S. BASCH's ^
Eushhandlung u. Antiquariat
nerlin IV.
Friedricbslrasse 135
nahe d. Schiffbauerdamin.
m
Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff) in Stuttgart.
Schriften von S. Kierkegaard;
Angriff auf die Christenheit.
Uebersetzt von
A. Dorner und Christoph Schrempf.
1896. XXIV u. 632 Seiten. 8«. In 2 Teile brosch. Preis 8 M. 50 Pf.
Die Akten.
Erste Hälfte: Kierkegaards letzte Schriften (1851—55)
enthaltend. Inhalt: I. Ueber meine Wirksamkeit als Schrift-
steller. — II. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. —
III. S. Kierkegaards letzte Aufsätze in Zeitungen und Flugschriften.
— A. Artikel im Vaterland. — B. Dies soll gesagt werden —
so sei es denn gesagt. — C. Der Augenblick.
Zweite Hälfte: Anhang. Inhalt: I. Eine erste und letzte
Erklärung. — II. Aus Anlass einer mich betreffenden Aeusserung
Dr. A. Gr. Rudelbachs. — III. Der Gesichtspunkt für meine Wirk-
samkeit als Schriftsteller. — IV. Richtet selbst. — V. Der Augen-
blick. — VI. Gottes Unveränderlichkeit.
Daraus Sonderdruck:
Richtet selbst.
Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen (II. Reihe).
112 Seiten 8«. Preis 1 M. 50 Pf.
Deutsche Et. Kirchenzeitnng : Mit der Uebersetznng und Herausgabe dieser
Schriften des seltsamen Dänen hat Seh rempfeine grosse und verdienstvolle Arbeit
verrichtet. ... S. Kierkegaard ist ohne Zweifel einer der merkwürdigsten Schrift-
steller der christlichen Kirche, von einer erschütternden Kraft, die Mark und Bein
durchbohrt, und von einer Abstrusität, die zuweilen an Wahnsinn streift. Er möchte
der Totengräber einer Christenheit sein , die mit dem Christentum keinen Ernst
macht, und verurteilt unerbittlich das Scheinwesen, mit dem nicht bloss die Kirchen,
sondern auch die Frommen sich zufrieden geben.
Die Grenzboten : Unter allen modernen Richtern der Christenheit ist der in
Deutschland und wohl überhaupt in der AVeit am wenigsten bekannte S. Kierke-
gaard, der radikalste gewesen. . . . Wir wollten nur darauf aufmerksam machen,
dass Worte wie die seinen bei der gegenwärtigen Stimmung in Deutschland einen
tiefen Eindruck hervorbringen müssen.
Leben und Walten der Liebe.
Uebersetzt von A. Dorner.
1890. XV, 278 u. 241 Seiten 8«. Preis geh. 5 M., geb. 6 M.
Frommanns Klassiker der Philosophie
herausgegeben
Richard Falckenberg
Dr. u. o. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen.
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III.
S. Kierkegaard
VON
Harald Höffding.
SÖREN KIERKEGAARD
ALS PHILOSOPH
VON
HARALD HOFFDING
PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN.
Mit einem Vorwort
von
CHRISTOPH SCHREMPF
LIC. THEOL. . ^
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STÜTTGAET.
Fß. FEOMMANNS VERLAG (E. HAUFF).
1896.
3
k277
H7
LIBRARY
'751771
WIIVERSITY OF TORONTO
Druck von L. Weil in Ellwangen.
Inhalt:
Vorwort des Herausgebers S. III
Einleitang 1
I. Die romantisch-specnlative Keligionsphilosophie ... 6
II. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark . 17
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit 29
IV. Sören Kierkegaards Philosophie 67
jl^ Die Erkenntnistheorie 61
B. Die Ethik 74
a. der Sprang 74
b. die Stadien 87
a. die ästhetische Lebensanschauung .... 88
ß, die ethische Lebensanschaanng 97
y. die religiöse Lebensanschauung 116
0. der Massstab 127
V. Sören Kierkegaard und das Christentum ...... 134
A. Persönlicher Durchbruch 134
B. Das letzte Wort 162
Schluss 160
Vorwort.
Als mir diese Schrift durch die Freundlichkeit des
Herrn Verfassers zukam, erregte sie in mir sofort den
doppelten Wunsch, sie als einen wichtigen Beitrag zum
Verständnis S. Kierkegaards ins Deutsche zu übersetzen
und eine zum Teil stark abweichende Darstellung des
Philosophen Kierkegaard daneben zu stellen. Aber ich
konnte weder das eine noch das andere ausführen. Auch
die vorliegende Übersetzung ist nicht von mir gefertigt,
sondern von Herrn Pfarrer a. D, A. Dorner in Fellbach
bei Cannstatt; doch habe ich sie so durchgesehen und
auch durchgearbeitet, dass ich sie wie eine eigene Ar-
beit vertreten kann. Und statt etwa gleichzeitig eine-
besondere Darstellung von Kierkegaards philosophischem.
Denken zu geben, kann ich zunächst nur hier in eineni
Vorwort andeuten, warum und wiefern ich ihn anders- wn
betrachten und beurteilen würde. Das aber möchte iclr^BI
doch nicht unterlassen, da es nicht bloss dem Verständ-
nis Kierkegaards, sondern auch der richtigen Auffassung
dieser Studie über ihn dienlich sein kann. —
Es steht mir nicht zu, die Vorzüge dieser Schrift
rühmend hervorzuheben. Sie wird für sich selbst spre-
chen. Sie wird namentlich selbst den Nachweis liefern,
dass Sören Kierkegaard nicht bloss als geistreicher
„ästhetischer" Schriftsteller, auch nicht bloss als charak-
terfester Vertreter eines etwas ernsthafteren Christen-
tums, sondern in der That als wirklicher Philosoph
aufmerksame Beachtung verdient. Ich meine sogar, dass
er unter den „Klassikern der Philosophie" ziemlich weit,
vorne steht. Denn er hat in Erkenntnistheorie, Ethik
und Religionsphilosophie eine bestimmte, nicht so leicht.
IV Vorwort.
zu charakterisierende Richtung wirklich „klassisch"
vertreten; und seine ästhetischen Gedanken seien nicht
bloss geistreich, sondern oft auch wirklich gut. — Den
Freund Kierkegaards wird es wohlthuend berühren, dass
in der vorliegenden Schrift die streng wissenschaftliche
Untersuchung immer wieder die persönliche Sympathie
des Verfassers für diesen seltsamen Denker durchscheinen
lässt, der ein so tief unglückliches und so beneidenswert
reiches Leben geführt hat. Ohne diese persönliche
Sympathie wird ja auch kaum jemand die oft sehr not-
wendige, aber gewiss auch sich lohnende Greduld haben,
den verwickelten Gedankengängen Kierkegaards unver-
drossen nachzugehen, ohne die einzelnen, oft unbequemen
Päden abzureissen und fallen zu lassen. — Dass hier
«in Philosoph der Continuität den Irrationalismus Kier-
kegaards darstellt und auf seinen wirklichen Wahrheits-
gehalt prüft, kann auch der Verehrer Kierkegaards
nicht bedauern, sondern nur mit Freude begrüssen.
Zudem hebt ja der Herr Verfasser an allen wichtigen
Punkten die Verschiedenartigkeit seines Denkens so
oiFen und klar hervor, dass dem Leser jederzeit frei
steht, sich auf die andere Seite zu schlagen und von
a,nderen Voraussetzungen aus anders zu urteilen.
Das möchte ich selbst nun allerdings nicht selten thun.
Ich gehe nämlich bei der Betrachtung Kierkegaards
mit Herrn Professor Höffding davon aus, dass er nicht
wie andere Philosophen ein System der Erkenntnis geben
wollte, sondern vielmehr nur „eine psychologische und
ethische Einleitung zu einer Lebensanschauung oder
eine Theorie der Lebensanschauung" (S. 55). Kierke-
gaard ist an seinem Denken nie rein theoretisch, bloss
,, wissenschaftlich" interessiert, sondern immer eudämo-
nistisch, ethisch, pädagogisch. Er denkt, auch wo es
nicht so auffällig hervortritt, immer nur, um die
Methoden zu gewinnen, wonach man leben kann und
soll. Dann muss aber die Wahrheit seines Denkens,
Vorwort. V
wenn es solche hat, wesentlich immer darin bestehen,
dass er eine brauchbare methodische Anweisung für die
Gestaltung des Denkens und Lebens bietet. So betrach-
tet scheint mir nun mancher „wissenschaftlich" unhalt-
bare Gedanke ,, praktische" Wahrheit zu haben. Ich
denke z. ß. an die Unterscheidung der ,, wesentlichen"
und ,, unwesentlichen" Erkenntnis. Sie ist wissenschaft-
lich kaum durchzuführen; davon hat mich der Verfasser
dieser Schrift überzeugt (cf. S. 61 f.). Aber es ist in
jedem Augenblick des Lebens für den Menschen eine
sittliche Frage, worauf er jetzt sein Denken zuerst
richten soll. Darauf giebt Kierkegaard die Antwort:
auf das Wesentliche — auf das, was du verstehen musst,
um als sittliche Persönlichkeit existieren zu können.
Und diese Antwort scheint mir auf eine durchaus rich-
tige Methode des Lebens, bezw. Philosophierens hinzu-
weisen, obgleich Kierkegaards einzelne Regeln für die
Benutzung derselben nicht immer brauchbar sein mögen.
In seinem nie rein theoretisch, stets eudämonistisch,
ethisch, pädagogisch — kurz: praktisch interessierten
Denken ^eht nun Kierkegaard, wie er nicht anders kann, JB
stets von sich aus und auf sich zurück. Das wird ja
wiederum in dieser Schrift energisch hervorgehoben.
Er suchte immer zuerst eine Existenzweise für sich,
eine Lebensmethode, wonach er selbst leben konnte.
Dieser Egoismus gehört zum Grossartigsten und Bedeut-
samsten an ihm. Dann wird aber die erste Frage zu
seiner Beurteilung sein: ob die von ihm entdeckte Me-
thode für ihn passte; ob er sich die richtige Brille
schliff, die seinem Auge ein Maximum von Sehfähigkeit
verlieh; ob er sich die richtige Krücke schnitzte, die
ihm das noch erreichbare Maximum von Bewegungs-
fähigkeit gewährte. Darüber lässt sich streiten. Ich
wäre doch geneigt, diese Frage ohne wesentliche Ein-
schränkung zu bejahen. Seine charakteristischen Lebens-
bedingungen waren: die „Angst" vor sich selbst, vor
^
VI Vorwort.
der Welt, vor „Gott"; die innere Gebundenheit an das
historisch überlieferte Christentum als an die Wahrheit;
eine unendlich feine Sensibilität für subjektive Wahr-
haftigkeit, und ein brennendes Verlangen nach intensivem
Leben, In dieser psychologischen Constitution musste
ihm aber die Wahrheit im einzelnen und ihm ganzen,
also namentlich ,,Gott*', mit Notwendigkeit als das
„Paradox" erscheinen, das er durch den „Sprung" des
,, Glaubens" nicht sowohl erfasste, als nur immer wieder
umklammerte. In seiner Verfassung musste ihm nament-
lich das ,, ethische Stadium" des Lebens, das er mit so
grosser Begeisterung zeichnete, sich mit Notwendigkeit
unter den Händen verflüchtigen. Denn in der „Angst",
in dieser ,, impertinenten Unruhe", bei dem immer wieder
durchbrechenden Gefühl der „Uneinsartigkeit" mit dem
Wahren, dem Guten, mit ,,Gott" — da kann man un-
möglich der ruhigen, liebevollen Ausgestaltung dieses
angstvollen Lebens sich hingeben. Aber so seltsam, ja
unheimlich uns seine Existenz oft anmutet: er hat sie
doch durchgebracht; er ist dem wirklichen Wahnsinn
entgangen; er hat sogar noch eine grosse und wertvolle
Arbeitsleistung vollbracht. Ich schliesse daraus, dass
seine Methode zu existieren für ihn richtig war —
während z. B. Friedrich Nietzsche die richtige Methode
für sich nicht fand, da er sonst nicht wahnsinnig ge-
worden wäre. Zudem war Nietzsche von Hause aus,
wie mir scheint, bei weitem weniger gefährdet als
Kierkegaard.
Gesetzt nun, Kierkegaard habe für sich richtig
pliilosophiert, so steht uns noch die Frage aus, ob die
von ihm gefundene Methode menschlicher Existenz auf
Allgemeingültigkeit Anspruch machen kann. Ist aber
seine Philosophie, wie ich annehme, eine im wesentliclien
richtige Philosophie der „Angst" (aus der auch seine
innerliche Gebundenheit an das Christentum fliesst): so
fällt jene Frage mit der anderen zusammen, ob die
Vorwort. Vll
,,Anggt" eine vermeidbare und zu vermeidende Krank-
heit des Menschen ist oder die notwendige Existenzform
des endlichen Geistes, die dominierende Stimmung
des Menschen, der zum intensiven ßewusstsein seiner
selbst gekommen ist. Ist sie das Letztere, wie Kierke-
gaard annimmt, wie auch ich anzunehmen geneigt bin,
so liegt gerade in der Lehre vom ,, Paradox", vom
,, Sprung", vom ,, Glauben" wesentliche Wahrheit; so
liegt auch in Kierkegaards höchst bedenklicher Auf-
fassung der Ethik wesentliche Wahrheit, obgleich eben
diese einer sehr sorgfältigen Revision bedarf. Denn
dann wird das Geistesleben zum stäten und stets kriti-
schen Kampf ums Dasein ; und für die Ausgestaltung des
Lebens fehlt die Zeit, die Kraft, das Interesse. Es ist
richtig, was Bröchner einwendet (S. 122): dass Kierkegaard
für die Verfolgung der endlichen Ziele eigentlich keine
Zeit und Kraft übrig lasse. Aber wenn das Leben
des endlichen Geistes ein so kritischer Kampf ums Da-
sein ist, wie Kierkegaard meint, ist es eben Thatsache,
dass der Geistesmensch die endlichen Angelegenheiten
höchstens zum Notbehelf besorgen kann. Ist dagegen
die ., Angst" (oder ,, Schwermut") nur eine vermeidbare
und zu vermeidende Krankheit des Menschen, oder nur
eine begleitende, nicht die dominierende Stimmung
des Geisteslebens: so hat Kierkegaards Philosophie
wesentlich nur pathologisches Interesse, obgleich sie
auch dann (da Kierkegaard unstreitig eine ganz ausser-
ordentliche formale Begabung hatte) sehr lehrreich sein
mag. Dieses Entweder-Oder lässt sich aber objektiv
nie entscheiden. Das letzte Wort meiner Auffassung
Kierkegaards kann daher nur sein, dass er an sich ge-
glaubt hat — und dass er in seiner angstvollen Schwer-
mut ein zwar tief schmerzliches, aber bewundernswert
reiches Dasein geführt hat, das er auch mit keinem
andern vertauscht hätte.
In diesen Bahnen bewegt sich etwa meine kritisch-
Yin Vorwort.
aneignende Betrachtung Kierkegaards. Dass ich dabei
unterwegs immer wieder mit dem Verfasser dieser Schrift
zusammentreffe, kann ich hier nur anmerken, nicht im
einzelnen nachweisen. Doch will ich noch besonders
hervorheben, dass auch ich bei meiner Betrachtungsweise
auf Bedenken gegen Kierkegaard hingetrieben werde,
wie sie in dem Schlusswort dieser Schrift so nach-
drücklich ausgesprochen werden. — —
Ich fürchte nicht, das die vorstehenden kurzen Be-
merkungen dem Leser bei dem Studium dieser Abhand-
lung hinderlich sein werden. Erschweren könnten sie's
allerdings etwas. Aber das ist nach Kierkegaard nur
Gewinn. Am Erwünschtesten wäre mir, wenn sie zu-
sammen mit der Darstellung des Verfassers den Leser
zum Studium der eigenen Schriften Kierkegaards füh-
ren würden.
Von diesen wird leider die „Abschliessende unwis-
senschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Bissen"
(nach der zweiten Ausgabe zitiert) kaum je eine Über-
setzung ins Deutsche erleben; wer Kierkegaard als
Philosophen gründlich studieren will, muss sich also
bequemen, ihn dänisch zu lesen. Nicht übersetzt ist
auch „Die Wiederholung' (ebenfalls nach der zweiten
Auflage zitiert). Dagegen sind übersetzt: „Entweder-
Oder" (von Michelsen und Gleiss, Leipzig, Fr. B,ichter),
„Furcht und Zittern" (von Ketels, Erlangen, Deichert).
„Der Begriff der Angst" und „Philosophische Bissen"
(von mir, Leipzig, Fr. Richter, unter dem Titel: „Zur
Psychologie der Sünde, der Bekehrung und des Grlaubens"
zusammen herausgegeben), ,, Stadien auf dem Lebenswege"
(von A. Bärthold, Leipzig, Fr. Richter), ,,Die Krankheit
zum Tode" und die „Einübung im Christentum" (von
A. Bärthold, Halle, J. Fricke). Von den erbaulichen
Schriften ist ausser einigen Predigten namentlich über-
setzt: „Leben und Walten der Liebe" (von A. Dorner,
Leipzig, Fr. Richter), sodann „Zur Selbstprüfung
Vorwort. JX
der Gegenwart anbefohlen" (von Hansen, Erlangen,
Deichert), das aber eigentlich schon unter die agitato-
rischen Schriften gehört. Ferner wird gleichzeitig mit
dieser Schrift und im selben Verlag herausgegeben
werden : ,,Sören Kierkegaards Angriff auf die Christen-
heit", Band I, ,,die Akten". Darin finden sich, über-
setzt von A. Dorner und mir, sämtliche, von ihm selbst
herausgegebene und nachgelassene Schriften Kierke-
gaards aus der letzten Periode seiner Schriftstellerei,
also von den im folgenden angezogenen namentlich die
letzten Zeitungsartikel, ,,Dies soll gesagt werden, so
sei es denn gesagt", ,,Der Augenblick", ,,der Gresichts-
punkt für meine schriftstellerische Wirksamkeit",
„Richtet selbst". — Da ein ernsthaftes Studium Kierke-
gaards doch immer auf den dänischen Grundtext zurück-
greifen muss und die Uebersetzungen zudem oft ungenau
und gekürzt sind (namentlich Entweder-Oder, dessen
kunstvoller Aufbau in der Uebersetzung zerstört ist), so
wurde in der Regel neben den Uebersetzungen das Ori-
ginal zitiert, und zwar von Entweder-Oder die 4., dem
„Begriff der Angst", den ,, Bissen", der „Krankheit zum
Tode" die 2., den „Stadien" und der ,, Einübung" die
3. Auflage. — Die ,,hinterlassenen Papiere" sind ohne
Angabe des Titels nach den Jahrgängen zitiert, die
die einzelnen Bände enthalten.
Die Interpreten Kierkegaards ergänzen sich insofern
auf das Trefflichste, als sie von den verschiedensten
Standpunkten ausgehen. Georg Brandes (S. K., ein
literarisches Charakterbild) behandelt ihn nach der
•Methode moderner, psychologischer Literaturgeschichts-
schreibung, wobei sich Kierkegaard oft seltsam genug
ausnimmt. A. Bärthold hat in mehreren Schriften*)
*) „S. K., eine Verfasserexistenz eigener Art" ; „Aus und über
S. K., Früchte und Blätter" (beide bei Frantz, Halberstadt); „Noten
zu S. K.'s Lebensgeschichte"; „Lessing und die objektive Wahrheit,
X Vorwort.
Kierkegaard hauptsächlich als den vorgeführt, der in
der bestehenden Christenheit ..Unruhe" weckte „zur
Verinnerlichung". Dabei scheint mir aber Kierkegaard
als Skeptiker (also als Philosoph) und als „rettender
Feind der Christenheit" zu kurz gekommen zu sein. —
Endlich habe ich in der Einleitung zu den von mir
übersetzten Schriften Kierkegaards dessen Lebensan-
schauung kurz zu skizzieren versucht und dabei (Seite
XLIIfF.) auf einige wesentlichen Schwierigkeiten in seiner
Theorie und Darstellungsweise aufmerksam gemacht.
Und in dem ersten Bande der „Zeitschrift für Theologie
und Kirche'' (Mohr, Freiburg i B.) habe ich speziell
Kierkegaards Stellung zu Bibel und Dogma untersucht
und den Nachweis angetreten, dass seine pietätsvolle
Gläubigkeit durch die Betonung der Gleichzeitigkeit
gesprengt wird. Eine ausführliche, genetisch kritische
Darlegung der Gedanken und Methoden Kierkegaards
möchte ich in dem zweiten Bande des oben genannten
Werks bringen: ,,S. K.'s Angriff auf die Christenheit.''
Aber man lese lieber Kierkegaard selbst. Er ge-
hört mit Carlyle, Emerson, de Lagarde u. a. zu den
Menschen, die man kennen sollte, um die sittliche und
religiöse Situation unserer Zeit und sich darin zu ver-
stehen. Ins Deutsche ist nun so viel von ihm übersetzt,
dass man das merken kann. Und wer es gemerkt hat,
wird Sorge tragen, dass er ihn besser kennen lernt, als
dies durch Uebersetzungen geschehen kann.
Cannstatt, im September 1895.
Chr. Schrempf.
aos S. K.'s Schriften zasammeugestellt"; „Die Bedeutnug der ästhe-
tischen Schriften 8. K.'s"-; „Zur theologischen Bedeutung S. K.'s" (bei
J. Fricke, Halle); „S. K.'s Persönlichkeit in ihrer Verwirklichung
der Ideale" (Gütersloh, Bertelsmann).
Einleitung.
Es war für Sören Kierkegaard ein schwermütiger
Gedanke, dass die Zeit kommen würde, da auch er den
^Dozenten und Professoren" in die Hände fallen und
zum Gegenstand der Darstellung gemacht werden sollte.
Ja, er sah voraus, dieser wehmütige Gedanke selbst
werde dabei mit dociert werden. Was ihm hieran zu-
wider war, das war sicher nicht die Aussicht, Gegen-
stand der Kritik zu werden, vielmehr etwas, das mit
seinem ganzen Gedankengang aufs engste zusammenhing;.
Einmal verabscheute er die ^hinterlistige" Bewunderung,,
die, wenn der Kampf zu Ende, wenn der Ruhm ge-
wonnen ist, hintennachkommt und des Propheten Grab
schmückt und dabei vergisst, dass sich vielmehr in dem
Verhalten gegen das Grosse, mit dem man wirklich
zusammenlebt, erweisen soll, ob und wieweit man ge-
sinnt und gewillt ist, das Grosse anzuerkennen. Seines-
Lebens That war, dass er den Selbstbetrug entlarvte,
worin uns ;,die aus der Geschichte auf Flaschen ge-
zogene Idealität" (wie er sich ausdrückte) so leicht
gefangen hält. Sodann gehörte es aber auch zu seinen.
Hauptgedanken, dass es keine zusammenhängende psy-
chologische und historische Entwicklung gebe. Dass
man eine Erscheinung auf dem Gebiete des Geistes,
die Wirksamkeit eines Denkers oder Schriftstellers als
Glied in der Entwicklung darzustellen versuchte, als
von bestimmten inneren und äusseren Bedingungen ge-
tragen, und die weitere Entwicklung selbst wieder
tragend und vermittelnd: das schien ihm das Phänomen
herunterzuziehen und seines Wertes zu berauben. Er
wollte nicht „auf Paragraphen gezogen werden/
1
2 Einleitung.
Sollte mein Versuch einer Charakterisierung und
Würdigung dieses grössten Denkers unseres Volkes
einer Rechtfertigung gegenüber seinem eigenen Protest
bedürfen, so muss ich fürs erste bemerken, dass ich
von einer ganz anderen Auffassung des Verhältnisses
zwischen Psychologie und Ethik ausgehe als er. Ich
habe die Überzeugung, dass auch die in idealem Licht
sich uns präsentierenden Gestalten unter ganz bestimmten
psychologischen und historischen Bedingungen auftreten,
ebendarum aber auch an ihrem idealen Gehalt, — so-
weit ihnen ein solcher wirklich zukommt — dadurch,
dass wir sie innerhalb ihrer bestimmten Begrenzung
und Bedingtheit betrachten, nichts verlieren. Im Gegen-
teil ist diese Betrachtung ganz notwendig, wenn wir
so den bleibenden Gehalt von dem absondern wollen,
was etwa vorübergehende und rein individuelle Umstände
hinzugethan haben. Und geboten ist dies nicht am
wenigsten bei einem Denker von so ausgeprägtem und
eigentümlichem Charakter wie Sören Kierkegaard. Wenn
die, die von ihm lernen wollen, selbst Persönlichkeiten
sind oder sein wollen, so müssen sie seine persönliche
Eigentümlichkeit erst in ihrer Bestimmtheit sehen, um
dann zu entscheiden, was sie nach ihrer Natur und
unter ihren Verhältnissen von ihm sich zueignen können.
Also gerade die Rücksicht auf das grosse Gewicht, das
wir im Sinne Sören Kierkegaards auf die persönliche
Aneignung, die persönliche Wahrheit legen müssen,
heisst uns seine Persönlichkeit und sein Wirken einer
psychologisch - geschichtlichen und kritischen Unter-
suchung unterziehen.
Was sodann die Gefahr betriift, dass wir uns gegen-
über Gestalten der Vorzeit gar leicht selbst betrügen,
so möge mir das persönliche Bekenntnis gestattet sein,
dass ich bei meiner Beschäftigung mit den Schriften
Sören Kierkegaards, die ich nach einer Unterbrechung
von etlichen zwanzig Jahren in dem letzten Jahre
Einleitang. 3
wieder aufgenommen habe, aufs neue seine Macht er-
fahren musste, unsern Blick gegen uns selbst zu kehren
und uns durch die Erweckung einer Selbsterkenntnis,
-der wir uns sonst so gerne entziehen, zu verwunden.
Es steckt in diesen Schriften ein Stachel, den bei ernst-
licher Vertiefung in sie jeder empfinden muss, gleich-
viel, mit welchen Voraussetzungen er im übrigen daran
gehe. Es gilt von ihnen ein Wort aus dem Prediger,
das Sören Kierkegaard in seinen Tagebüchern und Reden
•()fters benützt: „Bewahre deinen Fuss, wenn du zum
Hause des Herrn gehest!'^ Er erklärte dieses Wort so:
Du könntest leicht erfahren müssen, dass das Ideal
höher, die Forderung strenger ist, als du dir gedacht
hattest; hüte dich daher, zu kommen, das Ideal za
hören! — Die Voraussetzungen, mit denen ich jetzt
das Studium dieser Schriften wieder aufnahm, waren
•gewiss gar andere als vor bald 30 Jahren, da ich als
junger Student der Theologie zum erstenmale mit ihnen
bekannt wurde. Sie führten mich dazumal in ein inneres
Kämpfen und Ringen hinein, teils praktisch-persönlicher,
teils theoretischer Art. Nach langem Widerstreben
musste ich seiner strengen Auffassung des Christlichen
weit mehr Berechtigung zuerkennen als der gewöhnlichen,
idyllischen und harmonischen. Wenn uns das Christen-
tum im Leben wie im Glauben wirklich ein und alles
:sein soll, so hat Sören Kierkegaard die Folgen daraus
gezogen. Ich versuchte mir eine Zeit lang dadurch zu
helfen, dass ich zwischen Glauben und Wissen, zwischen
Ideal und Wirklichkeit unterschied. Allein ich kam,
mehr infolge persönlicher Lebensführung als durch Stu-
dium, zu der Erkenntnis, dass man auf diese Weise
immöglich durchschlüpfen kann. Die Hauptfrage musste
ja doch die sein, ob ich in meinem persönlichen Leben,
in meiner geistigen Haushaltung mich wirklich von
übernatürlichem Beistand getragen wisse und in meiner
Lebensführung wirklich mich von den Idealen und Geboten
1*
4 Einleitaag.
religiöser Ethik Gleiten lasse. Die Selbsterkenntnis-
gab mir allmählich nach langer Unruhe und viel Peii*
hierauf eine klare Antwort, die mir für mein ganzes
Leben bestimmend gewesen ist. Halte ich mich an
das, was der OefFentlichkeit zukommt, so muss ich be-
merken, dass ich nun darauf geführt wurde, durch
Studien in der Geschichte der Pliilosophie und Unter-
suchungen auf dem Gebiete der Psychologie und Ethik
den Bedingungen, Formen und Gesetzen des mensch-
lichen Geistes nachzugehen. Ich erfuhr, dass das
„Humane" durchaus nicht nur, wie Sören Kierkegaard
in einem seiner Tagebücher sagt, ein verflüchtigtes
Christentum ist, sondern eine Lebensanschau ang und
Lebensführung bezeichnet, die, von den Griechen be-
gründet, durch das Christentum vertieft und verinner-
licht und endlich von der theoretischen und praktischen
Arbeit der neueren Zeit ausgeweitet und geklärt, sich
zwar nicht so leicht in kurze Formen zusammenfassen
lässt, aber nichtsdestoweniger ihre Macht selbst auf
ihre Gegner ausübt, wie sie auch von vorübergehenden.
Verirrungen und Verzerrungen in ihrer weiteren Ent-
wicklung nicht aufgehalten werden kann. Von diesent
Standpunkt des Humanismus aus (wenn wir einmal
einen -ismus haben sollen) blicke ich jetzt auf Kierke-
gaards Wirksamkeit zurück. Und da ist es für micli
von Bedeutung gewesen, zu sehen, welch ein Wert
seinem Auftreten auch von diesem Standpunkt aus zu-
erkannt werden muss. Ich habe durchaus nicht in
polemischer Absicht auf ihn zurückgegriffen, obgleich
verschiedene Betrachtungsweisen, mit denen ich auch
sonst zusammengestossen bin, bei ihm mit einer genialen
Klarheit und Konsequenz hervortreten, die es besonders
lehrreich machen, sie hervorzuheben. Indem ich viel-
mehr mit der Verehrung, die ich dem grossen Denker
immer noch zolle, ihm meinen Dank abstatte für die
Förderung, die er mir für meine persJhiliche Entwicklung.
Einleitung. 5
•gewährt hat, will ich zugleich dafür Zeugnis ablegen,
dass er manchen, die ihm im Glauben ferne stehen, viel
.sein kann. Er hört in dieser Hinsicht nicht auf unser
„Zeitgenosse zu sein. — Ich hoffe dafür Entschuldigung
'/AI finden, dass ich hier soviel von mir selbst geredet
habe. Es war mir darum zu thun, an einem einzelnen,
an dem mir zunächstliegenden Beispiele zu zeigen, wie
;Sören Kierkegaard fortwirkt.
I.
Die romantisch-spekulative Religionsphilosophie.
1. Beim Eintritt in das neunzehnte Jahrhundert
war die Verbindung von Religion, Philosophie und Kunst
die Losung in der Welt des Geistes. Man hegte den
begeisterten Glauben, dass die Wahrheit Eine sei und
dass alles Wertvolle, gleichviel, auf welchem Gebiete
und in welcher Form es auch auftrete, in dieser Einem
Wahrheit einbegriffen sei, wenn man sich nur offenen
Sinnes in sie vertiefe. Keine Schranken für das Denken
— und doch auch keine Störung der Harmonie mit dem
religiösen Gefühle und der künstlerischen Phantasie :
das war die grosse Idee, die die leitenden Geister in
den ersten Dezennien erfüllte. Sie meinten in der
strengen Form des Gedankens nur das zum Ausdruck
zu bringen, was unter anderen Formen das Leben und
Element des neuerwachenden religiösen Sinnes und des
so mächtigen poetischen Dranges bildete. Der Glaube
der E-eligionsphilosophen war nach Form und Inhalt
nicht sehr verschieden von der Antwort Fausts auf
Gretchens bekümmerte Frage, wie es mit seiner Religion
stehe, Faust spricht ein Gefühl der Unendlichkeit,.
Innigkeit und Fülle aus, das durch das Leben in der
Natur und mit den Menschen erweckt wird und das
sich in einem endlichen Ausdruck nicht zusammenfassen,
in einem Namen nicht erschöpfen lässt — „Name ist
Schall und Rauch !'^ Und Gretchen meint:
So ungefähr sagt das der Pfarrer auch.
Nur mit ein bischen andern Worten.
Diese Worte können zum Motto für die damalige
Auffassung des Verhältnisses zwischen Glauben und
Wissen dienen, wie sie — mit charakteristischen un<l
I. Die romantisch-spekalatiye Religionsphilosophie. J
bedeutungsvollen Unterschieden — bei Schleiermacher
und Hegel hervortritt.
2. Gerade zum Beginn des Jahrhunderts (1799) gab
Friedrich Schleiermacher (1768 — 1834) seine
„Reden über die Religion an die G-ebildeten unter ihren
Verächtern" heraus. Er verstand hier die Religion als
ein unmittelbares Bewusstsein davon, dass alles Endliche
in und von einem Unendlichen, alles Zeitliche in einem
Ewigen sein Bestehen hat; und zwar fällt ihm das
Ewige und Unendliche nicht ausserhalb des Zeitlichen
und Unendlichen, sondern ist vielmehr das innere Wesen
und die Seele von diesem. Während wir in unserem
Erkennen und Handeln uns mit dem Endlichen, Be-
stimmten und Begrenzten zu thun machen, um dieses
aufzufassen oder zu verändern, leben wir in unserem
Gefühl ein ganzes, ungeteiltes Leben, ein universelles
Leben, wo der Gegensatz und die Begrenzung aufgehoben
ist und die allem theoretischen und praktischen Streben
anklebende Einseitigkeit wegfällt. Das Gefühl ist das
Gebiet der Religion, weil es ein Leben im Ganzen und
Universellen ist, — weil sich in ihm der Instinkt für
das Universum kundgiebt, der nichts andres ist als
eben die Religion. Jedes Gefühl hat nach Schleiermacher,
wenn es nur nicht krankhaft und verderbt ist, einen
religiösen Charakter. Und wie sich so das religiöse Gefühl
nicht im Gegensatz zum Leben in der Erfahrungswelt,
sondern als Vertiefung desselben äussert, so stellt sich
auch die Gottheit nicht als ein von dieser Welt ge-
sondertes Wesen dar, sondern als deren innere Einheit
und beseelende Kraft. Auch die Unsterblichkeit ist nicht
eine Existenz, die die gegenwärtige ablösen soll, sondern
besteht darin, dass man schon mitten in der Zeit das
Ewige in sich fühlt.
Später entwickelte Schleiermacher seine Auffassung
der Religion in mehr theologischer Form in dem „christ-
lichen Glauben-' (1821). Er bestimmt hier das religiöse
g I. Die romantisch-spekalative Eeligionsphilosopbie.
Oefühl als scUechthiniges Anhängigkeitsgefiihl und bringt
damit ein Moment von der grössten Bedeutung für die
religiöse Psychologie zur Geltung. Es ist überhaupt der
feine psychologische Sinn, der den Arbeiten Schleier-
machers bleibende Bedeutung giebt. Sowohl seine frühere
Beschreibung des religiösen Gefühls als des universellen
Einheitsgefühls, als der Zentralisierung des Gefühlslebens
gegenüber dem Dasein, wie die spätere Bestimmung
desselben als des Abhängigkeitsgefühls sind wertvolle
Beiträge zur Psychologie der Religion, obgleich nähere
Bestimmungen notwendig sind.
Das Dogma ist für Schleiermacher stets etwas
Abgeleitetes, Sekundäres. Dogmatische Sätze sind
ursprünglich als Ausdruck für das religiöse Gefühl ent-
standen. Zuerst schafft sich dieses in dichterischer und
rhetorischer Weise Luft ; die so entstandenen Ausdrucks-
formen entwickeln sich darauf im Gewände der Lehre
als Bekenntnisse, Und da die dichterischen Ausdrücke
oft in scheinbaren Widerstreit mit einander kommen
mussten, auch wo das zu Grund liegende Gefühl in
Wirklichkeit dasselbe war, so wurde, um volle Klarheit
herzustellen, eine reflektierende und dialektische Be-
handlung notwendig. Durch diese Mittelstufe entstanden
die dogmatischen Sätze, die darum nach Gültigkeit und
Bedeutung sich von solchen Sätzen unterscheiden, die
auf rein theoretischem oder philosophischem Wege ge-
wonnen sind. Schleiermacher will eine gewisse Scheidung
zwischen der Glaubenslehre und der Philosophie durch-
führen; er stützt sie auf seine Erkenntnislehre (die wir
aus der, nach seinem Tode herausgegebenen, unvollendeten
„Dialektik" kennen) und weist darin einerseits kritisch
die Grenzen des Erkennens nach, um andrerseits einem
unmittelbaren Gefühlsverhältnis zur Gottheit seinen Raum
offen zu halten, von deren Wesen nach seiner Auffass-
ung das theoretische Denken sich keinen abgeschlossenen
Begriff bilden kann.
I. Die romantisch'spekalative Religionspbilosophie. 9
Durch diese feine und geistreiche Auffassung stellte
•sich Schleiermacher in bestimmten Gegensatz zu den
■zwei herrschenden Richtungen der Zeit, zu der Ortho-
doxie und dem Rationalismus. Er verwarf den äusseren
Buchstabenglauben der ersteren und die oberflächlichen
Wegdeuteleien der letzteren. Sein Werk hat eine
bleibende Bedeutung für die Religionsphilosophie, und
•er steht als der grösste Denker da, den die Theologie
neben Augustin und Zwingli aufweisen kann.
3. Sehleiermacher wollte nicht bloss ein freier
Denker über die Religion sein, er wollte die kirchliche
Theologie darstellen und meinte dies von seinem Stand-
punkte aus thun zu können — eine grosse Selbsttäuschung,
mit der er seiner Zeit den Tribut bezahlte ; denn an
seiner persönlichen Wahrheitsliebe ist, allen Vorwürfen
orthodoxer und radikaler Fanatiker zum Trotz, nicht zu
zweifeln. Er war die am meisten sokratische Persönlich-
keit unter den Philosophen seiner Zeit. Ein seltener
Sinn für Individualitäten und ein entschiedenes Bewusst-
sein von dem Recht und der Bedeutung des Individuellen
■charakterisiert sein Leben, das uns in einer reichhaltigen
und interessaaiten Sammlung seiner Briefe offen vor Augen
liegt, und beseelt sein Denken Dass sich aber ein kirchlicher
Theologe auf solch einen Standpunkt nicht stellen kann,
das sah er nicht. Die Kirche als historische Gemeinschaft
baut auf die Annahme der Offenbarung als einer objek-
tiven Thatsache, als des absoluten und adäquaten Aus-
drucks für die ewige Wahrheit, und tritt daher gegen-
über dem Gefühlsleben der einzelnen Individuen mit
dem Anspruch auf unbedingte Autorität auf. Für
Schleiermacher wurden die Dogmen in Wirklichkeit nur
Symbole, der Massstab ein subjektiver, und es ist von
tjeinem Standpunkt aus zu Ludwig Feuerbach, für den
die Theologie bloss Psychologie ist, nur noch ein Schritt-
Symbole können nicht aufgezwungen werden : sie können
mur frei gewählt oder gebildet werden und lassen sich
10 I* Die romantisch-spekalative Religiontphilosophie.
verändern, ohne dass darum das zu Grunde liegende
Gefühl sich ändern müsste. Das kann aber die Kirche
in Betreff ihrer Dogmen nicht einräumen; es würde
ja dann auch der Oifenbarungsbegriff selbst wegfallen.
Für Schleiermacher war sogar Gottes Persönlichkeit
nur eine symbolische Vorstellung. Wenn aber mit Rück-
sicht auf alle religiösen Vorstellungen zwischen Bild
und Sache prinzipiell zu unterscheiden ist, so ist da»
eine Aufhebung der positiven Religion, die jedenfalls
an gewissen Punkten geltend machen muss, dass die
Wahrheit in ihrer ganzen Fülle und in ihrer adäquaten
Form in die Welt hereingetreten ist.
Und bei näherem Nachsehen zeigt sich zugleich,
dass die Bestimmung des religiösen Gefühls selbst (in
beiden Formen, zuerst als eines Einheitsgefühls und
später als eines Abhängigkeitsgefühls) auf mehr the-
oretischen Voraussetzungen, also auf mehr Philosophie
ruht, als Schleiermaclier sich bewusst ist. Das religiöse
Gefühl hat nach seiner Voraussetzung einen harmonischen
Charakter. Es ist gerade dasjenige Gefühl, durch das
alle Disharmonie, Einseitigkeit, Unvollkommenheit und
Sünde überwunden wird. Das Abhängigkeitsgefühl be-
kommt zuletzt den Charakter des Vertrauens und der
Begeisterung. Dies setzt aber eine optimistische und
harmonische Weltanschauung voraus ; es darf keine Er-
fahrungen geben, die eine ganz andere Totalstimmung
gegenüber dem Dasein mit sich bringen könnten oder
doch dem religiösen Gefühle ein minder harmonisches-
Gepräge geben würden. Schopenhauer und Sören
Kierkegaard treten in diesem Punkte zu der roman-
tischen, harmonisierenden Auffassung der Welt in den
denkbar schroffsten Gegensatz.
Ueberhaupt ist es für die Entwicklung des geistigen,
besonders des religiösen Lebens in unserem Jahrliundei*t
bezeichnend, dass sich die Gegensätze stetig, je länger
je mehr, verschärfen. Das Jahrhundert beginnt mit
I. Die romantisch-spekalative Religionsphilosophie. ] 1
Harmonie und Versöhnung; mit steigendem Nachdruck
aber vollzieht sich die Spaltung und Scheidung. Schleier-
macher erlebte zwar den Radikalismus eines Strauss
und Feuerbach nicht mehr, deren Vorläufer er selbst
ist, teils durch seine kritischen Untersuchungen der
neutestamentlichen Schriften (infolge deren er z. B. die
Echtheit des ersten Briefs an Tiraotheus und die Be-
richte über die Kindheitsgeschichte Jesu aus geschicht-
lichen Gründen verwarf), teils durch seine psychologische
Methode. Dagegen musste er noch die Verschärfung
auf dem orthodoxen Flügel bemerken. Im Jahre 1821
schrieb er in der Vorrede zur dritten Ausgabe seiner
„Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren
Verächtern*', die Zeiten haben sich so auffallend ge-
ändert, dass die Personen, an welche diese Reden ge-
richtet wurden, gar nicht mehr zu existieren scheinen,
und wenn man sich unter den Gebildeten umsehe, so
möchte man eher nötig finden, Reden an Frömmelnde-
und an Buchstabenknechte zu schreiben, an unwissend-
und lieblos verdammende Aber- und Übergläubige. —
Die Zeiten hatten sich geändert, und sie sollten sich
noch mehr verändern.
4. Neben Schleiermacher, und diesem polemisch
gegenüberstehend, wirkte in den zwanziger Jahren aa
der Berliner Universität ein anderer Religionsphilosoph,
der den Wunsch der Zeit nach Harmonie zwischen.
Glauben und Wissen noch stärker als er zum Ausdruck
bringt. Es war Hegel (1770 — 1831). Das Charakter-
istische an diesem Denker, dessen Schriften*) durch
ihre abstrakte Form den meisten unserer Zeit ein tieferes
*) Aosfäbrlich ist Hegels religions-philosophische Anschaanng
dargestellt in seiner nach seinem Tod herausgegebenen „Philosophie
der Religion"; in kürzerer Form hat er sie schon 1817 in der
„Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" ausgesprochen.
Am leichtesten ist seine Auffassung des Christentums der „Philosophie
der Geschichte" zu entnehmen.
12 ^- Die romantisch-speknlative Rcligionspbilosophie.
Eindringen in das, was an seinen Ideen wirklich be-
deutend ist, freiJich schwer machen, war ein feines
Verständnis für die Einheit des geistigen Lebens in
allen seinen verschiedenen Formen und Gebieten. i)a
er nun in dem menschlichen Geistesleben eine Form
für die Offenbarung eines ewigen Weltgeistes sah, so
gelang ihm der Entwurf einer idealistischen Entwick-
lungslehre, in deren Rahmen er — oft sehr willkürlich
<und mit mehr oder weniger geistreicher Umdeutung —
^Ues eingliederte, was ihm sein reiches Wissen aus den
verschiedenen Gebieten zur Verfügung stellte. Da sich
.das Göttliche auf allen Gebieten und in allen Formen
des Daseins äussert, so anerkennt Hegel keine absoluten
Gegensätze. Alle Unterschiede und Gegensätze sind
Momente der Entwicklung, die dazu dienen, dieser
Inhaltsfülle und Energie zu geben, selbst aber immer
wieder in einer höheren Einheit aufgehoben und ver-
einigt werden. Die Weltentwicklung geht durch stetiges
Hetzen und Aufheben von Gegensätzen vor sich. Die
Kontrastwirkung ist für Hegel gewissermassen das
Grundphänomen, das erst Licht ins Dasein bringt. Es
zeigt uns ja, wie die Gegensätze einander hervorrufen
und nicht getrennt werden können. Ein höheres Gebiet
oder eine höhere Form für das Dasein ist nach Hegel-
scher Auffassung dadurch angezeigt, dass Gegensätze
durchlaufen sind und ihr Resultat in einer neuen Ein-
heitsform niedergelegt haben. Die Mediation, die Aus-
gleichung und Aufhebung von Gegensätzen (oder von
Widersprüchen, wie sie Hegel unrichtig nennt), wurde
das Schlagwort der Anhänger Hegels. In einem Gegen-
satz stehen zu bleiben war ein Zeichen, dass man in
dem Endlichen und Aeusserlichen befangen war ; es
^alt die höhere Einheit zu gewinnen, die Gegensätze
in Harmonie zu vereinigen. — Eine geniale Idee und
-ein grossartiges Ziel! Aber es ist ein langer Weg von
der allgemeinen Idee zu der speziellen theoretischen
I. Die romantisch-spekulative Religionsphilosophie. 1 3.
und praktischen Durcbfülirnng, und Hegel und dessen
Anhänger verwechselten gar zu oft das Programm mit
der Ausführung.
Das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion
war nach Hegel dies, dass beide einen und denselben
Inhalt haben, nur dass die Philosophie diesen Inhalt in
der Sprache des abstrakten Denkens ausdrückt, die
Religion dagegen in der Sprache des Gefühles und der
Phantasie. Es besteht also nur ein formaler Unter-
schied, der das Wesentliche nicht berühren soll. Was
der Gläubige als historische Thatsachen auffasst, z. B.-
die Weltscböpfung, Gottes Menschwerdung in Christus
u. s. f., das sind für die Philosophie ewige, für alle
Zeiten gültige Wahrheiten und Gesetze. So ist die
christliche Lehre von dem leidenden Gott für die Phi-
losophie nicht Beschreibung einer einzelnen Reihe
liistorischer Vorkommnisse, sondern ihr wesentlicher'
Inhalt — den nur der Philosoph in seiner klaren,
adäquaten Form ergreift — ist die Wahrheit, dass das
Unendliche und Göttliche in der endlichen Welt lebt,
während doch jede endliche Form unvollkommen ist
und zerbrochen werden muss. Das Unendliche entfaltet
sich also in der Welt nur durch den .stetigen Unter-
gang endlicher Formen. Nur in dem ganzen unendlichen
Prozess immer neuer und immer wieder untergehender
Lebensformen besteht das ewige Leben der Gottheit.
Schon an diesem einen Beispiel wird es klar, dass
Hegel so gut wie Schleiermacher die Dogmen in Wirk-
lichkeit zu Symbolen macht, nur dass sie bei ihm
Symbole für allgemeine Ideen, nicht für subjektive Ge-
fühle werden. Wie bei Schleiermacher so war es denn
auch bei Hegel eine Selbsttäuschung, dass er Glauben
und Wissen versöhnt zu haben meinte. Es war aber
Hegels bestimmte Ueberzeugung, dass durch Umgiessung
des Glaubensinhalts in philosophische Form nichts von.
wesentlicher Bedeutung verloren gehe; er meinte
14 !• Di() romantisch-spekalative Religionsphilosophie.
vielmehr, er werde erst so recht zum Eigentum des
Menschengeistes. Er sah nicht, was erst Strauss und
Feuerbach scharf nachwiesen, dass die Uragie.ssung
wirklich einen üebergang zu einer ganz andern Lebens-
und Weltanschauung bedeutete, als die ist, welche der
positiven Religion, besonders dem Christentum, das hier
natürlich vor allem in Betracht kommt, wirklich eignet.
Das ganze Verhältniss zwischen Christentum lAid Hu-
manität fasste Hegel ganz wie Schleiermacher als ein
harmonisches auf. Der romantische Optimismus ist für
beide charakteristisch.
5. Doch rausste sich schon vom rein philosophischen
und humanen Standpunkt aus ein Bedenken gegenüber
dem Hegeischen Grundgedanken von der Einheit der
■Gegensätze erheben. Eine höchste Einheit, worin alle
Gegensätze des Daseins ihre Versöhnung finden, als
wirklich angenommen, so sind doch wir als existierende
Wesen, mitten in dieser Welt der Gegensätze, von ihr
gar weit entfernt. Im Wogenschlage der Gegensätze
schwanken wir auf und ab ; wir sind von der Erfahrung
abhängig, stossen mit unserm Denken wie mit unserm
Handeln auf Schranken, haben nur einen beschränkten
Horizont, und was wir schliesslich erreichen, ist oft
problematisch, wenn wir nicht gar mit dem Kopf gegen
die Wand laufen! Für uns ist daher jene Einheit
■ein unerreichbares Ideal, und die Versöhnung, die sie
enthält, besteht nur für die Phantasie oder für den
Glauben. Diesen wesentlichen Punkt — den Unterschied
ijwischen Methaphysik auf der einen und Psychologie
und Ethik auf der andern Seite — übersah Hegel, und
darin lag sein grösster philosophischer Fehler. Die
Folge war, dass er (und seine Anhänger noch mehr)
die rein abstrakte und logische Konstatierung des Zu-
sammenhanges von Gegensätzen, z. B. entgegengesetzter
Standpunkte, mit einer Ueberwindung derselben ver-
wechselte, die man nur wirklicher Arbeit verdankt
L Die romantisch-speknlative Religionsphilosophie. 15
oder — auf ethischem Gebiet — durch wirkliches
Durch leben und praktische Versöhnung der wider-
strebenden Tendenzen, in denen das Leben sich bewegt,
erreichen muss. Hiezu kommt, dass im Verlauf des
Lebens stets neue Gregensätze und damit neue Probleme
auftauchen; es kann die höhere Einheit also nie ein
für allemal gewonnen werden. Die Theorie von der
Einheit der Gregensätze stellt also ein Ideal auf, giebt
uns aber keinen wirklichen Besitz. Hegel machte den
grossen Fehler, dass er, um mit seinen eigenen Worten
zu reden, darauf ausging, das Ideal zum System um-
zuschreiben. Damit Hess er (wie wir das nicht bloss
an seiner Religionsphilosophie, sondern auch an seiner
Ethik und Staatslehre sehen) weder die Wirklichkeit
noch das Ideal zu ihrem Rechte kommen.
Sören Kierkegaards Opposition gegen Hegel ver-
dankt ihre Bedeutung nicht zum geringsten Teil der
scharfsinnigen, einschneidenden Art, wie er diesen
Hauptpunkt in der Hegeischen Philosophie angriff. Auch
ist wohl zu beachten, dass wir hier nicht den Ideen
eines einzelnen Philosophen gegenüberstehen; vielmehr
ist die Hegelsehe Lehre in diesem Punkt wirklich von
typischer Arl Sie repräsentiert — nach ihrer besten
Deutung — das natürliche Bestreben, von dem das
menschliche Geistesleben niemals abgehen kann, Zu-
sammenhang und Harmonie zu finden, durch eigene
Kraft Herrschaft und Überblick über das Leben zu
gewinnen. Und — in einer oberflächlichen Verwen-
dung — stellt sie ein Phantasieverhältnis zum Dasein
dar, eine schöngeistig-beschauliche Stellung zu Problemen,
Krisen und Gegensätzen, die man als ein interessantes
Schauspiel sich entfalten lässt, von deren Konflikten
man aber nicht berührt wird, indem man sich selbst
als die verwirklichte „höhere Einheit" betrachtet. —
Mag man diesem System, worin sich die romantische
Bewegung seit Beginn des Jahrhunderts in abstrakter
16 I. Die romantiscIi-speknlatiTe Religionsphilosophie.
Form auf- und zusammenfasste, auch die beste Deutung:
geben, so musste es doch eine ernstliche Reaktion lier-
vorrulen, die in Theorie und Praxis wieder die Wirk-
lichkeit in ihrem bestimmten, konkreten und individuellen
Charakter betonte. Und indem Sfjren Kierkegaard mit
der wünschenswertesten Entschiedenheit diese Reaktion
auf dem ethisch-religiösen Gebiete einleitet, bringt er sie-
zugleich in eine solche Form, dass sie als stetiger Protest
gegen ähnliche Tendenzen in der menschlichen Natur.
wie sie auch spätere Zeiten darbieten, fortwirken kann,
Goethe's Faust hatte übrigens bereits ausgesprocheuy
um was es sich hier handelte. Wie er in des Nostra-
damus Buch das Symbol für das Universum sieht, ruft
er anfangs begeistert aus:
Wie alles sich zam Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
— es stimmt ihn aber bald wehmütig, dass diese Ein-
heit der Gegensätze nicht in der Form der Wirklich-
keit gegeben ist :
Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!'
Sören Kierkegaard erkannte es als seine Lebens-
aufgabe, einzuschärfen, was das vorangehende romantisch-
spekulative Geschlecht vergessen hatte : dass nämlich
das Leben etwas anderes und mehr ist als ein Schau-
spiel für uns.
n.
Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen
in Dänemark."^)
1. Johann Ludwig Heiberg (1791— 1860) war
der Apostel Hegelscher Philosophie in Dänemark. Zum
erstenmal e ergriff er das Wort für sie in einer Ab-
handlung aus dem Jahre 1825, mit der er sich an dem
von Howitz veranlassten deterministischen Streite be-
teiligte. Später wandte er sie besonders auf ästhetische
und theologische Gegenstände an. Er fand in Hegels
Philosophie einen Ausdruck für dasselbe, was Groethe in
seiner Lebensanschauung und in seinen Dichtungen an-
strebte. „Hegels System", sagt er, ,,ist ganz dasselbe wie
das Goethe's. Dass zwei so grosse Geister zu gleicher
Zeit zum selben Resultate gekommen sind, kann uns
von diesem nur eine günstige Vorstellung erwecken. . . .
Um die Hegel'sche Philosophie mit ein paar Worten zu
charakterisieren, kann man sagen, sie versöhne gleich
der Goethe'schen Poesie das Ideal mit der Wirklichkeit,
unsere Ansprüche mit dem, was wir besitzen, unsere
Wünsche mit dem, was wir erreicht haben." lieber
das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie im
besonderen hat sich Heiberg nicht nur in seinen.
Abhandlungen und in seiner Zeitschrift „Perseus",
sondern auch in seinen grossen philosophischen Gedichten
ausgesprochen, die sicher das Trefflichste sind, was
unsere Litteratur in dieser Richtung besitzt. Wenn er
in der Reformationskantate sagt, dass „das Denken
empor zum Höchsten stieg, so oft sich's in sich selbst
*) Zu dem Folgenden vergleiche man Arcbiv für Geschichte der
Philosophie, 2. Band, 1889, S. 50 ff: Harald Höffding, die Philosophie
in Dänemark im 19. Jahrhnndert.
2
18 n. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in- Dänemark.
vertiefte '^, so spricht er damit Hegels Grundge danken
aus. Denn auf dem selbsteigenen Weg des Denkens,
indem das Denken sich aus seiner eigenen Natur heraus
klar entfaltet, werden ja nach Hegel dieselben Ideen ge-
funden, die den wesentlichen Inhalt der Religion ausmachen.
Freilich besteht ja wohl ein grosser Unterschied in der
Form; die Religion verfügt auf ihrem unmittelbaren
Gebiet über Bilder und Symbole, gegen deren Farben-
pracht die Denkformen arm und gering erscheinen
möchten. Allein Heiberg tröstet sich im „Protestantismus
in der Natur", dem Gedichte, worin er sich \'ielleicht
zum höchsten Flug erhebt, dass die ganze, dem Vergehen
unterworfene Aussenwelt in uns wieder Leben und
Wirklichkeit gewinnen soll, wenn wir nur den Blick
einwärts wenden wollen. Was uns entschwindet, ist
nur die äussere, anschauliche Form, die die kindliche
Phantasie schmerzlich vermisst und mit der sie alles
verloren glaubt. Für Heiberg aber geht damit so wenig
wie für Hegel etwas verloren. Es schien ihm für seine
Zeit bezeichnend, dass sie erkennen wollte, was die
früheren Zeiten gefühlt und geglaubt hatten. Dieses
Erkennen soll aber nach seiner Meinung „Gefühl und
Glauben durchaus nicht vernichten, sondern im Gegen-
teil befestigen; denn erst wenn wir einmal wissen,
dass sie die Wahrheit enthalten, können wir uns ihnen
ungestört überlassen." — Diese Auffassung erregte bei
den Theologen aber doch Bedenken, und so gelang es
der spekulativen Religionsphilosophie in dieser klaren
und entschiedenen Form bei uns nicht, grösseren Anhang
zu gewinnen. Sie musste sich erst einer dogmatischen
Modifikation eigentümlicher Art unterziehen.
2. Hans Märten sen (1808—1884) fühlte sich
von der Hegeischen Denkweise schon als Jüngling stark
angezogen, da sie ihm die Möglichkeit einer Erkenntnis
des Göttlichen zu eröffitien schien, während Schleier-
macher, der ihn zur selben Zeit stark beeinflusste, die
n. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 19
•spekulativen Probleme scliliesslich liegen liess. Als
Schleiermacher ein Jahr vor seinem Tode bei einem
Besuch in Kopenhagen eines Tages mit dem jugend-
lichen, liebenswürdigen Kandidaten der Theologie einen
Spaziergang machte, fragte ihn dieser „ganz naiv", ob
•er eine Erkenntniss des „göttlichen Wesens an sich,
•des inneren, ewigen Lebensprozesses in Grott" für mög-
lich halte. Schleiermacher erwiderte ruhig : „Ich halte
es für eine Täuschung."*) Allein die spekulative Be-
geisterung des jungen Theologen liess sich durch die
Warnung des alten Meisters nicht dämpfen. Hegels
Denkweise lockte ihn, obgleich er bei Hegel, der ihm
.zu abstrakt logisch war, nicht stehen bleiben konnte.
Er ahnte wohl auch, dass für Hegel wie für Schleier-
macher die Dogmen konsequenterweise nur Symbole
werden können. Er traute sich die Kraft zu etwas noch
■Grösserem zu, als diese Denker für erreichbar gehalten
hatten: er wollte Glauben und Wissen so versöhnen,
dass er beider Form beibehielt. Eigentümlich für Mar-
tensen war, dass er einem mystischen und phantasie-
reichen Schauen das Denken beigesellen wollte, d. h.
ein Denken, das unter den Bildern, die vor der vom
Gemüt erregten Phantasie aufstiegen, einen gewissen
Zusammenhang herzustellen suchte. Sein Ideal waren
die alten Mystiker und Philosophen; er wollte in den
Fusstapfen Meister Eckarts und Jakob Böhme's
wandeln. Von den Denkern seiner Zeit bewunderte er
vornehmlich den katholischen Philosophen Franz
Baader, der gleichfalls die Philosophie Jakob Böhmes
•erneuern wollte. Seine Abweichung von Hegel brachte
•er schon frühzeitig (1836) in der Kritik einer Heiberg'-
schen Abhandlung und in seiner Disputation über die
„Autonomie des Selbstbewusstseins in der christlichen
Dogmatik" (1837) zum Ausdruck. Gegen Hegel machte
*) S. Martensen, mein Leben (Karlsrahe u. Leipzig, H. Reuther
1883) I. S. 81 f.
2*
20 !!• Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.
er besonders die Unmöglichkeit, ohne Voraussetzungen
zn denken, geltend. Der Mensch hat sich ja nicht selbst
erschaiFen, sondern ist von Gott gesetzt — hat also
Gott zu seiner Voraussetzung, seiner Autorität. Angesichts
des Schöpfungsdogmas darf nicht Selbständigkeit (Auto-
nomie), sondern nur die Abhängigkeit von Gott (Tlieo-
nomie) die Losung werden. Spekulation auf Grund des
Glaubens, das ist die Aufgabe. Es muss mit dem
alten Worte Ernst gemacht werden, dass Gottesfurcht
der Weisheit Anfang ist. Später, in seiner Dogmatik,
formulierte er dies so, dass die Glaubenslehre als
Wissenschaft nur für das durch Glauben und Gnade
wiedergeborene Selbstbewusstsein möglich sei.
Man kann Martensen die Einsicht, dass seine höhere-
Wissenschaft verschiedener Voraussetzungen bedurfte,
nicht absprechen, wogegen es einen wohl befremden
kann, dass er nicht selbst sich fragte, welchen Wert
eine Wissenschaft noch habe, die auf so vielen und so
ungeheuren Voraussetzungen ruht. Aber der jugend-
liche Theologe hatte Begeisterung, und begeistert wurden
die, die ihn hörten. Man datierte von seinem Auftreten
^eine neue Aera" und erwartete ein goldenes Zeitalter
für die Theologie. In seinen Vorlesungen über die Ge-
schichte der neueren Philosophie führte er seine Zuhörer
zuerst zu Hegels Philosophie als dem notwendigen
Resultat der Entwicklung des Denkens, und wenn ihnen
das hinlänglich imponiert hatte, kam Verwunderung
und Bewunderung in zweiter Potenz, wann er die Not-
wendigkeit und Möglichkeit eines noch höheren Stand-
punkts zeigte — fortschreitend über den grössten Denker
der Zeit hinaus! In seiner Dogmatik führte er seine
Zuhörer wie späterhin seine Leser von Dogma zu Dogma,
ohne dass eine wesentliche Schwierigkeit Aufenthalt
verursachte. Dreieinigkeit, Inkarnation, Versöhnung
werden gleich einer Bildergalerie voll grosser Begeben-
heiten im Reiche des Geistes vorgeführt, daneben oft
11. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 2 1
geistvolle und tiefsinnige Bemerkungen, und jeder An-
stoss für das Denken ist sorgfältig weggeschafft. Das
muss wohl von der Wiedergeburt herrühren. Nur an
einem Punkte stutzt der dogmatische Denker; da will
es auch dem wiedergeborenen Bewusstsein nicht ge-
lingen, Klarheit in die Sache zu bringen : in der Frage
nach der ewigen Verdammnis. Hier findet er — - zur
Ehre für sein Humanitätsgefühl, wenn auch nicht zur
Ehre seiner Orthodoxie — für das Denken doch eine
crux.
Philosophisch betrachtet hat sich Martensen für's
erste an der Wahrheit versehen, dass das Denken stets
Voraussetzungen braucht. Er hat nicht gesehen, dass
man diese Voraussetzungen stets auf ein Minimum be-
schränken und sie sodann (in der Erkenntnislehre) durch
den Nachweis ihrer Begründung in der menschlichen
Natur legitimieren muss. Wir konstruieren nur die
Voraussetzungen, die zum Verständnis der für die Er-
fahrung gegebenen Wirklichkeit notwendig sind und
als in der menschlichen Natur wurzelnd nachgewiesen
werden können, — Und für's zweite hat er nie eine
Aufklärung darüber gegeben, wie es eigentlich zugeht,
dass die Schwierigkeiten, welche die Dogmen dem
natürlichen Bewusstsein darbieten, für das wieder-
geborene Bewusstsein wegfallen. Bekommt man denn
mit der Wiedergeburt eine andere Logik ? Und müsste
in diesem Falle nicht eine Darstellung dieser höheren
Logik von grösster Wichtigkeit sein? Oder sollte der
ganze Unterschied darin liegen, dass man nicht mehr
denkt? Und geht es immer so leicht, dass man zu
denken aufhört, die Vernunft gefangennimmt? — Es
fehlte jedenfalls nicht an solchen, die hier den schmerz-
lichsten Widerspruch, den leidenschaftlichsten Zusammen-
stoss zwischen verschiedenen Kräften empfanden und
an diesem Versuch einer „höheren" Wissenschaftlichkeit
schweres Ärgernis nahmen.
22 II' Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.
Vom religiösen Gresichtspunkte aus musste sich da»
Bedenken erheben, ob man auch noch Zeit, Lust und
Kraft zur Spekulation habe, nachdem man die genannten
Voraussetzungen gewonnen hatte. Diese konnten ja
möglicherweise derart sein, dass man sie stets von
neuem erwerben musste, dass die Aneignung nicht ein-
für allemal vor sich gehen konnte, und dass diese Auf-
gabe der stets wiederkehrenden Aneignung „die höhere
Einheit" unmöglich machte, auch in der Form, wie
Martensen sie mit seinem übermütigen Versuch, Hegel
noch zu überbieten, aufgefasst hatte.
3. Mit Heiberg und Martensen hielt die deutsche-
spekulative Philosophie ihren Einzug bei uns. Doch
schon ehe Sören Kierkegaard seinen wuchtigen Angriff"
auf diese Richtung eröffnete, waren ihr dänische Denker
mit energischem und wohlbegründetem Widerspruche
entgegengetreten. Wie Treschow zu Anfang des Jahr-
hunderts durch sein nüchternes kritisches Denken und
seine gesunde Psychologie den Unklarheiten Schelling'-
scher Philosophie entgegengewirkt hatte, so trat bereits
in den dreissiger Jahren Friedrich Christian
Sibbern(l785 — 1872) mit einschneidender Kritik gegen
die Hegel'sche Philosophie auf. Sibbern war nach seiner
innersten Natur und nach seiner ganzen Entwicklung
unempfönglich für eine Philosophie, die alles aus sich
selbst heraus spinnen wollte und durch ihre spekulativen
Abstraktionen das wirkliche Leben aus den Augen ver-
lor. Charakteristisch ist für ihn in dieser letzteren
Hinsicht ein Zug, den er selbst erzählt. „Ich erinnere
mich, dass Sören Kierkegaard in seiner Hegerschen
Zeit mich einmal auf dem Alten Markte traf und fragte,
wie sich die Philosophie zu dem Leben in der Wirk-
lichkeit verhalte. Die Frage machte mich stutzig, da
all mein Philosophieren auf die Erforschung des Lebens
und der Wirklichkeit ausging; später musste ich dann
II. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 23
freilich gewahr werden, dass diese Frage sich einem
Hegelianer ganz natürlich aufdringen musste, da ein
solcher die Philosophie ja nicht existenziell studiert.*^
(S. Kierkegaards eft Pap. 1833-43, S. LH f.)
Für Sibbern musste das Denken stets etwas Ge-
gebenes, eine faktische Grundlage haben. Die Philo-
sophie muss explikativ sein, d.h. sie muss sich den
in der gegebenen Erfahrung vorliegenden Inhalt klar
und deutlich machen, ehe sie spekulativ werden,
d. h. von dieser Grundlage ausgehend weitergehende
Hypothesen aufstellen kann. Hiezu kam noch, dass
Sibbern in der interessanten Entwicklungsphilosophie,
auf die er schon frühzeitig gekommen war, das Dasein
als einen grossen Prozess oder als ein System von
Prozessen auffasste, die von vielen ungleichartigen
Ausgangspunkten aus vor sich gehen. Er legt auf den
sporadischen Charakter der Entwicklung besonderes
Gewicht. Da nun der forschende Mensch selbst einer
von diesen vielen Ausgangspunkten ist und selbst in-
mitten eines dieser sporadischen Entwicklungsprozesse
steht, so kann er das Ganze unmöglich überschauen.
Wiewohl wir Glieder in dem universellen Dasein sind
und daher dessen innerstes Wesen sich auch bei uns
regen muss, können wir uns doch von unserer Stelle
aus kein abgeschlossenes Bild des ganzen Weltlebens
entwerfen. Ein philosophisches System im Sinne Hegels
ist also für Sibbern überhaupt ein unmögliches Unter-
nehmen.
Sibberns religionsphilosophische Gedanken liefen
darauf hinaus, dass man die religiöse wie jede andere
Erfahrung als gegeben zunächst einfach hinnehmen soll.
Dann handle es sich darum, in ihren Inhalt sich hinein-
zuleben, um so den wirklichen Gehalt und die Gültig-
keit derselben zu entdecken. Er war ebensosehr gegen
die rationalistische oder spekulative Umsetzung des
lebendigen, persönlichen Glaubens in abstrakte Begriffe,
•24 II- Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.
wie gegen die orthodoKe Geltendmachung der Dogmen
als äusserer, objektiver Wahrheiten. Anfangs Hess sich
Sibbern hierin durch seinen Gegensatz gegen die dürre
Verständigkeit des Rationalismus leiten. Mit den Jahren
aber fühlte er sich mehr und mehr von der orthodoxen
Richtung abgestossen und zweifelte nachgerade daran,
inwieweit der Inhalt der Religion wirklich in demselben
Sinne für gegeben gelten dürfe wie die der Wissen-
schaft zu Grunde liegenden Erfahrungen. So kommt
denn bei Sibbern in einer Reihe merkwürdiger Uni-
versitätsprogramme aus den Jahren 1846 — 49 eine aus-
gesprochen kritische Stellung gegenüber dem positiven
religiösen Glauben zum Vorschein. Es war nicht sowohl
historische Kritik, was in ihm den Zweifel weckte,
wieviel in der Religion wirklich gegeben sei, als
vielmehr die psychologische Überzeugung, dass manches,
was als ursprünglicher Ausdruck religiöser Bewegung
gelte, nicht unmittelbarer Ertrag persönlicher Erfahrung
sein könne, sondern vielmehr einer komplizierteren Ent-
wicklung entstamme, wobei allerlei Voraussetzungen
und Reflexionen bestimmend mitgewirkt haben. Im
ganzen wurde er mehr und mehr von der objektiven
und historischen Seite an der Religion ab und auf das
innere persönliche Leben hingeleitet, das die Quelle
ihres Lebens ist. Und indem er hiemit seinen weit-
tragenden Gedanken verband, dass alle Entwicklung
sporadisch, von einzelnen Ausgangspunkten aus, vor
sicli gehe, musste er die Anerkennung des Rechts der
Subjektivität fordern. So führte der alternde Denker
den Satz konsequent durch, den sein jüngerer Freund,
Sören Kierkegaard, bereits etliche Jahre zuvor ent-
wickelt hatte: dass nämlich die Subjektivität die Wahr-
lieit ist; nur dass er ihn nicht mit Kierkegaard bloss
auf die Notwendigkeit persönlicher Aneignung gründet,
sondern besonders darauf Gewicht legt, dass das wirk-
liche geistige Leben sich in den einzelnen Persönlichkeiten
IL Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 25
je besonders regt, und man durch das gewaltsame
Hineinzwängen aller einzelnen in eine gemeinscliaftliche
Form der Lebensanschauung eben diese einzelnen Lebens-
quellen verstopfe.
Dass Sibberns Einfluss auf seine Zeit kein stärkerer
wurde, hängt besonders mit seinem Mangel an leicht-
verständlicher Darstellung zusammen. Sein Stil leidet
an Breite und mancherlei Sonderbarkeiten, die der
rechten Würdigung des Mannes nach seiner besonderen
Bedeutung hindernd im Wege standen.
4. Ein jüngerer Freund und Amtsgenosse von
Sibbern, der Dichter und Philosoph Paul Möller
(1794—1838), verdient in der Besprechung der älteren
Zeitgenossen Sören Kierkegaards besondere Erwähnung,
da er Kierkegaard persönlich am nächsten stand. Paul
Möller war eine Zeit lang für Hegels Philosophie sehr
eingenommen gewesen, stellte sich aber später derselben
kritisch gegenüber. Als Universitätslehrer wirkte er
am meisten durch seine Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie. Er hatte, wie seine „Gredankensplitter"
zeigen, einen aufgeschlossenen Sinn für die persönliche
Seite beim Philosophieren, hielt sich nicht nur an den
objektiven Inhalt der philosophischen Theorien, sondern
ging von diesem Inhalt zurück auf die philosophierende
Persönlichkeit. In seinem Entwurf einer Abhandlung
über die Affektation äussert sich Paul Möllers Sinn für
die Bedeutung der persönlichen Wahrheit besonders
charakteristisch und so, dass er in bedeutsamer Weise
als Sören Kierkegaards Vorgänger vor Augen tritt.
Dieser Entwurf vermag wohl auch eine ungefähre Vor-
stellung davon zu geben, um was sich die häufigen
Unterredungen Paul Möllers mit Sören Kierkegaard
bewegt haben.
Affektation ist nach Paul Möller eine Mischung
von Falschheit und Selbstbetrug. Sie entsteht dadurch,
dass man sein will, was man seiner Natur nach nicht
26 II' Sören Kierkegaards ältere Zeltgenossea in Dänemark.
sein kann, und darum sich selbst und andern einbildet,
man sei anders, als man in Wirklichkeit ist, ^.Der
Affektierte thut vorsätzlich, was nur Bedeutung hat,
wenn es durch Naturgewalt oder Naturantrieb oder
höhere Notwendigkeit hervorgerufen ist.'' Paul Möller
aber hat einen klaren Blick dafür, dass Affektation in
diesem Sinne auf gewissen Stufen der Entwicklung
infolge der Natur der Verhältnisse nicht zu vermeiden
ist. Denn wenn die Persönlichkeit sich entwickeln und
erweitern soll, so muss sie notwendig ihre Grenzen
überschreiten und fremden Stoff in sich aufnehmen,
ohne dieses Fremde doch sofort zu ihrem wirklichen
Eigentum machen zu können. Hiedurch entsteht als
Durchgangspunkt eine augenblickliche Affektation.
Dauernd wird sie, wenn das aufgenommene fremde
Prinzip konsequent durchgeführt wird, obwohl es in der
Persönlichkeit nicht Wurzel fassen kann. Moralisches
Gefühl, Selbstgefühl, aber auch Immoralität, können so
Schalen sein, worin man sich vor sich selbst und andern
versteckt, indem man daran Gefallen findet, ohne sie
doch wirklich auszufüllen. Eine wissenschaftliche Sprache
ohne Einsicht in die entsprechenden Gedanken, und
übertriebene Symmetrie in einem wissenschaftlichen
System sind mehr theoretische Formen derselben Er-
scheinung.
Paul Möller betont die Wichtigkeit der Ueberein-
stimmung zwischen dem Innern und Aeussern sogar so
stark, dass er erklärt, keine L ebensäusserung
habe Wahrheit, in der nicht schöpferische
Originalität liege. Er stellt diesen Satz mit dem
vollen Bewusstsein seiner Paradoxie auf. Denn wieviel
Wahrheit verbleibt wohl in der Welt, wenn wir nur
in dem wahr sind, was wir selbst hervorbringen ?
Allein er hat die Ueberzeugung, dass in dem, was wir
uns falsch angeeignet haben, und in dem objektiven,
konventionellen Gepräge, das wir unsrem Leben
II, Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 27
^eben, eine grosse Gefahr für dessen Ursprünglichkeit
und Keiclitum liegt. ,,AfFektation kommt oft davon
her, dass man nicht die Kraft hat, durch Geltend-
machen seines wahren Charakters mit der Welt in
Kollision zu kommen. . . . Jeder hat von der Natur
sein bestimmtes Gepräge, lässt es aber aus falscher
Rücksicht auf andere verwischt werden. ... Er will
sich nicht mit seiner eigenen Person hervorwagen,,
glaubt auch nicht an ihre unendliche Tiefe. Würde
jeder Einzelne unbekümmert um den Vorwurf der Ein-
fältigkeit über die Dinge urteilen, wie sie sich ihm
darstellen, so müsste das herrliche Charaktere ergeben."
Auf seinem Sterbebette Hess Paul Möller durch
Sibbern Sören Kierkegaard grüssen. Diese drei bilden
eine einheitliche Denkerfamilie. Die Idee der persön-
lichen Wahrheit und deren Bedeutung haben alle drei
erfasst, obwohl es nur einem beschieden war, sie in
ihrer ganzen Kraft und Strenge zu entwickeln. Und
Sören Kierkegaard hegte auch eine grosse Sympathie
für seine zwei Lehrer. — In der Einleitung zu den
„Hinterlassenen Papieren" wird folgender Vorfall mit-
geteilt: Ein etwas jüngerer Mitschüler von Kierkegaard
habe einmal, von schweren Gedanken gedrückt, Sören
Kierkegaard im Friedrichsberger Parke getroffen. jjOhne-
dass im übrigen ein Wort über die mich drückende
Stimmung gewechselt wurde", erzählt der Betreffende
weiter, ,,trat Sören Kierkegaard plötzlich zu mir heran
und fragte mich mit einem Blick und einer Stimme voll
Mitleid, ob ich Professor Sibbern kenne? An den soll
ich mich wenden, der sei ein ganzer Mann; er sei
die Liebenswürdigkeit selbst, und bei ihm finde man
Beruhigung!" — Was Paul Möller betrifft, so gab
Kierkegaard seiner Begeisterung für ihn Ausdruck in
der Zueignung zum „Begriff der Angst":*) „Dem
*) Dieselbe ist in der deutschen Uebersetzung weggelassen worden.
^8 II- Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.
verewigten Professor Paul Martin Möller, dem glücklichen
Liebhaber der Griechen, dem Bewunderer Homers, dem
Mitwisser des Sokrates, dem Dolmetscher des Aristoteles
— Dänemarks Freude in seiner Freude über Dänemark ;
dem »weit Verreisten«, dessen doch stets »im dänisclien
Sommer gedacht wird« — dem Gegenstand meiner
Bewunderung, meines Sehnens — ihm sei diese Schrift
gewidmet."
Diese Widmung deutet zugleich an, dass Paul
Möller Kierkegaard in das Studium der Griechen, das
für ihn so erfolgreich wurde, eingeführt und eingeleitet
hat. Es will überhaupt in Kierkegaards Mund viel
heissen, wenn er seinen verstorbenen Lehrer einen Mit-
wisser des Sokrates nennt. Hierin liegt die xA.ndeutung
«iner sehr wesentlichen geistigen Verbindung zwischen
den zwei Männern, der man bisher keine Beachtung
geschenkt hat.
III.
Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
1. Es giebt Gedanken, die nur auf einem bestimmten.
Boden und nur in einem gewissen Klima fortkommen
können. Und es unterliegt keinem Zweifel, dass Sören
Kierkegaards Gedanken zu dieser Art gehören. Sie
sind dem Weine gleich, der nur auf Lavagrund gedei-
hen kann. Diesen Grund müssen wir zuerst kennen
lernen. Und der Grund liegt tief. Wir werden über
Hin hinaus auf seine Familie und seine Rasse zurück-
gewiesen und auf die Ueberlieferungen, die die geistige
Atmosphäre seiner Kindheit bildeten. — Für die Gül-
tigkeit oder Ungültigkeit der Gedanken ist solch ein
Nachweis nicht massgebend. Mögen die Bedingungen,
denen sie ihre Entwicklung zu verdanken haben, noch
so besondere gewesen sein, so benimmt das ihrem Wert
an sich noch durchaus nichts. Es könnte ja sein, dass
besonders wertvolle Gedanken gerade nur unter solchen
Verhältnissen sich bilden konnten ! — Diese Verhält-
nisse müssen aber ans Licht gezogen und erkannt wer-
den, wenn die Frage entschieden werden soll, ob die
Gedanken auch unter anderen Verhältnissen Lebens-
kraft haben.
2. Seine Familie stammt aus dem westlichen Jüt-
land. In dem westjütischen Stamme findet sich neben
zäher Ausdauer, Klugheit und Humor auch ein nicht
geringer Hang zu Schwermut und Lebensüberdruss.
Selbstmord kommt hier häufig vor.
Auf der Heide in dem Kirchspiel Säding bei Ring-
köbing hütete im Jahre 1768 ein zwölfjähriger Hirten-
knabe seine Schafe. Er litt Hunger und Kälte, und die
Einsamkeit und Verlassenheit drückten ihm schwer aufs
:30 III- Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
•Gemüt. Da ging er in seiner Verzweiflung auf einen
Hügel und fluchte dem Gott, der ihm dies elende Leben
gegeben hatte. — Dieser Knabe war Sören Kierkegaard'«
Vater. In den „hinterlassenen Papieren" findet sich
(aus dem Jahre 1846) folgender Abschnitt, der in der
gedruckten Ausgabe nicht mitgeteilt ist :
,,Das entsetzliche Schicksal des Manns, der ein.st
.als kleiner Knabe, als er auf der Jütischen Heide
Schafe hütete und viel auszustehen hatte, hungerte und
fror, auf einen Hügel stieg und Gott fluchte — und der
Mann vermochte das nicht zu vergessen, als er 82
.Jahre alt geworden war."
Als der Herausgeber des ersten Bandes der hinter-
lassenen Papiere dem Bischof P. C. Kierkegaard, dem
Bruder Sören Kierkegaards, diese Stelle zeigte, brach
der bejahrte Mann in Thränen aus und sagte: ,,Das ist
unseres Vaters Geschichte und unsere mit !" In der
'Geschichte der Kierkegaardischen Familie spielt jener
Vorfall eine grosse Rolle, als "Wirkung wie als Ursache.
Er ist ein Zeugnis von der Macht der Schwermut, die
.alles stärker und tiefer fühlte als andere, von der
{Leidenschaft, die jede Stimmung und jeden Gedanken
auf die höchste Spitze trieb. Er stellt sich aber auch
.als drohendes Symbol dar, das den Trübsinn in stets
neue Bewegung versetzte und den Gedanken an den
'Gott, der die Sünden der Eltern an den Kindern heim-
sucht, wach erhielt.
Der Knabe von der Heide, Michael Pedersen Kierke-
gaard, kam nach Kopenhagen zu einem Wollwaren-
händler in die Lehre. Er arbeitete sich zu einem
reichen Mann empor, konnte aber jenen Augenblick auf
der Heide, wo er die Sünde wider den heiligen Geist
begangen zu haben glaubte, nie vergessen. Seine
schwermutsvolle Angst machte sich oft in verzweifelten
Worten Luft und gab seinem häuslichen Leben eine
^düstere Färbung, wiewohl es sonst ein geistesfrischer
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 31
Mann war. der es in Witz und Scharfsinn mit seinen
hochbegabten Söhnen aufnehmen konnte. Schon in sei-
nem 40. Jahre hatte er sich vom Geschäft zurückge-
zogen und lebte seitdem meist mit philosophischen
Studien beschäftigt; besonders eifrig studierte er den
deutsclien Philosophen WolfF. — Zum Verständnis der
folgenden Charakteristik Sören Kierkegaards mag be-
merkt werden, dass ausser der Belastung von selten
des schwermütigen, grübelnden Vaters sich auch noch
andere hereditäre Einflüsse geltend machten. Die Mutter
wird als eine vortreffliche Frau von einfachem und
heiterem Sinn geschildert — ein nicht eben seltener
Kontrast, der an Goethes Eltern erinnert, wo „des Lebens
«rnstes Führen" sich ebenfalls vom Vater, die ;,,Froh-
natur'^ von der Mutter herschrieb. Ganz gewiss aber
traten bei Sören Kierkegaard die widersprechenden
Elemente ganz anders in Gegensatz zu einander als
bei jenem Altmeister der Lebensharmonie.
Der jüngere Sohn, Sören Aaby Kierkegaard,
wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren. Von
seinem äusseren Lebensgange ist nicht viel zu berichten ;
und doch liesse sich jetzt, da sämtliche hinterlassenen
Papiere vorliegen, eine interessante Biographie von
ihm herstellen, so gewiss bei einer Natur wie der
seinigen die äusseren Vorkommnisse nicht das Wesent-
liche sind. Georg Brandes hat in seiner Schrift über
Sören Kierkegaard eineCharakteristik seiner litterarischen
Persönlichkeit gegeben, die kaum besser, kaum glän-
zender zu denken ist. Ich glaube aber, dass Brandes,
gerade weil sein Auge besonders der litterarischen
Thätigkeit Sören Kierkegaards zugekehrt war, sich ver-
leiten Hess, ein zu grosses Gewicht auf einzelne Vor-
kommnisse in seinem Leben zu legen, die zwar sicher-
lich Motive und Stoffe für sein Schaffen lieferten, die
üichtung seines Geistes aber nicht durchaus bestimmten.
Auch kann ich mich darin nicht mit Brandes einver-
32 in> Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
standen erklären, dass Pietät nnd Verachtung die zwei
Gnmdleidenscliaften Kierkegaards sein sollen. Nach
meiner Aviffassiing nehmen sie eine mehr untergeordnete
Stelle in seiner Psychologie ein. — Übrigens ist, be-
sonders mit Rücksicht auf diesen letzten Punkt, doch
zu bemerken, dass Brandes sein Buch schrieb, als erst
die zwei ersten Bände der hinterlassenen Papiere ver-
(»ffentlicht waren.
3. Der entscheidende Grundzug in Sören Kierkegaards
ganzer Persönlichkeit muss in seiner Schwermut gesucht
werden. Er lag auch schon in seiner Rasse und in
seinem Temperament und wurde durch die Erziehung
noch gefördert. „Ich bin nicht Mensch ; ich bin schwer-
mütig bis zur Grenze der wirklichen Gemütskrankheit",
sagt er an einer Stelle seiner Aufzeichnungen, wo er
sich über alle Verhältnisse seines Lebens Rechenschaft
ablegt (1849, S. 402). Es war die Schwermut, was
seiner grossen Pietät und überhaupt seinem Respekt
vor aller Autorität zu Grunde lag. Daher eben sein
Bedürfnis für absolute Halt- und Stützpunkte, sowie
seine Scheu vor dem verwirrenden Neuen. Er musste
etwas haben, das ihn tragen und erheben konnte, wenn
sich ihm alles in bodenloses Dunkel aufzulösen schien.
Nur auf einer derartigen absolut festen Grundlage
konnten andere Seiten seiner Natur, namentlich sein
mächtiger dialektischer Drang, sich frei und kräftig
entfalten. In religiöser Hinsicht führte sein innerer
Druck dazu, dass er seine scharfsinnige Reflexion und
Kritik nur auf die Frage der Aneignung des religiösen:
Inhalts, nicht aber auf die Prüfung des inneren Zu-
sammenhangs und der Gültigkeit dieses Inhalts selbst
verwendete. Auch das Gefühl der Verachtung, das
sich bei ihm regen konnte, lässt sich leicht aus den
Folgen der Schwermut für sein inneres Leben begreifen.
Die gewöhnlichen ;,leichtlebigen" Menschen mussten auf
ihn, der gewohnt war, zwischen Abgründen und
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 8S
Schrecknissen hinzugehen, einen sonderbaren Eindruck ma-
chen, wie ihn auch eben die Schwermut dazu verleitete,,
das Benehmen der Menschen und ihre Motive sich in
grelleren Farben auszumalen, als sie der wirklichen
Erfahrung entsprochen hätten. Dagegen war Verachtung
nicht ein ursprttngliclier Grundzug seiner Natur. Eher
ein ebenfalls an dem Schwermütigen wohl erklärliche»
tiefes Mitgefühl für Mensclien, besonders Leidende oder
solche, die er für Leidende hielt. So ist es von meli-
reren Seiten her bezeugt, dass er einen merkwürdigen
Blick dafür hatte, ob die Leute seiner Umgebung etwas;
drückte, und dass er auf so rücksichtsvolle und zarte
Weise wie kein anderer zu beruhigen und zu trösten
verstand. Es gewährte nicht bloss ihm selbst Trost
und Linderung, auf der Strasse umherzugehen und mit
Leuten aus dem Volke zu reden, sondern er hatte
herzliche Teilnahme für sie und verstand die Kunst^
sich in ihre Lage liineinzuversetzen. Und noch zuletzt,
als seine Auffassung des Christentums sich verschärfte
und er die Zeit herankommen sah, da das Ideal in
seiner vollen Strenge geltend gemacht werden sollte,
zögerte er damit eine Zeit lang aus Teilnahme für das.
Glück, das er stören, für die Unruhe und das Leiden, das
er da und dort, wo bisher eine milde und harmonische
Lebensanschauung geherrscht hatte, verursachen müsste..
Es ist natürlich unmöglich, die verschiedenen Eigen-
schaften und Neigungen irgend eines, zumal aber eines
so reich ausgestatteten Menschen aus einer einzigen
Ursache abzuleiten. Derlei Menschen, deren Bedeutung
gerade darauf beruht, dass sie geistige Erfahrungen
machen müssen, die den meisten andern erspart oder
versagt bleiben, werden in ihrer Natur stets mehrere
ungleichartige Ausgangspunkte, mehrere Grundrichtungen
haben, die erst durch einen Kampf in Harmonie gebracht
werden müssen. Die Aufgaben, die sie zu lösen haben,
sind ihnen vor allem durch ihre eigene Natur gestellte
Hoff ding, S. Kierkegaard. 3
84 III' Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
Neben der Schwermut als herrschendem Grundzug
ist bereits eine grosse Kraft des Denkens, eine Anlage
zu dialektischer Arbeit, zu zersetzender Reflexion er-
wähnt worden. Er drückt sich selbst hierüljer so aus:
^Gebunden in qualvollem Elend bin ich einem Vogel
gleich, dem man die Flügel gestutzt hat, während ich
doch im Besitz meiner vollen geistigen Ki'aft, einer ge-
wiss aussergewöhnlichen Kraft, geblieben bin" fl849,
S. 401). Diese Kraft äusserte sich nicht nur in Re-
flexion und Denken, sondern auch in einer Phantasie,
die mit jedem Vibrieren, jedem Auf leuchten der Stim-
mung Bilder voll Glanzes und sprechender Lebendigkeit
entwerfen konnte, und in einer Kunst der Sprache, die
man zuvor in der dänischen Litteratur kaum gesehen
hatte. In äusserer Hinsicht günstig gestellt, konnte er
diese Geistesgaben nach eigener Lust ausbilden. Der
•Gebrauch dieser Gaben war wie der Gebrauch jeder
natürlichen Kraft mit Wohlbehagen verbunden; sie an-
zuwenden war ihm ein Bedürfnis für sich selbst, aucli
wenn sie hauptsächlich im Dienste der herrschenden
Stimmungen verwendet wurden.
Li seiner Schrift ,,Der Gesichtspunkt für meine
schriftstellerische Wirksamkeit" (S. 58) schreibt sich
Kierkegaard neben der ,, ungeheuren Schwermut'' eine
,, ebenso ungeheure Fertigkeit" zu, ,, dieselbe unter an-
scheinender Munterkeit und Lebenslust zu verdecken."
Durch diese Aeusserung bringt er gewiss, wie über-
haupt in seinem Rückblick auf seine schriftstellerische
Wirksamkeit, mehr System und Willkür in sein Ver-
halten, als der Wirklichkeit entsprach. Neben der
Schwermut lag in ihm ein Element ganz entgegenge-
setzter Art, ein Drang, sich ausgelassenem Spiele hin-
zugeben, sich in Witz und andern geistigen Kraft-
übungen zu ergehen, ein Drang, der sich natürlich mit
dem Drang, seine Geisteskraft zu gebrauchen, verband.
Nach der Charakteristik, die ihm nach altem Brauch
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 35
•der Eektor der Schule bei dem Uebergang auf die
Universität ausstellte, soll er die Kinderschuhe erst
spät ausgetreten haben; auch liatte er gewiss einen
:grossen Trieb nach Freiheit und Unabhängigkeit, und
«ein Temperament war lebhaft und munter. Denselben
Eindruck gewannen späterhin im Leben auch andere von
ihm. Dieser Zug kann nicht von Anfang an Verstellung
gewesen sein. Er hatte vielmehr einen unwillkürlichen
Hang hiezu, einen Hang, der bei anderer Erziehung
mit der Zeit vielleicht einen günstigen Einfluss auf
meinen Cliarakter gewonnen hätte. Aeusserte er sich
.nun, wenn die Schwermut sich in sich selbst zurückzog,
oder in natürlicher Reaktion gegen dieselbe,*) so konnte
<er thatsächlicli die Verschlossenheit der Schwermut
verdecken, aber bloss willkürlich hervorgebracht war
.seine Munterkeit sicher nicht. Es verhält sich damit
-ohne Frage wie mit seinen eifrigen und regelmässigen
Spaziergängen in den Strassen der Stadt, die er später
auch als ein Grlied seiner durchdachten Pläne darstellte,
die ursprünglich aber auch dem Bedürfnis entstammten,
sich Bewegung zu machen, Menschen zu treffen und
sicli mit ihnen in Rapport zu setzen.
,,Icli bin ein Janus bifrons — mit dem einen Ge-
sicht lache [ich, mit dem andern weine ich," schreibt
«r mit 24 Jahren. Keines von beiden war blosse Maske,
auch wenn er das eine meist vor andern, das andere
mehr in der Einsamkeit trug. Denn es ist ja der
Schwermut eigentümlich, dass sie sich in Gegenwart
.anderer zurückzieht, wie auch die Kobolde beim Auf-
gang der Sonne verschwinden. Eben durch diese Eigen-
schaft der Schwermut wurde diese zu einem so ver-
hängnisvollen Element in der Persönlichkeit Sören
*) „In der verborgenen Tiefe de» Gefühls liegen die Saiden der
Traner nnd der Freude so nahe neben einander, dass die letzteren
nnr allzn leicht ankliDgen, wenn die ersteren berührt werden." (1836,
S. 174.J
3*
36 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
Kierkegaards. Die Neigung zur Eiiusamkeit, zur Iso-
lation, die Unmöglichkeit, sich andern zu öffnen, die sie
bewirkt, wurden ausschlaggebend für sein Geschick.
Die dumpfe Trauer machte ihn stumm — ist es aber
nicht sündhaft, sich seiner nächsten Umgebung nicht
aufschliessen, sich nicht herzlich hingeben zu können ?
und werden nicht jedenfalls, w^o solche isolierende
Schwermut herrscht, die innigsten Verhältnisse zwi-
schen den Menschen unmöglich gemacht? Wenn erzählt
wird, dass Jesus einen Teufel austrieb, „und der war
stumm "^, so deutete Sören Kierkegaard dies auf den
Dämon der Trauer, der Schwermut, die in ihrem Egois-
mus, um ihre Herrschaft über den Menschen nicht zu
verlieren, diesen stumm macht, der Verbindung mit
andern entzieht (1848, S. 1). Und damit war ihm in
seinem Innern ein ungeheures Problem gestellt : ob es
Krankheit sei oder Sünde, was ihn so banne ? ;,Es ist
und bleibt doch die schwerste Anfechtung, wenn ein
Mensch nicht weiss, ob sein Leiden Krankheit des Ge-
müts oder Sünde ist** (1844, S. 74). Hier war etwas,.
das die grübelnde Dialektik wohl in Bew^egung setzen
konnte. Gedankenströmungen und Bilderreihen konnten
sich aus dem einen der möglichen Gesichtspunkte ent-
wickeln, um dann plötzlich zu verschwinden und neuen,
von dem andern Gesichtspunkte aus sich darbietenden
Vorstellungsreihen Platz zu machen; und die Bewegung
musste um so ruheloser und heftiger werden unter dem
Schwergewicht seiner streng orthodoxen Erziehung und
dem Drucke der Erinnerung, dass den Vater die Schwer-
mut gar zur Gotteslästerung getrieben hatte.
Eine Schilderung des Verhältnisses zwischen Vater
und Sohn geben uns die ;, Stadien auf dem Lebenswege"
(S. 2ü4) : „Es war einmal ein Vater und ein Sohn.
Ein Sohn ist wie ein Spiegel, w^orin der Vater sich
selbst .sieht, und für den Sohn ist umgekehrt der Vater
gleichsam ein Spiegel, worin er sich selbst .sieht, wie
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 37
•er einst sein wird. Doch betrachteten sie einander
selten so, denn ihr täglicher Verkehr zeigte nur die
Munterkeit einer lebhaften Unterhaltung. Nur kam es
bisweilen vor, dass der Vater stehen blieb, mit seinem
traurigen Antlitz vor den Sohn hintrat, ihn betrachtete
und sagte : ,, ,, Armes Kind, du gehst in stiller Ver-
zweiflung.'"' Weiter wurde nie davon geredet, wie das
zu verstehen sei, so wahr es auch war." — In den
hinterlassenen Papieren spricht sich Kierkegaard weit
bestimmter und schärfer darüber aus, wie der Vater
,,die ganze Last seiner Schwermut auf ein armes Kind
■warf"; wie sein Vater ihn unglücklich machte und sei-
ner Jugend beraubte. ,,Die Freude, Kind zu sein, habe
ich denn nie gehabt" (1847, S. 121: 1849, S. 3). Und
sicher beruht es auch auf eigener Erfahrung, wenn er
in seiner „Unwissenschaftlichen Nachschrift" (S. 566)
sagt: ,, Eines Kindes Dasein in die entscheidenden
christlichen Kategorien hineinzuzwängen, ist eine Ver-
gewaltigung, und wäre sie auch noch so wohl gemeint."
Es gab eine Zeit in seiner Jugend, da er sich we-
nigstens in der Phantasie frei machte. Ein Motto, das
er in seinem Tagebuch aus dieser Zeit angebracht hat,
scheint darauf hinzudeuten, dass es ihm als das Höchste
erschien, in Kontemplation zu leben und die Welt, ohne
sich persönlich um sie zu kümmern, ihren Gang gehen
.zu lassen. Aesthetische und philosophische Interessen
hatten ihn ganz gefangen genommen. Erst dass er
erfuhr, was seinen Vater drückte, scheint ihn aus die-
ser Lebensrichtung herausgerissen zu haben. In seinem
Tagebuch schreibt er hierüber (1833—43, S. 4): „Da
kam das grosse Erdbeben, die fürchterliche Umwälzung,
die mir plötzlich eine neue, unfehlbare Deutung aller
Phänomene aufnötigte. Da ahnte ich, dass meines Va-
ters hohes Alter nicht göttlicher Segen, vielmehr ein
Fluch sei, dass die ausgezeichneten Geistesgaben in
unserer Familie nur dazu dienen, uns gegenseitig
38 Iir. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
aufzureiben. , . . Eine Schuld musste auf der ganzen;
Familie lasten, eine Strafe Gottes auf ihr liegen: sie-
sollte verschwinden, ausgetilgt werden von Gottes
gewaltiger Hand, ausgelöscht wie ein missglückter
Versuch."
Damit hat er den Schlüssel zu der ,, stillen Ver-
zweiflung" gefunden. Seine religiöse Entwicklung hat
hiedurch, wie durch sein ganzes Temperament und seine-
ganze Erziehung, eine Anfangsgeschwindigkeit erhalten,
die seine Bahn hoch über die meist begangenen, be-
quemen Wege hinausführte. Auch das innere Brüten,
zu dem er angelegt w^ar, bekam nun ein Symbol, an
dem es sich halten konnte. Er war praktisch in die
alttestamentliche Frömmigkeit auf eine "Weise hinein-
geführt worden, wie sie sehr wenigen beschieden ist.
Das patriarchalische Gottesverhältnis stand für ihn nicht
in dem gewöhnlichen, idyllischen Lichte. Auch gehörte
er nicht zu denen, die zwischen dem Alten und Neuen Te-
stament einen grossen Unterschied hätten machen können.
Sören Kierkegaard fand seine Schwermut selbst
mit dem eigentümlichen Gefühlszustand verwandt, der
in den Klöstern des Mittelalters nicht ungew^öhnlich
war und Acedia genannt wurde. Er äusserte sich als
geistige Erschlaffung, Unlust zu religiösen Uebungen,.
Sehnsucht nach der Welt und Abscheu vor der Beichte
(odium professionis). Kierkegaard meinte darin wieder-
zufinden, was sein Vater die „stille Verzweiflung"
nannte. In der Abneigung vor der Beichte fand er als-
tieferen Grund die Scheu, sich überhaupt gegen andere
auszusprechen, und meinte, die Beschreibung mit seiner
eigenen Erfahrung belegen zu können. Zugleich fand
er, es verrate einen tiefen Blick in die menschliche
Natur, wenn die mittelalterlichen Ethiker die Acedia
unter die Hauptlaster rechneten (1838, S. 225). Es war
eine Klosterkrankheit, und er sagt gelegentlich auch r
, Hätte ich im Mittelalter gelebt, so wäre ich wohl ins
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 39
Kloster gegangen." Seine Schwermut untersciiiecl sich
von der mittelalterlichen Acedia darin, dass sie weit
mehr in seiner Natur begründet war als letztere. Die
Acedia trat, wie es scheint, besonders als natürliche
Reaktion auf, als eine Erschlaffung nach der starken
mystischen Anspannung, als eine Reaktion nach er-
zwungener Andacht — sie war ein „desenchantement
de dien"', wie sie ein französischer Philosoph bezeichnet
hat. Doch hat Kierkegaards Gefühlszustand sicher teil-
weise auch diesen Charakter gehabt. Infolge der Ver-
gewaltigung, die nach seiner eigenen Aussage frülie
schon an ihm begangen wurde (zumal gegen die Ele-
mente in seiner Natur, die nach anderer Richtung hin-
wiesen als die Schwermut), wäre zu einer Reaktion der
genannten Art reiche Veranlassung vorhanden gewesen.
4. Aus dieser Schwermut als dem von Hause aus
stärksten, durch Erziehung und väterlichen Einfluss
noch gesteigerten, zu höherer Anspannung erhitzten Ele-
mente seiner Natur erklärt sich nun auch, wenn wir
die Aeusserungen in den hinterlassenen Papieren in Be-
tracht ziehen, seine Verlobungsgeschichte. — Nach
einem ästhetisierenden und philosophierenden Jugend-
leben, das mehreremale durch gewaltsame, stürmische
innere Erregungen, wie durch jenes „Erdbeben" und
seines Vaters Tod, war unterbrochen worden, verlobte
er sich mit einem ganz jungen Mädchen, hob aber die
Verlobung das Jahr darauf zum grossen Leid und Aer-
gernis für die beiderseitigen Angehörigen wieder auf.
Er hat diese Episode in der dritten Abteilung der
„Stadien" geschildert, und in den hinterlassenen Papie-
ren kommt er immer wieder darauf zurück. Mir scheint
die ganze Erklärung in dem oft variierten Ausruf zu
liegen: ^Ach, sie vermochte das Schweigen meiner
Schwermut nicht zu brechen!" (1843, S. 137). Er hatte
kein Glück mit ihr zu teilen; im Gegenteil, es kam
ihm dadurch, dass er ihren lichten, leichten Sinn und
40 HI- Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
ihr unmittelbares Glück kennen lernte, erst reeht zum
Bewusstsein, was für ein unglückseliger Mensch er selbst
war. ;.Eben ihr unmittelbares, jugendliches Glück neben
meiner entsetzlichen Schwermut musste mich, besonders in
einem solchen Verhältnis, mich selbst verstehen lehren ;
denn ich hatte zuvor nie geahnt, wie schwermütig ich
war ; ich hatte eigentlich keinen Massstab dafür, wie
glücklich ein Mensch sein kann.'' (1848, S. 117.) Wie
seine Ausgelassenheit und sein Denkvermögen gerade
durch den Kontrast mit seiner Schwermut gesteigert
wurden, so umgekehrt diese, wenn ihr das Glück gegen-
übertrat. Wie musste dieses Gewebe von Wirkungen
und Gegenwirkungen der verschiedenen Elemente in
seinem Innern und seiner inneren und äusseren Erfahr-
ungen mit unwiderstehlicher Konsequenz seiner Sinnes-
richtung ein immer schärferes Gepräge verleihen !
Aus seiner „Elendigkeit", wie er sich ausdrückt,
daraus, dass ihm die einfachsten Bedingungen mensch-
lichen Daseins versagt seien, aus seiner isolierenden,
ihn dämonisch in sich verschliessenden Schwermut leitet
er nicht nur die Unmöglickeit für ihn ab, in ein Ver-
hältnis einzugehen, das wie der Ehestand auf Offenheit
und Innerlichkeit gegenüber einem anderen beruht, son-
dern auch die Unmöglichkeit, in ein Amt einzutreten.
,.Es ist mir stets leicht geworden, mit den Leuten aus-
zukommen, und von jeher daran gewohnt, gebunden
zu sein, habe ich mir nie einfallen lassen, dass mir
dfis eigentlich schwer werden könnte. Aber nun kommt
wieder meine Elendigkeit: ich kann nicht, weil ich nicht
Mensch bin, weil ich schwermütig bin bis zur Grenze
wirklicher Gemütskrankheit. Denn das kann ich wohl
verbergen, solange ich unabhängig bin ; aber für einen
Dienst, wo ich nicht selbst alles bestimme, bin ich so
unbrauchbar.'' (1849, S. 402.)
Mit bewundernswerter Klarheit und Ehrlichkeit
giebt Sören Kierkegaard Rechen sciiaft, wie er anders
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 41
;gestellt wurde als andere Menschen. Hätte es bei ihm
gestanden, so hätte er die Ehe gewählt und eine ge-
sellschaftliche Stellung gesucht wie so viele andere.
Nur sein kranker Sinn machte ihm dies unmöglich, wäh-
rend es ihm andererseits seine pekuniären Verhältnisse
ermöglichten, für eine Zeitlang — es wurde aber seine
ganze Lebenszeit daraus — ohne lohnende Arbeit zu
leben. Es war durchaus nicht so, dass ihn streng ide-
ale und prinzipielle Bedenken vom Eintritt in irgend
eine gesellschaftliche Stellung abgehalten hätten. Dass
er der Einzelne wurde, ist den inneren Problemen zu-
zuschreiben, mit denen er unter seinen psychologischen
Voraussetzungen zu kämpfen hatte. Erst als er aus
psychologisch-individuellen Gründen der gewöhnlichen
Lebensweise der Menschen entnommen und auf einen ein-
samen Posten gestellt war, entdeckte er das, was ihm
sonst kaum so zum Bewusstsein gekommen wäre. Was
in seinen Augen das höchste Ideal war, zeigte sich ihm
mit einer Klarheit und Konsequenz, die für den, der
als Glied in das manchfaltige und bedingte Menschen-
leben eingereiht ist, nur schwer erreicht wird. So sieht
man von einem Leuchtturm draussen im Meere gar
mancherlei, was man vom Festlande aus nicht sehen
kann; und doch ist damit nicht gesagt, dass die, die
es sehen, gerade dazu hinauszogen, das zu sehen. Die
Schwermut wurde sozusagen seine Warte, von der aus
er das Leben beobachtete. Schon im Altertum meinte
man (das ist z. B. in den sogenannten aristotelischen
.,Problemen" ausgesprochen), das melancholische Tem-
perament sei dem Genie eigentümlich. Verstand man
dazumal unter Melancholie auch nicht ganz dasselbe,
was wir heutzutage, so kann diese Ansicht doch auf
manche Fälle passen. Manche Erfahrungen und Ent-
deckungen können nur von solchen gemacht werden,
die, das Bleigewicht der Schwermut an den Füssen, ins
Meer des Lebens niedertauchen.
42 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
Die grossen Männer, deren Leben und Denken
durch ihre Kraft anzuziehen oder abzustossen entschei-
dende und typische Bedeutung gewinnt, haben immer
grosse innere Probleme zu lösen gehabt und dieselben
auf eine "Weise gelöst, die auch für andere von Wert
wird. Treten sie aktiv und angreifend auf, so wird die
Hauptursache darin liegen, dass die innere Arbeit an
sich selbst sie zu einer Wendung nach aussen drängt.
In ihrem inneren Leben haben sie den scharfen Blick
für das Ideal und das, was dem Ideale im Wege steht,
erworben. Es spielte sich ein inneres Drama ab, bevor
das äussere zur Aufführung kommt. Was für die Zeit-
genossen sich oft wie Eitelkeit, Anmassung, Kritisier-
sucht, Menschenverachtung ausnimmt oder von ihnen
so ausgelegt wird, das ist bei den wirklich grossen
Männern die Frucht teuer erkaufter Erfahrungen, die sie
nicht für sich allein behalten können, ohne sich selbst
aufzugeben, Sören Kierkegaard gehört unstreitig zu
dieser Klasse. Dass sein inneres Leben durch die Klar-
heit, die er über einige der wichtigsten Lebensfragen
bringen konnte, für andere von Bedeutung werden
würde, war seine eigene Ueberzeugung. Hierin bestand
eigentlich der Glaube, den er an seine Mission hatte.
„Weit zurück in meiner Erinnerung", sagt er, „geht der
Gedanke, dass in jeder Generation zwei oder drei seien,
die für die andern geopfert, die dazu verwendet wür-
den, in schrecklichen Leiden zu entdecken, was den
andern zugute kommt; und schwermütig fand ich das
Verständnis meiner selbst darin, dass ich hiezu auser-
sehen sei."
5. Wenn Kierkegaard sich seine Schwermut mit
ihren Wirkungen bald als Krankheit bald als Schuld
darstellte, so rührte das sicher zum Teil davon her,
dass die Schwermut eine besondere Macht hat, den
Sinn bei Möglichkeiten, die er sonst nicht ans Licht
ziehen würde, sich aufhalten zu lassen und diesen
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 4^
Möglichkeiteniiicht bloss ein düsteresG-epräge zu verleihen,
sondern sie als Wirklichkeit erscheinen zu lassen. Dies
geschieht natürlich um so leichter, wo schon eine leben-
dige Phantasie und eine subtile Dialektik darauf war-
ten, die Möglichkeiten zu entfalten und zu verarbeiten.
Jedes starke Gefühl hat die Neigung, sich im Sinne
auszubreiten und allen auftauchenden Vorstellungen
teils einen absoluten Charakter, teils eine ihnen sonst
abgehende Wirklichkeit zu verleihen, wie dasselbe auch
die Vergangenheit zurückruft und die Zukunft vorweg-
nimmt, um sich Klarheit und Deutlichkeit über sich
selbst zu verschaffen.*) Die Schwermut neigt zu einem
Leben in Möglichkeiten — bald in der Anticipation,
bald in der Erinnerung. Dass Kierkegaard mit beidem^
wohlvertraut war, sieht man nicht bloss aus seinen
Schriften, wo er die grosse Bedeutung des Lebens in
der Möglichkeit für die Erkenntnis seiner selbst ein-
schärft und zugleich vor der Verwechselung der Mög-
lichkeit mit der Wirklichkeit warnt, sondern auch aus
seinen hinterlassenen Papieren, die zugleich zeigen, wie-
er auch hier aus seiner persönlichen Erfahrung schöpfte,
was er in seinen Schriften entwickelte. Mit der'
Schwermut verband sich hier natürlich der Drang des
Dichters, Bilder zu schaffen, die Vorstellungen in kon-
kreter Entwicklung vorzuführen, und so seiner Stim-
mung bald direkt Ausdruck zu geben, bald indirekt,
durch scharfe Aussprache ihres geraden Gegenteils,
Folgende Aeusserungen zeigen, welche Macht das Vor-
wegnehmen der Zukunft wie die Erinnerung an die
Vergangenheit über ihn selbst hatte, und welche Gefahr
er darin sah.
Im Jahre 1839 (25. Juli) schreibt er in sein Tage-
buch : ,,Darum finde ich so wenig Freude am Dasein,
*) Man vergleiche, was in meiner Psychologie (2. deutsche Aus-
gabe, Leipzig 1892, S. 417—423) über die „Expansion des Gefühls"
gesagt wird.
44 in. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
weil jeder in meiner Seele erwachende Gredanke sofort
mit solcher Energie in einer so übernatürlichen Grösse
auftritt, dass ich mich recht eigentlich an ihm verhebe,
und die ideale Anticipation giebt mir so wenig eine
Aufklärung über das Dasein, dass ich auf sie hin im
Gegenteil zu unmächtig bin, das der Idee Entsprechende
zu finden, zu unruhig und sozusagen zu nervös, um
darin zur Ruhe zu kommen.'^ (1833—43, S. 230 ff.) Es
ist leicht verständlich, dass die Schwermut in derlei
stets wiederkehrenden Erfahrungen des Missverhältnis-
ses zwischen dem Vorausgedachten und dem, was die
Wirklichkeit brachte, nur weitere Nahrung finden musste.
„Für mich", heisst es in einer Notiz etwa aus dersel-
Iben Zeit (1833-43, S. 336) „ist nichts so gefährlich
wie die Erinnerung. Habe ich mir erst ein Leben.s-
verhältnis in die Erinnerung aufgenommen, so ist es
mir unmöglich, wieder Interesse dafür zu gewinnen . . .
Bekomme ich erst Zeit, die schon so oft gemachte Er-
fahrung wieder zu machen, dass Erinnerung mehr denn
alle Wirklichkeit sättigt — so ist's vorbei." — Hier ge-
winnt wieder das Leben in der Vorstellung das Ueber-
gewicht über das Leben in der Wirklichkeit. Eben-
dahin deutet eine Notiz, die der zwanzigjährige Kier-
kegaard beim Tode eines Bruders machte : „Ich habe
♦bemerkt, dass meine Trauer nicht eine mich momentan
ergreifende, sondern eine mit der Zeit zunehmende ist,
►und ich bin sicher, wenn ich einmal alt werden sollte,
.so werde ich des Verstorbenen erst recht gedenken . , .
Was meinen nun verstorbenen Bruder betrifft, so bin
ich gewiss, dass die Trauer nach langer Zeit erst recht
aufwachen wird." (1833—43. S. 16.)
Während die Schwermut durch ihren Hang, Mög-
lichkeiten und Vorstellungen zu erzeugen und festzu-
halten, dem dichterischen Drang und dem dialektischen
Trieb die Schleusen öffnete, wurde sie hiedurch
andei'erseits auch wieder abgeleitet; unter der Denk-
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 45-
und Phantasiearbeit, die alle innere Kraft und Aufmerk-
samkeit in Anspruch nahm, wurde sie niedergehalten.
Die ganze erste, grossartige Periode seines Schaffens
(1843 — 1846), in die seine genialsten Werke fallen, hat
sich Kierkegaard selbst von diesem Gresichtspunkt aus
erklärt. „Gleich jener Prinzessin in 1001 Nacht fristete
ich mir das Leben durch Erzählen, d. h. Produzieren.
Produzieren war mein Leben. Eine ungeheure Schwer-
mut, innere Leiden sympathetischer Art, alles, alles
konnte ich bezwingen — wenn ich produzieren durfte."
(Hint. Pap. 1849, S. 245; vgl. schon 1847, S. 148.)
Ohne diesen tiefen Drang zu Denk- und Phantasiearbeit
wäre er geistig zu Grunde gegangen.*) Es war ein
selbstständiges Element in seiner Natur, das unter
andern Verhältnissen sich in anderer Weise hätte ent-
wickeln können, als es so der Fall war. Dieses suchte
einen Abüuss, und dessen Richtung wurde durch das,
was sich sonst in seinem Sinne regte, bestimmt. Die
ganze schriftstellerische Thätigkeit war aber kaum von
Anfang an so klar und bestimmt, wie er später meinte,
*} Dies stätig wiederkehrende, rhythmische Spiel von Schwermut
nnd Denkbewegung ist in folgender Aufzeichnung aus dem Jahre
1843 geschildert: „Es ist sonderbar, wie streng ich in einer Hinsicht
erzogen wurde. Ab und zu werde ich in die düstre Höhle versetzt ; -
da krieche ich umher in Qual und Schmerz, sehe nichts, keinen Aus-
weg. Dann erwacht plötzlich ein Gedanke in meiner Seele, so leben-
dig, als hätte ich ihn zuvor nie gehabt, wiewohl er mir nicht fremd
ist, aber ich war ihm vorher gleichsam nur zur linken Hand ange-
traut, jetzt werde ich das zur rechten. Hat er sich nun in mir
festgesetzt, so werde ich etwas liebkost und auf die Arme genommen,
und ich, der wie eine Heuschrecke zusammengeschrumpft war, ich
lebe nr.n wieder auf, bin gesund und frisch, froh, blutwarm und
geschmeidig wie ein neugeborenes Kind. Dann muss ich gleichsam
mein Wort darauf geben, dass ich diesen Gedanken bis zur letzten
Konsequenz verfolgen will; ich setze mein Leben zum Pfand, und nun
schwellt der Wind die Segel. Anhalten kann ich nicht, und die
Kräfte halten aus. Dann werde ich fertig, und nun beginnt alles von
vorne." (1833—43, S. 417.)
46 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
in einer Richtung angelegt oder einem Ziele zugekehrt.
Es war von Anfang an weit mehr Unwillkürliches hei
ihm, als er bei seinem späteren Rückblick auf seine
Wirksamkeit einräumen wollte.
6. Blieben wir bei den bisher besprochenen Ele-
menten seines Wesens stehen, so dürften wir in ihm
nicht mehr (und damit freilich auch schon nichts Ge-
ringes) zu finden hofi^en, als eine Dichternatur und zu-
gleich vielleicht einen tüchtigen Psychologen. Sören
Kierkegaard hat in dieser Beziehung auch oft genug
vor sich selbst gewarnt. War es seine Ueberzeugung,
dass die Menschen, zumal in seiner Zeit, gar zu oft ein
blosses Gedanken- und Phantasieverhältnis zum Leber
.und zu des Lebens grossen Vorbildern mit einer wirk-
lichen Beziehung zu ihnen verwechseln, so kannte er,
wie wir schon wissen, diese Gefahr von sich selbst au.s.
Er kannte aber auch das Gegengewicht. Denn ebenso
bezeichnend für ihn, wie das hochgespannte Stimmungs-
leben, die unermüdliche Dialektik und die gegen alle
Gefühlsnüancen und Gedankenübergänge gefügige Phan-
tasie, war der energische, thatkräftige Wille, mit dem
er sich zu konzentrieren, die Elemente seines Wesens
zusammenzuhalten und alle Ströme seines reichen Innen-
lebens auf ein Ziel hinzuleiten suchte. Mit vollem
Rechte hat er geltend gemacht, dass er auf keiner
.Stufe bloss Dichter oder Denker gewesen sei. Schon
als 22j ähriger Jüngling schrieb er Folgendes in sein
Tagebuch: „Was ich eigentlich brauche, ist das, dass
ich mit mir selbst darüber ins Klare komme, was ich
thun soll. Nicht, was ich erkennen soll, ist für mich
die Frage — ausser sofern jedem Handeln ein Erken-
^nen vorausgehen muss — , vielmehr handelt es sich für
mich um das Verständnis meiner Bestimmung : dass ich
sehe, was die Gottheit eigentlich von mir will; es gilt,
eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist,
.die Idee zu finden, für die ich leben und
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 47
sterben will. Und was nützte mir liiezu, dass ich
eine sogenannte objektive Wahrheit ausfindig machte . . .
wenn sie für mich selbst und mein Leben iieine
tiefere Bedeutung hätte? . . . Was ich brauchte, wäre
das, dass ich ein volles menschliches Leben
führte anstatt eines blossen Erkenntnislebens, so
dass ich meine Gedankenentwicklungen nicht auf ein
sogenanntes Objektives basieren würde, — auf etwas,
das doch jedenfalls nicht mein eigen ist, sondern auf
etwas gründen würde, das mit den tiefsten Wurzeln
meines Daseins, wodurch ich sozusagen mit dem Gött-
lichen verwachsen bin, fest zusammenhängt, und ob auch
die ganze Welt in Trümmer stürzte. Sieh, dasbrauche
ich und danach strebe ich."*)
Der mächtige Drang zu denken ist also von Hause
aus ein Drang, existenziell zu denken, so zu
denken, dass die innerste Persönlichkeit dabei ist und
in ihrem Kern und ihrer Richtung dadurch bestimmt
wird. Er wollte so denken, wie er einmal ein Buch
(Görres' Athanasius) gelesen zu haben bekennt: „Mit
Leib und Seele, niit der Herzgrube." Aber dieser
Drang, alles in sich einem Ziele zuzuleiten, die geson-
derten, widerstrebenden Bestandteile in seinem Wesen
zur Einheit zusammenzufassen, hatte einen starken Wider-
stand zu überwinden. Und doch schien die zur Zeit
herrsehende Denkweise den Weg dazu gebahnt zu
haben. Die höhere Einheit, die Harmonie der Gegen-
sätze war ja die Losung der Zeit, und in seiner Um-
gebung hörte er jugendliche spekulative Virtuosen diese
Schlagworte in der vollen Ueberzeugung wiederholen,
dass sie ihnen Genüge thun könnten. Es galt ja zu
mediieren, die Mediation zu finden; in einem Entweder-
Oder, in einem Extrem oder einem unversöhnten
*) 1833-43, y. 45—47. — Der Sperrdruck rührt von Kierke-
gaard her.
48 II^> Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
gegensätzlichen Verhältnis stecken zu bleiben, war das
Zeichen eines schwachen Kopfes oder des bornierten Fest-
haltens an einem „überwundenen Standpunkte'^ Diese
Phrasen mochten Sören Kierkegaard um die Ohren
schwirren, wenn er von seinen einsamen Betrachtungen
oder von seinen inneren Kämpfen kam, die ihn genug-
sam lehrten, dass es sich hier nicht um eine Methode,
einen Kunstgriff handle, der ein für allemal gelernt
werden könnte, dass vielmehr die „Vermittlung", die
Versöhnung, wenn sie in der Wirklichkeit des Lebens,
nicht nur in phantastischer Abstraktion oder auf dem
Papier versucht werde, den angestrengtesten Willen^
die peinlichste Ausdauer fordere und eine Aufgabe sei,
die stets von neuem gelöst werden müsse. Allein —
wie er 1837 in sein Tagebuch schrieb — „es giebt
manche, die zu einem Lebensresultat kommen wie die
Schulbuben; sie hintergehen die Lehrer und schreiben
das Facit aus dem Rechenbuch ab, ohne selbst die
Aufgabe gerechnet zu haben. ^ (1833 — 43, S. llL) Kier-
kegaard war hier der strenge Revisor — vor allem bei
sich selbst. Er durchlebte die Elemente des Lebens
und lernte aus eigener Erfahrung, welch schwere Arbeit
es sein kann, aus ihnen eine Totalität herzustellen.
Ein oberflächlicher Aufputz verdeckt so oft das elende
Machwerk. Er erklärte denn der „höheren Einheit"
mit ihrem Sowohl — Als - auch den Kampf auf Tod und
Leben. Der Distinktion, der Disjunktion, dem Entweder-
Oder gab er einen Ehrenplatz, und der „Wiederholung''
wurde die Stelle der Mediation zugewiesen. ..Alles
Reden von einer höheren Einheit, die absolute Gegen-
sätze vereinigen soll, ist ein metaphysisches Attentat
auf die Ethik." (1844, S. 150.) Man setzt ohneweiteres
voraus, es sei alles in Ordnung und die Elemente fügen
sich wie von selbst zusammen, sodass kein besonderer
Anspannungsakt, kein neuer Einsatz notwendig oder
stets zu wiederholen sei. Oft rührt es aber auch davon
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 4&
her, dass man keinen wirkliclien Naturgrund in sieb
hat. Mit Beziehung auf sich selbst sagt er: „Ich sitze
und lausche den Tönen in meinem Innern, dem froherb
Locken der Musik und dem tiefen Ernste der Orgel;,
sie in einander zu verarbeiten ist eine Aufgabe nicht
fiir einen Komponisten, sondern für einen Menschen.
der in Ermangelung grösserer Anforderungen an das
Leben sich auf die einfache beschränkt, sich selbst
verstehen zu wollen. — Mediieren ist keine Kunst,,
wenn man keine Momente in sich hat." (1833—43, S. 418.)
Mit der Zeit wurden die Gegensätze für ihn stär-
ker und stärker, die Momente immer streitlustiger, ob-
gleich seine Kraft in gleichem Schritte damit wuchs,.
— oder vielleicht richtiger, weil seine Kraft wuchs :
denn wäre sie nicht gewachsen (ob auch zu krankhafter-
TJeberspannung), so hätte er so grosse Disharmonien,
nicht festhalten und mit ihnen operieren können. Aller
rationale und natürliche Zusammenhang im Leben wurde-
zuletzt für ihn gesprengt, und er verdammte endlich das-
natürliche Menschenleben überhaupt als in seiner inner-
sten Wurzel verpfuscht und verderbt.
Es ist nämlich wohl zu beachten und wird im Fol-
genden seinen näheren Nachweis finden, dass Sören
Kierkegaards Entrüstung und Polemik wohl zunächst
durch die romantisch-spekulative Abschwächung der
Gegensätze des Lebens veranlasst wurde, eine Ab-
schwächung, die besonders im Munde der Epigonen und
Nachschwätzer fad und oberflächlich wurde ; dass es;
aber doch nicht bloss eine derartige vorübergehende
Zeit und Moderichtung war, der er ans Leben gehen
wollte. Er zielte höher. Was er bekämpfen wollte,,
war eigentlich jede humane und natürliche Lebens-
anschauung und Lebensführung, der Glaube an des Le-
bens ungebrochene Kraft, an dessen Vermögen, auf
seinen eigenen, natürlichen Wegen die Probleme zu.
lösen, die seine eigene Entfaltung mit sich bringt. Ani
Hoff ding, S. Kierkegaard. 4
50 ^^^- Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
sich selbst ist ja die Idee von ,,der höheren Einheit"
auch nur ein modernisierter Ausdruck für die Harmonie,
die das griechische Denken auf seine Weise suchte und
fand und der jedes menschliche Denken immer wieder
nachgehen muss, von so grosser Bedeutung für den
Reichtum und die Tiefe des Lebens es auch ist, dass
die Gegensätze nicht abgeschwächt werden, und dass
man nicht zu früh und auf unsicherem Grunde der
,, Mediation" Feste feiert.
Kierkegaard wurde sich auch stets klarer bewusst,
gegen welche Macht er eigentlich kämpfte. Als die Zeit
des „Systems" dahin war, war sein Kampf nicht zu Ende.
Er sah klar, dass die naturwissenschaftliche Welt-
anschauung auf ihrem naturalistischen Wege dieselbe
Kontinuität und denselben inneren Zusammenhang im
Leben festhalten wollte, den die spekulative Auffassung
auf ihrem idealistischen Wege gefunden haben wollte.
Es war derselbe Feind in neuer Gestalt. — Doch war
es Schade, dass Kierkegaard keine grösseren Repräsen-
tanten des Humanismus als die spekulativen Epigonen
gegenüberstanden. Er hatte nicht Widerstand genug
zu überwinden. Sein Werk wurde daher nicht so be-
deutungsvoll, wie es sonst hätte werden können. —
Die höhere Einheit war nach Kierkegaard nicht
bloss deshalb so schwer zu erreichen, weil es scharfe
Gegensätze, widerstrebende Momente zu überwinden
giebt, sondern auch weil alle menschliche Existenz im
Werden ist. Existenz bedeutet nach seiner Definition
ausdrücklich, dass man in derZeit ist, und auf dieses
letztere legt er (wie wir bei seiner Erkenntnislehre
ausführlicher zeigen werden) ein sehr grosses Gewicht.
Solange wir in der Zeit sind, stehen wir stets neuen
Möglichkeiten und neuen Aufgaben gegenüber, deren
Lösung problematisch ist. All unser Wissen und unsere
Harmonie ist darauf gegründet, dass wir hinterdrein
klug sind. „Das Leben muss r ü c k w ä r t s verstanden
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 51
werden. Dagegen muss man . . . — vorwärts
leben. Ein Satz^, der, jemehr er durchdacht wird,
gerade damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit
nie recht verständlich wird, weil ich ja keinen Augenblick
volle Ruhe gewinnen kann, um die Stellung des Rück-
schauers einzunehmen." (1843, S. 441.) — Jedes ge-
wonnene Resultat muss aufs neue als Einsatz gewagt,
•aufs neue debattiert werden, um unter der stätigen
Entwicklung und der stätigen Arbeit womöglich aufs
neue gewonnen zu w-erden. Hier zeigt sich der Begriff
der Wiederholung in seiner Bedeutung für Kierke-
gaards Denken. Er hängt mit seiner Betonung der
Wirklichkeit, der Existenz als des Seins in der Zeit
■enge zusammen. Was in der Vergangenheit gewonnen
wurde, hat in der Zukunft nur einen möglichen Wert.
Eis gilt eine Umsetzung dieser Möglichkeit in die
Wirklichkeit; jede derartige Umsetzung ist aber eine
Wiederholung, da ja das zu Verwirklichende für die
Vorstellung, ak Möglichkeit, zum voraus existierte. (Auf
den BegriiF der Wiederholung werden wir bei Kierke-
gaards Etliik zurückkommen). — ^^_
7. Noch ist das Verhältnis der dichterischen Be-^J
.gabung Sören Kierkegaards zu seiner Begabung als
Denker zu berühren. Diese zwei Seiten in seiner Na-
tur arbeiten stets zusammen. Dadurch wird ihm ein
besonderer Platz in der Litteratur angewiesen, ausser-
halb der gewöhnlichen Rubriken, Einesteils hätte er
vielleicht grössere Wirkung erzielt, wenn er hätte
Dichterwerke geben können, die kein Verständnis pliilo-
-sophischer Gedanken forderten, und theoretische Werke
mit weniger Parenthesen, Ausmalungen und Bildern.
Viele, die eine Dichtung für sich gemessen möchten
oder reinem und strengem Denken folgen wollen, gehen
nun an ihm vorüber. Allein das innige Zusammenwirken
seines Dichtens und Denkens kam von der innigen
Verbindung des einen wie des andern mit seiner eigenen,
4*
^
52 m* Sören Kierkegaards Persöalichkeit.
innersten Natur. Sie arbeiten beide im Dienste seiner-
Persönlichkeit. Sein Drang zum Denken war ein Drang,
im Zusammenhang mit Lebenserfahrungen and Stim-
mungen zu denken ; daher bedurfte er stets konkreter
Situationen und Beispiele. Und die Stimmung, die stets
mit dabei ist, erlaubt sich dann ihre kleinen Ausflüge,
hat ihre Nebenwirkungen, zu deren Entfaltung und
Klärung die allezeit willige und blitzschnelle Phantasie-
ihren Beistand leiht. Daher die reiche Fülle von Poesie,
wie sie uns in kurzen Wendungen und Ausdrücken, oder
in parenthetischen Expektorationen oder in ausmalenden
Bildern überall in seinen Schriften entgegentritt.
„Mein Denken'', sagt er selbst (1848, S. 147), „ist
präsentisch; ich habe soviel Phantasie als Dialektik."
Dass er sich nicht in Abstraktionen verlor, die dem
Leben und der Gegenwart ferne stehen, bringt er hier
treffend in Verbindung damit, dass bei ihm Phantasie
und Denken zusammenarbeiten. Da uns wirkliche Er-
fahrung selten oder nie einen Charakter, eine Leiden-
schaft oder einen Seelenzustand in voller und durchge-
führter Konsequenz darstellt, so nimmt er die Phantasie
zu Hilfe und konstruiert — durch ein Denkexperiment,
das sich streng an die entscheidenden Begriffsbestim-
mungen hält, die eingeübt werden sollen, — Gestalten
und Situationen zur Veranschaulichung und Vergegen-
wärtigung der geistigen Verhältnisse vind Probleme, mit
denen er sich beschäftigt. Seine berühmtesten Werke:.
„Entweder-Oder", „Stadien auf dem Lebenswege, „die
Wiederholung^, sind solche „Versuche in experimentie-
render Psychologie". — Doch glaube ich, dass auch in
dieser Beziehung mehr Unwillkürliches und weniger
systematische Anlage in seiner schriftstellerischen Wirk-
samkeit ist, als er .sich oft den Anschein giebt. Die
Bilder haben .sich sicher her vorgedrängt, ehe er sie
brauchte, und er hat — jedenfalls sehr oft — erst hin-
tennach gesehen, wozu sie verwendet werden konnten.
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 53
Und WO die konstruierende Absichtlichkeit stärker ein-
gegriffen hat, da geschah es nicht selten auf Kosten
des dichterischen und (wie wir in einem späteren Ab-
schnitt zeigen werden) des philosophischen Gehalts
seiner Produkte.
Kierkegaard legt grossen Wert darauf, dass man
sich seihst durch Möglichkeiten prüfe, da die Wirklich-
keit des Lebens zur Erziehung des Charakters nicht
hinreiche.*) Es ist aber bezeichnend für ihn, dass er
nur eine Misslichkeit an dieser Methode der Möglich-
keiten hervorhebt, nämlich die, dass man sich leicht
grössere Tüchtigkeit erschleichen kann, als man wirk-
lich besitzt. ,,In der Möglichkeit kann man schwer sich
selbst prüfen; es ist wie wenn einer, ohne die Stimme
zu brauchen, probieren wollte, ob er eine starke Stimme
habe. Ich habe seither vergeblich ein Mittel ausfindig
zu machen gesucht, sich selbst in der Möglichkeit zu kon-
trollieren".**) Dagegen übersieht er die andere denkbare
Misslichkeit : dass die konstruierten Möglichkeiten so
trübe und abnorm seien, dass man Kraft und Mut
jzu einem Kampf mit Schatten verbrauchte, ohne dass
einen das Leben in der Welt der Möglichkeiten
*) „Erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach
«einer Unendlichkeit gebildet . . . Die Endlichkeit und die endlichen
Verhältnisse, in welchen einem Individaum sein Platz angewiesen ist,
mögen sie nun klein und alltäglich sein oder welthistorisch wichtig,
bilden nur endlich, und man kann sie allezeit betragen, allezeit
etwas anderes aus ihnen machen, allezeit etwas abfeilschen, allezeit
ihnen irgendwie entschlüpfen, allezeit sie sich etwas vom Leib halten,
allezeit verhindern, dass man absolut von ihnen lerne." (Begriff der
Angst S. 157f. [165f.]) — Hält man diese Aeusserung mit der oben
im Text genannten aus den „Stadien" zusammen, so ergiebt sich,
dass weder Möglichkeit noch Wirklichkeit den erziehen können, der
sich selbst betrügen will. Keine der beiden Methoden hat einen
absoluten Vorzug, An und für sich aber liegt in Kierkegaards Betonung
der Möglickeiten etwas sehr Treffendes (vergl. meine EthikS. 127 — 133).
**) Stadien auf dem Lebenswege, S. 298 [271,].
54 IIL Sören Kierkegaards Persönlichkeit.
für den Kampf mit der Wirklichkeit fähiger machte.
Sodann kann man mit der Wirklichkeit mitunter doch
fertig werden ; allein die Möglichkeit ist wie ein Schat-
ten oder Nebel, der sich immer wieder bildet, so oft er
auch zerhauen wurde. Der Kampf mit den Möglich-
keiten wird daher leicht zu einem Schöpfen in das Fass
der Danaiden. Kierkegaard hat hier weit mehr, als er
wünschte und wollte, als Romantiker gewirkt. Er hat
manchen eine eingebildete Welt vorgezaubert, die
der wirklichen alle Kraft und allen Saft auszog. Für
nicht wenige sind seine Schriften gleich der Höhle des-
Löwen gewesen, in die alle Spuren hineinführten, aber
keine wieder heraus. Andere haben sich durch einen
resoluten „Ruck der Entscheidung", den er in anderem
Zusammenhang selbst empfiehlt, gewaltsam von seiner
Welt der Möglichkeiten losreissen müssen.
So gross war sein Eifer für persönliche Wahrheit^
dass er ausdrücklich konstatiert haben wollte, diese
Gedankenexperimente decken sich nicht mit seiner eige-
nen Anschauung. Daher dichtete er nicht bloss Charak-
tere und Situationen, sondern auch Verfasser. Die
Pseudonymen Verfasser, denen die meisten seiner
Schriften zugeschrieben werden, bilden einen ganzen
Kreis von Individualitäten, die auf verschiedenem
Standpunkte stehen. Eben sein Streben, ,,existenziell
zu denken", führt ihn zu diesen Pseudonymen. Mit wel-
cher Virtuosität er sich so psychologisch-dichterisch
in allerlei mögliche Schriftstellerindividualitäteu hinein-
zuversetzen wusste, kann man aus dem Schriftchen
„Vorworte" ersehen, das eine Sammlung von Vor-
reden zu verschiedenen fingierten Schriften fingierter
Verfasser ist.
Sein Denken ist aber nicht bloss präsent, an an-
schauliche Verhältnisse und Situationen gebunden ; es
ist auch, was übrigens eng damit zusammenhängt, sub-
jektiv, d.h. ein Denken, wie es aus dem persilnlichen
III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 55
Leben, der Lebensanschauung und Lebensführung des
einzelnen Individuums, dem praktischen Verhalten in
den Verhältnissen und Möglichkeiten des Lebens, her-
vorgeht und in ihm verbraucht wird. Solch ein sub-
jektives Denken ist mit Leidenschaft verbunden; denn
zu existieren ist ein ungeheurer Widerspruch. Der
subjektive Denker darf sich nicht in Abstraktion über
die Existenz hinwegschwingen ; seine Aufgabe ist vielmehr,
dass er das Abstrakte und Allgemeine konkret verstehe,
worin er doch als dieser einzelne Mensch existiert.
In der Phantasie oder auf dem Katheder kann einer
leicht das Ideal sein; dagegen ist es eine äusserst an-
strengende Lebensaufgabe, als Idealist existieren zu
sollen. Der subjektive Denker ist Künstler, nicht Mann
der Wissenschaft; denn sein Denken geht Hand in
Hand mit seinem Willen.*) — Als solche subjektiven
Denker bewunderte Kierkegaard besonders Sokrates und
Lessing, auch Jakobi und Hamann. Seine Doktordisser-
tation handelte von Sokrates.**) Sokrates und Lessing
hat er glänzend, aber auch höchst einseitig charakteri-
siert; namentlich hat er sie sicher ,, subjektiver" ge-
macht, als sie in der Wirklichkeit waren.
Kierkegaard hat mit seiner Forderung subjektiven
Denkens eine wichtige Idee aufgestellt. Sie enthält
nicht nur die Mahnung, die Wege der spekulativen
Abstraktion zu verlassen und zur kritischen Besinnung
über die Voraussetzungen und Schranken zurückzugehen,
innerhalb deren unser Denken zu arbeiten hat. Sie ver-
anlasst ihn vielmehr auch, eine psychologische und
ethische Einleitung zu einer Lebensanschauung oder
eine Theorie von der Kunst der Lebensanschauung zu
geben. Sören Kierkegaards Philosophie ist eine solche
*) Ueber Aufgabe und Stil des subjektiven Denkers vergl.
„Nachschrift" S. 267ff.
**) „Ueber den Begriff der Ironie mit besonderer Rücksicht auf
Sokrates." 1841.
■^
56 ni, Sören Kierkegaards Persöulichkeit.
Theorie. Sie will wohl vor allem die christliche Le-
bensanschauung beleuchten, ist aber in einer Weise an-
gelegt und durchgeführt, dass sie für jede Lebens-
anschauung Bedeutung gewinnen kann. —
Sören Kierkegaards schriftstellerische Wirksamkeit
2;erfällt wesentlich in zwei Perioden. In der ersten
(1843 — 46) ist er beschäftigt mit dem Kampfe gegen
die spekulativ-ästhetische Verflüchtigung der Existenz
mit dem Nachweis der Gegensätze, Uebergangs-
verhältnisse und Bedingungen auf dem Gebiete der
Lebensanschauungen. Er giebt hier eine Art ver-
gleichende Lebensphilosophie. In der zweiten Periode
(1849 — 55) führt er seinen grossen Kampf gegen die
abschwächende Auffassung und Behandlung des Christen-
tums durch die Kirche. Auch diese letzte Periode hat
philosophische Bedeutung, da Kierkegaard hier seine
letzten Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses
zwischen Religion und Humanität zieht. —
Bei der Charakteristik der ersten Periode können
natürlich doch ab und zu sehr wohl Aeusserungen aus
späterer Zeit benutzt werden, wenn sie nur Gedanken
zum AvTsdruck bringen, die bereits in früherer Zeit
entwickelt waren.
IV.
Sören Kierkegaards Philosophie.
Die Aufgabe, die sich Kierkegaard als Denker
:stellte, war nach seiner eigenen Aussage die : Schwierig-
keiten zu machen. Heutzutage, meint er, werde alles
nur immer leichter gemacht. In der äusseren Welt
erleichtern Eisenbahnen und Telegraphen das Zusammen-
kommen und den Verkehr ; und in der Welt des Geistes
stellte man die Versöhnung aller Gegensätze, die har-
monische Einheit aller widerstrebenden Elemente in
Aussicht. So setzte er sich denn vor, wieder etwas
schwierig zu machen ; — sonst müsste ja auch denen,
die alles leicht machen wollten, zuletzt der StoiF aus-
gehen. („Nachschrift" S. 137.)
Von den heimischen Denkern, die ihn während
seiner Entwicklung beeinflussten, ist bereits im Vorher-
gehenden die Rede gewesen. Hier sei nur erwähnt, dass
besonders Martensens Vorlesungen über spekulative
Philosophie seine Kritik herausforderten. Schon in seiner
Dissertation über Sokrates fanden sich Andeutungen einer
mehr kritischen, subjektiven und existenziellen Auf-
fassung des Denkens, sowie Zweifel an der möglichen
Herstellung eines so glatten und kontinuierlichen Zu-
sammenhangs unserer Erkenntnis, wie ihn die spekulative
Philosophie erreicht zu haben glaubte. Als Schelling im
Jahre 1841 seine Aufsehen erregenden Vorlesungen
laegann, in denen er Hegels Philosophie durch eine neue,
höhere und positivere ersetzen wollte, da war Kierke-
gaard unter den vielen, die von überall her nach Berlin
eilten, um die neue Weisheit kennen zu lernen. Anfangs
schienen seine Erwartungen, mit denen er gekommen
58 IV. Suren Kierkegaards Philosophie.
war, sich erfüllen zu wollen. Er schrieb in sein Tage-
buch: „Ich bin so froh, so unbeschreiblich froh, Schellings
zweite Vorlesung gehört zu haben. So habe ich denn
lange genug geseufzt, und die Gedanken haben in mir
lange genug geseufzt; wie er das Wort "Wirklichkeit
aussprach, „„Verhältnis der Philosophie zur Wirklich-
keit^'", da hüpfte die Frucht des Gedankens vor Freude in
mir, wie in Elisabet. Ich erinnere mich fast jedes Wortes,
das er von diesem Augenblick an sagte. Hier giebt's
vielleicht Klarheit. Dieses einzige Wort, es erinnerte
mich an alle meine philosophischen Leiden und Qualen".
(1833—43, S. 297.) Die erwartete grössere Klarheit blieb
aus ; denn etliche Monate darauf schrieb Kierkegaard
an seinen Bruder : „Lieber Peter, Schelling ist ein ganz
erschrecklicher Schwätzer", und er reiste noch vor
Schluss der Vorlesungen heim. Doch wurde jene Regung
der Frucht des Gedankens der Beginn seines folgenden
Gedankenlebens. Schelling betonte nämlich sehr .stark,
dass die spekulative Philosophie nicht über das Mögliche
und das Abstrakte, Allgemeine hinauskommen könne,
und dass die Beziehung zur absoluten Wirklichkeit,
besonders wie der religiöse Glaube sie auffasse, nur
durch einen der Sehnsucht und dem praktischen, per-
sönlichen Bedürfnis entspringenden Willensakt (also
nach Kierkegaards späterem Ausdruck : durch einen
Sprung) gesetzt werden könne. Der Gegensatz zwischen
dem Denken und der Existenz, zwischen dem Allgemeinen
und dem Einzelnen, und die Unmöglichkeit eines stä-
tigen Uebergangs von einem zum andern befestigte sich
hier für Kierkegaard so, dass er ihn nicht wieder ver-
gass. Mit Recht wurde er durch die willkürliche und
phantastische Weise abgestossen, wie Schelling weiter-
philosophierte, nachdem er jenen Bruch mit der Kon-
tinuität des Denkens festgestellt hatte ; und die einzelnen
genialen Gedankenblitze, von denen seine Phantastereien
hin und wieder unterbrochen wurden, konnten ihn nicht
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 59*
blenden. Ancli hätte ihn Schellings Endresultat kaum
angesprochen : der Versuch einer Heilung des Bruchs
durch Aufzeigung eines neuen Zusammenhangs und die
Verheissung einer künftigen Religion, eines „dritten
Reiches" (worauf schon früher Lessing hingewiesen hat
und heutzutage wieder Henrik Ibsen) — einer neuen
Religion, zu der das Christentum nur eine Einleitung
sein sollte und die in ihrer höheren Form über den
Gegensatz zwischen Mythologie und Offenbarung durch
freies religiöses Selbstverständnis hinausführen sollte.
Kierkegaard blieb bei dem von Schelling nachgewiesenen
Bruche stehen. Man kann in seinen philosophischen-
Schriften (besonders im „Begriff der Angst") Schellings
Einfluss, zum Teil auch dessen Terminologie, deutliche
erkennen.
Ein jüngerer deutscher Philosoph, dem Kierkegaard
viel verdankt, ist Adolf Trendelenburg. Während
seines erwähnten Aufenthalts in Berlin vrar er von-
Schelling und den Hegelianern so hingenommen, dass
er zu seinem späteren Bedauern nicht dazu kam, Tren--
delenburg zu hören. Dieser war der erste, der eine
erkenntnistheoretische Kritik der spekulativen Methode
gab und in seinen ,, logischen Untersuchungen" (1840) eine
mehr kritische Erkenntnislehre entwickelte, die nicht
geringen Einfluss auf Kierkegaards Gedankengang aus-
übte. Kierkegaard spricht in der „ Unwissenschaftlichen
Nachschrift" (S. 96) von Trendelenburg als „einem
Manne, der gesund denkt und vom griechischen Geiste-
günstig beeinliusst ist", und in seinen hinterlassenen
Papieren (1847, S. 22) sagt er sogar: „Es giebt doch
keinen Philosophen der Neuzeit, von dem ich soviel
Förderung gehabt habe, wie von Trendelenburg."
Soviel er aber auch andern verdanken mochte, so
lag doch der wesentliche Grund seiner Philosophie in-
seiner eigenen Persönlichkeit und der ursprünglichen.
Natur und Richtung seines Denkens. Durch einsame-
ißO IV« Sören Kierkegaards Philosophie.
JTorschung und Reflexion entwickelten sicli seine Ge-
danken bald zur vollkommenen Keife. Nach seiner
Heimkehr von Berlin lebte er seinen Studien und sei-
ner ausserordentlich fruchtbaren schriftstellerischen
Thätigkeit, die nur durch Spazierfahrten, durch Aus-
flüge nach den Wäldern Nordseelands und einmal durch
eine zweite Reise nach Berlin unterbrochen wurde.
Durch sein Umherschlendern auf den Strassen und
•brassen wurde er bald eine bekannte Kopenhagener Fi-
gur, wie Sokrates es in Athen war, und er fand auch
.seinen Aristophanes. Bewegung war ihm gesundheits-
halber Bedürfnis. Es brachte ihm aber auch eine Lin-
derung seiner Schwermut und Trauer, mit dem gemei-
•nen Mann aus dem Volk zu reden, sich in seine Verhält-
nisse hineinzuversetzen und Hilfe und Trost zu bringen.
.Sodann war es für ihn als Psychologen wie als Schrift-
steller lehrreich, das einfache Volk zu hören, wie es
sich gegen seinesgleichen ausspricht : ,, Worüber man
vergeblich in Büchern Aufklärung suchte, darüber be-
kommt man plötzlich Licht, wenn man ein Dienstmäd-
chen mit dem andern reden hört; einen Ausdruck, den
man vergeblich seinem eigenen Hirn auspressen wollte,
in Wörterbüchern, selbst in der Gesellschaft Gelehrter
vergeblich gesucht hat, bekommt man im A^orbeigehen
aus dem Munde eines gemeinen Soldaten zu hören, der
nicht einmal weiss, wie reich er ist. Und wie einer,
►der in dem grossen Wald geht, mit Staunen über dem
Ganzen bald einen Zweig, bald ein Blatt sich bricht,
dann wieder einem Vogelschrei lauscht, so geht es
einem, wenn man sich unter die Menge mischt : da sieht
man jetzt eine Aeusserung eines Seelenzustandes, dann
wieder eine andere, man lernt und wird nur immer
noch lernbegieriger. So lässt man sich nicht von Bü-
chern betrügen, als käme das Menschliche so selten vor;
so wendet man sich auch nicht an die Zeitungen: das
Beste an der Aeusserung, das Liebenswürdigste, der
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 611
psychologische kleine Zug wird docli manchmal nicht
wiedergegeben".*) — - Wie das Willkürliche immer erst
nach dem Unwillkürlichen kommt, so fasste er auch
erst später diese Gänge auf den Strassen und Gassen
als ein taktisches Mittel auf: er habe den Eindruck
seiner Person abschwächen wollen, damit seine religiöse •
Schriftstellerei, die seine eigentliche Aufgabe gebildet
habe, nur durch ihre wirkliche eigene Kraft habe wirken
können. Die Technik der indirekten Mitteilung habe
das so verlangt! Wir brauchen uns auf diese Künstelei
hier nicht näher einzulassen. Ich wollte nur seine-
Lebensverhältnisse in der Zeit seiner eigentlichen phi-
losophischen Schriftstellerei (1843 — 46) etwas veran-
schaulichen.
A. Sören Kierkegaards Erkenntnistheorie.
1. Wenn Kierkegaard die Frage erörtert, welche
Erkenntnis ein existierender Mensch gewinnen könne,
so denkt er nicht an alle mögliche Erkenntnis, sondern
nur an die von ihm so genannte ,,w es ent liehe" Er-
kenntnis, d.h. an die Erkenntnis, die sich wesentlich
auf das erkennende Individuum selbst in seinen Exi-
stenzverhältnissen bezieht, an die ethisch-religiöse Er-
kenntnis, Alles andere Wissen — das empirische,
mathematische und historische Wissen — ist ihm gleich-
gültig, weil es mit der Existenz nichts zu thun hat,
(,, Nachschrift" S. 176.) Schon hier macht er eine sehr
wesentliche Unterscheidung und bringt ein Entweder —
Oder an. Denn es ist doch sehr fraglich, ob nicht
vieles von jenem angeblich gleichgültigen Wissen ein-
greifende Bedeutung für die ethisch-religiöse Erkennt-
nis hat und gehabt hat. Wenn diese nicht zu aller
Zeit dieselbe ist, so rührt dies teilweise von jenem
*) Stadien anf dem Lebenswege, S. [458].
•^2 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
scheinbar „gleichgültigen" Wissen her, das auch auf
die Gebiete des geistigen Lebens, die man ihm ver-
schliessen möchte, bewussten oder unbewussten Einfluss
hat.*) Kierkegaard jedoch nimmt die Richtigkeit jener
Unterscheidung ein für allemal als gegeben an und
•steckt sich damit die Grenze für seine Untersuchung ab.
2. Der Gedankengang in Kierkegaards Erkenntnis-
theorie richtet sich polemisch gegen Hegel und die
andern, die (wie Martensen) meinten, wenn man sich
•nur auf den Grund des Glaubens stelle und ein wieder-
geborenes Bewusstsein bekommen habe, so habe man
auch die Bedingungen für eine höhere, zuvor unerreich-
bare Erkenntnis erhalten. Hegel gegenüber wird
bemerkt, dass er auf Kants Einwendungen gegen eine
Erkenntnis der absoluten Wirklichkeit eigentlich gar
nicht geantwortet habe. Das Denken kann die Wirklich-
keit nicht erreichen : denn sowie es dieselbe erreicht
,haben wollte, hat es sie in ge dachte Wirklichkeit oder
in Möglichkeit umgesetzt; das Denken kann über sich
selbst nicht hinauskommen. Gegen die spekulative Theo-
logie aber wird bemerkt, der Glaube habe kein Interesse,
sich selbst auf andere Weise als durcli stätes Verbleiben
in der Leidenschaft des Glaubens zu verstehen. Man_
könne vom Höchsten in der Welt nur als glücklich oder
unglücklich Verliebter ein Bewusstsein haben ; wer mit
spekulativem Vorwitz auftrete, bekomme in Wirklichkeit
nichts zu erfahren. Nehme man die Leidenschaft hinweg,
*) Von der entgegengesetzten Seite aas kritisierte Bröchner
(Glauben und Wissen, Kopenh. 1868, S. 219) die genannte Kierke-
gaard'sche Unterscheidung, indem er zeigte, dass der Widersprach,
der durch das Paradox sich in der „wesentlichen" Erkenntnis geltend
macht, wegen des Zusammenhangs im bewassten Leben auch die
„unwesentliche'' Erkenntnis beeintlussen muss, so dass Kierkegaard in
Wirklichkeit dieser nicht einmal die für sie geltendgemachte relative
'Gültigkeit zuschreiben kann. — Es ist im Grund auch eine Inkon-
sequenz, dass Kierkegaard der „unwesentlichen" Erkenntnis über-
haupt irgendeinen Wert beimisst.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 63
die von der Ungewissheit als einem heilsamen Zucht-
meister stets neu erweckt werde, so sei eben damit auch
der Glaube dahin. Der Existierende sei stets im Werden,
und die Zeit sei nie abgeschlossen; daher könne nie..
volle G-ewissheit erreicht werden, und unser Wissen
könne über Annäherungen und Vermutungen nie hinaus-
kommen,' womit wir auf den Gebieten der unwesentlichen
Erkenntnis uns anch gar wohl begnügen lassen können.
Solle aber das Ewige und Unbedingte ergriffen und
festgehalten werden, so sei dies, weil der Abschluss
nicht gewonnen werden könne, nur in Leidenschaft
möglich. Es sei nur verwerfliche Bequemlichkeit oder
Ungeduld, wenn man etwas Fertiges und Abgeschlossenes
haben zu müssen glaube. Ueber das ewige Streben nach
Wahrheit kommen wir nicht hinaus. — Kierkegaard
nimmt mit Begeisterung Lessings berühmtes Wort auf:
wenn Gott in der Rechten alle Wahrheit und in der
Linken das stets lebende Streben nach Wahrheit hielte,
so würde er ihm in die Linke fallen, da die ewige
Wahrheit nicht für ein endliches Wesen sei. Doch ist
Lessings Begründung dieser seiner Wahl eine etwas
andere als die Kierkegaards. Lessing geht davon aus,fH
dass nicht der Besitz, sondern nur das Erwerben dem
Menschen Wert giebt, indem durch das Suchen seine
Kräfte sich erweitern und er so an Vollkommenheit
wächst. Dies ist eine mehr positive und psychologische
Begründung als die, welche wir im Folgenden bei Kierke-
gaard finden werden ; dieser ist zu sehr Asket und zu
sehr mit der Vorbereitung seiner Lehre vom Paradox
beschäftigt, um Lessing auf seinem natürlichen Wege
zu folgen.
Die genauere Entwicklung von Kierkegaards Erkennt-
nistheorie wird durch die Begründung der zwei Sätze
gegeben: dass ein logisches System gegeben werden
könne, ein_ System des Daseins aber nicht gegeben
werden könne.
^
Q4 ^V. Sören Kierkegaards Philosophie.
3. Ein logisches System kann gegeben«
werden. Wir können eine znsammenhängende Reihe
allgemeiner Bestimmungen entwickeln, die für unser
Denken Gültigkeit haben. Hier muss man sich aber
hüten, von der Wirklichkeit hergenommene Begriffe
einzuschmuggeln. Das logische System ist eine Hypo-
these, deren Grültigkeit für die Wirklichkeit fraglich
ist. Und es ist besonders zu untersuchen, ob wir diese
Hypothese bilden, nachdem wir die Wirklichkeit durch
Erfahrung kennen gelernt haben, also als eine Art
Abbreviatur für diese, oder ob wir sie unabhängig von
der Erfahrung bilden, — Kierkegaard äussert den
Wunsch, diese letzte Frage bei einer andern Gelegen-
heit ausführlicher zu behandeln ; was er jedoch nie
gethan hat. Es ist, wie man leicht sieht, die Frage, ob
die empirische oder die rationalistische Auffassung der
Grundvoraussetzungen des Denkens die richtige sei.
Eine besondere Schwierigkeit bei Aufstellung des
logischen Systems liegt für Kierkegaard darin, wie man
dazu kommen könne, mit ihm zu beginnen, d. h. irgendwo'
als an einem Ausgangspunkte einzusetzen. Denn die
einfachsten Voraussetzungen entdecken wir ja erst durch
Reflexionen, indem wir von den abgeleiteten Annahmen
zu Annahmen zurückgehen, worauf sie sich gründen —
wann sind wir aber weit genug zurückgegangen? und
wie können wir die Reflexion zum Stillstand bringen?
Diese hat ja auf dem einen Punkte so wenig Grund Halt
zu machen, wie auf dem andern, und wird also, sich selbst
überlassen, ins Unendliche fortgehen. Oder wie man
auch sagen kann : Der Zweifel kann sich nicht selbst
zum Stehen bringen. Es muss zu einem Bruch, zu einem
gewollten Abbrechen kommen. Man muss einen Ent-
schluss fassen, die rückwärtsgehende Gedankenreihe
abzubrechen, und den Punkt, bis zu dem man gekommen
ist, als Prinzip und Ausgangspunkt für das System
festsetzen. Was wird dann aber aus der Voraus-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 65
setzungslosigkeit ? Denn dass man mit dem logischen
System beginnt, wird ja so darch etwas Nichtlogische^
bewirkt, durch das, was mich zum Beschluss bewegt.
,,Wie, wenn wir so, anstatt des Geredes oder
Träumens von einem absoluten Anfang, von einem Sprung
redeten?" („Nachschrift" S. 100.)
— Gegenüber dem Hegeischen absoluten Gedanken-
system, das sich wie ein Zirkel ganz in sich selbst
abschloss, ist diese Beweisführung Kierkegaards schla-
gend. Vergleicht man sie mit der oberflächlichen
Katechismusrede, mit der Martensen ,,über Hegel
hinausging", so hat man den Unterschied zwischen den
beiden Denkern an einem einzelnen Beispiele klar vor
Augen. ■ — Doch ist es eine Frage, ob das Anfangen
hier mit einer so grossen Schwierigkeit behaftet ist^
wie Kierkegaard meint. Wir finden allerdings unsere
letzten Voraussetzungen durch E-eflexion oder, wie
Cartesius es nennt, durch Zweifeln, oder, wie man gewiss
am allerbesten sich ausdrückt, durch Analyse. Allein
in unserem Suchen nach Voraussetzungen haben wir
stets eine bestimmte Aufgabe vor Augen, die mit Hilfe
der gesuchten Voraussetzungen gelöst werden soll. Die-
Aufgabe ist, dass wir zum Verständnis des in der Er-
fahrung gegebenen Daseins oder eines Teils davon
gelangen. Wir haben daher einen bestimmten Massstab,
wie weit wir zu gehen brauchen — soweit nämlich,
bis wir gefunden haben, was zur Lösung jener Aufgabe
nötig ist. Können wir noch weiter gehen, so entdecken
wir noch fernerliegende Voraussetzungen, die sich mit
derselben logischen Notwendigkeit, wie die erstgefun-
denen darbieten ; vorläufig aber werden wir von diesen
Voraussetzungen keinen Gebrauch machen. Fortschrei-
tende Erfahrung kann vielleicht dazu führen, dass wir
auch sie verwenden. — Es ist also nicht die Willkür,
die den Anfang der Logik bestimmt, und ihre ersterL
Grundsätze haben mehr als rein arbiträre Giltigkeit.
Hoff ding, S. Kierkegaard. B
€6 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
4. Ein System des Daseins aber kann
nicht gegeben werden. Dies kommt fürs erste
davon her, dass alle Existenz, weil in der Zeit, nie ab-
geschlossen ist. Sowohl das Existierende, das erkannt
wird, als das Existierende, das erkennt, sind in der
Zeit^ iin Werden. Besonders das Letztere darf nicht
vergessen werden. Die spekulative Philosophie, die alles
zu. erklären wähnte, hat vergessen, dass der Urheber
des Systems, so unbedeutend er auch sein mag (,,so
«ine wirkliche Bagatelle, wie der existierende Herr
Professor, der das System schreibt"), selbst doch auch
mit zu dem Dasein gehört, das erklärt werden soll, und
dass er ja mit seiner Existenz nie fertig ist. An
das System könnte man erst denken, wenn man auf die
abgeschlossene Existenz zurückblicken könnte — das
würde aber voraussetzen, dass man nicht mehr existierte !
Wie wir schon gehört haben, lebt man das Leben vor-
wärts, versteht es aber rückwärts. — Und selbst das
nachträgliche Verständnis von rückwärts, die Einsicht
in die Notwendigkeit der Entwicklung in der Ver-
gangenheit, dürfte auf einer Illusion beruhen: denn
wie kann, was als zukünftig nur möglich ist, dadurch,
dass es zur Vergangenheit gehört, notwendig werden?
Sollte das Vergangene notwendiger sein, als das Zu-
künftige? Wir verstehen ja doch die Vergangenheit
erst recht, wenn wir uns in sie als Zeitgenossen des
Geschehenen hineindenken — dann sehen wir sie ja
^ber als werdend, nicht abgeschlossen, also noch grossen-
teils bloss möglich! („Philosophische Bissen" S. 236 ff.)
Für den Existierenden sind ausserdem Denken und
Sein nicht eins, sondern zwei gesonderte Dinge. Wir
denken entweder rückwärts an das, was gewesen ist,
oder vorwärts an das, was kommen wird. Gleichzeitig-
keit, absolute Einheit des Denkens und des Seins ist
für ein existierendes Wesen unmöglich und existiert nur
als Phantasterei. In unser Denken kann keine Konti-
IV, Sören Kierkegaards Philosophie. 67
aiuität kommen, da dieses stets von der Aufgabe in der
Existenz unterbroclien wird. Jegliche Einheit und
Kontinuität ist nur Abstraktion.
Und endlich : nur das Einzelne, Konkrete existiert ;
■existieren heisst etwas Einzelnes sein. Gegenstand des
Denkens ist aber nur das Allgemeine und Abstrakte.
Auch liierin liegt ein Missverhältnis zwischen Denken
und Existenz.
Dass ein System des Daseins von unserem Denken
sich nicht bilden lässt, hat gleichwohl für Kierkegaard
nicht die Folgerung, dass ein solches System nicht
existiert. Es giebt ein System des Daseins — doch nur
für „den, der selbst ausserhalb des Daseins und doch
im Dasein ist — der in seiner Ewigkeit für immer ab-
... . . 1
U('S(]il()ss(Mi ist und doch das Dasein in sich einschliesst, j
für Gott." *j Für den Menschen aber ist das Dasein \
irrational, ein Paradox. Das Paradox, das Widersinnige
und Widersprechende ist nach Kierkegaard kein Zu-
geständnis, es ist vielmehr, wie er sich ausdrückt, eine
.„ontologische Bestimmung'^ (1847, S. 18), es bezeichnet
das Verhältnis zwischen einem existierenden erkennenden
Geiste und der ewigen Wahrheit.
Es ist auch zuzugeben, dass durch den scharfen
Widerspruch zwischen der ewigen Wahrheit (der ewigen
Abgeschlossenheit des Daseins in Gott) und der in stätem
Werden begriffenen Existenz sich ein Paradox ergiebt.
Denn wie kann von irgend einem Gesichtspunkt
.aus und für irgend einen Gedanken, von dem wir
uns einen Begriff bilden können, das, was stets wird,
.als abgeschlossen sich darstellen? Kierheo^aard macht
*) „Nachschrift" S. 104. Einige Seiten nachher sagt Kierke-
.gaard: „Jedes System muss pantheistisch sein, eben weil es ab-
geschlossen sein will" (S. 107). Die eigentümliche Konsequenz hievon
ist, dass Gott — Pantheist ist. Andererseits zieht Kierkegaard selbst
jtus dem Satz, dass Existieren = Werden ist, die befremdende
Folgerung: „Gott existiert nicht, da er ewig ist." (8. 178. 807).
5*
68 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
bestimmt geltend, dass „Bewegung sich nicht sub specie-
aeterni denken lässt", d. h. nicht vom Gesichtspunkt
der Ewigkeit aus, unter Absehen von der Zeit („Nach-
schrift", S. 283); wie kann dann aber Gott von der
Existenz, von dem ganzen im Werden begriffenen Dasein
wissen, da sich ja „Existenz ohne Bewegung nicht denken.
lässt?" — Es sind liier zwei Gedanken gewaltsam ver-
bunden, die Kierkegaard beide festgehalten wissen will..
Die Erkenntnistheorie aber muss hier gewiss sein Lieb-
lingswort Entweder — Oder gegen ihn selbst kehren und
sagen: entweder muss der Begriff des absoluten Systems
in Gott eine Illusion sein, oder muss das stäte Werden;
ein Schein sein. — Kierkegaard hätte bei der Wahl,
der ersten Alternative seine theistischen Voraussetzungen
noch nicht aufzugeben gebraucht. Er konnte mit andern
philosophischen Theisten den Schluss ziehen, dass Gott
selbst im Werden begriffen sein muss, dass Gottes Wesen
nicht abgeschlossen ist. (Damit wäre er auch dem
eigentümlichen Schluss, dass Gott Pantheist sein miisste^
entgangen.) Diese Idee wurde gleichzeitig mit Kierke-
gaards philosophischer Schriftstellerei von dem eigent-
lichen Begründer des modernen philosophischen Theismus,.
C. H. Weisse, entwickelt.*) Damit wäre der scharfe
Gegensatz aufgehoben — das absolut Abgeschlossene-
in der Gottesidee aber ebendamit ganz gewiss hinfällig..
— Wenn man sich daran hält, dass das Dasein, das
wir kennen, sich in der Zeit entfaltet, und dass wir*
uns von keiner anderen Form des Daseins eine Vor-
stellung bilden können, so kann von einem abgeschlossenen
System keine Rede sein. Das Dasein wird dann aber-
auch zu keinem Paradox. Es wird irrational in mathe-
matischem Sinne, indem nur eine approxi-
mative Erkenntnis desselben möglich wird. Es steht
*) Das philosophische Problem der Gegenwart. 1842. (Vgl.
auch H. Böffding, „Lotzes Lehren über Raum and Zeit", Philosv
Monatshefte XXIV, S. 433—39).
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 69
vor uns wie VT", was wir ja mit beliebig vielen Dezi-
malen bestimmen können, olme je den exakten Wert
angeben zu können. Das Dasein könnte ja so reich
und vielseitig sein, dass es für den mächtigsten und
umfassendsten Gedanken, den wir uns vorstellen können,
.vStofF genug in sich hätte. Das ist aber etwas ganz
anderes, als dass es für uns paradox sei, d. h. für uns
unüberwindliche Widersprüche enthalte. Die Unerschöpf-
lichkeit des Daseins für das Denken entspricht genau
der Lessingschen Idee des ewigen Strebens nach Wahr-
heit. Wenn wir diese Idee festhalten, so müssen wir
als objektives Gegenstück ein stätig werdendes und in
:seinem Werden unüberschaubares Dasein annehmen.
Kierkegaard geht davon aus, dass wir, auch in Be-
ziehung auf die „wesentliche" Erkenntnis, uns nicht mit
Annäherungen und Hypothesen begnügen können. Warum
-denn nicht? Wenn es nur wirkliche Annäherungen sind
imd Hypothesen, die durch die Erfahrung immer mehr
verifiziert werden? Dann haben wir Grund genug, unsere
Hoffnung nicht aufzugeben, dass wir ein immer klareres
Verständnis gewinnen werden und im Kampfe mit derWelt
bestehen können. Und von einer solchen Hoffnung ist
ja unser Trieb nach Erkenntnis durchaus getragen. Es
wird sich jedoch im Eolgenden zeigen, dass Kierkegaard
den Begriff der Annäherung auf eine ganz merkwürdige
Weise behandelt.
5. Dass die wesentliche Wahrheit paradox ist, hat
bei Kierkegaard seinen Grund darin, dass der Gedanke
Gottes als des absolut Ewigen mitten in dem ununter-
brochenen Werden des Daseins festgehalten werden soll.
Darauf beruht es auch, dass die wesentliche Wahrheit
nur mit der Leidenschaft des Glaubens festgehalten
werden kann.
Frau't man, wie die Gottesidee für Kierkegaard
in die Erscheinung tritt, so ist seine Antwort,
dass Gott ein Postulat, eine Notwehr ist, ohne die
II
70 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
wir das Leben nicht aushalten können (,, Nachschrift"^
S. 178). Ein Bild, das seinen Gedanken gut zum Aus-
druck bringen möchte, wäre etwa folgendes: Gott ist
ein Notanker, dessen wir auf dem wilden Meere der
Existenz bedürfen und an welchem unter dem Wogen-
gange stets gerüttelt wird. Wir bedürfen eines absolut
festen Halts, eines Hakens, woran die Kette des Dar.
s'eins befestigt werden, eines Punkts, wo die unendliche^
K,eflexion E.uhe finden kann. Was aber postuliert wif^T"
ist von dem postulierenden Wesen qualitativ ver-
schieden: selbst der Begriff Existenz soll ja auf Gott
nicht passen! ^ott_ ist_ nach Kierkegaard nicht etwa
die höchste Steigerung, das höchste Ideal des Mensfihep-
„Zwischen Gott und Mensch l)est('ht ein absoluter Unter-
schied*'; die ,, Qualitäten sind absolut verschieden"
(„Nachschrift" S. 383). — Dann geht es aber so, dass-
die Notwehr, wozu der Mensch in der Angst des Da-
seins flüchtet, selbst neue Schwierigkeiten macht und
das Leiden verschärft: denn nun gilt es, die absolut,
verschiedenen Qualitäten zu vereinigen, sie zusammen-
zudenken! — Der Glaube an Gott entsteht dadurch,
dass der Mensch ,,in unendlichem Interesse nach einer
andern Wirklichkeit als seiner eigenen fragt" — woraus,
dann aber sofort neue Probleme sich ergeben.
Es ist einleuchtend, dass Kierkegaard nach seiner
Anschauung es nicht so leicht hatte wie Martensen, auf
dem Grunde des Glaubens eine spekulative Theologie
aufzubauen. Dieser Grund war vulkanischer Natur, in
stäter Bewegung, wie er ja seine Entstehung selbst einer
Revolution verdankte. Hier war weder Ort noch Zeit
zu bauen; die einzige Aufgabe konnte hier sein, in.
leidenschaftlicher Bekümmernis für die Bewahrung dessen,
zu kämpfen, was man hatte.
Eine objektive Gewissheit, eine Bekräftigung durck
die [Erfahrung kann nie gewonnen werden^ Nicht _nur
ist die Zukunft, wie oft bemerkt, stets gleich ungewiss-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 71
auch wenn man die Natur betrachtet, um in ihr eine^
Bestätigung für Gottes Allmacht und Weisheit zu finden, ^
entdeckt man neben Spuren dieser Art auch Spuren ent-
gegengesetzter Richtung. (,,Nachschrift" S. 182.) Aus der_
objektiven Ungewissheit kommen wir also nicht heraus^
— und da es doch Leben und Todfgilt, wird diese objektive
Ungewissheit mit unendlicher Leidenschaft umfasst. Die
Wahrlieit kann nur in der Form der Subjektivität, als.
Gegenstand des persönlichen Gefühls und der Leiden-
schaft, festgehalten werden,
6. Nachdem Kierkegaard so entwickelt hat, dass
die Wahrheit nur auf subjektive, persönliche Weise
ergrifi'en und festgehalten werden kann — dass die
Wahrheit die Subjektivität ist, kehrt er den Satz um
und stellt fest: die Subjektivität ist die Wahrheit.
Denn nur was mit subjektiver Energie und Leidenschaft
ergriffen wird, nur das kann die Wahrheit sein. Wenn von
zwei Menschen der eine in persönlicher Unwahrheit zu
dem wahren Gotte betet, der andere „mit der ganzen
Leidenschaft der Unendlichkeit" zu einem Götzen, so
betet der erstere in Wirklickheit zu einem Götzen,
während der andere in Wahrheit zu Gott betet. ^^flH
kommt zu allererst auf ein Wie, nicht auf ein Was an,
auf die persönliche Innerlichkeit und Energie, nicht auf
den Inhalt, an den diese Innerlichkeit sich anknüpft.
Und je grösser die objektive Ungewissheit, je wider-
sprechender der Inhalt für den ist, der ihn in persön-
licher Existenz festhalten soll, desto höher steigt die
Innerlichkeit und Leidenschaft. Die Wahrheit ist ein
Wagestück. Dem Satze, dass die Subjektivität die Wahr-
heit ist, entspricht der andere Satz, dass die Wahrheit
(objektiv gesehen) das Paradox ist. („Nachschrift" S. 1 79 ff.)
Mit diesem seinem berühmten Satz, dass die Sub-
jektivität die Wahrheit ist, hat Kierkegaard den Lessing-
schen Satz noch verschärft, dass unser Verhältnis zur
Wahrheit nur in einem ewigen Suchen nach ihr bestehen
^
72 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
könne. Der ganzeWert wird von dem objektiven (dogmati-
schen) nack dem subjektiven (psychologischen) Pol ver-
legt. Der Sinn ist eigentlich: die Wahrheit hat nur
dann Wert, wenn sie in persönlichem Fühlen und
Streben angeeignet und festgehalten wird. Der persön-
liche Nährwert der Wahrheit ist das Entscheidende.
Der Massstab liegt in der Bewegung, die im inneren
Leben der Persönlichkeit geweckt wird.
Eigentlich hat Sören Kierkegaard hiemit auf seine
Weise dasselbe ausgesprochen, was Ludwig Feuerbach
einige Jahre zuvor im ,, Wesen des Christentums'" mit
dem Satze geltend machte, dass Theologie Psychologie
sei.*) Nur infolge einer Inkonsequenz kann Kierkegaard
von der Subjektivität einen bestimmten Inhalt, einen
bestimmten objektiven Glauben verlangen: die Haupt-
sache ist, dass diese im Zustande des Strebens
nach Wahrheit ist; zu was sie in Beziehung steht,
muss gleichgültig sein. Es muss auf die Fülle und Höhe
des persönlichen Lebens ankommen, und es muss vor-
läufig eine offene Frage bleiben, ob für die Entwicklung
eines solchen Lebens ein bestimmter dogmatischer
Glaubensinhalt notwendig ist.
Allein er zieht nicht die vollkommene Konsequenz
seines Satzes. Sonst hätte er sich darauf führen lassen,
das Prinzip der freien Persönlichkeit zu proklamieren.
Er giebt die Annahme eines von der Persönlichkeit
selbst verschiedenen Massstabes für die Wahrheit, die
für ihn in dem kirchlichen Dogma gegeben ist, nicht
auf. Und doch wird eine genauere Untersuchung (die
wir vornehmen wollen, wenn wir erst seine Ethik kennen
gelernt haben) zeigen, dass diese dogmatische Richt-
schnur nicht die letzte ist. Er ist zu sehr Denker, um
*) Das „Wesen des Christentums" erschien 1841, die
„Unwissenssch. Nachschrift" 1846. Kierkegaard weist in diesem
Bache und bereits in den „Stadien auf dem Lebenswege" ausdrück-
lich auf Fenerbachs Auffassung des Christentums hin.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 73
sich bei ilir beruhigen zu können. Sein letzter Mässstab
ist formeller Natur : die Aneignung des dogmatischkirch-
lichen Glaubensinhalts ist ihm d arum die höchste Form
persönlichen Lebens, weil sieden stärksten Widerspruch,
das grösste Leiden und die höchste Leidenschaft in
der Subjektivität hervorruft. Der letzte und entschei-
dende Vorwurf gegen ihn wird darum dahin lauten, dass
•er die Persönlichkeit von dem realen, natürlichen und
sozialen Zusammenhang, worin ihr Leben allein positiven
Inhalt gewinnen kann, losgerissen hat. Denn nur in der
freien, mit der Wirklichkeit kämpfenden und von der
Wirklichkeit lernenden Subjektivität kann die Wahrheit
wohnen — nicht aber in der Subjektivität, die durch
formelle,, asketische Uebungen sich in den Gehorsam
gegen einen naturwidrigen, lebensfeindlichen Inhalt
hineinzwängt. — Doch kann dieser Punkt nur durch
die Untersuchung von Kierkegaards Ethik klarer be-
leuchtet werden.
Das Grosse an Kierkegaards Erkenntnistheorie ist
der Ernst, womit er den Zusammenhang des Denkens
mit dem persönlichen Leben erfasst. Es ist etwas Grie-
•chisches an ihm. Er will von dem abstrakten Denken
und Kontemplieren zum persönlichen, existenziellen
Denken zurückkehren.
Unsere Ideen werden nur allzu leicht Soldaten in
.der Friedenszeit. Sören Kierkegaard hat die Ideen aus
dem Frieden der Kontemplation hinausgeführt in den
Kampf und in die Unruhe des Lebens und ihnen die
Wahlstatt angewiesen, wo die Gültigkeit der ,, wesent-
lichen" Erkenntnis ihre Probe bestehen soll. Wäre der
•dogmatische Hemmschuh nicht gewesen, so hätten seine
Gedanken weit mehr direkt universelle Bedeutung ge-
wonnen. Nun ist erst eine Uebersetzung, ein Ausschei-
dungsprozess vorzunehmen, ehe sie die Rolle für die
Menschheit spielen können, die ihnen zukommt.
74 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
B. Sören Kierkegaards Ethik.
a. Der Sprung.
1. In der Geschichte des Denkens ist die wichtige-
Thatsache zu beachten, dass sich zwei Arten von Den-
kern gegenüberstehen. Der einen Art ist es um Auf-
findung der Einheit, des Zusammenhangs, der Kontinuität
zu thun, um die Aufzeigung von allmählichen Ueber-
gängen und Zwischengliedern zwischen den scheinbar
entgegengesetztesten Formen des Daseins,, um den Nach-
weis, dass die scheinbar qualitativ verschiedenen
Phänomene aus denselben Elementen bestehen,, nur das*
diese verschiedenartig gemischt und ungleich zusammen-
gesetzt seien. Die andere Art richtet gerade umgekehrt
ihr Hauptinteresse auf die Fixierung der bestimmten
Unterschiede, auf den Nachweis, dass an gewissen
Punkten im Dasein ein qualitativ Neues auftrete, auf
Betonung der jähen Uebergänge, der plötzlichen Wen-
dungen, der scharfen Grenzen zwischen verschiedenen
Gebieten. Für die Denker der ersteren Art wird der
HauptbegrifF der kontinuierliche, allmähliche Uebergang,
derblos graduelleUnterschied,die quantitativ eVerschie-
denheit; für die letzteren die Distinktion, die Disjunktion,
die qualitative Verschiedenheit. Die beiden Arten und
Richtungen stossen bei einer Reihe grosser Probleme-
auf dem Gebiete der Natur- \\n.e der Geisteswissenschaft
zusammen. So bei der Frage nach der Einheit oder
der ursprünglichen Verschiedenartigkeit der Naturkräfte,
nach der Einheit der Materie oder der qualitativeni
Verschiedenheit der Grundstoife, nach der Entstehung-
des Lebens, der Entstehung der Arten, nach dem Ver-
hältnis des bewussten Lebens zum Materiellen, nach
der gegenseitigen Beziehung der höheren und niedereren
Bewusstseinserscheinungen zu einander, nach dem Ver-
hältnis der Willensentscheidung zuan Kausalgesetz u. s. f.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 75
"VVo sich nicht quantitativ feststellen lässt, wie gross
die Annäherung ist, wieweit die Kontinuität reicht,-
odcr wie gross der Abstand zwischen den in der Er-
fcihrung auftretenden Gegensätzen ist, da wird sich
der Unterschied der beiden Denkweisen besonders geltend
machen; also in der Wissenschaft des Organischen stärker
als in der Wissenschaft des Unorganischen, in der
Wissenschaft des Geistes stärker als in der Natur-
wissenschaft. Und von besonderer Bedeutung wird er
in der Philosophie werden, da es sich ja hier um die
Feststellung der Voraussetzungen und Gesichtspunkte
für die Betrachtung des Ganzen handelt.
Beide Arten haben ihre wissenschaftliche Berechtig--
ung. Sie stellen die zwei Grundfaktoren unseres
Erkennens dar, die Synthese und die Analyse, die sich,
wie Goethe bemerkt hat, wie Ein- und Ausatmung zu
einander verhalten. — Man könnte vielleicht meinen,,
die erstere müsse die eigentlich wissenschaftliche Richtung
sein, da ja die Synthese die Grundform unseres Geistes
und unseres Denkens ist, und da jede Wissenschaft
darauf ausgeht, Zusammenhang und Einheit im Dasein
zu finden. Es ist aber doch nicht minder wesentlich^,
dass wir uns des ganzen qualitativen Reichtums, den
das Dasein in sich begreift, bewusst bleiben. Auch
gewinnt die Synthese selbst erst dann wirkliche Be-
deutung, wann der Inhalt der Erfahrung in seiner ganzen
Verschiedenartigkeit vor uns ausgebreitet ist, mit allen
seinen qualitativen Nuancen und Gegensätzen; nur dann
hat die Synthese etwas zu verarbeiten. Sören Kierke-
gaard hat uns gelehrt, dass es keine Kunst sei, eine
Einheit zu proklamieren, wenn es keine gegensätzlichen
Elemente zu überwinden giebt.
Dass Sören Kierkegaard entschieden zu der zweiten
Klasse von Denkern gehört, ist kein Zweifel. Er ist
einer der ersten in der Reihe von Denkern, die die
Rückkehr zu der kritischen Philosophie einleitete, die-
76 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
der letzten Greneration eigentümlich ist. Er selbst be-
zeiclmete sein Denken im Gegensatz zu dem Hegels
als qualitative Dialektik. („Nachschrift" S. 360.)
Damit wollte er als sein Hauptbestreben kennzeichnen,
dass er der qualitativen Distinktion Geltung verschaffe
imd die festen Grenzen zwischen den verschiedenen
Gebieten aufzeige, während die vorhergehende, roman-
tisch-spekulative Periode bis zum Uebermass in der
Einheit und Kontinuität schwelgte. Sein Schlagwort
Avar Entweder-Oder. Diesen Titel gab er seinem
-ersten bedeutungsvollen Werke ; das war die Kategorie,
die er als die entscheidende betonte; unter diesem
Namen war er den Gassenjungen bekannt. Er erklärte
^er Kontinuität und dem allmählichen Uebergang den
Krieg; sie sind für ihn nur die Kategorien der Ober-
flächlichkeit und der Weichlichkeit. Das Leben und die
Wirklichkeit führt nach seiner Behauptung immer wieder
an Kreuzwege, gebt durch stets wiederholte Sprünge
vorwärts. Etwas Entscheidendes tritt immer nur durch
.einen Ruck ein, durch eine plötzliche Schwenkung, die
.sich weder aus dem, was vorausgeht, vorhersehen lässt,
noch dadurch bestimmt wird.
Das Geistesleben unterliegt in dieser Hinsicht nach
Kierkegaard ganz andern Bedingungen als das Natur-
leben. Er bestreitet auf das bestimmteste das Bestehen
jeder Analogie zwischen geistiger Entwicklung und
organischer Entwicklung.*) Qualitative Metamorphose, in
der das neue Stadium, der höhere Zustand infolge eines
entscheidenden Bucks oder Sprungs in Kraft tritt, ist
.das für die Entwicklung des Geisteslebens Eigentüm-
liche, während die organische Entwicklung, z. B. das
Wachstum einer Pflanze, in einer successiven Entfaltung
vdes bereits im KJeime wesentlich Vorhandenen ist.
Indem der Uebergang ein Sprung ist, wird der innere
natürliche Zusammenhang, ,,die Immanenz" abgebrochen,
*) Vgl. besonders „Nachschrift" 8. 620.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 77
es wird ein absolut Neues gesetzt, „eine Transcendenz"
etabliert. („Nachsclirift" S. 271.) Die Kontinuität, die
das Denken zu stände bringen kann, ist rein abstrakt
und in der Wirklichkeit illusorisch; der wirkliche Zu-
sammenhang muss im Geistesleben durch stets neue
Anspannung hergestellt werden, durch die Arbeit der
Wiederholung, die in der neuen Wirklichkeit das früher
Gewonnene, das durchaus nicht von selbst fortbesteht,
festhält. („Nächschrift" S. 287, „Wiederholung" S.33f 92.)-
2. Diese Eigentümlichkeit an Sören Kierkegaards
Denken tritt in seiner Auffassung des Verhältnisses
zwischen Psychologie und Ethik besonders deutlich
zu Tage, wie ja überhaupt die Eigentümlichkeit eines
Denkers in der Regel an diesem Punkte sich am deut-
lichsten offenbart.
Was die Fähigkeit betrifft, die grössten Gegensätze-
und die feinsten Nuancen, die gewaltsamsten Krisen
und die leisesten Regungen innerhalb des Seelenlebens
zu erfassen, so war er ein Psychologe ersten Rangs.-
Er war auf dem Gebiet des inneren Lebens heimisch,
und er hatte dichterische Kraft, was er geschaut, auch
darzustellen. — Allein er hatte nicht bloss das Interesse
des Beobachters. Er hatte auch einen leidenschaftlichen
Trieb, zu verstehen. Sein ganzes kräftiges Hervorheben
des Paradoxen, des Irrationalen, des plötzlichen Ruckes,
der den Zusammenhang aufhebt, würde ja unverständlich
sein, wenn er nicht selbst das Bedürfnis nach Fest-
haltung der Kontinuität gehabt hätte. Die Lehre von
der Wahrheit als dem Paradoxe ist der Ausdruck dafür, .
dass dieses Verlangen getäuscht worden ist. Wer keinen-
lebhaften Erkenntnistrieb hat, dem bleibt diese Täusch-
ung erspart, er entdeckt das Irrationale nicht und wird
durchaus kein Verständnis für die Leidenschaft haben,
die einen Geist wie Kierkegaard beim Anprall gegen
die Grenze des Erkennens ergreift. Nur wer mit vollem
Dampfe einherfährt, empfindet den Schmerz, anhalten,
zu sollen. — „Das Paradox", sagt Kierkegaard, (Philos.-
78 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Bissen, S. 210 [52]), „ist des Gedankens Leidenschaft,
und der Denker, der das Paradox meidet, ist wie der
Liebende, der die Leidenscliaft fern halten will — ein
mittelmässiger Patron. Jeder Leidenschaft höchste
Potenz ist aber, dass sie ihren eigenen Untergang will,
und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft,
dass er den Anstoss will, obgleich der Anstoss auf die
eine oder andere Weise sein Untergang werden muss.
Dies ist also die höchste Leidenschaft des Denkens,
etwas zu entdecken, das es selbst nicht denken kann."
Hieraus kann man ersehen, dass auch bei der Ein-
teilung der Denker in zwei Klassen innerhalb seiner
eigenen Klasse nur der gross sein kann, bei dem sich
ein starker Trieb in der Richtung der anderen Klasse
regt. Nur ein starkes Bedürfnis nach Zusammenhang
entdeckt und empfindet den Bruch, den Ruck.
Als Psychologe hält Kierkegaard den Zusammenhang
fest, solange er kann; als Ethiker aber setzt er den
Sprung, den Ruck der Entscheidung. Nach ihm ist es
die Aufgabe der Psychologie, die Möglichkeiten für die
neuen Zustände, die successiven und quantitativen An-
näherungen an sie aufzusuchen. Sie hat es mit den
Anläufen, Motiven und Vorbereitungen zu thun. Soweit
sie aber auch in ihrer „Berechnung des Möglichkeits-
winkels'' kommt, — wenn der Punkt kommt, wo die
eigentliche, ethisch bedeutungsvolle Entscheidung statt-
findet, so erfolgt ein qualitativer Ruck, der das Neue
setzt ; es geht eine radikale Aenderung vor sich, die in
dem Vorausgehenden ihre Erklärung in keiner Weise
.finden kann.
3. Kierkegaard entwickelt dieses Verhältnis zwischen
der psychologischen und der ethischen Betrachtungsweise
in der genialen Abhandlung ,,der Begriff der Angst."
— Er behandelt hier die Willensentscheidung beim
„FalP' nach dem Bericht im ersten Buch Mosis. Man
.möchte denken, es wäre der Klarheit förderlicher ge-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 79
wesen, wenn er liiezu eines seiner gewöhnlichen psycho-
logischen Experimente verwendet hätte. Doch ist der
Unterschied nicht gross; denn wiewohl er gegen die
mythische Fassung jenes alten Berichts protestiert, be-
handelt er ihn faktisch doch als Mythus, und zwar mit
aller wünschenswerten Freiheit. — Es gilt zu schildern,
■wie der Mensch, der doch im Stande der Unschuld ge-
dacht ist, fallen konnte.
Zuerst versucht es die Psychologie, Möglichkeiten
und Annäherungen aufzufinden. Die Angst giebt eine
.•solche an die Hand. Während die Furcht sich auf eine
bestimmte Möglichkeit bezieht, richtet sich die Angst
auf eine unbestimmte Möglichkeit, einen Traum, der in
•der Phantasie der Unschuld auftaucht, der an sich selbst
«in Nichts ist — und doch vor den Menschen hintritt,
als wäre er etwas. Und ausser diesem Wechselspiel des
Kommens und Verschwindens macht sich bei der Angst
noch ein anderes geltend, das Wechselspiel der An-
ziehung und Abstossung, der Sympathie und Antipathie,
des Anlaufens und Zurückweichens. Der Gregenstand
der Angst übt eine Macht über den Sinn aus, zieht
diesen an sich — und stösst ihn doch weg. So ist es
bei der Schamhaftigkeit. Wessen schämt sich der
Schamhafte? Es wurde ja nichts gesagt und nichts
gethan; es ging nur eine Möglichkeit an ihm vorüber,
ohne dass sie auch nur in einen bestimmten Gedanken
gefasst worden wäre — und diese Möglichkeit wurde
abgewiesen, obwohl sie kaum beachtet wurde. Wessen
hat er da sich zu schämen, worüber zu erröten? So ist
es auch beim Schwindel. Die Möglichkeit, man könnte
sich fallen lassen, sein Gleichgewicht verlieren, bietet
sich dar, wenn der Blick den Abgrund misst; sie be-
kommt keine Zeit, sich zu befestigen, sie wird abge-
wiesen, immer wieder abgewiesen — und doch ängstet
sie, weil sie zieht.
Hier ist eine Möglichkeit, eine Annäherung — die
30 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
aber nach Kierkegaard doch nichts erklärt, wenn die
Entscheidung kommt, wenn der Fall wirklich eintritt.
Dieser kommt mit einem Ruck, oder wie ein Sprung
— durch alles Vorausgehende nicht zu begreifen, noch
zu begründen. — Ebenso plötzlich, wie so alle Möglich-
keit und Annäherung weggefegt wird, tritt die Ethik
an Stelle der Psychologie. Sie fragt nach dem Qualitäts-
unterschiede, nach dem Gegensatz zwischen gut und
böse und kümmert sich um alles, was die Psychologie-
mühsam über „die Winkel der Möglichkeit" ausgerechnet
hat, nicht im mindesten. Die Wirklichkeit steht in
keinerlei Beziehung zur Möglichkeit. — Diese Auf-
fassung soll dann auch allgemein für das Verhältnis
der einzelnen Handlungen zu dem erworbenen Charakter
und für das Verhältnis des Einzelnen zu der vom Ge-
schlecht ererbten Natur gelten: das von der Vergangen-
heit (von der des Geschlechts und der eigenen des Indi-
viduums) Gegebene sind Möglichkeiten, Annäherungen,
die in dem Augenblicke der wirklichen Entschei-
dung nichts bedeuten. Und das obschon Kierkegaard
einräumt, dass durch Gewohnheit und Übung die Mög-
lichkeiten und Dispositionen im Charakter des Einzelnen
sich summieren, wie dies mit Stammes- und Geschlechts-
eigenschaften in der Entwicklung des ganzen Geschlechts
geschieht. Die quantitative Steigerung soll die neue,
durch die Entscheidung gesetzte Qualität in keiner
Weise erklären können! Das kontinuierliche Wachsen
der Möglichkeiten wird durch den Ruck der Verwirk-
lichung abgebrochen. —
Kierkegaard gerät, soviel ich sehen kann, mit dieser
Auffassung in einen sehr grossen Widerspruch mit sich
selbst. Seine Anerkennung der Psychologie in dieser
ihrer Unabhängigkeit von der Ethik muss auf der Be-
deutung beruhen, die den von der Psychologie nach-
weisbaren Möglichkeiten und Annäherungen beigemessen
werden kann. Nun sollen diese aber, soweit sie auch.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. gl
wohl gehen, zuletzt doch nicht das allermindeste zu
bedeuten haben! Wir bekommen also Möglichkeiten,
die keine Möglichkeiten für etwas sind, Annäherungen,
die keine Annäherungen an etwas sind! Das psycho-
logische Verständnis — und mit ihm nicht bloss die
theoretische Psychologie, sondern auch die praktische
Menschenkenntnis — wird damit nutzlos, ja illusorisch.
Kierkegaard ist im „BegriiF der Angst" seinem
Schlagwort „Entweder -Oder" untreu geworden und
hat die Durchführung eines Sowohl — Als-auch probieren
wollen. Ja, genau genommen, hat er beides, ein
„Entweder — Oder" und ein „Sowohl — Als-auch" haben
wollen. Er hat nicht zwischen Sprung und Kontinuität
wählen, sondern beide verbinden wollen ! Damit erreichte
er aber nur, dass er in die Scylla geriet, ohne der
Charybdis zu entrinnen. Er hat durch die Lösung des-
Bandes zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit das-
Interesse der Ethik wie der Psychologie verletzt..
Denn wenn die Psychologie sich nicht darein finden
kann, dass die von ihr nachgewiesenen Möglichkeiten
(die ja freilich nicht alle sind, da sie nicht alle ent-
decken kann) die wirkliche Entscheidung nicht bloss;^J|
zum Teil nicht, sondern gar nicht sollen begründen
können, ebenso wenig kann die Ethik sich darein finden,
dass das ethische Urteil nur das fertige Resultat, die
scharfe Wendung und nicht auch die Anläufe, Dis-
positionen, Motive treffen soll. Für die praktische
ethische Betrachtung ist es gerade von Wert, dass mani
die Möglichkeiten zu fassen bekomme, damit die ver-
derbliche Wirklichkeit im Wachstum aufgehalten und
die guten Keime geschirmt und gepflegt werden.
Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass Kierkegaard
das sittliche Urteil wirklich auch auf das dem Ruck
der Entscheidung Vorangehende, auf die Anläufe vor
dem Sprung ausdehnt. Wohl macht er bestimmt geltend,
dass die Angst nicht eine Unvollkommenheit am.
Hoff ding, S. Elierkegaard. 6
■^
32 ^^- Sören Kierkegaards Philosophie.
Menschen sei; später aber erklärt er doch die Angst
,.für so selbstisch als möglich" und redet davon, wie
die unbestimmte Möglichkeit mit ihrer süssen Beäng-
stigung beschwerend ängste und wie die Angst mit
ihrem Gregenstande eine „geheime Kommunikation
unterhalte". („Angst" S. 49. 58 f. 103 [48. 58. 106].)
Hier ist die Schätzung zurückverlegt, oder es ist eine
Entscheidung vor der — Entscheidung angenommen;
d. h. die Möglichkeit ist (wie sie das auch ist) als eine
teilweise Wirklichkeit behandelt. Kierkegaard hat die
souveräne Verachtung für das Approximative und
Hypothetische, die seiner Unterscheidung zwischen
, wesentlichem" und „unwesentlichem Erkennen" zu
•Grunde lag, nicht durchführen können. Er protestiert
•dagegen, dass man „den Kreis des Sprungs in eine
gerade Linie auseinanderlege", allein er hat nicht daran
.gedacht, dass der Kreisbogen, je grösser der Radius
des Kreises ist, sich um so mehr einer geraden Linie
nähert, oder dass man sich eine Kreisperipherie als
eine unendliche Zahl unendlich kleiner gerader Linien
denken kann. Die Kontinuität im Denken und in der
Natur lässt sich nicht so leicht vertreiben, wie Kierke-
gaard meinte.
4. Wir haben bisher den Sprung oder Ruck nur
von der negativen Seite besprochen, die Entscheidung
nur als ein Abbrechen aufgefasst. Kann man aber nicht
auch eine positive Beschreibung oder Bestimmung davon
geben? Es ist für Kierkegaard als Denker bezeichnend,
dass er zwar mit der Kategorie des Sprungs die Brücke
hinter sich abbrechen will, sich aber doch nicht ent-
halten kann, mit seinem Denken immer wieder die Stelle,
wo der Bruch geschieht, zu umkreisen. Er möchte
•dem unbegreiflichen Sprung so nahe als möglich zu
Leibe rücken. Er ist meines Wissens der einzige
indeterministische Denker, der den Sprung zu beschreiben
versucht hat. Dieser Versuch ist, philosophisch be-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 83
trachtet, eine der merkwürdigsten Gedankenentwick-
Inngen, die sicli bei ihm finden.
„Die Geschichte des individuellen Lebens^, sagt er,
„schreitet in einer Bewegung von Zustand zu Zustand
fort. Jeder Zustand wird durch einen Sprung gesetzt ....
Jedem derartigen Sprunge geht ein Zustand als nächste
psychologische Approximation voraus. Dieser Zustand
ist Gegenstand der Psychologie." („Angst" S. 113 [117].)
Der Sprung liegt also zwischen zwei Zuständen.
Oder, wie es an einer andern Stelle genauer heisst, er
liegt zwischen zwei Augenblicken: ,,Die Angst
kann man mit dem Schwindel vergleichen. Wessen
Auge veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunter-
zuschauen, der wird schwindlig ... In diesem Schwindel
sinkt die Freiheit zu Boden. Weiter kann die Psy-
chologie nicht kommen, und will es auch nicht. Im
selben Augenblicke ist alles verändert, und indem die
Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig
ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der
Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat, noch er-
klären kann." (ib. S. 58 [58].)
Es scheint klar zu sein, dass, wenn der Sprung
zwischen zwei Zuständen oder zwischen zwei Augen-
blicken liegt, ihn kein Auge beobachten kann. Die
Beschreibung desselben wird dann also eigentlich keine
Beschreibung, da er nie Phänomen werden kann. Was
Kierkegaard mit seiner Beschreibung erfassen will,
gleitet ihm zwischen den Fingern durch. Er beschreibt
eine Aufeinanderfolge von zwei Augenblicken oder
Zuständen (und was kann hier wohl auch anderes beob-
achtet oder beschrieben werden ?) ; was aber dazwischen
liegt, bekommt er nicht mit und kann er nicht mit-
iDekommen. Und doch redet er so dogmatisch davon
als nur möglich. — Ich habe auf die angeführten Stellen
im „Begriff der Angst" viel Nachdenken verwendet und
war zuerst der Auffassung geneigt, dass Kierkegaard
6*
84 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
meine, der Sprung lasse sich nicht beobachten. Danm
wäre seine Entwicklung ein Seitenstück zu Humes
berühmtem Nachweis, dass die Kausalität sich nicht
beobachten lasse, da, was wir beol)achten, stets nur
Succession sei. Sowenig sich Kausalität oder Kontinui-
tät beobachten lässt, so wenig der Bruch der Kontin,ui-
tät. Die Augenblicke lösen einander ab — wie ver-
halten sich aber zwei Augenblicke zu einander? Hier
ist das grosse Problem, das die zwei im Vorangehenden
gezeichneten Klassen von Denkern scheidet, von denen;
die eine durch das Kausalitätsverhältnis die Kontinuität
geltend macht, die andere durch das indeterminierte
Auftreten neuer Qualitäten die Diskontinuität festhält..
Könnte die Sache durch Beobachtung entschieden wer-
den, so wäre der Streit leicht beizulegen. Allein selbst
durch die genaueste, ins Minutiöseste gehende Beob-
achtung kommen wir nur dazu, dass wir die Augenblicke in
kleinere Avigenblicke zerteilen, und das Problem, das
Grundproblem in allem unserem Erkennen kehrt immer
wieder zurück. — Ich kann aber bei genauerer Er-
wägung Kierkegaard einen klaren Blick für das Prin-
zipielle in der Frage nicht zuerkennen. Seine dog-
matischen Voraussetzungen und seine Neigung zu
dichterischen Bildern haben ihm hier den Blick für das
Problem in seiner Schärfe getrübt. Sonst hätte er
wohl [auch darauf aufmerksam werden müssen, dass er-
ja eigentlich die ganze Entscheidung (die Willens-
entscheidung!) unbe wusst vor sich gehen lässt. Denn
was zwischen zwei Bewusstseinszuständen oder zwei
Bewusstseinsaugenblicken liegt, das geschieht unbewusst,
tritt nicht über die Schwelle des Bewusstseins. Eine
Willensentscheidung von der Art, mit der Kierkegaard
zu thun hat, sollte nun doch wohl ein Wollen in höchster
Form, eine Wahl im eigentlichen Sinne, ein Entschluss,
ein willkürlicher Akt sein. AVie kann aber ein Ent-
schluss zwischen zwei Augenblicken liegen ? Das können
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 85
mur jene Entschliessungen, zu denen man im Schlafe
kommt. Nur unwillkürliclie Akte können unbewusst
sein. Kierkegaard hat sich aber den ,, Sprung" doch
schwerlich als eine Reflexbewegung gedacht! —
Sehen wir genauer hin, so schiebt Kierkegaard
a,uch schliesslich die Entscheidung unwillkürlich dem
«rsten der zwei Augenblicke zu, zwischen denen sie
nach seiner Behauptung liegen soll. Denn die Ent-
■scheidung liegt doch eigentlich in dem Augenblick, da
„das Individuum in der Ohnmacht der Angst zu Boden
.sinkt" (ib. S. 71 [72]). Wir bekommen dann eine Kau-
.salitätsreihe : Angst — Schwindel — Hinsinken — Fall, und
was ist nun aus dem Sprung geworden? Wer hinsinkt,
springt nicht; das Hinsinken ist (selbst wenn man in
dem Hinsinken vielmehr sich zu Boden sinken las st)
nichts anderes als ein beginnendes Fallen, ein Fallen,
das verhindert werden könnte — wenn man nicht gerade
an einem Abgrund stünde. — Noch deutlicher tritt
dieses Zurückverlegen der Entscheidung in einer zum
Teil schon angeführten Stelle hervor: „Wessen Auge
veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunter zu
.schauen, der wird schwindlig. Worin liegt aber
die Ursache hievon? Ebenso sehr in seinem
Auge wie in dem Abgrund; — wenn er nur nicht
hinunterstierte!" („Angst" S.58[58]). Die Schuld liegt
also nur teilweise am Auge ; Kierkegaard giebt auch
hier sein Entweder— Oder auf. Was aber die Haupt-
sache ist: hat das Auge hier eine Schuld? Es ist ein
unwillkürlicher Trieb, das Auge umherschweifen zu
lassen, ein Trieb, den man nicht böse nennen kann.
Dass das Auge bei diesem seinem unwillkürlichen Um-
herschweifen, das der Weg zu allen bedeutungsvollen
Erfahrungen und damit zu jeder höheren Entwicklung
ist, nun unter anderem auch an den Abgrund gerät
und diesen mit unwillkürlicher Aufmerksamkeit betrachtet,
kann nicht seine eigene Schuld sein; es wusste ja nicht
86 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
zum voraus, dass der Abgrund da sei, wusste auch
nicht, was ein Abgrund ist. Und wenn der Schwindel
dadurch erwacht, dass die Vorstellung von dem mög^-
lichen Fall entsteht und auf den Sinn einwirkt, so ist
darin wohl ein Übergang vom Unwillkürlichen zum
Willkürlichen (insoweit man unter Willkür ein Ver-
halten versteht, das durch vorausgehende Vorstellungen
bestimmt wird) ; dieser Übergang selbst geht ja aber
unwillkürlich vorsieh, kraft des Gesetzes der Ideen-
assoziation. Selbst wenn der Fall vorsätzlich geschieht,
so ist ja (wie uns Shakespere und Spinoza gelehrt
haben) ein Vorsatz ohne Erinnerung nicht möglich, und
die Erinnerung kann sich ebenso unwillkürlich darbieten,
wie sich der Abgrund dem umherschweifenden Auge
darbietet.*)
Es ist also möglich, die psychologische Kontinuität
noch weiter durchzuführen als Kierkegaard es gethan
hat, und durch sein Vorausdatieren des Punkts, auf den
er die entscheidende Schuld verlegt, räumt er im Grrunde
ein, dass die Ethik mit dem ^Sprung" nicht steht
und fällt.
Kierkegaard hat also im „Begriff der Angst'' der
Psychologie weit mehr gegeben, als er konsequenterweise
darf. Es waren aber nur vorübergehende Zugeständnisse.
Sein Hauptbegriif ist und bleibt Entweder— Oder, der
Ruck oder Sprung der qualitativen Entscheidung; mit
ihm operiert er in seiner Ethik überall. Auch
in seinen streng religiösen Schriften, besonders später-
hin, als seine Auffassung des Christlichen sich ver-
schärfte, ist keine Spur, dass die Entscheidung zwischen
zwei Bewusstseinaugenblicken liegen soll. Da schiebt
er alle Psychologie beiseite, indem er z. B. behauptet:
;,Auszusagen, dass einer mit Wissen das Unrecht
*) Näheres über die hier berührte psychologische Frage in meiner
Psychologie S. 445 ff. und in meiner Abhandlang in der Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftl. Philosophie XIV, 204 f.; 301—305.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 87
thue, dass er das Unrecht thue, während er das Rechte
weiss, dazu hat das Grriechentum nicht den Mut".
(Krankheit zum Tode S. 103 f. [96]. Was mit Wissen
geschieht, muss einen Augenblick oder einen Zustand
ausfüllen, den man beobachten kann. Kierkegaard hat
uns freilich diese Beobachtung nicht gegeben. Er hat
nicht gewollt. Aber — er hat auch nicht gekonnt.
b. Die Stadien.
Der wichtigste Beitrag zur Ethik aus Sören Kierke-
gaards Feder ist seine Darstellung der von ihm so
genannten „Stadien des Lebens*'. Jedes Stadium ist
ein Lebenszustand, eine Lebensanschauung, die Kierke-
gaard teils in dichterischer Form, teils mit begriiFs-
mässiger Strenge dargestellt hat, ohne dass, wie wir
im Folgenden sehen werden, die dichterische und die
philosophische Darstellung gegenseitig immer mit einander
übereinstimmen. Doch tritt seine glänzende dichterisch-
psychologische Begabung nirgends so klar wie hier
hervor. Eine vergleichende Lebensphilosophie zu geben
war er ausgerüstet wie wenige, und was er in seiner
Weise und von seinem Standpunkte aus in dieser
Richtung geleistet hat, wird unter andern Formen und
von andern Gesichtspunkten aus sicher fortgesetzt werden.
Der Drang zu ^^subjektivem Denken", zum Denken über
das Leben im engeren Anschluss an das Leben, scheint
sich immer mehr geltend zu machen; und es liegt hier
eine Aufgabe vor, die von blossen Novellisten nicht
befriedigend gelöst werden kann. Es muss tiefer als
nur so gegraben werden.
Der Übergang zwischen den verschiedenen Stadien
vollzieht sich nach Kierkegaard durch einen Sprung,
wie wir ihn soeben erörtert haben. Innerhalb jedes
Stadiums entfalten sich die Konsequenzen des durch
den Sprung gesetzten Standpunkts. — Es werden drei
Hauptstadien unterschieden: das ästhetische, ethische
S3 I^> Sören Kierkegaards Philosophie.
und religiöse. Zwischen dem ästhetischen und dem
ethischen Stadium bildet die Ironie eine Übergangsform,
wie der Humor eine Zwischenform zwischen dem ethischen
und dem religiösen Stadium bildet.
a. Die ästhetische Lebensanschauung.
1. Das erste Stadium ist das ästhetische. Es ist
im ersten Teil von „Entweder — Oder*' und in der ersten
Abteilung der „Stadien auf dem Lebenswege" geschildert.
Was die allgemeinen Begriffsbestimmungen betrifft, so
tritt das für dieses Stadium Entscheidende in der Ab-
handlung ^Die Wechselwirtschaft, Versuch einer sozialen
Klugheitslehre'' (im ersten Teile von Entweder— Oder)
am deutlichsten hervor.
Diese Art, das Leben zu nehmen, sucht das Leben
in blosse Möglichkeiten zu verwandeln, mit denen man
die Phantasie ihr freies Spiel treiben lässt. Alles wird
zum Gregenstand des Geniessens gemacht. Dabei ist
aber nicht sowohl an unmittelbaren, sinnlichen Genuss
zu denken, wiewohl dieser mit dazu gehört, als vielmehr
an die Willkür, womit alles aufgefasst und behandelt
wird. ;,In der Willkür liegt das ganze Geheimnis.
Man meint, willkürlich zu sein sei keine Kunst; und
doch gehört ein tiefes Studium dazu, so willkürlich zu
sein, dass man sich nicht selbst darin verirrt, dass man
vielmehr selbst Vergnügen davon hat." (Entweder — Oder
S. 237 [I, 299 f.]). Die Hauptsache ist, dass man sich
das ganze Dasein in ein Kaleidoskop verwandelt, das
man stets schüttelt, um an den verschiedenen zufälligen
Kombinationen, die so nach Willkür geschaffen werden
können, sein Vergnügen zu haben.
Damit man dieses freie Spiel nach Belieben treiben
kann, darf man sich nicht persönlich in einem Lebens-
verhältnis binden, nicht an einem Punkt im Dasein
sich so niederlassen, dass man festgebunden würde.
Denn dann würde der Hervorbringung neuer kaleido-
ly. Sören Kierkegaards Philosophie. 89
;skopischer Situationen die Fortsetzung und Wiederholung
des begonnenen Lebens in den Weg treten. Man muss
sich „in vollständiger Schwebe" halten. Daher ist
wohl Berührung mit Menschen, oft auch eine kurze ge-
meinsame Wanderung rätlich — immer aber sichere
man sich eine solche Geschwindigkeit, dass man das Zusam-
mengehen abbrechen kann, wenn man will.*) Freundschaft
ist ein zu festes und solides Verhältnis. Und selbst
wenn ein notwendiger Bruch unbehagliche Erinnerungen
zurücklassen sollte, so kann das Unbehagliche ja einen
pikanten Beigeschmack geben, den der Virtuose des
*) Die ästhetische Lebensanschanang nach Kierkegaards Schil-
derung erinnert, besonders in diesem Zuge, an Aristippus von Cyrene.
"Was er als das Höchste geltend machte, war allerdings der Genuss
des Augenblicks; dieser aber war nach ihm gerade durch die voll-
kommene Freiheit bedingt, die sich nie binden und gefangen nehmen
lässt. Daher wollte er \\fie er nach Xenophons Memorabilien II, 1
lim Gespräche mit Sokrates sagt) in keine öffentliche Stellung ein-
treten, sondern überall Fremdling oder Gast sein. (Ovd slg
nohTslav sf-iauTOV xuTuy.Xdo), ccXXa ^svoi; Tcavraxov el/iU.)
Er will frei sein, weder Herr noch Sklave. Nach den sonst von
ihm berichteten Zügen wusste er mit besonderem Geschick gegenüber
•dem Bestrickenden im Genüsse selbst sich seine Freiheit zu wahren.
In dieser Kunst war er ein wahrer Virtuos. Der Widerspruch in
seiner Lßbensanschauung bestand darin, dass sie soviel Kunst und
Vorbereitung verlangte, mit Benutzung schon gemachter Erfahrungen
und Vorausberechnnng der Zukunft, dass mancher Augenblick
ohne unmittelbaren Genuss hingehen mnsste. Genau genommen
•musste für Aristippus das Höchste die Virtuosität selbst sein — und
so ist es auch bei dem moderneu Hedonismus, wie ihn Kierkegaard
beschreibt. Bezeichnend für den Unterschied zwischen der modernen
und der antiken Lebensauffassung ist es gerade, dass in dem heutigen
Hedonismus ein ganz besonderes Gewicht auf die Willkür, auf das
aktive Experimentieren, das bewnsste Schaffen von Situationen ge-
legt wird. Bei Aristippus äussert sich die Willkür bloss in der
Kunst, sich die Freiheit der Wahl zwischen dem, was sich darbietet,
nicht nehmen zu lassen; es fehlt das etwas romantische Arrangieren,
'Welches das grössere Selbstbewusstsein unserer Zeit und zugleich
ihr weniger naives und zuversichtliches Verhältnis zum Leben mit
sich bringt.
90 I^« Sören Kierkegaards Philosophie.
Genusses gerne mitnimmt. Ahnlicli ist es mit der Ehe^
Die Liebe hat ihre Zeit; gelobt man aber, dass sie
ewig währen soll, so gelobt man mehr, als man halten
kann. Und zudem ist bei der Ehe die Gefahr, dass
man seine Freiheit verliert : „man kann sieh nicht Reise-
stiefel bestellen, wann man will, man kann nicht unstät
umherflanieren." („Wohl hat man Beispiele, dass eine
Zigeunerin ihren Mann auf dem Rücken durch's Leben
getragen hat; das ist aber einerseits eine Seltenheit,,
andererseits auf die Länge ermüdend — für den Mann.")
Endlich wird man durch den Eintritt in den Ehestand
genötigt, sich unter die Herrschaft von Sitte und Brauch
zu beugen; eine ganze Schar von Rücksichten und
Pflichten schliesst das willkürliche TJmhertummeln aus..
Also wohl Erotik, aber keine Ehe. Und ebenso wenig
eine Berufsarbeit: damit würde man sich zu einem
Zapfen in der grossen Gesellschaftsmaschine machen;
und hörte auf, selbst Herr des Betriebs zu sein. Man
soll natürlich nicht unthätig sein, sondern allerlei brot-
lose Künste treiben und dafür sorgen, dass die Be-
schäftigung stets das Gepräge des Müssiggangs behält. —
2. Am deutlichsten zeigt sich der Charakter dieses
Stadiums in dem Verhältnis von Mann und Weib. Es
ist ja in diesem Verhältnis Gelegenheit genug für die
Verwertung der Wechselwirtschaft oder des Kaleido-
skops, da es eine ganze Skala durchlaufen, in sehr
verschiedenen Richtungen vibrieren, in den mancherlei
abgeleiteten Verhältnissen sich verzweigen kann. Hier-
ist die Möglichkeit für eine ganze Reihe der entgegen-
gesetztesten Stimmungen und Leidenschaften geboten :
vom frechen Spott zum tiefen Ernst, von leichtfertiger
Liebelei zu herzlicher Hingebung, von aufschäumender
Begeisterung zu besonnener Treue, von brutaler Regung
eines reinen Naturtriebs zu dem sublimen Gefühl gei-
stiger Zusammengehörigkeit. Durch seine Konsequenzen
führt das Geschlechtsverhältnis ausserdem über die-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 91
gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Individuen
hinaus and verkettet sie mit dem Leben der Gresellschaft,.
des Geschlechts; es greift in dieses ein, wie andrerseits
dieses sein Geschick und seinen Charakter bestimmt.
Hier ist also ein weiter Spielraum. Wird eine der
vielen Saiten mit der nötigen Kunst angeschlagen, so
kann man eine grössere oder geringere Anzahl der andern-
mitanklingen lassen, ohne doch überwältigt zu werden.-
Kein Wunder, dass die Dichter hier zu allen Zeiten
einen Hauptvorwurf für ihre Arbeit gefunden haben.
Und eben darum hat Kierkegaard sein „ästhetisches
Stadium" hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus
geschildert. Hier ist einer der Punkte, wo er mit
vollen Händen seine glänzendsten Bilder und Darstel-
lungen ausgeschüttet hat, und viele kennen ihn nur als
Verfasser dieses Teils seiner Werke.*) Hier, wo es
sich nicht um Untersuchung seiner litterarischen Kunst
und Grösse handelt — eine solche würde meine Kraft
übersteigen und ist ohnedies schon in Georg Brandes'
Schrift so glänzend durchgeführt worden, dass ich nur auf
diese hinzuweisen brauche — , sondern um die philo-
sophische Bedeutung seiner Darstellung, kann ich mich
damit begnügen, einige der besonders charakteristischen
Punkte hervorzuheben.
„Der junge Mensch", der dem ,,Gastmahl" an-
wohnt, hält sich über den komischen Widerspruch
an dem Verhältnis der Liebe auf, dass es anschei-
nend die höchste Lust der Individuen gilt —
und doch durch die erweckten Triebe nur die Fort-
pflanzung der Art gesichert werden sali. — „Die Lie-
benden wollen einander für alle Ewigkeit angehören.-
Das drücken sie in jener sonderbaren Weise aus, dass
sie einander in der Innigkeit des Augenblicks um-
*) Johanues des Verführers Tagebuch im ersten Teil von
„Entweder-Oder". Das Gastmahl in der ersten Abteilung der
„Stadien." 18
r92 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
;schliessen, und alle selige Lust der Liebe soll darin
liegen Und doch sind sie betrogen ; denn im selben
Augenblick triumphiert die Art über die Individuen ;
^ie Art siegt, während die Individuen dazu herabgesetzt
^ind, in ihrem Dienste zu stehen . . . Wenn sich nun die
Liebenden gefunden haben, sollte man doch glauben,
sie wären ein Ganzes, und darin sollte ja die Wahrheit
dessen liegen, dass sie für einander leben wollten in
alle Ewigkeit Aber sieh, statt für einander zu leben,
leben sie für das Geschlecht und ahnen es nicht." Ob
dieser Irrationalität in der Liebe ist der junge Mensch
IbetrofFen. Er versteht wohl, wie man dazu kommen,
wie man davon ganz überwältigt sein kann — aber die
Konsequenz versteht er nicht.*)
Johannes der Verführer, der letzte in der Reihe
der glänzenden Redner des Gastmahls, giebt die prin-
:zipielle Stellung der „ästhetischen Lebensanschauung"
zu dem von dem jungen Menschen vorgebrachten Problem
;an. Er erzählt, wie die Götter fürchteten, der Mann,
der ursprüngliche Mensch, möchte sich ihr Joch viel-
leicht nicht gefallen lassen und vielleicht gar den
Himmel zum Wanken bringen wollen. Mit Gewalt
konnte er nicht bezwungen werden ; da schufen sie das
Weib, um ihn zu bezaubern und ,,ihn in alle Weitläufig-
ikeiten der Endlichkeit zu verstricken." Und die Lock-
speise wirkte — doch nicht immer. ,,Zu allen Zeiten
;gab es etliche Männer, Einzelne, die den Betrug merkten,
Sie sahen die Anmut des Weibes wohl, mehr als irgend
jemand, allein sie ahnten den Zusammenhang. Die heisse
ich Erotiker und zähle mich selbst zu ihnen : die Männer
*) Vgl. „Stadiea" S. 44 f. [31 f.] — Der ia der Rede des jongeu
Menschen ansgesprochene Gedanke wurde zur selben Zeit (1841, ein
Jahr nach dem Erscheinen von Eutweder-Oder) in mehr natar-
^eschichtlicber Form von Schopenhauer entwickelt, in seiner ,,Meta-
j)hysik der Geschlechtsliebe". („Welt als Wille und Vorstellung",
i.. Teil, Kap. 44). V^l. meine Psychologie S. 349-351.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 93*
heissen sie Verführer; das "Weib hat keinen Namen für
sie ; so einer ist für sie unnennbar. Diese Erotiker sind
die Glücklichen. Sie leben üppiger als die Götter ; denn
sie geniessen immer nur, was köstlicher ist als Ambrosia^,
und trinken, was süsser ist als Nektar ; sie geniessen
den reizendsten Einfall, den die Götter in ihrer List-
ersinnen konnten; sie geniessen immer nur Lockspeise
— o Wollust ohne gleichen, o seliges Leben ; sie ge-
niessen immer nur die Lockspeise — und lassen sich
nie fangen. Die andern Männer greifen zu und geniessen
die Lockspeise wie der Bauer den Gurkensalat, und
werden gefangen." (Stadien auf dem Lebenswege-
S. 80f [62f].)
3. Für die ästhetische Lebensanschauung ist das-
Höchste, eine Tangente an dem Kreise des Lebens zu-
sein, die momentane Berührung zu erhaschen, dann aber
vermittelst der ,,centrifugalen'' Kraft sich beizeiten
davon zu machen. Der ,,Aesthetiker" wird nicht zum
Planeten. Höchstens lässt er sich — der ,, Wechsel-
wirtschaft" zulieb — dazu herbei, als Komet den Kreis
ein zweitesmal zu berühren — an einem anderen Punkte.
Das Liebesverhältnis ist gerade ein Verhältnis, wo die- I
momentane Berührung, wie der junge Mensch mit Recht-
befürchtete, ganz neue, unerprobte Lebensbeziehungen
und Aufgaben veranlassen kann. Soll aber das Schweben
der Willkür gewahrt bleiben, so muss man beizeiten
abbrechen. Ob grössere Lebensfülle, tieferes Lebens-
verständnis und Lebensgefühl entstehen würde, wenn
„man sich fangen Hesse"? Das weiss „der Aesthetiker"
nicht, er will und kann es nicht wissen. Könnte er
eine Ahnung hievon haben, so wäre ja der Uebergang
vom ästhetischen zum folgenden Stadium nicht ein
Sprung, sondern könnte das Endresultat einer voran-
gehenden Entwicklung sein. Es ist bezeichnend, was
Kierkegaard in sein Handexemplar von Entweder-Oder
eingeschrieben hat: „Ein eigentliches Liebesverhältnis-
"^
•94 ^^- Sören Kierkegaards Philosophie.
.ging im ersten Teile nicht an; denn es ergreift einen
Menschen immer so tief, dass er ins Ethische hinein-
gezogen wird. Was ich brauchen konnte, war nur eine
Manchfaltigkeit erotischer Stimmungen"(1833— 43, S.356J.
Kierkegaard lässt unter dem „ästhetischen Stadium**
Gestalten auftreten, die über das Unmittelbare, Unwill-
kürliche, Naturwüchsige schon weit hinaus sind und
in der Kunst, je nach Willkür zu pointieren, so eingeübt
sind, dass sie das Pikante nicht bloss zu ergreifen, son-
dern auch da, wo es sich nicht von selbst darbietet,
zu schaffen wissen. Dies ist ein Standpunkt, auf den
die Menschen nicht leicht kommen. Er liegt, wie schon
bemerkt, ziemlich weiter draussen in der Reflexion als
^er antike Hedonismus,
Hier erhebt sich vom Standpunkt einer vergleichenden
Lebensphilosophie aus der Einwand, dass wir nicht er-
fahren, wie dieses Stadium entsteht. Wie Kierkegaard
selbst gesehen hat, kann in dem Naturtriebe eine ziehende
Macht liegen, die über das ästhetische Stadium hinaus-
führt, und unter deren Einfluss „das Aesthetische" nur ein
mitwirkender Faktor ist. Woher denn also das Hemm-
mis, das Abbiegen, infolge dessen das Individuum, statt
die Bewegung um den Mittelpunkt fortzusetzen, unter
dessen Einfluss es momentan geraten war, in der
Richtung der berührenden Geraden weiterging? Das
'^kindliche Vergessen des einen Augenblicks über dem
andern ist etwas ganz anderes als diese künstliche oder
■erkünstelte Wechselwirtschaft. Es fehlt eben die gene-
tische oder evolutionistische Anschauung in der Kierke-
gaard sehen Darstellung vollständig. Er hält sogar ab-
sichtlich die Kräfte fern, die auf dem einen Stadium
•eine Ankündigung des nächsten enthalten könnten.
Dadurch erscheint (allerdings der Theorie vom Sprung
ganz entsprechend) jedes einzelne Stadium als etwas
vollständig Fertiges, Abgeschlossenes, das weder vor-
noch rückwärts weist. Es sind fertige Gestalten, die
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 95
«r zeichnet. Sie haben „sich festgefahren'-'^ — nicht in
•eine bestimmte Lebensstellung, sondern in die Weise,
wie sie das Leben nehmen. Sie haben alle Möglich-
keiten abgethan. Selbst die letzte Möglichkeit, die auf
dem Gesetz der Reaktion, auf der Tendenz eines stark
gespannten seelischen Zustandes beruht, in sein Gegen-
teil umzuschlagen, eine Möglichkeit von sehr grosser
Bedeutung in der Entwicklung des Seelenlebens, —
selbst sie scheint für diese „Aesthetiker'' nicht länger
zu bestehen, bei denen Genuss und Reflexion die Kraft
eingeschläfert oder ausgebrannt hat, ohne die auch die
blosse Reaktion (die ja eigentlich ein Erschlaffangs-
symptom ist) sich nicht denken lässt. Das psycho-
logische Denkexperiment hat hier so extreme Gestalten
geschaffen, wie sie der wahrscheinliche Gang des Lebens
nicht aufweist. Es ist daher ein wenig treffender Name,
wenn Kierkegaard das, was er schildert, als Stadien
bezeichnet. Unter Stadium denkt man sich ein Glied
in einer Entwicklung; von Kierkegaards Stadien aber
erfährt man nicht, woher sie kommen, und im Grunde
(denn der „Sprung" ist keine Antwort) auch nicht,
wohin sie gehen. Seine Schilderung erinnert am ehesten
an Dante's göttliche Komödie mit ihren drei Abteilungen
• — und das ästhetische Stadium entspricht dann der
Hölle, über deren Eingang geschrieben steht: „Ihr, die
ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren!"
Kierkegaard hat sich hiedurch unleugbar — ohne
■dass wir das in anderer Hinsicht Meisterhafte in seiner
Schilderung verkennen wollten — die Aufgabe leichter
gemacht, als sie ist. — Wie doch jede Weise zu denken
wieder ihre besonderen Gefahren mit sich bringt! Es
war für die quantitative Dialektik (die Aufsuchung der
Einheit der Gegensätze) eine Gefahr, die Dinge für
•einfacher zu nehmen als sie sind; aber der qualitativen
Dialektik, der Philosophie des Sprungs, droht, wie wir
sehen, ganz dieselbe Gefahr.
96 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Wo irgend eine Entwicklung möglicli ist, da geht
sie nicht von den vollständig fertigen Gestaltungen aus^
in die das Leben sich gleichsam verrannt hat, sondern
von den mehr unbestimmten, fiiessenden, nur wenig
difFerentiierten Formen. Es ist nur das populäre Miss-
verständnis der Entwicklungslehre, das die eine der
Arten, die wir jetzt haben, von der andern {z. B. den
Menschen vom Affen) abstammen lässt. Nach der Ent-
wicklungslehre stammen die heute existierenden Arten
von Formen ab, die mit den von ihnen im Laufe der
Entwicklung entstandenen nur eine „allgemeine Ähn-
lichkeit" hatten,*) Dies liegt einfach darin, dass alle
Entwicklung eine Differenziierung, eine Entstehung von
Verschiedenheiten ist. Wo alles im voraus pointiert,
ausgebildet und auf die äusserste Spitze hinausgetrieben
ist, da ist ein derartiger Prozess unmöglich. Die Spitze
kann abgebrochen werden, es geht aber keine neue Form
daraus hervor.
Will man daher verstehen, wie aus einem gegebenen
Stadium sich ein neues entwickeln kann, so darf man
sich an dasselbe nicht in seiner vollständig fertigen
Form halten, man muss vielmehr auf eine frühere Ent-
wicklungsstufe zurückgehen, wo das jetzt fertige defini-
tive Stadium in seinem Werden war und noch eine
weniger bestimmte Form hatte. Möglichkeiten giebt es
nur, wo Werden und Unbestimmtheit ist. Das hat uns
Kierkegaard selbst gelehrt; er will nun aber einmal,
wenn es sich um die Entscheidung handelt, von Mög-
lichkeiten gar nichts wissen. Man muss auf den Punkt
zurückgehen, wo sich der Weg teilte, wie ein Bahn-
zug, der auf eine falsche Linie geraten ist, zur Weichen-
stelle zurückkehren muss. Am Scheideweg findet die
eigentliche Entscheidung statt. — Sie tritt aber nicht
immer ins Bewusstsein, sie kann halb bewusst oder
unbewusst vor sich gehen. Wir sind infolge einer
*) Vrgl. Darwin, origin of species, chapt. 9.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 97
natürlichen psychologischen Täuschung geneigt, unsere
Entscheidungen später anzusetzen und überhaupt un-
serer hewussten Wahl grössere Bedeutung beizulegen,
als sie hat. Sie ist oft nur der bewusste Schlussstein.
— Hier zeigen sich das psychologische und ethische
Interesse in ihrer Harmonie. Dem unmotivierten und
unvorbereiteten Sprung würden wir ganz hilflos gegen-
überstehen und die ethischen Urteile wären blosse
(xefühlsausbrüche ohne praktische Bedeutung, da sie
nur hinterdrein kämen und auf den nächsten Sprung
gar keinen Einfluss ausüben könnten. Nur indem wir
zu den Entwicklungsmöglichkeiten, also zu den unfer-
tigen Stadien zurückgehen, können wir etwas zur
Bestimmung der Zukunft thun, soviel oder so wenig
dies nun sein mag.
ß. Die ethische Lebens anschauung.
1. In der Auffassung der ethischen Lebensanschau-
ung ist eine Differenz zwischen den dichterischen
Darstellungen im zweiten Teil von „Entweder-Oder",
im zweiten Abschnitt der ,, Stadien auf dem Lebens-
wege" u^nd in „Furcht und Zittern'^ einerseits und der
philosophischen Charakteristik in der „Unwissenschaft-
lichen Nachschrift'' andererseits; — eine Differenz, die
sich als ein Widerspruch erweist, der auf eine ent-
scheidende Aenderung in Kierkegaards Ideen hindeutet..
— Wir halten uns vorerst an die dichterischen Schil-
derungen, und namentlich an die zwei zuerst genannten,
da „Furcht und Zittern" sich besser bei der religiösen
Lebensanschauung besprechen lässt.
Während das ästhetische Stadium alle wirklichen
Verhältnisse in blosse Möglichkeiten auflöst, mit denen
Phantasie und Stimmung ihr willkürliches Spiel treiben
können, sind im ethischen Stadium Wirklichkeit, Ernst
und Verantwortlichkeit die Hauptbestimmungen. Und
indem nun auch hier das Verhältnis zwischen Mann
Höffding, S. Kierkegaard. 7
9B ^^' Sören Kierkegaards Philosophie.
und "Weib zur dichterischen Beleuchtung der Lebens-
anschaunng verwendet wird, tritt die Ehe als Ausdruck
für das Ethische auf. Die Ehe unterscheidet sich von
dem bloss erotischen Verhältnis dadurch, dass zur Liebe
ein Entschluss hinzu kommt. Im Entschluss liegt,
ethisch betrachtet, des Menschen ganze Idealität. Die
Frage ist aber nun die : wie können Ueberlegung und
Entschluss da Anwendung finden, wo unmittelbares Ge-
fühl und Leidenschaft scheinbar allein das Wort führen
können? Kierkegaards Antwort hierauf ist fein und
hübsch. Ueberlegung und Entschluss, sagt er, haben
mit dem Liebesverhältnis selbst nichts zu schaffen : „Die
heilige Stätte der Liebe und den geweihten Boden der
Unmittelbarkeit dürfen sie nicht betreten." Was sie
angeht, das ist nur „das Verhältnis der Liebe zur
Wirklichkeit" („Stadien" S. 164 [142]). Es handelt
.sich darum, ob man aus dem Liebesverhältnis that-
sächlichen Ernst zu machen und dasselbe gegenüber
jeder Gefahr und Anfechtung und mit dem Bewusstsein
des Allgemeinmenschlichen in dem Bunde, der gestiftet
wird, in die Wirklichkeit einzuführen wagt. — Die
Liebe wird also als gegeben, als das Konstituierende
vorausgesetzt, und der Entschluss tritt als die be-
schützende Macht auf, die innere und äussere Gefahren
abwehrt.
Während die Entwicklung, die diesen Gedanken zu
teil wird, schön und reich ist (am gelungensten in den
„Stadien" , im zweiten Teile von ,, Entweder-Oder" ist sie
ziemlich breit ausgesponnen), fehlen, wie mir vorkommen
will, verschiedene psychologische Bestimmungen. Kierke-
gaard hat einen zu starren, dogmatischen Begriff von
dem „Entschluss". Er tritt wie ein deus ex machina
auf und steht zu der „Liebe", mit der er doch zum
Zustandekommen der Ehe die innigste Verbindung ein-
gehen und von der er, was besonders hervorgehoben
werden muss, ursprünglich hervorgerufen und bestimmt
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 99
sein soll, in einer ziemlich äusserlichen Beziehung. Der
hfitrelFende Entschluss muss aus der Persönlichkeit des
Individuums, seinem realen Selbst hervorgegangen sein,
und zwar in der Weise, wie dieses Zentrale im Indivi-
duum durch die neu erwachte Leidenschaft bestimmt
wird. Eine ganze Reihe von Fällen ist hier möglich :
die Liebe kann das innerste Ich in mannigfacher, ver-
schiedener "Weise beeinflussen. Sie kann dasselbe um-
schliessen und decken, oder aber auch nur in derPeripherie
berühren : sie kann ganz neue Elemente in ihm ins Leben
rufen, es ergänzen und erweitern, kann es aber auch
o:leich einer dämonischen Macht einengen und isolieren.
Und diese verschiedenen Wirkungsweisen können bei dem-
selben Individuum in demselben Liebesverhältnis successiv
auftreten. Die Grundlage aber, worauf der genannte
Entschluss ruht, nämlich das Verhältnis zwischen dem
neuen Gefühl und dem Zentralen im Ich, kann daher
unbestimmt und wechselnd sein; in den motivierenden
Voraussetzungen des Entschlusses laufen vielleicht ver-
schiedene Illusionen und Anticipationen mit unter. Und
hiezu kommt noch (was ich S. 204f meiner Ethik be-
sonders hervorgehoben habe), dass die Charaktere in
der Lebensperiode, worin der Eintritt in die Ehe am
häufigsten erfolgt, noch nicht vollständig entwickelt
sind. Selbst die Uebereinstimmung oder den ergänzenden
Gegensatz, die die Ehe möglich und glücklich machen,
vorausgesetzt, so ist damit nicht gesagt, dass die fort-
gesetzte Entwicklung der zwei Charaktere in derselben
Richtung weiter gehe ; sie können beide sich tüchtig
und gesund entwickeln — und doch können sich ihre
Wege scheiden. Auf die Probleme, die hiedurch ent-
stehen, und auf die Tragödien, die sich da ergeben
können, geht Kierkegaard nicht ein. Es hängt das
zusammen mit dem psychologischen Dogmatismus in
.seinem BegriiF des Entschlusses, nicht minder aber
auch mit einem Dogmatismus in seinem Begriff der Ehe.
7*
100
IV. Sören Kierkegaards Philosoph!«.
Er sieht sie bloss in ihrer idealen Gestalt als etwa»
vollkommen Fertiges und erklärt dann : alles oder nichts.
Endlich hängt es auch damit zusammen, dass ihm die
Ehe eine religiöse Institution ist. Jener Entschluss
wird in seinen Augen ohne religiöse Sanktion nicht mög-
lich. Und was das Weib betrifft, so ist — bezeichnend
für seine Autfassung des Weibes — bei ihr von Ent-
schluss nicht die Rede: „Eine weibliehe Seele hat nicht
die Reflexion, die der Mann hat, und soll sie nicht
haben. Sie soll daher auch nicht zum Entschluss-
kommen, vielmehr gelangt sie, hurtig wie der Vogel,
von der ästhetischen Unmittelbarkeit direkt zur religi-
ösen." (Stadien" S. 170 [148].) Für das Weib fällt also,
das ethische Stadium weg ! Und für den Mann eigentlich
auch, da der ,, Entschluss'' nicht ohne religiöse Voraus-
setzungen denkbar sein soll. — Es wird auch im Fol-
genden sich von mehreren Seiten zeigen, wie in Kierke-
gaards Darstellung die ethische Lebensanschauung zu
kurz kommt.
2. Beim Übergang vom ästhetischen zum ethischen
Stadium spielt der Begriff der Wiederholung eine
wichtige Rolle. Er ist mit dem Entschluss verwandt,
fällt aber mit ihm doch nicht zusammen. Er bildet,,
wie der Entschluss, eine Grrenzscheide zwischen dem
Ästhetischen und dem Ethischen. Es ist ästhetisch,,
sich in Stimmungen und Eindrücken zu wiegen, nur
sollten diese dann womöglich neu und wechselnd sein.
Ethisch ist es, dass man mit Innigkeit und Treue zu
derselben Sache zurückkehrt ; die Wiederholung ist ge-
wissermassen die ethische Kunst: „die Losung in jeder
ethischen Anschauung". Die Wiederholung spielt aber
nicht bloss beim Zustandekommen des Entschlusses eine
Rolle, sie tritt beim Übergang des Entschlusses zur
Handlung wieder auf. Im Entschlüsse habe ich der
Handlung vorgegriffen; der Entschluss ist eine ideelle,
eine mögliche Handlung ; nun aber gilt es, ob ick
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 101
wiederholen kann, d. h. ob ich das Mögliche in Wirk-
lichkeit umsetzen kann, obgleich die Wirklichkeit hier ja
nur eine Wiederholung des in der Möglichkeit Enthaltenen
ist. Und nochmals tritt die Wiederholung auf, wenn
ich meinen Entschluss siegreich durchgeführt, meine
Sache gewonnen habe. Denn im Siegesrausch gilt es,
die Aufgabe nicht zu vergessen, dass man das Gre-
•wonnene geltend mache, das Ausgeführte fortsetze.
„Charakter besteht nicht sowohl darin, dass man siegt,
als darin, dass man standhält, nachdem man gesiegt
liat, dass man sich im Charakter hält." („Die Wieder-
holung, ein Versuch in der experimentierenden Psycho-
logie", S. 34. — 1833—43, S. 439; 1849, S. 243.)
Der Begriff der Wiederholung stellt Kierkegaards
Philosophie in bezeichnenden Gegensatz zu Hegels Lehre
von der „Vermittlung", von der Versöhnung der Gegen-
.sätze in einer höheren Einheit. „Die Wiederholung",
.sagt Kierkegaard, „ist eigentlich das, was man fälsch-
lich die Mediation genannt hat." (Die Wiederholung
S. 33.) Der Fehler bestand darin, dass man die Ver-
.söhnung der Gegensätze als selbstverständlich ansah,
als wäre sie schon durch die Natur der gegensätzlichen
Glieder selbst hervorgerufen. Dies ist auf dem Gebiete
des Willenslebens nach Kierkegaard nicht der Fall.
Es gehört ein psychologisch unerklärlicher Willensakt
her, um die streitenden Elemente zu verbinden; es
kommt also zu diesen ein neuer Faktor hinzu. Dies macht,
dass Kierkegaard, wie schon gesagt, die Analogie zwischen
geistiger und organischer Entwicklung leugnet. Nach
Hegels Auffassung entsteht die höhere Einheit dadurch,
dass man von dem zweiten Gliede des Gegensatzes zu
dem ersten zurückkehrt; aber eben dieses Zurückkehren
ist für Kierkegaard das grosse Problem, das, was die
Grenzscheide zwischen der ästhetischen und der ethi-
schen Lebensanschauung bezeichnet. Es giebt den
Punkt an, wo das Eingreifen des Willens, also, nach
102 I^' Sören Kierkegaards Philosophie.
Kierkegaard, der Ruck, der Sprung, stattfinden muss.
Aesthetiscli geht man ja in der Richtung der Tangente ;
es muss eine besondere Kraft postuliert werden, die
den Planeten in der Bewegung um dasselbe Zentrum
festhalten kann.
In der „Wiederholung" hat Kierkegaard die Be-
deutung dieses Begriffs unter einer verschwenderischen
Fülle dichterischer Ausstattung entwickelt, die sie zu
einer Perle in der reichen Schatzkammer seiner Werke
macht, obwohl sich dieser dichterische Apparat unver-
kennbar auf Kosten des Begriffs und des Gedankens,
breit macht, Kierkegaard beklagte sich höchlich über
Heiberg, dass er seine Meinung missverstanden habe;
allein er hatte nicht genug gethan, um sich ein klares
Verständnis zu sichern. — Ich kann nicht umhin, einen
Passus (S. 4 — 6) der genannten Schrift, der des Ver-
fassers Idee auf's schönste zum Ausdruck bringt, an-
zuführen.
„Die Hoffnung ist ein neues Gewand, steif und
stramm und glänzend; doch man hat es noch nie ge-
tragen und weiss daher nicht, wie es einen kleiden
wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abge-
legtes Gewand, das, so schön es auch ist, doch nicht
passt, weil man ihm entwachsen ist. Die Wiederholung
ist ein unzerreissbares Gewand, das fest und weich
anschliesst, nicht drückt, noch Falten wirft. Die Hoff-
nung ist ein anmutiges Mädchen, das einem zwischen
den Händen entschlüpft ; die Erinnerung ist eine schöne
Matrone, mit der einem im Augenblick doch nie gedient
ist ; die Wiederholung ist eine liebe Hausfrau, die einem
nie entleidet .... Man muss jung sein, um in der
Hoffnung, jung um in der Erinnerung zu leben; aber
es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer
nur hoffen will, ist feige; wer bloss sich erinnern will,
ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der
ist ein Mann, und je gründlicher er sie sich klar zu
IV. Sören Kierkegaards Philosophie 103
machen gewusst hat, ein um so tieferer Mensch ist er.
Wer aber nicht fasst, dass das Leben eine Wiederholung
ist und dass dies des Lebens Schönheit ist, der hat
sich selbst gerichtet und verdient nichts Besseres als
dass er umkommt, was auch geschehen wird; denn die
Hoffnung ist eine winkende Frucht, die nicht sättigt,
die Erinnerung ein kümmerlicher Zehrpfennig, der nicht
sättigt; die Wiederholung aber ist das tägliche Brot,
das mit Segen sättigt. Wenn man das Dasein umsegelt
hat, so soll sich's weisen, ob man Mut hat, zu verstehen,
dass das Leben eine Wiederholung ist, ob man Lust
hat, sich ihrer zu freuen. Ja, was wäre denn auch das
Leben, wenn keine Wiederholung wäre? Wer könnte
wünschen, eine Tafel zu sein, worauf die Zeit jeden
Augenblick eine neue Schrift schriebe oder nur die
Erinnerung an das Vergangene aufzeichnete? Wer
könnte wünschen, von allem dem Flüchtigen, dem Neuen
sich bewegen zu lassen, das der Seele immer nur eine
weichliche Ergötz ung bietet?"
Es zeigt sich doch auch bei dem Begriff der Wieder-
holung, dass das ethische und das religiöse Stadium
nicht auseinander gehalten werden. Denn die Wieder-
holung, die bei Kierkegaard ja eigentlich Wollen,
Handeln, aktives Eingreifen bedeutet und die er daher
die Losung der ethischen Anschauung nennt, ist für ihn
doch eigentlich eine religiöse Kategorie. Dem jungen
Mann, der in der ,, Wiederholung" geschildert wii'd,
gelingt es nur durch eine religiöse Bewegung, das Leben
zu wiederholen, es wirklich zu leben. Wiederholung
bedeutet überhaupt Konzentration, Einkehr und Ver-
tiefung in sich selbst — und da nun nach Kierkegaard
das tiefste Selbstverständnis in dem Religiösen erreicht
wird, so ist es erklärlich, wie die Wiederholung, die
zuerst die Grenzscheide zwischen dem Aesthetischen und
dem Ethischen bezeichnet, auch als religiöser Begriff
auftreten kann.
104
IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Die Wiederholung ist jedoch, mag sie nun ethisch
oder religiös aufgefasst werden, nach Kierkegaard psy-
chologisch nicht zu begründen. Sie ist „transcendent",
setzt einerseits einen „Ruck der Entscheidung", anderer-
seits eine Beziehung auf ein übernatürliches Prinzip
voraus. Auch hier ist er sicher von der Psychologie
selbst zu bald abgesprungen. Was die Gefühle betrifft,
die mit einem reicheren Gedankeninhalt verbunden sind
— und von der Art sind besonders die, die dem Verhältnis
zu andern Persönlichkeiten entspringen, — so ist ihre
Wiederholung kraft der allgemeinen psychologischen
Gesetze sehr wohl verständlich. Da ich mich jedoch
anderwärts (Psychologie, S. 388— 392) eingehender hier-
über ausgesprochen habe, und zwar mit besonderer Rück-
sicht auf Kierkegaard, so will ich mich hier nicht weiter
darauf einlassen.
3. Während Kierkegaard in seinen dichterischen
Werken als bezeichnendsten Ausdruck des ethischen
Stadiums die Ehe benutzte, wird ihm später (in der
„unwissenschaftlichen Nachschrift) ein ganz anderer
Begriff der ethische Hauptbegriff, nämlich der Begriff
des Einzelnen. Ethisch angesehen hat das Indivi-
duum nur mit sich selbst zu thun, ist hier seine These.
,.Die eigene ethische Wirklichkeit des Individuums ist
die einzige Wirklichkeit" (S. 301). „Ethisch betrachtet
giebt es kein direktes Verhältnis zwischen Subjekt
und Subjekt" (S. 296). Das Innere des Andern kenne
ick nur als Möglichkeit; — unmittelbar wirklich ist
mir nur mein eigenes Innere: hier also ist die Welt
für mein Handeln.
Zwischen der dichterischen und der philosophischen
Darstellung besteht ein Widerspruch, auf den Kierke-
gaard nicht aufmerksam geworden ist Wenn ein un-
geheurer Abstand zwischen Individuum und Individuum
angenommen wird und jeder nur mit sich selbst zu
thun hat: wie kann dann das Zusammenleben zweier
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 105
Individuen ohne weiteres den Typus für das Ethische
abgeben? — Dass er jetzt das Gemeinschaftsleben im
Verhältnis gegen die Betonung des für sich existierenden
Einzelnen zurücktreten lässt : diese Veränderung markiert
das Auftreten eines der bedeutungsvollsten Gedanken
Kierkegaards, auch stimmt sie zu seiner Grundanschau-
.ung ; durch die weiteren Entwicklungen aber, die sich
daran knüpfen, bildet sie zugleich den Übergang zu
•einer religiös-asketischen Ethik. Er kommt von dem
Gemeinschaftsleben so ab, dass er sich später nicht
wieder zu ihm zurückfindet.
,,Der Einzelne" tritt meines Wissens zum erstenmal
im Vorwort zu den ,,Zwei erbaulichen Eeden" auf, die
im Frühling 1843, einige Monate nach ,, Entweder— Oder",
erschienen. Kierkegaard berichtet hier, wie er mit
seinem Auge das Schriftchen auf seiner Wanderung
^begleitete „Ich sah denn, wie es auf einsamen Pfaden
•oder einsam auf den vielbetretenen dahin ging. Nach
'dem einen oder andern kleinen Missverständnis traf es
-endlich jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dank
meinen Leser nenne, jenen Einzelnen, den es sucht,
nach dem es gleichsam seine Arme ausstreckt." —
Kierkegaard erzählt (1833—43, S. 410), er habe sich
vorgenommen gehabt, dieses Vorwort zu streichen, und
sei daher in die Druckerei gegangen, wo es bereits
gesetzt war ; der Setzer aber, den es gerührt hatte, bat
ihn, es doch stehen zu lassen, und Kierkegaard dachte
'einen Augenblick daran, nur zwei Exemplare drucken
.zu lassen und dem Setzer das eine zu schenken: dann
könnte ja er der Einzelne sein! — So buchstäblich
^nahm ers nun mit seinem „einzelnen" Leser doch nicht.
In seiner Ethik aber machte er mit diesem Begriff um
so mehr Ernst. Beachtet man, was er in seinen Schriften
lund hinterlassenen Papieren da und dort sagt, um die
Bedeutung zu erklären, die er diesem Begriff beimisst, so
.erweisen sich folgende Gesichtspunkte als die wichtigsten.
106 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
a) In dem einzelnen Individuum spielen sich die-
Vorkommnisse ab, die dem geistigen Leben Wert ver-
leihen ; hier liegen die Aufgaben, und hier haben die
Entscheidungen vor sich zu gehen. Das Greschlecht ist
ein Phantom, ein phantastisches Medium; nur die ein-
zelnen Individuen sind Realitäten, und zwar i.st jeder
nur für sich selbst unmittelbare Realität. Wenn das
Geschlecht je ein Ziel hat, so geht das jedenfalls den.
Einzelnen nichts an. (,, Nachschrift" S. 135 f.)
b) Was andere für mich thun können, ist nur dies,
dass sie aufweckend auf mich einwirken; und dies ge-
schieht mehr indirekt als direkt und ist eine schwierige
Kunst, die Kunst, die Sokrates übte, die nur wenige
gleich ihm zu üben verstehen. Der Einzelne ist die
,, Kategorie für die geistige Weckung", der Engpass,
den das Geschlecht passieren muss, um das Höchste zu
erreichen. (Der Gesichtspunkt für meine schriftstellerische
Wirksamkeit S. 105, 108.) Der eine Mensch kann den.
andern nicht beurteilen, weil er ihn in seiner Wirklich-
keit nicht kennen kann (Unwissensch. Nachschrift S. 29 7);
andererseits aber kann ein Mensch auch nur sehr wenig
für den andern sein und thun, und Kierkegaard sagt
von sich selbst : „Soweit meine Erinnerung zurückreicht,
war ich über eines mit mir im Reinen: dass für mich
bei andern kein Trost und keine Hilfe zu suchen sei."
(Gesichtspunkt, S. 61.)
c) Und es handelt sich ethisch betrachtet nicht
bloss im grossen Ganzen nur um Selbstthätigkeit ; son-
dern auch in Betreff dessen, wie weit und hoch es jeder
Einzelne je in seinem Wollen und Handeln bringen soll,
ist er auf sich selbst angewiesen. Des Manneswillens-
Quantum-satis (um einen Ausdruck aus Henrik Ibsens
„Brand^ zu benutzen, der hier wie an mehreren Punkten
ein poetischer Kommentar zu Sören Kierkegaard ist) —
kann nur der Einzelne selbst finden. Kein anderer kann,
ihm sagen, wo die Grenze liegt zwischen Mangel an.
IV. Sören Kierkegaarda Philosophie. lOT
Willen und Mangel an Kraft, zwischen Thorheit oder
Selbstsucht und der allem Endlichen anhaftenden Be-
schränktheit. („Nachschrift" S. 458.) Andere werden
ihn am liebsten daran hindern, dass er sich zu weit
hinaus wage, werden zu ihm sagen: ,,Schone dich! das^
widerfahre dir ja nicht!" „Ein Mensch kann von sich
selbst Anstrengungen verlangen, von denen ihm der
wohlwollendste Freund, wenn er darum wüsste, abratem
würde . . . Jeder, der in Wahrheit sein Leben gewagt,
hat den Massstab benützt, den man nur schweigend
für sich haben kann." („Nachschrift" S. 514; vgl. „Ein-
übung" S. 143 [129].) Und das ist um so viel wichtiger, als
man erst durch das Wagen recht aufmerksam auf sich
selbst wird, hinter sein innerstes Wesen kommt! (Krank-
heit zum Tode S. 29 [30].)
d) Es ist wichtig, dass man sofort handle, sobald-
man die rechte Erkenntnis gewonnen hat. Lässt man'
erst eine Zeit drüber hingehen, so ,, kommt die Erkennt-
nis aus dem Kochen". So wird es aber leicht gehen^
wenn ich mit ihrer Anwendung warte, bis ich die Welt
umschafFen kann, statt dass ich mit dem beginne, was-
mir zunächst liegt: mit mir selbst. Daher kommt es,
dass unsere Handlungen sich zu unserem Verständnis
verhalten — nicht wie der treue Abdruck zu dem Urbild,
sondern — jjwie das Löschpapier zur Schrift, auf
der es gelegen !" (Krankheit zum Tode S.102f [95] ; Richtet
selbst S. 32.)
e) „Jeder Mensch ist herrlich angelegt, was aber
so viele zu Grunde richtet, das ist unter anderem auch
diese unselige Schwatzhaftigkeit unter den Menscheni
über das, was man leiden, aber auch erst in der Stille
heran reifen lassen soll." (,, Nachschrift" S. 457.) Der
Einzelne — ,, nicht ein einzelner Ausgezeichneter, sondern
jeder Einzelne" — steht über dem Geschlecht. Hierim
liegt das eigentlich Menschliche, das, was den Menschen,
vom Tiere unterscheidet. (Gesichtspunkt, S. 68.) Iclv
t08 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
habe daher kein Recht, vom Höchsten in mir mit
andern Menschen zu reden. (1850, S. 343.) — Dadurch
wird auch verständlich, was schon berührt wurde, dass
die Ironie eine Uebergangsstufe zwischen dem Aesthe-
^ischen und dem Ethischen ist. Der Ironiker kann (wie
Sokratea) von der ethischen Forderung ergriffen sein,
•er steht aber unter dem Eindruck des Gegensatzes
zwischen dem, was so in seinem Innern ist, und der
äusseren Wirklichkeit; die Inkommensurabilität zwischen
dem Inneren und Aeusseren drückt er damit aus, dass
•er sich selbst als etwas Endliches und Gleichgültiges
unter dem vielen Endlichen und Gleichgültigen im
Dasein behandelt. Ein Ethik er kann die Ironie als
Inkognito benutzen, um nicht durch das Missverhältnis
zwischen dem, was ihn, und dem, was die Welt begei-
stert, komisch zu werden. Hiedurch unterscheidet er
sich von einem ,, unmittelbar Begeisterten, der früh
*md spät in die Welt hinausschreit und jederzeit vom
Kothurn herab die Leute mit seiner Begeisterung plagt,
ohne zu merken, dass das diese keineswegs begeistert."
Der Ironiker muss aber nicht notwendig Ethiker sein ;
.er kann auch die blosse Eorm einstudiert haben.*)
Die hohe Bedeutung des Begriffs des „Einzelnen"
•für die Verwirklichung, wie für die Verinnerlichung
des Ethischen bedarf keines näheren Nachweises.
Kierkegaard hat durch diesen Begriff mit sicherer Energie
auf das hingewiesen, was das erste und wichtigste
Gebiet des Ethischen und zugleich seine Quelle und
■ewige Heimat ist und bleibt : auf die Einzelpersönlich-
keit und das Verhältnis zwischen dem Ideal, das sich
hier gebildet hat, und dem Willen, der in ihr sich regt.
Der „Einzelne" ist die erste ethische Idee, und er ist
*) „Nachschrift" S. 472, wo Kierkegaard seine eigene frühere,
negativere Auifassnng der sokratischen Ironie berichtigt, die er in
^seiner Doktordissertation ansgesprocheu hatte.
IV. Söran Kierkegaards Philosophie. 10&'
bei Kierkegaard betont teils gegenüber der Verflüch-
tigung, wozu die kontemplative und ästhetische Richtung;
leicht führt, die den Willen ausser Betracht lässt und
das Ideal zum Gegenstand blossen Schauens macht, —
teils gegenüber der Neigung, sich in der sozialen und
historischen Betrachtungsweise zu verlieren, die sich,
um die Vorgänge im einzelnen Inneren nicht kümmert,
wenn nur das Greschlecht im Ganzen oder im Durch-
schnitt in der oder der Richtung sich bewegt. Für
Kierkegaard verlöre das Dasein allen Sinn, wenn man
nicht im Einzelnen den höchsten Wert sehen würde ;
denn wie will sich sonst die ,, göttliche Verschwendung"
erklären, „die eine Unzahl von Individuen in einer
Generation nach der andern braucht, um die welt-
geschichtliche Entwicklung in Gang zu bringen?"
Wie trostlos, wenn das Höchste das „bunte Farbenspiel
der aufeinanderfolgenden Generationen" sein sollte,-
das dem einer ,,Heringsscliaar im Meere" zu vergleichen
ist, die ja auch einen grossartigen Anblick darbietet,
„während die einzelnen Heringe nicht viel wert sind."
Ganz anders, wenn die höchste Aufgabe auf und in der
einzelnen Subjektivität liegt: sind die Individuen auch
zahlreich wie der Sand am Meere, so ist doch jedem
von ihnen die Aufgabe gestellt, eine Persönlichkeit zu
werden. Die Weltgeschichte muss man denn Gott über-
lassen, ,,dem königlichen Dichter", der sie allein über-
schauen kann („Nachschrift", S. 139.) — „Meine etwaige
ethische Bedeutung", sagt Kierkegaard mit Recht in
seinem „Rapport an die Geschichte" (Gesichtspunkt,
S. 106) ,,ist unbedingt an die Kategorie des Einzelnen
geknüpft."
4. Der Begriff des Einzelnen als Hauptbegriff der
Ethik entspricht dem Satze: „Die Subjektivität ist die
Wahrheit" als dem Hauptsatze in der Erkenntnistheorie.
In Analogie mit diesem Satze könnte man denn sagen:
die Subjektivität ist das Gute. Es kommt nicht auf
IIQ lY. Sören Kierkegaards Philosophie.
den Inhalt, den Gegenstand an, zu dem man sich in
iseinem Handeln oder in seiner Erkenntnis verhält,
sondern auf die innere, subjektive Bewegung. Und
Kierkegaard hat diesen Satz eigentlich auch aufgestellt,
indem er ausdrücklich erklärt, das Gute lasse sich nicht
«definieren, da es nicht etwas von der Freiheit (dem
Wollen, der Subjektivität) Verschiedenes sei. (,, Angst"
S. 111 [115]). Allein derselbe formale und innere Wille
liesse sich ja mit dem verschiedenartigsten Inhalte denken I
Hätte Kierkegaard mit seinem Subjektivitätsprinzip in
der Ethik Ernst machen wollen, so durfte er den Ein-
;zelnen nicht von allen Verhältnissen der Wirklichkeit,
von allen Verhältnissen mit anderen Menschen isolieren;
denn nur in diesen kann die ethische Subjektivität einen
-wirklichen Inhalt bekommen. Eine ausschliessliche Be-
lischäftigung mit sich selbst ist nur in einem Kloster
möglich, wo es keine realen Aufgaben giebt, wo viel-
mehr die vorgenommenen Arbeiten nur zur formalen
Übung dienen. Hier zeigt es sich wieder, dass das
ethische Stadium bei Kierkegaard keine Selbstständig-
keit gewinnt. Alle und jede Ethik, die er anerkennt,
ist in der Wirklichkeit religiös and asketisch. Der
.einzige Inhalt ist der Gehorsam des Einzelnen gegen
Gott. Das Ethische steht für ihn in absolutem Gegen-
,satz zu allem, was in die Erscheinung treten und für
andere Menschen oder in der Geschichte Bedeutung ge-
winnen kann. Er konnte sich denken, „Gott schüfe,
ohne Unrecht zu thun und ohne die Liebe, die sein
Wesen ist, zu verleugnen, einen Menschen mit Gaben
wie kein zweiter ausgerüstet, setzte ihn an einen ent-
legenen Ort und sagte zu ihm : durchlebe jetzt mit einer
Anstrengung, wie kein anderer sie kennt, das mensch-
liche Dasein, arbeite so, dass die Hälfte zur Umschaffang
.einer ganzen Zeit genügen würde ; aber du und ich
.sind darüber im Reinen, dass all dein Streben gar
Jkeine Bedeutung für irgend einen andern
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. Hl
Menschen haben soll, und gleichwohl sollst du,
verstehe wohl, du sollst das Ethische wollen und du
sollst, verstehe wohl, du sollst begeistert sein, weil
dies das Höchste ist." („Nachschrift" S. 119.) Wenn
Kierkegaard die soziale und historische Betrachtungs-
weise anklagt, dass sie eine unbegreifliche Verschwen-
dung in der Welt statuiere, so lässt e r sich nach meiner
Meinung eine noch viel grössere Vergeudung mensch-
licher Kräfte zu Schulden kommen, vor lauter Eifer in
der Betonung des formalen Gehorsams, der subjektiven
Spannung im Innern, die für ihn eigentlich das Höchste
ist. Um ein Bild, das ich schon früher (in der ,, Grund-
lage der humanen Ethik") gebraucht habe, hier noch-
mals zu verwenden : Kierkegaards Ethik wird in diesem
Stück von den ägyptischen Mönchen realisiert, die ihr
Leben damit zubrachten, dass sie Stöcke, die sie in den
Sand gepflanzt hatten, bewässerten. Das war eine Be-
schäftigung, die absolut nichts Soziales oder „Welt-
geschichtliches" an sich hatte und bei der die „Wieder-
holung" und subjektive Anspannung reichlich zu
verwenden war, wenn sie ein ganzes Leben hindurch
fortgetrieben werden sollte. Wenn der Gehorsam, n
gleichviel, in was, das Höchste ist, so ist hier das Höchste
geleistet. Allein das ist Verschwendung, denn es wird
damit kein reales Gut, kein Zweck erreicht.
Die rein subjektive Ethik, der Kierkegaard das
Wort redet, übersieht, dass die einzelne Persönlichkeit
gerade erst durch das Leben in den wirklichen mensch-
lichen Verhältnissen und durch die Arbeit an Aufgaben
von wirklicher realer Bedeutung entwickelt wird, ab-
gesehen von der durch die Arbeit selbst gewonnenen
Übung. Die sozialen ethischen Aufgaben sind ja sämt-
lich derart, dass sie darauf ausgehen, das persönliche
Leben bei möglichst vielen zu fördern; es ist nicht
Aeusserlichkeit, nicht Nachgiebigkeit gegen die „For-
derung der Zeit", noch auch weltgeschichtliche Wichtig-
■^
112
IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
thuerei, sondern ein gesundes menschliches Grefühl, das-
will, dass unser Thun mehr Bedeutung habe, als eim
blosses Übungspensum für uns zu sein.*) Wenn Kierke-
gaard selbst meinte, seine ,,ethische Bedeutung" sei
an die Kategorie des Einzelnen geknüpft, so meinte er
doch wohl nicht bloss, die Beschäftigung mit diesem
Gedanken sei für ihn selbst förderlich gewesen —
d. h. er hätte hier doch wohl ,,liistorische Bedeutung"
statt „ethische" Bedeutung schreiben können. — Nur
auf die Absicht kommt es nach Kierkegaard beim
Handeln an; die Wirkungen des Handelns sind gleich-
gültig. Die Ethik hat nur mit der Absicht, die Welt-
geschichte mit den Wirkungen zu thun. Und die Ethik
hat sich nicht um die Weltgeschichte zu kümmern.
(,, Nachschrift", S. 112.) Allein diese Scheidung zwischen
Absicht und Wirkung ist unhaltbar. Es muss meine
Aufgabe sein, möglichst viele Wirkungen meines Handelns
vorauszusehen, und treten sie nicht ein, oder treten
ganz andere ein, so kann das meine Schuld sein. Alle
Ethik beruht darauf, dass sich die Wirkungen unserer
Handlungen bis zu einem gewissen Grade, in einer ge-
wissen Ausdehnung voraussehen lassen. Und wir geben
(wenn wir nicht Asketen sind) Handlungen, deren
Wirkungen ohne Wert sind, auf.
Kierkegaards forcierte Einseitigkeit in diesem Punkt
tritt darin zu Tage, dass er über menschliche Gemein-
schaftsverhältnisse nur auf eine spöttische und hämische
Weise reden kann. Es kann ja, sagt er einmal („Nach-
schrift", S. 372), von dem einzelnen Individuum sehr
*) In meiner Ethik (S. lOOj habe ich dies etwas weiter ans-
geführt. Ich erlaube mir überhaupt auf Kapitel III und VIII diese»
ßuchs hinzuweisen, wo ich den Grundgedanken zu entwickeln snchtCr
dass man wohl von dem Begriff des Geschlechts oder der Gesellschaft
ausgehend, also auf dem Boden der sozialen Kthik, die Idee des-
Einzelnen begründen kann, nicht aber umgekehrt von dieser Ide&
allein aus eine soziale Ethik.
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 113
löblich sein, dass er Kammerrat, flinker Arbeiter im
Kontor, erster Liebhaber im dramatischen Verein, beinahe
Virtuose auf der Flöte, Schützenkönig, Asyldirektor,
würdiger Herr Vater, kurz ein Hauptkerl ist, der das
„Sowohl— Als auch" versteht — und Zeit zu allem
findet." So treffend sein Spott über die Eitelkeit und
Aeusserlichkeit in der menschlichen Geschäftigkeit ist,,
so ist es doch sonderbar, dass ein Schriftsteller, der
das ethische Stadium als eine besondere Lebensform
schildern will, von dem menschlichen Gesellschaftsleben
in keinem andern Tone reden kann. Das ist falsch
verstandener Idealismus. Das ist die Unfähigkeit des
Romantikers, in dem anscheinend Prosaischen und All-
täglichen die Idealität zu finden. Es ist auch eine
Unfähigkeit, die Bedeutung zu entdecken, welche Verhält-
nisse und Bestrebungen, die in den Augen eines vor-
nehmen Romantikers scheinbar niedrig und komisch
sind, doch für die Entwicklung der Persönlichkeit haben
können. Indem Kierkegaard bei seiner Schilderung des
ethischen Stadiums dem religiösen Stadium zueilt, hat
er zugleich nicht so wenig von dem Aesthetischen bei
sich behalten. In dieser Hinsicht ist besonders folgende
Tagebuchnotiz (1849, S. 242) bezeichnend: ,,Die Alters-
stufen, wovon man für die Idealität lernen kann, sind
das Kind, der Jüngling, das junge Mädchen, der Greis.
— von dem thätigen Mann, der geschäftigen Hausmutter
kann man in dieser Beziehung nichts lernen. Und
warum nicht? Weil sie wesentlich mit den Zielen der
Endlichkeit beschäftigt sind." Hier zeigt sich, dass
Kierkegaard seine eigene Schrift über die „Wiederholung''
vergessen hat; er preist ja nunmehr die Hoffnung und
die Erinnerung als die einzigen Formen der Idealität;
die Wirklichkeit selbst fällt für ihn weg. Denn hat er
darin recht, dass immer von Einzelnen gestrebt und
gewirkt werden muss, so ist es nicht minder
wahr, dass es stets einzelne bestimmte und daher endliche
Hoff ding, S. Kierkegaard. 8
114 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Aufgaben sind, woran und wofür man wirken
und arbeiten muss. Hier bedarf der Ethiker des psycho-
logischen und historischen Blicks, der das Grosse im
Kleinen, das Bedeutungsvolle im Unscheinbaren zu sehen
versteht. Eaerkegaard aber betrachtet die Psychologie
wie die Geschichte als Feinde der Ethik.
Endlich kann ich die Bemerkung nicht zurückhalten,
dass Kierkegaards absolute Abweisung aller sozialen
Ethik auch mit seiner konservativen Gesinnung und
seinem absoluten Respekt vor allen Autoritäten zusammen-
hängt. Er gewann es in einer Audienz bei Christian VIII.
über sich, zum Könige zu sagen (1849, S. 19): ,,Euer
Majestät einziges Unglück ist, dass Ihre Weisheit und
Klugheit zu gross und das Land zu klein ist; es ist
ein Unglück, Genie in einer Kleinstadt zu sein" — ach,
das Ländchen hätte die ganze, volle königliche Weisheit
sehr wohl brauchen können -~ und noch mehr dazu.
Er konnte in dem Stock des Polizisten ein Symbol des
absoluten Autoritätsprinzips sehen. Denn im Grunde
war seine Ansicht, für alles, was die Gesellschaft angehe,
habe die Regierung zu sorgen, und es sei nur Wichtig-
thuerei und Aeusserlichkeit, wenn die Einzelnen daran
denken wollen. Der Einzelne habe das Gemeinwesen
sich selbst zu überlassen und seine eigenen Privatubungen
in der Ethik zu besorgen. — Als das Jahr 1848 kam,
war der einzige Gesichtspunkt, den er hatte, der, dass
eine allgemeine Auflösung eingetreten sei und dass
Dänemark der Untergang drohe — nicht von Seiten
Deutschlands aus, wie man sich nach seiner Meinung
fälschlich einbildete, sondern von der politischen Freiheit.
5. Genau genommen tritt bei Sören Kierkegaard
das Ethischefnur auf, um im selben Augenblick wieder
abgerufen zuj,werden. Es geht dem Ethischen, um mit
«inem Bilde Kierkegaards selbst zu reden, wie dem
Kinde, das den Kopf in die Welt hereinstreckte, ihn
aber »gleich wieder zurückzog, da es sah, wie böse die
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 115
Welt ist. Das Ethische stellt ein unbedingtes Ideal auf,
das in die Wirklichkeit eingeführt werden soll, wogegen
es nicht seine Aufgabe ist, die Wirklichkeit zum Ideal
emporzuführen. Das Ethische feilscht nicht, hält seine
Forderungen (die der Mensch unmöglich erfüllen
kann) fest, ,,ohne diu-ch das Geschwätz, es helfe nichts,
wenn man das Unmögliche fordere, sich irgend stören
zu lassen." Die Ethik scheitert denn auch — und durch
die Reue vollzieht sich dann der Uebergang zum Reli-
giösen. (,, Angst", S. 13 [9 f.]) ,,I^ie ethische Sphäre
ist nur Durchgangssphäre, und darum ist ihr höchster
Ausdruck die Reue." („Stadien", S. 483 [447].)
Die Ethik steht also von Anfang an in einem rein
negativen Verhältnis zu des Menschen Kraft und Trieb.
Die griechische Ethik, die eine positive Entwicklung
der menschlichen Kräfte und Triebe wollte, erkennt
Kierkegaard nicht als wirkliche Ethik an. Das ist ja
nur konsequent: die Möglichkeiten hat er der Psycho-
logie, die Wirkungen der Weltgeschichte zugewiesen;
die Ethik behält nur die Unmöglichkeiten zurück, —
Es findet sich deshalb bei Kierkegaard auch eine Ten-
denz, das Ethische als ein besonderes Stadium aus-
zuscheiden. Dies gilt von Anfang an hinsichtlich des
Weibes : da ihr die Fähigkeit der Ueberlegung und des
Entschlusses [! !] fehle, so müsse sie sofort von der
ästhetischen Unmittelbarkeit zu der religiösen übergehen.
Dasselbe ergiebt sich aber eigentlich auch für den Mann.
,, Zwischen Poesie und Religiosität'', heisst es S. 426 in
der „Unwissenschaftlichen Nachschrift", ,, führt die welt-
liche Lebensweisheit ihr Vaudeville auf. Jedes Indi-
viduum, das nicht entweder poetisch oder religiös lebt,
ist dumm". Hier ist das ethische Stadium in bester
Form ausgeschieden. Kierkegaards Unfähigkeit, die
Idealität in dem wirklichen Leben zu entdecken, zeigt
sich auch hier wieder. Allerdings ist dem Ethischen
das Urteil gesprochen, wenn es die Poesie ausschliesst.
8*
116
IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Es giebt aber auch eine Lebenspoesie, die nur mitten
unter der Arbeit selbst erlebt und empfunden wird,
die nur bei dem Zusammenstoss des Willens mit dem
harten Feuerstein des Lebens Funken giebt, und die
der zwischen Aesthetik und Askese oscillierende Ein-
siedler nicht kennt. Er redet hier wie der Blinde von
den Farben. — Uebrigens ist noch zu bemerken, dass
der Gregensatz zwischen Poesie und Religion dem Gregen-
satz zwischen Kierkegaards ästhetischem und religiösem
Stadium nicht entspricht. Poetisch zu leben muss für
ihn etwas anderes heissen, als zu leben wie seine
Aesthetiker oder Hedoniker. Dies deutet auf den schon,
früher nachgewiesenen Mangel an der Schilderung der
ästhetischen Lebensanschauung hin.
y. Die religiöse Lebensanschauung.
1. Erst durch religiöse Voraussetzungen gewinnt
Kierkegaards Ethik einen Inhalt oder, wie man viel-
leicht besser sagen könnte, einen Gegenstand. Was dem
ethischen Streben zu Grunde liegt, ist das Verhältni»
zu Gott, dem ewigen, von dem Menschen qualitativ ver-
schiedenen Wesen, und zu der ewigen Seligkeit, die
von dem Einzelnen durch das Gottesverhältnis gewonnen
werden kann. Kierkegaard kennt daher das Ethische
eigentlich nicht; er kennt nur das Ethisch-Religiöse,
Dies hängt sehr enge damit zusammen, dass das Religiöse
für ihn in religiöser Ethik aufgeht. Das Dogmatische
setzt er wohl voraus, allein es schaiFt kein besonderes
Verhältnis; der Wille wird stracks in Beschlag ge-
nommen, und für Kontemplation oder Mystik bleibt
keine Zeit übrig. Er anerkennt das Religiöse auch
nicht als Trost — oder richtiger, er anerkennt den
Trost in der Religion nur so, dass er sofort beifügt:
dieser Trost hat ein bisher ungekanntes Leiden zm' Folge.
Auch hier ist — wie bei der ethischen Lebens-
anschauung — eine Aenderung in Kierkegaards Auf-
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 117
fassung zu bemerken. Früher hatte er in der Schrift
^Furcht und Zittern'' das Verhältnis zwischen dem
Ethischen und dem eigentlich Religiösen als ein gegen-
isätzliches geschildert, sofern infolge des persönlichen
Verhältnisses des Menschen zu Gott ein Bruch des all-
gemeinen ethischen Gebots stattfände. Dies wird in
einer von mächtigem Pathos getragenen Darstellung an
dem Beispiele Abrahams nachgewiesen: er ist bereit,
auf Gottes Geheiss Isaak zu opfern, obwohl das ethische
Gebot sagt: da sollst nicht töten. Der religiöse Glaube
ist Sache des Einzelnen; denn die möglicherweise ge-
forderte Aufhebung des Ethischen lässt sich für andere
nicht verständlich machen, da sie nur durch das eigene
persönliche Gottesverhältnis des Individuums bedingt
und erklärlich ist. Das Ethische hingegen ist das All-
gemeine, über das die Menschen sich unter einander
Terständigen können. Mit dieser Auffassung des Ethischen
als des Allgemeinen steht Kierkegaard hier, wie in
, Entweder — Oder" und in den „Stadien", Hegel noch
näher als in der rein philosophischen Abrechnung in
der „Unwissenschaftlichen Nachschrift", wo, wie schon
früher erwähnt, „der Einzelne" und seine persönliche,
isolierte Existenz ein HauptbegrifF auch für die ethische
Lebensanschauung wird. Nach Hegel war die Ethik
wesentlich sozial; die ethischen Lebenssphären waren
■die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat,
wo allgemeine Regeln gelten und wo das einzelne Indi-
viduum nur ein Moment ist. Mit dieser Auffassung
bricht Kierkegaard zuerst aus religiösen Gründen, um
das persönliche Gottesverhältnis in seine absolute Gel-
tung einzusetzen; aber der Bruch, der mit der Hervor-
kehrung des Begriffs des Einzelnen sich vollzieht, ge-
winnt für die Auffassung des Ethischen rückwirkende
Bedeutung. Nach seiner in der ,, Unwissenschaftlichen
Nachschrift" gegebenen Auffassung bekommt das Ethische
seinen eigentlichen Gegenstand, sein absolutes Ziel erst
118 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
durch das Religiöse, wie dieses andererseits wesentlich
ethischer Art, ein Leben im Streben, Wollen, Handeln
ist. Dass ein Uebergang vom ethischen zum religiösen
Stadium stattfinden muss, gewinnt nun eigentlich den
Sinn, dass alle Ethik, näher besehen, religiöse Ethik
sein muss, um nicht blosse Aeusserlichkeit und Verloren-
heit im Relativen zu sein. Es zeigt sich, dass der
Einzelne seine eigene persönliche Wirklichkeit nur durch
das Verhältnis zu einer absoluten Persönlichkeit fest-
halten kann.
Durch das Verhältnis zu Gott und einer ewigen
Seligkeit wird dem Einzelnen ein absolutes Ziel, ein
absoluter Gregenstand gegeben. Das Religiöse unter-
scheidet sich von dem Ethischen dadurch, dass der
Einzelne, ethisch betrachtet, nur mit sich selbst, seiner
eigenen Wirklichkeit zu thun hat, religiös betrachtet
aber von einer andern Wirklichkeit als seiner eigenen
unendlich in Anspruch genommen ist. (,,Nachschrift",
S. 296 ff".) Wie zu dem absoluten Gegenstand und dem
absoluten Ziel steht der Einzelne aber auch in einem
Verhältnis zu einer umgebenden endlichen Welt und
einem Kreis relativer Zwecke, die ihr entstammen. Und
nun gilt es, das absolute Ziel als absolutes, und die
relativen Ziele als relative zu behandeln. Denn es ist
ja ein Widerspruch in sich selbst, einem relativen, end-
lichen Ziele unbedingt zu leben, ihm alles zu opfern.
Allein die so gestellte Aufgabe ist sehr schwierig, da
zwischen dem absoluten Ziele und den relativen ein
gähnender Abgrund liegt, und da im Menschen zugleich
ein unmittelbarer Trieb lebt, in den relativen Zielen
aufzugehen, sich ihnen absolut hinzugeben. Hiezu kommt
noch das weitere, dass für den Menschen der Gebrauch
seiner eigenen Kraft mit Wohlbehagen und Befriedigung
verbunden ist: vor Gott und dem höchsten Ziele aber
ist seine Arbeit nichts ; hier gilt es gerade, dass er sich
in seinem Nichts sehe. Dass man den Willen von den
ly. Söreo Kierkegaards Philosophie. 1]9
endlichen, in der Welt der Erfahrung gegebenen Zielen
und Verhältnissen losreisse, dass man der Unmittelbarkeit
absterben lerne, erfordert eine schmerzliche Anstrengung,
die nicht ein- für allemal abgemacht werden kann, son-
dern immer und immer wiederholt werden muss; und
wenn nun dies dazu kommt, dass man — trotz aller
Anstrengung — lernen soll, zu sein, als wäre man
nichts, so erhellt, dass das religiöse Leben bedeutet,
dem Leiden und der Selb st Vernichtung geweiht zu sein.
,,Was Wunder, dass der Jude annahm, das Schauen Gottes
sei der Tod, und der Heide, zu Gott in ein Verhältnis
zu treten, sei der Beginn des Wähnsinns." („Nach-
schrift'', S. 376 ff. 430. 452.)
Das religiöse Leiden unterscheidet sich von anderem
Leiden dadurch, dass es nicht zufällig, nicht durch
äussere Ursachen, die auch weggedacht werden könnten,
hervorgerufen ist, sondern durch die Natur des religiösen
Verhältnisses selbst notwendig ist. Das Verhältnis zu
Gott ist das Verhältnis zu einem von dem Menschen
absolut verschiedenen Wesen, das dem Menschen nicht
als Superlativ oder Ideal gegenüber stehen kann — und
doch in seinem Innern herrschen soll! Hieraus ergiebt
sich ein notwendiger Zwiespalt in dem Menschen, der
stets neue Schmerzen schafft, wenn er darin aushalten
soll. („Nachschrift" S. 380 ff.; vgl. 1850, S. 216.) Von
dem Religiösen wie dem Ethischen gilt also: die Auf-
gabe ist nicht die Entwicklung, Erhöhung und Veredlung
der menschlichen Natur, nicht, dass ,,die Wirklichkeit
zur Idealität", sondern vielmehr, dass die „Idealität in
die Wirklichkeit eingeführt werde" („Angst S, 12 [9]),
dass ein absolut neues Element in die Natur eingepflanzt
werde — ein Element, das gegen die Natur ebenso feindlich
ist, wie das Absolute (das alle Kraft verlangt) gegen
das Relative (das doch einige Kraft verlangt)! Das
Absolute ist grausam (1849, S. 44), weil es alles
verlangt.
120
IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Es ist ein ganz neues, seiner Natur widerstreiten-
des Medium, in dem der Mensch, sobald er in das
religiöse Verhältnis eintritt, leben soll; obgleich ein
endliches Wesen, soll er doch in dem Unendlichen und
Absoluten leben. Es ist ihm hier, wie einem Fisch auf
dem Lande (Unwissensch. Nachschrift S. 452} : er ist in
eine Welt hineingeraten, wo ganz andere Instinkte als
die in seiner Natur liegenden verlangt werden.
Er soll ein naturwidriges Leben führen. — In Henrik
Ibsens ,, Brand" findet sich ein Bild, das ausserordentlich
nahe verwandt mit dem ist, womit Kierkegaard die
religiöse Existenz beschreibt:
Ich stellte vor mir eine Eale,
Die sehen vor Nacht and Dunkel bangte,
Und in dem Wasser einen Fisch,
Der wasserscheu aufs Land verlangte;
Ich lachte laut, bezwang's 'ne Weile, —
Dann griff es mich von neuem frisch.
Wo lag der Reiz zum Lachen nur?
Ich fühlte dunkel die Natur
Des Zwiespalts zwischen der Erscheinung
Und dem, zu dem das Ding bestimmt ;
Den Widerspruch in der Verneinung
Der Last, die doch den Rücken krümmt.*)
Ein wasserscheuer Fisch, der doch im Wasser leben
muss, oder ein Fisch, dessen Natur allein zum Leben
im Wasser passt, auf dem Lande — das kommt auf
eines hinaus. Wenn Brand erzählt, dass er als Knabe
bei diesem Gedanken lachte, so ist auch Kierkegaard
darauf aufmerksam geworden, dass in dem Missverhält-
nis, dem Widerspruch, der dem Religiösen eigentümlich
ist, etwas Komisches liegen könnte; er meint aber doch,
das Religiöse sei durch die bewusste Uebernahme des
Widerspruchs und des Leidens über diese Komik erhaben.
Wie die Ironie eine Uebergangsform zum
Ethischen war und als Inkognito für dieses dienen
*) S. 9 der Uebersetzung von L. Passarge (Leipzig, Ph. Rec-
lam jun.)
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 121
konnte, so ist der Humor eine Uebergangsform zum
Religiösen und kann sein Inkognito sein. Der Humor
sieht das Endliche in seiner Nichtigkeit und Gleich-
gültigkeit gegenüber dem Unendlichen; der Humorist
braucht aber nicht selbst positiv ein Gottesverhältnis zu
haben; er benützt vielleicht den Humor nur als eine
Form, Der Religiöse thut dasselbe, um die starke Be-
wegung seines Innern zu verbergen, die sich in einer
positiven Aeusserung nie einen direkten und vollstän-
digen Ausdruck geben kann. Er tritt als ,, Ritter der
verborgenen Innerlichkeitt" auf — so lange, bis das
religiöse Verhältnis für ihn eine solche Macht gewinnt,
dass es äusseres Auftreten und den Bruch mit der Welt
verlangt. („Nachschrift" S. 469 ff.)
2. Durch diese Auffassung des Religiösen hat
Kierkegaard von vorn herein das Band zwischen ihm
und der Menschennatur durchschnitten. Es kommt als
etwas Fremdes in die Welt herein und soll nun mit der
Natur zusammengezwungen werden, ohne doch mit dieser
•eins werden zu können. Kierkegaard geht von einer
Idee der Vollkommenheit aus, die er ohne irgend welche
Rücksicht auf die wirkliche Menschennatur sich gebildet
hat. Für die historische Auffassung hingegen sind die
religiösen Ideen Anticipationen und Idealisationen dessen,
was in der Erfahrung gegeben ist und im Menschengeiste
sich bewegt. Unter dem Einfluss des innig und mächtig
erregten Gefühls bilden sich für Phantasie und Denken
Ideen und Vorbilder, die auf den Erdboden, dem sie
entstammen, eine Rückwirkung auszuüben vermögen.
Schneidet man aber die Möglichkeit ab, dass die höch-
sten Ideale des Menschenlebens aus dem Leben selbst,
aus dem durch die Lebenserfahrungen erregten Sinne
sich entwickelt haben, so schneidet man eben damit auch
•die Möglichkeit einer Einwirkung der Ideale auf die
Natur ab. Die qualitative oder absolute Verschieden-
heit hebt die Möglichkeit eines positiven Verhältnisses
122 IV. Sörea Kierkegaards Philosophie.
auf. Die gewaltige Macht der Religion über Sinn und
"Willen beruht darauf, dass sie die grossen Schatz-
kammern sind, worin der Menschengeist einige seiner
tiefsten Erfahrungen niedergelegt hat. Wenn aber das
religiöse Streben in seinem Eifer, den Gegenstand der
Religion in die höchste Höhe hinaufzuschrauben, einen
gähnenden Abgrund zwischen ihm und dem Leben be-
festigt, dessen Vorbild er doch sein soll, so widerspricht
es sich selbst. Ein Gott, der nicht Ideal und Vorbild
ist, ist kein Gott. Die Behauptung, das Wesen der
Gottheit müsse von dem des Menschen qualitativ ver-
schieden sein, hat daher auch stets wieder ethisch-religiöse
Bedenken gegen sich wach gerufen.*) Hier, wo die
religiöse Leidenschaft den absoluten Unterschied zwischen
dem Göttlichen und Menschlichen behauptet, vollzieht
sich der Bruch zwischen der religiösen und humanen
Ethik : denn eine Ethik, die auf ein von der menschlichen
Natur absolut verschiedenes Prinzip begründet wird,
muss notwendigerweise — wenn sie konsequent ist — zu
einer gegen das Leben und den Menschen feindseligen
Lehre werden. Sie ist aber zugleich eine in sich selbst
widerspruchsvolle Ethik; denn wenn das absolute Ver-
hältnis alle KJraft in Beschlag nimmt, wie kann da
noch einige Kraft übrig bleiben, um in den relativen
Verhältnissen zu leben?**) Hier geht selbst der grosse
Vertreter der qualitativen Dialektik auf einen Kom-
*) Eine interessante Erörterung dieser Frage findet sich in
Berkeleys Alciphron, 4. Dialog. § 16 — 21. Später wurde sie in
Stuart Mills Untersuchung von Sir "William Hamiltons Philosophie
gründlich behandelt. Vgl. meine Schrift: Einleitung in die englische
Philosophie unserer Zeit, deutsch von Euralla, S. 62 (vergl. S. 136ff.)
**) Vgl. was schon Bröchner in seiner scharfsinnigen Kritik der
Kierkegaardschen Auffassung hierüber bemerkt hat. Das Problem
des Glaubens und Wissens, S. 221: „Das absolute Ziel, wie es
Kierkegaard fasst, muss die ganze Kraft des Menschengeistes in An-
spruch nehmen und kann für die relativen Verhältnisse keine Kraft
mehr übrig lassen."
ly. Sören Kierkegaards Philosophie. 128'
promiss, ein ,, Sowohl — Als aucf ein, und nur damit-
entgeht er der vollkommenen Selbstvernichtung.
Eigentlich war Kierkegaard auf demselben "Wege
wie Schopenhauer: auf dem Wege zum Nirwana. Wie
Schopenhauer inmitten der Kultur des 1 9. Jahrhunderts
die buddhistische Verneinung des Lebens für die höchste
Wahrheit erklärte, so verkündete Kierkegaard, der in;
mehrfacher Hinsicht sein Geistesverwandter war, das
strenge, asketische Christentum als das Höchste — in.
letzter Instanz als das Einzige. Es ist in ethischer
und kulturgeschichtlicher Hinsicht von dem allergrössten
Interesse, zu sehen, wie zwei der begabtesten Denker
unserer Zeit ein derartiges Verdammungsurteil über
unsere ganze, so hochgepriesene Kulturentwicklung fällen,-
Dies deutet darauf hin, dass derselben Mängel und
Grebrechen anhaften müssen, die wir mit leichtsinnigem
Optimismus zu übersehen pflegen. Bei Leo Tolstoi
tritt in neuester Zeit ein zum Teil verwandter Gedanken-
gang hervor ; doch steht er dem Natürlichen und'.
Menschlichen näher.
Von Schopenhauer unterscheidet sich Kierkegaard
durch seine ethisch-praktische Tendenz. Schopenhauer'
verneigt sich vor dem asketischen Ideal, zieht aber-
selbst die intellektuelle und ästhetische Willensbefreiung
vor. Kierkegaard arbeitet sich Schritt für Schritt vor-
wärts, um womöglich einer von denen zu werden, auf
die die höchsten Bestimmungen Anwendung finden
können. Er setzt seine Persönlichkeit ganz anders ein,
sucht das praktische Kämpfen und Leiden als eine Ehre
— und findet sie auch. — In seinen letzten Jahren
beschäftigte sich Kierkegaard mit dem Studium der
Schopenhouerschen Schriften und fühlte sich von ihnen
sehr angesprochen. (Vgl. 1854 — 55, S. 48 und 68.) Seine
Anschauuiig war damals aber schon voll entwickelt, und
er hatte bloss zu notieren, worin er mit dem deutschen.
Denker übereinstimmte und von ihm abwich.
124 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
3. Die religi()se Lebensanschauung tritt in zwei
.Hauptformen auf, die in ihrem Cliarakter so verschieden
sind, dass der Uebergang von der einen zur andern nur
durch einen Sprung, eine qualitative Veränderung
möglich ist. Der Unterschied zwischen ihnen bezieht
sich besonders darauf, was Gegenstand des Glaubens
ist. Die erste Form der Religiosität (Kierkegaard nennt
sie die Religiosität A) verhält sich zu dem Ewigen als
dem allgemeinen Hintergrund des Lebens und Daseins.
Ein Leiden verursachender Widerspruch liegt hier nur
darin, dass das Ewigkeitsbewusstsein und das Verhältnis
zum absoluten Ziele inmitten der Welt der Endlichkeit
und der Zeit festgehalten werden soll. Der Einzelne
empfindet zugleich, je tiefer er das Verhältnis auffasst,
den Abstand, der ihn vom Höchsten trennt, um so
schärfer und bemerkt zudem den Widerstand, den er
; selbst ihm entgegensetzt. Denn je näher man dem
Höchsten kommt, desto mehr bemerkt man seinen Ab-
rstand von ihm! Der Fortschritt wird also insofern zu
einem Rückschritt. (1850, S. 301; „Nachschrift", S. 516.)
Es entsteht ein Schuldbewusstsein, wodurch das für
diesen religiösen Standpunkt eigentümliche Pathos ver-
stärkt wird. Gleichwohl aber hält sich diese Art der
Religiosität innerhalb des für den natürlichen Menschen
Erreichbaren. Sie liegt innerhalb der ,, Immanenz",
setzt keinen entscheidenden Bruch mit der natürlichen
Weltordnung voraus und ist auf dem Boden des Heiden-
tums möglich. („Nachschrift", S. 522 ff.) — In den „philo-
sophischen Bissen" hatte Kierkegaard auf Sokrates als
den Vertreter dieser Form der Religiosität hingewiesen.
Dies ist historisch kaum zu rechtfertigen. Eine Lebens-
anschauung wie die von Kierkegaard als Religiosität A
geschilderte kommt auf dem Boden der griechischen
Welt erst g(;gen den Schluss. im NeupltTtonismus vor.
Erst hier wird ein entscheidendes Gewicht auf das
Verhältnis zu dem Ewigen im bestimmten Gegensatz
IV, Sören Kierkegaards Philosophie. l25"
zu allen äusseren und menschliclien Zielen gelegt. Die
griechische Weltanschauung war eine ruhige Harmonie;
die natürlichen Elemente des Lebens wurden zu einem
ethischen Kunstwerk geformt, das Jenseitige aber wurde
nicht als das höchste oder (dnzige Ziel aufgestellt, so
tief auch die Schattenseiten des Lebens und der Wider-
stand der Sinnlichkeit gegen Gredankenklarheit und
Willensreinheit von Dichtern und Philosophen gefühlt
und ausgesprochen wurden.
Von dieser humanen oder immanenten Religiosität
scheidet sich die paradoxe, ' ransscendente Religiosität
ab, die Religiosität B. Hier "verschärfen sich alle Be-
stimmungen dadurch, dass die Widersprüche grösser
werden. Der Einzelne steht nicht bloss zu dem überall
gegenwärtigen ewigen Grund des Daseins in Beziehung.
Das Ewige und Görtliche ist in der Zeit, in geschicht-
licher Gestalt erschienen, als einzelner Mensch, der
gelitten hat und gestorben ist. Dass die wesentliche
Offenbarung sich nicht im Dasein ausbreitet, sondern
auf eine bestimmte Zeit und Stätte sich beschränkt, das
bringt eben zum Ausdruck, dass das Dasein im übrigen
geistverlassen ist: nichts hat Wert, nichts hat ent-
scheidende Bedeutung als diese eine Gestalt — und
auf das Verhältnis zu ihr, zu „dem Gott in der Zeit"
kommt alles an. Der Gegenstand des Glaubens ist das
Paradox im höchsten Sinne, der Widerspruch in sich
selbst, das Absurde. (,, Nachschrift", S. 536.) Zu dem
höchsten Paradox in ein Glaubensverhältnis zu treten,
giebt es nur einen Weg: dass nämlich das Schuld-
bewusstsein zum Sündenbewusstsein sich steigert, d. h.
dass der Einzelne in sich nicht bloss einen Widerstand
gegen das Ewige, sondern eine vollständige und selbst-
gewoUte Aenderung in seiner Natur entdeckt. Das
Bewusstsein hievon wird gerade durch das Auftreten
des göttlichen Paradoxes hervorgerufen und bedingt-
nur durch eine Offenbarung kann der Mensch die totale
126 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
Aenderung seiner Natur und der Menschennatur über-
haupt entdecken. („Nachschrift", S. 548 f.) Durch das
Paradox als Gegenstand des Glaubens und durch das
^Sündenbewusstsein als dessen Voraussetzung ist die
grösste Vertiefung in die Existenz, die grösste Inner-
lichkeit und das grösste Leiden erreicht. Das ist der
.Standpunkt, der mit dem Christentum in die Erschei-
,nung tritt.
Als ein Moment, wodurch das Leiden auf dem
höchsten religiösen Standpunkt verschärft wird, nennt
Kierkegaard den Schmerz der Sympathie, der dadurch
entsteht, dass der Einzelne nicht länger mit jedem
Menschen als Menschen, sondern wesentlich nur mit den
Christen sympathisieren kann. Seine Nächsten sogar
muss er vielleicht hassen: ,,denn ist es nicht, als hasste
■er sie, wenn er seine Seligkeit an eine Bedingung ge-
knüpft hat, die sie, wie er weiss, nicht annehmen?''
(ib. S. 551.) — Nicht immer hat Kierkegaard der Sym-
pathie das Recht dazu gegeben, ein Wort des Schmerzes
mitzureden. In seinen Tagebüchern (1844 — 46, S. 171)
führt er mit eigener Zustimmung eine muhammedanische
Legende an, wonach Adam ausruft: ,,Acli Herr, rette
nur meine Seele; ich kümmere mich weder um Eva
noch um Abel." Das Wort „Sehet auf euch selbst"
'(Marci, 13, 9) erklärt er in ähnlicher Richtung. Und
auch wo er den Schmerz der Sympathie hervortreten
lässt, gestattet er ihm doch keinen Einfluss auf
den Glauben; er zieht nicht wie Schleiermacher die
Konsequenz, dass bei diesem Schmerz des Mitgefühls
ieine ewige Seligkeit möglich sei. Psychologisch und
.ethisch betrachtet liegt hier vielleicht der grösste und
schreiendste, um nicht zu sagen empörendste der Wider-
sprüche in der paradoxen Religiosität. Kierkegaard
hat auch diesen Widerspruch genannt — aber er
giebt ihm doch nur die letzte Stelle. Es ist eine
Konsequenz aus dem Prinzip des Einzelnen: was
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 127
geht es schliesslich mich an, ob die andern auch
selig werden oder nicht! —
Die romantisch- spekulative Harmonie, die durch
den qualitativen Ruck je zwischen den einzelnen Stadien
bereits in ihren Grundfesten erschüttert worden war,
scheitert nun zuletzt vollständig an der scharfen und
steilen Klippe des Paradoxes. — Von Kierkegaards
Auffassung des Christentums überhaupt zu reden, werden
wir Veranlassung haben, wenn wir an sein letztes
Auftreten kommen.
c. Der Massstab.
1. In seiner Darstellung und Schätzung der ,, Stadien"
bringt Kierkegaard einen bestimmten Massstab zur An-
wendung. Worin er besteht, hebt er einmal selbst
ausdrücklich hervor, indem er zu zeigen sucht, dass
,,die Rangordnung aller Lebensanschauungen sich nach
der dialektischen Verinnerlichung des Individuums in
ihnen richtet." (,, Nachschrift", S 537.) Die Verinner-
lichung aber wächst wiederum je mit den qualitativen
und quantitativen Gregensätzen oder Widersprüchen, die
sich im Innern des Individuums geltend machen. Es
ist der Grrad der Spannung, der über die Höhe des
Standpunkts entscheidet. Die wachsende Spannung
führt — ohne dass doch die höheren Spännungsgrade
successiv aus den niederen entstanden sein könnten —
von Stadium zu Stadium und zuletzt (wenn das Indi-
viduum nicht an dem Ideal abdingt oder sich abstumpft)
zu der paradoxen Religiosität, indem das Leben ohne
übernatürliche Hilfe zur Verzweiflung wird. Kierkegaard
konstruiert mit Hilfe dieses formalen Massstabes eine
Reihe Lebensstufen, die an bestimmten Knotenpunkten
abgebrochen werden. Das gegensätzliche Verhältnis
tritt so in zwei Formen auf: als Gegensatz successiver
Zustände bei dem Sprung, der Krisis, die den Ueber-
gang von einem Stadium zum andern bewirkt; und als
128
VI. Sören Kierkegaard Philosophie.
Gegensatz gleichzeitiger Momente innerhalb eines;
und desselben Stadiums bei den streitenden Elementen,
die zusammen gehalten werden sollen.
Man wird kaum fehlgehen, wenn man vermutet,
dass wir in diesem formalen Massstabe eine Nachwirkung
der Hegeischen Methode vor uns haben, die das Denken
durch stätes Setzen von Gegensätzen, die dann zu ver-
söhnen waren, vorwärts trieb. Der Unterschied ist nur
der, dass für Kierkegaard die Gegensätze sich nicht je
einer aus dem andern entfalten, wie deren Versöhnung
für ihn auch nicht von selbst erfolgt. Er vertauscht
daher den Begriff der Mediation mit dem der Wieder-
holung. Gleichwohl hat er einen Rest von der Methode
beibehalten, wenn er ihn auch weit vorsichtiger an-
wendet. Mit seiner Hilfe konstruiert er mögliche Stand-
punkte und sieht dann nach, ob sie sich in der Wirk-
lichkeit vorfinden. Gegen dies Verfahren lässt sich an
sich nichts einwenden; es bezeichnet vielmehr einen
grossen Fortschritt gegenüber der spekulativen Methode,
die zwischen den konstruierten Möglichkeiten und den
gegebenen Wirklichkeiten nicht unterschied. Die Frage
ist aber, ob der Massstab selbst eine Berechtigung hat?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt die schliess-
liche Bedeutung ab, die man dem ethisch-religiösen
Standpunkte Kierkegaards beilegen kann.
2. Vom Sprung war schon die Rede. Ich komme
hier zu dem Gegensatz auf einander folgender Zustände
zurück, um zu untersuchen, ob Kierkegaard ein Recht
hat, ihm eine so entscheidende Bedeutung für das per-
sönliche Leben beizumessen, wie er es thut.
Ein Uebergang ist für ihn jederzeit ein Bruch,
(,, Nachschrift'* S. 271 ff.) ,, Innerhalb der Immanenz", d. h.
innerhalb einer Lebensanschauung, die eine natürliche
und stätig fortlaufende Entwicklung auf dem geistigen
Gebiete annimmt, kann nach seiner Auffassung von
Krisen eigentlich keine Rede sein. (1844— 46; S. 48.)
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. ]^29
Hier liat sich Kierkegaard in seiner Polemik gegen die
glatten Uebergänge der spekulativen Philosophie, die
nur in der Phantasie oder auf dem Papier vor sick
gingen, entschieden zu weit führen lassen. Allerdings-
brachte er — und das ist ein grosses Verdienst — die
Bedeutung der wirklichen Uebergänge zur Geltung
im Gegensatz zu den nur gedachten, worin man
schwelgte, indem man über seinem historischen Wissen
von verschiedenen möglichen historischen Standpunkten
zu untersuchen vergass, auf welchem man nun selbst in
Wirklichkeit stand. Allein der Unterschied zwischen
den gedachten und den wirklichen Uebergängen braucht
nicht darin zu bestehen, dass jene kontinuierlich sind,
diese aber nicht. Ein Uebergang, durch den man ein
für das persönliche Leben wichtiges Ziel erreicht, kann
sehr wohl kontinuierlich vor sich gehen. Das Wasser
bewegt sich doch im dahinfliessenden Strome so gut vor-
wärts wie in dem niederstürzenden Wasserfall, und die
letztere Bewegung hat nur für die äussere, sinnliche Auf-
fassung mehr Realität als die erstere. So eifrig Kierke-
gaard auch für das Leben kämpft, so lässt er hier doch
das Leben nicht zu seinem Rechte kommen; er hat kein
Auge für die kleinen Dinge, für den kleinen Zuwachs,
der sich still immer wieder anfügt und oft unvermerkt,
das vollbringt, was als gross und hoch gepriesen wird.
Nur wer anerkennt, dass das Leben viele Wege und,
Arten für seine Entfaltung hat, nur der giebt ihm sein,
Recht. Warum es in die Zwangsjacke einer Methode
einschnüren? Ein Ruck, ein Sturz, eine Krisis kann
notwendig sein, wo ein Widerstand überwunden, eine
entscheidende Wendung vorgenommen werden soll. Aber
auch hier sogar wird bei genauerem Zusehen die Kon-
tinuität nicht abgebrochen. Die Stille vor der Kata-
strophe (wenn z. B., um eines der prächtigen Bilder
Kierkegaards zu brauchen, das Raubtier vor dem ent-
scheidenden Sprung ganz stille liegt) bedeutet gerade,
Hoff ding, S. Kierkegaard. 9
130 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
dass die Kraft gesammelt wird, die im entscheidenden
Augenblick ausgelöst wird. So staut man das Wasser,
damit es, wenn das hemmende Brett hinweggezogen
wird, mit gesammelter Kraft dahinschiesse. Es ist auf
dem geistigen Gebiete, wie überall, die Aufgabe der
Erkenntnis, zu untersuchen, ob der scheinbare Sprung
nicht als Auslösung einer lange im Stillen angesammelten
Energie zu erklären ist. Zurück bleibt dann immer
noch der grosse und bedeutungsvolle Unterschied zwi-
schen einer geistigen Entwicklung, die mehr dem stätig
dahinströmenden Flusse gleicht, und einer solchen, die
mehr an den Sturz des Wasserfalls gemahnt. Hier
muss man, wenn man selbst auf dem Boden des Lebens
stehen will, anerkennen, dass die inneren und äusseren
Bedingungen nicht bei allen dieselben sind, daher auch
die Entwicklung bei den einen so, bei den andern wieder
anders verläuft. Diese Thatsache ist eigentlich in dem
Satze anerkannt, dass die Subjektivität die Wahrheit
ist. Kierkegaard aber hat, wie schon gezeigt, die grossen
Konsequenzen dieses Satzes nicht ziehen können, noch
wollen.
3. Noch mehr versündigt er sich am Leben dadurch,
dass er Spannung und Leiden zu Kriterien für die Höhe
eines Standpunkts macht. Hier gilt etwas Aehnliches
wie bei der Krisis oder dem Sprung. Die Spannung
kann für die Wahrheit und Kraft des Lebens notwendig
sein: ein Zeichen dafür, dass es die Aufgabe nicht von
sich wegschiebt, die es lösen soll und muss. So oft ein
neues Element, ein neues Verhältnis in Kraft tritt und
in den Zusammenhang des Lebens aufgenommen werden
soll, kann es, bevor die Aufnahme geglückt ist, zu einer
Spannung kommen. Die Spannung ist aber an sich
selbst doch ein Zeichen für ein Uebergangsstadium, und
der Massstab kann nicht in ihr gesucht werden. Reich-
tum und Fülle fehlt einem Leben damit noch nicht, dass
^s seine Elemente beherrscht und seine Einheit zu
IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 131
erhalten vermag; selbst wenn Gegensätze sich geltend
machen, können sie bereichern, ohne zu zersplittern und
zu schmerzen. Es liegt in der allgemeinen Natur des
Bewusstseins als einer Synthese, einer zusammenfassenden
Einheit, dass nicht nur der Gegensatz, sondern auch
die Konzentration sich geltend machen muss, solange
das Bewusstseins leben dauert. Wenn man den Massstab
für das Leben vom Leben selbst herholt, so kann man
das Entscheidende nicht einseitig in der Spannung sehen.
Für die humane Ethik, die den Massstab vom Leben
selbst herholt und für die die ethische Entwicklung nur
in einer höheren, harmonischen Entfaltung des wirklichen
Lebens bestehen kann, bedeutet es keine Abschwäcliung
des Ideals und der Anforderung, wenn man anerkennt,
dass diese nach der Natur des Einzelnen bestimmt
werden müssen. Wozu sich trotz alles Suchens und
Weckens in der Natur des Einzelnen keine Keime oder
Möglichkeiten auffinden lassen, das kann nicht ethisches
Gesetz für ihn sein.*) Und wenn auch eine Spannung
und Unruhe geweckt werden könnte, so wäre das nur
dann zu verantworten, wenn auch Kräfte zur Ueber-
windung der Spannung vorhanden wären. Die Ver-
antwortung trifft den, der die sichere Harmonie aufhebt,
ohne zu einer neuen Harmonie weiterführen zu können.
Die von Kierkegaard nicht anerkannte griechische Ethik
enthält in der That die Grundgedanken, womit alle
Ethik, die nicht lebensfeindlich ist, steht und fällt. Das
ethische Gute ist die harmonische Entfaltung der Lebens-
kräfte in den einzelnen Persönlichkeiten, die wieder
verlangt, dass auch zwischen der Entwicklung der
einzelnen Persönlichkeiten Harmonie hergestellt werde.
Kierkegaard aber will gar keine Definition des
Guten geben. Der einzige Massstab, dessen er sich
bedienen kann, bleibt daher formal und wird durch
*) Vgl. H. Höffding: The law of relativity ia Ethics (Inter-
national Journal of Ethics, Vol. I).
9*
132
IV. Söreu Kierkegaards Philosophie.
seinen religiösen Standpunkt bestimmt. In seiner Kon-
struktion der Stadien lässt er sich (wie in seiner Er-
kenntnistheorie) von der Absicht leiten, die paradoxe
Religiosität vorzubereiten, die psychologischen Beding-
ungen für die leidenschaftliche Hingebung an das
Absurde herbeizuschaffen. Deshalb operiert er beständig
mit dem Zustande der Spannung und lässt die Peit-
schenhiebe des sich steigernden Leidens immer wuch-
tiger auf den Rücken „des Einzelnen" fallen. Was an
einer solchen Ethik, falls sie realisiert würde, zu
bewundern bliebe, das wäre die leidenschaftliche Ener-
gie, die Willenskraft, womit aller Anspannung zum
Trotz ausgehalten wurde. Aber solche Eigenschaften
kann man auch im Dienste ganz anderer Ziele bethä-
tigen, wie wenn der Goldmacher ,,das Absolute*', das
auch hier grausam ist, auf seine Weise sucht, früh und
spät, mit steigender Leidenschaft und steigendem
Schmerze, um seinetwillen Weib und Kind „hassend'^
und aufopfernd.*) Der humane Ethiker verhält sich zu
dem Asketen, wie der Chemiker zum Alchymisten. Er
bewundert die Energie, die Ausdauer, die Leidenschaft
und die vielen neuen und tiefen Gedanken, die unter
der einsamen Arbeit produziert werden; er wünscht
aber, dass alle diese edlen Kräfte lieber im Dienste
anderer Ziele verwendet würden.
4. Die rein formale Betrachtungsweise, die Kierke-
gaard bei der Darstellung und Beurteilung der Stadien
beobachtet, führt ihn zu Konsequenzen, wovon er selbst
zurückschreckt. Wenn Widerspruch und Leiden die
Kennzeichen des Höchsten wären, so müsste ja notwen-
digerweise, wie es scheint, das absolute Paradox darin
bestehen, dass Gott nicht bloss Mensch würde, sondern
es auch so würde, dass er unkenntlich wäre, indem er
ganz wie andere Menschen und in den gewöhnlichen
*) Vgl. Balzac, Die Jagd nach dem Absoluten.
ly. Sören Kierkegaards Philosophie. 133
menschlichen Verhältnissen lebte, ohne dass seine
Lebensweise oder übernatürliche Vorkommnisse und
Handlungen die Aufmerksamkeit auf ihn hinlenkten!
Und müsste er nicht zugleich in dem versucht werden,
was in den Augen Kierkegaards nach seiner eigenen
Erfahrung das drückendste Leiden war, in der Schwer-
mut, in Krankheit des Gemüts? Diese Gedanken sind
Kierkegaard durch den Sinn gegangen und haben in
den „Philosophischen Bissen" und mehrfach in den
Tagebüchern der Jahre 1843 und 1849 ihren Ausdruck
gefunden. „Gott helfe dem armen Kopf, der mit der
Art Zweifel zu thun hat!" ruft er aus. Hierauf ist zu
•erwidern, dass nur grosse und starke Geister, die von
ihren einmal angenommenen Voraussetzungen aus kon-
sequent denken und ihre Gedanken nicht halbieren, mit
der Art Zweifel zu thun bekommen.
Für Kierkegaard lag die Lösung in der Unter-
scheidung des absoluten Paradoxes und des gött-
lichen Paradoxes. Da Gott die Liebe ist, hätte er
sich nicht in der Form des absoluten Paradoxes offen-
baren können; es wäre das keine wirkliche Offenbarung
gewesen, da so die Verbindung zwischen Gott und
Mensch nicht zu Stande gebracht werden könnte.
Diese Lösung hier am Schlüsse der Kierkegaardschen
Gedankreihen ist von derselben Wirkung, wie wenn
am Schlüsse von Henrik Ibsens ,, Brand'' durch das
Rollen des Donners hindurch der Ruf ertönt: ,,Er ist
deus caritatis!" — Dieser Appell an die Liebe zieht
der ganzen vorausgehenden formalen Konstruktion und
Beurteilung der Lebensstadien den Grund unter den
Füssen weg und deutet auf ein Lebensgesetz hin, des-
sen erste Forderung nicht ist, dass die eigenen Kräfte
und Triebe des Lebens gebrochen werden. Wenn die
Liebe, an die hier appelliert wird, von dem, was Men-
schen allein als Liebe kennen und verstehen können,
nicht ,, qualitativ absolut verschieden'' wäre, so müsste
134 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.
die Verinnerlich ung und Vertiefung des Lebens auf
einem anderen Wege zu erreichen sein, als den Kierke-
gaard uns wies. Jedenfalls aber giebt er jenem Appell
keine rückwirkende Kraft. Vielmehr gewinnen das
Leiden und die Disharmonie als Lebensgesetze eine
immer schärfere und umfassendere Bedeutung in seiner
Betrachtung. Das Leiden ist wie eine fatalistische
Notwendigkeit, unter die gar der göttliche Wille sich
beugen muss, und die — eben weil die Gottheit doch
als Liebe aufgefasst wird — ihre dunkeln Schatten in
die Lichtwelt der Ewigkeit hineinwirft. Es heisst in
einer Tagbuchsnotiz aus Kierkegaards letzten Jahren:
,,Als Kind hörte ich viel davon, dass im Himmel grosse
Freude, eitel Freude sei; ich glaubte es auch, und ich
dachte mir Gott selig in eitel Freude. Aber ach, je
mehr ich darüber nachdenke, muss ich mir Gott eher
in Trauer thronend vorstellen als einen, der am aller-
besten weiss, was Trauer ist." (1854 — 55, S. 169.) Hier
zieht Kierkegaard die Konsequenz, die er in einem
anderen Zusammenhang nicht ziehen wollte. Das
menschliche Mitgefühl, das er an dem Dogma von der
ewigen Unseligkeit der Menschen nicht rütteln lassen
wollte, ist hier so herangewachsen, dass es sogar das
Dogma von der Seligkeit der Gottheit selbst antasten
darf. Die Stimme der Natur lässt sich auch noch in
dem höchsten theologischen Ideenkreise vernehmen:
eine Bestätigung des Satzes, dass die Theologie
Psychologie ist. Nach den Resultaten der Erfahrungen
des inneren Lebens bestimmt sich der Inhalt der
Gottesidee.
I
V.
Sören Kierkegaard und das Christentum.
A. Persönlicher Durchbruch.
1. Nach der ausserordentlich reichen Produktion,
welche die Jahre 1843—46 ausfüllte, hatte Sören Kier-
kegaard das Gefühl, dass er das, was ihm vorläufig im
Sinne lag, zum Ausdruck gebracht hatte. „Nun bin ich
mit den Büchern fertig", schrieb er im Sommer 1847
in sein Tagebuch. Im selben Jahre erschien noch
„Leben und Walten der Liebe", eine seiner treff-
lichsten rein religiösen Schriften; sie enthält aber keine
neuen Gedanken, die von entscheidender Bedeutung für
das Verständnis seiner Anschauung wären. Hingegen
sind in den Aufzeichnungen aus diesem Jahre Andeu-
tungen einer wichtigen und eingreifenden Aenderung in
seinem persönlichen Leben zu bemerken. Schon bisher
war das Christentum für ihn wohl das Höchste gewesen,
und in seinen religiösen Reden hatte er christliche
Gedanken entwickelt. Doch hatte er in seiner Dar-
stellung und Einschärfung der christlichen Lebensan-
schauung sich vorherrschend der indirekten Methode
bedient; er hatte sie durch einen Pseudonym (Johannes
Climacus) vertreten lassen, der selbst erklärte, er sei
nicht Christ. Er konnte noch nicht im strengen Sinne
finden, dass sein persönliches Leben und der christliche
Glaube sich decken. Seine Schwermut, die ihm beson-
ders Kämpfe verursachte, hatte er bisher niedergehalten,
— nicht indem er sie direkt durch die Freudigkeit des
Glaubens bekämpfen Hess, sondern indem er sie durch
seine schriftstellerische, alle Kraft in Anspruch nehmende
Thätigkeit ableitete. Solange er produzieren konnte,
wurde die Schwermut gebannt. Das rhythmische Ver-
136
y. Sören Kierkegaard nnd das Christentam.
hältnis zwischen diesen zwei Elementen seiner Natur
haben wir schon früher hervorgehoben. Nun aber fühlte
er den Drang zu einer tieferen, direkteren Abrechnung
mit der finstern Macht in seinem Innern: „Ich fühle
nun'', schreibt er im August 1847, „einen Drang, zu
einem tieferen Verständnis meiner selbst zu kommen,
indem ich im Verständnis meiner selbst Gott näher
komme .... Ich muss sehen, wie ich meiner Schwer-
mut besser beikomme. Sie hat seither im tiefsten
Grunde geruht, und die ungeheure geistige Anstreng-
ung hat mir geholfen, sie niederzuhalten . . . Nun will
es Gott anders. Es regt sich etwas in mir, das auf
eine Metamorphose deutet . . . Ich will mich daher
jetzt still verhalten . . . sehen, dass ich zu mir selbst
komme, dass ich meine Schwermutsgedanken auf der
Stelle recht mit Gott zusammendenke. Auf die Weise
muss meine Schwermut gehoben werden und das Christ-
liche mir näher kommen.''
Die Metamorphose, die er kommen sah, scheint für
ihn auf einen bestimmten Zeitpunkt, nämlich an Ostern
1848, eingetreten zu sein. Die Tagebücher von 1848
und 1849 weisen häufig auf diese Zeit als auf einen
entscheidenden Wendepunkt zurück. — „Ich glaube
nun, dass Christus mir zum Sieg über meine Schwer-
mut verhelfen wird, und dann werde ich Pfarrer",
schreibt er am 19. April 1848. Bisher hatte er „dem
Grundschaden seines Wesens" gegenüber sich in Resig-
nation verhalten, und sein schriftstellerisches Schaffen
hatte durch seine ableitende Wirkung ihm dazu ge-
holfen. Aber kurz nach jenem Durchbruch schreibt er
nunmehr: „Jetzt bin ich am Glauben im tiefsten Sinne.. .
Bei Gott ist alles möglich; dieser Gedanke ist nun im
tiefsten Sinne meine Lösung; er hat eine Bedeutung
für mich gewonnen, wie ich mir's nie gedacht hatte."
^ Jetzt erst, jetzt, in meinem 34. Jahre, habe ich viel-
leicht soviel gelernt, der Welt abgestorben zu sein,
I
V. Sören Kierkegaard und das Christentam . 137
dass für mich die Rede davon sein kann, mein ganzes
Leben und meine ganze Seligkeit im Glauben an die
Vergebung der Sünden zu finden." (1848, S. 61 f. 388.)
Was er mehreremale seine Pseudonymen über den
Unterschied zwischen Resignation und dem christlichen
Glauben (man vgl. z. B. „die Wiederholung" und die
Schilderung des Unterschieds zwischen der ».Reli-
giosität -7" und der „Religiosität B " in der „Nach-
schrift") hatte entwickeln lassen, das konnte er nun
«rst in seinem eigenen persönlichen Leben als innere
wirkliche Erfahrung wieder finden und wiedererkennen.
Wie schlagend tritt hier nicht des Mannes grosse Ehr-
lichkeit gegen sich selbst hervor ! Und wie meisterhaft
hat er es verstanden, in der Form der Phantasie und
Reflexion Standpunkte und Lebensanschauungen in vol-
ler, konkreter Beleuchtung zu entwerfen, ohne doch
der Versuchung zu erliegen, für persönliche Erfahrung
zu nehmen, was er auf diese Weise konstruieren konnte!
Er ist in Wahrheit ein kritischer Philosoph, wenn die
Xritik vor allem in einer scharfen Sonderung des bloss
Hypothetischen und Spekulativen von der gegebenen
Wirklichkeit besteht. Kaum hat er in solcher Kritik
auf dem Gebiete der subjektiven Welt, die seine Welt
war, seinesgleichen neben sich. Und wie trefflich ver-
steht er sich auf sein Programm : Schwierigkeiten auf-
zufinden. Denn die simpelsten christlichen Sätze, die
so manche leicht und frischweg zu erreichen meinen,
gewinnt er nur in langer Entwicklung und angestreng-
tester Arbeit. Er konnte mit Recht sagen, es sei
Redlichkeit, was er wollte. Er verlangte sie von
sich selbst, ehe er sie von andern verlangte.
2. Es mochte jetzt scheinen, dass er seine öffent-
liche Wirksamkeit abschliessen und sich auf eine Land-
pfarrei zurückziehen könnte. Auch mussten ihn seine
ökonomischen Verhältnisse auffordern, eine besoldete
Stellung zu suchen, da sein Vermögen in wenigen
138
V. Sören Kierkegaard und das Ghristentam.
Jahren aufgebraucht sein musste. Allein der persönliche
Durchbruch führte zu einer neuen, religiösen Produktion
mehr positiver und zugleich polemischer Art als die
frühere. Und noch andere Verhältnisse wirkten dabei
mit, dass er seine schriftstellerische Thätigkeit nicht
aufgeben zu dürfen glaubte.
Entrüstet darüber, dass das von M. A, Goldschmidt
herausgegebene Witzblatt „I)er Korsar" so vieles und
so viele unverdienterweise, wie er meinte, verspottete
und karikierte, während es sich häufig in bewundernden
und ehrenden Worten über ihn aussprach, verlangte er
(in einem Artikel des „Vaterlands") von diesem Blatte
künftig nicht mehr gerühmt, sondern lächerlich gemacht
zu werden. Von da an wurde er im ,, Korsar" eine
stehende Figur mit seinen dünnen Beinen und kurzen
Beinkleidern. Da er viel auf der Strasse erschien und
wohl bekannt war, steigerte sich hiedurch die öfi'ent-
liehe Aufmerksamkeit auf ihn in einer vielleicht wenig
angenehmen Weise, der er in seiner schwermütigen Art
die allerschlimmste Deutung gab. Er grollte in seinem
Innersten über diese ,, Verhöhnung" und legte ihr weit
grössere Bedeutung bei, als sie in Wirklichkeit hatte.
Es schmerzte ihn tief, dass die einfachen Leute, die er
herzlich liebte und unter denen er so gerne weilte, ihn
nun — wie er glaubte — als eine komische Figur
betrachteten oder vielleicht gar beargwöhnten. Am
meisten aber grollte er darüber, dass die angesehenen
und vornehmen Männer in den litterarischen Kreisen,
die gleich ihm schon lange über das Unwesen der
Presse entrüstet waren, ihn nun ihm Stiche Hessen
oder, wie er meinte, an der ihm zugefügten Behandlung,
zur Befriedigung ihrer Missgunst sich sogar weideten.
Es wurde, meinte er, ein eigentliches Nationalverbrechen
an ihm begangen, und er hatte in dieser ganzen Sache
einen Beweis von der Erbärmlichkeit der niederen und
der Charakterlosigkeit der höheren Kreise bekommen.
I
V. Sören Kierkegaard und das Christentum. 139^
Zum Abscheu vor der Menge kam nun die Verstimmung
gegen die Autoritäten. Es kam etwas ins Wanken^
was ihm bisher festgestanden hatte. — Wenn Kierke-
gaard in der Weise, wie der Stadtklatsch mit seiner
Person sich beschäftigte, mit Recht einen Beweis für
das Kleinstädtische in unseren Verhältnissen sah, so
kann man freilich mit gleichem Recht sagen, dass er selbst
diese Geschichte mit kleinstädtischem Sinne aufnahm.
Es mutet einen sonderbar an, wenn zahlreiche Blätter
seines Tagebuchs dieser Sache gewidmet sind. In seiner
Einsiedlerstille lässt er für sich selbst seinen Grimm
darüber aus, dass man gesagt habe, sein eines Hosen-
bein sei länger als das andere, und diese höchst gra-
vierende Verleumdung dementiert er dann auch sofort
— im Tagebuch — als .,Lüge''. — Kennten wir nicht
seine Schwermut und die subjektive Expansion, wodurch
kleine Vorfälle in seinem Leben zu prinzipiellen Ent-
scheidungen potenziert wurden, so möchte man seine-
Weise, diese Sache aufzunehmen, kleinlich und unwürdig
nennen. Sie gewann nun nicht geringe Bedeutung für
ihn; sie trug dazu bei, dass er auf seinem Posten ver-
blieb, da er nicht wollte, dass es so aussehe, als flüchtete
er sich vor dem Geschwätz der Leute.
Hiezu kam noch die starke politische Bewegung,
die in seinen Augen eine gänzliche Auflösung herbei-
führte, und der gegenüber die Autoritäten, besonder»
Bischof Mynster, an dem er bisher hinaufgesehen hatte,
nach seiner Meinung es an der gebührenden Festigkeit
und Bestimmtheit fehlen Hessen. Es sieht sich sonder-
bar an, wie unberührt er von allem blieb, was im Jahre
1848 sich ereignete. Zu Beginn dieses Jahres schreibt
er in sein Tagebuch: „Und so sitze ich hier. Draussen
ist alles in Bewegung, die Idee der Nationalität durch-
wogt sie alle . . . Und ich sitze in meinem stiUen
Zimmer (ich werde wohl bald wegen meiner Gleich-
gültigkeit gegen die nationale Sache in Verruf kommen}*
140
Y. Sören Kierkegaard and das Christentam.
ich kenne nur eine Gefahr, die der Religiosität." (1848,
S. 45.) Wie er die äusseren politischen Verhältnisse
betrachtete, zeigt folgende Aeusserung aus derselben
Zeit: ,,Die ganze Furcht vor Deutschland ist eine Ein-
bildung, ein Spiel, ein neuer Versuch, dem Nationalstolz
zu schmeicheln."
Was ihn in diesen Jahren am mächtigsten bewegte,
das waren nicht die äussern Vorgänge in der Welt,
sondern die in seinem Innern. Und diese waren denn
auch der wesentlichste Grund, dass er seine schrift-
.stellerische Wirksamkeit nicht aufgab, sich nicht zu
einem stillen Leben aufs Land zurückzog. Durch den
Durchbruch, der in religiöser Hinsicht in ihm vor sich
gegangen war, hatte das Christentum für ihn die Be-
deutung einer persönlichen Wirklichkeit gewonnen, die
■es bisher nicht gehabt hatte. Das stärker erwachte
religiöse Bewusstsein erweckte wiederum eine scharfe
Kritik an der bestehenden Christenheit, die ihren Aus-
druck in den religiösen Schriften fand, die er im Jahre
1848 verfasste, in einer Zeit, wo die Unruhen in den
äusseren Verhältnissen und persönliche Schwierigkeiten
■ökonomischer i\.rt ihn manchfach quälten. Diese „neue
Produktion" stellte er selbst über die frühere. Die
Hauptschriften waren ,, Einübung im Christentum" und
,,Die Krankheit zum Tode", w^ozu noch ,,Zur Selbst-
prüfung" kam.*) In diesen Schriften wird das christliche
Ideal in seiner ganzen Strenge mit einem scharfen
Gericht über den herrschenden religiösen Zustand und
seine Vertreter ausgesprochen.
Die Frage war nun für ihn vorerst die : sollten
diese Schriften herausgegeben werden, ehe er sich um
eine kirchliche Anstellung bewarb, oder erst später?
Würde er sich als Bewerber nicht unmöglich machen,
♦) Ein zweiter Teil dieser letzteren Schrift wurde erst lange
nach seinem Tode verö0'entlicht.
y. Sören Kierkegaard and das Christentam. 141
wenn er sie vorher herausgab, und wäre es nicht-
unehrlich, sie später herauszugeben? — Diese Frage
trat jedoch bald in den Hintergrund gegen eine für
ihn weit grössere Frage: Sollten sie unter seinem
eigenen Namen oder pseudonym erscheinen? Das erstere
würde ja bedeuten, dass er sich selbst persönlich
anheischig mache, der in diesen Schriften vertretenen
Vorstellung von einem Christen zu entsprechen. Und
war dies nicht seine Pflicht? Musste er jetzt nicht alle-
Konsequenzen auf sich nehmen? Wieweit seine Erwä-
gungen in dieser Hinsicht gegangen sind, kann man
daraus entnehmen, dass er sich sogar gedacht hat, es
könnte ihn das gewöhnliche Los der Wahrheitszeugen
treffen, dass er vom Pöbel unter heimlicher Mitwirkung
der Missgunst der Vornehmen totgeschlagen würde !
(1849, S. 16lf.) Er untersuchte so in einer eigenen
Abhandlung (der ersten der „Zwei ethisch-religiösen
Abhandlungen von H. H."), ob sich ein Mensch von
andern für die Wahrheit dürfe totschlagen lassen, und
kam zu dem Schlüsse, hiezu habe nur der Gottmensch
und der Apostel ein Recht; ein gewöhnlicher Mensch
dürfe die Sache nicht auf diese Spitze hinaustreiben.
Später betrachtete er diese ganze Furcht für seine
eigene Person als Hypochondrie. Man sieht aber hier-
aus, wie hoch in diesen Jahren die Wogen in ihm
gingen. Besonders das Tagebuch aus dem Jahre 1849
ist in dieser Beziehung ausserordentlich interessant.
Bald schilt er sich selbst aus ob seiner Schwachheit,
dass er nicht das Aeusserste wagen wolle, bald ob'
seines Stolzes oder seiner Hypochondrie, dass er sich
in der schwersten Prüfung zu befinden glaube. Diese
letzte Auffassung gewann in ihm die Oberhand. Wohl
kam er davon ab, um eine kirchliche Anstellung sich
zu bewerben (nachdem er doch einen Besuch bei dem
Minister und dem Bischof gemacht hatte — ohne sie
zu Hause zu treffen). Die genannten Schriften aber gab-
142 ^- Sören Kierkegaard nnd das Christentam.
er Pseudonym heraus, indem er diesmal einen Namen
(Anticlimacus) wählte, der ausdrücken sollte, dass hier
«ine Auffassung des Christlichen dargestellt werde, für
die er persönlich noch nicht haften könne, weil sie ihm
zu hoch sei; — wie sein früherer Hauptpseudonymus
(Johannes Climacus) einen Standpunkt bezeichnet hatte,
■der noch nicht das erreichte, zu was er sich selbst
bekannte. „Im Gegensatz z.u Climacus, der sich selbst
das Christentum absprach, ist Anticlimacus das entge-
gengesetzte Extrem: ein Christ in aussergewöhnlicheni
Grade — während ich selbst wohl zufrieden sein muss,
es zu einem ganz einfältigen Christen zu bringen.*'
(1849, S. 291.) — Es war eine „Ideenschlacht", die in
seinem Innern geliefert worden war. Es war in Wirk-
lichkeit ein Wahrheitszeugenstreit, den er hier
mit sich selbst ausfocht, lange bevor der grosse öffent-
liche Wahrheitszeugenstreit losbrach. Das Ergebnis
lautete: „Ich gestehe, dass ich nicht im streng-
sten Sinne ein Wahrheitszeuge bin.'' (1848,
S. 168.) Hier stossen wir sogar in seinem inneren
Streite auf das Wort selbst, — das Wort, das ihm denn
auch später so hässlich in seinem Ohre klang, als es
von den Vertretern des offiziellen Christentums gebraucht
wurde. — Der äussere Streit zeigt sich hier deutlich
als die Fortsetzung des inneren. So ist es stets, wo
ein Streit mit Nachdruck und Ernst geführt wird. —
Er fühlte als eine tiefe Demütigung, was geschehen
war : „Ich würde in einem Sinne so gerne wagen ; meine
Phantasie winkt mir und treibt mich ; ich soll aber gerade
lernen, es mir gefallen zu lassen und in einer niedreren
Form zu wagen. Es ist ganz gewiss das Vollkommenste
und Wahrste, was ich geschrieben habe ; das Verhältnis
soll sich aber nicht so stellen, dass ich es wäre, der
fast verurteilend auf andere sich losstürzt, nein, ich
muss durch diese Gedanken erst selbst erzogen werden;
vielleicht darf sich keiner so tief darunter demütigen,
V. Sören Kierkegaard nnd das Christentum. I43
wie ich es thuii muss, bevor ich es herausgeben darf."
(1849, S. 405.)
3. Der Grundgedanke in der „neuen Produktion"
ist der, dass das Christentum dadurch, dass es bloss als
Religion der Milde und des Trostes aufgefasst werde,
eigentlich abgeschafft worden sei. Man hat sich allmä-
lich das Verständnis abhanden kommen lassen, dass das
Mitleid und die Liebe, die sich im Christentum äussert,
ganz anderer Art ist als was wir Menschen unter die-
sen Worten zu verstehen pflegen. Um diese einzu-
schärfen, setzt er in meisterhafter Darstellung ausein-
ander, wie Christus in den Augen der Zeitgenossen sich
ausnehmen musste und was für eine bedenkliche Sache
es, menschlich gesprochen, sein konnte, sich von ihm
helfen zu lassen. In strengster, einschneidendster Weise
wird geltend gemacht, dass im Christentum eine ganz
andere Vorstellung von Elend und Hilfe herrscht, als
die gewöhnliche, menschliche ist. Hinterdrein aber
meint man jetzt erfahren zu haben, dass Christus Gott
wäre, und mit Hilfe dieses erschlichenen Resultats er-
reicht man das Gleichzeitigkeitsverhältnis nicht, während
man doch die tröstenden und milden Worte sich zueignet.
Hier kann nur Strenge helfen. Die wahre Autorität
hat die Kirche verlassen: ,,Die, die befehlen sollten,
wurden feige; die, die gehorchen sollten, wurden frech.
So wurde das Christentum in der Christenheit abge-
schafft — durch die Milde. Und nun lebt in der be-
stehenden Christenheit, wo freilich niemals von Strenge
die Rede ist, ein verzärteltes, stolzes und doch feiges,
trotziges und doch weichliches Geschlecht, das gelegent-
lich diese milden Trostgründe vortragen hört, das aber
kaum weiss, ob es von ihnen Gebrauch machen will,
selbst wenn das Leben am schönsten lächelt, und das
in der Stunde der Not, wenn es sich zeigt, dass sie
eigentlich doch nicht so milde sind, sich ärgert." (Ein-
übung im Christentum, S. 272. [240. 244].)
144 ^> Sören Kierkegaard and das Christentam.
Was jedenfalls von jedem Einzelnen wie von der
bestehenden Kirche gefordert werden muss, das ist
Aufrichtigkeit, dass man eingesteht, in wie grossem
Abstand vom Ideal man sich befindet. Dass man sich
nicht in eine Idealität hineinlüge, die man entfernt
nicht besitzt, ist doch das Geringste, was man ver-
langen kann. (Vgl. „Die Moral" in „Einübung im
Christentum" 8. 83 f. [75].)
„Das Strengste soll gehört werden: man soll nicht
ganz und gar einen Strich dadurch ziehen und es igno-
rieren dürfen; man soll es hören, dass man sich darunter
demütigen kann; es soll jedoch nicht so verkündet
werden, dass man grausam die Leute zwingen will,
nach einem so entsetzlichen Massstabe Geist sein zu
wollen. Hier weiche ich von Mynster ab : er will es
rein verschwiegen haben. Ich will, es soll gesagt wer-
den, und will dann im übrigen gerne erklären, dass ich
es, wenn ich es sage, nur als Dichter sage, da mein
Leben entfernt nicht so geistlich ist. Ueberhaupt meine
ich, ist es der ethische Respekt, der eingeführt werden
soll." (1849, S. 410.)
Wenn von seiten der bestehenden Kirche nur der
Abstand vom Ideale zugestanden würde, so wollte
Kierkegaard keinen Streit erregen. Die persönliche
Wahrheit will er anerkannt haben; für sie konnte er
sich zum Kampf erheben, auch wenn er nicht selbst al&
Verfechter des Ideals auftreten durfte. — Allein das
Zugeständnis erfolgte nicht, wogegen Bischof Mjmster
durch eine Mittelsperson Kierkegaard wissen Hess, „dass
er die »Einübung im Christentum« durchaus missbillige. -
Ein Wort von Mynster hätte den Streit verhindern
können. „Kollidiere ich mit dem Bestehenden", heisst
es in den Tagebüchern einige Jahre später, „so ist es
Mynsters Schuld." (1851—53, S. 77.) Aus Pietät für
den alten Bischof hielt er doch zui'ück — bis die
Herausforderung kam.
V. Sören Kierkegaard and das Christentam 145
4. Doch darf man zum rechten Verständnis von
Sören Kierkegaards Persönlichkeit nicht vergessen, dass
es etwas anderes als der Zweifel an seiner eigenen
Machtvollkommenheit und die Pietät gegen Mynster
war, was ihn vom schärfsten Auftreten gegen die
gewöhnliche Auffassung des Christentums zurückhielt.
Es wirkte hiebei auch ein inniges Mitgefühl für solche
mit, denen sein Auftreten Leiden bereiten würde —
für die Unglücklichen, die in ihrem Trost beeinträchtigt^
für die Glücklichen, die in ihrer Freude gestört würden.
„Das Dasein nötigt einen, acht zu haben auf die
vielen, vielen weniger begabten, schwachen, einfältigen
Menschen, Frauen, Kinder, Kranke und Bekümmerte
u. s. w., in deren Mitte man lebt. Und da sagt denn
das Dasein zu dem Religiösen : kannst du es angesichts
dieser über dich gewinnen, die Religiosität, den Preis
der Seligkeit so hoch hinaufzuschrauben, wie du es
thust, du Grausamer ? Und wenn der Religiöse in
Wahrheit der Religiöse ist, und also Liebe hat, so
macht dieser Einwand einen tiefen Eindruck auf ihn,
der so gern bei den Leidenden weilt, dem es im Grunde
einzig sein Trost und seine Freude ist, die Leidenden
zu trösten.'' (1849, S. 44.) — Wohl wird dieser Ein-
wand in dem Folgenden damit abgewiesen, dass er die
Sprache des menschlichen Mitleids rede — Christus
aber das Absolute sei, und dass das Absolute grausam
sei und nicht einmal erlaube, dass man seinen Vater
begrabe. — Doch der Einwand erhebt sich in Kierke-
gaards Sinn immer wieder. Er lautet einige Zeit dar-
auf so : „Nun aber die Menschen, die grosse Menge der
Menschen, die ihre meiste Zeit, um ihren Lebensunter-
halt zu verdienen, in untergeordneten Geschäften hin-
bringen müssen: angesichts dieser wäre es doch eine
Grausamkeit, den Preis hinaufzuschrauben. Hier erfor-
dert es ja doch die Menschlichkeit, dass man einen
Trost schafft und die Milde verkündet, weil in derlei,
Hoff ding, S. Kierkegaard. 10
146
Y. Sören Kierkegaard und das Christentam.
Menschen eben das ihr Kummer und es bei ihnen
Wahrheit sein kann, dass sie schmerzlich empfinden,
nicht für etwas Höheres leben zu können . . . Nein,
auf die gebildete und wohlhabende Klasse derer, die,
wenn nicht den Vornehmen, so doch der vornehmen
Bourgeoisie angehören: auf die soll der Schlag zielen,
denen im Salon soll der Preis hinaufgeschraubt werden."
(1849, S, 79 f.) — Doch auch für die Glücklichen regt
sich das Mitgefühl: ,, Sollte ich das Christentum in
Wahrheit verkünden, so müsste ich also dieses ganze
glückliche Dasein stören, das dort sein kann, wo man
mit dem Geist nicht in Berührung kommt . . . Mitunter
ist es mir, als ginge ich dahin und trüge mit diesem
meinem Wissen vom Christentum ein Verbrechen mit
jnir herum.« (1850, S. 161.) Und er hatte die Empfin-
-dung, dass die Strenge den glücklichen Naturen noch
,schwerer fallen müsste als ihm selbst, der ja sein
ganzes Leben in inneren Leiden gestanden war: „Ich
lebe nun einmal in der besonderen Kajüte der Schwer-
mut — darf mich aber am Anblick der Freude anderer
ergötzen . . . Gesund und stark zu sein, ein kompleter
Mensch, der ein langes Leben erwarten darf — nun,
dies war mir nie vergönnt. Wenn ich dann aber von
meinen schrecklichen Schmerzen hinaus unter die Fröh-
Jichen trete — ich glaubte mir die wehmütige Freude
verstatten zu dürfen, dass ich sie in dieser ihrer
Freude am Leben bestärke. Soll es aber verkündet
werden, dass man absterben soll, dass von Gott geliebt
zu sein Leiden ist, und Liebe zu Gott Leiden ist, —
ach, dann muss ich ja allen andern ihr Glück gleich-
sam stören . . . durch diese Schwierigkeit werde
ich zurückgehalten." (1851—53, S. 284.)
Ich habe diese Auslassungen so ausführlich wieder-
gegeben, weil ich nicht glaube, dass man Kierkegaard
versteht, wenn man von dem ganzen hierin zu Tage
tretenden Zuge in seiner Natur, von seinem milden und
V. Sören Kierkegaard nnd das Christentum. 147
liebreichen Sinne nicht einen möglichst vollständigen
Eindruck bekommt. In seinen Schriften scheint mir
diese Seite nicht mit der Innigkeit und Wärme hervor-
zutreten wie in seiner einsamen Abrechnung mit sich
selbst,
5. Dass die Zurückhaltung, die das Mitgefühl ihm
auferlegte, eine nur vorläufige war, rührte davon her,
dass Kierkegaards ganze AuiFassung des Christentums
und der Kirche seit dem persönlichen Durchbruch und
unter der veränderten, durch die Zeitereignisse herbei-
geführten Stellung zu den Autoritäten eine erheblich
schroffere wurde. Hand in Hand mit dem, dass er in
seiner Auffassung des Ideals sich sicherer fühlte, schärfte
sich auch sein Blick für die Mängel am Bestehenden.
Es war jetzt seine Überzeugung, dass von selten
der Menschen ein grossartiger Verrat am Christentum
begangen worden war. Es war ihnen zu hoch und zu
streng — zwar möchten sie sich mit dem Hohen
gern verwandt wissen und seine Hilfe und seinen Trost
annehmen, aber um einen möglichst billigen Preis. Die
erste Herabstimmung des Christentums geschah, als man
im Mittelalter die, die in ihrem Leben mit der Nach-
folge Christi Ernst machten, als ausserordentliche Chri-
sten zu betrachten begann. ,,Da hörte das Christentum
auf, Sinn zu haben !" Luther ging auf der eingeschla-
genen Bahn weiter. Er bekämpfte das Mittelalter zu
sehr, verliess das Kloster zu frühe. Hatte man früher
in Christo einseitig nur das Vorbild gesehen, so vergass
Luther jetzt das Vorbild über dem Versöhner. Er
stimmte das Christentum herab, ohne es bemerklich
genug zu machen, dass er es herabstimmte. „Luther,
Luther, Luther, du hast eine grosse Verantwortung!"
Die Reformation wurde nicht eine Rückkehr zum
ursprünglichen Christentum, sondern eine Modifi-
kation des Christlichen. Luthers Auftreten be-
zeichnet eine Reaktion des Menschlichen gegen das
10*
148
y. Sören Kierkegaard und das übristentam.
Christliche : es ist seine Erfindung, dass das Christentum
wesentlich dazu da ist, zu beruhigen und zu trösten.
Und dann war er ein verwirrter Kopf, der es zu eilig
damit hatte, Lasten abzuwerfen und Autoritäten anzu-
greifen — wie unselig ist z. B. nur diese Einmengung
der Politik, dass er den Papst stürzen wollte! — Und
doch kann Luther noch Achtung ansprechen: er kam
von einer zwanzigjährigen Bussübung und Seelenangst
her. Wieviele Protestanten können aber das aufweisen?
Und gleichwohl nivelliert der Protestantismus alles; er
ist eine plebeische Richtung, die den Unterschied zwi-
schen dem Grossen und Geringen nicht anerkennt, son-
dern sich — trotz des ganzen Gegensatzes in der Exi-
stenz — auf eine Linie mit den Aposteln und Wahr-
heitszeugen stellt. Es war Kierkegaards Anschauung,
so tief wie der Protestantismus könne der Katholizismus
nie sinken, da er doch jedenfalls immer wieder Ver-
treter der strengen, idealen Auffassung des Christentums
aufzuweisen habe. Der Protestantismus zehrt von der
christlichen Heldenzeit, den drei ersten Jahrhunderten
der Kirche, ohne neue Helden hervorzubringen; aber:
„das in den 300 Jahren mühsam errungene Betriebs-
kapital ist verbraucht, meine Damen und Herren: es
lässt sich auch mit neuem Betrug nichts mehr heraus-
pressen."
Ja, vielleicht muss man sogar noch weiter zurück-
gehen. Die Misslichkeit begann schon mit dem Anfange
der Kirche selbst. Denn es konnte unmöglich mit
rechten Dingen zugehen, wenn die Apostel an einem
Tage 3000 zu Christen machten. Es muss ihnen in
ihrer Freude und Begeisterung etwas Menschliches be-
gegnet sein: sie haben vergessen, was eigentlich Chri-
stentum sei. — Und selbst im Leben des Vorbildes
kann man Züge finden, wo er dem Menschlichen zu viel
nachgegeben hat. Er ging ja zu der Hochzeit in Kana,
nahm hier an der Lebensfreude teil und bestärkte so
Y. Sören Kierkegaard and das Christentum. 149
die Menschen darin! Dies that er aber auch nur im
Anfang seiner öffentlichen Laufbahn, ehe . er gesehen
hatte, wie schlimm die Welt ist. Später ging er zu
keiner Hochzeit, und sein Apostel, der nichts anderes
wusste als Jesus Christus, und ihn als den Gekreuzig-
ten, er ging nicht zur Hochzeit.
Man hat das Christentum zu milde und weichlich
gemacht, zu einem Ausweg, einem Trost für die schlimm-
sten Fälle. Man verliert sich in das „süssliche" Ge-
schwätz, wie das Christentum das tiefste Sehnen befrie-
dige u. s. w. Gott ist ein alter, guter Grossvater ge-
worden, nicht ein Vater, der seine Kinder mit Strenge
erzieht. In der kirchlichen Weihnachtsfeier findet
Kierkegaard besonders ein Symbol für den veränderten
Charakter der Christenheit. Es ist das reine Heidentum,
das man in ihr aufgenommen hat. Das Christentum ist
zu. einem Weihnachtsspass geworden ! *)
6. Die Milderung und Verweichlichung, die das
Christentum verderbt hatte, leitete Kierkegaard her
von dem — Weibe, dem Weibe, das ja der Protestan-
tismus durch seine Verherrlichung des Ehestandes und
Familienlebens besonders bevorzugt hatte. Früher hatte
er Luthers Ehe als eine heroische That gepriesen, die
den Zeitgenossen das Paradox, die Ehe des Mönches
mit der Nonne vor Augen zu führen wagte. Jetzt
meinte er, Luther habe auch hier etwas zu grosse Eile
gehabt. Das Weib eben macht es dem Manne unmög-
lich, für den Geist, für ein Unbedingtes zu leben. Ist
der Mann erst mit einem Weibe verbunden, das in der
Liebe zu dem Ihrigen und den Ihrigen sich selbst liebt,
ja, dann mag die Idee an ihm ziehen und zerren : der
Egoismus der „Mutter'' hält ihn fest! (1854—55, S. 45 f.)
„Das Christentum weiss sehr wohl, dass mit dem Weib
*) Dieser Znsammenfassang liegt eine ganze Reihe von Aens-
serungen in den Tagebüchern 1849 — 55 zn Grande; vgl. auch den
zweiten Teil von „Zur Selbstprufung" („Richtet selbst!").
150 V. Sören Kierkegaard nnd das Christentnm.
und der Liebe und dergl. alles dieses Schwächere und
Weichliche in einem Menschen aufkommt, und dass es,
insoweit der Mann nicht selbst darauf verfällt, von der
Hausfrau in der Regel mit einer Ungeniertheit reprä-
sentiert wird, die für den Mann äusserst gefährlich ist,
besonders wenn er im strengeren Verstände dem Chri-
stentum dienen soll." (Einübung, S. 142 [128.]) Das Weib
repräsentiert die Lebenslust: der Mann ist weit mehr
darauf angelegt, Geist zu sein. Das Weib ist eine
Lockspeise — wie Johannes der Verführer gesagt hatl
(1854-55, S. 64.)
Wie bezeichnend, dass hier von dem strengsten
religiösen Standpunkte aus auf den ästhetischen zurück-
gewiesen wdrd; beide kommen von ganz entgegenge-
setzten Kichtungen auf ein und dasselbe hinaus! Die
ganze ethische Betrachtung wird ausgeschieden oder
behandelt, als wäre sie nicht da. — Man wird sich aus
dem Abschnitt über die ethische Lebensanschauung
erinnern, dass diese für die Frau eigentlich nicht mög-
lich sei, dass sie vielmehr unmittelbar von dem poeti-
schen Stadium zur Religiosität übergehen sollte. Nun
kommt die weitere Bestimmung hinzu, dass sie zum
Religiösen erst auf indirektem Wege Zugang habe;
denn die auf Widersprüche gestellte Existenz, die die
christliche ist, kann sie eigentlich nicht ertragen: sie
kommt erst durch den Mann zur Religiosität, indem sie
Zeuge dessen ist, wie er an der grossen Aufgabe sich
abarbeitet. (1854—55, S. 330.) Kierkegaard freut sich,
dass er mit seiner AuiFassung des Weibes Schopen-
hauer auf seiner Seite hat ; er meint, sich auch auf das
Neue Testament stützen zu können.
Von dem Weibe und der Familie kommt er aber
konsequent auf den Naturtrieb, der zur Bildung der
Familie führt. Die Fortpflanzung des Geschlechts ist
selbst vom Uebel. Das Neue Testament setzt voraus,
dass Christen nicht in die Ehe treten. Und wie sollten
y. Sören Kierkegaard and das Ghristentam. 151
sie eigentlich auch dazu kommen können und Kinder
in die Welt setzen wollen, wenn sie wissen, dass diese
in Sünde und zum Elend geboren werden? Das Chri-
stentum will der Fortpflanzung des Geschlechts wehren,
es will das Personal der Geschichte nicht erneut haben.
Und wenn die Sache so steht, wie gründlich hat dann
der Protestantismus durch seine Verherrlichung des
Familienlebens das Christentum verderbt! (1854 — 55,
S. 304 ff., 338 ff.)
Hier ist also die Konsequenz gezogen. Das Leben
wird sogar in seinem Drang und Streben nach Bestand
und Erneuerung, in dem Grundtrieb, der direkt und
indirekt die Quelle alles menschlichen Wirkens ist, für
böse erklärt. Es widerstrebt ja der Einpflanzung des
übernatürlichen Elements, so muss es faul sein, und das
Brenneisen brandmarkt es als verderbt bis ins innerste
Mark. Schon in dem Abschnitt von der religiösen
Lebensanschauung stellte sich uns die Selbstvernichti-
gung als das Höchste dar. Was hier neu entwickelt
wurde, ist eigentlich nur ein genauerer Ausdruck für
denselben Gedanken.
7. Wenn nun diese ganze Auffassung des Christen-
tums und der Welt geltend gemacht werden sollte, so
ist leicht vorauszusehen, wie das Urteil über die beste-
hende Kirche lauten musste. Kierkegaard hat die
beiden Hauptsätze, um die sich seine spätere öffentliche
Polemik drehte, schon in den Tagebüchern formuliert.
Schon hier findet sich der Gedanke: „Luther hatte 95
Thesen; ich hätte nur eine: das Christentum ist nicht
da" ; und der andere : ,,Der ganze Gottesdienst ist ein
grossartiger Versuch, Gott für Narren zu halten, Wenn
man sich dessen auch nicht bewusst ist . . . Kann man
es verantworten, an derartigem sich zu beteiligen?"
(1851—53, S. 54. 313.)
Wir haben vernommen, was ihn lange zurückhielt.
Da kam die Situation, worin ihn nichts mehr
152 V. Sören Kierkegaard and das Christentam.
zurückhalten konnte, die in der Einsamkeit bei ihm
herangereiften Gedanken laut auszusprechen.
B. Dasjetzte Wort.
1. Den Anlass zum Streit gab eine Predigt Mar-
tensens, worin er etliche Tage nach Bischof Mynsters
Tod den Verstorbenen als Glied „der heiligen Kette von
Wahrheitszeugen'' hinstellte, ,,die von den Tagen der
Apostel her durch die Zeiten sich erstreckt". An die-
ser Äusserung nahm Sören Kierkegaard den schwersten
Anstoss. Er schrieb sofort einen kräftigen Protest
nieder, den er drei Vierteljahre später, am 18. Dez.
1854, im „Vaterland" veröifentlichte, nachdem Martensen
inzwischen als Mynsters Nachfolger glücklich Bischof
von Seeland geworden war. Ich mache keinen Versuch,
im einzelnen den Streit zu schildern, der nunmehr ent-
brannte, und dem unsre Litteratur hinsichtlich der
Wichtigkeit der Sache, um die es sich handelte, wie
hinsichtlich der Leidenschaftlichkeit, womit er von
Seiten seines Urhebers geführt wurde, nichts Ahnliches
an die Seite zu stellen hat. Er wäre eines eigenen
Geschichtsschreibers wert, der mit dramatischer Leben-
digkeit die behandelnden Personen einander gegenüber-
zustellen wüsste und der entscheiden könnte, inwieweit
die grosse Anklage, die Sören Kierkegaard gegen die
Christenheit erhoben hat, die dänische Staatskirche und
ihre damaligen Vertreter besonders trifft. Die Ausein-
andersetzung erinnert etwa an die zwischen Plato und
den Sophisten und zwischen Pascal und den Jesuiten.
Nur historisches Wissen und die Kunst eines Historiker.'^
kann die Sache ausmachen. Hier habe ich mit dem
Streit nur nach dessen allgemein menschlicher Seite zu
thun. Und ganz abgesehen von dem Resultat des
Streits haben Kierkegaards Streitschriften, so gut wie
Piatons Dialoge und Pascals Provinzialbriefe, ein
y. Sören Kierkegaard und das Christentam. \Q^
l^leibendes Interesse. Es wird sich einer kaum in die
stürmischen Auslassungen von seiten Kierkegaards ver-
tiefen können, ohne dass er ihren Einfluss als ,,der
Einzelne" erfährt. Höchst verkehrt wäre es, wollte
man sie bloss mit ästhetischem Interesse für die schnei-
dige Polemik lesen; es fallen gewichtige Worte über
das Verhältnis zwischen Ideal und Selbstbetrug, die an
jeden sich wenden, welches sonst auch sein Standpunkt
sein mag. — Was Kierkegaard selbst betrilFt, so erwies
er sich als kräftigen Agitator, der kein Mittel scheute,
um seinen Worten Nachdruck zu geben. Es war ihm
darum zu thun, dass keine Vertiefung in Nebenumstände
und kein weitläufiges Aufspüren von etwaigen Ent-
schuldigungen und Ausnahmen die Aufmerksamkeit von
dem grossen Hauptsatze ableite, den er einprägen wollte.
Er meinte zugleich, dass seine Gegner sich ja zu einem
absoluten Massstabe bekannt haben und dass ihre Motive
wie ihr Charakter gegen ihn gehalten einen bedenklich
weltlichen Sinn verraten. Gleichwohl ist es sonderbar,
wenn wir diesen Vertreter der Idealität, diesen Ritter
des Gedankens gleich zur Einleitung seiner Polemik
mit Wendungen auftreten sehen wie der: die Predigt
Martensens über Mynster könnte auch insofern eine
Erinnerungsrede heissen, als sie Martensen für den
erledigten Bischofsstuhl in Erinnerung gebracht habe.
Und an Seitenstücken hiezu fehlte es im Verlauf der
Polemik nicht. Bei solcher geistigen Ueberlegenheit
und derartiger Kunst, die Waffen der Satire und des
Spotts zu handhaben, wie sie hier sich findet, müssen
derlei Insinuationen zweimal als ungehörig bezeichnet
werden. Kierkegaards Schild wäre ohne sie blanker
geblieben, —
2. Der Streit über den ,, Wahrheitszeugen" drehte sich
eigentlich um einen der Hauptgedanken, um die Kier-
kegaard von jeher sich bewegt hatte, um die Frage :
Kontinuität oder Bruch, „Sowohl — als auch" oder ,, Ent-
weder — Oder" ? Von seiten derbestehendenKirche wurde
154 ^' Sören Kierkegaard and das Christentnm.
geltend gemacht und lag auch, der Würdigung Mynsters
durch Martensen zu Grunde, dass ein ununterbrochener
Zussammenhang zwischen den derzeitigen kirchlichen
Vertretern und den Aposteln, den Vertretern des ueu-
testamentlichen Christentums, bestehe. Eine heilige
Kette verbinde sie. Und zugleich wurde damit eine
Auffassung des Christentums geltend gemacht, wonach
das Christliche mit der rein humanen Bildung einen
Bund teils geschlossen hätte, teils schliessen könnte,
so dass also eine höhere Einheit beider erreicht werden
könnte — wie man meinte, auf dem eigenen Grund und
Boden des Christentums. Christlicher Staat, christliches
Familienleben, christliche Kunst, christliche Wissenschaft:
das war eine Reihe von Begriffen, deren blosse Aufstellung
schon charakteristisch ist für die kirchliche Lehre von
der Harmonie des Christlichen und Humanen. Für
Kierkegaard bezeichnen diese Begriffe ebenso viel Sin-
nestäuschung und Selbstbetrug, ebenso viele Lügen.
Er behauptet, der Zusammenhang zwischen der nun be-
stehenden Christenheit und dem Christentum des Neuen
Testaments sei unterbrochen, weil er geltend macht,
dass das Christliche im Sinne des Neuen Testaments
„der tiefste, unheilbarste Bruch mit dieser Welt ist."'
(Zeitungsartikel S. 73.) So wenig Mynsters Predigt
das Christliche in diesem Sinne zum Ausdruck brachte
oder einen derartigen Bruch mit der Welt herbeiführte,
so wenig war in Mynsters Persönlichkeit und Lebens-
führung eine Spur hievon zu entdecken. Hat man ihn
nun gleichwohl den rechten Wahrheitszeugen im christ-
lichen Sinne zugezählt, so verriet dies in Kierkegaards
Augen eine unzulässige Begriffsverwirrung und, wenn
man dies nicht zugestehen wollte, eine freche Verfäl-
schung des Ideals. Die bestehende Kirche konnte nach
seiner Meinung nur in der Weise verteidigt werden,
wie er es in seiner „Einübung im Christentum" versucht
hatte : indem man den grossen Abstand zwischen Ideal und
V. Sören Kierkegaard und das Christentum. ISO»
Wirklichkeit zugesteht und dann, nach diesem Zugeständ-
nis, zu der göttlichen Gnade seine Zuflucht nimmt. Will
man aber von kirchlicher Seite aus dieses Zugeständnis
nicht machen, so wird die bestehende Kirche zu einer
„frechen Unanständigkeit'^, zu einem „Yersuca, Gott für
Narren zu halten" (Zeitungsartikel S. 75), und es wird,
notwendig, die These, die eine These aufzustellen,
dass das Christentum des Neuen Testaments nicht da
sei. (Zeitungsartikel S. 73, „Das Vaterland" vom 28.
März 1855.) — Der Zusammenhang mit dem Neuen»
Testament ist unterbrochen, weil der Zusammenhang
mit „der Welt" nicht abgebrochen ist: das war Kierke-
gaards Standpunkt in dem Streite.
Dass er eine strengere Auffassung des Christentums
vertrete, Mynster und Martensen (wie auch Grundtvig,
den er gelegentlich auch mitnimmt) eine mildere, damit
wollte er sich nicht abspeisen lassen. Es ist hier gar
nicht von Strenge oder Milde die Rede. Vielmehr
handelt es sich um einfache menschliche Redlich-
keit gegenüber der Frage, ob wir heutzutage nach den
im Christentum des Neuen Testaments vorausgesetzten
Bedingungen leben oder nicht: „Für diese Redlichkeit
will ich wagen. Hingegen sage ich nicht, dass ich für
das Christentum wage. Nimm es an, nimm an, dass ich
ganz buchstäblich ein Opfer werde, so würde ich doch
nicht ein Opfer für das Christentum, sondern dafür,
dass ich Red] ichkeit wollte. . . . Ich getraue mir nicht,
mich einen Christen zu nennen; aber Redlichkeit will
ich, und dafür will ich wagen." (Zeitungsartikel S. 103.)
3. Nachdem der Streit ein halbes Jahr lang (De-
zember 1854- -Mai 1855) als ein Zeitungszwist geführt
worden war, nahm er von Kierkegaards Seite einen
noch leidenschaftlicheren Charakter an, indem ersieh jetzt
durch Flugblätter an grössere Kreise wandte, mit der
offen und bestimmt ausgesprochenen Aufforderung,
die Verbindung mit der Kirche abzubrechen. Diese-
156 ^' Sören Kierkegaard nnd das GbristeDtom.
Aufforderung wurde in einem Flugblatt vom Mai 1 855 :
,,Dies muss gesagt werden, so sei es denn gesagt", so
formuliert :
„Wer du auch seist, mein Freund, wie im übrigen
dein Leben auch sei, — dadurch, dass du nicht mehr
(wenn du es anders bis jetzt gethan hast) an dem
öffentlichen Gottesdienste teilnimmst, wie er jetzt ist
(mit dem Anspruch, das neutestamentliche Christentum
zu sein): dadurch hast du beständig eine und zwar
eine grosse Schuld weniger: du nimmst nicht daran
"Teil, Gott dadurch für Narren zu halten, dass man für
neutestamentliches Christentum ausgiebt, was es doch
nicht ist."
Darauf folgten im Laufe des Sommers die neun
Hefte des „Augenblicks" (Mai — September 1855) mit
steigender Heftigkeit in Angriff und Agitation. — Aus
meinen Knabenjahren erinnere ich mich noch der weissen
Hefte und der Erregung, die sie in Sinn und Rede der
Erwachsenen hervorriefen. Erst später sollte ich selbst
•erfahren, was für ernste Kunde sie brachten. —
Kierkegaards Sprache erreicht hier mitunter eine Kraft
lund zugleich eine ätzende Schärfe, durch die etliche
Hefte des „Augenblicks" in der Geschichte unserer
Sprache einzig dastehen.
Die Kirche soll weg — es bleibt nichts anderes
übrig; denn sie liegt das Christentum zu tot. Sie hat
seinen Gegensatz zur Welt, zu den Gütern der Welt
.und den Aufgaben der Welt abgeschafft und hat damit
das Christentum abgeschafft. Infolge einer Empörung,
die nicht in offenem Trotz, sondern still, unter der
Hand, in Heuchelei vor sich ging, hat man aus dem
■Christentum etwas ganz anderes gemacht, als es eigent-
lich ist. Die Verkehrung begann frühe genug : vielleicht
bereits mit den Aposteln. Ja, ist das Cliristentum
-eigentlich überhaupt in die Welt hereingetreten'? Man
iat mit Hilfe der Dogmen (Kierkegaard denkt besonders
y. Sören Kierkegaard und das Christentam. 157
an die Versölmungslehre) das Vorbild auf die Seite
geschoben; man hat in dem grossen Trauermarsch des
ursprünglichen Christentums einige wenige mildklingende
Rhythmen gefunden und sie als Anlass benutzt, das
ganze Christentum zvi einem Id^ll umzukomponieren.
(Augenbl. No. 5.)
Die Sache ist die : „Der Christ im Sinne des Neuen
Testaments steht genau so hoch über dem Menschen,
wie das Tier unter dem Menschen steht." Sind aber
die Menschen heutzutage einer der.irtigen geistigen Exi-
stenz noch fähig, für die eigent ich religiöse Leiden-
schaft noch empfänglich? Es ist eine Schwächung des
Charakters vor sich gtigangen, die wesentlich dem.
Ehestand und dem Familienleben zuzuschreiben ist.
(Augenbl. No. 7.)
Soviel ist gewiss; ist der derzeitige Zustand der
Kirche christlich, so kann das Neue Testament für
Christen nicht länger Wegweisung sein; denn die Vor-
aussetzung, worauf es ruht, das bewusste gegensätz-
liche Verhältnis zur Welt, ist weggefallen. (Augenblick.
No. 2 und 4.)
Die ganze Frage hat eine weittragende Bedeutung;,
sie beschränkt sich nicht auf den Augenblick: ,,Was
ich will, ist nicht etwas Ephemeres, so wenig es etwas
Ephemeres ist, was ich wollte; nein, es war und ist
etwas Ewiges: mit den Idealen gegen die Sinnestäu-
schungen." Denn die Ideale sollen verkündet werden, wie
es auch gehen mag; sonst siegt die Mittelmässigkeit.
Die Menschen haben ja doch von jeher einen Ausweg
zu finden gewusst, um sich beschwerliche Probleme
vom Halse zu schaiFen, den einfachen Weg: „Sei ein
Schwätzer — und sieh, alle Schwierigkeiten
verschwinden!"*)
*) Augenblick No. 1 und 9, 2. und 4. Stück. Das letztgenannte
Stück mnss jeder selbst lesen, der wissen will, was Kierkegaard
wollte und wie er dem Ausdruck zu geben verstand.
158
V. Sören Kierkegaard und das Christentam.
4. Kurz nach dem Erscheinen der letzten Nummer
„des Augenblicks'^ erkrankte Sören Kierkegaard auf
-der Strasse; er fiel in Ohnmacht und wurde ins Frede-
jiks-Hospital gebracht. Schon lange war er kränklich
gewesen; er hatte ein Rückenleiden, das er von einem
Fall in seiner Jugend herschrieb. „Ich komme, um
hier zu sterben", sagte er beim Eintritt ins Hospital,
^ach dem Zeugnis derer, die ihn während seines letzten
Krankenlagers sahen, lag eine aussergewöhnliche Klar-
heit und Ruhe über ihm, und seine Augen strahlten
-mit noch grösserem Glänze als zuvor, wenn nicht etwa
die Schmerzen ihn ganz übermannten.
So merkwürdig stimmte hier alles zusammen! Nach-
dem sein letztes Wort gesagt war, — das Wort, zu
dem er gleichsam sein ganzes Leben hindurch ausgeholt
hatte, und das letzte Wort, das er sagen konnte : da
war auch seine körperliche Kraft gebrochen. Und
gleichzeitig waren auch seine äusseren Subsistenzmittel
erschöpft : kurz zuvor hatte er sein letztes Geld erhoben.
Dieser äussere Abschluss war wie ein Sinnbild dafür,
dass er die Konsequenz seines Geistes und seines
Denkens erschöpft hatte.
Und nun war's ihm wie dem, dessen Kampf zu
Ende war. Das Leben war ja für ihn auch ein langer
.Streit gewesen. Er hatte redlich ^mit sich selbst ge-
kämpft, ehe er mit andern kämpfte, und er verlangte
von ihnen nur dieselbe Redlichkeit, die er zuerst von
.sich selbst verlangt hatte. — Jetzt hatte dieser innere
und äussere Streit sein Ende erreicht. Wie man sich
erinnern wird, bestand nach seinem Glauben ein abso-
luter Gegensatz zwischen dem Ewigen und dem Mensch-
lichen ; nur in vorübergehenden Inkonsequenzen Hess er,
wie wir sahen, die Schatten des letzteren auch auf das
andere Gebiet hinüberfallen. Und so war es auch jetzt
sein Glaube, dass der Streit für ihn nunmehr durch
den Frieden abgelöst werden würde, wie es in einigen
y. Sören Kierkegaard nnd das Christentam. 159
Zeilen von Brorson heisst, die er sich als Aufschrift
auf sein Grab wünschte :
Noch eine kleine Zeit,
So ist's gewonnen,
So ist der ganze Streit
Mit eins zerronnen.
Am Schluss des letzten Bandes der „hinterlassenen
Papiere" finden sich einige interessante Gespräche, die
er in seinen letzten Tagen mit seinem Jugendfreunde,
Pastor Boesen hatte. Man sieht hieraus, dass er das
heilige Abendmahl nicht empfing, weil er es nicht von
einem Pfarrer, sondern nur von einem Laien annehmen
wollte. Er starb den 11. November 1855.
S c h I u s s.
1. „Der Rest ist Schweigen!" — Mit diesem letz-
ten Worte Hamlets möchte ich am liebsten schliessen,
nachdem ich Sören Kierkegaards letztes Wort berichtet
habe. Denn hierauf noch das Wort zu ergreifen, kann
anmassend scheinen. Das letzte Wort eines grossen
Geistes über die allergrösste Frage der Geschichte und
des Lebens kann einen wohl zum Schweigen bringen.
Schweigen hat aber nur Wert, wenn es bedeutet, dass
man denkt, und so breche ich das Schweigen, um zu
sagen, welche Gedanken — seit der Zeit, da ich zum
erstenmal unter dem Eindruck »der einzigen These«
Sören Kierkegaards gestanden bin — sich bei mir
befestigt haben.
Nicht als ob es zur Würdigung seiner Bedeutung
einer bestimmten Stellungnahme zu seinem letzten Worte
bedürfte. Sein grosses Verdienst liegt vornehmlich in
seiner wunderbaren Gabe zu fragen, Schwierigkeiten zu
finden, so zu verwunden, dass bei denen, die sich in
seine Schriften vertiefen, nicht bloss das Gedankenleben,
sondern das persönliche Leben überhaupt in innerliche
und dauernde Bewegung kommt. Und sein Satz, dass
die Subjektivität die Wahrheit ist, begreift in sich, dass
alles auf die persönliche Linerlichkeit, die schöpferische
Selbstthätigkeit ankommt, die nach seiner wie der
Ueberzeugung seines Lehrers Paul Möller bei jedem
Menschen möglich ist. Keine überlieferte, von aussen
kommende Kenntnis kann genügen. Nur das ist für
den Menschen Wahrheit, was er selbst produziert, oder
doch reproduziert. Dieser Satz ist von so grosser und
weittragender praktischer Bedeutung, dassj er Konse-
Schlnss. 161
quenzen iu sieh schliesst, die (wie wir schon früher
andeuteten) weiter gehen, als Kierkegaard sich selbst
gestelien wollte.
Wir sind es jedoch uns selbst schuldig, zu erörtern,
•ob das Menschengeschlecht sich wirklich, wie er urteilt,
vom Christentum weggeschlichen, aus Weichlichkeit
(und in Heuchelei dem Ideale den Rücken gekehrt hat.
Hätte er damit Recht, so hätte dies nicht bloss religiöse
Bedeutung. Mag man über die bleibende Bedeutung
des Christentums so oder so denken — das Eine ist
doch klar, dass es traurig wäre, wenn das Geschlecht
:seine altehrwürdigen Ideale auf solche Weise verlassen
liätte. Ideale kann man in würdiger Weise nur ver-
lassen, wenn man ihnen entweder entwachsen ist, oder
-wenn die Lebensverhältnisse aus andern Gründen andere
geworden sind und neue Vorbilder verlangen. Es sind
also rein humane Gründe, die uns eine möglichst voU-
;ständige Klarstellung der von Kierkegaard erhobenen
Erage empfeblen, in welchem Verhältnis die Menschheit
.zu der Lebensanschauung des Neuen Testaments stehe.
2. Kierkegaard macht einmal („Nachschrift'' S. 569)
die Bemerkung, das Neue Testament enthalte hinsicht-
lich der Probleme, die sich für uns, die wir von Ju-
,gend auf im Christentum erzogen sind, erheben können,
keine Anweisung. Und im ,, Augenblick" kommt er auf
anderem Wege auf den Gedanken zurück, dass das
N^eue Testament der heutigen Christenheit den Weg
jedenfalls nicht zeigen könne. Verfolgt man den hier
.angeregten Gedanken weiter, so muss man natürlich
untersuchen, inwiefern die Voraussetzungen der neu-
lestamentlichen Lebensanschauung andere sind als die,
wovon ein Mensch heutiger Zeit ausgehen muss, dem
daran gelegen ist, von dieser Lebensanschauung so viel
als möglich anzunehmen. Stellt man die Frage so, so
fällt ein Umstand, je tiefer man in den Vorstellungskreis
Äes Neuen Testaments eindringt, um so entscheidender
JHöffding, B. Xierkegaard. 11
162
Schlnss.
ins Grewicht: das Neue Testament geht durchweg davoi?
aus, dass die Geschichte bald — noch für die ebei>
lebende Generation — durch die Wiederkunft Christi
ihren Abschluss finden werde. Zieht man diesen Um-
stand nicht mit in Betracht, so versteht man die Ethik
des Neuen Testaments nicht. Er bildet den stäten
Hintergrund. Das Himmelreich ist nahe! — das Ende-
aller Dinge ist nahe ! — das ist der stets wieder-
kehrende Refrain, der sich für den Aufmerksamen ver-
nehmlich macht, auch wo er nicht ausdrücklich wieder-
holt ist. Da man so mit begrenztem Horizonte arbeitete,
keinen Ausblick auf unübersehbare Entwicklungsperioden,
auf eine lange Wanderung für das Geschlecht hatte,
so mussten alle umfassenden Bestrebungen, jede eigent-
liche Kulturarbeit, alles gesellschaftliche Leben bedeu-
tungslos werden, wie man alles, was die Aufmerksamkeit
von dem einen, grossen und nahen Ziele ablenken konnte^
beiseite liegen lassen musste. „Das Ende aller Dinge
ist nahe, darum seid nüchtern und wachet", schreibt
der Apostel Petrus (1 Petri 4, 7), und aus demselben
Grunde rät Paulus den Christen vom Heiraten und
von der Vertauschung des Sklavenstandes mit dem
freien Stande ab (1 Kor. 7). Was hatten solche Güter
und Freuden auch zu sagen gegenüber der Herrlichkeit,
die sich offenbaren sollte? Sie konnten Sinn und Ge-
danken, die man jetzt, bei der nahe bevorstehenden!
grossen Entscheidung, gerade gesammelt haben sollte,
ja nur zerstreuen.
Fällt diese Voraussetzung weg, so muss die christ-
liche Ethik eine ganz andere Gestalt gewinnen. Ihre
Forderung bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn
man bei der Arbeit den Horizont ferne hat, als solange
er ein enger war. Die Unklarheiten in der späteren
Stellungnahme der Kirche zu dem ursprünglichen Chri-
stentum finden ihre einfache Erklärung darin, dass man
diesem grossen Unterschied nicht die genügende
Schlnss. 163
Beachtung geschenkt hat. Als die lange geschichtliche
Wanderung begann, drängten sich Aufgaben und Ziele her-
vor, denen man früher keine Bedeutung beigelegt hatte.
Auf der langen Reise hat man andere Bedürfnisse, als
wenn man nur ein paar Schritte zu gehen hat. Es
machten sich Verhältnisse geltend, wofür das Neue
Testament keine wirkliche Vorschrift enthalten konnte;
es entwickelte sich ein selbständiges Menschenleben in
Familie und Staat, Wissenschaft und Kunst — oder
richtiger: das auf diesen Gebieten schon zur Entwick-
lung gelangte Leben musste sich nunmehr in der christ-
lichen Welt entfalten. Da regte sich dann aber auch
das Bedürfnis anderer Vorbilder und einer Ethik, die
•diesem Leben eine positive Bedeutung geben, das Leben
als eine Entwicklung und nicht bloss als eine Übungs-
zeit bis zu dem nah bevorstehenden Abschluss be-
trachten konnte. Frühzeitig beginnt man denn die
griechische Ethik mit der christlichen zu verbinden,
sehr oft in rein äusserlicher Weise.
Hat Kierkegaard mit seinem Satze, das neutesta-
mentliche Christentum sei nicht da. Recht, so liegt die
Erklärung darin, dass die Voraussetzung der neutesta-
mentlichen Ethik den Sinn nicht länger ebenso beherrscht.
Denn dass man in aller Unbestimmtheit noch von dem
jüngsten Tage redet, will in dieser Beziehung nicht viel
sagen; wie man sich ja vorläufig auch recht gemütlich
einzurichten weiss.
Es hat mich in hohem Grade interessiert, zu sehen,
wie Kierkegaard diesen Punkt einmal berührt. Er sagt
in einer Notiz aus dem Jahre 1849:
„Die ganze Schwierigkeit, dass Christi Wiederkunft
als nahe bevorstehend vorausgesagt wird und doch noch
nicht eingetreten ist, wird dadurch erledigt, dass man
auf die subjektive Wahrheit des Wiederkunftglaubens
aufmerksam macht. Und in diesem Sinne muss nicht
nur Christus seine baldige Wiederkunft behaupten und
11*
164
Schlass.
darauf, wie es ja faktisch auch der Fall ist, die Apostel,
sondern so muss sie jeder wahre Christ aussagen. Das
heisst: der wahre Clirist zu sein ist mit solchen Qualen
verbunden, dass es nicht zum Aushalten wäre, wenn
man nicht beständig Christi Wiederkunft als unmittelbar
bevorstehend erwarten würde. Die Qual, das Leiden
erzeugt eine notwendige Illusion .... Man ist
kein wahrer Christ, wenn man sich nicht in der Pein
und Qual befindet, die sich für den wahren Christen in.
dieser Welt gehört; und ist man in der Pein und
Qual, so ist diese Illusion eine Notwendigkeit.'' (1849,
S. 247.)
Diese Erklärung ist dem ganzen Standpunkt Kier-
kegaards durchaus entsprechend und ist zugleich die
einzige, wobei sich die Voraussetzung der neutestament-
lichen Ethik aufrecht erhalten lässt. Wer weiss, ob es-
nicht solche giebt, die das wirklich thun? Giebt es
solche, so haben sie — was Kierkegaard nicht hervor-
gehoben hat — einen Widerspruch weiter zu tragen:
den Widerspruch zwischen dem vorhergesagten nahen
Abschluss und der Jahrhunderte langen Geschichte nebst
allem dem, was sie gebracht hat. Dies ist eine Ver-
schärfung des Paradoxes, die Kierkegaard, wenn er
darauf aufmerksam geworden wäre, mit Nachdruck und
Kraft hätte entwickeln können. — Ich glaube aber, er
stellt die Sache gerade auf den Kopf. Nicht die Span-
nung hat ursprünglich die Erwartung hervorgerufen,
nein, die Verheissung hat die Spannung erzeugt. Die
Nähe fldes Reiches'' gehört mit zur ursprüng-
lichen christlichen Verkündigung und liegt im
Neuen Testament der Würdigung aller Lebens-
verhältnisse und Aufgaben zu Grunde. In Ver-
bindung damit ist Kierkegaards Auffassung des ursprüng-
lichen Christentums nach einer wesentlichen Seite hin
zu berichtigen. Das Christentum war nicht, wie er
sagt, ein Trauermarsch. (Augenbl. No. 5.) Es war ein
Schloss. 165
Siegesmär sch. Die Freude und der Jubel ob der nah.
bevorstehenden Herrlichkeit hat das Gefühl des Leidens
weit überwogen. Das ursprüngliche Christentum war
nicht so schwindsüchtig, wie es in Kierkegaards Dar-
stellung oft erscheint.*) Es lebte in grossartigen Bil-
dern, in grossen und lebhaften Erwartungen, und schöpfte
daraus Kraft und Mut für die Opfer und Anstrengungen,
die späterhin, als sie unter ganz andern Voraussetzungen
nachgeahmt werden sollten, den Charakter spiritualisti-
scher Askese annahmen. Das ursprüngliche Christentum
ist durchaus nicht spiritualistisch. Die Zeit des Spiri-
tualismus kam erst, als die Erwartung erstorben oder
doch verblasst war.
Wer auf die hier von mir geltend gemachte Auf-
fassung eingehen kann, mag in dem Satze, das neu-
testamentliche Christentum sei nicht da, mit Kierkegaard
wohl einverstanden sein; er wird sich davon jedoch
eine andere Erklärung geben als er. Er wird sehen,
dass die veränderte Stellung zum Christentum einfach
von der Thatsache herrührt, dass eine lange geschicht-
liche Entwicklung stattgefunden hat. Nimmt man nun
nicht an, dass die Ideale des Menschengeschlechts die-
sem ein- für allemal vorgeschrieben werden können (was
*) Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass Kierkegaard
keine nähere Bestimmung geben will, was „die Seligkeit", das
„absolute Endziel" eigentlich sei. Jede Beschreibung des Zieles
mass in seinen Augen die Aufmerksamkeit von dem Wege abziehen
— und „der Weg ist das Entscheidende, sonst haben wir Aesthetik.*
Ueber die ewige Seligkeit will er daher nichts weiter sagen, als sie
sei das Gute, das man erreicht, indem man alles wagt („Nachschrift"
S. 397f.) Das Neue Testament hat dieses Bedenken nicht. Die begei-
sterte Erwartung der Herrlichkeit und Vollkommenheit des Zieles ist
hier gerade auch die Bedingung dafür, dass man auf dem Wege
vorwärts kommt. Vgl. besonders die Offenbarung Johannis, die ii»
ihrer eingehenden Schilderung des „Zieles" nur dem Grade nach,
nicht der Art nach sich von dem unterscheidet, was in den andera
neutestamentlichen Schriften als Voraussetzung zu Grunde liegt.
166
anzunehmen besonders unmöglich ist, wenn so entschei-
dende Voraussetzungen, wie die vorhin genannte, sich
vollständig ändern können), so gelangt man zu der
Überzeugung, nicht, dass die Zeit des Christenturas
<dahin ist (denn das wird gewissermassen nie der Fall
sein), sondern dass die Bedeutung des Christenturas
gleich der jeder grossen geistigen Bewegung darin be-
steht, dass es unter gewissen historischen Bedingungen
•Gefühle und Ideen erweckt hat, die zwar, wenn die
Verhältnisse sich ändern, sich nicht unverändert zu
-erhalten vermögen, die aber doch der idealen Welt,
deren die Menschheit nie entbehren kann, als wesent-
liche Bestandteile einverleibt werden können. Das
Christentum hat die Ideale der Liebe, der Innerlichkeit
und Reinheit mit einer Kraft des Gefühls geltend
gemacht, wie das nie vorgekommen ist, weder vorher
noch seither. Es hat das Gefühl für die Leidenden und
Schwachen, wenn auch nicht erst erweckt, so doch ge-
schärft und die Ungültigkeit der äussern Unterschiede
gegenüber dem gemeinsam Menschlichen (obwohl hierin
der konfessionelle Unterschied frülizeitig ein Hindernis
wurde) geltend gemacht. Diese Elemente nimmt das
Geschlecht auf seinen ferneren Weg mit. Ein edler
Lebenstypus geht nicht verloren, wenn auch die Beding-
ungen für seine volle Verwirklichung wi^gfallen mögen.
Er lebt weiter als Element in dem fortschreitenden
Leben, das stets neue Bildungen sucht.
Die humane Lebensanschauung steht dem Christen-
tum gegenüber, wie sie der griechischen Welt gegen-
über steht. Wir können die griechische Männlichkeit,
Gedankenklarheit und Harmonie so wenig entbehren als
die Liebe und Innerlichkeit, die im Cliristentum das
Grösste war und das Bleibende sein wird. Diese Ideale
und Eigenschaften haben sich unter bestimmten ge-
schichtlichen Bedingungen aus dem menschlichen Geiste
entwickelt; und derselbe Menschengeist nimmt sie auf
Schlnss. 167
seiner ferneren "Wanderung mit sich, um sie, sofern sie
von ihren ursprünglichen Voraussetzungen losgelöst
werden können, mit den neuen Eigenschaften und Vor-
bildern zusammenzuarbeiten, die durch die neuen Lebens-
bedingungen notwendig werden. Wir nehmen das Gute,
wo wir es finden können.*)
3. Diese fortgehende Entwicklung des Lebens, sowie
seine Berechtigung und Fähigkeit, unter den neuen
Verhältnissen neue Ideale zu bilden, bestritt Kierkegaard
aufs bestimmteste. Er hatte einen ganzen Vorrat von
spöttischen Wendungen zur Verfügung gegenüber einer
derartigen Betrachtungsweise, die, wie er meinte, ihre
Überzeugung vom Höchsten nur „den Forderungen der
Zeit, des Publikums und des Eigennutzes anpasste^ ;
niemand vermag so wie er zu karikieren, was er ver-
wirft oder — nicht versteht. Und doch herrscht in
seiner Auffassung ein offenbarer innerer Widerspruch,
der eng damit zusammenhängt, dass er der Subjektivität
der Persönlichkeit das Wort redet und zugleich eine,
Grundlage fixer Dogmen als absolute Bedingung des
Geisteslebens festhält.
In seiner Erkenntnislehre macht Kierkegaard
geltend, dass das Dasein sich von der Erkenntnis nicht
erschöpfen oder umspannen lässt, dass vielmehr stets
neue Arbeit zu thun ist — dass in der Welt des Den-
kens stets aufs neue gewagt werden muss. Und in
seiner Auffassung des religiösen Glaubens ist eine
Hauptsache, dass das Entscheidende die Gleichzeitigkeit
mit dem kämpfenden und leidenden Ideal ist. Er be-
zeichnete es in seinen letzten Tagen als seines Lebens
Gedanken: „Was du in Gleichzeitigkeit thust, ist das
Entscheidende." (Augenblick, No. 8.) Und früher hatte
er eingeschärft, dass weltgeschichtliche Gestalten sich
*) lieber die griechischen und christlichen Elemente in der
humanen Ethik vgl. meine Ethik S. 117 — 119, und über die ethische
Bedeutung des Christentums überhaupt Kap. 32 und 34.
168
Schlass.
nicht zu Idealen eignen, da sie eine Abgeschlossenheit
haben, wodurch die Betrachtung in Sicherheit gewiegt
werde: ,.die Idealität kann man nicht historisch auf
Flaschen ziehen.« („Stadien", S.349.448 [318. 412].) Macht
man damit Ernst, so wird jede dogmatische Religion
unmöglich. Denn im Dogma liegt gerade der Abschluss :
das Dogma ist eine endgültige Erklärung über die Be-
deutung einer historischen Person oder Begebenheit, die
definitive Konstatierung eines gewonnenen Resultats. Jede
positive oder dogmatische Religion giebt in Wirklich-
keit die Idealität historisch auf Flaschen gezogen —
und daher bedurfte es der ungeheuren geistigen An-
strengung und grossartigen Darstellungskunst eines
Sören Kierkegaard, um die grosse Bedeutung einer per-
sönlichen Versetzung in die Gleichzeitigkeit wieder ans
Licht zu ziehen. Aller Unterricht in dogmatischer
Religion ist ein Unterricht in Facitlisten; die Rechnung
ist abgeschlossen, und es ist in hohem Grade schwierig,
so nachzurechnen, dass man sein Wissen vom Resultat
nicht benutzt. Schlechte Romanleser schauen gern im
Buche hinten nach, wie es endlich geht — man bringt
sich aber damit um die Spannung, die der Stimmung
während des Lesens allein eine Ähnlichkeit mit der
Stimmung während des Erlebens giebt. — Kierkegaard
sah zuletzt selbst, dass die Dogmen das Unheil ange-
richtet hatten; mit ihrer Hilfe hatte man das Vorbild
beiseite geschoben. (Augenblick No. 5.)
Im Ernst gleichzeitig kann man nur mit dem sein,
was nicht abgeschlossen ist und dessen Resultat nicht
garantiert vorliegt. Und das ist nur bei dem wirklichen
Menschenleben selbst der Fall mit seinen Zielen und Auf-
gaben, seinem Kampf, seiner Lust und seinem Schmerz.
Kierkegaards Lehre vom Paradox enthält die grosse
Wahrheit, die auch — oder: die gerade — die humane
Lebensanschauung sich ganz zu nutze macht: dass das
Grosse und Bedeutungsvolle sich so oft inmitten geringer
ächlass. 169
und imsclicinbarer Umgebung entwickelt. Seine Keime
sind oft schwer zu entdecken und werden leicht miss-
verstanden. Da bedarf es denn eines offenen Auges
und eines starken Glaubens an den Wert von etwas,
das vielleicht langsam and erst spät sich zur Anerken-
nung durchringen kann. Das Urteil über uns beruht
besonders auf unserem persönlichen Verhalten zu den
idealen Kräften, die noch in der Hülle lagen oder dafür
kämpften, sich in unserer Zeit entfalten zu können.
Eine dogmatische Richtschnur giebt es nicht; das Ideal
kann nicht ein- für allemal gebildet werden; es muss
sich neu formen, neue Gestalten annehmen, und stellt
dann unter jeder dieser Gestalten seine Forderung an uns.^
' So etwa mag Kierkegaards Lehre vom Paradox
und von der ])ersönlichen Gleichzeitigkeit zurechtgelegt
werden, wenn sie bleibende und allgemeine Bedeutung
haben soll. So scharf er als Denker und Ethiker gegen
die schädlichen Wirkungen der Dogmen auftrat, so
brach er doch mit ihnen nicht; er goss seinen edlen
Wein in die alten Schläuche.*) Soll der Wein erhalten
bleiben, so muss er in neue Schläuche kommen.
Es wäre müssig, wollte man darüber sich den Kopf
zerbrechen, welche Stellung Sören Kierkegaard bei
längerem Leben wohl eingenommen haben würde. Seine
Sympathie mit dem Katholizismus einerseits, seine An-
erkennung für die Auffassung des Christentums bei
freien Forschern wie Feuerbach andererseits lässt ent-
gegengesetzte Möglichkeiten offen. Und eine neue Mög-
lichkeit kommt hinzu, wenn wir an eine Entwicklung
wie die Leo Tolstois denken, der verschiedene Berüh-
rungspunkte mit Kierkegaard darbietet. Man könnte
*) Vrgl. hierüber die Abhandlung von Chr. Schrempf:
Kierkegaards Stellung zu Bibel u. Dogma (Zeitschrift für
Theologie u. Kirche, I, 1891, S. 179—229), welche leider erst nach
Erscheinen meines Buches (das im Jahre 1891 ausgearbeitet wurde)
in meine Hände kam. (Note zur deutschen Ausgabe.)
170 Schluss.
denken, er wäre in der Nachfolge ,,des Vorbildes" dabei
geblieben, als der Einzelne zu wirken, aber mit stei-
gender Geringschätzung ,,der Dogmen." — Doch wer
kann die Möglichkeiten für den weiteren Gang eines
grossen Geistes, zumal eines solchen, für den ,,der
Sprung" ein Lieblingsgedanke war, alle aufzählen? —
Und ebenso schwer sind die Möglichkeiten für seinen
Einfluss zu berechnen. Hauptsächlich hat er als Strom-
teiler gewirkt, hat unklare Vermengungen zur Scheidung
getrieben, in der geistigen Welt Klärung geschafft.
Einige hat er zu tieferer Versenkung ins Christentum
(wie sie es auffassen) getrieben, andere hat er durch
das Prinzip der persönlichen Wahrheit über dasselbe
hinausgeführt. Auch auf indirekte Wirkungen und
Folgerungen seiner Gedanken stossen wir bei uns im
Norden allenthalben in den wichtigsten geistigen Be-
wegungen der letzten Generation.
Berichtigungen und Zusätze.
S. 17, letzte Zeile v. u. (im Text) lies statt „oft": „bald".
S. 19, Zeile 10 v. u. lies statt „Philosophen": „Theosophen".
Zu S. 28, Zeile 5 und 6: die zitierten Ausdrucke finden sich in einem
Jugendgedicht von Paul Möller: „Freude über Dänemark",
worin er auf einer Seereise nach Ostindien seine Sehn-
sucht nach dem Vaterland ausgedrückt hatte.
Zu S. 38, Z. 11 V. u.: „odium professionis" ist doch richtiger durch
„Hass gegen das Klostergel&bde" zu übersetzen.
.^5^!e:=$^-
Fr. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttg^art.
Baiiniauu, Julius, Die Grundlriigc der Relig^ion. Versuch einer
auf den realen Wissenschaften ruhenden Gotteslehre. 1895. 72 S. 8".
Brosch. M. 1.20.
Inhalt: 1. Religion im Allgemeinen. 2. Ist Religion subjektiv oder objektivV
3. Die christliche Religion in Harnacks Dogmengeschichte. 4. Versneh einer auf den
realen Wissenschaften ruhenden, also objektiven Gotteslehre.
Bauuianu, Julius, Christus. Etwa 90 S. 8«. (Herbst 1896.)
Diez, Max, Theorie des Gefühls zur Begründung der Aesthetik.
1892. 172 S. gr. 8". Brosch. M. 2.70.
Kxsul, Psychische Kraftübertragung. 189(3. 23 S. 8».
Brosch. M. —.50.
Froniniann, Hermann, Arthur Schopenhauer. 3 Vorlesungen.
9G S. 8'\ Brosch. M. 1.80.
1. Schopenhauers Jugend. 2. Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. Schopen-
hauers Kinsiedlerleben.
Schlegel, Emil, Das Bewusstsein. G-rundzüge naturwissenschaftlicher
und philosophischer Deutung. Mit Geleitsworten von Prof. Th. Mey-
nert in Wien. 1891. 128 S. 8". Brosch. M. 2.—.
Kierkegaard, S., Angriff auf die Christenheit. Uebersetzt von
A. Dorner und Chr. Schrempf. 1895. XXIV und 632 S. 8».
In 2 Teile brosch. M. 8.50.
I. Kierkegaards letzte Schriften (1851—55) entlialtend. Inhalt: I. Ueber
meine Wirksamkeit als Schriftsteller. II. Zur Selbstprüfung der Gegenwart an-
befohlen. III. S. Kierkegaards letzte Aufsätze in Zeitungen und Flugschriften. —
A. Artikel im Vaterland. — B. Dies soll gesagt werden — so sei es denn gesagt. — ■
C. Der Augenblick.
II. Anliang. Inhalt: I. Eine erste und letzte Erklärung. II. Aus Anlass
einer mich betrefltenden Aeusserung Dr. A. G. Rndelbachs. III. Der Gesichtspunkt
für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. IV. Richtet selbst. V. Der Augenblick.
VI. Gottes UnVeränderlichkeit.
Daraus Sonderdruck:
Richtet selbst. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. Zweite
Reihe. 1895. 112 S. 8°. M. 1.50.
Kierkegaard, S., Lehen und Walten der Liehe. Uebersetzt von
A. Dorner. 1890. XV, 278 und 241 S. 8".
Brosch, ]\L 5, — ; geb. M. 6.—.
Finckh, Martin, Kritik und Christentum. 1893. 234 S. 8».
Brosch. M. 2.50.
Graue, Paul, Deutsch-evangelisch. 1894. 96 S. 8°. Brosch. M. 1.50.
Inhalt: I. Einführung. II. Der Inhalt des Glaubens an Jesus Christus.
III. Glaube und Rationalismus. IV. Unsere wahre Autorität. V. Deutschtum.
VI. Konfession, Partei, Gemeinde.
Graue, Paul, Die freie christliche Persönlichkeit. In „Die
Wahrheit" 1896, 1. u. 2. Juniheft. M. —.80.
Schriften von Christoph Schrempf:
Drei Religiöse Reden. 1893. 76 S. 8*». Zweite und dritte Auflage.
Brosch. M. 1.20.
Inhalt: I. Unser .jUnglaube". II. Ueber Religion. III. Ueber religiöse Ge-
meinschaft und die gegenwärtige evang. Landeskirche Württembergs.
Natürliches Christentum. Vier neue religiöse Reden. 1893. 112 S. 8».
Brosch. M. 1.50.
Inhalt: I. Von Gott. II. Von Jesus Christus. III. Von dem heiligen Geist.
IV. Wie man das IJekenntnis verteidigt.
Fr. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttgart.
T
Uelier die A^erkündiguiig- des Evaiigeliums an die neue Zeit.
1893. 40 S. 8« 1. u. 2. Aufl. Brosch. M. —.60.
In der christlichen Welt 1893, Nr. 7, nennt Professor W. Herr mann die
„Pfarrersfrage" „eine kraftvolle Streitschrift" und schreibt über die „Religiösen
Reden" ; Die beiden ersten aber beweisen, dass er eine unvergleiehliche Gabe hat,
zu den Gebildeten unserer Zeit von dem Höchsten zu reden. Eines der grössten
Hindernisse der christlichen Verkündigung ist hier gründlich abgethan. Was dem
Menschen dazu dienen soll, ihn zu Gott zu führen, wird hier wirklich als Mittel
dazu verwertet und nicht als Mittel dagegen.
Obige 3 Schriften von Schrempf zusammengebunden in
einem Ganzleinwandband M. 3.30.
Zur Pfarrersfrage. 1893. 52 S. 8». Brosch. M. —.80.
An die Studenten der Theologie zu Tübingen. Noch ein Wort
zur Pfarrersfrage. 1893. 30 S. 8". 1. u. 2. Aufl. Brosch. M. —. 50.
Eine Nottaufe. 1894. 56 S. 8°. Brosch. M. —.75.
Toleranz. Rede geh. i. d. Berl. Gesellschaft f. Eth. Kultur. 1895. 32 S. 8».
Geh. M. —.50.
Zur kirchlichen Lage. Rede geh. 2. Februar 1896. 18 S. 8«. M. — .30.
Weizsäcker, Carl, Ferd. Chr. Baur. Rede geh. 21. Juni 1892.
1892, 22 S. 8". Brosch. M. —.40.
Frommann, F. J., Das Frommannsche Haus und seine Freunde.
Dritte durch einen Lebensabriss F. J. Frommanns vermehrte Ausgabe.
1889. 191 S. 8". Brosch. :\I. 3.—.
Weithrecht, C, Diesseits von Weimar. Auch ein Buch über
GrOethe. 1895. 313 S. 8". Brosch. M. 3.60, eleg. geb. M. 4.50.
N. Zürcher Zeitung: Frisch von der Leber weg stellt der Verfasser im
Gegensatz zu einem verhimmelnden Goethekultns, der jeden Wisch und Waschzettel,
auf den der Dichter einmal eine Notiz geschrieben, zu einem tiefsinnigen Litteratnr-
Dokument aufbauscht, Goethe so dar, wie er sich ihm spiegelt, wie er ihn mit seinen
Sympathien erfasst hat. . . . Bin verständnisinniger Dichter schreibt über den
Dichter aus der ganzen Fülle eines für den jungen Goethe begeistt-rten Herzens, so
dass man selber in eine unmittelbare, ans der Darstellung fliessende Bewunderung
für das Goethesche Leben, für seine erste Dichterzeit gerät.
Diez, Max, Julius Klaiber. Ein Lebensbild. IVIit 4 Bildern. 1893.
40 S. 8". Brosch. M. —.60.
V. Westenholz, Fr., Ueber Byrons historische Dramen. Ein
Beitrag zu ihrer ästhetischen Würdigung. 1890. 64 S. 8".
Brosch. M. 1.20.
— „— Die Tragik in Shakspeares Coriolan. Eine Studie. 189,5.
32 S. 8". Brosch. M. —.50.
Sarrazin, Joseph, Das moderne Drama der Franzosen in seinen
Hauptvertretern. ]\Iit zahlreichen Textproben aus hervorragenden
Werken von Äugier, Dumas, Sardou und Pailleron. 2. Aufl. 1893.
325 S. 8«. Brosch. M. 2.—, geb. M. 8.—.
Saul, D., Schiller im Dichtermund. 1896. 72 S. 8«.
Brosch. M. 1.-.
Ludwig, Hermann, Strassburg vor liundert Jaliren. Ein Bei-
trag zur Kulturgeschichte. 1888. XII u. 348 S. 8". Brosch. M. 5.—.
Stüve, J. C. B., Geschichte des Hochstifts Osnabrück bis zum
Jahre 1508. 480 S. 8". Brosch. M. 7.—.
_^_ — „— II. Bd. 1508—1623, nebst einem Lebensabriss Stüves.
1296 S. 8**. Brosch. M. 12.—.
_,— — „— III. Bd. bis 1648. 356 S. 8«. Brosch. M. 4.—.
Fp. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttgart.
Die Wahrheit.
Halbmonatschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben
des Menschenlebens.
Herausgeber: Christoph Schrempf.
Erseheint seit Oktober 1893. Vierteljährlich M. 1.80.
Allgem. Ztg.: Die von dem bekannten Lic. Chr. Sclirempf herausgegebene
„Wahrheit" verfolgt in jugendlicher Frische und rastloser Energie die Aufgabe, für
eine grössere Wahrliaftigkeit und Innerlichkeit in unsern religiösen, moralischen, sozialen
Verhältnissen zu wirken. Eine solche Aufgabe ist schwierig genug. Einmal kann leicht
bei der Behandlung solcher inneren Fragen zu viel Reflexion aufkommen und auch der
Ton ein zu lehrhaftes oder vielmehr pastorales Gepräge annehmen, andrerseits drängt
die Notwendigkeit der Kritik und des Kampfes leicht mehr das Negative als das Positive
der eigenen Behauptung in den Vordergrund. Aber den Kampf gegen solche Gefahren
sehen wir mit Nachdruck und Geschick aufgenommen und finden überhaupt das Unter-
nehmen in erfreulichem Fortschreiten. Die Arbeit tritt unverkennbar in ein immer
engeres Verhältnis zu den Bewegungen der Zeit und gewinnt damit an Anschaulichkeit
und Eindringlichkeit Auch der Kreis der Mitarbeiter ist sichtlich im "Wachsen begriffen.
So entwickelt sich das Unternehmen mehr und mehr zu einem Sammelpunkt idealer
Bestrebungen in der angegebenen Richtung. Wer immer daher für diese Bestrebungen
Sympathie hat und von der Notwendigkeit einer Vertiefung des modernen Lebens über-
zeugt ist, der sollte sieh verpflichtet fühlen, der „Wahrheit" ein thätiges Interesse
zuzuwenden. (Professor Dr. Eucken in Jena.)
Aus dem Inhaltsverzeichnis:
Die Kulturbedeutung der Gegenwart. Von Prof. Dr. Ä. Riehl.
Friedrich Nietzsche. Von demselben.
Religion und Transcendenz. Von Prof. Dr. Paul Natorp.
Mein Skepticismus. Von Chr. Schrempf.
Autorität. Von demselben.
Die religiöse Aufgabe der Gegenwart. Von demselben,
Tolstoi als Profet. Von demselben.
Schleiernlachers sittlicher Genius. Von Oberlehrer A. Heubaum.
Das Sittlichkeitsideal der Reformationszeit. Von demselben.
Richard Wagner als Erzieher. Von Lic. Paul Schubring.
Der Individualismus Goethe's. Von Dr. Fr. Brass.
Ein Dichter der Sehnsucht. Von Carl Busse.
Künstlerin und Kunstrichter. Von Dr. Rud. Krauss.
Die Naturalisten und Gerhart Hauptmann. Von S. Binder.
Wie Familienjournale gemacht werden. Von Korrektor.
Heimlichkeit im öffentlichen Leben. Von Gustav Pfizer.
Worauf es bei uns dem Volke gegenüber gerade ankäme.
Von Prof. Dr. J. Baumann.
Die Monarchie und die Parteien. Ein Vorwort zu künftigen Um-
sturzvorlagen. Von Prof. Dr. Friedrich Paulsen.
Nationalgefühl. Von Prof. Dr. F. Tönnies.
Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur.
Von Prof. Dr. Max Weber.
Religion und Wirtschaftsordnung. Nach einem Vortrage von
Friedrich Naumann.
Zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus. Von Friedrich
Naumann.
Moderne Heimatlosigkeit. Von Dr. H. Losch.
Der gegenwärtige Stand der christlich-sozialen Bewegung.
Von Prof. Dr. A. Titius.
Die Reform der sozialen Versicherung. Von E. Lautenschlager,
Der unlautere Wettbewerb. Von Prof. Dr. K. Th. Eheberg.
Soziale Pädagogik. Von Prof. Dr. T7i. Ziegler.
Die soziale Reform eine Kulturfrage. Von Prof Dr. H. Herkner.
Ö^~ Preis für Band I— IV brosch. ä M. 3.20, geb. ä M. 3.75,
für Band V u. ff. brosch. ä M. 3.60, geb. ä M. 4.15.
Fr. Frommanns Verlag* (E. Hauff) in Stuttgart.
Frommanns Ulassiker der Philosophie
herausgegeben von
Richard Falckenberg*
Dr. u. o. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen.
Plan und Mitarbeiter des Unternehmens.
Die reiche philosophiegeschichtliche Arbeit Deutschlands hat mit
Glück die verschiedensten Formen der Darstellung angewendet. Weder an
umfangreichen und eingehenden Gresamtdarstellungen fehlt es, noch an
■ knappen Uebersichten, und neben der Geschichte der einzelnen Fächer hat
die der Begriffe uud Probleme kundige Bearbeiter gefunden. Nur die
monographische Behandlung bedeutender Philosophen, zumal in populär-
wissenschaftlicher Haltung, ist bei uns nicht in dem Umfange gepflegt
worden, wie es im Auslande mit Erfolg geschehen ist und wie es ihrem
Werte entsprechen würde. Denn gerade sie ist besonders geeignet, sowohl
die Teilnahme weiterer Kreise für die grossen Denker zu gewinnen, als
auch den Lernenden in die Gedankengänge der Meister philosophischer
Forschung einzuführen. Diese Lücke auszufüllen setzt sich die hiermit
angekündigte Sammlung zum Ziel. Sie soll den Gebildeten und den
Studierenden die hervorragendsten Denker — zunächst der Xenzeit,
später auch des Altertums und des Mittelalters — ■ in ihren Lebens- und
Weltanschauungen in gründlichen und lesbaren Einzeldarstellungen aus
der Feder der für die jeweilige Aufgabe geeignetsten Kräfte vorführen.
Mit Genugthuung erfüllt uns die sympathische Aufnahme, welcher
unser Plan in dem Kreise der Gelehrten begegnete, denen wir ihn vorlegten
und die das Unternehmen einstimmig als ein sehr nützliches Werkzeug
philosophischer Studien begrüssten; mit Dankbarkeit die Bereitwilligkeit, mit
welcher namhafte Forscher der Einladung zur Mitarbeit Folge geleistet haben.
Erschienen sind:
G. Tli. Fechner. Von Prof. Dr. K. Lasswitz in Gotha. 214 S. 8».
Brosch. M. 1.75. Gebd. M. 2.25.
Hobbes. Von Prof. Dr. Ferd. Tönnies in Kiel. 246 S. 8°.
Brosch. M. 2.—. Gebd. M. 2.50.
Kierkegaard. Von Prof. Dr. H. Höffding in Kopenhagen. 186 S. 8".
Brosch. M. 1.50. Gebd. M. 2.—.
Daran werden sich anschliessen :
Galilei. Von Prof. Dr. Natorp in Marburg.
Spinoza. Von Prof. Dr. Freudenthal in Breslau.
Bayle. Von Prof. Dr. Kucken in Jena.
Hume. Von Prof. Dr. A. Riehl in Kiel.
Kant. Von Prof. Dr. Fr. Paulsen in Berlin.
Rousseau. Von Prof. Dr. H. Höffding in Kopenhagen.
Hegel. Von Prof, Dr. Lasson in Berlin.
Schleiermacher. Von A. Heubaum in Berlin.
Herbart. Von Prof. Dr. Siebeck in Giessen.
Lotze. Von Prof. Dr. Falckenberg in Erlangen.
Feuerbach. Von Prof. Dr. Jodl in Wien.
A. Comte. Von Prof. Dr. Windelband in Strassburg.
D. F. Strauss. Von Prof. Dr. Th. Ziegler in Strassburg.
Herbert Spencer. Von Dr. Otto Gaupp in London.
Fr. Nietzsche. Von Prof. Dr. Volkelt in Leipzig.
Locke, Lessing, Herder als Philosoph, Fichte, Schopenhauer,
F. A. Lange, Helniholtz u. a. werden gleichfalls später erscheinen.
Es sollen jährlich 3 — 4 Bände ausgegeben werden.
^^^^^^^^^^^^^^^^^s^Ss^B^S^S^
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B
H7
H/ffding, Harald
Sören Kierkegaard als
Philosoph