältnis  der  Liebe  auf,  dass  es  anschei- 
nend die  höchste  Lust  der  Individuen  gilt  — 
und  doch  durch  die  erweckten  Triebe  nur  die  Fort- 
pflanzung der  Art  gesichert  werden  sali.  —  „Die  Lie- 
benden wollen  einander  für  alle  Ewigkeit  angehören.- 
Das  drücken  sie  in  jener  sonderbaren  Weise  aus,  dass 
sie    einander    in    der    Innigkeit    des    Augenblicks    um- 


*)  Johanues  des  Verführers  Tagebuch  im  ersten  Teil  von 
„Entweder-Oder".  Das  Gastmahl  in  der  ersten  Abteilung  der 
„Stadien."  18 


r92  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

;schliessen,    und  alle   selige  Lust    der  Liebe    soll    darin 

liegen Und  doch  sind  sie  betrogen ;  denn  im  selben 

Augenblick  triumphiert  die  Art  über  die  Individuen  ; 
^ie  Art  siegt,  während  die  Individuen  dazu  herabgesetzt 
^ind,  in  ihrem  Dienste  zu  stehen . . .  Wenn  sich  nun  die 
Liebenden  gefunden  haben,  sollte  man  doch  glauben, 
sie  wären  ein  Ganzes,  und  darin  sollte  ja  die  Wahrheit 
dessen  liegen,  dass  sie  für  einander  leben  wollten  in 
alle  Ewigkeit  Aber  sieh,  statt  für  einander  zu  leben, 
leben  sie  für  das  Geschlecht  und  ahnen  es  nicht."  Ob 
dieser  Irrationalität  in  der  Liebe  ist  der  junge  Mensch 
IbetrofFen.  Er  versteht  wohl,  wie  man  dazu  kommen, 
wie  man  davon  ganz  überwältigt  sein  kann  —  aber  die 
Konsequenz  versteht  er  nicht.*) 

Johannes  der  Verführer,  der  letzte  in  der  Reihe 
der  glänzenden  Redner  des  Gastmahls,  giebt  die  prin- 
:zipielle  Stellung  der  „ästhetischen  Lebensanschauung" 
zu  dem  von  dem  jungen  Menschen  vorgebrachten  Problem 
;an.  Er  erzählt,  wie  die  Götter  fürchteten,  der  Mann, 
der  ursprüngliche  Mensch,  möchte  sich  ihr  Joch  viel- 
leicht nicht  gefallen  lassen  und  vielleicht  gar  den 
Himmel  zum  Wanken  bringen  wollen.  Mit  Gewalt 
konnte  er  nicht  bezwungen  werden ;  da  schufen  sie  das 
Weib,  um  ihn  zu  bezaubern  und  ,,ihn  in  alle  Weitläufig- 
ikeiten  der  Endlichkeit  zu  verstricken."  Und  die  Lock- 
speise wirkte  —  doch  nicht  immer.  ,,Zu  allen  Zeiten 
;gab  es  etliche  Männer,  Einzelne,  die  den  Betrug  merkten, 
Sie  sahen  die  Anmut  des  Weibes  wohl,  mehr  als  irgend 
jemand,  allein  sie  ahnten  den  Zusammenhang.  Die  heisse 
ich  Erotiker  und  zähle  mich  selbst  zu  ihnen :  die  Männer 


*)  Vgl.  „Stadiea"  S.  44  f.  [31  f.]  —  Der  ia  der  Rede  des  jongeu 
Menschen  ansgesprochene  Gedanke  wurde  zur  selben  Zeit  (1841,  ein 
Jahr  nach  dem  Erscheinen  von  Eutweder-Oder)  in  mehr  natar- 
^eschichtlicber  Form  von  Schopenhauer  entwickelt,  in  seiner  ,,Meta- 
j)hysik  der  Geschlechtsliebe".  („Welt  als  Wille  und  Vorstellung", 
i..  Teil,  Kap.  44).  V^l.  meine  Psychologie  S.  349-351. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  93* 

heissen  sie  Verführer;  das  "Weib  hat  keinen  Namen  für 
sie ;  so  einer  ist  für  sie  unnennbar.    Diese  Erotiker  sind 
die  Glücklichen.    Sie  leben  üppiger  als  die  Götter ;  denn 
sie  geniessen  immer  nur,  was  köstlicher  ist  als  Ambrosia^, 
und  trinken,    was  süsser  ist  als  Nektar ;    sie  geniessen 
den  reizendsten  Einfall,    den   die  Götter    in    ihrer  List- 
ersinnen konnten;    sie  geniessen  immer  nur  Lockspeise 
—  o  Wollust    ohne  gleichen,    o  seliges  Leben ;    sie  ge- 
niessen immer  nur   die  Lockspeise  —   und    lassen    sich 
nie  fangen.     Die  andern  Männer  greifen  zu  und  geniessen 
die  Lockspeise   wie    der   Bauer    den    Gurkensalat,    und 
werden    gefangen."      (Stadien     auf     dem     Lebenswege- 
S.  80f  [62f].) 

3.  Für    die    ästhetische  Lebensanschauung    ist    das- 
Höchste,    eine  Tangente   an  dem  Kreise  des  Lebens  zu- 
sein, die  momentane  Berührung  zu  erhaschen,  dann  aber 
vermittelst     der    ,,centrifugalen''    Kraft    sich    beizeiten 
davon  zu  machen.     Der  ,,Aesthetiker"    wird  nicht  zum 
Planeten.     Höchstens    lässt    er    sich    —    der  ,, Wechsel- 
wirtschaft" zulieb  —  dazu  herbei,  als  Komet  den  Kreis 
ein  zweitesmal  zu  berühren  —  an  einem  anderen  Punkte. 
Das  Liebesverhältnis  ist  gerade  ein  Verhältnis,  wo  die-  I 
momentane  Berührung,  wie  der  junge  Mensch  mit  Recht- 
befürchtete,    ganz   neue,    unerprobte  Lebensbeziehungen 
und  Aufgaben  veranlassen  kann.    Soll  aber  das  Schweben 
der  Willkür  gewahrt    bleiben,    so    muss   man   beizeiten 
abbrechen.     Ob   grössere    Lebensfülle,    tieferes   Lebens- 
verständnis   und    Lebensgefühl    entstehen  würde,    wenn 
„man  sich  fangen  Hesse"?     Das  weiss  „der  Aesthetiker" 
nicht,    er  will   und   kann  es    nicht    wissen.     Könnte  er 
eine  Ahnung  hievon  haben,    so  wäre  ja  der  Uebergang 
vom    ästhetischen    zum    folgenden    Stadium    nicht    ein 
Sprung,    sondern   könnte    das  Endresultat    einer  voran- 
gehenden Entwicklung  sein.     Es   ist    bezeichnend,    was 
Kierkegaard   in  sein  Handexemplar  von  Entweder-Oder 
eingeschrieben  hat:    „Ein  eigentliches  Liebesverhältnis- 


"^ 


•94  ^^-  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

.ging  im  ersten  Teile  nicht  an;  denn  es  ergreift  einen 
Menschen  immer  so  tief,  dass  er  ins  Ethische  hinein- 
gezogen wird.  Was  ich  brauchen  konnte,  war  nur  eine 
Manchfaltigkeit  erotischer  Stimmungen"(1833— 43,  S.356J. 
Kierkegaard  lässt  unter  dem  „ästhetischen  Stadium** 
Gestalten  auftreten,  die  über  das  Unmittelbare,  Unwill- 
kürliche, Naturwüchsige  schon  weit  hinaus  sind  und 
in  der  Kunst,  je  nach  Willkür  zu  pointieren,  so  eingeübt 
sind,  dass  sie  das  Pikante  nicht  bloss  zu  ergreifen,  son- 
dern auch  da,  wo  es  sich  nicht  von  selbst  darbietet, 
zu  schaffen  wissen.  Dies  ist  ein  Standpunkt,  auf  den 
die  Menschen  nicht  leicht  kommen.  Er  liegt,  wie  schon 
bemerkt,  ziemlich  weiter  draussen  in  der  Reflexion  als 
^er  antike  Hedonismus, 

Hier  erhebt  sich  vom  Standpunkt  einer  vergleichenden 
Lebensphilosophie  aus  der  Einwand,  dass  wir  nicht  er- 
fahren, wie  dieses  Stadium  entsteht.  Wie  Kierkegaard 
selbst  gesehen  hat,  kann  in  dem  Naturtriebe  eine  ziehende 
Macht  liegen,  die  über  das  ästhetische  Stadium  hinaus- 
führt, und  unter  deren  Einfluss  „das  Aesthetische"  nur  ein 
mitwirkender  Faktor  ist.  Woher  denn  also  das  Hemm- 
mis,  das  Abbiegen,  infolge  dessen  das  Individuum,  statt 
die  Bewegung  um  den  Mittelpunkt  fortzusetzen,  unter 
dessen  Einfluss  es  momentan  geraten  war,  in  der 
Richtung  der  berührenden  Geraden  weiterging?  Das 
'^kindliche  Vergessen  des  einen  Augenblicks  über  dem 
andern  ist  etwas  ganz  anderes  als  diese  künstliche  oder 
■erkünstelte  Wechselwirtschaft.  Es  fehlt  eben  die  gene- 
tische oder  evolutionistische  Anschauung  in  der  Kierke- 
gaard sehen  Darstellung  vollständig.  Er  hält  sogar  ab- 
sichtlich die  Kräfte  fern,  die  auf  dem  einen  Stadium 
•eine  Ankündigung  des  nächsten  enthalten  könnten. 
Dadurch  erscheint  (allerdings  der  Theorie  vom  Sprung 
ganz  entsprechend)  jedes  einzelne  Stadium  als  etwas 
vollständig  Fertiges,  Abgeschlossenes,  das  weder  vor- 
noch  rückwärts  weist.     Es   sind  fertige  Gestalten,    die 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  95 

«r  zeichnet.  Sie  haben  „sich  festgefahren'-'^  —  nicht  in 
•eine  bestimmte  Lebensstellung,  sondern  in  die  Weise, 
wie  sie  das  Leben  nehmen.  Sie  haben  alle  Möglich- 
keiten abgethan.  Selbst  die  letzte  Möglichkeit,  die  auf 
dem  Gesetz  der  Reaktion,  auf  der  Tendenz  eines  stark 
gespannten  seelischen  Zustandes  beruht,  in  sein  Gegen- 
teil umzuschlagen,  eine  Möglichkeit  von  sehr  grosser 
Bedeutung  in  der  Entwicklung  des  Seelenlebens,  — 
selbst  sie  scheint  für  diese  „Aesthetiker''  nicht  länger 
zu  bestehen,  bei  denen  Genuss  und  Reflexion  die  Kraft 
eingeschläfert  oder  ausgebrannt  hat,  ohne  die  auch  die 
blosse  Reaktion  (die  ja  eigentlich  ein  Erschlaffangs- 
symptom  ist)  sich  nicht  denken  lässt.  Das  psycho- 
logische Denkexperiment  hat  hier  so  extreme  Gestalten 
geschaffen,  wie  sie  der  wahrscheinliche  Gang  des  Lebens 
nicht  aufweist.  Es  ist  daher  ein  wenig  treffender  Name, 
wenn  Kierkegaard  das,  was  er  schildert,  als  Stadien 
bezeichnet.  Unter  Stadium  denkt  man  sich  ein  Glied 
in  einer  Entwicklung;  von  Kierkegaards  Stadien  aber 
erfährt  man  nicht,  woher  sie  kommen,  und  im  Grunde 
(denn  der  „Sprung"  ist  keine  Antwort)  auch  nicht, 
wohin  sie  gehen.  Seine  Schilderung  erinnert  am  ehesten 
an  Dante's  göttliche  Komödie  mit  ihren  drei  Abteilungen 
• —  und  das  ästhetische  Stadium  entspricht  dann  der 
Hölle,  über  deren  Eingang  geschrieben  steht:  „Ihr,  die 
ihr  eintretet,  lasset  alle  Hoffnung  fahren!" 

Kierkegaard  hat  sich  hiedurch  unleugbar  —  ohne 
■dass  wir  das  in  anderer  Hinsicht  Meisterhafte  in  seiner 
Schilderung  verkennen  wollten  —  die  Aufgabe  leichter 
gemacht,  als  sie  ist.  —  Wie  doch  jede  Weise  zu  denken 
wieder  ihre  besonderen  Gefahren  mit  sich  bringt!  Es 
war  für  die  quantitative  Dialektik  (die  Aufsuchung  der 
Einheit  der  Gegensätze)  eine  Gefahr,  die  Dinge  für 
•einfacher  zu  nehmen  als  sie  sind;  aber  der  qualitativen 
Dialektik,  der  Philosophie  des  Sprungs,  droht,  wie  wir 
sehen,  ganz  dieselbe  Gefahr. 


96  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Wo  irgend  eine  Entwicklung  möglicli  ist,  da  geht 
sie  nicht  von  den  vollständig  fertigen  Gestaltungen  aus^ 
in  die  das  Leben  sich  gleichsam  verrannt  hat,  sondern 
von  den  mehr  unbestimmten,  fiiessenden,  nur  wenig 
difFerentiierten  Formen.  Es  ist  nur  das  populäre  Miss- 
verständnis der  Entwicklungslehre,  das  die  eine  der 
Arten,  die  wir  jetzt  haben,  von  der  andern  {z.  B.  den 
Menschen  vom  Affen)  abstammen  lässt.  Nach  der  Ent- 
wicklungslehre stammen  die  heute  existierenden  Arten 
von  Formen  ab,  die  mit  den  von  ihnen  im  Laufe  der 
Entwicklung  entstandenen  nur  eine  „allgemeine  Ähn- 
lichkeit" hatten,*)  Dies  liegt  einfach  darin,  dass  alle 
Entwicklung  eine  Differenziierung,  eine  Entstehung  von 
Verschiedenheiten  ist.  Wo  alles  im  voraus  pointiert, 
ausgebildet  und  auf  die  äusserste  Spitze  hinausgetrieben 
ist,  da  ist  ein  derartiger  Prozess  unmöglich.  Die  Spitze 
kann  abgebrochen  werden,  es  geht  aber  keine  neue  Form 
daraus  hervor. 

Will  man  daher  verstehen,  wie  aus  einem  gegebenen 
Stadium  sich  ein  neues  entwickeln  kann,  so  darf  man 
sich  an  dasselbe  nicht  in  seiner  vollständig  fertigen 
Form  halten,  man  muss  vielmehr  auf  eine  frühere  Ent- 
wicklungsstufe zurückgehen,  wo  das  jetzt  fertige  defini- 
tive Stadium  in  seinem  Werden  war  und  noch  eine 
weniger  bestimmte  Form  hatte.  Möglichkeiten  giebt  es 
nur,  wo  Werden  und  Unbestimmtheit  ist.  Das  hat  uns 
Kierkegaard  selbst  gelehrt;  er  will  nun  aber  einmal, 
wenn  es  sich  um  die  Entscheidung  handelt,  von  Mög- 
lichkeiten gar  nichts  wissen.  Man  muss  auf  den  Punkt 
zurückgehen,  wo  sich  der  Weg  teilte,  wie  ein  Bahn- 
zug, der  auf  eine  falsche  Linie  geraten  ist,  zur  Weichen- 
stelle zurückkehren  muss.  Am  Scheideweg  findet  die 
eigentliche  Entscheidung  statt.  —  Sie  tritt  aber  nicht 
immer  ins  Bewusstsein,  sie  kann  halb  bewusst  oder 
unbewusst    vor    sich    gehen.     Wir    sind    infolge     einer 

*)  Vrgl.  Darwin,  origin  of  species,  chapt.  9. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  97 

natürlichen  psychologischen  Täuschung  geneigt,  unsere 
Entscheidungen  später  anzusetzen  und  überhaupt  un- 
serer hewussten  Wahl  grössere  Bedeutung  beizulegen, 
als  sie  hat.     Sie  ist  oft  nur  der  bewusste  Schlussstein. 

—  Hier  zeigen  sich  das  psychologische  und  ethische 
Interesse  in  ihrer  Harmonie.  Dem  unmotivierten  und 
unvorbereiteten  Sprung  würden  wir  ganz  hilflos  gegen- 
überstehen und  die  ethischen  Urteile  wären  blosse 
(xefühlsausbrüche  ohne  praktische  Bedeutung,  da  sie 
nur  hinterdrein  kämen  und  auf  den  nächsten  Sprung 
gar  keinen  Einfluss  ausüben  könnten.  Nur  indem  wir 
zu  den  Entwicklungsmöglichkeiten,  also  zu  den  unfer- 
tigen Stadien  zurückgehen,  können  wir  etwas  zur 
Bestimmung  der  Zukunft  thun,  soviel  oder  so  wenig 
dies  nun  sein  mag. 

ß.  Die  ethische  Lebens  anschauung. 
1.  In  der  Auffassung  der  ethischen  Lebensanschau- 
ung ist  eine  Differenz  zwischen  den  dichterischen 
Darstellungen  im  zweiten  Teil  von  „Entweder-Oder", 
im  zweiten  Abschnitt  der  ,, Stadien  auf  dem  Lebens- 
wege" u^nd  in  „Furcht  und  Zittern'^  einerseits  und  der 
philosophischen  Charakteristik  in  der  „Unwissenschaft- 
lichen Nachschrift''  andererseits;  —  eine  Differenz,  die 
sich  als  ein  Widerspruch  erweist,  der  auf  eine  ent- 
scheidende Aenderung  in  Kierkegaards  Ideen  hindeutet.. 

—  Wir  halten  uns  vorerst  an  die  dichterischen  Schil- 
derungen, und  namentlich  an  die  zwei  zuerst  genannten, 
da  „Furcht  und  Zittern"  sich  besser  bei  der  religiösen 
Lebensanschauung  besprechen  lässt. 

Während  das  ästhetische  Stadium  alle  wirklichen 
Verhältnisse  in  blosse  Möglichkeiten  auflöst,  mit  denen 
Phantasie  und  Stimmung  ihr  willkürliches  Spiel  treiben 
können,  sind  im  ethischen  Stadium  Wirklichkeit,  Ernst 
und  Verantwortlichkeit  die  Hauptbestimmungen.  Und 
indem   nun   auch   hier    das  Verhältnis    zwischen    Mann 

Höffding,  S.  Kierkegaard.  7 


9B  ^^'  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

und  "Weib  zur  dichterischen  Beleuchtung  der  Lebens- 
anschaunng  verwendet  wird,  tritt  die  Ehe  als  Ausdruck 
für  das  Ethische  auf.  Die  Ehe  unterscheidet  sich  von 
dem  bloss  erotischen  Verhältnis  dadurch,  dass  zur  Liebe 
ein  Entschluss  hinzu  kommt.  Im  Entschluss  liegt, 
ethisch  betrachtet,  des  Menschen  ganze  Idealität.  Die 
Frage  ist  aber  nun  die  :  wie  können  Ueberlegung  und 
Entschluss  da  Anwendung  finden,  wo  unmittelbares  Ge- 
fühl und  Leidenschaft  scheinbar  allein  das  Wort  führen 
können?  Kierkegaards  Antwort  hierauf  ist  fein  und 
hübsch.  Ueberlegung  und  Entschluss,  sagt  er,  haben 
mit  dem  Liebesverhältnis  selbst  nichts  zu  schaffen :  „Die 
heilige  Stätte  der  Liebe  und  den  geweihten  Boden  der 
Unmittelbarkeit  dürfen  sie  nicht  betreten."  Was  sie 
angeht,  das  ist  nur  „das  Verhältnis  der  Liebe  zur 
Wirklichkeit"  („Stadien"  S.  164  [142]).  Es  handelt 
.sich  darum,  ob  man  aus  dem  Liebesverhältnis  that- 
sächlichen  Ernst  zu  machen  und  dasselbe  gegenüber 
jeder  Gefahr  und  Anfechtung  und  mit  dem  Bewusstsein 
des  Allgemeinmenschlichen  in  dem  Bunde,  der  gestiftet 
wird,  in  die  Wirklichkeit  einzuführen  wagt.  —  Die 
Liebe  wird  also  als  gegeben,  als  das  Konstituierende 
vorausgesetzt,  und  der  Entschluss  tritt  als  die  be- 
schützende Macht  auf,  die  innere  und  äussere  Gefahren 
abwehrt. 

Während  die  Entwicklung,  die  diesen  Gedanken  zu 
teil  wird,  schön  und  reich  ist  (am  gelungensten  in  den 
„Stadien" ,  im  zweiten  Teile  von  ,, Entweder-Oder"  ist  sie 
ziemlich  breit  ausgesponnen),  fehlen,  wie  mir  vorkommen 
will,  verschiedene  psychologische  Bestimmungen.  Kierke- 
gaard hat  einen  zu  starren,  dogmatischen  Begriff  von 
dem  „Entschluss".  Er  tritt  wie  ein  deus  ex  machina 
auf  und  steht  zu  der  „Liebe",  mit  der  er  doch  zum 
Zustandekommen  der  Ehe  die  innigste  Verbindung  ein- 
gehen und  von  der  er,  was  besonders  hervorgehoben 
werden  muss,  ursprünglich  hervorgerufen  und  bestimmt 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  99 

sein  soll,  in  einer  ziemlich  äusserlichen  Beziehung.  Der 
hfitrelFende  Entschluss  muss  aus  der  Persönlichkeit  des 
Individuums,  seinem  realen  Selbst  hervorgegangen  sein, 
und  zwar  in  der  Weise,  wie  dieses  Zentrale  im  Indivi- 
duum durch  die  neu  erwachte  Leidenschaft  bestimmt 
wird.  Eine  ganze  Reihe  von  Fällen  ist  hier  möglich  : 
die  Liebe  kann  das  innerste  Ich  in  mannigfacher,  ver- 
schiedener "Weise  beeinflussen.  Sie  kann  dasselbe  um- 
schliessen  und  decken,  oder  aber  auch  nur  in  derPeripherie 
berühren :  sie  kann  ganz  neue  Elemente  in  ihm  ins  Leben 
rufen,  es  ergänzen  und  erweitern,  kann  es  aber  auch 
o:leich  einer  dämonischen  Macht  einengen  und  isolieren. 
Und  diese  verschiedenen  Wirkungsweisen  können  bei  dem- 
selben Individuum  in  demselben  Liebesverhältnis  successiv 
auftreten.  Die  Grundlage  aber,  worauf  der  genannte 
Entschluss  ruht,  nämlich  das  Verhältnis  zwischen  dem 
neuen  Gefühl  und  dem  Zentralen  im  Ich,  kann  daher 
unbestimmt  und  wechselnd  sein;  in  den  motivierenden 
Voraussetzungen  des  Entschlusses  laufen  vielleicht  ver- 
schiedene Illusionen  und  Anticipationen  mit  unter.  Und 
hiezu  kommt  noch  (was  ich  S.  204f  meiner  Ethik  be- 
sonders hervorgehoben  habe),  dass  die  Charaktere  in 
der  Lebensperiode,  worin  der  Eintritt  in  die  Ehe  am 
häufigsten  erfolgt,  noch  nicht  vollständig  entwickelt 
sind.  Selbst  die  Uebereinstimmung  oder  den  ergänzenden 
Gegensatz,  die  die  Ehe  möglich  und  glücklich  machen, 
vorausgesetzt,  so  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  die  fort- 
gesetzte Entwicklung  der  zwei  Charaktere  in  derselben 
Richtung  weiter  gehe ;  sie  können  beide  sich  tüchtig 
und  gesund  entwickeln  —  und  doch  können  sich  ihre 
Wege  scheiden.  Auf  die  Probleme,  die  hiedurch  ent- 
stehen, und  auf  die  Tragödien,  die  sich  da  ergeben 
können,  geht  Kierkegaard  nicht  ein.  Es  hängt  das 
zusammen  mit  dem  psychologischen  Dogmatismus  in 
.seinem  BegriiF  des  Entschlusses,  nicht  minder  aber 
auch  mit  einem  Dogmatismus  in  seinem  Begriff  der  Ehe. 

7* 


100 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosoph!«. 


Er  sieht  sie  bloss  in  ihrer  idealen  Gestalt  als  etwa» 
vollkommen  Fertiges  und  erklärt  dann :  alles  oder  nichts. 
Endlich  hängt  es  auch  damit  zusammen,  dass  ihm  die 
Ehe  eine  religiöse  Institution  ist.  Jener  Entschluss 
wird  in  seinen  Augen  ohne  religiöse  Sanktion  nicht  mög- 
lich. Und  was  das  Weib  betrifft,  so  ist  —  bezeichnend 
für  seine  Autfassung  des  Weibes  —  bei  ihr  von  Ent- 
schluss nicht  die  Rede:  „Eine  weibliehe  Seele  hat  nicht 
die  Reflexion,  die  der  Mann  hat,  und  soll  sie  nicht 
haben.  Sie  soll  daher  auch  nicht  zum  Entschluss- 
kommen, vielmehr  gelangt  sie,  hurtig  wie  der  Vogel, 
von  der  ästhetischen  Unmittelbarkeit  direkt  zur  religi- 
ösen." (Stadien"  S.  170  [148].)  Für  das  Weib  fällt  also, 
das  ethische  Stadium  weg !  Und  für  den  Mann  eigentlich 
auch,  da  der  ,, Entschluss''  nicht  ohne  religiöse  Voraus- 
setzungen denkbar  sein  soll.  —  Es  wird  auch  im  Fol- 
genden sich  von  mehreren  Seiten  zeigen,  wie  in  Kierke- 
gaards Darstellung  die  ethische  Lebensanschauung  zu 
kurz  kommt. 

2.  Beim  Übergang  vom  ästhetischen  zum  ethischen 
Stadium  spielt  der  Begriff  der  Wiederholung  eine 
wichtige  Rolle.  Er  ist  mit  dem  Entschluss  verwandt, 
fällt  aber  mit  ihm  doch  nicht  zusammen.  Er  bildet,, 
wie  der  Entschluss,  eine  Grrenzscheide  zwischen  dem 
Ästhetischen  und  dem  Ethischen.  Es  ist  ästhetisch,, 
sich  in  Stimmungen  und  Eindrücken  zu  wiegen,  nur 
sollten  diese  dann  womöglich  neu  und  wechselnd  sein. 
Ethisch  ist  es,  dass  man  mit  Innigkeit  und  Treue  zu 
derselben  Sache  zurückkehrt ;  die  Wiederholung  ist  ge- 
wissermassen  die  ethische  Kunst:  „die  Losung  in  jeder 
ethischen  Anschauung".  Die  Wiederholung  spielt  aber 
nicht  bloss  beim  Zustandekommen  des  Entschlusses  eine 
Rolle,  sie  tritt  beim  Übergang  des  Entschlusses  zur 
Handlung  wieder  auf.  Im  Entschlüsse  habe  ich  der 
Handlung  vorgegriffen;  der  Entschluss  ist  eine  ideelle, 
eine    mögliche    Handlung ;    nun    aber    gilt    es,    ob    ick 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  101 

wiederholen  kann,  d.  h.  ob  ich  das  Mögliche  in  Wirk- 
lichkeit umsetzen  kann,  obgleich  die  Wirklichkeit  hier  ja 
nur  eine  Wiederholung  des  in  der  Möglichkeit  Enthaltenen 
ist.  Und  nochmals  tritt  die  Wiederholung  auf,  wenn 
ich  meinen  Entschluss  siegreich  durchgeführt,  meine 
Sache  gewonnen  habe.  Denn  im  Siegesrausch  gilt  es, 
die  Aufgabe  nicht  zu  vergessen,  dass  man  das  Gre- 
•wonnene  geltend  mache,  das  Ausgeführte  fortsetze. 
„Charakter  besteht  nicht  sowohl  darin,  dass  man  siegt, 
als  darin,  dass  man  standhält,  nachdem  man  gesiegt 
liat,  dass  man  sich  im  Charakter  hält."  („Die  Wieder- 
holung, ein  Versuch  in  der  experimentierenden  Psycho- 
logie", S.  34.  —  1833—43,  S.  439;   1849,  S.  243.) 

Der  Begriff  der  Wiederholung  stellt  Kierkegaards 
Philosophie  in  bezeichnenden  Gegensatz  zu  Hegels  Lehre 
von  der  „Vermittlung",  von  der  Versöhnung  der  Gegen- 
.sätze  in  einer  höheren  Einheit.  „Die  Wiederholung", 
.sagt  Kierkegaard,  „ist  eigentlich  das,  was  man  fälsch- 
lich die  Mediation  genannt  hat."  (Die  Wiederholung 
S.  33.)  Der  Fehler  bestand  darin,  dass  man  die  Ver- 
.söhnung  der  Gegensätze  als  selbstverständlich  ansah, 
als  wäre  sie  schon  durch  die  Natur  der  gegensätzlichen 
Glieder  selbst  hervorgerufen.  Dies  ist  auf  dem  Gebiete 
des  Willenslebens  nach  Kierkegaard  nicht  der  Fall. 
Es  gehört  ein  psychologisch  unerklärlicher  Willensakt 
her,  um  die  streitenden  Elemente  zu  verbinden;  es 
kommt  also  zu  diesen  ein  neuer  Faktor  hinzu.  Dies  macht, 
dass  Kierkegaard,  wie  schon  gesagt,  die  Analogie  zwischen 
geistiger  und  organischer  Entwicklung  leugnet.  Nach 
Hegels  Auffassung  entsteht  die  höhere  Einheit  dadurch, 
dass  man  von  dem  zweiten  Gliede  des  Gegensatzes  zu 
dem  ersten  zurückkehrt;  aber  eben  dieses  Zurückkehren 
ist  für  Kierkegaard  das  grosse  Problem,  das,  was  die 
Grenzscheide  zwischen  der  ästhetischen  und  der  ethi- 
schen Lebensanschauung  bezeichnet.  Es  giebt  den 
Punkt  an,  wo    das  Eingreifen    des  Willens,    also,  nach 


102  I^'  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Kierkegaard,  der  Ruck,  der  Sprung,  stattfinden  muss. 
Aesthetiscli  geht  man  ja  in  der  Richtung  der  Tangente ; 
es  muss  eine  besondere  Kraft  postuliert  werden,  die 
den  Planeten  in  der  Bewegung  um  dasselbe  Zentrum 
festhalten  kann. 

In  der  „Wiederholung"  hat  Kierkegaard  die  Be- 
deutung dieses  Begriffs  unter  einer  verschwenderischen 
Fülle  dichterischer  Ausstattung  entwickelt,  die  sie  zu 
einer  Perle  in  der  reichen  Schatzkammer  seiner  Werke 
macht,  obwohl  sich  dieser  dichterische  Apparat  unver- 
kennbar auf  Kosten  des  Begriffs  und  des  Gedankens, 
breit  macht,  Kierkegaard  beklagte  sich  höchlich  über 
Heiberg,  dass  er  seine  Meinung  missverstanden  habe; 
allein  er  hatte  nicht  genug  gethan,  um  sich  ein  klares 
Verständnis  zu  sichern.  —  Ich  kann  nicht  umhin,  einen 
Passus  (S.  4 — 6)  der  genannten  Schrift,  der  des  Ver- 
fassers Idee  auf's  schönste  zum  Ausdruck  bringt,  an- 
zuführen. 

„Die  Hoffnung  ist  ein  neues  Gewand,  steif  und 
stramm  und  glänzend;  doch  man  hat  es  noch  nie  ge- 
tragen und  weiss  daher  nicht,  wie  es  einen  kleiden 
wird  oder  wie  es  sitzt.  Die  Erinnerung  ist  ein  abge- 
legtes Gewand,  das,  so  schön  es  auch  ist,  doch  nicht 
passt,  weil  man  ihm  entwachsen  ist.  Die  Wiederholung 
ist  ein  unzerreissbares  Gewand,  das  fest  und  weich 
anschliesst,  nicht  drückt,  noch  Falten  wirft.  Die  Hoff- 
nung ist  ein  anmutiges  Mädchen,  das  einem  zwischen 
den  Händen  entschlüpft ;  die  Erinnerung  ist  eine  schöne 
Matrone,  mit  der  einem  im  Augenblick  doch  nie  gedient 
ist ;  die  Wiederholung  ist  eine  liebe  Hausfrau,  die  einem 
nie  entleidet  ....  Man  muss  jung  sein,  um  in  der 
Hoffnung,  jung  um  in  der  Erinnerung  zu  leben;  aber 
es  gehört  Mut  dazu,  die  Wiederholung  zu  wollen.  Wer 
nur  hoffen  will,  ist  feige;  wer  bloss  sich  erinnern  will, 
ist  wollüstig;  wer  aber  die  Wiederholung  will,  der 
ist   ein  Mann,   und  je   gründlicher  er   sie   sich    klar  zu 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie  103 

machen  gewusst  hat,  ein  um  so  tieferer  Mensch  ist  er. 
Wer  aber  nicht  fasst,  dass  das  Leben  eine  Wiederholung 
ist  und  dass  dies  des  Lebens  Schönheit  ist,  der  hat 
sich  selbst  gerichtet  und  verdient  nichts  Besseres  als 
dass  er  umkommt,  was  auch  geschehen  wird;  denn  die 
Hoffnung  ist  eine  winkende  Frucht,  die  nicht  sättigt, 
die  Erinnerung  ein  kümmerlicher  Zehrpfennig,  der  nicht 
sättigt;  die  Wiederholung  aber  ist  das  tägliche  Brot, 
das  mit  Segen  sättigt.  Wenn  man  das  Dasein  umsegelt 
hat,  so  soll  sich's  weisen,  ob  man  Mut  hat,  zu  verstehen, 
dass  das  Leben  eine  Wiederholung  ist,  ob  man  Lust 
hat,  sich  ihrer  zu  freuen.  Ja,  was  wäre  denn  auch  das 
Leben,  wenn  keine  Wiederholung  wäre?  Wer  könnte 
wünschen,  eine  Tafel  zu  sein,  worauf  die  Zeit  jeden 
Augenblick  eine  neue  Schrift  schriebe  oder  nur  die 
Erinnerung  an  das  Vergangene  aufzeichnete?  Wer 
könnte  wünschen,  von  allem  dem  Flüchtigen,  dem  Neuen 
sich  bewegen  zu  lassen,  das  der  Seele  immer  nur  eine 
weichliche  Ergötz ung  bietet?" 

Es  zeigt  sich  doch  auch  bei  dem  Begriff  der  Wieder- 
holung, dass  das  ethische  und  das  religiöse  Stadium 
nicht  auseinander  gehalten  werden.  Denn  die  Wieder- 
holung, die  bei  Kierkegaard  ja  eigentlich  Wollen, 
Handeln,  aktives  Eingreifen  bedeutet  und  die  er  daher 
die  Losung  der  ethischen  Anschauung  nennt,  ist  für  ihn 
doch  eigentlich  eine  religiöse  Kategorie.  Dem  jungen 
Mann,  der  in  der  ,, Wiederholung"  geschildert  wii'd, 
gelingt  es  nur  durch  eine  religiöse  Bewegung,  das  Leben 
zu  wiederholen,  es  wirklich  zu  leben.  Wiederholung 
bedeutet  überhaupt  Konzentration,  Einkehr  und  Ver- 
tiefung in  sich  selbst  —  und  da  nun  nach  Kierkegaard 
das  tiefste  Selbstverständnis  in  dem  Religiösen  erreicht 
wird,  so  ist  es  erklärlich,  wie  die  Wiederholung,  die 
zuerst  die  Grenzscheide  zwischen  dem  Aesthetischen  und 
dem  Ethischen  bezeichnet,  auch  als  religiöser  Begriff 
auftreten  kann. 


104 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 


Die  Wiederholung  ist  jedoch,  mag  sie  nun  ethisch 
oder  religiös  aufgefasst  werden,  nach  Kierkegaard  psy- 
chologisch nicht  zu  begründen.  Sie  ist  „transcendent", 
setzt  einerseits  einen  „Ruck  der  Entscheidung",  anderer- 
seits eine  Beziehung  auf  ein  übernatürliches  Prinzip 
voraus.  Auch  hier  ist  er  sicher  von  der  Psychologie 
selbst  zu  bald  abgesprungen.  Was  die  Gefühle  betrifft, 
die  mit  einem  reicheren  Gedankeninhalt  verbunden  sind 
—  und  von  der  Art  sind  besonders  die,  die  dem  Verhältnis 
zu  andern  Persönlichkeiten  entspringen,  —  so  ist  ihre 
Wiederholung  kraft  der  allgemeinen  psychologischen 
Gesetze  sehr  wohl  verständlich.  Da  ich  mich  jedoch 
anderwärts  (Psychologie,  S.  388—  392)  eingehender  hier- 
über ausgesprochen  habe,  und  zwar  mit  besonderer  Rück- 
sicht auf  Kierkegaard,  so  will  ich  mich  hier  nicht  weiter 
darauf  einlassen. 

3.  Während  Kierkegaard  in  seinen  dichterischen 
Werken  als  bezeichnendsten  Ausdruck  des  ethischen 
Stadiums  die  Ehe  benutzte,  wird  ihm  später  (in  der 
„unwissenschaftlichen  Nachschrift)  ein  ganz  anderer 
Begriff  der  ethische  Hauptbegriff,  nämlich  der  Begriff 
des  Einzelnen.  Ethisch  angesehen  hat  das  Indivi- 
duum nur  mit  sich  selbst  zu  thun,  ist  hier  seine  These. 
,.Die  eigene  ethische  Wirklichkeit  des  Individuums  ist 
die  einzige  Wirklichkeit"  (S.  301).  „Ethisch  betrachtet 
giebt  es  kein  direktes  Verhältnis  zwischen  Subjekt 
und  Subjekt"  (S.  296).  Das  Innere  des  Andern  kenne 
ick  nur  als  Möglichkeit;  —  unmittelbar  wirklich  ist 
mir  nur  mein  eigenes  Innere:  hier  also  ist  die  Welt 
für  mein  Handeln. 

Zwischen  der  dichterischen  und  der  philosophischen 
Darstellung  besteht  ein  Widerspruch,  auf  den  Kierke- 
gaard nicht  aufmerksam  geworden  ist  Wenn  ein  un- 
geheurer Abstand  zwischen  Individuum  und  Individuum 
angenommen  wird  und  jeder  nur  mit  sich  selbst  zu 
thun  hat:    wie   kann   dann    das  Zusammenleben  zweier 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  105 

Individuen  ohne  weiteres  den  Typus  für  das  Ethische 
abgeben?  —  Dass  er  jetzt  das  Gemeinschaftsleben  im 
Verhältnis  gegen  die  Betonung  des  für  sich  existierenden 
Einzelnen  zurücktreten  lässt :  diese  Veränderung  markiert 
das  Auftreten  eines  der  bedeutungsvollsten  Gedanken 
Kierkegaards,  auch  stimmt  sie  zu  seiner  Grundanschau- 
.ung ;  durch  die  weiteren  Entwicklungen  aber,  die  sich 
daran  knüpfen,  bildet  sie  zugleich  den  Übergang  zu 
•einer  religiös-asketischen  Ethik.  Er  kommt  von  dem 
Gemeinschaftsleben  so  ab,  dass  er  sich  später  nicht 
wieder  zu  ihm  zurückfindet. 

,,Der  Einzelne"  tritt  meines  Wissens  zum  erstenmal 
im  Vorwort  zu  den  ,,Zwei  erbaulichen  Eeden"  auf,  die 
im  Frühling  1843,  einige  Monate  nach  ,, Entweder— Oder", 
erschienen.  Kierkegaard  berichtet  hier,  wie  er  mit 
seinem  Auge  das  Schriftchen  auf  seiner  Wanderung 
^begleitete  „Ich  sah  denn,  wie  es  auf  einsamen  Pfaden 
•oder  einsam  auf  den  vielbetretenen  dahin  ging.  Nach 
'dem  einen  oder  andern  kleinen  Missverständnis  traf  es 
-endlich  jenen  Einzelnen,  den  ich  mit  Freude  und  Dank 
meinen  Leser  nenne,  jenen  Einzelnen,  den  es  sucht, 
nach  dem  es  gleichsam  seine  Arme  ausstreckt."  — 
Kierkegaard  erzählt  (1833—43,  S.  410),  er  habe  sich 
vorgenommen  gehabt,  dieses  Vorwort  zu  streichen,  und 
sei  daher  in  die  Druckerei  gegangen,  wo  es  bereits 
gesetzt  war ;  der  Setzer  aber,  den  es  gerührt  hatte,  bat 
ihn,  es  doch  stehen  zu  lassen,  und  Kierkegaard  dachte 
'einen  Augenblick  daran,  nur  zwei  Exemplare  drucken 
.zu  lassen  und  dem  Setzer  das  eine  zu  schenken:  dann 
könnte  ja  er  der  Einzelne  sein!  —  So  buchstäblich 
^nahm  ers  nun  mit  seinem  „einzelnen"  Leser  doch  nicht. 
In  seiner  Ethik  aber  machte  er  mit  diesem  Begriff  um 
so  mehr  Ernst.  Beachtet  man,  was  er  in  seinen  Schriften 
lund  hinterlassenen  Papieren  da  und  dort  sagt,  um  die 
Bedeutung  zu  erklären,  die  er  diesem  Begriff  beimisst,  so 
.erweisen  sich  folgende  Gesichtspunkte  als  die  wichtigsten. 


106  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

a)  In  dem  einzelnen  Individuum  spielen  sich  die- 
Vorkommnisse  ab,  die  dem  geistigen  Leben  Wert  ver- 
leihen ;  hier  liegen  die  Aufgaben,  und  hier  haben  die 
Entscheidungen  vor  sich  zu  gehen.  Das  Greschlecht  ist 
ein  Phantom,  ein  phantastisches  Medium;  nur  die  ein- 
zelnen Individuen  sind  Realitäten,  und  zwar  i.st  jeder 
nur  für  sich  selbst  unmittelbare  Realität.  Wenn  das 
Geschlecht  je  ein  Ziel  hat,  so  geht  das  jedenfalls  den. 
Einzelnen  nichts  an.     (,, Nachschrift"  S.   135  f.) 

b)  Was  andere  für  mich  thun  können,  ist  nur  dies, 
dass  sie  aufweckend  auf  mich  einwirken;  und  dies  ge- 
schieht mehr  indirekt  als  direkt  und  ist  eine  schwierige 
Kunst,  die  Kunst,  die  Sokrates  übte,  die  nur  wenige 
gleich  ihm  zu  üben  verstehen.  Der  Einzelne  ist  die 
,, Kategorie  für  die  geistige  Weckung",  der  Engpass, 
den  das  Geschlecht  passieren  muss,  um  das  Höchste  zu 
erreichen.  (Der  Gesichtspunkt  für  meine  schriftstellerische 
Wirksamkeit  S.  105,  108.)  Der  eine  Mensch  kann  den. 
andern  nicht  beurteilen,  weil  er  ihn  in  seiner  Wirklich- 
keit nicht  kennen  kann  (Unwissensch.  Nachschrift  S.  29 7); 
andererseits  aber  kann  ein  Mensch  auch  nur  sehr  wenig 
für  den  andern  sein  und  thun,  und  Kierkegaard  sagt 
von  sich  selbst :  „Soweit  meine  Erinnerung  zurückreicht, 
war  ich  über  eines  mit  mir  im  Reinen:  dass  für  mich 
bei  andern  kein  Trost  und  keine  Hilfe  zu  suchen  sei." 
(Gesichtspunkt,  S.  61.) 

c)  Und  es  handelt  sich  ethisch  betrachtet  nicht 
bloss  im  grossen  Ganzen  nur  um  Selbstthätigkeit ;  son- 
dern auch  in  Betreff  dessen,  wie  weit  und  hoch  es  jeder 
Einzelne  je  in  seinem  Wollen  und  Handeln  bringen  soll, 
ist  er  auf  sich  selbst  angewiesen.  Des  Manneswillens- 
Quantum-satis  (um  einen  Ausdruck  aus  Henrik  Ibsens 
„Brand^  zu  benutzen,  der  hier  wie  an  mehreren  Punkten 
ein  poetischer  Kommentar  zu  Sören  Kierkegaard  ist)  — 
kann  nur  der  Einzelne  selbst  finden.  Kein  anderer  kann, 
ihm  sagen,    wo    die  Grenze    liegt   zwischen  Mangel  an. 


IV.  Sören  Kierkegaarda  Philosophie.  lOT 

Willen  und  Mangel  an  Kraft,  zwischen  Thorheit  oder 
Selbstsucht  und  der  allem  Endlichen  anhaftenden  Be- 
schränktheit. („Nachschrift"  S.  458.)  Andere  werden 
ihn  am  liebsten  daran  hindern,  dass  er  sich  zu  weit 
hinaus  wage,  werden  zu  ihm  sagen:  ,,Schone  dich!  das^ 
widerfahre  dir  ja  nicht!"  „Ein  Mensch  kann  von  sich 
selbst  Anstrengungen  verlangen,  von  denen  ihm  der 
wohlwollendste  Freund,  wenn  er  darum  wüsste,  abratem 
würde  . . .  Jeder,  der  in  Wahrheit  sein  Leben  gewagt, 
hat  den  Massstab  benützt,  den  man  nur  schweigend 
für  sich  haben  kann."  („Nachschrift"  S.  514;  vgl.  „Ein- 
übung" S.  143  [129].)  Und  das  ist  um  so  viel  wichtiger,  als 
man  erst  durch  das  Wagen  recht  aufmerksam  auf  sich 
selbst  wird,  hinter  sein  innerstes  Wesen  kommt!  (Krank- 
heit zum  Tode  S.  29  [30].) 

d)  Es  ist  wichtig,  dass  man  sofort  handle,  sobald- 
man  die  rechte  Erkenntnis  gewonnen  hat.  Lässt  man' 
erst  eine  Zeit  drüber  hingehen,  so  ,, kommt  die  Erkennt- 
nis aus  dem  Kochen".  So  wird  es  aber  leicht  gehen^ 
wenn  ich  mit  ihrer  Anwendung  warte,  bis  ich  die  Welt 
umschafFen  kann,  statt  dass  ich  mit  dem  beginne,  was- 
mir  zunächst  liegt:  mit  mir  selbst.  Daher  kommt  es, 
dass  unsere  Handlungen  sich  zu  unserem  Verständnis 
verhalten  —  nicht  wie  der  treue  Abdruck  zu  dem  Urbild, 
sondern  —  jjwie  das  Löschpapier  zur  Schrift,  auf 
der  es  gelegen  !"  (Krankheit  zum  Tode  S.102f  [95] ;  Richtet 
selbst  S.  32.) 

e)  „Jeder  Mensch  ist  herrlich  angelegt,  was  aber 
so  viele  zu  Grunde  richtet,  das  ist  unter  anderem  auch 
diese  unselige  Schwatzhaftigkeit  unter  den  Menscheni 
über  das,  was  man  leiden,  aber  auch  erst  in  der  Stille 
heran  reifen  lassen  soll."  (,, Nachschrift"  S.  457.)  Der 
Einzelne  —  ,, nicht  ein  einzelner  Ausgezeichneter,  sondern 
jeder  Einzelne"  —  steht  über  dem  Geschlecht.  Hierim 
liegt  das  eigentlich  Menschliche,  das,  was  den  Menschen, 
vom    Tiere  unterscheidet.    (Gesichtspunkt,    S.    68.)     Iclv 


t08  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

habe  daher  kein  Recht,  vom  Höchsten  in  mir  mit 
andern  Menschen  zu  reden.  (1850,  S.  343.)  —  Dadurch 
wird  auch  verständlich,  was  schon  berührt  wurde,  dass 
die  Ironie  eine  Uebergangsstufe  zwischen  dem  Aesthe- 
^ischen  und  dem  Ethischen  ist.  Der  Ironiker  kann  (wie 
Sokratea)  von  der  ethischen  Forderung  ergriffen  sein, 
•er  steht  aber  unter  dem  Eindruck  des  Gegensatzes 
zwischen  dem,  was  so  in  seinem  Innern  ist,  und  der 
äusseren  Wirklichkeit;  die  Inkommensurabilität  zwischen 
dem  Inneren  und  Aeusseren  drückt  er  damit  aus,  dass 
•er  sich  selbst  als  etwas  Endliches  und  Gleichgültiges 
unter  dem  vielen  Endlichen  und  Gleichgültigen  im 
Dasein  behandelt.  Ein  Ethik  er  kann  die  Ironie  als 
Inkognito  benutzen,  um  nicht  durch  das  Missverhältnis 
zwischen  dem,  was  ihn,  und  dem,  was  die  Welt  begei- 
stert, komisch  zu  werden.  Hiedurch  unterscheidet  er 
sich  von  einem  ,, unmittelbar  Begeisterten,  der  früh 
*md  spät  in  die  Welt  hinausschreit  und  jederzeit  vom 
Kothurn  herab  die  Leute  mit  seiner  Begeisterung  plagt, 
ohne  zu  merken,  dass  das  diese  keineswegs  begeistert." 
Der  Ironiker  muss  aber  nicht  notwendig  Ethiker  sein  ; 
.er  kann  auch  die  blosse  Eorm  einstudiert  haben.*) 

Die  hohe  Bedeutung  des  Begriffs  des  „Einzelnen" 
•für  die  Verwirklichung,  wie  für  die  Verinnerlichung 
des  Ethischen  bedarf  keines  näheren  Nachweises. 
Kierkegaard  hat  durch  diesen  Begriff  mit  sicherer  Energie 
auf  das  hingewiesen,  was  das  erste  und  wichtigste 
Gebiet  des  Ethischen  und  zugleich  seine  Quelle  und 
■ewige  Heimat  ist  und  bleibt :  auf  die  Einzelpersönlich- 
keit und  das  Verhältnis  zwischen  dem  Ideal,  das  sich 
hier  gebildet  hat,  und  dem  Willen,  der  in  ihr  sich  regt. 
Der  „Einzelne"  ist  die  erste  ethische  Idee,    und  er   ist 


*)  „Nachschrift"  S.  472,  wo  Kierkegaard  seine  eigene  frühere, 
negativere  Auifassnng  der  sokratischen  Ironie  berichtigt,  die  er  in 
^seiner  Doktordissertation  ansgesprocheu  hatte. 


IV.  Söran  Kierkegaards  Philosophie.  10&' 

bei  Kierkegaard  betont  teils  gegenüber  der  Verflüch- 
tigung, wozu  die  kontemplative  und  ästhetische  Richtung; 
leicht  führt,  die  den  Willen  ausser  Betracht  lässt  und 
das  Ideal  zum  Gegenstand  blossen  Schauens  macht,  — 
teils  gegenüber  der  Neigung,  sich  in  der  sozialen  und 
historischen  Betrachtungsweise  zu  verlieren,  die  sich, 
um  die  Vorgänge  im  einzelnen  Inneren  nicht  kümmert, 
wenn  nur  das  Greschlecht  im  Ganzen  oder  im  Durch- 
schnitt in  der  oder  der  Richtung  sich  bewegt.  Für 
Kierkegaard  verlöre  das  Dasein  allen  Sinn,  wenn  man 
nicht  im  Einzelnen  den  höchsten  Wert  sehen  würde ; 
denn  wie  will  sich  sonst  die  ,, göttliche  Verschwendung" 
erklären,  „die  eine  Unzahl  von  Individuen  in  einer 
Generation  nach  der  andern  braucht,  um  die  welt- 
geschichtliche Entwicklung  in  Gang  zu  bringen?" 
Wie  trostlos,  wenn  das  Höchste  das  „bunte  Farbenspiel 
der  aufeinanderfolgenden  Generationen"  sein  sollte,- 
das  dem  einer  ,,Heringsscliaar  im  Meere"  zu  vergleichen 
ist,  die  ja  auch  einen  grossartigen  Anblick  darbietet, 
„während  die  einzelnen  Heringe  nicht  viel  wert  sind." 
Ganz  anders,  wenn  die  höchste  Aufgabe  auf  und  in  der 
einzelnen  Subjektivität  liegt:  sind  die  Individuen  auch 
zahlreich  wie  der  Sand  am  Meere,  so  ist  doch  jedem 
von  ihnen  die  Aufgabe  gestellt,  eine  Persönlichkeit  zu 
werden.  Die  Weltgeschichte  muss  man  denn  Gott  über- 
lassen, ,,dem  königlichen  Dichter",  der  sie  allein  über- 
schauen kann  („Nachschrift",  S.  139.)  —  „Meine  etwaige 
ethische  Bedeutung",  sagt  Kierkegaard  mit  Recht  in 
seinem  „Rapport  an  die  Geschichte"  (Gesichtspunkt, 
S.  106)  ,,ist  unbedingt  an  die  Kategorie  des  Einzelnen 
geknüpft." 

4.  Der  Begriff  des  Einzelnen  als  Hauptbegriff  der 
Ethik  entspricht  dem  Satze:  „Die  Subjektivität  ist  die 
Wahrheit"  als  dem  Hauptsatze  in  der  Erkenntnistheorie. 
In  Analogie  mit  diesem  Satze  könnte  man  denn  sagen: 
die  Subjektivität    ist   das  Gute.     Es   kommt    nicht   auf 


IIQ  lY.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

den  Inhalt,  den  Gegenstand  an,  zu  dem  man  sich  in 
iseinem  Handeln  oder  in  seiner  Erkenntnis  verhält, 
sondern  auf  die  innere,  subjektive  Bewegung.  Und 
Kierkegaard  hat  diesen  Satz  eigentlich  auch  aufgestellt, 
indem  er  ausdrücklich  erklärt,  das  Gute  lasse  sich  nicht 
«definieren,  da  es  nicht  etwas  von  der  Freiheit  (dem 
Wollen,  der  Subjektivität)  Verschiedenes  sei.  (,, Angst" 
S.  111  [115]).  Allein  derselbe  formale  und  innere  Wille 
liesse  sich  ja  mit  dem  verschiedenartigsten  Inhalte  denken  I 
Hätte  Kierkegaard  mit  seinem  Subjektivitätsprinzip  in 
der  Ethik  Ernst  machen  wollen,  so  durfte  er  den  Ein- 
;zelnen  nicht  von  allen  Verhältnissen  der  Wirklichkeit, 
von  allen  Verhältnissen  mit  anderen  Menschen  isolieren; 
denn  nur  in  diesen  kann  die  ethische  Subjektivität  einen 
-wirklichen  Inhalt  bekommen.  Eine  ausschliessliche  Be- 
lischäftigung  mit  sich  selbst  ist  nur  in  einem  Kloster 
möglich,  wo  es  keine  realen  Aufgaben  giebt,  wo  viel- 
mehr die  vorgenommenen  Arbeiten  nur  zur  formalen 
Übung  dienen.  Hier  zeigt  es  sich  wieder,  dass  das 
ethische  Stadium  bei  Kierkegaard  keine  Selbstständig- 
keit gewinnt.  Alle  und  jede  Ethik,  die  er  anerkennt, 
ist  in  der  Wirklichkeit  religiös  and  asketisch.  Der 
.einzige  Inhalt  ist  der  Gehorsam  des  Einzelnen  gegen 
Gott.  Das  Ethische  steht  für  ihn  in  absolutem  Gegen- 
,satz  zu  allem,  was  in  die  Erscheinung  treten  und  für 
andere  Menschen  oder  in  der  Geschichte  Bedeutung  ge- 
winnen kann.  Er  konnte  sich  denken,  „Gott  schüfe, 
ohne  Unrecht  zu  thun  und  ohne  die  Liebe,  die  sein 
Wesen  ist,  zu  verleugnen,  einen  Menschen  mit  Gaben 
wie  kein  zweiter  ausgerüstet,  setzte  ihn  an  einen  ent- 
legenen Ort  und  sagte  zu  ihm  :  durchlebe  jetzt  mit  einer 
Anstrengung,  wie  kein  anderer  sie  kennt,  das  mensch- 
liche Dasein,  arbeite  so,  dass  die  Hälfte  zur  Umschaffang 
.einer  ganzen  Zeit  genügen  würde ;  aber  du  und  ich 
.sind  darüber  im  Reinen,  dass  all  dein  Streben  gar 
Jkeine    Bedeutung    für    irgend    einen    andern 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  Hl 

Menschen  haben  soll,  und  gleichwohl  sollst  du, 
verstehe  wohl,  du  sollst  das  Ethische  wollen  und  du 
sollst,  verstehe  wohl,  du  sollst  begeistert  sein,  weil 
dies  das  Höchste  ist."  („Nachschrift"  S.  119.)  Wenn 
Kierkegaard  die  soziale  und  historische  Betrachtungs- 
weise anklagt,  dass  sie  eine  unbegreifliche  Verschwen- 
dung in  der  Welt  statuiere,  so  lässt  e  r  sich  nach  meiner 
Meinung  eine  noch  viel  grössere  Vergeudung  mensch- 
licher Kräfte  zu  Schulden  kommen,  vor  lauter  Eifer  in 
der  Betonung  des  formalen  Gehorsams,  der  subjektiven 
Spannung  im  Innern,  die  für  ihn  eigentlich  das  Höchste 
ist.  Um  ein  Bild,  das  ich  schon  früher  (in  der  ,, Grund- 
lage der  humanen  Ethik")  gebraucht  habe,  hier  noch- 
mals zu  verwenden :  Kierkegaards  Ethik  wird  in  diesem 
Stück  von  den  ägyptischen  Mönchen  realisiert,  die  ihr 
Leben  damit  zubrachten,  dass  sie  Stöcke,  die  sie  in  den 
Sand  gepflanzt  hatten,  bewässerten.  Das  war  eine  Be- 
schäftigung, die  absolut  nichts  Soziales  oder  „Welt- 
geschichtliches" an  sich  hatte  und  bei  der  die  „Wieder- 
holung" und  subjektive  Anspannung  reichlich  zu 
verwenden  war,  wenn  sie  ein  ganzes  Leben  hindurch 
fortgetrieben  werden  sollte.  Wenn  der  Gehorsam,  n 
gleichviel,  in  was,  das  Höchste  ist,  so  ist  hier  das  Höchste 
geleistet.  Allein  das  ist  Verschwendung,  denn  es  wird 
damit  kein  reales  Gut,  kein  Zweck  erreicht. 

Die  rein  subjektive  Ethik,  der  Kierkegaard  das 
Wort  redet,  übersieht,  dass  die  einzelne  Persönlichkeit 
gerade  erst  durch  das  Leben  in  den  wirklichen  mensch- 
lichen Verhältnissen  und  durch  die  Arbeit  an  Aufgaben 
von  wirklicher  realer  Bedeutung  entwickelt  wird,  ab- 
gesehen von  der  durch  die  Arbeit  selbst  gewonnenen 
Übung.  Die  sozialen  ethischen  Aufgaben  sind  ja  sämt- 
lich derart,  dass  sie  darauf  ausgehen,  das  persönliche 
Leben  bei  möglichst  vielen  zu  fördern;  es  ist  nicht 
Aeusserlichkeit,  nicht  Nachgiebigkeit  gegen  die  „For- 
derung der  Zeit",  noch  auch  weltgeschichtliche  Wichtig- 


■^ 


112 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 


thuerei,  sondern  ein  gesundes  menschliches  Grefühl,  das- 
will,  dass  unser  Thun  mehr  Bedeutung  habe,  als  eim 
blosses  Übungspensum  für  uns  zu  sein.*)  Wenn  Kierke- 
gaard selbst  meinte,  seine  ,,ethische  Bedeutung"  sei 
an  die  Kategorie  des  Einzelnen  geknüpft,  so  meinte  er 
doch  wohl  nicht  bloss,  die  Beschäftigung  mit  diesem 
Gedanken  sei  für  ihn  selbst  förderlich  gewesen  — 
d.  h.  er  hätte  hier  doch  wohl  ,,liistorische  Bedeutung" 
statt  „ethische"  Bedeutung  schreiben  können.  —  Nur 
auf  die  Absicht  kommt  es  nach  Kierkegaard  beim 
Handeln  an;  die  Wirkungen  des  Handelns  sind  gleich- 
gültig. Die  Ethik  hat  nur  mit  der  Absicht,  die  Welt- 
geschichte mit  den  Wirkungen  zu  thun.  Und  die  Ethik 
hat  sich  nicht  um  die  Weltgeschichte  zu  kümmern. 
(,, Nachschrift",  S.  112.)  Allein  diese  Scheidung  zwischen 
Absicht  und  Wirkung  ist  unhaltbar.  Es  muss  meine 
Aufgabe  sein,  möglichst  viele  Wirkungen  meines  Handelns 
vorauszusehen,  und  treten  sie  nicht  ein,  oder  treten 
ganz  andere  ein,  so  kann  das  meine  Schuld  sein.  Alle 
Ethik  beruht  darauf,  dass  sich  die  Wirkungen  unserer 
Handlungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade,  in  einer  ge- 
wissen Ausdehnung  voraussehen  lassen.  Und  wir  geben 
(wenn  wir  nicht  Asketen  sind)  Handlungen,  deren 
Wirkungen  ohne  Wert  sind,  auf. 

Kierkegaards  forcierte  Einseitigkeit  in  diesem  Punkt 
tritt  darin  zu  Tage,  dass  er  über  menschliche  Gemein- 
schaftsverhältnisse nur  auf  eine  spöttische  und  hämische 
Weise  reden  kann.  Es  kann  ja,  sagt  er  einmal  („Nach- 
schrift",  S.  372),    von   dem    einzelnen  Individuum    sehr 


*)  In  meiner  Ethik  (S.  lOOj  habe  ich  dies  etwas  weiter  ans- 
geführt.  Ich  erlaube  mir  überhaupt  auf  Kapitel  III  und  VIII  diese» 
ßuchs  hinzuweisen,  wo  ich  den  Grundgedanken  zu  entwickeln  snchtCr 
dass  man  wohl  von  dem  Begriff  des  Geschlechts  oder  der  Gesellschaft 
ausgehend,  also  auf  dem  Boden  der  sozialen  Kthik,  die  Idee  des- 
Einzelnen  begründen  kann,  nicht  aber  umgekehrt  von  dieser  Ide& 
allein  aus  eine  soziale  Ethik. 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  113 

löblich  sein,  dass  er  Kammerrat,  flinker  Arbeiter  im 
Kontor,  erster  Liebhaber  im  dramatischen  Verein,  beinahe 
Virtuose  auf  der  Flöte,  Schützenkönig,  Asyldirektor, 
würdiger  Herr  Vater,  kurz  ein  Hauptkerl  ist,  der  das 
„Sowohl— Als  auch"  versteht  —  und  Zeit  zu  allem 
findet."  So  treffend  sein  Spott  über  die  Eitelkeit  und 
Aeusserlichkeit  in  der  menschlichen  Geschäftigkeit  ist,, 
so  ist  es  doch  sonderbar,  dass  ein  Schriftsteller,  der 
das  ethische  Stadium  als  eine  besondere  Lebensform 
schildern  will,  von  dem  menschlichen  Gesellschaftsleben 
in  keinem  andern  Tone  reden  kann.  Das  ist  falsch 
verstandener  Idealismus.  Das  ist  die  Unfähigkeit  des 
Romantikers,  in  dem  anscheinend  Prosaischen  und  All- 
täglichen die  Idealität  zu  finden.  Es  ist  auch  eine 
Unfähigkeit,  die  Bedeutung  zu  entdecken,  welche  Verhält- 
nisse und  Bestrebungen,  die  in  den  Augen  eines  vor- 
nehmen Romantikers  scheinbar  niedrig  und  komisch 
sind,  doch  für  die  Entwicklung  der  Persönlichkeit  haben 
können.  Indem  Kierkegaard  bei  seiner  Schilderung  des 
ethischen  Stadiums  dem  religiösen  Stadium  zueilt,  hat 
er  zugleich  nicht  so  wenig  von  dem  Aesthetischen  bei 
sich  behalten.  In  dieser  Hinsicht  ist  besonders  folgende 
Tagebuchnotiz  (1849,  S.  242)  bezeichnend:  ,,Die  Alters- 
stufen, wovon  man  für  die  Idealität  lernen  kann,  sind 
das  Kind,  der  Jüngling,  das  junge  Mädchen,  der  Greis. 
—  von  dem  thätigen  Mann,  der  geschäftigen  Hausmutter 
kann  man  in  dieser  Beziehung  nichts  lernen.  Und 
warum  nicht?  Weil  sie  wesentlich  mit  den  Zielen  der 
Endlichkeit  beschäftigt  sind."  Hier  zeigt  sich,  dass 
Kierkegaard  seine  eigene  Schrift  über  die  „Wiederholung'' 
vergessen  hat;  er  preist  ja  nunmehr  die  Hoffnung  und 
die  Erinnerung  als  die  einzigen  Formen  der  Idealität; 
die  Wirklichkeit  selbst  fällt  für  ihn  weg.  Denn  hat  er 
darin  recht,  dass  immer  von  Einzelnen  gestrebt  und 
gewirkt  werden  muss,  so  ist  es  nicht  minder 
wahr,  dass  es  stets  einzelne  bestimmte  und  daher  endliche 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  8 


114  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Aufgaben  sind,  woran  und  wofür  man  wirken 
und  arbeiten  muss.  Hier  bedarf  der  Ethiker  des  psycho- 
logischen und  historischen  Blicks,  der  das  Grosse  im 
Kleinen,  das  Bedeutungsvolle  im  Unscheinbaren  zu  sehen 
versteht.  Eaerkegaard  aber  betrachtet  die  Psychologie 
wie  die  Geschichte  als  Feinde  der  Ethik. 

Endlich  kann  ich  die  Bemerkung  nicht  zurückhalten, 
dass  Kierkegaards  absolute  Abweisung  aller  sozialen 
Ethik  auch  mit  seiner  konservativen  Gesinnung  und 
seinem  absoluten  Respekt  vor  allen  Autoritäten  zusammen- 
hängt. Er  gewann  es  in  einer  Audienz  bei  Christian  VIII. 
über  sich,  zum  Könige  zu  sagen  (1849,  S.  19):  ,,Euer 
Majestät  einziges  Unglück  ist,  dass  Ihre  Weisheit  und 
Klugheit  zu  gross  und  das  Land  zu  klein  ist;  es  ist 
ein  Unglück,  Genie  in  einer  Kleinstadt  zu  sein"  —  ach, 
das  Ländchen  hätte  die  ganze,  volle  königliche  Weisheit 
sehr  wohl  brauchen  können  -~  und  noch  mehr  dazu. 
Er  konnte  in  dem  Stock  des  Polizisten  ein  Symbol  des 
absoluten  Autoritätsprinzips  sehen.  Denn  im  Grunde 
war  seine  Ansicht,  für  alles,  was  die  Gesellschaft  angehe, 
habe  die  Regierung  zu  sorgen,  und  es  sei  nur  Wichtig- 
thuerei  und  Aeusserlichkeit,  wenn  die  Einzelnen  daran 
denken  wollen.  Der  Einzelne  habe  das  Gemeinwesen 
sich  selbst  zu  überlassen  und  seine  eigenen  Privatubungen 
in  der  Ethik  zu  besorgen.  —  Als  das  Jahr  1848  kam, 
war  der  einzige  Gesichtspunkt,  den  er  hatte,  der,  dass 
eine  allgemeine  Auflösung  eingetreten  sei  und  dass 
Dänemark  der  Untergang  drohe  —  nicht  von  Seiten 
Deutschlands  aus,  wie  man  sich  nach  seiner  Meinung 
fälschlich  einbildete,  sondern  von  der  politischen  Freiheit. 

5.  Genau  genommen  tritt  bei  Sören  Kierkegaard 
das  Ethischefnur  auf,  um  im  selben  Augenblick  wieder 
abgerufen  zuj,werden.  Es  geht  dem  Ethischen,  um  mit 
«inem  Bilde  Kierkegaards  selbst  zu  reden,  wie  dem 
Kinde,  das  den  Kopf  in  die  Welt  hereinstreckte,  ihn 
aber  »gleich  wieder  zurückzog,   da  es  sah,   wie  böse  die 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  115 

Welt  ist.  Das  Ethische  stellt  ein  unbedingtes  Ideal  auf, 
das  in  die  Wirklichkeit  eingeführt  werden  soll,  wogegen 
es  nicht  seine  Aufgabe  ist,  die  Wirklichkeit  zum  Ideal 
emporzuführen.  Das  Ethische  feilscht  nicht,  hält  seine 
Forderungen  (die  der  Mensch  unmöglich  erfüllen 
kann)  fest,  ,,ohne  diu-ch  das  Geschwätz,  es  helfe  nichts, 
wenn  man  das  Unmögliche  fordere,  sich  irgend  stören 
zu  lassen."  Die  Ethik  scheitert  denn  auch  —  und  durch 
die  Reue  vollzieht  sich  dann  der  Uebergang  zum  Reli- 
giösen. (,, Angst",  S.  13  [9  f.])  ,,I^ie  ethische  Sphäre 
ist  nur  Durchgangssphäre,  und  darum  ist  ihr  höchster 
Ausdruck  die  Reue."     („Stadien",  S.  483  [447].) 

Die  Ethik  steht  also  von  Anfang  an  in  einem  rein 
negativen  Verhältnis  zu  des  Menschen  Kraft  und  Trieb. 
Die  griechische  Ethik,  die  eine  positive  Entwicklung 
der  menschlichen  Kräfte  und  Triebe  wollte,  erkennt 
Kierkegaard  nicht  als  wirkliche  Ethik  an.  Das  ist  ja 
nur  konsequent:  die  Möglichkeiten  hat  er  der  Psycho- 
logie, die  Wirkungen  der  Weltgeschichte  zugewiesen; 
die  Ethik  behält  nur  die  Unmöglichkeiten  zurück,  — 
Es  findet  sich  deshalb  bei  Kierkegaard  auch  eine  Ten- 
denz, das  Ethische  als  ein  besonderes  Stadium  aus- 
zuscheiden. Dies  gilt  von  Anfang  an  hinsichtlich  des 
Weibes :  da  ihr  die  Fähigkeit  der  Ueberlegung  und  des 
Entschlusses  [! !]  fehle,  so  müsse  sie  sofort  von  der 
ästhetischen  Unmittelbarkeit  zu  der  religiösen  übergehen. 
Dasselbe  ergiebt  sich  aber  eigentlich  auch  für  den  Mann. 
,, Zwischen  Poesie  und  Religiosität'',  heisst  es  S.  426  in 
der  „Unwissenschaftlichen  Nachschrift",  ,, führt  die  welt- 
liche Lebensweisheit  ihr  Vaudeville  auf.  Jedes  Indi- 
viduum, das  nicht  entweder  poetisch  oder  religiös  lebt, 
ist  dumm".  Hier  ist  das  ethische  Stadium  in  bester 
Form  ausgeschieden.  Kierkegaards  Unfähigkeit,  die 
Idealität  in  dem  wirklichen  Leben  zu  entdecken,  zeigt 
sich  auch  hier  wieder.  Allerdings  ist  dem  Ethischen 
das  Urteil  gesprochen,  wenn  es  die  Poesie  ausschliesst. 

8* 


116 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 


Es  giebt  aber  auch  eine  Lebenspoesie,  die  nur  mitten 
unter  der  Arbeit  selbst  erlebt  und  empfunden  wird, 
die  nur  bei  dem  Zusammenstoss  des  Willens  mit  dem 
harten  Feuerstein  des  Lebens  Funken  giebt,  und  die 
der  zwischen  Aesthetik  und  Askese  oscillierende  Ein- 
siedler nicht  kennt.  Er  redet  hier  wie  der  Blinde  von 
den  Farben.  —  Uebrigens  ist  noch  zu  bemerken,  dass 
der  Gregensatz  zwischen  Poesie  und  Religion  dem  Gregen- 
satz  zwischen  Kierkegaards  ästhetischem  und  religiösem 
Stadium  nicht  entspricht.  Poetisch  zu  leben  muss  für 
ihn  etwas  anderes  heissen,  als  zu  leben  wie  seine 
Aesthetiker  oder  Hedoniker.  Dies  deutet  auf  den  schon, 
früher  nachgewiesenen  Mangel  an  der  Schilderung  der 
ästhetischen  Lebensanschauung  hin. 

y.  Die  religiöse  Lebensanschauung. 

1.  Erst  durch  religiöse  Voraussetzungen  gewinnt 
Kierkegaards  Ethik  einen  Inhalt  oder,  wie  man  viel- 
leicht besser  sagen  könnte,  einen  Gegenstand.  Was  dem 
ethischen  Streben  zu  Grunde  liegt,  ist  das  Verhältni» 
zu  Gott,  dem  ewigen,  von  dem  Menschen  qualitativ  ver- 
schiedenen Wesen,  und  zu  der  ewigen  Seligkeit,  die 
von  dem  Einzelnen  durch  das  Gottesverhältnis  gewonnen 
werden  kann.  Kierkegaard  kennt  daher  das  Ethische 
eigentlich  nicht;  er  kennt  nur  das  Ethisch-Religiöse, 
Dies  hängt  sehr  enge  damit  zusammen,  dass  das  Religiöse 
für  ihn  in  religiöser  Ethik  aufgeht.  Das  Dogmatische 
setzt  er  wohl  voraus,  allein  es  schaiFt  kein  besonderes 
Verhältnis;  der  Wille  wird  stracks  in  Beschlag  ge- 
nommen, und  für  Kontemplation  oder  Mystik  bleibt 
keine  Zeit  übrig.  Er  anerkennt  das  Religiöse  auch 
nicht  als  Trost  —  oder  richtiger,  er  anerkennt  den 
Trost  in  der  Religion  nur  so,  dass  er  sofort  beifügt: 
dieser  Trost  hat  ein  bisher  ungekanntes  Leiden  zm'  Folge. 

Auch  hier  ist  —  wie  bei  der  ethischen  Lebens- 
anschauung —   eine  Aenderung   in  Kierkegaards   Auf- 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  117 

fassung  zu  bemerken.  Früher  hatte  er  in  der  Schrift 
^Furcht  und  Zittern''  das  Verhältnis  zwischen  dem 
Ethischen  und  dem  eigentlich  Religiösen  als  ein  gegen- 
isätzliches  geschildert,  sofern  infolge  des  persönlichen 
Verhältnisses  des  Menschen  zu  Gott  ein  Bruch  des  all- 
gemeinen ethischen  Gebots  stattfände.  Dies  wird  in 
einer  von  mächtigem  Pathos  getragenen  Darstellung  an 
dem  Beispiele  Abrahams  nachgewiesen:  er  ist  bereit, 
auf  Gottes  Geheiss  Isaak  zu  opfern,  obwohl  das  ethische 
Gebot  sagt:  da  sollst  nicht  töten.  Der  religiöse  Glaube 
ist  Sache  des  Einzelnen;  denn  die  möglicherweise  ge- 
forderte Aufhebung  des  Ethischen  lässt  sich  für  andere 
nicht  verständlich  machen,  da  sie  nur  durch  das  eigene 
persönliche  Gottesverhältnis  des  Individuums  bedingt 
und  erklärlich  ist.  Das  Ethische  hingegen  ist  das  All- 
gemeine, über  das  die  Menschen  sich  unter  einander 
Terständigen  können.  Mit  dieser  Auffassung  des  Ethischen 
als  des  Allgemeinen  steht  Kierkegaard  hier,  wie  in 
, Entweder — Oder"  und  in  den  „Stadien",  Hegel  noch 
näher  als  in  der  rein  philosophischen  Abrechnung  in 
der  „Unwissenschaftlichen  Nachschrift",  wo,  wie  schon 
früher  erwähnt,  „der  Einzelne"  und  seine  persönliche, 
isolierte  Existenz  ein  HauptbegrifF  auch  für  die  ethische 
Lebensanschauung  wird.  Nach  Hegel  war  die  Ethik 
wesentlich  sozial;  die  ethischen  Lebenssphären  waren 
■die  Familie,  die  bürgerliche  Gesellschaft  und  der  Staat, 
wo  allgemeine  Regeln  gelten  und  wo  das  einzelne  Indi- 
viduum nur  ein  Moment  ist.  Mit  dieser  Auffassung 
bricht  Kierkegaard  zuerst  aus  religiösen  Gründen,  um 
das  persönliche  Gottesverhältnis  in  seine  absolute  Gel- 
tung einzusetzen;  aber  der  Bruch,  der  mit  der  Hervor- 
kehrung des  Begriffs  des  Einzelnen  sich  vollzieht,  ge- 
winnt für  die  Auffassung  des  Ethischen  rückwirkende 
Bedeutung.  Nach  seiner  in  der  ,, Unwissenschaftlichen 
Nachschrift"  gegebenen  Auffassung  bekommt  das  Ethische 
seinen  eigentlichen  Gegenstand,  sein  absolutes  Ziel  erst 


118  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

durch  das  Religiöse,  wie  dieses  andererseits  wesentlich 
ethischer  Art,  ein  Leben  im  Streben,  Wollen,  Handeln 
ist.  Dass  ein  Uebergang  vom  ethischen  zum  religiösen 
Stadium  stattfinden  muss,  gewinnt  nun  eigentlich  den 
Sinn,  dass  alle  Ethik,  näher  besehen,  religiöse  Ethik 
sein  muss,  um  nicht  blosse  Aeusserlichkeit  und  Verloren- 
heit im  Relativen  zu  sein.  Es  zeigt  sich,  dass  der 
Einzelne  seine  eigene  persönliche  Wirklichkeit  nur  durch 
das  Verhältnis  zu  einer  absoluten  Persönlichkeit  fest- 
halten kann. 

Durch  das  Verhältnis  zu  Gott  und  einer  ewigen 
Seligkeit  wird  dem  Einzelnen  ein  absolutes  Ziel,  ein 
absoluter  Gregenstand  gegeben.  Das  Religiöse  unter- 
scheidet sich  von  dem  Ethischen  dadurch,  dass  der 
Einzelne,  ethisch  betrachtet,  nur  mit  sich  selbst,  seiner 
eigenen  Wirklichkeit  zu  thun  hat,  religiös  betrachtet 
aber  von  einer  andern  Wirklichkeit  als  seiner  eigenen 
unendlich  in  Anspruch  genommen  ist.  (,,Nachschrift", 
S.  296  ff".)  Wie  zu  dem  absoluten  Gegenstand  und  dem 
absoluten  Ziel  steht  der  Einzelne  aber  auch  in  einem 
Verhältnis  zu  einer  umgebenden  endlichen  Welt  und 
einem  Kreis  relativer  Zwecke,  die  ihr  entstammen.  Und 
nun  gilt  es,  das  absolute  Ziel  als  absolutes,  und  die 
relativen  Ziele  als  relative  zu  behandeln.  Denn  es  ist 
ja  ein  Widerspruch  in  sich  selbst,  einem  relativen,  end- 
lichen Ziele  unbedingt  zu  leben,  ihm  alles  zu  opfern. 
Allein  die  so  gestellte  Aufgabe  ist  sehr  schwierig,  da 
zwischen  dem  absoluten  Ziele  und  den  relativen  ein 
gähnender  Abgrund  liegt,  und  da  im  Menschen  zugleich 
ein  unmittelbarer  Trieb  lebt,  in  den  relativen  Zielen 
aufzugehen,  sich  ihnen  absolut  hinzugeben.  Hiezu  kommt 
noch  das  weitere,  dass  für  den  Menschen  der  Gebrauch 
seiner  eigenen  Kraft  mit  Wohlbehagen  und  Befriedigung 
verbunden  ist:  vor  Gott  und  dem  höchsten  Ziele  aber 
ist  seine  Arbeit  nichts ;  hier  gilt  es  gerade,  dass  er  sich 
in  seinem  Nichts  sehe.    Dass  man  den  Willen  von  den 


ly.  Söreo  Kierkegaards  Philosophie.  1]9 

endlichen,  in  der  Welt  der  Erfahrung  gegebenen  Zielen 
und  Verhältnissen  losreisse,  dass  man  der  Unmittelbarkeit 
absterben  lerne,  erfordert  eine  schmerzliche  Anstrengung, 
die  nicht  ein-  für  allemal  abgemacht  werden  kann,  son- 
dern immer  und  immer  wiederholt  werden  muss;  und 
wenn  nun  dies  dazu  kommt,  dass  man  —  trotz  aller 
Anstrengung  —  lernen  soll,  zu  sein,  als  wäre  man 
nichts,  so  erhellt,  dass  das  religiöse  Leben  bedeutet, 
dem  Leiden  und  der  Selb  st  Vernichtung  geweiht  zu  sein. 
,,Was  Wunder,  dass  der  Jude  annahm,  das  Schauen  Gottes 
sei  der  Tod,  und  der  Heide,  zu  Gott  in  ein  Verhältnis 
zu  treten,  sei  der  Beginn  des  Wähnsinns."  („Nach- 
schrift'', S.  376  ff.  430.  452.) 

Das  religiöse  Leiden  unterscheidet  sich  von  anderem 
Leiden  dadurch,  dass  es  nicht  zufällig,  nicht  durch 
äussere  Ursachen,  die  auch  weggedacht  werden  könnten, 
hervorgerufen  ist,  sondern  durch  die  Natur  des  religiösen 
Verhältnisses  selbst  notwendig  ist.  Das  Verhältnis  zu 
Gott  ist  das  Verhältnis  zu  einem  von  dem  Menschen 
absolut  verschiedenen  Wesen,  das  dem  Menschen  nicht 
als  Superlativ  oder  Ideal  gegenüber  stehen  kann  —  und 
doch  in  seinem  Innern  herrschen  soll!  Hieraus  ergiebt 
sich  ein  notwendiger  Zwiespalt  in  dem  Menschen,  der 
stets  neue  Schmerzen  schafft,  wenn  er  darin  aushalten 
soll.  („Nachschrift"  S.  380  ff.;  vgl.  1850,  S.  216.)  Von 
dem  Religiösen  wie  dem  Ethischen  gilt  also:  die  Auf- 
gabe ist  nicht  die  Entwicklung,  Erhöhung  und  Veredlung 
der  menschlichen  Natur,  nicht,  dass  ,,die  Wirklichkeit 
zur  Idealität",  sondern  vielmehr,  dass  die  „Idealität  in 
die  Wirklichkeit  eingeführt  werde"  („Angst  S,  12  [9]), 
dass  ein  absolut  neues  Element  in  die  Natur  eingepflanzt 
werde  —  ein  Element,  das  gegen  die  Natur  ebenso  feindlich 
ist,  wie  das  Absolute  (das  alle  Kraft  verlangt)  gegen 
das  Relative  (das  doch  einige  Kraft  verlangt)!  Das 
Absolute  ist  grausam  (1849,  S.  44),  weil  es  alles 
verlangt. 


120 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 


Es  ist  ein  ganz  neues,  seiner  Natur  widerstreiten- 
des Medium,  in  dem  der  Mensch,  sobald  er  in  das 
religiöse  Verhältnis  eintritt,  leben  soll;  obgleich  ein 
endliches  Wesen,  soll  er  doch  in  dem  Unendlichen  und 
Absoluten  leben.  Es  ist  ihm  hier,  wie  einem  Fisch  auf 
dem  Lande  (Unwissensch.  Nachschrift  S.  452} :  er  ist  in 
eine  Welt  hineingeraten,  wo  ganz  andere  Instinkte  als 
die  in  seiner  Natur  liegenden  verlangt  werden. 
Er  soll  ein  naturwidriges  Leben  führen.  —  In  Henrik 
Ibsens  ,, Brand"  findet  sich  ein  Bild,  das  ausserordentlich 
nahe  verwandt  mit  dem  ist,  womit  Kierkegaard  die 
religiöse  Existenz  beschreibt: 

Ich  stellte  vor  mir  eine  Eale, 
Die  sehen  vor  Nacht  and  Dunkel  bangte, 
Und  in  dem  Wasser  einen  Fisch, 
Der  wasserscheu  aufs  Land  verlangte; 
Ich  lachte  laut,  bezwang's  'ne  Weile,  — 
Dann  griff  es  mich  von  neuem  frisch. 
Wo  lag  der  Reiz  zum  Lachen  nur? 
Ich  fühlte  dunkel  die  Natur 
Des  Zwiespalts  zwischen  der  Erscheinung 
Und  dem,  zu  dem  das  Ding  bestimmt ; 
Den  Widerspruch  in  der  Verneinung 
Der  Last,  die  doch  den  Rücken  krümmt.*) 
Ein  wasserscheuer  Fisch,  der  doch  im  Wasser  leben 
muss,    oder  ein  Fisch,    dessen  Natur   allein   zum  Leben 
im  Wasser   passt,    auf   dem  Lande  —  das    kommt    auf 
eines  hinaus.     Wenn  Brand  erzählt,   dass  er  als  Knabe 
bei  diesem  Gedanken   lachte,    so  ist  auch  Kierkegaard 
darauf  aufmerksam  geworden,  dass  in  dem  Missverhält- 
nis, dem  Widerspruch,  der  dem  Religiösen  eigentümlich 
ist,  etwas  Komisches  liegen  könnte;  er  meint  aber  doch, 
das  Religiöse   sei    durch   die  bewusste  Uebernahme   des 
Widerspruchs  und  des  Leidens  über  diese  Komik  erhaben. 
Wie      die      Ironie      eine     Uebergangsform      zum 
Ethischen    war    und    als    Inkognito    für    dieses    dienen 

*)  S.  9   der  Uebersetzung    von  L.  Passarge    (Leipzig,  Ph.  Rec- 
lam  jun.) 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  121 

konnte,  so  ist  der  Humor  eine  Uebergangsform  zum 
Religiösen  und  kann  sein  Inkognito  sein.  Der  Humor 
sieht  das  Endliche  in  seiner  Nichtigkeit  und  Gleich- 
gültigkeit gegenüber  dem  Unendlichen;  der  Humorist 
braucht  aber  nicht  selbst  positiv  ein  Gottesverhältnis  zu 
haben;  er  benützt  vielleicht  den  Humor  nur  als  eine 
Form,  Der  Religiöse  thut  dasselbe,  um  die  starke  Be- 
wegung seines  Innern  zu  verbergen,  die  sich  in  einer 
positiven  Aeusserung  nie  einen  direkten  und  vollstän- 
digen Ausdruck  geben  kann.  Er  tritt  als  ,, Ritter  der 
verborgenen  Innerlichkeitt"  auf  —  so  lange,  bis  das 
religiöse  Verhältnis  für  ihn  eine  solche  Macht  gewinnt, 
dass  es  äusseres  Auftreten  und  den  Bruch  mit  der  Welt 
verlangt.     („Nachschrift"  S.  469  ff.) 

2.  Durch  diese  Auffassung  des  Religiösen  hat 
Kierkegaard  von  vorn  herein  das  Band  zwischen  ihm 
und  der  Menschennatur  durchschnitten.  Es  kommt  als 
etwas  Fremdes  in  die  Welt  herein  und  soll  nun  mit  der 
Natur  zusammengezwungen  werden,  ohne  doch  mit  dieser 
•eins  werden  zu  können.  Kierkegaard  geht  von  einer 
Idee  der  Vollkommenheit  aus,  die  er  ohne  irgend  welche 
Rücksicht  auf  die  wirkliche  Menschennatur  sich  gebildet 
hat.  Für  die  historische  Auffassung  hingegen  sind  die 
religiösen  Ideen  Anticipationen  und  Idealisationen  dessen, 
was  in  der  Erfahrung  gegeben  ist  und  im  Menschengeiste 
sich  bewegt.  Unter  dem  Einfluss  des  innig  und  mächtig 
erregten  Gefühls  bilden  sich  für  Phantasie  und  Denken 
Ideen  und  Vorbilder,  die  auf  den  Erdboden,  dem  sie 
entstammen,  eine  Rückwirkung  auszuüben  vermögen. 
Schneidet  man  aber  die  Möglichkeit  ab,  dass  die  höch- 
sten Ideale  des  Menschenlebens  aus  dem  Leben  selbst, 
aus  dem  durch  die  Lebenserfahrungen  erregten  Sinne 
sich  entwickelt  haben,  so  schneidet  man  eben  damit  auch 
•die  Möglichkeit  einer  Einwirkung  der  Ideale  auf  die 
Natur  ab.  Die  qualitative  oder  absolute  Verschieden- 
heit hebt  die  Möglichkeit  eines  positiven  Verhältnisses 


122  IV.  Sörea  Kierkegaards  Philosophie. 

auf.  Die  gewaltige  Macht  der  Religion  über  Sinn  und 
"Willen  beruht  darauf,  dass  sie  die  grossen  Schatz- 
kammern sind,  worin  der  Menschengeist  einige  seiner 
tiefsten  Erfahrungen  niedergelegt  hat.  Wenn  aber  das 
religiöse  Streben  in  seinem  Eifer,  den  Gegenstand  der 
Religion  in  die  höchste  Höhe  hinaufzuschrauben,  einen 
gähnenden  Abgrund  zwischen  ihm  und  dem  Leben  be- 
festigt, dessen  Vorbild  er  doch  sein  soll,  so  widerspricht 
es  sich  selbst.  Ein  Gott,  der  nicht  Ideal  und  Vorbild 
ist,  ist  kein  Gott.  Die  Behauptung,  das  Wesen  der 
Gottheit  müsse  von  dem  des  Menschen  qualitativ  ver- 
schieden sein,  hat  daher  auch  stets  wieder  ethisch-religiöse 
Bedenken  gegen  sich  wach  gerufen.*)  Hier,  wo  die 
religiöse  Leidenschaft  den  absoluten  Unterschied  zwischen 
dem  Göttlichen  und  Menschlichen  behauptet,  vollzieht 
sich  der  Bruch  zwischen  der  religiösen  und  humanen 
Ethik :  denn  eine  Ethik,  die  auf  ein  von  der  menschlichen 
Natur  absolut  verschiedenes  Prinzip  begründet  wird, 
muss  notwendigerweise  —  wenn  sie  konsequent  ist  —  zu 
einer  gegen  das  Leben  und  den  Menschen  feindseligen 
Lehre  werden.  Sie  ist  aber  zugleich  eine  in  sich  selbst 
widerspruchsvolle  Ethik;  denn  wenn  das  absolute  Ver- 
hältnis alle  KJraft  in  Beschlag  nimmt,  wie  kann  da 
noch  einige  Kraft  übrig  bleiben,  um  in  den  relativen 
Verhältnissen  zu  leben?**)  Hier  geht  selbst  der  grosse 
Vertreter    der    qualitativen    Dialektik    auf   einen  Kom- 


*)  Eine  interessante  Erörterung  dieser  Frage  findet  sich  in 
Berkeleys  Alciphron,  4.  Dialog.  §  16 — 21.  Später  wurde  sie  in 
Stuart  Mills  Untersuchung  von  Sir  "William  Hamiltons  Philosophie 
gründlich  behandelt.  Vgl.  meine  Schrift:  Einleitung  in  die  englische 
Philosophie  unserer  Zeit,  deutsch  von  Euralla,  S.  62  (vergl.  S.  136ff.) 

**)  Vgl.  was  schon  Bröchner  in  seiner  scharfsinnigen  Kritik  der 
Kierkegaardschen  Auffassung  hierüber  bemerkt  hat.  Das  Problem 
des  Glaubens  und  Wissens,  S.  221:  „Das  absolute  Ziel,  wie  es 
Kierkegaard  fasst,  muss  die  ganze  Kraft  des  Menschengeistes  in  An- 
spruch nehmen  und  kann  für  die  relativen  Verhältnisse  keine  Kraft 
mehr  übrig  lassen." 


ly.    Sören  Kierkegaards  Philosophie.  128' 

promiss,  ein  ,, Sowohl  —  Als  aucf  ein,  und  nur  damit- 
entgeht  er  der  vollkommenen  Selbstvernichtung. 

Eigentlich  war  Kierkegaard  auf  demselben  "Wege 
wie  Schopenhauer:  auf  dem  Wege  zum  Nirwana.  Wie 
Schopenhauer  inmitten  der  Kultur  des  1 9.  Jahrhunderts 
die  buddhistische  Verneinung  des  Lebens  für  die  höchste 
Wahrheit  erklärte,  so  verkündete  Kierkegaard,  der  in; 
mehrfacher  Hinsicht  sein  Geistesverwandter  war,  das 
strenge,  asketische  Christentum  als  das  Höchste  —  in. 
letzter  Instanz  als  das  Einzige.  Es  ist  in  ethischer 
und  kulturgeschichtlicher  Hinsicht  von  dem  allergrössten 
Interesse,  zu  sehen,  wie  zwei  der  begabtesten  Denker 
unserer  Zeit  ein  derartiges  Verdammungsurteil  über 
unsere  ganze,  so  hochgepriesene  Kulturentwicklung  fällen,- 
Dies  deutet  darauf  hin,  dass  derselben  Mängel  und 
Grebrechen  anhaften  müssen,  die  wir  mit  leichtsinnigem 
Optimismus  zu  übersehen  pflegen.  Bei  Leo  Tolstoi 
tritt  in  neuester  Zeit  ein  zum  Teil  verwandter  Gedanken- 
gang hervor ;  doch  steht  er  dem  Natürlichen  und'. 
Menschlichen  näher. 

Von  Schopenhauer  unterscheidet  sich  Kierkegaard 
durch  seine  ethisch-praktische  Tendenz.  Schopenhauer' 
verneigt  sich  vor  dem  asketischen  Ideal,  zieht  aber- 
selbst  die  intellektuelle  und  ästhetische  Willensbefreiung 
vor.  Kierkegaard  arbeitet  sich  Schritt  für  Schritt  vor- 
wärts, um  womöglich  einer  von  denen  zu  werden,  auf 
die  die  höchsten  Bestimmungen  Anwendung  finden 
können.  Er  setzt  seine  Persönlichkeit  ganz  anders  ein, 
sucht  das  praktische  Kämpfen  und  Leiden  als  eine  Ehre 
—  und  findet  sie  auch.  —  In  seinen  letzten  Jahren 
beschäftigte  sich  Kierkegaard  mit  dem  Studium  der 
Schopenhouerschen  Schriften  und  fühlte  sich  von  ihnen 
sehr  angesprochen.  (Vgl.  1854 — 55,  S.  48  und  68.)  Seine 
Anschauuiig  war  damals  aber  schon  voll  entwickelt,  und 
er  hatte  bloss  zu  notieren,  worin  er  mit  dem  deutschen. 
Denker  übereinstimmte  und  von  ihm  abwich. 


124  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

3.  Die    religi()se    Lebensanschauung    tritt    in    zwei 
.Hauptformen  auf,  die  in  ihrem  Cliarakter  so  verschieden 
sind,  dass  der  Uebergang  von  der  einen  zur  andern  nur 
durch     einen     Sprung,     eine     qualitative    Veränderung 
möglich  ist.     Der  Unterschied    zwischen   ihnen    bezieht 
sich    besonders    darauf,    was   Gegenstand    des    Glaubens 
ist.    Die  erste  Form  der  Religiosität  (Kierkegaard  nennt 
sie  die  Religiosität  A)  verhält  sich  zu  dem  Ewigen  als 
dem  allgemeinen  Hintergrund   des  Lebens  und  Daseins. 
Ein  Leiden  verursachender  Widerspruch  liegt  hier  nur 
darin,  dass  das  Ewigkeitsbewusstsein  und  das  Verhältnis 
zum  absoluten  Ziele  inmitten  der  Welt  der  Endlichkeit 
und   der  Zeit   festgehalten   werden   soll.     Der   Einzelne 
empfindet  zugleich,  je  tiefer  er  das  Verhältnis  auffasst, 
den  Abstand,    der    ihn    vom    Höchsten    trennt,    um    so 
schärfer   und  bemerkt   zudem   den  Widerstand,    den  er 
; selbst    ihm    entgegensetzt.      Denn   je    näher    man    dem 
Höchsten  kommt,    desto  mehr  bemerkt  man   seinen  Ab- 
rstand  von  ihm!     Der  Fortschritt  wird  also   insofern  zu 
einem  Rückschritt.  (1850,  S.  301;   „Nachschrift",  S.  516.) 
Es    entsteht    ein    Schuldbewusstsein,    wodurch    das    für 
diesen  religiösen  Standpunkt  eigentümliche  Pathos  ver- 
stärkt wird.     Gleichwohl  aber   hält  sich   diese  Art  der 
Religiosität  innerhalb  des  für  den  natürlichen  Menschen 
Erreichbaren.      Sie    liegt    innerhalb    der    ,, Immanenz", 
setzt  keinen   entscheidenden  Bruch  mit  der  natürlichen 
Weltordnung  voraus  und  ist  auf  dem  Boden  des  Heiden- 
tums möglich.  („Nachschrift",  S.  522  ff.)  —  In  den  „philo- 
sophischen Bissen"   hatte  Kierkegaard  auf  Sokrates  als 
den  Vertreter  dieser  Form  der  Religiosität  hingewiesen. 
Dies  ist  historisch  kaum  zu  rechtfertigen.  Eine  Lebens- 
anschauung wie  die  von  Kierkegaard  als  Religiosität  A 
geschilderte    kommt    auf   dem   Boden    der    griechischen 
Welt    erst  g(;gen    den  Schluss.    im  NeupltTtonismus  vor. 
Erst    hier    wird    ein    entscheidendes    Gewicht    auf   das 
Verhältnis    zu    dem  Ewigen    im  bestimmten  Gegensatz 


IV,  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  l25" 

zu  allen  äusseren  und  menschliclien  Zielen  gelegt.  Die 
griechische  Weltanschauung  war  eine  ruhige  Harmonie; 
die  natürlichen  Elemente  des  Lebens  wurden  zu  einem 
ethischen  Kunstwerk  geformt,  das  Jenseitige  aber  wurde 
nicht  als  das  höchste  oder  (dnzige  Ziel  aufgestellt,  so 
tief  auch  die  Schattenseiten  des  Lebens  und  der  Wider- 
stand der  Sinnlichkeit  gegen  Gredankenklarheit  und 
Willensreinheit  von  Dichtern  und  Philosophen  gefühlt 
und  ausgesprochen  wurden. 

Von  dieser  humanen  oder  immanenten  Religiosität 
scheidet  sich  die  paradoxe,  '  ransscendente  Religiosität 
ab,  die  Religiosität  B.  Hier  "verschärfen  sich  alle  Be- 
stimmungen dadurch,  dass  die  Widersprüche  grösser 
werden.  Der  Einzelne  steht  nicht  bloss  zu  dem  überall 
gegenwärtigen  ewigen  Grund  des  Daseins  in  Beziehung. 
Das  Ewige  und  Görtliche  ist  in  der  Zeit,  in  geschicht- 
licher Gestalt  erschienen,  als  einzelner  Mensch,  der 
gelitten  hat  und  gestorben  ist.  Dass  die  wesentliche 
Offenbarung  sich  nicht  im  Dasein  ausbreitet,  sondern 
auf  eine  bestimmte  Zeit  und  Stätte  sich  beschränkt,  das 
bringt  eben  zum  Ausdruck,  dass  das  Dasein  im  übrigen 
geistverlassen  ist:  nichts  hat  Wert,  nichts  hat  ent- 
scheidende Bedeutung  als  diese  eine  Gestalt  —  und 
auf  das  Verhältnis  zu  ihr,  zu  „dem  Gott  in  der  Zeit" 
kommt  alles  an.  Der  Gegenstand  des  Glaubens  ist  das 
Paradox  im  höchsten  Sinne,  der  Widerspruch  in  sich 
selbst,  das  Absurde.  (,, Nachschrift",  S.  536.)  Zu  dem 
höchsten  Paradox  in  ein  Glaubensverhältnis  zu  treten, 
giebt  es  nur  einen  Weg:  dass  nämlich  das  Schuld- 
bewusstsein  zum  Sündenbewusstsein  sich  steigert,  d.  h. 
dass  der  Einzelne  in  sich  nicht  bloss  einen  Widerstand 
gegen  das  Ewige,  sondern  eine  vollständige  und  selbst- 
gewoUte  Aenderung  in  seiner  Natur  entdeckt.  Das 
Bewusstsein  hievon  wird  gerade  durch  das  Auftreten 
des  göttlichen  Paradoxes  hervorgerufen  und  bedingt- 
nur  durch  eine  Offenbarung  kann  der  Mensch  die  totale 


126  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

Aenderung  seiner  Natur  und  der  Menschennatur  über- 
haupt entdecken.  („Nachschrift",  S.  548  f.)  Durch  das 
Paradox  als  Gegenstand  des  Glaubens  und  durch  das 
^Sündenbewusstsein  als  dessen  Voraussetzung  ist  die 
grösste  Vertiefung  in  die  Existenz,  die  grösste  Inner- 
lichkeit und  das  grösste  Leiden  erreicht.  Das  ist  der 
.Standpunkt,  der  mit  dem  Christentum  in  die  Erschei- 
,nung  tritt. 

Als  ein  Moment,  wodurch  das  Leiden  auf  dem 
höchsten  religiösen  Standpunkt  verschärft  wird,  nennt 
Kierkegaard  den  Schmerz  der  Sympathie,  der  dadurch 
entsteht,  dass  der  Einzelne  nicht  länger  mit  jedem 
Menschen  als  Menschen,  sondern  wesentlich  nur  mit  den 
Christen  sympathisieren  kann.  Seine  Nächsten  sogar 
muss  er  vielleicht  hassen:  ,,denn  ist  es  nicht,  als  hasste 
■er  sie,  wenn  er  seine  Seligkeit  an  eine  Bedingung  ge- 
knüpft hat,  die  sie,  wie  er  weiss,  nicht  annehmen?'' 
(ib.  S.  551.)  —  Nicht  immer  hat  Kierkegaard  der  Sym- 
pathie das  Recht  dazu  gegeben,  ein  Wort  des  Schmerzes 
mitzureden.  In  seinen  Tagebüchern  (1844 — 46,  S.  171) 
führt  er  mit  eigener  Zustimmung  eine  muhammedanische 
Legende  an,  wonach  Adam  ausruft:  ,,Acli  Herr,  rette 
nur  meine  Seele;  ich  kümmere  mich  weder  um  Eva 
noch  um  Abel."  Das  Wort  „Sehet  auf  euch  selbst" 
'(Marci,  13,  9)  erklärt  er  in  ähnlicher  Richtung.  Und 
auch  wo  er  den  Schmerz  der  Sympathie  hervortreten 
lässt,  gestattet  er  ihm  doch  keinen  Einfluss  auf 
den  Glauben;  er  zieht  nicht  wie  Schleiermacher  die 
Konsequenz,  dass  bei  diesem  Schmerz  des  Mitgefühls 
ieine  ewige  Seligkeit  möglich  sei.  Psychologisch  und 
.ethisch  betrachtet  liegt  hier  vielleicht  der  grösste  und 
schreiendste,  um  nicht  zu  sagen  empörendste  der  Wider- 
sprüche in  der  paradoxen  Religiosität.  Kierkegaard 
hat  auch  diesen  Widerspruch  genannt  —  aber  er 
giebt  ihm  doch  nur  die  letzte  Stelle.  Es  ist  eine 
Konsequenz     aus     dem    Prinzip      des    Einzelnen:     was 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  127 

geht    es    schliesslich    mich    an,    ob  die   andern  auch 
selig  werden  oder  nicht!  — 

Die  romantisch- spekulative  Harmonie,  die  durch 
den  qualitativen  Ruck  je  zwischen  den  einzelnen  Stadien 
bereits  in  ihren  Grundfesten  erschüttert  worden  war, 
scheitert  nun  zuletzt  vollständig  an  der  scharfen  und 
steilen  Klippe  des  Paradoxes.  —  Von  Kierkegaards 
Auffassung  des  Christentums  überhaupt  zu  reden,  werden 
wir  Veranlassung  haben,  wenn  wir  an  sein  letztes 
Auftreten  kommen. 

c.  Der  Massstab. 
1.  In  seiner  Darstellung  und  Schätzung  der  ,, Stadien" 
bringt  Kierkegaard  einen  bestimmten  Massstab  zur  An- 
wendung. Worin  er  besteht,  hebt  er  einmal  selbst 
ausdrücklich  hervor,  indem  er  zu  zeigen  sucht,  dass 
,,die  Rangordnung  aller  Lebensanschauungen  sich  nach 
der  dialektischen  Verinnerlichung  des  Individuums  in 
ihnen  richtet."  (,, Nachschrift",  S  537.)  Die  Verinner- 
lichung aber  wächst  wiederum  je  mit  den  qualitativen 
und  quantitativen  Gregensätzen  oder  Widersprüchen,  die 
sich  im  Innern  des  Individuums  geltend  machen.  Es 
ist  der  Grrad  der  Spannung,  der  über  die  Höhe  des 
Standpunkts  entscheidet.  Die  wachsende  Spannung 
führt  —  ohne  dass  doch  die  höheren  Spännungsgrade 
successiv  aus  den  niederen  entstanden  sein  könnten  — 
von  Stadium  zu  Stadium  und  zuletzt  (wenn  das  Indi- 
viduum nicht  an  dem  Ideal  abdingt  oder  sich  abstumpft) 
zu  der  paradoxen  Religiosität,  indem  das  Leben  ohne 
übernatürliche  Hilfe  zur  Verzweiflung  wird.  Kierkegaard 
konstruiert  mit  Hilfe  dieses  formalen  Massstabes  eine 
Reihe  Lebensstufen,  die  an  bestimmten  Knotenpunkten 
abgebrochen  werden.  Das  gegensätzliche  Verhältnis 
tritt  so  in  zwei  Formen  auf:  als  Gegensatz  successiver 
Zustände  bei  dem  Sprung,  der  Krisis,  die  den  Ueber- 
gang  von  einem  Stadium  zum  andern  bewirkt;    und  als 


128 


VI.  Sören  Kierkegaard  Philosophie. 


Gegensatz  gleichzeitiger  Momente  innerhalb  eines; 
und  desselben  Stadiums  bei  den  streitenden  Elementen, 
die  zusammen  gehalten  werden  sollen. 

Man  wird  kaum  fehlgehen,  wenn  man  vermutet, 
dass  wir  in  diesem  formalen  Massstabe  eine  Nachwirkung 
der  Hegeischen  Methode  vor  uns  haben,  die  das  Denken 
durch  stätes  Setzen  von  Gegensätzen,  die  dann  zu  ver- 
söhnen waren,  vorwärts  trieb.  Der  Unterschied  ist  nur 
der,  dass  für  Kierkegaard  die  Gegensätze  sich  nicht  je 
einer  aus  dem  andern  entfalten,  wie  deren  Versöhnung 
für  ihn  auch  nicht  von  selbst  erfolgt.  Er  vertauscht 
daher  den  Begriff  der  Mediation  mit  dem  der  Wieder- 
holung. Gleichwohl  hat  er  einen  Rest  von  der  Methode 
beibehalten,  wenn  er  ihn  auch  weit  vorsichtiger  an- 
wendet. Mit  seiner  Hilfe  konstruiert  er  mögliche  Stand- 
punkte und  sieht  dann  nach,  ob  sie  sich  in  der  Wirk- 
lichkeit vorfinden.  Gegen  dies  Verfahren  lässt  sich  an 
sich  nichts  einwenden;  es  bezeichnet  vielmehr  einen 
grossen  Fortschritt  gegenüber  der  spekulativen  Methode, 
die  zwischen  den  konstruierten  Möglichkeiten  und  den 
gegebenen  Wirklichkeiten  nicht  unterschied.  Die  Frage 
ist  aber,  ob  der  Massstab  selbst  eine  Berechtigung  hat? 
Von  der  Beantwortung  dieser  Frage  hängt  die  schliess- 
liche  Bedeutung  ab,  die  man  dem  ethisch-religiösen 
Standpunkte  Kierkegaards  beilegen  kann. 

2.  Vom  Sprung  war  schon  die  Rede.  Ich  komme 
hier  zu  dem  Gegensatz  auf  einander  folgender  Zustände 
zurück,  um  zu  untersuchen,  ob  Kierkegaard  ein  Recht 
hat,  ihm  eine  so  entscheidende  Bedeutung  für  das  per- 
sönliche Leben  beizumessen,  wie  er  es  thut. 

Ein  Uebergang  ist  für  ihn  jederzeit  ein  Bruch, 
(,, Nachschrift'*  S.  271  ff.)  ,, Innerhalb  der  Immanenz",  d.  h. 
innerhalb  einer  Lebensanschauung,  die  eine  natürliche 
und  stätig  fortlaufende  Entwicklung  auf  dem  geistigen 
Gebiete  annimmt,  kann  nach  seiner  Auffassung  von 
Krisen    eigentlich    keine  Rede    sein.    (1844—  46;  S.  48.) 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  ]^29 

Hier  liat  sich  Kierkegaard  in  seiner  Polemik  gegen  die 
glatten  Uebergänge  der  spekulativen  Philosophie,  die 
nur  in  der  Phantasie  oder  auf  dem  Papier  vor  sick 
gingen,  entschieden  zu  weit  führen  lassen.  Allerdings- 
brachte  er  —  und  das  ist  ein  grosses  Verdienst  —  die 
Bedeutung  der  wirklichen  Uebergänge  zur  Geltung 
im  Gegensatz  zu  den  nur  gedachten,  worin  man 
schwelgte,  indem  man  über  seinem  historischen  Wissen 
von  verschiedenen  möglichen  historischen  Standpunkten 
zu  untersuchen  vergass,  auf  welchem  man  nun  selbst  in 
Wirklichkeit  stand.  Allein  der  Unterschied  zwischen 
den  gedachten  und  den  wirklichen  Uebergängen  braucht 
nicht  darin  zu  bestehen,  dass  jene  kontinuierlich  sind, 
diese  aber  nicht.  Ein  Uebergang,  durch  den  man  ein 
für  das  persönliche  Leben  wichtiges  Ziel  erreicht,  kann 
sehr  wohl  kontinuierlich  vor  sich  gehen.  Das  Wasser 
bewegt  sich  doch  im  dahinfliessenden  Strome  so  gut  vor- 
wärts wie  in  dem  niederstürzenden  Wasserfall,  und  die 
letztere  Bewegung  hat  nur  für  die  äussere,  sinnliche  Auf- 
fassung mehr  Realität  als  die  erstere.  So  eifrig  Kierke- 
gaard auch  für  das  Leben  kämpft,  so  lässt  er  hier  doch 
das  Leben  nicht  zu  seinem  Rechte  kommen;  er  hat  kein 
Auge  für  die  kleinen  Dinge,  für  den  kleinen  Zuwachs, 
der  sich  still  immer  wieder  anfügt  und  oft  unvermerkt, 
das  vollbringt,  was  als  gross  und  hoch  gepriesen  wird. 
Nur  wer  anerkennt,  dass  das  Leben  viele  Wege  und, 
Arten  für  seine  Entfaltung  hat,  nur  der  giebt  ihm  sein, 
Recht.  Warum  es  in  die  Zwangsjacke  einer  Methode 
einschnüren?  Ein  Ruck,  ein  Sturz,  eine  Krisis  kann 
notwendig  sein,  wo  ein  Widerstand  überwunden,  eine 
entscheidende  Wendung  vorgenommen  werden  soll.  Aber 
auch  hier  sogar  wird  bei  genauerem  Zusehen  die  Kon- 
tinuität nicht  abgebrochen.  Die  Stille  vor  der  Kata- 
strophe (wenn  z.  B.,  um  eines  der  prächtigen  Bilder 
Kierkegaards  zu  brauchen,  das  Raubtier  vor  dem  ent- 
scheidenden Sprung  ganz   stille  liegt)   bedeutet  gerade, 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  9 


130  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

dass  die  Kraft  gesammelt  wird,  die  im  entscheidenden 
Augenblick  ausgelöst  wird.  So  staut  man  das  Wasser, 
damit  es,  wenn  das  hemmende  Brett  hinweggezogen 
wird,  mit  gesammelter  Kraft  dahinschiesse.  Es  ist  auf 
dem  geistigen  Gebiete,  wie  überall,  die  Aufgabe  der 
Erkenntnis,  zu  untersuchen,  ob  der  scheinbare  Sprung 
nicht  als  Auslösung  einer  lange  im  Stillen  angesammelten 
Energie  zu  erklären  ist.  Zurück  bleibt  dann  immer 
noch  der  grosse  und  bedeutungsvolle  Unterschied  zwi- 
schen einer  geistigen  Entwicklung,  die  mehr  dem  stätig 
dahinströmenden  Flusse  gleicht,  und  einer  solchen,  die 
mehr  an  den  Sturz  des  Wasserfalls  gemahnt.  Hier 
muss  man,  wenn  man  selbst  auf  dem  Boden  des  Lebens 
stehen  will,  anerkennen,  dass  die  inneren  und  äusseren 
Bedingungen  nicht  bei  allen  dieselben  sind,  daher  auch 
die  Entwicklung  bei  den  einen  so,  bei  den  andern  wieder 
anders  verläuft.  Diese  Thatsache  ist  eigentlich  in  dem 
Satze  anerkannt,  dass  die  Subjektivität  die  Wahrheit 
ist.  Kierkegaard  aber  hat,  wie  schon  gezeigt,  die  grossen 
Konsequenzen  dieses  Satzes  nicht  ziehen  können,  noch 
wollen. 

3.  Noch  mehr  versündigt  er  sich  am  Leben  dadurch, 
dass  er  Spannung  und  Leiden  zu  Kriterien  für  die  Höhe 
eines  Standpunkts  macht.  Hier  gilt  etwas  Aehnliches 
wie  bei  der  Krisis  oder  dem  Sprung.  Die  Spannung 
kann  für  die  Wahrheit  und  Kraft  des  Lebens  notwendig 
sein:  ein  Zeichen  dafür,  dass  es  die  Aufgabe  nicht  von 
sich  wegschiebt,  die  es  lösen  soll  und  muss.  So  oft  ein 
neues  Element,  ein  neues  Verhältnis  in  Kraft  tritt  und 
in  den  Zusammenhang  des  Lebens  aufgenommen  werden 
soll,  kann  es,  bevor  die  Aufnahme  geglückt  ist,  zu  einer 
Spannung  kommen.  Die  Spannung  ist  aber  an  sich 
selbst  doch  ein  Zeichen  für  ein  Uebergangsstadium,  und 
der  Massstab  kann  nicht  in  ihr  gesucht  werden.  Reich- 
tum und  Fülle  fehlt  einem  Leben  damit  noch  nicht,  dass 
^s    seine  Elemente   beherrscht    und     seine    Einheit    zu 


IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  131 

erhalten  vermag;  selbst  wenn  Gegensätze  sich  geltend 
machen,  können  sie  bereichern,  ohne  zu  zersplittern  und 
zu  schmerzen.  Es  liegt  in  der  allgemeinen  Natur  des 
Bewusstseins  als  einer  Synthese,  einer  zusammenfassenden 
Einheit,  dass  nicht  nur  der  Gegensatz,  sondern  auch 
die  Konzentration  sich  geltend  machen  muss,  solange 
das  Bewusstseins  leben  dauert.  Wenn  man  den  Massstab 
für  das  Leben  vom  Leben  selbst  herholt,  so  kann  man 
das  Entscheidende  nicht  einseitig  in  der  Spannung  sehen. 

Für  die  humane  Ethik,  die  den  Massstab  vom  Leben 
selbst  herholt  und  für  die  die  ethische  Entwicklung  nur 
in  einer  höheren,  harmonischen  Entfaltung  des  wirklichen 
Lebens  bestehen  kann,  bedeutet  es  keine  Abschwäcliung 
des  Ideals  und  der  Anforderung,  wenn  man  anerkennt, 
dass  diese  nach  der  Natur  des  Einzelnen  bestimmt 
werden  müssen.  Wozu  sich  trotz  alles  Suchens  und 
Weckens  in  der  Natur  des  Einzelnen  keine  Keime  oder 
Möglichkeiten  auffinden  lassen,  das  kann  nicht  ethisches 
Gesetz  für  ihn  sein.*)  Und  wenn  auch  eine  Spannung 
und  Unruhe  geweckt  werden  könnte,  so  wäre  das  nur 
dann  zu  verantworten,  wenn  auch  Kräfte  zur  Ueber- 
windung  der  Spannung  vorhanden  wären.  Die  Ver- 
antwortung trifft  den,  der  die  sichere  Harmonie  aufhebt, 
ohne  zu  einer  neuen  Harmonie  weiterführen  zu  können. 
Die  von  Kierkegaard  nicht  anerkannte  griechische  Ethik 
enthält  in  der  That  die  Grundgedanken,  womit  alle 
Ethik,  die  nicht  lebensfeindlich  ist,  steht  und  fällt.  Das 
ethische  Gute  ist  die  harmonische  Entfaltung  der  Lebens- 
kräfte in  den  einzelnen  Persönlichkeiten,  die  wieder 
verlangt,  dass  auch  zwischen  der  Entwicklung  der 
einzelnen  Persönlichkeiten  Harmonie    hergestellt  werde. 

Kierkegaard  aber  will  gar  keine  Definition  des 
Guten  geben.  Der  einzige  Massstab,  dessen  er  sich 
bedienen    kann,    bleibt    daher    formal    und    wird    durch 


*)  Vgl.    H.  Höffding:    The    law  of  relativity  ia  Ethics  (Inter- 
national Journal  of  Ethics,  Vol.  I). 

9* 


132 


IV.  Söreu  Kierkegaards  Philosophie. 


seinen  religiösen  Standpunkt  bestimmt.  In  seiner  Kon- 
struktion der  Stadien  lässt  er  sich  (wie  in  seiner  Er- 
kenntnistheorie) von  der  Absicht  leiten,  die  paradoxe 
Religiosität  vorzubereiten,  die  psychologischen  Beding- 
ungen für  die  leidenschaftliche  Hingebung  an  das 
Absurde  herbeizuschaffen.  Deshalb  operiert  er  beständig 
mit  dem  Zustande  der  Spannung  und  lässt  die  Peit- 
schenhiebe des  sich  steigernden  Leidens  immer  wuch- 
tiger auf  den  Rücken  „des  Einzelnen"  fallen.  Was  an 
einer  solchen  Ethik,  falls  sie  realisiert  würde,  zu 
bewundern  bliebe,  das  wäre  die  leidenschaftliche  Ener- 
gie, die  Willenskraft,  womit  aller  Anspannung  zum 
Trotz  ausgehalten  wurde.  Aber  solche  Eigenschaften 
kann  man  auch  im  Dienste  ganz  anderer  Ziele  bethä- 
tigen,  wie  wenn  der  Goldmacher  ,,das  Absolute*',  das 
auch  hier  grausam  ist,  auf  seine  Weise  sucht,  früh  und 
spät,  mit  steigender  Leidenschaft  und  steigendem 
Schmerze,  um  seinetwillen  Weib  und  Kind  „hassend'^ 
und  aufopfernd.*)  Der  humane  Ethiker  verhält  sich  zu 
dem  Asketen,  wie  der  Chemiker  zum  Alchymisten.  Er 
bewundert  die  Energie,  die  Ausdauer,  die  Leidenschaft 
und  die  vielen  neuen  und  tiefen  Gedanken,  die  unter 
der  einsamen  Arbeit  produziert  werden;  er  wünscht 
aber,  dass  alle  diese  edlen  Kräfte  lieber  im  Dienste 
anderer  Ziele  verwendet  würden. 

4.  Die  rein  formale  Betrachtungsweise,  die  Kierke- 
gaard bei  der  Darstellung  und  Beurteilung  der  Stadien 
beobachtet,  führt  ihn  zu  Konsequenzen,  wovon  er  selbst 
zurückschreckt.  Wenn  Widerspruch  und  Leiden  die 
Kennzeichen  des  Höchsten  wären,  so  müsste  ja  notwen- 
digerweise, wie  es  scheint,  das  absolute  Paradox  darin 
bestehen,  dass  Gott  nicht  bloss  Mensch  würde,  sondern 
es  auch  so  würde,  dass  er  unkenntlich  wäre,  indem  er 
ganz  wie    andere   Menschen   und  in   den   gewöhnlichen 


*)  Vgl.  Balzac,  Die  Jagd  nach  dem  Absoluten. 


ly.  Sören  Kierkegaards  Philosophie.  133 

menschlichen  Verhältnissen  lebte,  ohne  dass  seine 
Lebensweise  oder  übernatürliche  Vorkommnisse  und 
Handlungen  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn  hinlenkten! 
Und  müsste  er  nicht  zugleich  in  dem  versucht  werden, 
was  in  den  Augen  Kierkegaards  nach  seiner  eigenen 
Erfahrung  das  drückendste  Leiden  war,  in  der  Schwer- 
mut, in  Krankheit  des  Gemüts?  Diese  Gedanken  sind 
Kierkegaard  durch  den  Sinn  gegangen  und  haben  in 
den  „Philosophischen  Bissen"  und  mehrfach  in  den 
Tagebüchern  der  Jahre  1843  und  1849  ihren  Ausdruck 
gefunden.  „Gott  helfe  dem  armen  Kopf,  der  mit  der 
Art  Zweifel  zu  thun  hat!"  ruft  er  aus.  Hierauf  ist  zu 
•erwidern,  dass  nur  grosse  und  starke  Geister,  die  von 
ihren  einmal  angenommenen  Voraussetzungen  aus  kon- 
sequent denken  und  ihre  Gedanken  nicht  halbieren,  mit 
der  Art  Zweifel  zu  thun  bekommen. 

Für  Kierkegaard  lag  die  Lösung  in  der  Unter- 
scheidung des  absoluten  Paradoxes  und  des  gött- 
lichen Paradoxes.  Da  Gott  die  Liebe  ist,  hätte  er 
sich  nicht  in  der  Form  des  absoluten  Paradoxes  offen- 
baren können;  es  wäre  das  keine  wirkliche  Offenbarung 
gewesen,  da  so  die  Verbindung  zwischen  Gott  und 
Mensch  nicht  zu  Stande  gebracht  werden  könnte. 
Diese  Lösung  hier  am  Schlüsse  der  Kierkegaardschen 
Gedankreihen  ist  von  derselben  Wirkung,  wie  wenn 
am  Schlüsse  von  Henrik  Ibsens  ,, Brand''  durch  das 
Rollen  des  Donners  hindurch  der  Ruf  ertönt:  ,,Er  ist 
deus  caritatis!"  —  Dieser  Appell  an  die  Liebe  zieht 
der  ganzen  vorausgehenden  formalen  Konstruktion  und 
Beurteilung  der  Lebensstadien  den  Grund  unter  den 
Füssen  weg  und  deutet  auf  ein  Lebensgesetz  hin,  des- 
sen erste  Forderung  nicht  ist,  dass  die  eigenen  Kräfte 
und  Triebe  des  Lebens  gebrochen  werden.  Wenn  die 
Liebe,  an  die  hier  appelliert  wird,  von  dem,  was  Men- 
schen allein  als  Liebe  kennen  und  verstehen  können, 
nicht  ,, qualitativ  absolut  verschieden''  wäre,    so  müsste 


134  IV.  Sören  Kierkegaards  Philosophie. 

die  Verinnerlich ung  und  Vertiefung  des  Lebens  auf 
einem  anderen  Wege  zu  erreichen  sein,  als  den  Kierke- 
gaard uns  wies.  Jedenfalls  aber  giebt  er  jenem  Appell 
keine  rückwirkende  Kraft.  Vielmehr  gewinnen  das 
Leiden  und  die  Disharmonie  als  Lebensgesetze  eine 
immer  schärfere  und  umfassendere  Bedeutung  in  seiner 
Betrachtung.  Das  Leiden  ist  wie  eine  fatalistische 
Notwendigkeit,  unter  die  gar  der  göttliche  Wille  sich 
beugen  muss,  und  die  —  eben  weil  die  Gottheit  doch 
als  Liebe  aufgefasst  wird  —  ihre  dunkeln  Schatten  in 
die  Lichtwelt  der  Ewigkeit  hineinwirft.  Es  heisst  in 
einer  Tagbuchsnotiz  aus  Kierkegaards  letzten  Jahren: 
,,Als  Kind  hörte  ich  viel  davon,  dass  im  Himmel  grosse 
Freude,  eitel  Freude  sei;  ich  glaubte  es  auch,  und  ich 
dachte  mir  Gott  selig  in  eitel  Freude.  Aber  ach,  je 
mehr  ich  darüber  nachdenke,  muss  ich  mir  Gott  eher 
in  Trauer  thronend  vorstellen  als  einen,  der  am  aller- 
besten weiss,  was  Trauer  ist."  (1854 — 55,  S.  169.)  Hier 
zieht  Kierkegaard  die  Konsequenz,  die  er  in  einem 
anderen  Zusammenhang  nicht  ziehen  wollte.  Das 
menschliche  Mitgefühl,  das  er  an  dem  Dogma  von  der 
ewigen  Unseligkeit  der  Menschen  nicht  rütteln  lassen 
wollte,  ist  hier  so  herangewachsen,  dass  es  sogar  das 
Dogma  von  der  Seligkeit  der  Gottheit  selbst  antasten 
darf.  Die  Stimme  der  Natur  lässt  sich  auch  noch  in 
dem  höchsten  theologischen  Ideenkreise  vernehmen: 
eine  Bestätigung  des  Satzes,  dass  die  Theologie 
Psychologie  ist.  Nach  den  Resultaten  der  Erfahrungen 
des  inneren  Lebens  bestimmt  sich  der  Inhalt  der 
Gottesidee. 


I 


V. 

Sören  Kierkegaard  und  das  Christentum. 

A.     Persönlicher  Durchbruch. 

1.  Nach  der  ausserordentlich  reichen  Produktion, 
welche  die  Jahre  1843—46  ausfüllte,  hatte  Sören  Kier- 
kegaard das  Gefühl,  dass  er  das,  was  ihm  vorläufig  im 
Sinne  lag,  zum  Ausdruck  gebracht  hatte.  „Nun  bin  ich 
mit  den  Büchern  fertig",  schrieb  er  im  Sommer  1847 
in  sein  Tagebuch.  Im  selben  Jahre  erschien  noch 
„Leben  und  Walten  der  Liebe",  eine  seiner  treff- 
lichsten rein  religiösen  Schriften;  sie  enthält  aber  keine 
neuen  Gedanken,  die  von  entscheidender  Bedeutung  für 
das  Verständnis  seiner  Anschauung  wären.  Hingegen 
sind  in  den  Aufzeichnungen  aus  diesem  Jahre  Andeu- 
tungen einer  wichtigen  und  eingreifenden  Aenderung  in 
seinem  persönlichen  Leben  zu  bemerken.  Schon  bisher 
war  das  Christentum  für  ihn  wohl  das  Höchste  gewesen, 
und  in  seinen  religiösen  Reden  hatte  er  christliche 
Gedanken  entwickelt.  Doch  hatte  er  in  seiner  Dar- 
stellung und  Einschärfung  der  christlichen  Lebensan- 
schauung sich  vorherrschend  der  indirekten  Methode 
bedient;  er  hatte  sie  durch  einen  Pseudonym  (Johannes 
Climacus)  vertreten  lassen,  der  selbst  erklärte,  er  sei 
nicht  Christ.  Er  konnte  noch  nicht  im  strengen  Sinne 
finden,  dass  sein  persönliches  Leben  und  der  christliche 
Glaube  sich  decken.  Seine  Schwermut,  die  ihm  beson- 
ders Kämpfe  verursachte,  hatte  er  bisher  niedergehalten, 
—  nicht  indem  er  sie  direkt  durch  die  Freudigkeit  des 
Glaubens  bekämpfen  Hess,  sondern  indem  er  sie  durch 
seine  schriftstellerische,  alle  Kraft  in  Anspruch  nehmende 
Thätigkeit  ableitete.  Solange  er  produzieren  konnte, 
wurde   die  Schwermut  gebannt.     Das  rhythmische  Ver- 


136 


y.  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentam. 


hältnis  zwischen  diesen  zwei  Elementen  seiner  Natur 
haben  wir  schon  früher  hervorgehoben.  Nun  aber  fühlte 
er  den  Drang  zu  einer  tieferen,  direkteren  Abrechnung 
mit  der  finstern  Macht  in  seinem  Innern:  „Ich  fühle 
nun'',  schreibt  er  im  August  1847,  „einen  Drang,  zu 
einem  tieferen  Verständnis  meiner  selbst  zu  kommen, 
indem  ich  im  Verständnis  meiner  selbst  Gott  näher 
komme  ....  Ich  muss  sehen,  wie  ich  meiner  Schwer- 
mut besser  beikomme.  Sie  hat  seither  im  tiefsten 
Grunde  geruht,  und  die  ungeheure  geistige  Anstreng- 
ung hat  mir  geholfen,  sie  niederzuhalten  .  .  .  Nun  will 
es  Gott  anders.  Es  regt  sich  etwas  in  mir,  das  auf 
eine  Metamorphose  deutet  .  .  .  Ich  will  mich  daher 
jetzt  still  verhalten  .  .  .  sehen,  dass  ich  zu  mir  selbst 
komme,  dass  ich  meine  Schwermutsgedanken  auf  der 
Stelle  recht  mit  Gott  zusammendenke.  Auf  die  Weise 
muss  meine  Schwermut  gehoben  werden  und  das  Christ- 
liche mir  näher  kommen.'' 

Die  Metamorphose,  die  er  kommen  sah,  scheint  für 
ihn  auf  einen  bestimmten  Zeitpunkt,  nämlich  an  Ostern 
1848,  eingetreten  zu  sein.  Die  Tagebücher  von  1848 
und  1849  weisen  häufig  auf  diese  Zeit  als  auf  einen 
entscheidenden  Wendepunkt  zurück.  —  „Ich  glaube 
nun,  dass  Christus  mir  zum  Sieg  über  meine  Schwer- 
mut verhelfen  wird,  und  dann  werde  ich  Pfarrer", 
schreibt  er  am  19.  April  1848.  Bisher  hatte  er  „dem 
Grundschaden  seines  Wesens"  gegenüber  sich  in  Resig- 
nation verhalten,  und  sein  schriftstellerisches  Schaffen 
hatte  durch  seine  ableitende  Wirkung  ihm  dazu  ge- 
holfen. Aber  kurz  nach  jenem  Durchbruch  schreibt  er 
nunmehr:  „Jetzt  bin  ich  am  Glauben  im  tiefsten  Sinne.. . 
Bei  Gott  ist  alles  möglich;  dieser  Gedanke  ist  nun  im 
tiefsten  Sinne  meine  Lösung;  er  hat  eine  Bedeutung 
für  mich  gewonnen,  wie  ich  mir's  nie  gedacht  hatte." 
^ Jetzt  erst,  jetzt,  in  meinem  34.  Jahre,  habe  ich  viel- 
leicht   soviel    gelernt,    der  Welt   abgestorben    zu   sein, 


I 


V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentam .  137 

dass  für  mich  die  Rede  davon  sein  kann,  mein  ganzes 
Leben  und  meine  ganze  Seligkeit  im  Glauben  an  die 
Vergebung  der  Sünden  zu  finden."  (1848,  S.  61  f.  388.) 

Was  er  mehreremale  seine  Pseudonymen  über  den 
Unterschied  zwischen  Resignation  und  dem  christlichen 
Glauben  (man  vgl.  z.  B.  „die  Wiederholung"  und  die 
Schilderung  des  Unterschieds  zwischen  der  ».Reli- 
giosität -7"  und  der  „Religiosität  B "  in  der  „Nach- 
schrift") hatte  entwickeln  lassen,  das  konnte  er  nun 
«rst  in  seinem  eigenen  persönlichen  Leben  als  innere 
wirkliche  Erfahrung  wieder  finden  und  wiedererkennen. 
Wie  schlagend  tritt  hier  nicht  des  Mannes  grosse  Ehr- 
lichkeit gegen  sich  selbst  hervor !  Und  wie  meisterhaft 
hat  er  es  verstanden,  in  der  Form  der  Phantasie  und 
Reflexion  Standpunkte  und  Lebensanschauungen  in  vol- 
ler, konkreter  Beleuchtung  zu  entwerfen,  ohne  doch 
der  Versuchung  zu  erliegen,  für  persönliche  Erfahrung 
zu  nehmen,  was  er  auf  diese  Weise  konstruieren  konnte! 
Er  ist  in  Wahrheit  ein  kritischer  Philosoph,  wenn  die 
Xritik  vor  allem  in  einer  scharfen  Sonderung  des  bloss 
Hypothetischen  und  Spekulativen  von  der  gegebenen 
Wirklichkeit  besteht.  Kaum  hat  er  in  solcher  Kritik 
auf  dem  Gebiete  der  subjektiven  Welt,  die  seine  Welt 
war,  seinesgleichen  neben  sich.  Und  wie  trefflich  ver- 
steht er  sich  auf  sein  Programm :  Schwierigkeiten  auf- 
zufinden. Denn  die  simpelsten  christlichen  Sätze,  die 
so  manche  leicht  und  frischweg  zu  erreichen  meinen, 
gewinnt  er  nur  in  langer  Entwicklung  und  angestreng- 
tester Arbeit.  Er  konnte  mit  Recht  sagen,  es  sei 
Redlichkeit,  was  er  wollte.  Er  verlangte  sie  von 
sich  selbst,  ehe  er  sie  von  andern  verlangte. 

2.  Es  mochte  jetzt  scheinen,  dass  er  seine  öffent- 
liche Wirksamkeit  abschliessen  und  sich  auf  eine  Land- 
pfarrei zurückziehen  könnte.  Auch  mussten  ihn  seine 
ökonomischen  Verhältnisse  auffordern,  eine  besoldete 
Stellung    zu    suchen,    da    sein    Vermögen    in    wenigen 


138 


V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Ghristentam. 


Jahren  aufgebraucht  sein  musste.  Allein  der  persönliche 
Durchbruch  führte  zu  einer  neuen,  religiösen  Produktion 
mehr  positiver  und  zugleich  polemischer  Art  als  die 
frühere.  Und  noch  andere  Verhältnisse  wirkten  dabei 
mit,  dass  er  seine  schriftstellerische  Thätigkeit  nicht 
aufgeben  zu  dürfen  glaubte. 

Entrüstet  darüber,  dass  das  von  M.  A,  Goldschmidt 
herausgegebene  Witzblatt  „I)er  Korsar"  so  vieles  und 
so  viele  unverdienterweise,  wie  er  meinte,  verspottete 
und  karikierte,  während  es  sich  häufig  in  bewundernden 
und  ehrenden  Worten  über  ihn  aussprach,  verlangte  er 
(in  einem  Artikel  des  „Vaterlands")  von  diesem  Blatte 
künftig  nicht  mehr  gerühmt,  sondern  lächerlich  gemacht 
zu  werden.  Von  da  an  wurde  er  im  ,, Korsar"  eine 
stehende  Figur  mit  seinen  dünnen  Beinen  und  kurzen 
Beinkleidern.  Da  er  viel  auf  der  Strasse  erschien  und 
wohl  bekannt  war,  steigerte  sich  hiedurch  die  öfi'ent- 
liehe  Aufmerksamkeit  auf  ihn  in  einer  vielleicht  wenig 
angenehmen  Weise,  der  er  in  seiner  schwermütigen  Art 
die  allerschlimmste  Deutung  gab.  Er  grollte  in  seinem 
Innersten  über  diese  ,, Verhöhnung"  und  legte  ihr  weit 
grössere  Bedeutung  bei,  als  sie  in  Wirklichkeit  hatte. 
Es  schmerzte  ihn  tief,  dass  die  einfachen  Leute,  die  er 
herzlich  liebte  und  unter  denen  er  so  gerne  weilte,  ihn 
nun  —  wie  er  glaubte  —  als  eine  komische  Figur 
betrachteten  oder  vielleicht  gar  beargwöhnten.  Am 
meisten  aber  grollte  er  darüber,  dass  die  angesehenen 
und  vornehmen  Männer  in  den  litterarischen  Kreisen, 
die  gleich  ihm  schon  lange  über  das  Unwesen  der 
Presse  entrüstet  waren,  ihn  nun  ihm  Stiche  Hessen 
oder,  wie  er  meinte,  an  der  ihm  zugefügten  Behandlung, 
zur  Befriedigung  ihrer  Missgunst  sich  sogar  weideten. 
Es  wurde,  meinte  er,  ein  eigentliches  Nationalverbrechen 
an  ihm  begangen,  und  er  hatte  in  dieser  ganzen  Sache 
einen  Beweis  von  der  Erbärmlichkeit  der  niederen  und 
der  Charakterlosigkeit  der  höheren   Kreise  bekommen. 


I 


V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentum.  139^ 

Zum  Abscheu  vor  der  Menge  kam  nun  die  Verstimmung 
gegen  die  Autoritäten.  Es  kam  etwas  ins  Wanken^ 
was  ihm  bisher  festgestanden  hatte.  —  Wenn  Kierke- 
gaard in  der  Weise,  wie  der  Stadtklatsch  mit  seiner 
Person  sich  beschäftigte,  mit  Recht  einen  Beweis  für 
das  Kleinstädtische  in  unseren  Verhältnissen  sah,  so 
kann  man  freilich  mit  gleichem  Recht  sagen,  dass  er  selbst 
diese  Geschichte  mit  kleinstädtischem  Sinne  aufnahm. 
Es  mutet  einen  sonderbar  an,  wenn  zahlreiche  Blätter 
seines  Tagebuchs  dieser  Sache  gewidmet  sind.  In  seiner 
Einsiedlerstille  lässt  er  für  sich  selbst  seinen  Grimm 
darüber  aus,  dass  man  gesagt  habe,  sein  eines  Hosen- 
bein sei  länger  als  das  andere,  und  diese  höchst  gra- 
vierende Verleumdung  dementiert  er  dann  auch  sofort 
—  im  Tagebuch  —  als  .,Lüge''.  —  Kennten  wir  nicht 
seine  Schwermut  und  die  subjektive  Expansion,  wodurch 
kleine  Vorfälle  in  seinem  Leben  zu  prinzipiellen  Ent- 
scheidungen potenziert  wurden,  so  möchte  man  seine- 
Weise,  diese  Sache  aufzunehmen,  kleinlich  und  unwürdig 
nennen.  Sie  gewann  nun  nicht  geringe  Bedeutung  für 
ihn;  sie  trug  dazu  bei,  dass  er  auf  seinem  Posten  ver- 
blieb, da  er  nicht  wollte,  dass  es  so  aussehe,  als  flüchtete 
er  sich  vor  dem  Geschwätz  der  Leute. 

Hiezu  kam  noch  die  starke  politische  Bewegung, 
die  in  seinen  Augen  eine  gänzliche  Auflösung  herbei- 
führte, und  der  gegenüber  die  Autoritäten,  besonder» 
Bischof  Mynster,  an  dem  er  bisher  hinaufgesehen  hatte, 
nach  seiner  Meinung  es  an  der  gebührenden  Festigkeit 
und  Bestimmtheit  fehlen  Hessen.  Es  sieht  sich  sonder- 
bar an,  wie  unberührt  er  von  allem  blieb,  was  im  Jahre 
1848  sich  ereignete.  Zu  Beginn  dieses  Jahres  schreibt 
er  in  sein  Tagebuch:  „Und  so  sitze  ich  hier.  Draussen 
ist  alles  in  Bewegung,  die  Idee  der  Nationalität  durch- 
wogt sie  alle  .  .  .  Und  ich  sitze  in  meinem  stiUen 
Zimmer  (ich  werde  wohl  bald  wegen  meiner  Gleich- 
gültigkeit gegen  die  nationale  Sache  in  Verruf  kommen}* 


140 


Y.  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentam. 


ich  kenne  nur  eine  Gefahr,  die  der  Religiosität."  (1848, 
S.  45.)  Wie  er  die  äusseren  politischen  Verhältnisse 
betrachtete,  zeigt  folgende  Aeusserung  aus  derselben 
Zeit:  ,,Die  ganze  Furcht  vor  Deutschland  ist  eine  Ein- 
bildung, ein  Spiel,  ein  neuer  Versuch,  dem  Nationalstolz 
zu  schmeicheln." 

Was  ihn  in  diesen  Jahren  am  mächtigsten  bewegte, 
das  waren  nicht  die  äussern  Vorgänge  in  der  Welt, 
sondern  die  in  seinem  Innern.  Und  diese  waren  denn 
auch  der  wesentlichste  Grund,  dass  er  seine  schrift- 
.stellerische  Wirksamkeit  nicht  aufgab,  sich  nicht  zu 
einem  stillen  Leben  aufs  Land  zurückzog.  Durch  den 
Durchbruch,  der  in  religiöser  Hinsicht  in  ihm  vor  sich 
gegangen  war,  hatte  das  Christentum  für  ihn  die  Be- 
deutung einer  persönlichen  Wirklichkeit  gewonnen,  die 
■es  bisher  nicht  gehabt  hatte.  Das  stärker  erwachte 
religiöse  Bewusstsein  erweckte  wiederum  eine  scharfe 
Kritik  an  der  bestehenden  Christenheit,  die  ihren  Aus- 
druck in  den  religiösen  Schriften  fand,  die  er  im  Jahre 
1848  verfasste,  in  einer  Zeit,  wo  die  Unruhen  in  den 
äusseren  Verhältnissen  und  persönliche  Schwierigkeiten 
■ökonomischer  i\.rt  ihn  manchfach  quälten.  Diese  „neue 
Produktion"  stellte  er  selbst  über  die  frühere.  Die 
Hauptschriften  waren  ,, Einübung  im  Christentum"  und 
,,Die  Krankheit  zum  Tode",  w^ozu  noch  ,,Zur  Selbst- 
prüfung" kam.*)  In  diesen  Schriften  wird  das  christliche 
Ideal  in  seiner  ganzen  Strenge  mit  einem  scharfen 
Gericht  über  den  herrschenden  religiösen  Zustand  und 
seine  Vertreter  ausgesprochen. 

Die  Frage  war  nun  für  ihn  vorerst  die :  sollten 
diese  Schriften  herausgegeben  werden,  ehe  er  sich  um 
eine  kirchliche  Anstellung  bewarb,  oder  erst  später? 
Würde  er  sich  als  Bewerber  nicht   unmöglich    machen, 


♦)  Ein   zweiter  Teil   dieser  letzteren  Schrift  wurde   erst    lange 
nach  seinem  Tode  verö0'entlicht. 


y.  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentam.  141 

wenn  er  sie  vorher  herausgab,  und  wäre  es  nicht- 
unehrlich, sie  später  herauszugeben?  —  Diese  Frage 
trat  jedoch  bald  in  den  Hintergrund  gegen  eine  für 
ihn  weit  grössere  Frage:  Sollten  sie  unter  seinem 
eigenen  Namen  oder  pseudonym  erscheinen?  Das  erstere 
würde  ja  bedeuten,  dass  er  sich  selbst  persönlich 
anheischig  mache,  der  in  diesen  Schriften  vertretenen 
Vorstellung  von  einem  Christen  zu  entsprechen.  Und 
war  dies  nicht  seine  Pflicht?  Musste  er  jetzt  nicht  alle- 
Konsequenzen  auf  sich  nehmen?  Wieweit  seine  Erwä- 
gungen in  dieser  Hinsicht  gegangen  sind,  kann  man 
daraus  entnehmen,  dass  er  sich  sogar  gedacht  hat,  es 
könnte  ihn  das  gewöhnliche  Los  der  Wahrheitszeugen 
treffen,  dass  er  vom  Pöbel  unter  heimlicher  Mitwirkung 
der  Missgunst  der  Vornehmen  totgeschlagen  würde ! 
(1849,  S.  16lf.)  Er  untersuchte  so  in  einer  eigenen 
Abhandlung  (der  ersten  der  „Zwei  ethisch-religiösen 
Abhandlungen  von  H.  H."),  ob  sich  ein  Mensch  von 
andern  für  die  Wahrheit  dürfe  totschlagen  lassen,  und 
kam  zu  dem  Schlüsse,  hiezu  habe  nur  der  Gottmensch 
und  der  Apostel  ein  Recht;  ein  gewöhnlicher  Mensch 
dürfe  die  Sache  nicht  auf  diese  Spitze  hinaustreiben. 
Später  betrachtete  er  diese  ganze  Furcht  für  seine 
eigene  Person  als  Hypochondrie.  Man  sieht  aber  hier- 
aus, wie  hoch  in  diesen  Jahren  die  Wogen  in  ihm 
gingen.  Besonders  das  Tagebuch  aus  dem  Jahre  1849 
ist  in  dieser  Beziehung  ausserordentlich  interessant. 
Bald  schilt  er  sich  selbst  aus  ob  seiner  Schwachheit, 
dass  er  nicht  das  Aeusserste  wagen  wolle,  bald  ob' 
seines  Stolzes  oder  seiner  Hypochondrie,  dass  er  sich 
in  der  schwersten  Prüfung  zu  befinden  glaube.  Diese 
letzte  Auffassung  gewann  in  ihm  die  Oberhand.  Wohl 
kam  er  davon  ab,  um  eine  kirchliche  Anstellung  sich 
zu  bewerben  (nachdem  er  doch  einen  Besuch  bei  dem 
Minister  und  dem  Bischof  gemacht  hatte  —  ohne  sie 
zu  Hause  zu  treffen).    Die  genannten  Schriften  aber  gab- 


142  ^-  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentam. 

er  Pseudonym  heraus,  indem  er  diesmal  einen  Namen 
(Anticlimacus)  wählte,  der  ausdrücken  sollte,  dass  hier 
«ine  Auffassung  des  Christlichen  dargestellt  werde,  für 
die  er  persönlich  noch  nicht  haften  könne,  weil  sie  ihm 
zu  hoch  sei;  —  wie  sein  früherer  Hauptpseudonymus 
(Johannes  Climacus)  einen  Standpunkt  bezeichnet  hatte, 
■der  noch  nicht  das  erreichte,  zu  was  er  sich  selbst 
bekannte.  „Im  Gegensatz  z.u  Climacus,  der  sich  selbst 
das  Christentum  absprach,  ist  Anticlimacus  das  entge- 
gengesetzte Extrem:  ein  Christ  in  aussergewöhnlicheni 
Grade  —  während  ich  selbst  wohl  zufrieden  sein  muss, 
es  zu  einem  ganz  einfältigen  Christen  zu  bringen.*' 
(1849,  S.  291.)  —  Es  war  eine  „Ideenschlacht",  die  in 
seinem  Innern  geliefert  worden  war.  Es  war  in  Wirk- 
lichkeit ein  Wahrheitszeugenstreit,  den  er  hier 
mit  sich  selbst  ausfocht,  lange  bevor  der  grosse  öffent- 
liche Wahrheitszeugenstreit  losbrach.  Das  Ergebnis 
lautete:  „Ich  gestehe,  dass  ich  nicht  im  streng- 
sten Sinne  ein  Wahrheitszeuge  bin.''  (1848, 
S.  168.)  Hier  stossen  wir  sogar  in  seinem  inneren 
Streite  auf  das  Wort  selbst,  —  das  Wort,  das  ihm  denn 
auch  später  so  hässlich  in  seinem  Ohre  klang,  als  es 
von  den  Vertretern  des  offiziellen  Christentums  gebraucht 
wurde.  —  Der  äussere  Streit  zeigt  sich  hier  deutlich 
als  die  Fortsetzung  des  inneren.  So  ist  es  stets,  wo 
ein  Streit  mit  Nachdruck  und  Ernst  geführt  wird.  — 
Er  fühlte  als  eine  tiefe  Demütigung,  was  geschehen 
war :  „Ich  würde  in  einem  Sinne  so  gerne  wagen ;  meine 
Phantasie  winkt  mir  und  treibt  mich ;  ich  soll  aber  gerade 
lernen,  es  mir  gefallen  zu  lassen  und  in  einer  niedreren 
Form  zu  wagen.  Es  ist  ganz  gewiss  das  Vollkommenste 
und  Wahrste,  was  ich  geschrieben  habe ;  das  Verhältnis 
soll  sich  aber  nicht  so  stellen,  dass  ich  es  wäre,  der 
fast  verurteilend  auf  andere  sich  losstürzt,  nein,  ich 
muss  durch  diese  Gedanken  erst  selbst  erzogen  werden; 
vielleicht   darf  sich  keiner  so  tief  darunter  demütigen, 


V.  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentum.  I43 

wie  ich  es  thuii  muss,   bevor  ich  es  herausgeben  darf." 
(1849,  S.  405.) 

3.  Der  Grundgedanke  in  der  „neuen  Produktion" 
ist  der,  dass  das  Christentum  dadurch,  dass  es  bloss  als 
Religion  der  Milde  und  des  Trostes  aufgefasst  werde, 
eigentlich  abgeschafft  worden  sei.  Man  hat  sich  allmä- 
lich  das  Verständnis  abhanden  kommen  lassen,  dass  das 
Mitleid  und  die  Liebe,  die  sich  im  Christentum  äussert, 
ganz  anderer  Art  ist  als  was  wir  Menschen  unter  die- 
sen Worten  zu  verstehen  pflegen.  Um  diese  einzu- 
schärfen, setzt  er  in  meisterhafter  Darstellung  ausein- 
ander, wie  Christus  in  den  Augen  der  Zeitgenossen  sich 
ausnehmen  musste  und  was  für  eine  bedenkliche  Sache 
es,  menschlich  gesprochen,  sein  konnte,  sich  von  ihm 
helfen  zu  lassen.  In  strengster,  einschneidendster  Weise 
wird  geltend  gemacht,  dass  im  Christentum  eine  ganz 
andere  Vorstellung  von  Elend  und  Hilfe  herrscht,  als 
die  gewöhnliche,  menschliche  ist.  Hinterdrein  aber 
meint  man  jetzt  erfahren  zu  haben,  dass  Christus  Gott 
wäre,  und  mit  Hilfe  dieses  erschlichenen  Resultats  er- 
reicht man  das  Gleichzeitigkeitsverhältnis  nicht,  während 
man  doch  die  tröstenden  und  milden  Worte  sich  zueignet. 

Hier  kann  nur  Strenge  helfen.  Die  wahre  Autorität 
hat  die  Kirche  verlassen:  ,,Die,  die  befehlen  sollten, 
wurden  feige;  die,  die  gehorchen  sollten,  wurden  frech. 
So  wurde  das  Christentum  in  der  Christenheit  abge- 
schafft —  durch  die  Milde. Und  nun  lebt  in  der  be- 
stehenden Christenheit,  wo  freilich  niemals  von  Strenge 
die  Rede  ist,  ein  verzärteltes,  stolzes  und  doch  feiges, 
trotziges  und  doch  weichliches  Geschlecht,  das  gelegent- 
lich diese  milden  Trostgründe  vortragen  hört,  das  aber 
kaum  weiss,  ob  es  von  ihnen  Gebrauch  machen  will, 
selbst  wenn  das  Leben  am  schönsten  lächelt,  und  das 
in  der  Stunde  der  Not,  wenn  es  sich  zeigt,  dass  sie 
eigentlich  doch  nicht  so  milde  sind,  sich  ärgert."  (Ein- 
übung im  Christentum,  S.  272.  [240.  244].) 


144  ^>  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentam. 

Was  jedenfalls  von  jedem  Einzelnen  wie  von  der 
bestehenden  Kirche  gefordert  werden  muss,  das  ist 
Aufrichtigkeit,  dass  man  eingesteht,  in  wie  grossem 
Abstand  vom  Ideal  man  sich  befindet.  Dass  man  sich 
nicht  in  eine  Idealität  hineinlüge,  die  man  entfernt 
nicht  besitzt,  ist  doch  das  Geringste,  was  man  ver- 
langen kann.  (Vgl.  „Die  Moral"  in  „Einübung  im 
Christentum"  8.  83  f.  [75].) 

„Das  Strengste  soll  gehört  werden:  man  soll  nicht 
ganz  und  gar  einen  Strich  dadurch  ziehen  und  es  igno- 
rieren dürfen;  man  soll  es  hören,  dass  man  sich  darunter 
demütigen  kann;  es  soll  jedoch  nicht  so  verkündet 
werden,  dass  man  grausam  die  Leute  zwingen  will, 
nach  einem  so  entsetzlichen  Massstabe  Geist  sein  zu 
wollen.  Hier  weiche  ich  von  Mynster  ab  :  er  will  es 
rein  verschwiegen  haben.  Ich  will,  es  soll  gesagt  wer- 
den, und  will  dann  im  übrigen  gerne  erklären,  dass  ich 
es,  wenn  ich  es  sage,  nur  als  Dichter  sage,  da  mein 
Leben  entfernt  nicht  so  geistlich  ist.  Ueberhaupt  meine 
ich,  ist  es  der  ethische  Respekt,  der  eingeführt  werden 
soll."    (1849,  S.  410.) 

Wenn  von  seiten  der  bestehenden  Kirche  nur  der 
Abstand  vom  Ideale  zugestanden  würde,  so  wollte 
Kierkegaard  keinen  Streit  erregen.  Die  persönliche 
Wahrheit  will  er  anerkannt  haben;  für  sie  konnte  er 
sich  zum  Kampf  erheben,  auch  wenn  er  nicht  selbst  al& 
Verfechter  des  Ideals  auftreten  durfte.  —  Allein  das 
Zugeständnis  erfolgte  nicht,  wogegen  Bischof  Mjmster 
durch  eine  Mittelsperson  Kierkegaard  wissen  Hess,  „dass 
er  die  »Einübung  im  Christentum«  durchaus  missbillige. - 
Ein  Wort  von  Mynster  hätte  den  Streit  verhindern 
können.  „Kollidiere  ich  mit  dem  Bestehenden",  heisst 
es  in  den  Tagebüchern  einige  Jahre  später,  „so  ist  es 
Mynsters  Schuld."  (1851—53,  S.  77.)  Aus  Pietät  für 
den  alten  Bischof  hielt  er  doch  zui'ück  —  bis  die 
Herausforderung  kam. 


V.  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentam  145 

4.  Doch  darf  man  zum  rechten  Verständnis  von 
Sören  Kierkegaards  Persönlichkeit  nicht  vergessen,  dass 
es  etwas  anderes  als  der  Zweifel  an  seiner  eigenen 
Machtvollkommenheit  und  die  Pietät  gegen  Mynster 
war,  was  ihn  vom  schärfsten  Auftreten  gegen  die 
gewöhnliche  Auffassung  des  Christentums  zurückhielt. 
Es  wirkte  hiebei  auch  ein  inniges  Mitgefühl  für  solche 
mit,  denen  sein  Auftreten  Leiden  bereiten  würde  — 
für  die  Unglücklichen,  die  in  ihrem  Trost  beeinträchtigt^ 
für  die  Glücklichen,  die  in  ihrer  Freude  gestört  würden. 

„Das  Dasein  nötigt  einen,  acht  zu  haben  auf  die 
vielen,  vielen  weniger  begabten,  schwachen,  einfältigen 
Menschen,  Frauen,  Kinder,  Kranke  und  Bekümmerte 
u.  s.  w.,  in  deren  Mitte  man  lebt.  Und  da  sagt  denn 
das  Dasein  zu  dem  Religiösen :  kannst  du  es  angesichts 
dieser  über  dich  gewinnen,  die  Religiosität,  den  Preis 
der  Seligkeit  so  hoch  hinaufzuschrauben,  wie  du  es 
thust,  du  Grausamer  ?  Und  wenn  der  Religiöse  in 
Wahrheit  der  Religiöse  ist,  und  also  Liebe  hat,  so 
macht  dieser  Einwand  einen  tiefen  Eindruck  auf  ihn, 
der  so  gern  bei  den  Leidenden  weilt,  dem  es  im  Grunde 
einzig  sein  Trost  und  seine  Freude  ist,  die  Leidenden 
zu  trösten.''  (1849,  S.  44.)  —  Wohl  wird  dieser  Ein- 
wand in  dem  Folgenden  damit  abgewiesen,  dass  er  die 
Sprache  des  menschlichen  Mitleids  rede  —  Christus 
aber  das  Absolute  sei,  und  dass  das  Absolute  grausam 
sei  und  nicht  einmal  erlaube,  dass  man  seinen  Vater 
begrabe.  —  Doch  der  Einwand  erhebt  sich  in  Kierke- 
gaards Sinn  immer  wieder.  Er  lautet  einige  Zeit  dar- 
auf so  :  „Nun  aber  die  Menschen,  die  grosse  Menge  der 
Menschen,  die  ihre  meiste  Zeit,  um  ihren  Lebensunter- 
halt zu  verdienen,  in  untergeordneten  Geschäften  hin- 
bringen müssen:  angesichts  dieser  wäre  es  doch  eine 
Grausamkeit,  den  Preis  hinaufzuschrauben.  Hier  erfor- 
dert es  ja  doch  die  Menschlichkeit,  dass  man  einen 
Trost  schafft  und   die  Milde  verkündet,   weil  in   derlei, 

Hoff  ding,  S.  Kierkegaard.  10 


146 


Y.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentam. 


Menschen    eben    das    ihr   Kummer    und    es    bei    ihnen 
Wahrheit    sein   kann,   dass   sie    schmerzlich    empfinden, 
nicht   für   etwas  Höheres    leben   zu   können  .  .  .    Nein, 
auf  die  gebildete   und   wohlhabende   Klasse   derer,    die, 
wenn    nicht   den  Vornehmen,    so    doch    der    vornehmen 
Bourgeoisie  angehören:  auf  die    soll  der  Schlag  zielen, 
denen  im  Salon  soll  der  Preis  hinaufgeschraubt  werden." 
(1849,  S,  79  f.)    —  Doch  auch  für  die  Glücklichen  regt 
sich    das    Mitgefühl:     ,, Sollte    ich    das    Christentum    in 
Wahrheit  verkünden,    so   müsste    ich  also  dieses  ganze 
glückliche  Dasein  stören,   das  dort  sein  kann,   wo   man 
mit  dem  Geist  nicht  in  Berührung  kommt  .  .  .  Mitunter 
ist  es  mir,  als  ginge  ich  dahin  und   trüge   mit    diesem 
meinem  Wissen    vom    Christentum   ein  Verbrechen   mit 
jnir  herum.«  (1850,  S.  161.)    Und  er  hatte    die   Empfin- 
-dung,    dass    die  Strenge    den  glücklichen  Naturen  noch 
,schwerer    fallen    müsste    als    ihm    selbst,    der    ja    sein 
ganzes  Leben  in  inneren  Leiden  gestanden  war:     „Ich 
lebe  nun  einmal  in  der  besonderen  Kajüte  der  Schwer- 
mut —  darf  mich  aber  am  Anblick  der  Freude  anderer 
ergötzen  .  .  .  Gesund  und  stark  zu  sein,  ein  kompleter 
Mensch,    der   ein   langes   Leben    erwarten  darf  —  nun, 
dies  war  mir  nie  vergönnt.     Wenn  ich  dann   aber   von 
meinen  schrecklichen  Schmerzen  hinaus  unter  die  Fröh- 
Jichen  trete  —  ich  glaubte   mir  die  wehmütige  Freude 
verstatten    zu    dürfen,    dass    ich    sie    in    dieser    ihrer 
Freude    am   Leben   bestärke.     Soll   es   aber  verkündet 
werden,  dass  man  absterben  soll,  dass  von  Gott  geliebt 
zu  sein  Leiden  ist,    und  Liebe   zu  Gott   Leiden  ist,  — 
ach,  dann  muss  ich  ja   allen  andern   ihr  Glück  gleich- 
sam stören  .  .  .  durch  diese  Schwierigkeit  werde 
ich  zurückgehalten."     (1851—53,  S.  284.) 

Ich  habe  diese  Auslassungen  so  ausführlich  wieder- 
gegeben, weil  ich  nicht  glaube,  dass  man  Kierkegaard 
versteht,  wenn  man  von  dem  ganzen  hierin  zu  Tage 
tretenden  Zuge  in  seiner  Natur,  von  seinem  milden  und 


V.  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentum.  147 

liebreichen  Sinne  nicht  einen  möglichst  vollständigen 
Eindruck  bekommt.  In  seinen  Schriften  scheint  mir 
diese  Seite  nicht  mit  der  Innigkeit  und  Wärme  hervor- 
zutreten wie  in  seiner  einsamen  Abrechnung  mit  sich 
selbst, 

5.  Dass  die  Zurückhaltung,    die  das  Mitgefühl  ihm 
auferlegte,    eine  nur  vorläufige  war,    rührte  davon  her, 
dass  Kierkegaards    ganze  AuiFassung   des  Christentums 
und  der  Kirche   seit  dem  persönlichen  Durchbruch  und 
unter  der  veränderten,    durch  die  Zeitereignisse  herbei- 
geführten  Stellung    zu    den    Autoritäten  eine  erheblich 
schroffere  wurde.     Hand  in  Hand   mit  dem,    dass  er  in 
seiner  Auffassung  des  Ideals  sich  sicherer  fühlte,  schärfte 
sich  auch    sein  Blick   für  die  Mängel   am  Bestehenden. 
Es  war  jetzt  seine  Überzeugung,    dass   von    selten 
der  Menschen   ein   grossartiger  Verrat   am  Christentum 
begangen  worden  war.     Es  war  ihnen   zu  hoch  und  zu 
streng    —    zwar  möchten    sie     sich     mit    dem    Hohen 
gern  verwandt  wissen  und  seine  Hilfe  und  seinen  Trost 
annehmen,  aber  um  einen  möglichst  billigen  Preis.   Die 
erste  Herabstimmung  des  Christentums  geschah,  als  man 
im  Mittelalter   die,    die    in   ihrem  Leben  mit  der  Nach- 
folge Christi  Ernst  machten,  als  ausserordentliche  Chri- 
sten zu  betrachten  begann.    ,,Da  hörte  das  Christentum 
auf,  Sinn  zu  haben !"     Luther  ging  auf  der  eingeschla- 
genen Bahn  weiter.     Er   bekämpfte    das  Mittelalter   zu 
sehr,  verliess  das  Kloster  zu  frühe.     Hatte  man  früher 
in  Christo  einseitig  nur  das  Vorbild  gesehen,  so  vergass 
Luther   jetzt    das    Vorbild    über    dem    Versöhner.      Er 
stimmte    das    Christentum    herab,    ohne    es    bemerklich 
genug  zu  machen,    dass   er   es   herabstimmte.     „Luther, 
Luther,   Luther,    du   hast   eine  grosse  Verantwortung!" 
Die    Reformation    wurde     nicht     eine    Rückkehr     zum 
ursprünglichen    Christentum,    sondern    eine    Modifi- 
kation   des    Christlichen.     Luthers   Auftreten   be- 
zeichnet   eine    Reaktion    des    Menschlichen    gegen    das 

10* 


148 


y.  Sören  Kierkegaard  und  das  übristentam. 


Christliche :  es  ist  seine  Erfindung,  dass  das  Christentum 
wesentlich  dazu  da  ist,  zu  beruhigen  und  zu  trösten. 
Und  dann  war  er  ein  verwirrter  Kopf,  der  es  zu  eilig 
damit  hatte,  Lasten  abzuwerfen  und  Autoritäten  anzu- 
greifen —  wie  unselig  ist  z.  B.  nur  diese  Einmengung 
der  Politik,  dass  er  den  Papst  stürzen  wollte!  —  Und 
doch  kann  Luther  noch  Achtung  ansprechen:  er  kam 
von  einer  zwanzigjährigen  Bussübung  und  Seelenangst 
her.  Wieviele  Protestanten  können  aber  das  aufweisen? 
Und  gleichwohl  nivelliert  der  Protestantismus  alles;  er 
ist  eine  plebeische  Richtung,  die  den  Unterschied  zwi- 
schen dem  Grossen  und  Geringen  nicht  anerkennt,  son- 
dern sich  —  trotz  des  ganzen  Gegensatzes  in  der  Exi- 
stenz —  auf  eine  Linie  mit  den  Aposteln  und  Wahr- 
heitszeugen stellt.  Es  war  Kierkegaards  Anschauung, 
so  tief  wie  der  Protestantismus  könne  der  Katholizismus 
nie  sinken,  da  er  doch  jedenfalls  immer  wieder  Ver- 
treter der  strengen,  idealen  Auffassung  des  Christentums 
aufzuweisen  habe.  Der  Protestantismus  zehrt  von  der 
christlichen  Heldenzeit,  den  drei  ersten  Jahrhunderten 
der  Kirche,  ohne  neue  Helden  hervorzubringen;  aber: 
„das  in  den  300  Jahren  mühsam  errungene  Betriebs- 
kapital ist  verbraucht,  meine  Damen  und  Herren:  es 
lässt  sich  auch  mit  neuem  Betrug  nichts  mehr  heraus- 
pressen." 

Ja,  vielleicht  muss  man  sogar  noch  weiter  zurück- 
gehen. Die  Misslichkeit  begann  schon  mit  dem  Anfange 
der  Kirche  selbst.  Denn  es  konnte  unmöglich  mit 
rechten  Dingen  zugehen,  wenn  die  Apostel  an  einem 
Tage  3000  zu  Christen  machten.  Es  muss  ihnen  in 
ihrer  Freude  und  Begeisterung  etwas  Menschliches  be- 
gegnet sein:  sie  haben  vergessen,  was  eigentlich  Chri- 
stentum sei.  —  Und  selbst  im  Leben  des  Vorbildes 
kann  man  Züge  finden,  wo  er  dem  Menschlichen  zu  viel 
nachgegeben  hat.  Er  ging  ja  zu  der  Hochzeit  in  Kana, 
nahm    hier    an   der  Lebensfreude  teil  und  bestärkte  so 


Y.  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentum.  149 

die  Menschen  darin!  Dies  that  er  aber  auch  nur  im 
Anfang  seiner  öffentlichen  Laufbahn,  ehe .  er  gesehen 
hatte,  wie  schlimm  die  Welt  ist.  Später  ging  er  zu 
keiner  Hochzeit,  und  sein  Apostel,  der  nichts  anderes 
wusste  als  Jesus  Christus,  und  ihn  als  den  Gekreuzig- 
ten, er  ging  nicht  zur  Hochzeit. 

Man  hat  das  Christentum  zu  milde  und  weichlich 
gemacht,  zu  einem  Ausweg,  einem  Trost  für  die  schlimm- 
sten Fälle.  Man  verliert  sich  in  das  „süssliche"  Ge- 
schwätz, wie  das  Christentum  das  tiefste  Sehnen  befrie- 
dige u.  s.  w.  Gott  ist  ein  alter,  guter  Grossvater  ge- 
worden, nicht  ein  Vater,  der  seine  Kinder  mit  Strenge 
erzieht.  In  der  kirchlichen  Weihnachtsfeier  findet 
Kierkegaard  besonders  ein  Symbol  für  den  veränderten 
Charakter  der  Christenheit.  Es  ist  das  reine  Heidentum, 
das  man  in  ihr  aufgenommen  hat.  Das  Christentum  ist 
zu.  einem  Weihnachtsspass  geworden !  *) 

6.  Die  Milderung  und  Verweichlichung,  die  das 
Christentum  verderbt  hatte,  leitete  Kierkegaard  her 
von  dem  —  Weibe,  dem  Weibe,  das  ja  der  Protestan- 
tismus durch  seine  Verherrlichung  des  Ehestandes  und 
Familienlebens  besonders  bevorzugt  hatte.  Früher  hatte 
er  Luthers  Ehe  als  eine  heroische  That  gepriesen,  die 
den  Zeitgenossen  das  Paradox,  die  Ehe  des  Mönches 
mit  der  Nonne  vor  Augen  zu  führen  wagte.  Jetzt 
meinte  er,  Luther  habe  auch  hier  etwas  zu  grosse  Eile 
gehabt.  Das  Weib  eben  macht  es  dem  Manne  unmög- 
lich, für  den  Geist,  für  ein  Unbedingtes  zu  leben.  Ist 
der  Mann  erst  mit  einem  Weibe  verbunden,  das  in  der 
Liebe  zu  dem  Ihrigen  und  den  Ihrigen  sich  selbst  liebt, 
ja,  dann  mag  die  Idee  an  ihm  ziehen  und  zerren :  der 
Egoismus  der  „Mutter''  hält  ihn  fest!  (1854—55,  S.  45  f.) 
„Das  Christentum  weiss  sehr  wohl,  dass  mit  dem  Weib 


*)  Dieser  Znsammenfassang  liegt  eine  ganze  Reihe  von  Aens- 
serungen  in  den  Tagebüchern  1849 — 55  zn  Grande;  vgl.  auch  den 
zweiten  Teil  von  „Zur  Selbstprufung"  („Richtet  selbst!"). 


150  V.  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentnm. 

und  der  Liebe  und  dergl.  alles  dieses  Schwächere  und 
Weichliche  in  einem  Menschen  aufkommt,  und  dass  es, 
insoweit  der  Mann  nicht  selbst  darauf  verfällt,  von  der 
Hausfrau  in  der  Regel  mit  einer  Ungeniertheit  reprä- 
sentiert wird,  die  für  den  Mann  äusserst  gefährlich  ist, 
besonders  wenn  er  im  strengeren  Verstände  dem  Chri- 
stentum dienen  soll."  (Einübung,  S.  142  [128.])  Das  Weib 
repräsentiert  die  Lebenslust:  der  Mann  ist  weit  mehr 
darauf  angelegt,  Geist  zu  sein.  Das  Weib  ist  eine 
Lockspeise  —  wie  Johannes  der  Verführer  gesagt  hatl 
(1854-55,  S.  64.) 

Wie  bezeichnend,  dass  hier  von  dem  strengsten 
religiösen  Standpunkte  aus  auf  den  ästhetischen  zurück- 
gewiesen wdrd;  beide  kommen  von  ganz  entgegenge- 
setzten Kichtungen  auf  ein  und  dasselbe  hinaus!  Die 
ganze  ethische  Betrachtung  wird  ausgeschieden  oder 
behandelt,  als  wäre  sie  nicht  da.  —  Man  wird  sich  aus 
dem  Abschnitt  über  die  ethische  Lebensanschauung 
erinnern,  dass  diese  für  die  Frau  eigentlich  nicht  mög- 
lich sei,  dass  sie  vielmehr  unmittelbar  von  dem  poeti- 
schen Stadium  zur  Religiosität  übergehen  sollte.  Nun 
kommt  die  weitere  Bestimmung  hinzu,  dass  sie  zum 
Religiösen  erst  auf  indirektem  Wege  Zugang  habe; 
denn  die  auf  Widersprüche  gestellte  Existenz,  die  die 
christliche  ist,  kann  sie  eigentlich  nicht  ertragen:  sie 
kommt  erst  durch  den  Mann  zur  Religiosität,  indem  sie 
Zeuge  dessen  ist,  wie  er  an  der  grossen  Aufgabe  sich 
abarbeitet.  (1854—55,  S.  330.)  Kierkegaard  freut  sich, 
dass  er  mit  seiner  AuiFassung  des  Weibes  Schopen- 
hauer auf  seiner  Seite  hat ;  er  meint,  sich  auch  auf  das 
Neue  Testament  stützen  zu  können. 

Von  dem  Weibe  und  der  Familie  kommt  er  aber 
konsequent  auf  den  Naturtrieb,  der  zur  Bildung  der 
Familie  führt.  Die  Fortpflanzung  des  Geschlechts  ist 
selbst  vom  Uebel.  Das  Neue  Testament  setzt  voraus, 
dass  Christen  nicht  in  die  Ehe  treten.   Und  wie  sollten 


y.  Sören  Kierkegaard  and  das  Ghristentam.  151 

sie  eigentlich  auch  dazu  kommen  können  und  Kinder 
in  die  Welt  setzen  wollen,  wenn  sie  wissen,  dass  diese 
in  Sünde  und  zum  Elend  geboren  werden?  Das  Chri- 
stentum will  der  Fortpflanzung  des  Geschlechts  wehren, 
es  will  das  Personal  der  Geschichte  nicht  erneut  haben. 
Und  wenn  die  Sache  so  steht,  wie  gründlich  hat  dann 
der  Protestantismus  durch  seine  Verherrlichung  des 
Familienlebens  das  Christentum  verderbt!  (1854 — 55, 
S.  304  ff.,  338  ff.) 

Hier  ist  also  die  Konsequenz  gezogen.  Das  Leben 
wird  sogar  in  seinem  Drang  und  Streben  nach  Bestand 
und  Erneuerung,  in  dem  Grundtrieb,  der  direkt  und 
indirekt  die  Quelle  alles  menschlichen  Wirkens  ist,  für 
böse  erklärt.  Es  widerstrebt  ja  der  Einpflanzung  des 
übernatürlichen  Elements,  so  muss  es  faul  sein,  und  das 
Brenneisen  brandmarkt  es  als  verderbt  bis  ins  innerste 
Mark.  Schon  in  dem  Abschnitt  von  der  religiösen 
Lebensanschauung  stellte  sich  uns  die  Selbstvernichti- 
gung  als  das  Höchste  dar.  Was  hier  neu  entwickelt 
wurde,  ist  eigentlich  nur  ein  genauerer  Ausdruck  für 
denselben  Gedanken. 

7.  Wenn  nun  diese  ganze  Auffassung  des  Christen- 
tums und  der  Welt  geltend  gemacht  werden  sollte,  so 
ist  leicht  vorauszusehen,  wie  das  Urteil  über  die  beste- 
hende Kirche  lauten  musste.  Kierkegaard  hat  die 
beiden  Hauptsätze,  um  die  sich  seine  spätere  öffentliche 
Polemik  drehte,  schon  in  den  Tagebüchern  formuliert. 
Schon  hier  findet  sich  der  Gedanke:  „Luther  hatte  95 
Thesen;  ich  hätte  nur  eine:  das  Christentum  ist  nicht 
da" ;  und  der  andere  :  ,,Der  ganze  Gottesdienst  ist  ein 
grossartiger  Versuch,  Gott  für  Narren  zu  halten,  Wenn 
man  sich  dessen  auch  nicht  bewusst  ist  .  .  .  Kann  man 
es  verantworten,  an  derartigem  sich  zu  beteiligen?" 
(1851—53,  S.  54.  313.) 

Wir  haben  vernommen,  was  ihn  lange  zurückhielt. 
Da     kam     die     Situation,      worin    ihn      nichts      mehr 


152  V.  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentam. 

zurückhalten   konnte,    die    in   der   Einsamkeit    bei  ihm 
herangereiften  Gedanken  laut  auszusprechen. 


B.    Dasjetzte  Wort. 

1.  Den  Anlass  zum  Streit  gab  eine  Predigt  Mar- 
tensens,  worin  er  etliche  Tage  nach  Bischof  Mynsters 
Tod  den  Verstorbenen  als  Glied  „der  heiligen  Kette  von 
Wahrheitszeugen''  hinstellte,  ,,die  von  den  Tagen  der 
Apostel  her  durch  die  Zeiten  sich  erstreckt".  An  die- 
ser Äusserung  nahm  Sören  Kierkegaard  den  schwersten 
Anstoss.  Er  schrieb  sofort  einen  kräftigen  Protest 
nieder,  den  er  drei  Vierteljahre  später,  am  18.  Dez. 
1854,  im  „Vaterland"  veröifentlichte,  nachdem  Martensen 
inzwischen  als  Mynsters  Nachfolger  glücklich  Bischof 
von  Seeland  geworden  war.  Ich  mache  keinen  Versuch, 
im  einzelnen  den  Streit  zu  schildern,  der  nunmehr  ent- 
brannte, und  dem  unsre  Litteratur  hinsichtlich  der 
Wichtigkeit  der  Sache,  um  die  es  sich  handelte,  wie 
hinsichtlich  der  Leidenschaftlichkeit,  womit  er  von 
Seiten  seines  Urhebers  geführt  wurde,  nichts  Ahnliches 
an  die  Seite  zu  stellen  hat.  Er  wäre  eines  eigenen 
Geschichtsschreibers  wert,  der  mit  dramatischer  Leben- 
digkeit die  behandelnden  Personen  einander  gegenüber- 
zustellen wüsste  und  der  entscheiden  könnte,  inwieweit 
die  grosse  Anklage,  die  Sören  Kierkegaard  gegen  die 
Christenheit  erhoben  hat,  die  dänische  Staatskirche  und 
ihre  damaligen  Vertreter  besonders  trifft.  Die  Ausein- 
andersetzung erinnert  etwa  an  die  zwischen  Plato  und 
den  Sophisten  und  zwischen  Pascal  und  den  Jesuiten. 
Nur  historisches  Wissen  und  die  Kunst  eines  Historiker.'^ 
kann  die  Sache  ausmachen.  Hier  habe  ich  mit  dem 
Streit  nur  nach  dessen  allgemein  menschlicher  Seite  zu 
thun.  Und  ganz  abgesehen  von  dem  Resultat  des 
Streits  haben  Kierkegaards  Streitschriften,  so  gut  wie 
Piatons     Dialoge     und     Pascals     Provinzialbriefe,     ein 


y.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentam.  \Q^ 

l^leibendes  Interesse.  Es  wird  sich  einer  kaum  in  die 
stürmischen  Auslassungen  von  seiten  Kierkegaards  ver- 
tiefen können,  ohne  dass  er  ihren  Einfluss  als  ,,der 
Einzelne"  erfährt.  Höchst  verkehrt  wäre  es,  wollte 
man  sie  bloss  mit  ästhetischem  Interesse  für  die  schnei- 
dige Polemik  lesen;  es  fallen  gewichtige  Worte  über 
das  Verhältnis  zwischen  Ideal  und  Selbstbetrug,  die  an 
jeden  sich  wenden,  welches  sonst  auch  sein  Standpunkt 
sein  mag.  —  Was  Kierkegaard  selbst  betrilFt,  so  erwies 
er  sich  als  kräftigen  Agitator,  der  kein  Mittel  scheute, 
um  seinen  Worten  Nachdruck  zu  geben.  Es  war  ihm 
darum  zu  thun,  dass  keine  Vertiefung  in  Nebenumstände 
und  kein  weitläufiges  Aufspüren  von  etwaigen  Ent- 
schuldigungen und  Ausnahmen  die  Aufmerksamkeit  von 
dem  grossen  Hauptsatze  ableite,  den  er  einprägen  wollte. 
Er  meinte  zugleich,  dass  seine  Gegner  sich  ja  zu  einem 
absoluten  Massstabe  bekannt  haben  und  dass  ihre  Motive 
wie  ihr  Charakter  gegen  ihn  gehalten  einen  bedenklich 
weltlichen  Sinn  verraten.  Gleichwohl  ist  es  sonderbar, 
wenn  wir  diesen  Vertreter  der  Idealität,  diesen  Ritter 
des  Gedankens  gleich  zur  Einleitung  seiner  Polemik 
mit  Wendungen  auftreten  sehen  wie  der:  die  Predigt 
Martensens  über  Mynster  könnte  auch  insofern  eine 
Erinnerungsrede  heissen,  als  sie  Martensen  für  den 
erledigten  Bischofsstuhl  in  Erinnerung  gebracht  habe. 
Und  an  Seitenstücken  hiezu  fehlte  es  im  Verlauf  der 
Polemik  nicht.  Bei  solcher  geistigen  Ueberlegenheit 
und  derartiger  Kunst,  die  Waffen  der  Satire  und  des 
Spotts  zu  handhaben,  wie  sie  hier  sich  findet,  müssen 
derlei  Insinuationen  zweimal  als  ungehörig  bezeichnet 
werden.  Kierkegaards  Schild  wäre  ohne  sie  blanker 
geblieben,  — 

2.  Der  Streit  über  den  ,, Wahrheitszeugen"  drehte  sich 
eigentlich  um  einen  der  Hauptgedanken,  um  die  Kier- 
kegaard von  jeher  sich  bewegt  hatte,  um  die  Frage : 
Kontinuität  oder  Bruch,  „Sowohl  —  als  auch"  oder  ,, Ent- 
weder —  Oder"  ?  Von  seiten  derbestehendenKirche  wurde 


154  ^'  Sören  Kierkegaard  and  das  Christentnm. 

geltend  gemacht  und  lag  auch,  der  Würdigung  Mynsters 
durch  Martensen  zu  Grunde,  dass  ein  ununterbrochener 
Zussammenhang  zwischen  den  derzeitigen  kirchlichen 
Vertretern  und  den  Aposteln,  den  Vertretern  des  ueu- 
testamentlichen  Christentums,  bestehe.  Eine  heilige 
Kette  verbinde  sie.  Und  zugleich  wurde  damit  eine 
Auffassung  des  Christentums  geltend  gemacht,  wonach 
das  Christliche  mit  der  rein  humanen  Bildung  einen 
Bund  teils  geschlossen  hätte,  teils  schliessen  könnte, 
so  dass  also  eine  höhere  Einheit  beider  erreicht  werden 
könnte  —  wie  man  meinte,  auf  dem  eigenen  Grund  und 
Boden  des  Christentums.  Christlicher  Staat,  christliches 
Familienleben,  christliche  Kunst,  christliche  Wissenschaft: 
das  war  eine  Reihe  von  Begriffen,  deren  blosse  Aufstellung 
schon  charakteristisch  ist  für  die  kirchliche  Lehre  von 
der  Harmonie  des  Christlichen  und  Humanen.  Für 
Kierkegaard  bezeichnen  diese  Begriffe  ebenso  viel  Sin- 
nestäuschung und  Selbstbetrug,  ebenso  viele  Lügen. 
Er  behauptet,  der  Zusammenhang  zwischen  der  nun  be- 
stehenden Christenheit  und  dem  Christentum  des  Neuen 
Testaments  sei  unterbrochen,  weil  er  geltend  macht, 
dass  das  Christliche  im  Sinne  des  Neuen  Testaments 
„der  tiefste,  unheilbarste  Bruch  mit  dieser  Welt  ist."' 
(Zeitungsartikel  S.  73.)  So  wenig  Mynsters  Predigt 
das  Christliche  in  diesem  Sinne  zum  Ausdruck  brachte 
oder  einen  derartigen  Bruch  mit  der  Welt  herbeiführte, 
so  wenig  war  in  Mynsters  Persönlichkeit  und  Lebens- 
führung eine  Spur  hievon  zu  entdecken.  Hat  man  ihn 
nun  gleichwohl  den  rechten  Wahrheitszeugen  im  christ- 
lichen Sinne  zugezählt,  so  verriet  dies  in  Kierkegaards 
Augen  eine  unzulässige  Begriffsverwirrung  und,  wenn 
man  dies  nicht  zugestehen  wollte,  eine  freche  Verfäl- 
schung des  Ideals.  Die  bestehende  Kirche  konnte  nach 
seiner  Meinung  nur  in  der  Weise  verteidigt  werden, 
wie  er  es  in  seiner  „Einübung  im  Christentum"  versucht 
hatte :  indem  man  den  grossen  Abstand  zwischen  Ideal  und 


V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentum.  ISO» 

Wirklichkeit  zugesteht  und  dann,  nach  diesem  Zugeständ- 
nis, zu  der  göttlichen  Gnade  seine  Zuflucht  nimmt.  Will 
man  aber  von  kirchlicher  Seite  aus  dieses  Zugeständnis 
nicht  machen,  so  wird  die  bestehende  Kirche  zu  einer 
„frechen  Unanständigkeit'^,  zu  einem  „Yersuca,  Gott  für 
Narren  zu  halten"  (Zeitungsartikel  S.  75),  und  es  wird, 
notwendig,  die  These,  die  eine  These  aufzustellen, 
dass  das  Christentum  des  Neuen  Testaments  nicht  da 
sei.  (Zeitungsartikel  S.  73,  „Das  Vaterland"  vom  28. 
März  1855.)  —  Der  Zusammenhang  mit  dem  Neuen» 
Testament  ist  unterbrochen,  weil  der  Zusammenhang 
mit  „der  Welt"  nicht  abgebrochen  ist:  das  war  Kierke- 
gaards Standpunkt  in  dem  Streite. 

Dass  er  eine  strengere  Auffassung  des  Christentums 
vertrete,  Mynster  und  Martensen  (wie  auch  Grundtvig, 
den  er  gelegentlich  auch  mitnimmt)  eine  mildere,  damit 
wollte  er  sich  nicht  abspeisen  lassen.  Es  ist  hier  gar 
nicht  von  Strenge  oder  Milde  die  Rede.  Vielmehr 
handelt  es  sich  um  einfache  menschliche  Redlich- 
keit gegenüber  der  Frage,  ob  wir  heutzutage  nach  den 
im  Christentum  des  Neuen  Testaments  vorausgesetzten 
Bedingungen  leben  oder  nicht:  „Für  diese  Redlichkeit 
will  ich  wagen.  Hingegen  sage  ich  nicht,  dass  ich  für 
das  Christentum  wage.  Nimm  es  an,  nimm  an,  dass  ich 
ganz  buchstäblich  ein  Opfer  werde,  so  würde  ich  doch 
nicht  ein  Opfer  für  das  Christentum,  sondern  dafür, 
dass  ich  Red]  ichkeit  wollte.  .  .  .  Ich  getraue  mir  nicht, 
mich  einen  Christen  zu  nennen;  aber  Redlichkeit  will 
ich,  und  dafür  will  ich  wagen."  (Zeitungsartikel  S.  103.) 

3.  Nachdem  der  Streit  ein  halbes  Jahr  lang  (De- 
zember 1854- -Mai  1855)  als  ein  Zeitungszwist  geführt 
worden  war,  nahm  er  von  Kierkegaards  Seite  einen 
noch  leidenschaftlicheren  Charakter  an,  indem  ersieh  jetzt 
durch  Flugblätter  an  grössere  Kreise  wandte,  mit  der 
offen  und  bestimmt  ausgesprochenen  Aufforderung, 
die    Verbindung    mit    der    Kirche    abzubrechen.     Diese- 


156  ^'  Sören  Kierkegaard  nnd  das  GbristeDtom. 

Aufforderung  wurde  in  einem  Flugblatt  vom  Mai  1 855 : 
,,Dies  muss  gesagt  werden,  so  sei  es  denn  gesagt",  so 
formuliert : 

„Wer  du  auch  seist,  mein  Freund,  wie  im  übrigen 
dein  Leben  auch  sei,  —  dadurch,  dass  du  nicht  mehr 
(wenn  du  es  anders  bis  jetzt  gethan  hast)  an  dem 
öffentlichen  Gottesdienste  teilnimmst,  wie  er  jetzt  ist 
(mit  dem  Anspruch,  das  neutestamentliche  Christentum 
zu  sein):  dadurch  hast  du  beständig  eine  und  zwar 
eine  grosse  Schuld  weniger:  du  nimmst  nicht  daran 
"Teil,  Gott  dadurch  für  Narren  zu  halten,  dass  man  für 
neutestamentliches  Christentum  ausgiebt,  was  es  doch 
nicht  ist." 

Darauf  folgten  im  Laufe  des  Sommers  die  neun 
Hefte  des  „Augenblicks"  (Mai — September  1855)  mit 
steigender  Heftigkeit  in  Angriff  und  Agitation.  —  Aus 
meinen  Knabenjahren  erinnere  ich  mich  noch  der  weissen 
Hefte  und  der  Erregung,  die  sie  in  Sinn  und  Rede  der 
Erwachsenen  hervorriefen.  Erst  später  sollte  ich  selbst 
•erfahren,  was  für  ernste  Kunde  sie  brachten.  — 
Kierkegaards  Sprache  erreicht  hier  mitunter  eine  Kraft 
lund  zugleich  eine  ätzende  Schärfe,  durch  die  etliche 
Hefte  des  „Augenblicks"  in  der  Geschichte  unserer 
Sprache  einzig  dastehen. 

Die  Kirche  soll  weg  —  es  bleibt  nichts  anderes 
übrig;  denn  sie  liegt  das  Christentum  zu  tot.  Sie  hat 
seinen  Gegensatz  zur  Welt,  zu  den  Gütern  der  Welt 
.und  den  Aufgaben  der  Welt  abgeschafft  und  hat  damit 
das  Christentum  abgeschafft.  Infolge  einer  Empörung, 
die  nicht  in  offenem  Trotz,  sondern  still,  unter  der 
Hand,  in  Heuchelei  vor  sich  ging,  hat  man  aus  dem 
■Christentum  etwas  ganz  anderes  gemacht,  als  es  eigent- 
lich ist.  Die  Verkehrung  begann  frühe  genug :  vielleicht 
bereits  mit  den  Aposteln.  Ja,  ist  das  Cliristentum 
-eigentlich  überhaupt  in  die  Welt  hereingetreten'?  Man 
iat  mit  Hilfe  der  Dogmen  (Kierkegaard  denkt  besonders 


y.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentam.  157 

an  die  Versölmungslehre)  das  Vorbild  auf  die  Seite 
geschoben;  man  hat  in  dem  grossen  Trauermarsch  des 
ursprünglichen  Christentums  einige  wenige  mildklingende 
Rhythmen  gefunden  und  sie  als  Anlass  benutzt,  das 
ganze  Christentum  zvi  einem  Id^ll  umzukomponieren. 
(Augenbl.  No.  5.) 

Die  Sache  ist  die :  „Der  Christ  im  Sinne  des  Neuen 
Testaments  steht  genau  so  hoch  über  dem  Menschen, 
wie  das  Tier  unter  dem  Menschen  steht."  Sind  aber 
die  Menschen  heutzutage  einer  der.irtigen  geistigen  Exi- 
stenz noch  fähig,  für  die  eigent  ich  religiöse  Leiden- 
schaft noch  empfänglich?  Es  ist  eine  Schwächung  des 
Charakters  vor  sich  gtigangen,  die  wesentlich  dem. 
Ehestand  und  dem  Familienleben  zuzuschreiben  ist. 
(Augenbl.  No.  7.) 

Soviel  ist  gewiss;  ist  der  derzeitige  Zustand  der 
Kirche  christlich,  so  kann  das  Neue  Testament  für 
Christen  nicht  länger  Wegweisung  sein;  denn  die  Vor- 
aussetzung, worauf  es  ruht,  das  bewusste  gegensätz- 
liche Verhältnis  zur  Welt,  ist  weggefallen.  (Augenblick. 
No.  2  und  4.) 

Die  ganze  Frage  hat  eine  weittragende  Bedeutung;, 
sie  beschränkt  sich  nicht  auf  den  Augenblick:  ,,Was 
ich  will,  ist  nicht  etwas  Ephemeres,  so  wenig  es  etwas 
Ephemeres  ist,  was  ich  wollte;  nein,  es  war  und  ist 
etwas  Ewiges:  mit  den  Idealen  gegen  die  Sinnestäu- 
schungen." Denn  die  Ideale  sollen  verkündet  werden,  wie 
es  auch  gehen  mag;  sonst  siegt  die  Mittelmässigkeit. 
Die  Menschen  haben  ja  doch  von  jeher  einen  Ausweg 
zu  finden  gewusst,  um  sich  beschwerliche  Probleme 
vom  Halse  zu  schaiFen,  den  einfachen  Weg:  „Sei  ein 
Schwätzer  —  und  sieh,  alle  Schwierigkeiten 
verschwinden!"*) 


*)  Augenblick  No.  1  und  9,  2.  und  4.  Stück.  Das  letztgenannte 
Stück  mnss  jeder  selbst  lesen,  der  wissen  will,  was  Kierkegaard 
wollte  und  wie  er  dem  Ausdruck  zu  geben  verstand. 


158 


V.  Sören  Kierkegaard  und  das  Christentam. 


4.  Kurz  nach  dem  Erscheinen  der  letzten  Nummer 
„des  Augenblicks'^  erkrankte  Sören  Kierkegaard  auf 
-der  Strasse;  er  fiel  in  Ohnmacht  und  wurde  ins  Frede- 
jiks-Hospital  gebracht.  Schon  lange  war  er  kränklich 
gewesen;  er  hatte  ein  Rückenleiden,  das  er  von  einem 
Fall  in  seiner  Jugend  herschrieb.  „Ich  komme,  um 
hier  zu  sterben",  sagte  er  beim  Eintritt  ins  Hospital, 
^ach  dem  Zeugnis  derer,  die  ihn  während  seines  letzten 
Krankenlagers  sahen,  lag  eine  aussergewöhnliche  Klar- 
heit und  Ruhe  über  ihm,  und  seine  Augen  strahlten 
-mit  noch  grösserem  Glänze  als  zuvor,  wenn  nicht  etwa 
die  Schmerzen  ihn  ganz  übermannten. 

So  merkwürdig  stimmte  hier  alles  zusammen!  Nach- 
dem sein  letztes  Wort  gesagt  war,  —  das  Wort,  zu 
dem  er  gleichsam  sein  ganzes  Leben  hindurch  ausgeholt 
hatte,  und  das  letzte  Wort,  das  er  sagen  konnte :  da 
war  auch  seine  körperliche  Kraft  gebrochen.  Und 
gleichzeitig  waren  auch  seine  äusseren  Subsistenzmittel 
erschöpft :  kurz  zuvor  hatte  er  sein  letztes  Geld  erhoben. 
Dieser  äussere  Abschluss  war  wie  ein  Sinnbild  dafür, 
dass  er  die  Konsequenz  seines  Geistes  und  seines 
Denkens  erschöpft  hatte. 

Und  nun  war's  ihm  wie  dem,  dessen  Kampf  zu 
Ende  war.  Das  Leben  war  ja  für  ihn  auch  ein  langer 
.Streit  gewesen.  Er  hatte  redlich  ^mit  sich  selbst  ge- 
kämpft, ehe  er  mit  andern  kämpfte,  und  er  verlangte 
von  ihnen  nur  dieselbe  Redlichkeit,  die  er  zuerst  von 
.sich  selbst  verlangt  hatte.  —  Jetzt  hatte  dieser  innere 
und  äussere  Streit  sein  Ende  erreicht.  Wie  man  sich 
erinnern  wird,  bestand  nach  seinem  Glauben  ein  abso- 
luter Gegensatz  zwischen  dem  Ewigen  und  dem  Mensch- 
lichen ;  nur  in  vorübergehenden  Inkonsequenzen  Hess  er, 
wie  wir  sahen,  die  Schatten  des  letzteren  auch  auf  das 
andere  Gebiet  hinüberfallen.  Und  so  war  es  auch  jetzt 
sein  Glaube,  dass  der  Streit  für  ihn  nunmehr  durch 
den  Frieden  abgelöst  werden  würde,  wie  es  in  einigen 


y.  Sören  Kierkegaard  nnd  das  Christentam.  159 

Zeilen   von  Brorson   heisst,    die   er   sich  als  Aufschrift 
auf  sein  Grab  wünschte : 

Noch  eine  kleine  Zeit, 

So  ist's  gewonnen, 

So  ist  der  ganze  Streit 

Mit  eins  zerronnen. 

Am  Schluss  des  letzten  Bandes  der  „hinterlassenen 
Papiere"  finden  sich  einige  interessante  Gespräche,  die 
er  in  seinen  letzten  Tagen  mit  seinem  Jugendfreunde, 
Pastor  Boesen  hatte.  Man  sieht  hieraus,  dass  er  das 
heilige  Abendmahl  nicht  empfing,  weil  er  es  nicht  von 
einem  Pfarrer,  sondern  nur  von  einem  Laien  annehmen 
wollte.    Er  starb  den  11.  November  1855. 


S  c  h  I  u  s  s. 

1.  „Der  Rest  ist  Schweigen!"  —  Mit  diesem  letz- 
ten Worte  Hamlets  möchte  ich  am  liebsten  schliessen, 
nachdem  ich  Sören  Kierkegaards  letztes  Wort  berichtet 
habe.  Denn  hierauf  noch  das  Wort  zu  ergreifen,  kann 
anmassend  scheinen.  Das  letzte  Wort  eines  grossen 
Geistes  über  die  allergrösste  Frage  der  Geschichte  und 
des  Lebens  kann  einen  wohl  zum  Schweigen  bringen. 
Schweigen  hat  aber  nur  Wert,  wenn  es  bedeutet,  dass 
man  denkt,  und  so  breche  ich  das  Schweigen,  um  zu 
sagen,  welche  Gedanken  —  seit  der  Zeit,  da  ich  zum 
erstenmal  unter  dem  Eindruck  »der  einzigen  These« 
Sören  Kierkegaards  gestanden  bin  —  sich  bei  mir 
befestigt  haben. 

Nicht  als  ob  es  zur  Würdigung  seiner  Bedeutung 
einer  bestimmten  Stellungnahme  zu  seinem  letzten  Worte 
bedürfte.  Sein  grosses  Verdienst  liegt  vornehmlich  in 
seiner  wunderbaren  Gabe  zu  fragen,  Schwierigkeiten  zu 
finden,  so  zu  verwunden,  dass  bei  denen,  die  sich  in 
seine  Schriften  vertiefen,  nicht  bloss  das  Gedankenleben, 
sondern  das  persönliche  Leben  überhaupt  in  innerliche 
und  dauernde  Bewegung  kommt.  Und  sein  Satz,  dass 
die  Subjektivität  die  Wahrheit  ist,  begreift  in  sich,  dass 
alles  auf  die  persönliche  Linerlichkeit,  die  schöpferische 
Selbstthätigkeit  ankommt,  die  nach  seiner  wie  der 
Ueberzeugung  seines  Lehrers  Paul  Möller  bei  jedem 
Menschen  möglich  ist.  Keine  überlieferte,  von  aussen 
kommende  Kenntnis  kann  genügen.  Nur  das  ist  für 
den  Menschen  Wahrheit,  was  er  selbst  produziert,  oder 
doch  reproduziert.  Dieser  Satz  ist  von  so  grosser  und 
weittragender  praktischer  Bedeutung,   dassj  er  Konse- 


Schlnss.  161 

quenzen  iu  sieh  schliesst,  die  (wie  wir  schon  früher 
andeuteten)  weiter  gehen,  als  Kierkegaard  sich  selbst 
gestelien  wollte. 

Wir  sind  es  jedoch  uns  selbst  schuldig,  zu  erörtern, 
•ob  das  Menschengeschlecht  sich  wirklich,  wie  er  urteilt, 
vom  Christentum  weggeschlichen,  aus  Weichlichkeit 
(und  in  Heuchelei  dem  Ideale  den  Rücken  gekehrt  hat. 
Hätte  er  damit  Recht,  so  hätte  dies  nicht  bloss  religiöse 
Bedeutung.  Mag  man  über  die  bleibende  Bedeutung 
des  Christentums  so  oder  so  denken  —  das  Eine  ist 
doch  klar,  dass  es  traurig  wäre,  wenn  das  Geschlecht 
:seine  altehrwürdigen  Ideale  auf  solche  Weise  verlassen 
liätte.  Ideale  kann  man  in  würdiger  Weise  nur  ver- 
lassen, wenn  man  ihnen  entweder  entwachsen  ist,  oder 
-wenn  die  Lebensverhältnisse  aus  andern  Gründen  andere 
geworden  sind  und  neue  Vorbilder  verlangen.  Es  sind 
also  rein  humane  Gründe,  die  uns  eine  möglichst  voU- 
;ständige  Klarstellung  der  von  Kierkegaard  erhobenen 
Erage  empfeblen,  in  welchem  Verhältnis  die  Menschheit 
.zu  der  Lebensanschauung  des  Neuen  Testaments  stehe. 

2.  Kierkegaard  macht  einmal  („Nachschrift''  S.  569) 
die  Bemerkung,  das  Neue  Testament  enthalte  hinsicht- 
lich der  Probleme,  die  sich  für  uns,  die  wir  von  Ju- 
,gend  auf  im  Christentum  erzogen  sind,  erheben  können, 
keine  Anweisung.  Und  im  ,, Augenblick"  kommt  er  auf 
anderem  Wege  auf  den  Gedanken  zurück,  dass  das 
N^eue  Testament  der  heutigen  Christenheit  den  Weg 
jedenfalls  nicht  zeigen  könne.  Verfolgt  man  den  hier 
.angeregten  Gedanken  weiter,  so  muss  man  natürlich 
untersuchen,  inwiefern  die  Voraussetzungen  der  neu- 
lestamentlichen  Lebensanschauung  andere  sind  als  die, 
wovon  ein  Mensch  heutiger  Zeit  ausgehen  muss,  dem 
daran  gelegen  ist,  von  dieser  Lebensanschauung  so  viel 
als  möglich  anzunehmen.  Stellt  man  die  Frage  so,  so 
fällt  ein  Umstand,  je  tiefer  man  in  den  Vorstellungskreis 
Äes  Neuen  Testaments  eindringt,  um  so  entscheidender 

JHöffding,  B.  Xierkegaard.  11 


162 


Schlnss. 


ins  Grewicht:  das  Neue  Testament  geht  durchweg  davoi? 
aus,  dass  die  Geschichte  bald  —  noch  für  die  ebei> 
lebende  Generation  —  durch  die  Wiederkunft  Christi 
ihren  Abschluss  finden  werde.  Zieht  man  diesen  Um- 
stand nicht  mit  in  Betracht,  so  versteht  man  die  Ethik 
des  Neuen  Testaments  nicht.  Er  bildet  den  stäten 
Hintergrund.  Das  Himmelreich  ist  nahe!  —  das  Ende- 
aller Dinge  ist  nahe !  —  das  ist  der  stets  wieder- 
kehrende Refrain,  der  sich  für  den  Aufmerksamen  ver- 
nehmlich macht,  auch  wo  er  nicht  ausdrücklich  wieder- 
holt ist.  Da  man  so  mit  begrenztem  Horizonte  arbeitete, 
keinen  Ausblick  auf  unübersehbare  Entwicklungsperioden, 
auf  eine  lange  Wanderung  für  das  Geschlecht  hatte, 
so  mussten  alle  umfassenden  Bestrebungen,  jede  eigent- 
liche Kulturarbeit,  alles  gesellschaftliche  Leben  bedeu- 
tungslos werden,  wie  man  alles,  was  die  Aufmerksamkeit 
von  dem  einen,  grossen  und  nahen  Ziele  ablenken  konnte^ 
beiseite  liegen  lassen  musste.  „Das  Ende  aller  Dinge 
ist  nahe,  darum  seid  nüchtern  und  wachet",  schreibt 
der  Apostel  Petrus  (1  Petri  4,  7),  und  aus  demselben 
Grunde  rät  Paulus  den  Christen  vom  Heiraten  und 
von  der  Vertauschung  des  Sklavenstandes  mit  dem 
freien  Stande  ab  (1  Kor.  7).  Was  hatten  solche  Güter 
und  Freuden  auch  zu  sagen  gegenüber  der  Herrlichkeit, 
die  sich  offenbaren  sollte?  Sie  konnten  Sinn  und  Ge- 
danken, die  man  jetzt,  bei  der  nahe  bevorstehenden! 
grossen  Entscheidung,  gerade  gesammelt  haben  sollte, 
ja  nur  zerstreuen. 

Fällt  diese  Voraussetzung  weg,  so  muss  die  christ- 
liche Ethik  eine  ganz  andere  Gestalt  gewinnen.  Ihre 
Forderung  bekommt  eine  ganz  andere  Bedeutung,  wenn 
man  bei  der  Arbeit  den  Horizont  ferne  hat,  als  solange 
er  ein  enger  war.  Die  Unklarheiten  in  der  späteren 
Stellungnahme  der  Kirche  zu  dem  ursprünglichen  Chri- 
stentum finden  ihre  einfache  Erklärung  darin,  dass  man 
diesem     grossen     Unterschied     nicht     die     genügende 


Schlnss.  163 

Beachtung  geschenkt  hat.  Als  die  lange  geschichtliche 
Wanderung  begann,  drängten  sich  Aufgaben  und  Ziele  her- 
vor, denen  man  früher  keine  Bedeutung  beigelegt  hatte. 
Auf  der  langen  Reise  hat  man  andere  Bedürfnisse,  als 
wenn  man  nur  ein  paar  Schritte  zu  gehen  hat.  Es 
machten  sich  Verhältnisse  geltend,  wofür  das  Neue 
Testament  keine  wirkliche  Vorschrift  enthalten  konnte; 
es  entwickelte  sich  ein  selbständiges  Menschenleben  in 
Familie  und  Staat,  Wissenschaft  und  Kunst  —  oder 
richtiger:  das  auf  diesen  Gebieten  schon  zur  Entwick- 
lung gelangte  Leben  musste  sich  nunmehr  in  der  christ- 
lichen Welt  entfalten.  Da  regte  sich  dann  aber  auch 
das  Bedürfnis  anderer  Vorbilder  und  einer  Ethik,  die 
•diesem  Leben  eine  positive  Bedeutung  geben,  das  Leben 
als  eine  Entwicklung  und  nicht  bloss  als  eine  Übungs- 
zeit bis  zu  dem  nah  bevorstehenden  Abschluss  be- 
trachten konnte.  Frühzeitig  beginnt  man  denn  die 
griechische  Ethik  mit  der  christlichen  zu  verbinden, 
sehr  oft  in  rein  äusserlicher  Weise. 

Hat  Kierkegaard  mit  seinem  Satze,  das  neutesta- 
mentliche  Christentum  sei  nicht  da.  Recht,  so  liegt  die 
Erklärung  darin,  dass  die  Voraussetzung  der  neutesta- 
mentlichen  Ethik  den  Sinn  nicht  länger  ebenso  beherrscht. 
Denn  dass  man  in  aller  Unbestimmtheit  noch  von  dem 
jüngsten  Tage  redet,  will  in  dieser  Beziehung  nicht  viel 
sagen;  wie  man  sich  ja  vorläufig  auch  recht  gemütlich 
einzurichten  weiss. 

Es  hat  mich  in  hohem  Grade  interessiert,  zu  sehen, 
wie  Kierkegaard  diesen  Punkt  einmal  berührt.  Er  sagt 
in  einer  Notiz  aus  dem  Jahre  1849: 

„Die  ganze  Schwierigkeit,  dass  Christi  Wiederkunft 
als  nahe  bevorstehend  vorausgesagt  wird  und  doch  noch 
nicht  eingetreten  ist,  wird  dadurch  erledigt,  dass  man 
auf  die  subjektive  Wahrheit  des  Wiederkunftglaubens 
aufmerksam  macht.  Und  in  diesem  Sinne  muss  nicht 
nur  Christus  seine  baldige  Wiederkunft  behaupten  und 

11* 


164 


Schlass. 


darauf,  wie  es  ja  faktisch  auch  der  Fall  ist,  die  Apostel, 
sondern  so  muss  sie  jeder  wahre  Christ  aussagen.  Das 
heisst:  der  wahre  Clirist  zu  sein  ist  mit  solchen  Qualen 
verbunden,  dass  es  nicht  zum  Aushalten  wäre,  wenn 
man  nicht  beständig  Christi  Wiederkunft  als  unmittelbar 
bevorstehend  erwarten  würde.  Die  Qual,  das  Leiden 
erzeugt  eine  notwendige  Illusion  ....  Man  ist 
kein  wahrer  Christ,  wenn  man  sich  nicht  in  der  Pein 
und  Qual  befindet,  die  sich  für  den  wahren  Christen  in. 
dieser  Welt  gehört;  und  ist  man  in  der  Pein  und 
Qual,  so  ist  diese  Illusion  eine  Notwendigkeit.''  (1849, 
S.  247.) 

Diese  Erklärung  ist  dem  ganzen  Standpunkt  Kier- 
kegaards durchaus  entsprechend  und  ist  zugleich  die 
einzige,  wobei  sich  die  Voraussetzung  der  neutestament- 
lichen  Ethik  aufrecht  erhalten  lässt.  Wer  weiss,  ob  es- 
nicht  solche  giebt,  die  das  wirklich  thun?  Giebt  es 
solche,  so  haben  sie  —  was  Kierkegaard  nicht  hervor- 
gehoben hat  —  einen  Widerspruch  weiter  zu  tragen: 
den  Widerspruch  zwischen  dem  vorhergesagten  nahen 
Abschluss  und  der  Jahrhunderte  langen  Geschichte  nebst 
allem  dem,  was  sie  gebracht  hat.  Dies  ist  eine  Ver- 
schärfung des  Paradoxes,  die  Kierkegaard,  wenn  er 
darauf  aufmerksam  geworden  wäre,  mit  Nachdruck  und 
Kraft  hätte  entwickeln  können.  —  Ich  glaube  aber,  er 
stellt  die  Sache  gerade  auf  den  Kopf.  Nicht  die  Span- 
nung hat  ursprünglich  die  Erwartung  hervorgerufen, 
nein,  die  Verheissung  hat  die  Spannung  erzeugt.  Die 
Nähe  fldes  Reiches''  gehört  mit  zur  ursprüng- 
lichen christlichen  Verkündigung  und  liegt  im 
Neuen  Testament  der  Würdigung  aller  Lebens- 
verhältnisse und  Aufgaben  zu  Grunde.  In  Ver- 
bindung damit  ist  Kierkegaards  Auffassung  des  ursprüng- 
lichen Christentums  nach  einer  wesentlichen  Seite  hin 
zu  berichtigen.  Das  Christentum  war  nicht,  wie  er 
sagt,  ein  Trauermarsch.  (Augenbl.  No.  5.)     Es  war  ein 


Schloss.  165 

Siegesmär sch.  Die  Freude  und  der  Jubel  ob  der  nah. 
bevorstehenden  Herrlichkeit  hat  das  Gefühl  des  Leidens 
weit  überwogen.  Das  ursprüngliche  Christentum  war 
nicht  so  schwindsüchtig,  wie  es  in  Kierkegaards  Dar- 
stellung oft  erscheint.*)  Es  lebte  in  grossartigen  Bil- 
dern, in  grossen  und  lebhaften  Erwartungen,  und  schöpfte 
daraus  Kraft  und  Mut  für  die  Opfer  und  Anstrengungen, 
die  späterhin,  als  sie  unter  ganz  andern  Voraussetzungen 
nachgeahmt  werden  sollten,  den  Charakter  spiritualisti- 
scher  Askese  annahmen.  Das  ursprüngliche  Christentum 
ist  durchaus  nicht  spiritualistisch.  Die  Zeit  des  Spiri- 
tualismus kam  erst,  als  die  Erwartung  erstorben  oder 
doch  verblasst  war. 

Wer  auf  die  hier  von  mir  geltend  gemachte  Auf- 
fassung eingehen  kann,  mag  in  dem  Satze,  das  neu- 
testamentliche  Christentum  sei  nicht  da,  mit  Kierkegaard 
wohl  einverstanden  sein;  er  wird  sich  davon  jedoch 
eine  andere  Erklärung  geben  als  er.  Er  wird  sehen, 
dass  die  veränderte  Stellung  zum  Christentum  einfach 
von  der  Thatsache  herrührt,  dass  eine  lange  geschicht- 
liche Entwicklung  stattgefunden  hat.  Nimmt  man  nun 
nicht  an,  dass  die  Ideale  des  Menschengeschlechts  die- 
sem ein-  für  allemal  vorgeschrieben  werden  können  (was 


*)  Es  ist  in  dieser  Hinsicht  bezeichnend,  dass  Kierkegaard 
keine  nähere  Bestimmung  geben  will,  was  „die  Seligkeit",  das 
„absolute  Endziel"  eigentlich  sei.  Jede  Beschreibung  des  Zieles 
mass  in  seinen  Augen  die  Aufmerksamkeit  von  dem  Wege  abziehen 
—  und  „der  Weg  ist  das  Entscheidende,  sonst  haben  wir  Aesthetik.* 
Ueber  die  ewige  Seligkeit  will  er  daher  nichts  weiter  sagen,  als  sie 
sei  das  Gute,  das  man  erreicht,  indem  man  alles  wagt  („Nachschrift" 
S.  397f.)  Das  Neue  Testament  hat  dieses  Bedenken  nicht.  Die  begei- 
sterte Erwartung  der  Herrlichkeit  und  Vollkommenheit  des  Zieles  ist 
hier  gerade  auch  die  Bedingung  dafür,  dass  man  auf  dem  Wege 
vorwärts  kommt.  Vgl.  besonders  die  Offenbarung  Johannis,  die  ii» 
ihrer  eingehenden  Schilderung  des  „Zieles"  nur  dem  Grade  nach, 
nicht  der  Art  nach  sich  von  dem  unterscheidet,  was  in  den  andera 
neutestamentlichen  Schriften  als  Voraussetzung  zu  Grunde  liegt. 


166 


anzunehmen  besonders  unmöglich  ist,  wenn  so  entschei- 
dende Voraussetzungen,  wie  die  vorhin  genannte,  sich 
vollständig  ändern  können),  so  gelangt  man  zu  der 
Überzeugung,  nicht,  dass  die  Zeit  des  Christenturas 
<dahin  ist  (denn  das  wird  gewissermassen  nie  der  Fall 
sein),  sondern  dass  die  Bedeutung  des  Christenturas 
gleich  der  jeder  grossen  geistigen  Bewegung  darin  be- 
steht, dass  es  unter  gewissen  historischen  Bedingungen 
•Gefühle  und  Ideen  erweckt  hat,  die  zwar,  wenn  die 
Verhältnisse  sich  ändern,  sich  nicht  unverändert  zu 
-erhalten  vermögen,  die  aber  doch  der  idealen  Welt, 
deren  die  Menschheit  nie  entbehren  kann,  als  wesent- 
liche Bestandteile  einverleibt  werden  können.  Das 
Christentum  hat  die  Ideale  der  Liebe,  der  Innerlichkeit 
und  Reinheit  mit  einer  Kraft  des  Gefühls  geltend 
gemacht,  wie  das  nie  vorgekommen  ist,  weder  vorher 
noch  seither.  Es  hat  das  Gefühl  für  die  Leidenden  und 
Schwachen,  wenn  auch  nicht  erst  erweckt,  so  doch  ge- 
schärft und  die  Ungültigkeit  der  äussern  Unterschiede 
gegenüber  dem  gemeinsam  Menschlichen  (obwohl  hierin 
der  konfessionelle  Unterschied  frülizeitig  ein  Hindernis 
wurde)  geltend  gemacht.  Diese  Elemente  nimmt  das 
Geschlecht  auf  seinen  ferneren  Weg  mit.  Ein  edler 
Lebenstypus  geht  nicht  verloren,  wenn  auch  die  Beding- 
ungen für  seine  volle  Verwirklichung  wi^gfallen  mögen. 
Er  lebt  weiter  als  Element  in  dem  fortschreitenden 
Leben,  das  stets  neue  Bildungen  sucht. 

Die  humane  Lebensanschauung  steht  dem  Christen- 
tum gegenüber,  wie  sie  der  griechischen  Welt  gegen- 
über steht.  Wir  können  die  griechische  Männlichkeit, 
Gedankenklarheit  und  Harmonie  so  wenig  entbehren  als 
die  Liebe  und  Innerlichkeit,  die  im  Cliristentum  das 
Grösste  war  und  das  Bleibende  sein  wird.  Diese  Ideale 
und  Eigenschaften  haben  sich  unter  bestimmten  ge- 
schichtlichen Bedingungen  aus  dem  menschlichen  Geiste 
entwickelt;    und   derselbe  Menschengeist  nimmt  sie  auf 


Schlnss.  167 

seiner  ferneren  "Wanderung  mit  sich,  um  sie,  sofern  sie 
von  ihren  ursprünglichen  Voraussetzungen  losgelöst 
werden  können,  mit  den  neuen  Eigenschaften  und  Vor- 
bildern zusammenzuarbeiten,  die  durch  die  neuen  Lebens- 
bedingungen notwendig  werden.  Wir  nehmen  das  Gute, 
wo  wir  es  finden  können.*) 

3.  Diese  fortgehende  Entwicklung  des  Lebens,  sowie 
seine  Berechtigung  und  Fähigkeit,  unter  den  neuen 
Verhältnissen  neue  Ideale  zu  bilden,  bestritt  Kierkegaard 
aufs  bestimmteste.  Er  hatte  einen  ganzen  Vorrat  von 
spöttischen  Wendungen  zur  Verfügung  gegenüber  einer 
derartigen  Betrachtungsweise,  die,  wie  er  meinte,  ihre 
Überzeugung  vom  Höchsten  nur  „den  Forderungen  der 
Zeit,  des  Publikums  und  des  Eigennutzes  anpasste^ ; 
niemand  vermag  so  wie  er  zu  karikieren,  was  er  ver- 
wirft oder  —  nicht  versteht.  Und  doch  herrscht  in 
seiner  Auffassung  ein  offenbarer  innerer  Widerspruch, 
der  eng  damit  zusammenhängt,  dass  er  der  Subjektivität 
der  Persönlichkeit  das  Wort  redet  und  zugleich  eine, 
Grundlage  fixer  Dogmen  als  absolute  Bedingung  des 
Geisteslebens  festhält. 

In  seiner  Erkenntnislehre  macht  Kierkegaard 
geltend,  dass  das  Dasein  sich  von  der  Erkenntnis  nicht 
erschöpfen  oder  umspannen  lässt,  dass  vielmehr  stets 
neue  Arbeit  zu  thun  ist  —  dass  in  der  Welt  des  Den- 
kens stets  aufs  neue  gewagt  werden  muss.  Und  in 
seiner  Auffassung  des  religiösen  Glaubens  ist  eine 
Hauptsache,  dass  das  Entscheidende  die  Gleichzeitigkeit 
mit  dem  kämpfenden  und  leidenden  Ideal  ist.  Er  be- 
zeichnete es  in  seinen  letzten  Tagen  als  seines  Lebens 
Gedanken:  „Was  du  in  Gleichzeitigkeit  thust,  ist  das 
Entscheidende."  (Augenblick,  No.  8.)  Und  früher  hatte 
er   eingeschärft,    dass  weltgeschichtliche  Gestalten   sich 


*)  lieber  die  griechischen  und  christlichen  Elemente  in  der 
humanen  Ethik  vgl.  meine  Ethik  S.  117 — 119,  und  über  die  ethische 
Bedeutung  des  Christentums  überhaupt  Kap.  32  und  34. 


168 


Schlass. 


nicht  zu  Idealen  eignen,  da  sie  eine  Abgeschlossenheit 
haben,  wodurch  die  Betrachtung  in  Sicherheit  gewiegt 
werde:  ,.die  Idealität  kann  man  nicht  historisch  auf 
Flaschen  ziehen.«  („Stadien",  S.349.448  [318. 412].)  Macht 
man  damit  Ernst,  so  wird  jede  dogmatische  Religion 
unmöglich.  Denn  im  Dogma  liegt  gerade  der  Abschluss : 
das  Dogma  ist  eine  endgültige  Erklärung  über  die  Be- 
deutung einer  historischen  Person  oder  Begebenheit,  die 
definitive  Konstatierung  eines  gewonnenen  Resultats.  Jede 
positive  oder  dogmatische  Religion  giebt  in  Wirklich- 
keit die  Idealität  historisch  auf  Flaschen  gezogen  — 
und  daher  bedurfte  es  der  ungeheuren  geistigen  An- 
strengung und  grossartigen  Darstellungskunst  eines 
Sören  Kierkegaard,  um  die  grosse  Bedeutung  einer  per- 
sönlichen Versetzung  in  die  Gleichzeitigkeit  wieder  ans 
Licht  zu  ziehen.  Aller  Unterricht  in  dogmatischer 
Religion  ist  ein  Unterricht  in  Facitlisten;  die  Rechnung 
ist  abgeschlossen,  und  es  ist  in  hohem  Grade  schwierig, 
so  nachzurechnen,  dass  man  sein  Wissen  vom  Resultat 
nicht  benutzt.  Schlechte  Romanleser  schauen  gern  im 
Buche  hinten  nach,  wie  es  endlich  geht  —  man  bringt 
sich  aber  damit  um  die  Spannung,  die  der  Stimmung 
während  des  Lesens  allein  eine  Ähnlichkeit  mit  der 
Stimmung  während  des  Erlebens  giebt.  —  Kierkegaard 
sah  zuletzt  selbst,  dass  die  Dogmen  das  Unheil  ange- 
richtet hatten;  mit  ihrer  Hilfe  hatte  man  das  Vorbild 
beiseite  geschoben.     (Augenblick  No.  5.) 

Im  Ernst  gleichzeitig  kann  man  nur  mit  dem  sein, 
was  nicht  abgeschlossen  ist  und  dessen  Resultat  nicht 
garantiert  vorliegt.  Und  das  ist  nur  bei  dem  wirklichen 
Menschenleben  selbst  der  Fall  mit  seinen  Zielen  und  Auf- 
gaben, seinem  Kampf,  seiner  Lust  und  seinem  Schmerz. 
Kierkegaards  Lehre  vom  Paradox  enthält  die  grosse 
Wahrheit,  die  auch  —  oder:  die  gerade  —  die  humane 
Lebensanschauung  sich  ganz  zu  nutze  macht:  dass  das 
Grosse  und  Bedeutungsvolle  sich  so  oft  inmitten  geringer 


ächlass.  169 

und  imsclicinbarer  Umgebung  entwickelt.  Seine  Keime 
sind  oft  schwer  zu  entdecken  und  werden  leicht  miss- 
verstanden. Da  bedarf  es  denn  eines  offenen  Auges 
und  eines  starken  Glaubens  an  den  Wert  von  etwas, 
das  vielleicht  langsam  and  erst  spät  sich  zur  Anerken- 
nung durchringen  kann.  Das  Urteil  über  uns  beruht 
besonders  auf  unserem  persönlichen  Verhalten  zu  den 
idealen  Kräften,  die  noch  in  der  Hülle  lagen  oder  dafür 
kämpften,  sich  in  unserer  Zeit  entfalten  zu  können. 
Eine  dogmatische  Richtschnur  giebt  es  nicht;  das  Ideal 
kann  nicht  ein-  für  allemal  gebildet  werden;  es  muss 
sich  neu  formen,  neue  Gestalten  annehmen,  und  stellt 
dann  unter  jeder  dieser  Gestalten  seine  Forderung  an  uns.^ 
'  So  etwa  mag  Kierkegaards  Lehre  vom  Paradox 
und  von  der  ])ersönlichen  Gleichzeitigkeit  zurechtgelegt 
werden,  wenn  sie  bleibende  und  allgemeine  Bedeutung 
haben  soll.  So  scharf  er  als  Denker  und  Ethiker  gegen 
die  schädlichen  Wirkungen  der  Dogmen  auftrat,  so 
brach  er  doch  mit  ihnen  nicht;  er  goss  seinen  edlen 
Wein  in  die  alten  Schläuche.*)  Soll  der  Wein  erhalten 
bleiben,  so  muss  er  in  neue  Schläuche  kommen. 

Es  wäre  müssig,  wollte  man  darüber  sich  den  Kopf 
zerbrechen,  welche  Stellung  Sören  Kierkegaard  bei 
längerem  Leben  wohl  eingenommen  haben  würde.  Seine 
Sympathie  mit  dem  Katholizismus  einerseits,  seine  An- 
erkennung für  die  Auffassung  des  Christentums  bei 
freien  Forschern  wie  Feuerbach  andererseits  lässt  ent- 
gegengesetzte Möglichkeiten  offen.  Und  eine  neue  Mög- 
lichkeit kommt  hinzu,  wenn  wir  an  eine  Entwicklung 
wie  die  Leo  Tolstois  denken,  der  verschiedene  Berüh- 
rungspunkte mit  Kierkegaard    darbietet.      Man    könnte 


*)  Vrgl.  hierüber  die  Abhandlung  von  Chr.  Schrempf: 
Kierkegaards  Stellung  zu  Bibel  u.  Dogma  (Zeitschrift  für 
Theologie  u.  Kirche,  I,  1891,  S.  179—229),  welche  leider  erst  nach 
Erscheinen  meines  Buches  (das  im  Jahre  1891  ausgearbeitet  wurde) 
in  meine  Hände  kam.     (Note  zur  deutschen  Ausgabe.) 


170  Schluss. 

denken,  er  wäre  in  der  Nachfolge  ,,des  Vorbildes"  dabei 
geblieben,  als  der  Einzelne  zu  wirken,  aber  mit  stei- 
gender Geringschätzung  ,,der  Dogmen."  —  Doch  wer 
kann  die  Möglichkeiten  für  den  weiteren  Gang  eines 
grossen  Geistes,  zumal  eines  solchen,  für  den  ,,der 
Sprung"  ein  Lieblingsgedanke  war,  alle  aufzählen?  — 
Und  ebenso  schwer  sind  die  Möglichkeiten  für  seinen 
Einfluss  zu  berechnen.  Hauptsächlich  hat  er  als  Strom- 
teiler gewirkt,  hat  unklare  Vermengungen  zur  Scheidung 
getrieben,  in  der  geistigen  Welt  Klärung  geschafft. 
Einige  hat  er  zu  tieferer  Versenkung  ins  Christentum 
(wie  sie  es  auffassen)  getrieben,  andere  hat  er  durch 
das  Prinzip  der  persönlichen  Wahrheit  über  dasselbe 
hinausgeführt.  Auch  auf  indirekte  Wirkungen  und 
Folgerungen  seiner  Gedanken  stossen  wir  bei  uns  im 
Norden  allenthalben  in  den  wichtigsten  geistigen  Be- 
wegungen der  letzten  Generation. 


Berichtigungen  und  Zusätze. 
S.  17,  letzte  Zeile  v.  u.  (im  Text)  lies  statt  „oft":  „bald". 
S.  19,  Zeile  10  v.  u.  lies    statt  „Philosophen":    „Theosophen". 
Zu  S.  28,  Zeile  5  und  6:  die  zitierten  Ausdrucke  finden  sich  in  einem 
Jugendgedicht  von  Paul  Möller:  „Freude  über  Dänemark", 
worin  er  auf  einer    Seereise    nach   Ostindien    seine    Sehn- 
sucht nach  dem  Vaterland  ausgedrückt  hatte. 
Zu  S.  38,  Z.  11  V.  u.:  „odium  professionis"  ist  doch  richtiger  durch 
„Hass  gegen  das  Klostergel&bde"  zu  übersetzen. 


.^5^!e:=$^- 


Fr.  Frommanns  Verlag"  (E.  Hauff)  in  Stuttg^art. 

Baiiniauu,  Julius,  Die  Grundlriigc  der  Relig^ion.  Versuch  einer 
auf  den  realen  Wissenschaften  ruhenden  Gotteslehre.    1895.    72  S.    8". 

Brosch.  M.  1.20. 

Inhalt:  1.  Religion  im  Allgemeinen.  2.  Ist  Religion  subjektiv  oder  objektivV 
3.  Die  christliche  Religion  in  Harnacks  Dogmengeschichte.  4.  Versneh  einer  auf  den 
realen  Wissenschaften  ruhenden,  also  objektiven  Gotteslehre. 

Bauuianu,  Julius,  Christus.     Etwa  90  S.     8«.     (Herbst  1896.) 

Diez,  Max,  Theorie  des  Gefühls  zur  Begründung  der  Aesthetik. 

1892.     172  S.     gr.  8".  Brosch.  M.  2.70. 

Kxsul,  Psychische  Kraftübertragung.    189(3.    23  S.    8». 

Brosch.  M.  —.50. 

Froniniann,  Hermann,  Arthur  Schopenhauer.  3  Vorlesungen. 
9G  S.     8'\  Brosch.  M.  1.80. 

1.  Schopenhauers  Jugend.  2.  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  3.  Schopen- 
hauers Kinsiedlerleben. 

Schlegel,  Emil,  Das  Bewusstsein.  G-rundzüge  naturwissenschaftlicher 
und  philosophischer  Deutung.  Mit  Geleitsworten  von  Prof.  Th.  Mey- 
nert  in   Wien.     1891.     128  S.     8".  Brosch.  M.  2.—. 

Kierkegaard,  S.,  Angriff  auf  die  Christenheit.    Uebersetzt  von 

A.  Dorner  und  Chr.  Schrempf.     1895.     XXIV  und  632  S.     8». 

In  2  Teile  brosch.  M.  8.50. 

I.  Kierkegaards  letzte  Schriften  (1851—55)  entlialtend.  Inhalt:  I.  Ueber 
meine  Wirksamkeit  als  Schriftsteller.  II.  Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  an- 
befohlen. III.  S.  Kierkegaards  letzte  Aufsätze  in  Zeitungen  und  Flugschriften.  — 
A.  Artikel  im  Vaterland.  —  B.  Dies  soll  gesagt  werden  —  so  sei  es  denn  gesagt.  — ■ 
C.  Der  Augenblick. 

II.  Anliang.  Inhalt:  I.  Eine  erste  und  letzte  Erklärung.  II.  Aus  Anlass 
einer  mich  betrefltenden  Aeusserung  Dr.  A.  G.  Rndelbachs.  III.  Der  Gesichtspunkt 
für  meine  Wirksamkeit  als  Schriftsteller.  IV.  Richtet  selbst.  V.  Der  Augenblick. 
VI.  Gottes  UnVeränderlichkeit. 

Daraus  Sonderdruck: 

Richtet  selbst.  Zur  Selbstprüfung  der  Gegenwart  anbefohlen.  Zweite 
Reihe.     1895.     112  S.     8°.  M.  1.50. 

Kierkegaard,  S.,  Lehen  und  Walten  der  Liehe.    Uebersetzt  von 

A.  Dorner.     1890.     XV,  278  und  241  S.     8". 

Brosch,  ]\L  5,  —  ;  geb.  M.  6.—. 

Finckh,  Martin,    Kritik  und  Christentum.     1893.  234  S.  8». 

Brosch.  M.  2.50. 
Graue,  Paul,  Deutsch-evangelisch.  1894.  96  S.  8°.  Brosch.  M.  1.50. 

Inhalt:      I.    Einführung.      II.     Der    Inhalt    des    Glaubens    an    Jesus    Christus. 

III.  Glaube    und    Rationalismus.      IV.    Unsere    wahre    Autorität.      V.    Deutschtum. 
VI.  Konfession,  Partei,  Gemeinde. 

Graue,  Paul,  Die  freie  christliche  Persönlichkeit.  In  „Die 
Wahrheit"  1896,  1.  u.  2.  Juniheft.  M.  —.80. 

Schriften  von  Christoph  Schrempf: 

Drei  Religiöse  Reden.     1893.    76  S.    8*».    Zweite  und  dritte  Auflage. 

Brosch.  M.  1.20. 

Inhalt:  I.  Unser  .jUnglaube".  II.  Ueber  Religion.  III.  Ueber  religiöse  Ge- 
meinschaft und  die  gegenwärtige  evang.  Landeskirche  Württembergs. 

Natürliches  Christentum.  Vier  neue  religiöse  Reden.   1893.    112  S.  8». 

Brosch.  M.  1.50. 

Inhalt:     I.  Von   Gott.     II.  Von  Jesus  Christus.    III.  Von  dem  heiligen  Geist. 

IV.  Wie  man  das  IJekenntnis  verteidigt. 


Fr.  Frommanns  Verlag"  (E.  Hauff)  in  Stuttgart. 


T 


Uelier  die  A^erkündiguiig-  des  Evaiigeliums  an  die  neue  Zeit. 

1893.     40  S.     8«     1.  u.  2.  Aufl.  Brosch.  M.  —.60. 

In  der  christlichen  Welt  1893,  Nr.  7,  nennt  Professor  W.  Herr  mann  die 
„Pfarrersfrage"  „eine  kraftvolle  Streitschrift"  und  schreibt  über  die  „Religiösen 
Reden"  ;  Die  beiden  ersten  aber  beweisen,  dass  er  eine  unvergleiehliche  Gabe  hat, 
zu  den  Gebildeten  unserer  Zeit  von  dem  Höchsten  zu  reden.  Eines  der  grössten 
Hindernisse  der  christlichen  Verkündigung  ist  hier  gründlich  abgethan.  Was  dem 
Menschen  dazu  dienen  soll,  ihn  zu  Gott  zu  führen,  wird  hier  wirklich  als  Mittel 
dazu  verwertet  und  nicht  als  Mittel  dagegen. 

Obige  3  Schriften  von  Schrempf  zusammengebunden  in 
einem  Ganzleinwandband  M.  3.30. 

Zur  Pfarrersfrage.     1893.    52  S.    8».  Brosch.  M.  —.80. 

An  die  Studenten  der  Theologie  zu  Tübingen.    Noch  ein  Wort 
zur  Pfarrersfrage.    1893.    30  S.    8".    1.  u.  2.  Aufl.     Brosch.  M. —.  50. 

Eine  Nottaufe.     1894.    56  S.    8°.  Brosch.  M.  —.75. 

Toleranz.  Rede  geh.  i.  d.  Berl.  Gesellschaft  f.  Eth.  Kultur.   1895.  32  S.  8». 

Geh.  M.  —.50. 
Zur  kirchlichen  Lage.    Rede  geh.  2.  Februar  1896.   18  S.  8«.  M.  — .30. 


Weizsäcker,  Carl,  Ferd.  Chr.  Baur.     Rede  geh.  21.  Juni  1892. 
1892,     22  S.     8".  Brosch.  M.  —.40. 

Frommann,  F.  J.,  Das  Frommannsche  Haus  und  seine  Freunde. 

Dritte  durch  einen  Lebensabriss  F.  J.  Frommanns  vermehrte  Ausgabe. 
1889.     191  S.     8".  Brosch.  :\I.  3.—. 

Weithrecht,  C,  Diesseits  von  Weimar.    Auch  ein  Buch  über 

GrOethe.      1895.     313  S.     8".      Brosch.  M.  3.60,   eleg.  geb.  M.  4.50. 

N.  Zürcher  Zeitung:  Frisch  von  der  Leber  weg  stellt  der  Verfasser  im 
Gegensatz  zu  einem  verhimmelnden  Goethekultns,  der  jeden  Wisch  und  Waschzettel, 
auf  den  der  Dichter  einmal  eine  Notiz  geschrieben,  zu  einem  tiefsinnigen  Litteratnr- 
Dokument  aufbauscht,  Goethe  so  dar,  wie  er  sich  ihm  spiegelt,  wie  er  ihn  mit  seinen 
Sympathien  erfasst  hat.  .  .  .  Bin  verständnisinniger  Dichter  schreibt  über  den 
Dichter  aus  der  ganzen  Fülle  eines  für  den  jungen  Goethe  begeistt-rten  Herzens,  so 
dass  man  selber  in  eine  unmittelbare,  ans  der  Darstellung  fliessende  Bewunderung 
für  das  Goethesche  Leben,  für  seine  erste  Dichterzeit  gerät. 

Diez,  Max,  Julius  Klaiber.     Ein  Lebensbild.     IVIit  4  Bildern.     1893. 
40  S.     8".  Brosch.  M.  —.60. 

V.  Westenholz,  Fr.,  Ueber  Byrons  historische  Dramen.     Ein 

Beitrag  zu  ihrer  ästhetischen  Würdigung.     1890.     64  S.     8". 

Brosch.  M.  1.20. 
—  „—    Die  Tragik  in  Shakspeares  Coriolan.    Eine  Studie.    189,5. 

32  S.     8".  Brosch.  M.  —.50. 

Sarrazin,  Joseph,  Das  moderne  Drama  der  Franzosen  in  seinen 

Hauptvertretern.     ]\Iit  zahlreichen  Textproben  aus  hervorragenden 

Werken  von  Äugier,   Dumas,  Sardou  und  Pailleron.     2.  Aufl.     1893. 

325  S.     8«.  Brosch.  M.  2.—,  geb.  M.  8.—. 

Saul,  D.,  Schiller  im  Dichtermund.    1896.    72  S.    8«. 

Brosch.  M.  1.-. 
Ludwig,  Hermann,  Strassburg  vor  liundert  Jaliren.    Ein  Bei- 
trag zur  Kulturgeschichte.   1888.  XII  u.  348  S.  8".     Brosch.  M.  5.—. 

Stüve,  J.  C.  B.,  Geschichte  des  Hochstifts  Osnabrück  bis  zum 

Jahre  1508.     480  S.    8".  Brosch.  M.  7.—. 

_^_        — „—        II.  Bd.  1508—1623,  nebst  einem  Lebensabriss  Stüves. 

1296  S.     8**.  Brosch.  M.  12.—. 

_,—        — „—      III.  Bd.  bis  1648.    356  S.    8«.  Brosch.  M.  4.—. 


Fp.  Frommanns  Verlag"  (E.  Hauff)  in  Stuttgart. 

Die  Wahrheit. 

Halbmonatschrift  zur  Vertiefung  in  die  Fragen  und  Aufgaben 
des  Menschenlebens. 

Herausgeber:  Christoph  Schrempf. 

Erseheint  seit  Oktober  1893.    Vierteljährlich  M.  1.80. 

Allgem.  Ztg.:  Die  von  dem  bekannten  Lic.  Chr.  Sclirempf  herausgegebene 
„Wahrheit"  verfolgt  in  jugendlicher  Frische  und  rastloser  Energie  die  Aufgabe,  für 
eine  grössere  Wahrliaftigkeit  und  Innerlichkeit  in  unsern  religiösen,  moralischen,  sozialen 
Verhältnissen  zu  wirken.  Eine  solche  Aufgabe  ist  schwierig  genug.  Einmal  kann  leicht 
bei  der  Behandlung  solcher  inneren  Fragen  zu  viel  Reflexion  aufkommen  und  auch  der 
Ton  ein  zu  lehrhaftes  oder  vielmehr  pastorales  Gepräge  annehmen,  andrerseits  drängt 
die  Notwendigkeit  der  Kritik  und  des  Kampfes  leicht  mehr  das  Negative  als  das  Positive 
der  eigenen  Behauptung  in  den  Vordergrund.  Aber  den  Kampf  gegen  solche  Gefahren 
sehen  wir  mit  Nachdruck  und  Geschick  aufgenommen  und  finden  überhaupt  das  Unter- 
nehmen in  erfreulichem  Fortschreiten.  Die  Arbeit  tritt  unverkennbar  in  ein  immer 
engeres  Verhältnis  zu  den  Bewegungen   der  Zeit  und  gewinnt    damit   an  Anschaulichkeit 

und  Eindringlichkeit Auch  der  Kreis  der  Mitarbeiter  ist  sichtlich  im  "Wachsen  begriffen. 

So  entwickelt  sich  das  Unternehmen  mehr  und  mehr  zu  einem  Sammelpunkt  idealer 
Bestrebungen  in  der  angegebenen  Richtung.  Wer  immer  daher  für  diese  Bestrebungen 
Sympathie  hat  und  von  der  Notwendigkeit  einer  Vertiefung  des  modernen  Lebens  über- 
zeugt ist,  der  sollte  sieh  verpflichtet  fühlen,  der  „Wahrheit"  ein  thätiges  Interesse 
zuzuwenden.  (Professor  Dr.  Eucken  in  Jena.) 

Aus  dem  Inhaltsverzeichnis: 

Die  Kulturbedeutung  der  Gegenwart.     Von  Prof.  Dr.  Ä.  Riehl. 

Friedrich  Nietzsche.     Von  demselben. 

Religion  und  Transcendenz.     Von  Prof.  Dr.  Paul  Natorp. 

Mein  Skepticismus.     Von  Chr.  Schrempf. 

Autorität.     Von  demselben. 

Die  religiöse  Aufgabe  der  Gegenwart.    Von  demselben, 

Tolstoi  als  Profet.     Von  demselben. 

Schleiernlachers  sittlicher  Genius.     Von  Oberlehrer  A.  Heubaum. 

Das  Sittlichkeitsideal  der  Reformationszeit.     Von  demselben. 

Richard  Wagner  als  Erzieher.     Von  Lic.  Paul  Schubring. 

Der  Individualismus  Goethe's.     Von  Dr.  Fr.  Brass. 

Ein  Dichter  der  Sehnsucht.     Von  Carl  Busse. 

Künstlerin  und  Kunstrichter.     Von  Dr.  Rud.  Krauss. 

Die  Naturalisten  und  Gerhart  Hauptmann.     Von  S.  Binder. 

Wie  Familienjournale  gemacht  werden.     Von  Korrektor. 

Heimlichkeit  im  öffentlichen  Leben.     Von  Gustav  Pfizer. 

Worauf  es  bei  uns  dem  Volke  gegenüber  gerade  ankäme. 
Von  Prof.  Dr.  J.  Baumann. 

Die  Monarchie  und  die  Parteien.  Ein  Vorwort  zu  künftigen  Um- 
sturzvorlagen.    Von  Prof.  Dr.  Friedrich  Paulsen. 

Nationalgefühl.     Von  Prof.  Dr.  F.  Tönnies. 

Die  sozialen  Gründe  des  Untergangs  der  antiken  Kultur. 
Von  Prof.  Dr.  Max   Weber. 

Religion  und  Wirtschaftsordnung.  Nach  einem  Vortrage  von 
Friedrich  Naumann. 

Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Sozialismus.  Von  Friedrich 
Naumann. 

Moderne  Heimatlosigkeit.     Von  Dr.  H.  Losch. 

Der  gegenwärtige  Stand  der  christlich-sozialen  Bewegung. 
Von  Prof.  Dr.  A.  Titius. 

Die  Reform   der  sozialen  Versicherung.     Von  E.  Lautenschlager, 

Der  unlautere  Wettbewerb.     Von  Prof.  Dr.  K.  Th.  Eheberg. 

Soziale  Pädagogik.     Von  Prof.  Dr.  T7i.  Ziegler. 

Die  soziale  Reform  eine  Kulturfrage.  Von  Prof  Dr.  H.  Herkner. 
Ö^~  Preis  für  Band  I— IV  brosch.  ä  M.  3.20,  geb.   ä  M.  3.75, 

für  Band  V  u.  ff.  brosch.  ä  M.  3.60,  geb.  ä  M.  4.15. 


Fr.  Frommanns  Verlag*  (E.  Hauff)  in  Stuttgart. 

Frommanns  Ulassiker  der  Philosophie 

herausgegeben  von 

Richard  Falckenberg* 

Dr.  u.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Erlangen. 


Plan  und  Mitarbeiter  des  Unternehmens. 

Die  reiche  philosophiegeschichtliche  Arbeit  Deutschlands  hat  mit 
Glück  die  verschiedensten  Formen  der  Darstellung  angewendet.  Weder  an 
umfangreichen  und  eingehenden  Gresamtdarstellungen  fehlt  es,  noch  an 
■  knappen  Uebersichten,  und  neben  der  Geschichte  der  einzelnen  Fächer  hat 
die  der  Begriffe  uud  Probleme  kundige  Bearbeiter  gefunden.  Nur  die 
monographische  Behandlung  bedeutender  Philosophen,  zumal  in  populär- 
wissenschaftlicher Haltung,  ist  bei  uns  nicht  in  dem  Umfange  gepflegt 
worden,  wie  es  im  Auslande  mit  Erfolg  geschehen  ist  und  wie  es  ihrem 
Werte  entsprechen  würde.  Denn  gerade  sie  ist  besonders  geeignet,  sowohl 
die  Teilnahme  weiterer  Kreise  für  die  grossen  Denker  zu  gewinnen,  als 
auch  den  Lernenden  in  die  Gedankengänge  der  Meister  philosophischer 
Forschung  einzuführen.  Diese  Lücke  auszufüllen  setzt  sich  die  hiermit 
angekündigte  Sammlung  zum  Ziel.  Sie  soll  den  Gebildeten  und  den 
Studierenden  die  hervorragendsten  Denker  —  zunächst  der  Xenzeit, 
später  auch  des  Altertums  und  des  Mittelalters  — ■  in  ihren  Lebens-  und 
Weltanschauungen  in  gründlichen  und  lesbaren  Einzeldarstellungen  aus 
der  Feder  der  für  die  jeweilige  Aufgabe  geeignetsten  Kräfte  vorführen. 

Mit  Genugthuung  erfüllt  uns  die  sympathische  Aufnahme,  welcher 
unser  Plan  in  dem  Kreise  der  Gelehrten  begegnete,  denen  wir  ihn  vorlegten 
und  die  das  Unternehmen  einstimmig  als  ein  sehr  nützliches  Werkzeug 
philosophischer  Studien  begrüssten;  mit  Dankbarkeit  die  Bereitwilligkeit,  mit 
welcher  namhafte  Forscher  der  Einladung  zur  Mitarbeit  Folge  geleistet  haben. 

Erschienen  sind: 
G.  Tli.  Fechner.     Von  Prof.  Dr.  K.  Lasswitz  in  Gotha.     214  S.     8». 

Brosch.  M.  1.75.     Gebd.  M.  2.25. 
Hobbes.     Von  Prof.  Dr.  Ferd.  Tönnies  in  Kiel.     246  S.     8°. 

Brosch.  M.  2.—.     Gebd.  M.  2.50. 
Kierkegaard.     Von  Prof.  Dr.  H.  Höffding  in  Kopenhagen.     186  S.    8". 

Brosch.  M.  1.50.     Gebd.  M.  2.—. 
Daran  werden  sich  anschliessen : 
Galilei.     Von  Prof.  Dr.  Natorp  in  Marburg. 
Spinoza.     Von  Prof.  Dr.  Freudenthal  in  Breslau. 
Bayle.     Von  Prof.  Dr.  Kucken  in  Jena. 
Hume.     Von  Prof.  Dr.  A.  Riehl  in  Kiel. 
Kant.     Von  Prof.  Dr.  Fr.  Paulsen  in  Berlin. 
Rousseau.     Von  Prof.  Dr.  H.  Höffding  in  Kopenhagen. 
Hegel.     Von  Prof,  Dr.  Lasson  in  Berlin. 
Schleiermacher.     Von  A.  Heubaum  in  Berlin. 
Herbart.     Von  Prof.  Dr.  Siebeck  in  Giessen. 
Lotze.     Von  Prof.  Dr.  Falckenberg  in  Erlangen. 
Feuerbach.     Von  Prof.  Dr.  Jodl  in  Wien. 
A.  Comte.     Von  Prof.  Dr.   Windelband  in  Strassburg. 
D.  F.  Strauss.     Von  Prof.  Dr.  Th.  Ziegler  in  Strassburg. 
Herbert  Spencer.     Von  Dr.  Otto  Gaupp  in  London. 
Fr.  Nietzsche.     Von  Prof.  Dr.   Volkelt  in  Leipzig. 
Locke,  Lessing,  Herder  als  Philosoph,  Fichte,  Schopenhauer, 
F.  A.  Lange,   Helniholtz   u.   a.    werden    gleichfalls    später   erscheinen. 
Es  sollen  jährlich  3 — 4  Bände  ausgegeben  werden. 


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B 
H7 


H/ffding,  Harald 

Sören  Kierkegaard  als 
Philosoph