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Stadts-L exikon
oder
Encyklobpad
der
Staatswiſſenſchaften
in Verbindung mit vielen ber angefeh:
Publiciſten Deutſchlands
herausgegeben
von
Carl von Rotteck md Carl Welcke
—
Neunter Band.
Altona,
Verlag von Johann Friedrich Hammerich.
1840.
E’TMIE
D j ,
... Dee Ser on "ı 5
⸗ mi. . .
f ı “ .
TS üfemitieu; das falſche keamöfkfäe und das wahre
Spftem der rihtigen Mitee, und bie Kolgen jenes ram
zöfifhen Syſtems für Beni ans —— — >.
1. Einleitung. — Was kann ‚ empfehlene
werther fein, als eine erbte itte rien der euere und Be
handlung der menfchlihen Dinge! en dieſelhen doch buch Er
feitigteit und Leidenſchaft nur zu häufig auf unfruchtbare oder verderb⸗
liche Weife von einem Aeußerſten zu dem —8 binäber. gezogen Ai
darf es doch uͤberall zwiſchen —* zwiſchen entgrgengeſetzten Gruube
fügen und Parteien, z. B. zwiſchen Idealiſten und Emplelkern, zieh
ſchen Radicalen und Conſervativen, einer gerechten, verſöhnenden,
maͤßigenden Mitte oder Vermittelung! Biete aber zeigt
fich unter dem ſchoͤnen Names ber rechten Mitte oder Maͤßigung 'ge
rade das Begentheil wahrer Gerechtigfeit und Berföhnung, und flat
ihrer vielmehr nur Verlegung beiber- entgegengefeßter. Gumbfäge oder
Parteien, nur Peinciplofigkeit, Willkuͤr, Mittehmäfigkeitl Was hat
namentlich wohl im In⸗ und Auslayde und feihft bei — weichen
die naͤchſten Folgen davon angenehm waren, mehe motralifche ——
ſchaͤzung hervorgerufen, als das politiſche Syſtem, welches in ni
Tagen bei unſeren weſtlichen Nachbarn mit dem ſchoͤnen Nomen’ de
gerechten Mitte fih-fhmüdktel
Der Begriff ſcheint alfo nicht vben fo leicht zu ſein, als er wich:
tig und intereffänt ifl. Wird man etwa das. für.sine richtige Mitte
und gerechte Permittelung halten, wenn,. hei: beu:enigegenflehen: -
den Forderungen: hier dee Gistlichkeit im Mecht, dort Der Beachtauug
der finnlichen Bedürfniffe und dee Zveiheit, nun ein angeblichen SARs
milieu hier rein fittliche Handlungen gebieten: will, : durd :dem Mate:
rialismus und felbfifüchtiger Winfite huldigt? Oder finden IE fid dar‘
wo, bei den Forderungen: bier des: Freiheit. und. Volksfonussänetät;, Dirt
der Drbnung und fürftliden Meıgierungsfouveränetäl,,; nun dev angebffi
Freund ber Mitte. zwiſchen beiden hin und ber ſchwankt7 hler
dot jene opfer, ——
oezfolgt und Gegenſatze zu unterwerfen. fuche 2: Be er die't
Mitte rhdfshtäg der Dpefferibeit mwa bach, daß Rn: jum
ſchrankenioſe nn waruche ABA bee vi vn a We
4 Juͤſtemilieu.
despotiſche Unterdrüdung der Wahrheit durch Verbot und Cenſur ge⸗
ſtattet? Beſteht fie in halber Wahrheit und halber Lüge, und darin,
dag man, ohne Muth für die ganze Wahrheit und Gerechtigkeit, ein
Bishen Gutes und ein Bischen Böfes thut? Iſt endlich das die rechte
BVermittelung und Verföhnung der Streitenden, daß man willkuͤrlich
einem Jeden fein Recht halb abſchneidet, und. fie folchergeftalt als
gleich, behandelt, aͤußerlich neben einander ftellt, wohl gar Beide für eige-
nen Vortheil ausbeutet, jebenfalls Beide verlegt und empört, Keinen
befriedigt?
Wo aber finden fich die rechten Grundfäge für die mahre Mitte,
ihre Unterfchiede von der falfhen?
Die geiftreichften Vertheidiger des franzöfifhen Süftemilieu, fo
bas Journal des Debats, flellten uns als die Grundlage dieſes
Spitems „die Mitte” des Ariftoteles bar. Mir zmeifeln, daß der
alte Weife zu ſolchem Kinde ſich als Water befennen werde. Aber viel:
leicht leitete man uns folchergeftalt dody auf einen guten Weg zur Loͤ—
fung unferer Fragen.
U. Die wahre gerechte Mitte. — Die ältefle und befte
Grundlage für die wahre gerechte Mitte enthalten in der That die Phi:
loſophie und Staatötheorie bes Ariftoteles und der Stoiker. Fre
tich wird Mancher fagen, das Gerechte ift die einzige vechte Mitte.
Aber man kann doch dann wieder fragen: ja, was ift das Gerechte?
Und wie verhält es fich zundchft bei politifchen Sragen? Es gibt ja doch
eine uralte Art dee Auffaffung bes Richtigen als eines Mittleren.
Hierfür nun findet ſich in jenen Theorieen die rechte Grundlage, der
Schu gegen jene Willkür. Nur durch das Verftändnig der rechten
Mitte laflen fih die falfhen Wermittelungen der Ertreme
und das falfhe Füftemilieu richtig würdigen und befämpfen. Ari—
ſtoteles fuchte bekanntlich die Tugend überhaupt, vorzuͤglich aber bie
Gerechtigkeit und die Staatsweisheit ausbrüdlic als „eine Mitte”, als
„ein Mittleres” zu entwideln. Auch die Stoiker und mit ihnen
die berühmten römifchen Suriften kommen, meil fie bier im Weſent⸗
lichen von einer gleichen philofophifchen Grundlage ausgingen, in ihren
Theoriten ganz zu demfelben Refultate.
Diefe Grundlage nun mar keine andere, als die oben (Bd. I. ©. 9)
entwidelte. Sie befteht in der richtigen Auffaffung der allgemei-
nen Naturfeite ober der allgemeinen naturgefeglihen Srunb-
verhältniffe und Grundformen für alles Leben und feine Theo:
tie, ſowohl für die des einzelnen Menfchen, wie für bie des lebendigen
Menfhenvereins oder des Staates. Hierbei nun ergab ſich, daß
jebes Leben nur befteht, indem ſich die beiden entgegengefegteften Le
benselemente, nämlich das Höhere, allgemeine, innerliche geiflige
und bie niederen befonderen dußerlihen Stoffe und Glieder oder
bie leibliche Srundform in einem dritten zum ſelbſtſtaͤndigen,
individuellen Leben harmoniſch vermitteln. Diefe drei (Geift,
Leib, Seele in dem einzelnen Menfchen) waren im lebendigen Staate:
— | Juͤſtemilien. | 5
Verfaſſung, Volkskörper und Regierung: und als die drei
Seiten feines Lebensgefeges und der Theorie deffelben: Politik, Recht
md lebendiges Staatsgefes. Das Dritte, der Mittelpunet
jedes befonderen Lebens, oder, nach dem Ausbrude der Alten, „def:
fen Regierung*)”, worin ſich ftets die beiden erften Lebenselemente
durchdringen, harmoniſch einigen und vermitteln müflen — im Staate
die zugleich verfaffungsmäßige und vollsmäßige oder conftitutionelle
Regierung — diefes ift alfo in Wahrheit ein Mittleres und zus
gleich ein Vermittelndes. Das rechte Gefeb für feine Lebensthä-
tigkeit — alfo im Staate das praftifche Iebendige (Politit und
Recht vereinigende) Staatsgefek — fordert nothwendig ftete Bes
hauptung jener rehten Mitte und für fie eine fletige, der Natur
der drei Lebenselemente und ihrem grundgefeslihen Verhaͤltniſſe
angemeffene VBermittelung der beiden erften entgegengefegten
Lebensrichtungen. Es fordert eine DVermittelung diefer beiden Elemente
unter fih, fo wie auch mit den Verhältniffen der Außenwelt, momit
jedes Leben in Wechſelwirkung fteht. Die rechte Mitte beſtimmt fich alfo
nad) der innerften Natur und den Grundverhältniffen der Dinge. Sie
ift lebendige Bermittelung; fie ift die wahre Verföhnung
und Vereinigung zweier entgegengefesten Elemente, Grunbfäge,
Parteien; fie ift die rechte lebendige Verbindung von Geift
und Form, vom Allgemeinen und Befonderen, die wahre Harmo⸗
nie und Geſundheit jedes Lebens. Im Staate ift fie die lebendige
Gerechtigkeit oder die gerecht (in Uebereinflimmung mit der Frei⸗
heit oder mit dem Mechte der Bürger) vermirklichte Staatsidee, und
die conflitutionelle oder die ftets dieſe Verfaſſungsidee mit der
Volksfreiheit vereinigende Staatsregierung. Sie ift eine jedes
einfeitige Extrem ausfchließende flete Maͤßigung.
Diefe wahre gerehte Mitte unterfcheibet ſich von der fal-
hen vorzüglich durch drei Hauptpuncte.
Die wahre Mitte ift für's Erfte ſtets grundgefeglich und
principmäßig. Sie adıtet als Heiligthum das Grundgefeg oder bie
Natur der Grundkräfte und Grundprincipien und die grundgefeglichen ins
neren und äußeren DVerhältniffe jedes Lebens; alfo im Staate die ber
Verfaffungsidee oder des DVereinigungsgefeges des lebendigen Gefammt:
zweckes, und die des organifirten Volkskoͤrpers oder der Volfsfreiheit und
endlich der beide ſtets neu vereinigenden conftitutionellen Staats:
regierung. Sie ſchwankt alfo nicht, wie die falfche Mitte, will:
türlich und peinciplos zwifchen ben entgegengefesten Kräften bin
und her, bald die eine, bald die andere begünftigend, oder unterdrü-
*) 8. oben Bb. I. S. 9 und mein Syftem Bd. I. ©. 49, Bei dem
Staate hieß es ihnen zoAırela und war ihnen bie felbftftändige, aber verfaffungss
mäßige und vollömäßige Staatsregierung, welche ſowohl dem allgemeinen
Staats geifte — der Grundidee ober bem Vereinigungss oder Berfaffungsprins
cipe , der sowesla nad Ariftoteles — wie dem Volkskoͤrper mit ein
freien Gliedern und ihren Stechte entſprechen mußte.
6 Juͤftemilieu.
ckend und verſtuͤmmelnd, ſo daß zuletzt nur Kraftloſigkeit, Tod oder Em⸗
rc Anarchie ober revolutionäre Umgeſtaltung des Lebens erfolgen
müffen.
Die wahre Mitte ift für's Zweite ſittlich und wahrhaft
gerecht, nicht materialiftifh. Sie läßt insbefondere auch dem
höheren allgemeinen geiftigen Lebensprincipe,, im Staate der höchften
Staatsidee, fein volles Recht, mithin feine angemeſſene Vorherrfchaft
über das niedere. Diefe Vorherrfchaft folge fchon aus der Beachtung
‚der geundgefeglihen Natur und des Grundverhiltniffes
der beiden Lehenskräfte, von welchen das niedere den leiblichen
Träger, bie Grundform für das höhere abgeben fol. Die fal:
[he Mitte dagegen, unbeadıtend diefes Verhältnig, mißachtet und
verlegt das Höhere, fo wie jene Grundform, und wendet fich dem
ihrer Willkuͤr und Selbſtſucht bienftbaren Niederen, Materiellen zu.
Die wahre Mitte begründet fuͤr's Dritte eine innere pofi:
tive, eine lebendige oder belebende Vermittelung und cine wahre
Berföhnungder®egenfäge. Denn fie geht, wie es zu ſolcher Verföh:
nung nöthig ift, fletS aus von einer inneren Gemeinfamfeit mit beiden,
"die fie im Innern des eignen Weſens vereinigt. Sie geht aber zugleid) -
aus von einem felbftffändigen Standpuncte und Principe diefer Vereini:
gung, fie ift die Seele oder die wahre freie Regierung des gan:
zen Lebens. Und fie bewirkt die Vereinigung unter Vorherrſchaft des
allgemeinen höheren, innerlichen Zebenselements. So bemirft fie denn
jene höhere harmoniſche Vermittelung, worin alle Lebenselemente ihre
angemeſſene Stellung und ihre harmoniſche Wirkfamkeit, Erhaltung und
Gedeihen finden. Die falfhe, principlofe und materialifti:
(he Mitte dagegen kann nur eine willkuͤrliche, außerlide,
negative oder eine durch Unterdbrüdung und Verflümme:
lung zu bewirktende, blos ſcheinbare Ausgleichung geben. Sie
huldigt nur beliebig, feheinbar und heuchleriſch, hier ber hoͤchſten Ver-
faffungsidee, dort der Volksfreiheit, in Wahrheit ſtets ihrer
Willkuͤr oder Selbſtſucht. Sie fuͤhrt alſo auch deshalb uͤberall entweder
nur zu Mittelmaͤßigkeit oder zu Unterdruͤckung, Aufloͤſung und Tod des
Ganzen.
Die wahre gerechte Mitte ſchließt nach allem Bisherigen uͤberall aus
die einſeitige, unpraktiſche, rein ideale und ſchwaͤrmeriſche Richtung blos
auf das Allgemeine, Hoͤhere, Innerliche, Geiſtige. Eben ſo aber ſchließt
ſie auch aus die alles hoͤhere Leben verleugnende und zerſtoͤrende gemeine
materialiſtiſche Richtung blos auf das Beſondere, Niedere, Aeußerliche.
Sie fordert aber uͤberall die rechte angemeſſene innerliche Verbindung
von beiden Richtungen, von der geiſtigen und leiblichen, oder von dem
höheren Inhalt und der aͤußeren Form. Sie will und achtet
in allen Berhältniffen das Höhere. Aber fie will eben fo, daß auch ſtets
die entfprechende leibliche Außere Grundform feiner irdiſchen Offenbarung
und Verwirklichung geachtet und mit ihm verbunden fei. Sie will, daß
Deide [deinbar entgegengefeste Kräfte und Richtungen in jeder neuen
TG
da
Juͤſtemilieu. 7
Erſcheinung und Bewegung des Lebens ſtets unter ſich, wie mit der Au⸗
ßenwelt vermittelt werden, ſowohl ihrer eigenen Natur, wie der Natur
und dem Grundgeſetze jedes beſonderen Lebens entſprechend.
So z. B. achten und anerkennen nach dem Obigen*) das Syſtem
der wahren Vermittelung und die Regierung, als deſſen Voll⸗
zieherin, in Beziehung auf das ganze Recht im Staate, deſſen beide Haupt⸗
elemente und Gegenſaͤtze. Sie achten und anerkennen die ſittliche
Idee der Geſellſchaft als das allgemeine höchſte Lebens princip
derſelben und aller Theile des geſellſchaftlichen Rechts. Sie anerken⸗
nen und achten aber auch den aͤußeren Volkskoͤrper, beſtehend
aus einzelnen freien Gliedern mit beſonderen verſchiedenen Anſichten
und ſinnlichen Bedürfniffen. Sie wiſſen aber beide im lebendigen Rechts⸗
ftante dadurch harmonifc zu vermitteln, daß fie, vermittelft eines nach
der fietlihen Idee frei von allen Gliedern gemollten
Rechtsvertrages, Jedem eine angemeſſene Sreiheitsfphäre anwei⸗
ſen, innerhalb welcher er in allſeitiger Harmonie mit der Geſellſchaft nach
ſeiner Ueberzeugung ſeine Beſtimmung und ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen
und unter vermittlender Leitung der Regierung auch für die Gefammt-
heit und ihre Idee mitwirken fol. In folcher Weife ſoll alfo wirklich
iedes Recht von der höheren Idee befreit fein und ihe dienen. Diefe
höhere Idee aber darf überall nur in der Äußeren angemeflenen recht⸗
lihben Grundform verwirflicht werden. Sie muß fo überall und in
jeder Erfcheinung des Lebens mit der Natur des befonderen äußeren
Volkskoͤrpers und feiner freien individuellen Glieder harmonifd) vermit-
telt werden.
Ohne foldhe wahre Vermittelung würde von den falfchen ertre⸗
men Parteien die eine die ganze reine Moralgefeßgebung, als ſolche,
und mit Vernichtung des freien Volkskoͤrpers und der Freiheit feiner Glie⸗
der diefen zum äußeren Staatsgefes aufzwingen. — Die. andere Partei
möchte ein gänzlich der Moral fremdes, ein materialiftifches, unmoralifches
auferes Zwangsgeſetz verwirklichen. Die falfche Mitte dagegen wlürbe
hier bald der einen, bald der andern falfchen extremen Anficht nachgebem,
und fomit bald die Zreiheit, bald die Moral Preis geben. Sie würde auf
unglüdfelige Weife Moral und Außeres Recht vermifchen und beide be
einträchtigen. Sie würde hier zu viel, dort zu wenig thun, niemals das
Rechte. Sie würde nie die Höhere Idee in ihrer dem Staatsleben
entfprehenden Grundform oder harmonifch vermittelt mit einem
Staatskörper freier Bürger zu Tage fördern. Ariſtoteles dachte hieran
bei feiner Mitte zwifchen Unrechtthbun und Untechtleiben.
So vermittelt die wahre Mitte, ald gerechte VBermittelung,
oder an ihrer Stelle die Regierung, welche ſelbſt zugleich von ber
- — — — —
*) ©. die vorige Rote. Beiſpiele für die richtige Mitte enthält uͤberal
die erfie Abhandlung des Staatslexikons, der Artikel,,Alterthum,“
der Artikel „Adel (Bd. J. 8.235 ff. u.ſ. w.). S. auch für die Falfche Mittel
„Buizot’” am Ende
Juͤſtemilieu.
8 .
hoͤchſten Idee ber 66 und zugleich von der Kreiheit
de Ser Päeper, ausachen und Be fein fol, dieſe —S——
See In A — ne —
welche zuteht ſtets auf dem Gegenſatz jener Grundkraͤfte zuruͤt
zen, und bei welden ſtets bie Aufere Grundform für das Slhere das
Rede if. So vereinigte. Indbefondene auch Ariftoteles jene Idee
bes — ud die t aller Bug unter
ſich — it ber. Debnung und Regierungeſouveraͤnetaͤt *). erklaͤtt
im
Süftemitieu, Freiheit blos beliebigen der
Meichen mächen will, dem Gtoat, in fo fern nicht alle Bürger an ben
felihen Befchtäffen Anteil haben, geradezu unb
— fhr Sefe Eben fo aber.
fage gegen Rouffeau’fde Willtuͤr ber Stim⸗
menm⸗ u Bilde Bid umd bie ihr und dem
m ie terung über ſich aner⸗
für een fuͤr eine will⸗
Eüclihe — ie lebendige er
0
’
5 ie nicht blos — ab folutiomus, fondern auch zu einem -
Juſtemillen. 80
iſt alſo nur baare Willkuͤr oder Schwaͤche und Seichtigkeit. Es iſt die
Nachahmung jenes alten Barbaren, ber die Menſchen bald verſtuͤmmelte,
ba ihnen die Glieder aus einander zertte, um fie in feine Betten zu le
gen. Vollends eine hier beliebig die Verfaffungsidee, dort den freien
Volkskoͤrper oder fein Recht verlegende, und doch nach beiden fih con»
flitutionell nennende Regierung — fie iſt für jeden gefunden morali⸗
[hen und politifhen Sinn ein Greuel. |
Iſt nun aber diefe wahre Mitte jene Ariflotelifche Idee von
der Sreiheit und Drbnung wohl bie Idee des neuen franzoͤſiſchen
Süftemilieu?
IN. Das neue franzöfifhe Juͤſtemilieu-Syſtem. —
Bocbemertungen über ben richtigen Standpunct der Bes
urtheilung politifher Syſteme überhaupt. — Der Würdigung
jenes Syſtems muß ich einige Bemerkungen vorausfciden.
Fürs Erfte gilt es mir hier um eine rein objective Würdigung dies
fes Syſtems, ohne daß ich mich in Unterfuchungen einlaffen mag über
die perfönlichen Urheber oder über bie fubjectiven Motive der Darimen
und Mafregeln, welche diefes Syſtem bilden.
Sodann beurtheile ich dieſes Spftem an ſich natürlidy nicht nach
dem Standpunct unferer deutſchen Verhältniffe, oder darnach, ob «es
uns etwa vorübergehende ober dauernde Vortheile oder Nachtheile in Bes
ziehung auf unferen inneren und dußeren Frieden und Wohlftand gebracht
hat oder verfpricht. Ich beurtheile e8 mie jedes politifche Syſtem zunaͤchſt
nad) dem Standpuncte feiner Urheber, alfo nach der Aufgabe, nach dem
Stüd, dem Ruhme und der Größe der franzöfifchen Nation und ihrer
Dynaſtie.
Sch bin ferner für's Dritte keineswegs gemeint, mic als Rath:
geber der franzöfifchen Regierung aufzumerfen. Sie hat grobe und feine,
öffentliche und geheime NRathgeber genug. Allein das Schidfal Frank:
reich® ift nicht blos für die ganze politifche Xheorie und ihre Probleme, es
ift audy für die Sache von Deutfchland und Europa praktiſch zu wichtig,
als daß nicht taufend Beforgniffe und taufend Hoffnungen auch bei uns
fi) an jede Veränderung feiner Verhältniffe Enüpfen follten. Sich über
diefe Verhältniffe, ihre Urfahen und Folgen bie richtige Anficht zu vers
ſchaffen, dieſes ift fchon ein Beduͤrfniß des Geiftes ; es wird eine Pflicht
der Treue gegen das Vaterland für Alle, welche auf unfere vaterlänbdifchen
Berhältniffe, wenn auch nur vermittelit der öffentlichen Meinung, einigen
Einfluß ſich zuteauen dürfen. Deutfchland muß vorbereitet fein auf
mögliche Wechfelfäte. Es muß zum Voraus gegen bie vielleicht über
Nacht plöglich hereinbrechenden Gefahren gerüftet fein, wenn großes Ungluͤck
verhindert oder gemindert werden fol; noch größeres vielleicht, als wir
bereits — zumal auch durdy Alliancen Frankreichs zuerft im dreißig⸗
jährigen Kriege mit Schweden, bann 1803 und 1808 mit Ruß:
Land — fchon erlebten. Könnte ich übrigens die franzöfifche Regierung
wirkſam berathen, alsbann würde ich, frei von der Verblendung duxc
Franzoſenhaß oder ähnliche Einfeitigkelten, im wahren Anterefie ok,
S
10. | Fhftemilien.
unferes Baterlandes und der deutfchen Neglerungen gerade zu demjenigen
rathen, was mir weſentlich ſcheint, um die neue franzäfifche Regierung
und die Ruhe in Frankreich zu befeftigen, alfo deren wahres Gluͤck zu
fihern.. Wenn 3. 3. durch Fünftliche Förderung der Gorruption und
Demoralifation die lebten heiligen Bande der Gefellfhaft in Frankreich
immer mehr aufgelöf’t würden, müßte diefe Peft mit ihren Folgen nicht
zuletzt auch uns ergreifen? Wenn etwa dort durch foldhe Mittel und
durch jede Lift und Intrigue das conftitutionelle Syſtem und feine Anhän:
ger möglichft herabgemwürbdigt, um ihre Achtung, um den Glauben an fie
gebracht würden, wirkte diefes nicht auch für unfere noch fo ſchwache
Treiheit Lähmend und verderblih? Der befchränktefte politifche Verftand
muß es vollends einfcehen, daB, bei einem durch Nichtbefriedigung der
feanzöfifchen Nation herbeigeführten Sturz der gegenwärtigen Dynaſtie
und Verfaſſung in Frankreich, wenigftend vorübergehend die Republicaner
oder die Napoleoniften die Nation mit fich fortreißen und ſich wie ein
Lavaftrom auf die benachbarten Länder flürzen würden. Alsdann flünde
endlich doch der fo lange geflirchtete, fo muͤhſam zurüdgedrängte allge:
meine europäifche Principienkrieg bevor, mithin zehnmal Schlimmeres, als
alle zunaͤchſt im Intereſſe Frankreichs und ber gegenwaͤrtigen Dynaſtie
angerathenen Mittel fuͤr ſie etwa beſorgen ließen.
Fuͤr's Vierte endlich muß ich bei dieſen Betrachtungen gaͤnzlich
zuruͤckweiſen jene oberflaͤchliche Eintagspolitik, welche alle politiſchen Maß⸗
regeln und Syſteme nach den zufaͤlligen und materiellen, ja nach den
blos augenblicklichen Erfolgen berechnet und ſchaͤtt. Die Zahl ſolcher
oberflaͤchlichen Politiker iſt freilich Legion. Sie finden ſich uͤberall unter
Gelehrten und Ungelehrten, Vornehmen und Geringen. Nach den lt:
theilen folcher politifchen armen Sünder war Napoleon’s ganze Politik,
fo aud) die feines ruſſiſchen Feldzugs, mit dem Allen, ons jene jet,
nad) dem furchtbaren Sturze des Helden, felbft als verkehrt, ja ald un:
vermeiblich verderbenbringend fchelten, doch, fo Tange er glüdlich war, nur
untadeliges Meiſterwetk. Sie wäre e8 auch nach ihnen ſtets geblichen,
wenn zufällig neue Zehler und neite Unglüdsfälle feiner Gegner ihm
den Sturz feines ſtets unnatürlicheren und fehlechafteren Syſtems waͤh⸗
rend feines Lebens abgewendet hätten; wenn etwa ber Kaiſer Alerander
fo übel berathen, fo ſchwach oder aͤngſtlich geworden waͤre, nad) der
Schlacht an der Mostmwa einen nachtheiligen Frieden zu fchließen, wenn
Roſtopſchin's heidenmüthige Verbrennung Moslaus nicht eingetreten,
ober ftatt des Bälteften der mildeſte Winter erfolgt wäre. Diefelben Po:
litiker priefen ja auch — wer hörte es nicht mit eigenen Ohren ? — fo lange
der Thronumſturz nur noch nicht aͤußerlich vollbracht war, die fünfzehn:
jährige verkehrte Politik der bourboniſchen Reftauration. Sie priefen fic
namentlich auch im angeblichen Intereffe für Deutfchland und die deut:
fhen Fürften. Sa, fie bejubelten bis zum Tage vor diefem furchtbaren
Thronumſturz die Weisheit der Juliordonnanzen, eine Weisheit, die aud)
fogar für fie der blofe Erfolg fhon den Tag nachher in Thorheit verwan⸗
dere. Kurz, ibnen iſt überall fiets das Aeußerliche, Materiellſte, ſelbſt
Süftemilieu. 11
das ganz Vorübergehende in den Erfolgen die Hauptſache. So lange,
vielleicht blos durch zufillige Fehler oder Unfälle, oder durch die gleiche
Schwäche der Gegner — fo wie etwa vor der franzöfifchen Revolution in
den meiften alten Monarchieen — folange Volk und Thron noch zuſammen⸗
halten, wenn auch nur fümmerlid und ohne Macht und Ehre, ja unter:
höhle durch Zerſtoͤrung ber moralifchen und phnfifchen Kräfte: fo lange,
ift ihnen felbft diejenige Politit, welche täglich mehr Nevolutionen, Ent:
thronungen und Unterjochungen herborruft,, eine untadelige, eine noth:
wendige Politif. Zeigt fich freilich zufällig sine nachtheilige bedenkliche
Folge Außerlih, dann können fie felbft übermäßig erfchredien und heute
den Untergang prophezeihen, während fie fchon morgen wieder, fo fern -
derfelbe nicht ſogleich erfolgte, alle Gefahr für verſchwunden halten.
So viel Geiftesfreiheit und Phantafte fcheinen fie nie zu haben, um ſich
hineinzubenten, wie ungefähr die Verhältniffe anders geftaltet fein wuͤr⸗
den, falls die Einflugreihen ihre Freie Thaͤtigkeit Hätten Anderen wollen,
und wie fie in dee Zukunft fich bilden müffen. Auch erwaͤgen fie vollends
nicht, daß Staaten und Dynaſtieen ein größeres, längeres Leben haben,
als Einzelne, fo daß für jene ein verderblicher Krankheitsftoff langer im
Verborgenen fein Gift verbreiten kann, che ber Zerfall erfolge. Diele
deutfhe naturphilofophifche und hiſtoriſche Schuler erheben ſolche
Armfetigkeit fogur zum Syſtem. Bei ihrer abgefehmadten Vermi:
{hung des Nothwendigen, des Freien und des Zufäl:
tigen in den Begchenheiten und Folgen umbhüllen fie jene feichten und
unmoralifhen politifchen Urtheile zur unbeilvollen Taͤuſchung für Fürft
und Volk mit philofophifchen und gelehrten Floskeln. Indeß, wie mit:
leidswerth und verberblich auch diefe politifche Stümperei ift, fo waͤre es
doch vergeblich, fie befehren zu wollen. Fuͤr fie iſt nicht zu fchreiben.
Wenigſtens muß, um fie von der Verkehrtheit eines politifchen Syſtems
zu überzeugen, bereitd der völlige Sturz deffelben mit allen feinen un:
glüdlihen Folgen handgreiflich vor Augen liegen, ehe fie diefelbe erfen-
nen. Und audy dann noch werden fie, zumal wenn fie blinde Parteimänner
find, auf die ſeichteſte Weiſe diefem Geflindniffe ausweichen, indem fie
das Verderben von zufälligen Mebenumftänden herleiten, oder vielleicht
auch der Bosheit dee Gegner zufchreiben. Das Auftreten der Letzteren
fieht man ja dabei gewöhnlidy nur als einen blofen unglüdlichen Zu-
fau an, während fie doch meift die verkehrte Politik ſelbſt erſt hervor:
rief und mächtig machte. Ganz fo war es ja offenbar der Fall bei
iener materialiſtiſchen Verderbniß, Meineidigkeit, Maubgier und Bedrü-
dung vieler Höfe vor der feanzöfifchen Revolution. Achnliches zeige uͤber⸗
baupt — zur leider ſtets vergeblihen Warnung ! --- die Gefchichte der mei:
ſten alten und neuen Verſchwoͤrungen und Revolutionen.
Nur zu ſolchen Politikern alfo möchte ich reden, welche die wahren
tieferen Kräfte und Berhältniffe der Natur des gefunden und Franken
Menſchen- und Staatslebens, feine ewigen Gefege, das Ineinandergrei⸗
fen des Sreien und des Nothwendigen und die moralifche Macht des Hoͤ⸗
heren über das Miedere grtuͤndlich zu erfaffen ſuchen, welche auch \dyon
13 ‚ SIüftemilieu.
in ihren Quellen und unfceinbaren Anfängen bie zerftörent
heiten eben‘ fo wie bie Heilfräfte erfennen. Nur für fie allein
fie gibt es überhaupt eine wahre, eine praßtifche, ei
thätig leitende und fhirmende Politik für die $
die Völker. Sie, welche die politifchen Verhältniffe und Entt
in ihrem lebendigen Zufammenhange guffafien, laffen ſich
itren durch einzelne augenblickliche Erfolge oder Unfälle. Sie
Alem nad) den Grundträften und ben Grundfägen
den eingefchlagenen Hauptridtungen einer Regierung,
was diefe harakterifirt. Sind fe falſch — jener wahren g
Mitte wiberfprehend — und Unglüd verheißend, fo beruf
aͤußere Oberfläche der Dinge und bie fcheinbare Langfamkeit det
Yungen ber Reifen des Voͤlkerlebens im Mindeften nicht. V
HPolititern vernahm ich ſtets, auc während bes glänzenbften,
famften Siegeslaufs Napoleon’s bie nie erfhütterte Weberzei
dem voͤllig unvermeiblihen Sturze feines Spftems , welches |
mehr in Widerfpruc, fegte mit den noch nicht moraliſch erfor
verfaulten befferen Grundkräften des europäifchen Voͤlkerlebens
mit jebem feiner Erfolge immer weiter und tiefer die dem Dei
der Schmad; und der Lüge feindlichen Kräfte gegen ſich aufregi
Politiker hörte ich gleich entſchieden ihre Weberzeugung von di
des Throns ber älteren Boutbonen ausfprechen, feitbem derſe
lich in und nad) bem Kriege von 1815 zu offenbar auf bie frı
fengewalt gegründet wurde, und feitbem berfelbe auch in d
Politik fi in feindlichen Gegenfag mit den herrſchenden Gru
und Grundkraͤften des Volkölebens ſetzte, flatt eine Iebeı
einigung mit bemfelben zu erficeben. Es ſteht eben fo v
Seele bie völlig kiare und entfchiebene Ueberzeugung von d
meidlihen Sturze dieſer Bourbonen, welche ſolchen Politikern
_ Zuͤſtemilien. 13
Auffaſſung der allgemeinen Grundgeſetze des Staats⸗ und Voͤlkerlebens,
vor Allem eine unbefangene Würdigung ber Verhaͤltniſſe der franzoͤſiſchen
Nation in und feit der Julirevolution nothwendig. Wir Deutfchen dürfen
uns dabei natürlich nicht beſtechen laſſen durch die uns, leider! fo oft von
unferen Nachbarn eingeflößten gerechten Beſorgniſſe und feindlichen Stim-
mungen. Halten wir uns hiervon frei, fo muͤſſen wir zugeben, daß die
franzöfifhe Nation vielleicht niemals in ihrer ganzen taufendjährigen Ge
fhichte auf einem moraliſch und politifch vorthellhafteren und ruhmvols
leren Standpuncte ſich zeigte, als in und unmittelbar nad) der Julire⸗
volution. Deshalb konnten auch felbft alle jene Beforgniffe und gegne⸗
rifhen Stimmungen nirgends In ganz Europa bie lauten Ausdrüde der
Anerkennung und Bewunderung unterdrüden.
Nicht minder allgemein aber in ganz Europa, wie in Frankreich
ſelbſt, iſt das Gefühl und das Urtheil, daß ber fpätere, daß der jegige
Zuftand, die innere und äußere Achtung und Stellung Frankreichs und
feiner Regierung und deren noch fo ſchlecht geficherte Ruhe diefem größs
ten glorreichften Moment ber franzöfifhen Gefchichte und den durch ihn
erregten Erwartungen durchaus nicht entfprechen. Wo liegt nun hier
die Urfache?
Die Anhänger einer firengen Legitimitätstheorie in und außerhalb
Frankreichs erklären überall die Gefahren und Mißgefchide der neuen
Regierung durch den Mangel wahrer Legitimitde im gewöhnlichen Sinne
des abſoluten Monachismus und rathen, wie zum Theil fchon bie
Anhänger der Quafilegitimitdt und nun vollends ein Vertrau⸗
ter der neuen Dynaſtie, Hr. Sanfrede, zur möglichften Anfchliegung
an das Legitimitätsprincip, zue Vertauſchung beffelben gegen das Prin⸗
cip des Vertrags. Aber gerade das Legitimitätsprincip ſprach ja für die
Bourbonen wie für die Stuarte in England vor Beider erftem und
vor ihrem abermaligen Sturze. Es wurde von Beiden auf: jede mögliche
Weiſe gehegt und gepflegt, und Beide flürzten dennody für immer.
Die nicht legitimen Häufeer Hannover und Bernadotte in Eng⸗
land und Schweden aber beftanden. und beftehen in unerfchütterter Kraft.
In dem Mangel der Perföntichkeit bes neuen Staatsoberhauptes,
in dem Mangel bes feinften, fchlaueften Verſtandes und ber behartlich-
ſten Energie, in dem Mangel ſtets neuer, feiner und fchlauer Combina⸗
tionen und Berechnungen und bes feften, ja hartnädigen Behauptens
des eigenen Willens — in diefem Mangel können wohl auch die Gegner
nicht die Urfache des Mißlingens finden. Hier muß man vielmehr Be-
wunderung zollen. Und man muß erflaunen, wenn folche Gaben,
bei unleugbarem Muth, bei ber größten Selbftbeherrfchung und der uns
ermuͤdlichſten Daͤtigkeit, bei der größten Nüchternheit und Maͤßigkeit,
ja bei nur wenigen Stunden Schlafs — gewiß einem großen Vorfprung
vor anderen Menfchen — dennoch nicht glüdlichere Reſultate hervor-
bringen. u
Freilich Hört man fagen, bie Franzoſen ſeien ſchwer zu regieren ;
vollends aber bie Dusch bie Revolution zur Derfchaft gefommene Regie⸗
14 Süftemilien.
rung habe einen unendlich fchwierigen Standpunct gehabt. Man Fonnte
hierauf erwidern, im Ganzen fei vielleicht Eein Volk monarchiſcher und
leichter zu regieren, als die Franzoſen. Sie find das geſellſchaftlichſte
Volk; fie haben das größte Beduͤrfniß, die ſtaͤrkſte Neigung, fidy durch
einen gemeinfhaftlichen, geſellſchaftlichen Antrieb und Mittelpunct be:
flimmen zu laſſen; fie hängen am Meiften ab von der Regierung und
Anregung der Gefelffchaft, der gefellfchaftlihen Mehrheit, alfo von der
fie vepräfentirenden gefellfhaftlihen Gewalt. Damit hängt zufammen
ihr doppelt lebhafter Ehrgeiz, durch öffentliche Ehren und Stellen in ber
Geſellſchaft zu glänzen, und bie auch dadurch gegebene große Abhängig:
feit von ber Regierung. Man könnte ferner fagen, eine nur an fid)
tüchtige Regierung koͤnne in keinem andern Gefühl und Glauben der
Nation eine größere Stärke finden, als darin, daß fie das eigene Werk
der Nation ift, fo, daß ‚Angriffe auf fie unmittelbar das Werl und den
Willen der Nation verlegen, Vollends aber hat eine Regierung, deren
Eriftenz bas Werk eines fo großartigen moralifhen Aufſchwungs der
Nation und mit dem erhebenden fittlichen Bewußtſein deffelben unzer:
trennlich verbunden ift, hierin bie ftäckiten. Stüßpuncte und Mittel,
welche die zumal in unferer Zeit fo fehr erfchütterten Bande und Ger
wohnheiten alter Legitimitaͤt völlig aufwiegen. Und mit welchem Ber:
trauen, mit welcher Einmüthigkeit der öffentlichen Stimme der uner:
meßlihen Mehrheit der ſtimmfaͤhigen Franzoſen warf fi) nach der Juli⸗
revolution die Nation ihrem frei erwählten König in die Arme! An
fi) aber gibt e3 gar Keinen günfligeren Zeitpunct für eine Negierung,
Tuͤchtiges und Großes in einer Nation und mit derfelben zu gründen,
als folche Zeiten eines großartigen Auffhwungs aller edlen und fittlichen
Kräfte derfelben. Hierzu aber kamen nun noch bei den Sranzofen, und
zwar zunaͤchſt in der Nation, die durch die Sulirevolution erhaltene glin:
zende Befriedigung ihres politifchen -Strebens, die Befriedigung nad)
bafbhundertjähtigem Kampfe fiherlid wenigftens in allen Hauptpuncten,
zugleich mit einer durch felbfterlebte Erfahrungen erlangten großen Maͤ⸗
Bigung ; in dee Hand ihres Königs dagegen die unermeßlidden Mittel an
Geld und Soldaten, an einer noch ganz Napoleoniſchen Adminiſtration
und Gentralifation, an dem Deere abhingiger Beamten und ben Zaufen-
den zu vergebender glänzender Civil: und Militaͤrſtellen.
Sp wird man denn unvermeidlich dahin geführt, die Hauptgruͤnde
der unbefriebigenden Ergebniffe, zu welchen in fo günftiger Lage, mit fo
großen perfönlihen und fächlihen Mitteln die neue Regierungspolitif
führte, in dee Sehlerchaftigkeit der Grundgedanfen ihres
Spyftems zu fudhen.
Mir hat flets gefchienen, dag alle Sehler diefes Spitems ſich zuſam⸗
menfaffen laflen in dem einen Sage: die neue Regierung huldigte in
ihrem Süftemilieu, flatt jenem obigen Syſteme der wahren
Mitte (M.), vielmehr dem ebenfalls angebeuteten falſchen Spiteme.
Hierin find denn, als die Gegenſaͤtze jener Drei Hauptpuncte des rich⸗
tigen Syſtems, ihre drei großen politifchen Hauptfehler enthalten,
Zuftemilieu. 15
zuerft daB Aufgeben und Verfaͤlſchen ihrer Grundprincipien und bie
Princplofigkeit; Todann der unfittlihe Materlalismus und die Cor⸗
ion, und endlich die Unfähigkeit zu wahren höherer Vermittelung
und’ Begeifterung.
V. Fortfegung — Bernadhläffigung und Verfälfhung
des Grundprincips. Ewig wahr wird der große Grundfag der Al⸗
ten bleiben, daß eine jede Regierung ihre Kraft und Stärke fuchen muß
in ben Kräften, welche fie fhyufen. (Imperium iis retinetur artibus,
quibus initio partıun est.) Sie muß alfo die Grundprincipien des
Nationallebens in der jegigen Geſtalt deſſelben und in bee Art, wie
diefe Principien ihre eigene Entftehung aus dem Nationalleben begrün-
deten, fie muß diefe Grundlagen ihres Lebens achten. Nur durch treue
folgerichtige Ducchführung diefer ihrer wahren Grundprincipien, nicht
durch deren liſtige Verhuͤllung, Verfaͤlſchung und Unterbrüdung, wird
fie die Schwierigkeiten gluͤcklich vermitteln und ihre Aufgabe Iöfen-
Was aber ift nun das Grundprindp, was find die Grund:
Exräfte, die Grundideen des gegenwärtigen franzöfiihen National:
lebens und der neuen franzöfifchen Regierung — diejenigen, welche die
größte Erſcheinung dieſes Nationallebens , die Julirevolution, welche
den Sturz der alten und die Entflehung ber neuen Regierung und
Verfaffung beftimmten? .
Im Allgemeinen wird man jenes Grundprincip bezeichnen koͤnnen
als das der fittlih vernunftrehtlihen Freiheit, im Gegen:
fage gegen Despotie und Theokratie oder gegen Abfolutis:
mus und Prieflecherrfhaft. Diefes allgemeine Grund:
princip aber wurde zum Theil eigenthümlich aufgefaßt; in feiner An⸗
wendung auf die inneren Berhältniffe nämlich, zunaͤchſt im Ge:
genfage gegen das göttlihe Recht ber Könige, als auf Ber:
trag und Bollsfouveränetät gegründete conflitutionelle
freie Monardie; in der Anwendung auf die aͤußeren Verhält:
niffe dagegen, zunaͤchſt im Gegenfage gegen die heilige Alliance, '
als freie Nationalfouveränetät im Kıeife freier Nationen
nach dem Principe der Nihtintervention in ihre inneren An>
gelegenheiten.
Nach diefem dreifachen Hauptgefichtöpuncte fol hier das Grund:
princip der Nation und dee neuen Regierung im Verhaͤltniſſe zu. der
Politik der letzteren kurz betzachtet werben.
1) Faßt man den allgemeinften Charakter der Julicevolution im
Verhaͤltniſſe zu der Gefchichte der Älteren franzöfifhen Monardyie, zu
der früheren Revolution und zu ber Reflauration auf, fo kann man
als vorherrfchendes allgemeines Princip jene ſitt lich vernünftige
Freiheit gewiß nicht verfennen. Die franzgöfifche Nation mar früher
aus der Heuchelei und Geiftesfklaverei der Hierarchie und des Pfaf-
fentbums durch entgegengefeßte Fehler herausgeriffen worden, durch ro:
ben Materialismus unb Unglauben, naͤmlich durch den Atheismus, ja
den wahren Religionshaß und die Religionsfpättsrei der Höflinge, der
16 Süftemitien.
Encykispäbiften, ‚der Voltair. Sie war ferr
nach bem Austritte aus dem Despotismus der alte
ſolchen blutigen anarchiſchen Revolutionsgreueln und !
Freiheit gekommen, daß es gerade hierdutch dem Nap
geize möglich wurde, ſowohl die kaum erwachten Gru
ter Freiheit und einer wahren aufgeklärt
hen Moralität wieder zurädzubrängen, und bie 9
rohen blutigen Kriegeruhme völlig zu beraufchen.
Die fuchtbarften Wechfel und Leiden des Schick
und bei Napoleon’6 bdoppeltem Sturze die Nation
Sie hatten fie erweckt und vorbereitet zu einer endliche
der wahren fittlihen vernünftigen aufget
heitsgrundfäge und biefe feibft jenen Sturz mitbe
alfo die offenbare Aufgabe der jest aus der Verbannun
den Bourbonen, In ber Herrſchaft jener Grundfige u
begründeten Culture und moralifhen Macht Frankreichs
prineip, die Kraft und Beftimmung ihrer Regierung
verlegten bieſes Grundprincip unb flürzten. Noch unglei
wie ihr treulofes Spiel mit dee beſchworenen Sreiheit, x
Religion · oder mit der reigiöfen Moral, waren die furd
hungen der Religion für unwuͤrdige weltliche Zwecke un
waren die Sefuiterei und Tartuͤfferei, waren die Miffio
tifienigen und abſichtlichen Verbummungen des Volks.
fie num wieder wenigftens theilweiſe, als einfeitige E
Haß gegen bie chriſtliche Religion ſelbſt hervor, fo fehr
tich die refigionsfeindlihen Schriften Voltaire's uni
in fünf Sahren der Reflaucation mehr verkauft wurde
fünfzig.
As nun endlich das Maß erfüllt war, als den mo
des franzöfifchen Volks mit geringen dufern Mitteln
Juſtemilien. 17
daß man neben ben von den Miniſtern gefuͤhrten und den Kammern
mitgetheilten Verhandlungen mit fremden Staaten, in höherer Inſtanz,
andere in entgegengefegtem, der Zreiheit und dem Nationalgefühl weis .
Derfprechendbem ne führte, ober fei es, daß man bald durch hervor-
gelockte Attentate und Emeuten, durch Spionerie und Qolncgreuei,
ober auf diefe oder jene Weiſe, hinterliftig und taͤuſchens der ehrlichen
und offenen Erfüllung des ganzen und wahren Sinnes des
neuen Grundvertrags auszuweichen fuchte, oder zulest fogar bie
Gründer des neuen Julithrons vurch verkleidete Potlagenten prü:
geln ließ. j
2) Zunaͤchſt in Beſſchung auf die inneren Staatsverhält-
niffe wollte bie Nation entſchieden volltommene conftitutio:
nelle Freiheit, und zwar gegründet auf Volksfouverd-
netät. Die alte Regierung hatte, ganz bem Beifpiel ber Stuarte
folgend, gerade mit Berufung auf Legitimicät und goͤttliches
Recht und auf ihre angeblihe und alleinige Sonftituirungs= und des⸗
haub aud) einfeitige Aenderungsgewalt , bie Freiheit ſtets verlegt, zuletzt
vernichtet. Die Nation wollte fie jest durch bie neue Regierung und
ihre duch Woltemitlerkugnb Vertrag begründete Einfegung,
durch die in diefem Sinne aͤusdruͤcklich hergeftellte, ſchon in ber erften
Revolution erfämpfte Volksſouveraͤnetaͤt begrändee und befeftigt
fehen. Aber man faßte biefes mefentliche Srundprincip für bie neue Re
gierung, biefe allein mwefentlihe Aenderung der Charte sum Gluͤck
hoͤchſt gemäßigt auf. Man verftand darunter nicht eine vipublica-
nifhe Regierungsfouverdnetät, über dem König fiehend. Man
erkannte vielmehr eine fouveräne, unverantwortliche, unab:
Tesgbare, erbliche Königsgewalt an. Man fagte nicht, wie die Cor⸗
tesverfaffung: „die Nation ift allein fouverdn.” Man mollte
eine Berfaffungsfouveränetät ber Nation, und auch bier nicht
eine folche, wodurch bie Nation jeden Tag ohne Zuflimmung
ber koͤniglichen Gewalt bie Verfaffung einfeitig ändern dürfe,
wie ebenfalls die Cortesverfaffung beſtimmte. Dan wollte nur die
Nation als eine ſelbſtſtaͤndige oder fouveräne beredhtigte
Derfönlichkeit anerkannt fehen, von derm Willen für’s Erite
urfprünglic) das Recht der erblichen Koͤnigsgewalt vermittelft des mit.
der neuen Dynaftie frei gefchloffenen Wahlvertrags ausgegangen fel, und
bet deren Ausflerben oder bei einer etwaigen neuen Unmöglichkeit
ihrer Fortdauer wegen gänzlich zerflörten Grundvertrags auch das Recht
der neuen Regierung abermals ausgehen müffe, ohne deren freie Zu—
fimmung fürs Zweite weder irgend einwAenderung der Verfaſ⸗
fung, noch audy eine Beſchraͤnkung der verfäffungsmäßig anerkannten
Freiheitsrechte der Bürger rechtsgältig fei. Man wollte auch Beine
Thranten=: und formlofe Stimmenmehrheitsgemwalt der
rohen Maffe, fondern eine Ausübung und Vertretung des Natio-
nalwillens durch die verfaffungemäßig conftituirten Organe. Diefe aber
ſollten fedlich dem Principe der Bolsfonveränetät gemäß, und wie man
Staats s &erilon. IX. 2
18 Süftenilien,
auch burdy den Vorbehalt der Aenderungen des Wahlgeſetzes, ber
Muntcipalgefege und der Preßgefeßgebung anerkannte, fo weit es
nur immer bie Erhaltung ber Ordnung und gerade der Zweck, mögs
lichſt volftändig den wahren Willen ber Geſammtheit zu fins
den, zulaffen würden, den Willen aller feibfiftändigen Bür-
ger zur Sprache bringen, repräfentiren und im Verein mit der Par⸗
lamentarifhen Regierung verwirklichen. Als ein Grundfehler der neuen .
Regierungspolitid muß alfo Alles betrachtet werden, mas, untreu bem
Sinne des Grundvertrags, dieſes Peincip, ftatt in ihm die Grundlage.
und Grundkraft der Regierung freudig anzuerkennen, zu benugen und
auszubilden, vielmehr vernachlaͤſſigte, in den Schatten ftellte, ſchwaͤchte,
verfälfchte, überhaupt fcheinbar oder wirklich anfeindete und an beffen
Stelle die Gewalt einzelner, mithin privilegirter Claſſen der Gefellfchaft
ober auch eine abfolute Megierungsgemwalt, und die Legitimität oder das
Intereſſe des fürftlichen Hauſes feste. Dierhin gehören 3. B. bie eng.
herzige, durch liſtige Hofintrigue ducchgefegte Beſchraͤnkung der Wahlrechte,
fo auch die Beſchraͤnkung der Departemental- und Municipalverfaffung,
ferner die Doctein dee Quafiskegitimität, bie pensce immuable,
die Septembergefehe, die bleibende Unterdrüdung ber Aſſociations⸗
freiheit, vollends der Feſtungsbau gegen daſſelbe Volk, weiches den Julie
thron gründete. Es gehört dahin überhaupt das Princip der Intimi⸗
dation und bes Widerflandes. Und welche den Srundfägen ber Julirevo⸗
lution feindfelige, veactiondre, bespotifche Lehren fuchen vollends auf
Koften der Eivillifle die vertrauten Organe zu verbreiten! Hierdurch
mußte unvermeidlich Unzufriedenheit, Mißteauen und Abfall eines
großen Theils des Volks und die Forderung einer ungemäßigteren
republicanifchen Volksſouveraͤnetaͤt entftehen. Royer Collard fagte
witzig: „Der Republik ftehen die alten und neuen Republicaner im Wege.‘
Wenn nur die. Sranzofen diefeß nicht auf ihr Königthum anwenden!
Menigftens bat jegt diefes allein den feit der frühen Revolution fo
allgemein gefürchteten vepublicanifchen Ideen von urfprünglic nur
ſehr Wenigen Bebeutung und Anhang verfhafft. Es vermehrt den
letzteren tagtäglich, und bamit zugleich auch die Hoffnung und Zahl der
Garliften und NRapoleoniften. In Staaten wenigftend, melde,
wie bie von England und Frankreich, Volksſouveraͤnetaͤt als Grundlage
anerlannten — von andern kann ich bier nicht reden — befleht die Res
gierung nur’ friſch und lebenskraͤftig, wenn fie in freier Harmonie mit
dem verfafiungsmäßig fich ausfprechenden Nationalwillen ihre Befugniſſe
ausübt. Bei entftehender wahrer Collifion deſſelben mit der eigenen
Meinung der Regierugg hat diefe für die Durchführung ihrer Anfichten
ſehr große friedliche Mittel. Sie kann für ihre Meinung die Ueber
zeugung und freie unverfälfchte Zuflimmung der Repräfentanten
gervinnen. Sie kann auch durch verfaffungsmäßige Appellation an das
Volk die Aechtheit des Nationalwillens prüfen und bem mahren über
ben blos angeblichen, über bie blofe Parteimeinung auf friedlichen Wege
den Sieg verfchaffen. Hilft diefes aber nicht, alsdann muß fie fih mit
Juͤſtemilieu. 10
dem Nationalwillen ehrlich und friedlich einigen und ihn nur
in ſeiner Verwirklichung leiten. Sie muß ſich, wenn ſie auch ihre Mei⸗
nung nicht durchſetzen kann, damit troͤſten, daß in dem Nationalwillen
und ſeinem Sieg ungleich mehr Buͤrgſchaft der wahren Heilſamkeit und
jedenfalls einer gluͤcklichen kraͤftigen Durchfuͤhrung liegt, und daß in
freier Vereinigung mit ihm mehr wahre Wuͤrde und Ehre beſteht, als
in dem Sieg der’ Hofintriguen und Parteianſichten. Jedenfalls muß fie
bedenken, daß unvermeidlich ihre Königsmacht , wenn fie fi, in mahren
Gegenfas mit dem Rationalwillen fegt, früher oder fpäter an diefem ge
waltigen Helfen zerfchellen werde. Das ift auch in England laͤngſt ans
erkannt. Ein durch unverfländige Hofintriguen bewirkter entgeaengefeßter
Verſuch vor der legten Parlamentsreform hätte, ohne alsbaldige gaͤnzliche
Zuruͤcknahme, unvermeidlid, die Revolution erzeugt. In den Nieders
landen bewirkten faft gleichzeitig die unglüdlichen Verfuche, ſtatt jener
friedlichen Stimmung, Prüfung und Yusführung des Nationalwil:
lens, ihn vielmehr durch Verfolgung der freien Preffe und ber nicht mi-
niſteriell flimmenden Deputieten liſtig und kriegeriſch zu unterdrüden
und hartnädig einem entgegengefegten unterzuordnen, die Zerftüdelung
des ſchoͤnen Reihe. Ganz diefelben Verſuche waren es, toelche zwei:
mal die Throne der Stuarts und dreimal die der Bourbonen
flürzten. Die Franzoſen und ihre Nationalgarden aber haben es jebt
wahrlich eben fo, wie früher die Engländer und die Nordamerilaner, bes
wiefen, daß man gerade durch Benugung und Geltendmachung des Prin⸗
cips der Volksfouveränetät, bag man durch das Volk felbft, durch feinen
kraͤftigen und von Allen willig geachteten und befolgten Willen die Ruhe:
flörungen befiegen, die Regierung und die Ordnung handhaben kann.
Man kann es, fo lange man nur noch nicht jenes Princip durch Eigen⸗
finn und Anfeindung , durch Hinterlift oder Zuräditoßung ſich felbft
feindlich gegenübergeftellt, oder einen falfhen Schein an die Stelle des
wahren Nationalwillens geſetzt hat. Auf welche glänzende Weife hat
neulich wieder das englifche Miniftertum die von ben Chartiften, von
Sabrikarbeitern und Handwerkern durch ganz England verbreiteten furcht⸗
bar drohenden ungeheuern Volksbewegungen und Bolksverfammlungen
unb den durch fie mit Seuer und Schwert geforderten Umſturz gänzlich
befeitige 1 Welche Regierungen oder Minifter des Gontinents hätten
wohl in ähnlicher Lage nicht gezittert und nicht geglaubt, durch Krieger-
ſchaaren das Land mit Blut uͤberſchwemmen, felbft unfere kleinen contis
nentalen Verfaffungsrechte fuspendiren und Zaufende vieljährigen Kerker⸗
qualen und furchtbaren Strafen überliefern zu müffen?- Das englifche
Miniſterium kränkte oder fuspendirte auch nicht einmal das kleinſte aller
großen britifchen Verfaſſungsrechte, appellicte. ganz ruhig an ben geſetz⸗
lichen Bürgerfinn des Volks, der Beamten und Gefchworenen. Alles "
that feine Schufdigkeit, und mit den allermilbeften Mitteln, mit wenigen
kurzen Verhaftungen und Strafen, find die Chartiften wie von der
Erde verſchwunden und — mas bei gewaltfamer Unterdrüdung nicht
möglich geweien wäre — für immer entwaffnet. 2.
20 Ä Juſtemilieu.
8) Aber noch ein drittes Prineip lag dem Sturze ber alten und
ber Entftehung ber neuen Meglerung zu Grunde, da6 der wahren
freien Nationalfouverdänetät nah Außen und einer ihr,
wie der Ehre und ber Macht der franzöfifhen Ration
entfprehenden würdigen Stellung im europälfhen Voͤl⸗
kerverhaͤltniſſe. Vielleicht dee ftärkfte und tieffte Grund ber Entzwei⸗
ung zwifhen dee reftaurirten Dynaftie und dem franzöftichen Volke
beftand in ber unklug genährten Volksmeinung, baß bie Iegitimiftifche Gewalt
dee Bourbonen durch die Heilige Allianz mit den fremden Fürs
ften beftehe, durch fie beftimmt und geleitet werde und, wie ber Krieg
gegen die fpanifche Freiheit erweife, gegen bie Freiheit ber Voͤl⸗
Fer mitverbändet fei. Durch die gänzliche Ausſtoßung biefer Dy⸗
naftie, durch begeifterte Wiederannahme der Rationalfarben und
durch das auf Woltsfouveränetät gegründete Buͤrgerkoͤnig⸗
thum wollten bie Franzoſen für immer biefe dem Nationalgefuͤhl
und der Freiheitsliebe widerfprechenden dußeren Bande und Verhaͤltniſſe
zeritören. Sie felbft, als eines der mächtigften lieber des europäifchen
Voͤlkervereins, proteftiete auf das Feierlichfte gegen die fogenannte heilige,
biofe Fürftenalitanz , welche fogar nicht einmal von verantwortlichen Mi⸗
niſtern durfte unterzeichnet werden, unb die deshalb auch von England
nie eingegangen mworden war. Gluͤcklicher Weiſe verbrängte auch hier eine
gemäßigtere, der wahren Freiheit und Öffentlihen Moral entfpres
chende Auffaffung die frühere rohe und ungemäßigte,/ die gemalt
fame Ausdehnung ber Freiheitsgrundſaͤze. Man wollte nicht die verlegens
ben Eingriffe in die Inneren Verhaͤltniſſe felbftftändiger Staaten buch
die officielle Revolutionspropaganda und die Mevolutionsheere. Man
fagte fich feierlich Io8 von dem Durft nach rohem Kriegsruhm und nad)
Eroberungsmacht. Aber die Franzoſen wollten dennoch eine der neuen
Sreiheit, wie dee Macht und der Givilifation der großen franzoͤſiſchen
Marion, ihrem Jahrhunderte alten Einfluffe und Nationalruhm entfpres
chende ruhmvolle Stellung und Wirkſamkeit in dem Syſteme der euros
päifhen Völker. Sie wollten zugleich mit bem freien Britannien, an
dee Spige ber europaͤiſchen Givilifation und verbuͤndet mit ben freien
Boͤlkern, durch moralifhen Einfiuß auf bie allmaͤhlige friedliche Verbrei⸗
tung der Freiheit und Eisillfation wirken. Sie wollten durch deren vor
zug6weile Wertretung und Schügung im gemeinfchaftlihen voͤl⸗
kerrechtlichen Syſteme den Ruhm, Einfluß und Schuß der fruͤ⸗
heren Eroberungsmacht erfegen. Sie wollten fo bie Mechte und Pflich⸗
ten ausüben, welche für feine Ueberzeugung von dem Wahren und Gus
ten jedes Mitglied in einem gemeinfhaftliden, mit gemein⸗
ſchaftlich en Kräften erhaltenen Syſteme hat. In einem folhen Sy⸗
ffeme oder Geſellſchaftsverhaäaltniſſe nimmt ja ganz nothwen⸗
dig jebes Mitglied Theit an der Ehre, wie an der Schande und Verant⸗
wortlichkeit des Wärdigen oder Unmürdigen, und an den Gefahren, welche
durch ben Steg des Schlechten für es ſelbſt entſtehen. Solche Verant⸗
wortlichkeit und ſolche Gefahren finden aber in ber That im Voͤlkerver⸗
Juͤſtemilieu. | 21
haͤltniſſe nicht minder flatt,. als im Gefellfhaftsverhältnifie der Einzelnen.
Die Witglieber bürfen auch in jenem ebenfalls nicht, felbftfüchtig und
fäg, Raub und Unterdbrädung unter fi dulden, ohne:
zuletzt ſelbſt Denfelben zu unterliegen. Diefe Gefahren vers
deppeln fich fogar für freie Völker im Völkerverhältnifie, weil die Anftedtung
and Eauferneng unfreier Srundfäge, wenn diefelben durch die eigene Regies
sung im Voͤlkerverhaͤltniſſe gehegt werden, unvermeidlich auch felbft im
Inneren ded Staates, Gefahren bereiten. Das Syftem des göttlihen
Rechts verdrängte gleichzeitig im Inneren der Staaten und im
Voͤlkerverhaͤltniſßſe die altgermaniſche Freiheit und Gleichheit.
Eben fo die letzteren fit Hugo Grotius wieder bie erſteren. Man
betrachtete es ſogar als einen Selbſtverſtand, diefe in feinem blos voͤl⸗
Werte vom Recht des Kriegs und Friedens entwi⸗
delten voͤlkerrechtlichen Grundſaͤtze auch wieder unmittelbar nis ſtaats⸗
sechtliche Principien anzuwenden. Ganz natuͤrlich ſtrebt insbefondere
ber Abfolutismus auch ſeinerſeits, ſchon wegen feiner Selbfterhaltung,
kbesaß nach moͤglichſter Ausdehnung und Verbreitung feiner Pringipien
mit allen feinen vereinigten Mitteln Auch in biefer Beziehung nun
zeigt fih in Frankreich Vernachläffigung und Verlegung des Grundprins
ap. Selbſt in derjenigen gemäßigten Auffaffung wurde «6
aufgegeben, wie es namentlich auch das von der Megierung feierlich
anerkannte, dann aber mit Zäufchung gegen die von ihr falich bera⸗
thenen unglüdiihden Polen und gegen bie ausdruͤcklich felbft durch
bie Thronrede verlockten unglädlichen Italiener wieder Preis gegebene
Princip der Nichtintervention bezeichnete. Auch biefes mußte
nothwendig ber Regierung yerberblich werben und ebenfalls, zur Gefaͤhr⸗
bang ber Ruhe Frankreich und Europa’s, die ungemäßigte Auffaſ⸗
ſung ſelbſt hervorrufen. Es konnte nicht anders kommen, ſobald, wie
ſo viele Franzoſen klagen, in der Nation die Vorſtellung Wurzel
—— ihre Regierung nehme nicht jene hohe und wuͤrdige, ber Macht
dem Ruhm, der Ehre, Freiheit und Sicherheit Frankreichs entſpre⸗
eeabe Stellung ein, fie ergreife vielmehr, trotz aller im Frieden die
Landeskraͤfte vergehrenden Kriegsruͤſtungen, eine demüthige, bei jeder
Drohung zum Widerrufe und zur Zurkdinghme ihrer Erklärungen und
Aufagen bereitwillige, ia ‚eine heimlich der Freiheit der getäufchten Voͤl⸗
fer Aberall feindfelige, eine mit bem Abfolutiemus der Könige verbuͤn⸗
dete Stellung; fie -gefährhe fo zugleich wit der Freiheit und Sicher»
beit bee Nation auch ben Ruhm und bie Achtung berfelben bei frem⸗
den Völkern, und führe dennoch mit ihrer Foͤrderung der Unterbrüdung
ber Völker und mit ihrem Erkaufen bes Friedens um jeben Preis,
Rate wahrhaften Friedens, nach) Jahre langm - großen Opfern, einen
unvermeiblihen, immer gefahrvolleren Krieg herbei. |
Vi. Sortfegung Der unfittlihe Materialismus
und Mahlavellismus. — Als ich vor Fünf Jahren vor Allem be
dauerte, pi die neue Politik, flatt die Nation in bee eblen firtlichen
Richtung der Julirevolution zu erhalten und fie füg geiitige und ftt
22 Süftenilien.
liche Entwwiderungen zu begeiftern, fie vielmehr felbfl
des Materialismus und dee Genußfucht hetabziehe
da fand diefer Tadel noch ziemlich vereinzelt da; feit
Frankreich immer Tauter geworden, "Ztvei auf einar
mern erinnerten nicht blos an bie nicht erfüllten!
bie innere Freiheit und über die Verlegung der Ti
Außen; fie Elagten vor Allem auch laut uͤber das un]
Corruiption und die den Nationalcharakter entwuͤrdig
ben Credit und die alle großen Unternehmungen laͤhm
Materialismus und Egoismus. "Sie fliegen den Em
einen Haupteepräfentanten aller Corruption, den ft
Betruͤgerei bezüchtigten und dennoch den innigft der
das Drgan des Hofe, mit Indignation ans ihrer M
der öffentlichen Meinung halfen täglidy mehr wieder
die Hinterliftigkeit und den Machiavellismus der Pot
tel und über deren ftets wachſende verberbliche Mir!
Klagen erhielten eine noch fatalere Geſtalt durch All
würfen’ von Habgier fir das Familienvermögen eit
mußte. Selbſt der Kammerpräfident Dupin, ſ
meife für die firtfichen Ideen ſchwaͤrmeriſch begeiſtert
feten Mangel auch nur der Berührung’ diefer "Seit:
in allen beredten Aeußerungen von Dben und dageg
Berufungen nur auf die ateriellen Jntereſſen in fe
fentlichen Anreden rügen' zu müffen. N
Ich führe Hier nicht" aus, daß Sittlichkeit, 6
und Treue die’ allein wuͤrdige und fichee Grundlagı
und ihrer Politik find, "daf ein Machlavellismus im d
fo wie der des Jüſt em ili eu in den fpamifchen, it
getifchen Angelegenheiten, 3. ®. in ber unfauberen Cr
5 vollends bie Hetvorbildimg der Selbftfucht, "Ger
Juͤſtemilieu. | 38
öffentlichen Ordnung und Givilifation werden! Napoleon glaubte -
nicht an bie fittlihen Ideen und ihre Macht über die Völker — und
flügzte. Die Bourbonen verkannten die fittliche Kraft der Freiheits-
liche ihres Volks — und flürzten. Werben bie neuen Zweifler gluͤck⸗
licher fein? Wie weitab ſteht doch von politifher Schlauheit und
Gewalt politiihe Weisheit und Kraft! Und wehe! wenn es ge
länge, burdy bie wachſende Demoralifation, durch Napoleonifche Avili⸗
rung ‚ber Denfchen die Kraft der fittlihen Ideen zu entwaffnen! Bei
bes Ewigen, ber Thron und bie vorübergehende Ruhe find viel zu
heuer erkauft, die es auf Koften ber äffentlichen Sittlichkeit murbden!
Hier iſt auch für die übrigen Kürften und Länder nicht der Weg zum
Sieben, fondern der Weg zum Kriege. Ä |
Aber, fo jagen die Vertheidiger des Füftemilieu: die Sranzofen
finb materialiſtiſch, felbfl- und genußſuͤchtig. Diefes und die Nothiven-
bigfeit der Megierungspolitit beweiſet ſich ja gerade dadurch,- daß bie
Regierung durch die⸗kluge und liftige Berufung auf diefe materiellen
Intereſſen fid) Anhänger gegen ihre Feinde fchaffen, felbft Die Erfüllung der _
ihr unbequemen Verheißungen fchlau umgehen ober vereiteln Eonnte, fogar
wiederholt die ihr unangenehmen Kammermajoritäten zu fprengen mußte.
Aber ic) frage dagegen: wo in ber Welt war ein Volk, in welchem nicht
Diele, ſehr Viele, ja die Mehrzahl zugänglich find für die Motive ber
Eigenfuht und Genußſucht? Wo, wenn eine gewaltige koͤnigliche Ne
gierung mit all’ den ungeheuern Mitteln des franzöfifhen Koͤnigthums,
und mit ber noch nicht zerflörten moralifchen Auctorität eines durch bie
Nation gewählten und zu ihrem Schuß und Frieden nothwendigen Koͤ⸗
nigthums, wenn eine ſolche Regierung, flatt.an die edleren Gefühle und
Grundſaͤtze der Bürger, täglich nur an ihre materiellen Intereſſen bie
Berufung einlegt, nur Eigennug und Genußfucht hervor: und großzieht —
we, fage ich, wuͤrde unter gleichen VBerhältniffen nicht, "vorübergehend
wenigftens, der Materialismus die Oberhand erhalten? Wozu aber find
bie Könige auf ber Welt, wenn von ihnen nicht die höhere fittliche Idee,
die wahre Ehre der Nationen follen repraͤſentirt, gefchügt und gekraͤftigt
werben ?
Und waren der Sturz Napoleon’s und ber Reflauration,
ſelbſt nachdem beide halbe Menfchenalter hindurch ber unterdrüdten
Volksmoral gefpottet und jede Oppofition befiegt hatten, nicht eine ge:
nägende Warnung? Waren nicht auch hier der tief fittliche Charakter
der Julirevolution, bie hochachtungswerthe Uneigennügigkeit, Mäßigung
und Selbſtbeſchraͤnkung, in ihr das arglofe volle Vertrauen, mit welchem
das Volk fi feinem neuen König in die Arme warf, die Herzlichkeit
feinee Stimmung für denfelben deutliche Fingerzeige, diefer Richtung
auch ferner zu folgen? Und kann ein folches Volk, kann eine Nation,
deren Bürger auch jetzt wieder felbft in ihren Verirrungen eine ſolche muth:
volle Tobesverahhtumg , ſolche Empfänglichkeit und Hingebung für das
eigen, was fie der Ehre ihres Vaterlandes vortheilhaft halten, können
diefe unempfänglich für die eblere Stimme ihres Königs, für edlere Res
24 Zuuſtemilieu.
gierungsmotive genannt werden? Die jetzt ſtets wachſende Geringſchaͤ⸗
kung und Indignation gegen die machiavelliitiiche Regierungspolitik
wird diefes mahrfcheinlich bald noch beutlicher zeigen.
Vo. Fortſetzung. Das Aufgeben der wahren VBermits
telung. — Mit der Principlofigkeit und mit der Geringfhäsung ber.
fittlichen Ideen, mit dieſer Unfähigkeit für diefelben, mit dem Mater
rialismus und Machiavellismus bes franzöfiihen Juͤſtemilieu iſt
noch ein fernerer großer politiſcher Fehler unzertrennllich
verbunden. Dieſer beſteht darin, daß dieſes Juͤſt emilieu gerade das
Gegentheil feines Namens, daß es weder gerecht noch eine wahre
Mitte oder Vermittelung ifl. Sie befteht darin, daß diefe Politik zu
einee wahren innerlihen pofitiven Vermittelung unb
Verſoͤhnung der Gegenfäge, der &rtreme ber Parteien umb bes
Volkswillens mit der Verfaſſungsidee gänzlid, unfähig wird. Fuͤr alle
ihre Zwecke, für bie Befeftigung bes Thrones, ber Ruhe und der Ordnung,
für die Beruhtgung der Gegenfäge und Parteien verfteht fie nur nega⸗
tiv und dußerlih, nur materialiftifch, unterbrüdenbd, ein⸗
fhränfend und ftrafend, nicht poſitiv begetfternd, her—⸗
vorbildend, vereinigend und [haffendb zu wirkten. Diefes
aber ift nicht blos ebenfalls den Principien dee Julirevolution widerſpre⸗
hend, fondern überhaupt in der Erziehung und Behandlung bes Wolke
wie ber Jugend ber größte Grundfehler. Das thatkräftigfte und unru⸗
higfte Volk von Europa , In feiner untemeßlihen Aufregung nad ber
Julirevolution, und zugleich mit feinem Muth und feinen politifchen
Mitteln — wie follte es ohne große moralifche Kräfte, blos durch klein⸗
liche materielle Intereffen und vorzuͤglich nur durch Beſchraͤnkungen,
Hemmungen, Unterdrüdungen und Strafen zufammengehalten und an
den neuen, von ihm gefchaffenen Thron gefeflelt und, fo ferne es ſich
verlegt, beleidigt, getäufcht glaubt, dauernd beruhigt werden? Im Ges
gentheil, die Erfahrung beftätigt es, jede neue Unterdrüdung regt na⸗
türlich immer mehr, immer tiefer und — wenn nicht ſogleich dem
Außeren Auge und Ohr fihtbar — gerade um fo gefährlicher auf. Sie
macht den Riß zwifchen Regierung und Volk tiefer, vermehrt und bes
ftärkt die feindlichen Parteien und macht fo neue und verlegende Un⸗
terdrücdungen noͤthig. Die Regierung mag alfo wohl Recht haben,
wenn fie die Kammer fragt: Aber find biefe Unordnungen nicht gefähr-
ih? Muͤſſen fie nicht aufgehoben werden? „Ja und wieder Ja”,
muß man aptiorten; „aber Ihr ruft fie durch Euer falfches Syſtem
fetbft hervor, und She ruft durch Eure vorgefchlagenen Mittel noch
neue und gefährlichere bervor. Aendert alfo vor Allem, fo fchnell wie
möglich, Euer Syſtem!“ Soll es denn auf bem biöherigen Wege noch
einmal enden mit einer neuen furdhtbaren Erplofion für Frankreich und
Europa? Wilhelm von DOranten, als er durch eine Ahnlihe Re
volution auf ben englifchen Thron berufen wurde, fagte: „eine neue
Dpnaftie muß durch Blut mit dem Volke zuſammenwachſen.“ Unb weit
entfernt, den Krieg für feinen neuen Thron übermäßig zu fücchten, leitete
Juſtemilien. | 25
er ab und vereinigte die aufgeregten Kräfte durch gerechten Krieg und neuen
Nationalruhm. Ic beabfichtige Leineswegs, einen Krieg blos aus
folder Urſache anrathen zu wollen, felbft wenn es mir auch augen»
ſcheinlich duͤnkt, daß auf dem bisherigen Wege die nene franzdfifche Pos
init, mit ihren kurzſichtigen, materlaliftifchen und taͤuſchenden Süftemiltens
mitteln im Inneren, und mit ihren Verletzungen der Beſtimmung,
bee Würde und des Ruhms der Nation nah Außen, flntt der
erfehnten Ordnung, Ruhe und Mägigung und flatt eines wahren
dauernden Friedens, gerabe ſelbſt die fuchtbarfien Ertreme
und Unorbnungen, neuen furchtbaren europdifchen Krieg hervorruft. Auch
bin ich weit entfernt, zu glauben, daß, wenn man das wahre voͤlkerrecht⸗
liche Princip der Nichtintervention zum Schutze der unglädlichen
verführten Voͤlker, denen es das feierliche koͤnigliche Wort verbirgt hatte,
mit würbiger Entfchiedenheit und Maͤßigung hätte behaupten wollen, dazu
große, für Frankreich gefährliche Kriege nöthig gewefen wären. Wahr⸗
lich, Frankreich war damals in ber Lage, anderen Monardhieen das Krieg
führen ſehr bebenklih zu machen! Es brauchte gewiß nicht feinem
Koͤnigsworte und dem allein einen bauernden Frieden möglich machenden
gerechten Princip unten zu werden und nicht fogar im Nachbarlande Ita⸗
ten zu dulden, was, fo lange es franzöfiiche Könige gab, Feiner duldete.
Doch ich wollte hier nur durch ein Beiſpiel aus dem Leben «eines gros
fen ruhmgekroͤnten fürftlihen Staatsmannes, der auch ſonſt übers
all die Politik der neuen franzöfifchen Regierung verwarf, einen Gegens
faß der letzteren anfchaulidy machen. Webrigene aber gibt es, wie felbft
das Programm der Julirevolution zeigt, noch ganz andere Weifen,
ein Volk zu einigen, zu erheben, zu .begeiftern und fo feinen aufgeregs
ten Kräften, ftatt der verderblichen, eine pofttive, gute und heilfame
Richtung zu geben. Aber dazu bedarf es vor Allem der höheren Idee
und der moralifchen Größe, der eignen Begeiſterung der Staatemänner,
der ganzen muths und opfervollen Treue und Wahrheit und Ehre. Dazu
taugen keine Halbheiten und Kleinlichkeiten, keine Hinterlifte, Taͤuſchun⸗
gen und Ruͤckſchritte, wie fie felbft bei den neufranzöfifhen Maßregeln
für gute und einer großartigen Behandlung fähige Aufgaben, 3.8. bei -
denen für die Erziehung und die Gemeinde⸗ und Departementalfreihelt,
bervortreten.
Durch dieſes Alles wirken fich bie Regierung und bas Juͤſtemi⸗
lieu und, fo weit fie bazu mitwirken, deifen auswärtige Freunde in als
len Beziehungen gerade Telbft entgegen. Sie wirken, leider! nur zu
Gunſten der Republicaner, welche in einer neuen franzoͤſiſchen Krife,
und vollends bei auswärtiger Einmifchung , falt unvermeiblid) obenhin
tommen müflen, weil in ihnen alsbann bie hoͤchſten Principien der
franzöfifhen Nation, Nationalruhm, Gleihheits: und Kreis
heit sliebe, wenn auch in ſehr ercentrifcher Seftalt, allein noch fich
vereinigen, und zwar zugleich mit der ganzen Energie und jugendlichen
Feuerktaft des franzoͤſiſchen Charakters, und weit eine vollendete Taͤu⸗
fung ber Freiheitsfreunde in dieſem Bürgerbönigthume weht, 018 ollek
26 | Jüftemilieu.
Anbere, den Glauben an die Monarchie erfchüttern würde. Freilich die
rohen been ber meilten franzöfifchen Republicaner waren lange Zeit
gerade bie beften Alliirten des Juͤſtemilieu. Aber diefes hat in dank⸗
barer Erwiederung dieſer Hülfeleiftung durch feine fortgefegten Fehler
auch diefe feine Alllirten auf's Kräftigfle unterflügt. Den Hunberttaus
fenden bereit mehr oder minder entſchiedenen Republicanern wuͤr⸗
den in folcher großen Erfchütterung fogleich neue Hunberttaufende ſich
anfchließen. Die noch keineswegs ſich mindernden ober verfühnten Les
gitimiften und die Immer mehr beroortretenden Napoleoniften,
ja der Eräftigfte Theil felbft ber Gründer des Julithrons, von
der früher dyn aſtiſchen linken Seite, arbeiten ihnen bereits kraͤf⸗
- dig in bie Hände. „Allgemeines Stimmredt, ein roher Er
oberungses und Kriegeruhm, der Raub unferes deutfhen Weſtens
und neue Allianz mit Rußland, um biefelben gegen Weberlafs
fung Polens und des deutſchen Nordoftens und, wie 1803 unb
‚1808, gegen Xheilung in das uns beiberfeits bereits angebotene beutfche
Protectorat zu erwerben” — biefes find jetzt in allen franzöfifchen Par⸗
teiblättern die täglichen Loofungsworte für den ſich immer mehr vorbe
reitenden Ausbruch des Kampfes. Die Republicaner felbft denken ſogar
noch an allgemeine Socialrevolutionen. Weberhaupt aber, im Uebrigen
uneinig, werden alle Parteien jest immer mehr einig in jenem neuen
Drogramme, in der Feindſchaft gegen die neue Regierung unb gegen
ben Frieden ber Welt, und bie innere Gaͤhrung waͤchſt täglih. Sind
nun aber biefe jegigen Loofungsworte etwa befler, als jenes gemäßigte,
mwürdige, von der Regierungspolitit in ben Staub getretene Programm
der Julirevolution? Sind fie etwa weniger unbeilvoll für ben Frieden
der Welt, die man auch jetzt noch durch Principien wird. aufjuregen
verfiehen? Sind fie insbefondere weniger unheilvoll für unfer ungläds
liches Deutfchland, welches immer weniger durch die verheißene gemein»
fame deutfhe Nationalfreiheit und Ehre, durch treue, ehrliche und
beutfche Politit gegen große Stürme von Oſten und Weften geeinigt
und gekraͤftigt iſt)? Und find in Frankreich etwa ber Prätendenten
und der meuchelmörderifhen Verfchwörungen gegen ben Julithron we⸗
niger geworben? Jene hält immer deutlicher auswärtige Politik bereit;
diefe regt ſtets auf’s Neue bie wachſende Mißachtung des falſche Jüftes
miliew unb feine moraliſche Verderbniß auf. Kann man fich wirks
lich endliche Sicherung durch bie bisherigen Mittel verfprechen, durch
fotche, wie fie noch geftern eine Zeitung des Jüftemilien zur Charak⸗
teriſirung dieſes Syſtems laut zu preifen wagte? Gie wagte naͤmlich
*) eben bebeutenderen Gruͤnden für bie Wachſamkeit nach beiden Geis
ten, wie fie auch bie Pentardyie an bie Hand gibt, iſt es vielleicht nicht
unbeahtendnert), daß berfelbe Durand, ber fo lange als Redacteur bes
Jo de Francfort ben Apoftel ruffiicher Politik machte , Pl als Rebas
eteur des Rapoleoniftifhen „Capitole“, ben ei ertheibiger jenes
neueren fauberen Programme macht. Doc das BVolk fieht Tange, woher uns
Werderben droht. Bebe Gott auch anderswo endlich Licht! |
.
Süftemilien. 27
gelegentlich der neueften Pulververſchwoͤrung und ber Beſorgniß einer
neuen Emeute das laute Bekenntniß: Keine Emeute der Republikaner werde
fortan gefaͤhrlich ſein, weil man liſtig ſo viel Verraͤther unter ihnen zu
erkaufen oder unter ſie zu bringen gewußt habe, daß von zwanzig Re⸗
pablicanern ſechs im naͤchſten Ausbruch ſelbſt auf ihre eigenen Camera⸗
den ſchießen würden. Und mo wird wohl der nur durch Materialie
mus gewonnenen Juͤſtemilieumaͤnner aufopfernde , nusharrende Treue
bleiben, wenn dee Kampf erſt ausgebrochen, wenn auch nur augenblids
(th factifch die Macht unterliegt? Sie werden kluͤglich und Häglich
jedem neuen Factum und jedem neuen Lohn huldigen. — Und wo vols
lends iſt jene außerordentliche moralifche Begeiſterung für die neue Vers
faffung und Dynaftie geblieben, die noch eine längere Zeit nad) ber
Jullrevolution und bis zur Enthüllung bes neuen Jüftemis
lieuſyſtems felbft die entgegengefesten Intereſſen und Parteien ver
madıte und Millionen Arme zur DVertheibigung bes neuen
Throne, der neuen Ordnung ber Dinge waffnete, welche felbft im Aus:
Lande eine fo furchtbare Gewalt auf die Völker ausübte, daß jede weiſe
Dolitit vor einem Krieg gegen Frankreich erzitterte und lieber folche furcht-
baren Verlegungen aller perfönlichen und Regierungsintereffen , wie die
durch die beigifche Revolution und Volksſouveraͤnetaͤt zugefügten, ge
duldig hinnahm? Noch einmal: nie in feiner ganzen Gefchichte ſtand
Frankreich ruhmvoller, größer, moralifcher und geachteter da, als bamals.
Und wohn but es die Juͤſtemilieupolitik gebracht? Don dem Innern
wilf ich nicht weiter reden. Gehe Jeder, wenn er den Zeitungen nicht
glaubt, nad) Frankreich, und frage er die Anhänger des Syſtems ſelbſt,
ob fie es achten, ob fie ed nicht bloß, weil und fo lange es ihnen dus
Bere Vortheile fihern Bann, oder megen ber großen Fehler der andern
Parteien vorziehen? Frage man nad dee moralifhen Auctorität
der Regierung, nach der Liebe und Treue für fi. Welch’ ein Zuftand,
wo der zuerſt beliebte Fuͤrſt fi nie ohne die argmöhnifchen Vorſichts⸗
maßregeln ber verhafteften Tyrannen oͤffentlich dem Volke zeigen Eann!-
Was die Stimmung im Auslande betrifft, fo frage man nur, ob die
Adytung der natürlichen Größe des Volks und des Throns ber früheren
Geſchichte und den Fortfchritten der Nation, ob fie vollends irgend ber
Julirevolution entfpriht? Frage man bei den Königen und Zürften,
den Adelichen und Legitimiften, welche ben Abel und bie Achtung des
Königthums, den Glauben an daſſelbe durch das Juͤſtemilieu verlegt
halten, welche für den Exben bes großen feanzöfifchen Throne fo harts
nädig felbft die Hand der kleinſten aller Prinzeflinnen für zu gut erflär
tm. Man frage, um von ben ungemäßigteren nicht zu veben, bei den
gemäßigten Sreiheitöfreunden, die ihr deal, die Freiheit, die repräfenta-
tive Monarchie, in Frankreich in den Staub getreten und um den Glau⸗
ben gebracht fehen! Dan frage bei den Freunden der fittlihen Ent-
wickelung der Völker, weiche in Frankreich die öffentliche Moral fo tief
berabgewürbigt fehen. Am Velten. brüden naiv bie Vertheidiger bes
Süftemilieu die buch fein Syſtem bewirkte Minderung ber inneren und
28 Süftemilieu. Jury.
äußeren Kraft und Achtung der Regierung und der Nation feit ber
Julirevolution aus, wenn ſie es jest bewundernd preiſen, daß
der arme Thron ja bis heute noch ſtehe, nut wanke, daß das arme
Frankreich von der Todesgefahr eines Krieges und einer Zerſtuͤkelung
noch verſchont ſei. Kurz, wenn: in ber und einige Zeit nach der Fur
evolution die Achtung und das Vertrauen zu der franzoͤſiſchen Nation,
ie Einfluß und moralifdes Uebergewicht größer waren, als je, fo
find fie durch) das Juͤſtem ilie u vieleicht tiefer herabgeſunken, wie
in irgend einer anderen Periode. Und wenn auch dieſes Soſtem ſelbſt
auf eine unblutige Weife geflürzt werden follte, und wenn ber feders
kraͤftige gefündere Nationalfinn alle anderen Werderbniffe und Gefahren
diefer verkehrten Politit uͤberwaͤnde und ausſchiede — die moraliſche
Verberbniß und die Betrachtung bes Herrlihen und Großen, was in
fo großer Beit die neue Megierung für Frankreich, für Europa hätte
ieiſten koͤnnen und follen — biefe werben dad Jüfemilten ewig
anklagen. Aber. audy bie anderweitigen Uebel und Gefahren ſtehen
wahrlich noch drohend genug vor unferen Xugen.
Darum alfo — im Interefle Frankreichs, Deutſchlands und Eus
ropas, im wahren Intereffe der neuen Dynaſtie ſeibſt — wiederhole
ich meinen Grundgedanken: „es werde bie Regierung erhalten durch
die Kräfte, welche fie ſchufen, und zwar nicht vermittelt des falſchen
und ungerehten Jüftemiliew, fondern durch die waber gerechte
Bermittelung N!“ Th. Welder.
Jury, Schwurs oder Befäworengeriäe als Rechts⸗
anftalt und ale politifhes Inflitut. Die großen Ges
breden unferer deutfhen Strafrechtspflege und das
Schwurgericht, als das einzige Mittel, ihnen grändlid
‚abzuhelfen *). — I. Begriff des Schwurgerihts. — Im
weiteren Sinne begreift man unter Schwurgeridt jede Ges
richtseinrichtung, bei welcher zur rechtlichen Werurtheitung eineg Buͤr⸗
gers eine Schuldigerkiärung von Mitbürgern oder Ger
noffen nothwendig iſt. Es gehört hierher jede regelmäßige Mit⸗
wirkung von Würgern oder Standesgenoſſen bei gerichtlichen Brspeb
ten. Das Schwurgericht im weiteren inne ift der Gegenſat einer
ch a
J
— fir un] Kinder und Mithher
Fi — ber — Hof, us das. ——— wird fie babur«
Jury. 20
Mechtöfprechung, welche vom Regenten, ober allein von richterlichen
Staatebeamten ausgeht. Der Name: Gefhmworene aber bil:
dete fi in alten und neuen Zeiten für bie mitrichtenden Bürger das
durch, daß fie gemöhntich für jede befondere Gerichtsſitzung bie treue
Erfuͤllung ihrer richterlichen Pflicht beſchwoͤren muͤſſen. Einerlei aber
iſts für den weiteren Begriff, ob, wie gewoͤhnlich beiden alten Ger⸗
manen und in manchen Fällen bei Griechen und Römern, ‘alle
Bürger eines Gerichtödiftricts ober eines Volkes, alfo bie Volks⸗
verfammiung, an bee Schuldigerklaͤrung Antheil nehmen dürfen, ober
ob, wie gewoͤhnlich bei Griechen und Römern, bei der germanifchen
Scyöffeneinzihtung und bei den neueren Geſchworenen, ein Ausſchuß
von Bürgern ober Genoffen die Uebrigen repräfenticen. Eben fo ift es
einerlei für dieſen weiteren Begriff, ob, wie größtentheils in
Rom und Griechenland und auch bei den Germanen vor ber Aus:
bitbung bes neueren Geſchworengerichts und, wie nammtlidh in den
Standeögenofiengerichten der Miniſterialen, Lehniente, Officiere und
neuerlich ber Standesherren und in den meiſten Schiebsgerichten, bie
Bürger oder die Genofien das ganze Urtheil allein fprechen, oder ob
fie, wie bie neueren Geſchworenen fih nur auf die Thatfragen
(die Entſcheidung über den Beweis) befchränten und die Rechtsfra⸗
gen (bie Gefegausiegung, die Beflimmung der Thatfragen und ber
rechtlichen Kolgen) ben vorfigenden Richtern überlaffen. Dagegen
flegt das tief in der Matur aller Volks⸗ und Genoffengerichte, daß
ihre Verhandlungen regelmäßig oͤffentlich und muͤndlich, nicht geheim
und umverftändlic für die Mitbürger und Mitgenoffen feien.
Im engeren Sinne verfteht man unter Schmurgericht nur
jene, zum Theil in Norwegen und Schweben, vorzüglich aber in Enge
land bewirkte zeitgemäße Ausbildung des altdeutſchen Schwurge⸗
richtes, welche jest in allen britifchen Ländern aller Welttheile,
m allen freien amerikaniſchen Staatn, in Schweden und
Norwegen, in Franktreih, Portugal, Spanien, Bel:
sten und allen Deutfhen Ländern bes linken Rheinufers
Statt finde. Hiernach hat eine Auswahl der zutrauenswürdigften
Bürger mit den juriftifhen Staatsrihhtern, unter deren Vor:
fig und Controle, in der Art zufammenzumirten, daß die Ge
fhworenen zunaͤchſt über die Thatfragen, bie Staatsrichter über
die Rechtsfragen entfcheiden.
Das Gefchworengericht im weiteren und im engeren Sinne
Tann Dann wieder, entweder wie größtentbeild In Rom und Grie⸗
hentand, wie im alten und mittleren Deutſchland, und mie noch
. heut zu Tage in England und Amerika, zugleih in Eriminals
und CEvilfahen Statt finden, oder fi) auf eine unferer heutigen
Cultur und der Nature der Sache entfprehende Welfe, fo tie in
Frankreich und in den deutſchen Ländern des linken Rhein-
ufers, auf Criminalfahen befhränten.
die Geſchworenen in ben peinlichen Proceffen koͤnnen nun tier
fahen abfolut wefentlich, daß beffer als jest in Deutfchland
NE EEE hen EI abi
ingi 2 0 be
lichen Gerichtsfhreiber, willtürlich und — erwieſene Ert⸗
ftenz irgend eines Vergehens ober genügenden Werdachts, die
Proceffe beginne: Es iſt fo wie in Frankreich, ein
vibler Richter mit einem Öffentlichen Gerichtsfchreiber
die Aufforderung oder die fofortige Hinzuziehung und Mitwirkung
nes inamoni ‚und eines. öffentlichen
—* * De —* im Seante
m 2 . y
und als vollends in Deutſchland, gegen. Schritte ber 7
Jury. 31
ſationſsrechtes als bie möglichfl vertranenswürdigen und
unparteilfhen auserwählt wurden, inider Art zuſam⸗
menwirken, daß nach vollftändiger öffenthicher und
mänbliher accuſatoriſcher Verhandlung dieſe Geſchwo⸗—
renen auf ihren Eid nad ihrer innigen moraliſchen Ue—⸗
berzeugung entweder die Gewißheit oder bie Zweifel:
baftigleie der Thatfahen der Schuld ausfagen, und
bie Staatsrichter im erſten Falle die Größe der geſetz⸗
liden Strafe, im zweiten die Losfprehung erkennen.
, I. Der geſchichtliche Urfprung einerfeits des neus
europdifhen oͤffentlichen mündblihen Anklageproceſſes,
vor dem Vereine iuriffifher Staatsrichter und bürgers
liher Befhworenen, und andberfeits unferes dbeutfhen
geheimen fhriftlihen Inquifitions= und Relationspros>
ceffes, vor blos juriſtiſchen Regierungsbeamten.
1) Des Shwurgerihtes aͤcht deutfhe Grundlage
und Natur. .
Man hat viel und gelehrt über die Entſtehung der beiden obengenanns
en geflritten, ber Hauptſache nach aber meift fehr einfeitig.
Das Sefhworengeriht im weiteren Sinne (I.) oder
das Mitwirken bee Mitbürger zu ber Schuldigerfiärung in Criminal:
proceſſen, fo wie das öffentliche mündliche accufatorifche Verfahren,
find in der That fo alt, als die Geſchichte freier Völker. Die Des
brder in ihren befieren Zeiten, bie freien Griechen und Römer
md alle freim germaniſchen Voͤlker kannten, wie e8 allgemein
zugeftanden ift, kein anderes. Selbſt die flauifchen Völker, fo lange
und wo fie Freiheit behaupteten und behaupten, hatten und haben
Schwurgerichte *). Es giit heut zu Tage in allen wirklich freien Stans
ten der gefitteten Welt. Noch gab es Fein Volk auf der Erde,
welches wahre ober verfaffungsmäßig geficherte Freiheit hatte, ober Dies
felbe behauptete, bei welchem die Bürger bie Criminalproceffe und mit
ihnen Ehre, Leben und Freiheit der Bürger im Dunkel inquiricenden
und richtenden Juriſten und Regierungsdienern überlaffen hätten. Die
Berichtsverfoflung aller civilificrten Völker der neueren Zeit
batte bis zum fpäteren Mittelalter im Wefentlihen gleihe Grund:
lagen. Diefelben beftanden — fo weit nicht Kampf, Gottesurtheil,
ober Eibhelfer die Gtreitigkeiten fchlichteten — in ber Entfcheidung
bes Volkes ober. ber Genoſſen. Diefe Entfcheibung erfolgte in den
altgermanifchen,, Öffentlichen, münblichen, accufatorifähen , allgemeinen
Bollsgerichten dee Gemeinden, Eenten, Grafſchaften, Provinzen und
des Reichs; daneben [dom ganz früh, fpdter immer mehr in den
Schoͤffengerichten, ober den Berichten ber vom Volk erwählten Repraͤ⸗
fentanten deſſelben. (&. oben Bd. I. S. 278. 305. Bo. IV. &. 372.)
Diefe leäteren, in der Regel (und ſchon nach ber Edda) zwölf an
*) Bergl. B. Evers, das Altefke Recht ber Ruffen ©, 285. 301.
82 u Jury. .
der Baht, mußten bekanntlich zum Gerichte erfchelnen, waͤhrend bie
fonft ſtimmfaͤhigen Glieder jener Vereine nur das Recht behielten,
wenn fie erfchimen, als fogenannter „Umfland” ihr Stimmrecht
geltend zu machen, unb dem Urtheile ihrer Repräfentanten . beizuftims
men, oder, aud) es zur Ändern. In den Seubalvereinen richteten die den
Volksgerichten -nachgebildeten Genoſſenſchaftsgerichte der Leibeigenen, ber
Hinterfafien , Minifterlalen und Vaſallen. Die allgemeine Reichägefeg:
gebung ber Carolina, biefe wichtigfte Grundlage noch unferes heuti⸗
gen gemeinen beutfchen Criminalrechts, erklaͤrt wenigſtens ein Strafurs
theil blos von Beamten und ohne Schuldigerklaͤrung der Volksgenoſſen
oder Schöffen im öffentlihen, muͤndlichen, aceufatorifchen Schlußver⸗
fahren für rechtlich unmoͤglich (S. „Earolina”.) Die ganzen Vers
eine der Genoſſen ober auserwählte Schöffen aus benfelben — „ge:
fhworne Gerichtsſchöffen“ nad dem Ausdrude der Carolina Ars
titel 88, oder: „Seſchworne“ geradezu, nad) dem Ausdrucke des Kai⸗
ſerrechts (1, 1.)umb anderer beutfchen Gerichtsordnungen, fo 3. B. nach ber
für da8 Landgericht des Klettgaues *) fprachen überall in Deutfchland und
meift bis zur Hälfte des vorigen Jahrhunderts, ja häufig, namentlich
in den Reichsſtaͤdten, bis zu Ende des deutſchen Reichs bie Strafur⸗
theile, und zwar theils nad) dem In Alter Welle die ganze, thells nach
dem nur bie Schluß⸗Verhandlung mit Oeffentlichkeit vor ihnen
Statt gefunden hatte. Außerdem hatten noch reichsgeſetzlich bis zur
Auflöfung des Reichs alle Angeklagten das Recht, durch Actenverfenbung
(ſ. den Artikel) die Zwiſchen⸗ und Emburtheile von einem unparteiifchen
auswärtigen Schöffenftuhle oder Sprucheollegium fällen zu laſſen, fo wie
auch die Volksgerichte ſich bei derfelben Raths erholen durften”), .
Ueber die Thatfache jener fpäteren Fortdauer der äffentlichen volks⸗
mäßigen Gerichte auch in allen Theilen von Deutſchland, kann für bie
Lefer der angeführten Schriftfteller über beutfche Gerichtöverfaffung
und Gefchworengeriht, und insbefondere auch der bi Maurer,
u —
”) Zentner, das Geſchworengericht. —— 1830. &. 167 ff.
**) Weber bie Bolkegerichte der Hebräcr iſt no immer Michgelis
Mofaifhes Recht Band I. $. 2. zu vergieihens über die der Gries
ben Bachsmuth's heilenifche Alterthumetkunde Band IL Ab⸗
teilung l. ©. 154 ff, Zittmann, griehifhe Staatsverfaffung
&. 193; außerdem bie befonderen Werke von Maier und Schömann,
Hefter, Platner, Yutwaller u. ſ. w.3 über bie‘ ber Römer
Schweppe, römifhe Rechtegeſchichte Seite 839 fig., über bie ber
Deutſchen enblih, namentlich auch die angebeuteten Grundzüge ihrer Eins
richtung, bie befannten Werke von Eihhorn, Savigny, Maurer u, ſ. w.
Ueber das Gefchworenengericht der Sarolina f. ben Artikel „Sarolina”
und über bie neuern Befhworenengerichte Mittermaier, Strafverfah-
ren St. I. 8. 13 — 44 ımb bie dort citirte Literatur. Die Abhandlung
über bas ſ(ſchwediſche, norwegiſche, tslänbifche, daͤniſche) Befhwores
nengeriht von Repp Überf. d Buß, (Freiburg, 1885) ik vorzuͤg⸗
lich auch durch die neuen Rachweiſungen ber Vebereinftimmung ber ftanbinaptjchen
und der übrigen germanifchen Hechtseinrichtungen, fo wie des uralt repräfen-
sation Sharakters der germanifchen Schöffen intereſſant.
Jury. | 88
S. 334. 392 ff. Mittermaier 15.13 ff. Zentner S. 164 ff.
gegebenen Nachweiſungen kein Zweifel beftehen- Nur zu befferer Ver:
anſchanlichung wi ich aus meinem nächiten Vaterlande einige Beifpiele
biefer beutfchen volksmaͤßigen und — felbft wenn kein Pri⸗
auftrat — wenigftens nach gefchloffener Vorunterfuhung
öffentlihen und accufatorifhen Strafproceſſe anführen. In
en, and in ben nicht altbadifchen, Landestheilen des Großher⸗
zogthums Baden befland, mie es zum Theil fhon Zentner in
ber angeführten Schrift und Duttlinger in feinem Archiv für die
Nechtöpflege des Großherzogthums Baden Bd. I. ©. 647
und neuerlich in einer öffentlichen Promotionsrebe actenmäßig nachwie⸗
fen, bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts das den Forbes
zungen der Reichsgeſetze und namentlich der peinlidhen Gerichtsordnung
Karl's V. entfprehende Schwurgeriht. Bor meinen Augen
legt unter Anderem ber ortenmäßige Bericht über einen im Jahre 1748
tm Durlach geführten Sriminalproceß, weichen bereite dad Durladyer
Wochenblatt (1838 Nr. 38 in einer Beilage) abdruden ließ.
Zu Gericht faßen: der fürflliche Beamte als Stabsführer, wels
der , ohne jedoch felbft ein Votum zu haben, die Verhandlungen ges
ſetzlich leitete, und dann zwölf buͤrgerliche Geſchworene oder
Blutrihter. Das Gerichtsprotocoll berichtet die Verhandlungen alſo:
„Actum Durlach den 4. Aprilis 1748.
„Peinlich Halsgeriht vor Herrn Rath und Ambtmann Pfeiffer
als Staabführer;
Aus Gericht und Rath als Btlutrichter: Herr Jacob Lindauer;
. Hear Johannes Hernig’ (folgen die zehn anderen Namen).
„Es bat fi) nemlich der Herr Rath und Ambtmann Pfeiffer als
Staabsführer mit obenftehenden 12 Gerichtss und Rathsperfonen nies
dergefegt, und nach deme ber Delinquent aus dem Gefängniffe abges
hole und in das arme Sünderftüblein auf das Rathhaus, fofort nad)
gehoͤriger Losfchliegung, in die in der Rathsſtuben befindlichen Schrans
ten durch bie darzu beftellte Buͤrgerwache geführet und vor das pein-
sche Halsgericht geftellet worden, ihnen allerfeits bie Urfache dieſes
peinlich angeflelten Blutgerichts umftändlich eröffnet, auch den desfalls
ergangenen hochfürftlichen Befehl öffentlich ablefen laffen, und ſodann
dem Stabdtknecht befohlen, das Gericht gemwöhnlichermaßen zu hegen
und ſolches oFfentlich auszurufen, daß niemand bei Leib» und Le⸗
ben⸗Strafe fi) unterftehen folle, während diefes Blutgerichts aufzuftehen
oder etwas zu reden, viel weniger thätlih zu handeln, er habe dann
bie Erlaubnis dazu von dem Herrn Staabsführer erhalten.‘
„Nach beme nun dieſes von dem Stadtknecht verrichtet worden, fo
dat dev Staaböführer den hochfuͤrſtlichen fiscalifhen Anwalt Herrn
$. ©. Hernig, bermaligen Rentlammerrath und Ambtd Keller dahier,
feine nomine fisci habende Klage anbringen zu dürfen, verwilliget,
welches foldyer auch ſogleich durch den Hofs und Ehegerichts s Advoca-
Staats s Lexiton. IX. 8
. . —
34 Jury.
tum Heren Wielandt verrichten und die Anklage Öffentlich ableſen, ſo⸗
fort felbige ad acta geben laffen.”
„Nach ſolchem iſt von dem Herrn Staabsführer dem Wertheibiger,
Herrn Hofs und Ehegerichtö:Advocato Breffand, ebenfalls erlaubt
worden, auf beruͤhrte fiscalifhe Anlage und, was er fonften zu feines
Giienten Vorftand beibringen koͤnnte, vernehmen zu laffen, welcher dann
feine Defenfionsfchrift ebenfalls oͤffentlich abgelefen und folde ſodann
ad acta gegeben. Auf weiche dann ber Herr Advocat Wielandt feine
gegen biefe Defenfioneierift abgefaßte Replik auch öffentlich abgelefen
und ad acta übergeben” aud; ad sententiam condemnatoriam sub-
mittiret hat.”
„Endlich iſt von dem Hn. Defensori eine darwider gefertigte
Duplik gleichfalls verlefen und in der Sache zu einem gedeihlihen Urs
theil vor dem Inquiſiten befchloffen worden.”
„Nachdem nun beide Theile fubmittiret und darauf nebft dem fis⸗
caliſchen Hertn Anwalt abgetreten, auch ber Maleficant abgeführet wor»
den, fo wurde folgendes abgefaßt : ’
„In peinlicher Rechtfertigung ſich haltend und zwiſchen des durch⸗
lauchtigſten Fuͤrſten und Herrn, Herrn Carl Friedrichs Markgrafen zw
Baden und Hochberg ꝛc. verordneten fiscaliſchen Anwald, Klägern an
einem und Johann Knoͤpfler, peinlich Bekiagten andern Thells, wird
die Sache fuͤr beſchloſſen an⸗ und die Urthel bis auf fernere Betagung
zu Bedacht genommen."
„Nach befcgehener Publication ift das Zimmer geſchloſſen (d”
bis dahin flattfindende Deffentlichkeit und Theilnahme des Publicw
alfo aufgehoben) und durch den Herrn Staabsführer bei diefem 7
ericht denen anmefenden Heren Blutrihtern fowohl aus dem I
. er
geen. derſelbe hlerbei zwei große &hle in dem Schwa⸗
Bm men Die ot: wi begangen, auch mit folden Umftänben,
oma, ‚mern er ber SEhäter nicht geweſen, nichts willen koͤnne,
eingeflanden, fo feine Meinung bahin, daß er mit dem Gtrang
wem Leber zum Tode gebradt * “
Es folgen nun bie gehn anderen Vota, alle mit eigenthümlich
ansgehrüdkten, zum Theil neum Gründen für die freilich harte, aber
offenbar den bamaligen pofitiven Geſetzen entfprechende Strafe. Sie
—* dabei, wie auch ſchon — sn j af bie on Defen:
or vorgebrashten, Bertgeibigungsgrünbe t. o fagt der 11te
Votant, der Mathövertvandte und Baumeiſter Gabriel Waag: „er
Bönne. nicht finden, wie basjenige, was von bem Herrn Defensore
vorgebracht worden, hinreichend feie, ben Delinquenten von der auf
dergleichen Diebftähle, wie er begangen, georbueten Strafe der Hinrich⸗
tung mie 2 dem Strange zu befreien, baher er auch denfelben dazu
verurtheile.
Die ſaͤmmtlichen Blutrichter, beſtehend aus fuͤnf Gerichtsverwand⸗
im und fieben Ratheverwandten, conbenmirten hierauf den Angeklag⸗
ten auch in bie Koften. Noch in ber Sitzung ward das Urtheil aus:
gefestigt, nachher voni Fuͤrſten beflätige und am 4. Mai vollzogen.
Die von Duttlinger ebenfalls aus ben Acten referirten Bälle
ſtellen im Weſentlichen völlig gleiches, öffentliches accufatorifches Ge⸗
richtsverfahren vor bürgerlichen Gefchworenenrichtern dar. So der am
4. Auguft 1726 in Carlsruhe ebenfalls Über einen Diebflahl vers
handelte —— frener der vom 80. Januar 1737, tn dem altbadi⸗
fhen: Amtsftätchen Emmendingen, gegen eine” Kindesmärberin 5
endlich ber vom 14: ‚Deisber 1771, in der damals öfterreichifchen Stadt
Freiburg, gan dam Änzer. Nicht minder thun daſſelbe
auch die bei enge befindlichen actenmäßigen Nachrichten von den
——ã— in den früher dem Bisthume Baſel zugehoͤri⸗
gen —S Damen Dppenau und Oberkirchz ferner in dem Laiferite
hen Landgeriht des Klettgaus, mo das öffentliche, volksmaͤßige
Gericht erſt gegen Untergang des Reichs endigte, ja, ſich in den an
egangenen Diſtricten bis in bie neuere Zeit erhielt
(Bentner ©. 166); ferner in der Benedictiner Abtei Set. Peter,
wo ſich 14 Bhrger als Richter finden — in den Ealferlichen Landgerich⸗
* in Schwaben, nach deren Gerichtsordnung von 1662 „Bürger
— Math der vier Gerichtsorte fo viele „Urtheiler‘ verord⸗
daß jedes Landgericht mit zwoͤnf tuͤchtigen Urtheilern vers
— werden inne; ferner in der Landgraffchaft Hauenftein, der
ren Srelbrief. von 1442 ihnen das alte Recht zuficherte, „in allen Din»
gen durch ein Bericht der Gleſichen und von keinem Fremden⸗
gerichtet Fe werben.” Hier wird von 24 Geſchworenen entfchieden.
Im WMeſentlichen gleich iſt auch das Verfahten in dm. Reiheftädten ;
86 \ Sur.
ſo in Neberlingen, weldes fie bie verſchiebenartigen Gadıem
fo verſchiedenartige Voikegerichte hatte, wie einſt Athen, und wo :uie
Griminalunterfuhungen vom Gyndicns, einem ⸗
rihtsfhreiber und zwei Marhsherren —
wurden, bie ſaͤmmtlichen Mathsher@n aber tichteten
und wo erft gegen Ende bes Reihe, 1803 ndnukh, bie Berichtshars
Zeit der Bürger aufhoͤrte; ferner in Gonkan, me wo erſt 1786 end
oͤſterreichiſche Verordnung das Volkegericht unterbrhdte; ferner in Of⸗
fenburg, Gengenbach und Beil und der reichefrelen Landgemeinde
des Harmersbacher Thales.
In Freiburg wurde in jenem von Duselinger, berichteten
Falle das Blutgericht gebildet vom — Bürgern, naͤmlich vom
fechs Rathsherren und 24 Bunftmeiften; in ——— aber
von zwoͤlf Srtsvorſtaͤnden, Wögten aus den umliegenden Dörfern. Im
DOppenau und Oberkirch wählten die Bärger aus ihrer Mitte auf
eine längere Beitdauer eine Anzahl geſchworene Schöffen, bie man,
von ber Zahl, welche .nothwendig zu einem Gerichte berufen werden“
mußten, Zwölfer-nannte. In Carleruhe und Emmendine
gen war felbft nicht einmal ein Iandesherelicher Beamter, fondern der
Drtsbürgermeiftee, der Stabhalter, oder Gerichtsporfiger. Deshalb ftims
men denn hier beide Stabhalter audy mit, während bie Iandeshertiie
hen Stabhalter in Durläc und Freiburg Seine Stimme hatten.
Daher kommen denn auch in titterſchaftlichen — aim Kaiſerſtuhle,
gleichzeitig, getade fo wie oftmals in den flandinatifchen Reihen, nıe
eif Geſchworene oder Blutrichter vor, indem jeder nicht Iandeöherrliche.
Stabhalter, als der Zwoͤlfte, mitvotict, Auch findet ſich der Unter⸗
8
Jur · 87
feinem Verthelbiger zu erbitten, ber aber dann nicht mehr mitflimmt.
Wogegen ſpaͤtere Serichtsorbnungen, z. B. die von Dppenau (bei
Zentner ©. 166), den Angeklagten freiftellten, von ben Rathsherren
ober aus dem Umftande (dem Publicum, welches zuhoͤrt) fi einen
Vertheidiger zu wählen, nicht aber aus den Schöffen. Ausdrädiich _
erwähnt dann das Carlsruher Protocol die dem Artikel 92 ber
Carolina emtfprechende, nach der Entfernung des Publicums Statt
findende gemeinfchaftliche Verhandlung der zwölf Geſchworenen, ihres
Vornehmens der Acten, ihres Vorleſens des Beſi⸗benungsprotocolls (über
das vor fieben Zeugen wiederholte Geftändniß des Angeklagten) und der
betreffenden Stellm der Carolina und des Landrechts. Hier bildete fich
übrigens nur eine Stimmenmehrheit von zehn gegen zwei abweichende
Stimmen.
Uebrigens wünfcht die badifche Malefizordnung von 1588 (I. $. 1),
bag wo möglich bie Öffentliche Gerichtsſitzung in einem Lage ges
endigt würde. Daß die Mitglieder des Gerichts aus den Gemeinderd«
then, ober Ortsvorftänden genommen, oder auf längere Zeit gewählt
werden, fordert das Geſetz nicht, fondern, fo wie auch noch die Mas
lefizordnung von 1710, nur: „daß fie fromme, gottesfücchtige, getreue
„Leute feyen, von ehrbarem, aufrichtigem Wandel, zwölf an der Zahl,
„und nicht unter 25 Jahren.“ Mach ber citirten Landgerihtsords
nung bes Klettgaus (I, 1 und UI, 3.) follen die Richter oder Ges
ſchworenen (eine größere Anzahl derfelben) jährlih neu ernannt, oder
beſtaͤtigt und für jeden Criminalfall 24 der tauglichfien Voͤgte ober Ges
ſchworenen zum Gerichte gezogen werden.
Die Deffentlicgkeit dieſer Wolksgerichte, überall menigftens bis zug
Beratbung der Geſchworenen, ergibt fi) aus allen Acten und Gefetzen.
Sa oftmals erhielt ſich ſelbſt bis im fpätere Zeiten die uralte deutfche
Deffentlichkeit der Verhandlung der Gerichte unter freiem Him⸗
mel. So hielt noch 1766 das Baiferlihe Landgericht im Klett»
gau offenes Bericht, mitten auf ber Kaiferftuhler Rheinbrüäde und we⸗
gen Störungen ber Schweizer feitdem, bis in die Zeiten ber franzoͤſt.
ſchen Revolution, eine Viertelfiunde davon entfernt, und nur dann
durfte wegen Kälte und Naͤſſe das Gericht unter Dach gehalten wer
ben, wenn auf das Öffentliche Ausrufen des Waibels: „ob Jemand
„vorhanden, dem das Recht nicht eben fo lieb unterm Dach als auf
der gewoͤhnlichen Rechtflätte wäre?” Niemand dawider ſich erkidrte,
wurbe das Bericht unter Dach gehalten*). Auch in der Landgrafs
ſchaft Hauenflein, in den Paiferlihen Landgerihten in
Schwaben, fo wie an vielen anderen Derten erhielt ſich diefe Art
der Deffentliägdeit unter freiem Himmel bis in's gegenwärtige Jahrhun⸗
dert **), SWBollends aber bie "Definung der Gerichtethuͤren, befonbers in
e 2 Landgerichtsordn. v. Klettgan fol. 27. Bentnera.adD, .
and 148.109 . u
tgie nad) dem Bisherigen bei den endlichen Ente
ſcheidungen bes Proceſſes das Verfahren an die gefehlichen Beftimmuns
gen ber Garolina ſich anſchloß, läßt fi) annehmen, daß man,
ftens noch in den befferen Berichten, waͤhrend ber Unteefuhung
diefelber befolgt, alſo namentlich audy mehrere, meiſt vier —2 tel
allen wichtigeren, mindeſtens zw ei bei den unwichtigeren (f. oberi Bd. TIL.
wart von fieben Zeugen, „in foͤrmilcher WBeficbenung
den, wovon dann dem vollen- Malefizgerichte das Protocol vorgelegte
wurde. Beeitich , das Mittel der Tortut iſt traurig, aber die Scheu
Jury. 89
hn, oder mehr eine anverzeihliche Umiviffenhett, wenn heut zu age,
Bde bie befcheibene Forderung einer Wieberherfkeitung auch nz ie
effenetichkeit umd einer zeitgemäßen Thellnahme ber am Bits
getichte uber ihre Mitbürger, eine Theitnahme in bee Art, daß ſte bioh -
duch Cntfheidung über die Thatfrage mit bem rechtsgelehrten
Staatsbeamten zufammenwirken, bamit befeltigen wollen daß fie
das Volk für noch unfähig, oder wohl dar biefe gerechteſte Forderung
als undeutſch, ja felbft wahrhaft majeflätsbeleidigend, als mit Deuts
ſchem Eh ume unverträglich erftäcen? In Baden Durlach
verbrängte Übrigens Die Beamtenmacht und das allmdlig immer gehels
mer werdende juriſtiſche Beamtengericht im Jahre 1753, in Baben
Baden aber erf Im Jahre 1786 das öffentliche Wolkögeriht*). Für
net erworbene Landestheile, in welchen es ſich noch in Trümmern erhalten
Batte, hob es auedruͤckiich erſt das Strafediet von 1803 ($. 6 u.17) auf.
In Schlesteig und Holftein, in den Städten und felbft- zum Thelie
auf dem Lande, haben fi) fogar noch bis jegt fragmentarifch die alte
deutſche Deffentlichleie und Mündlichkeit umd bie Bildung der Gerichte
durch Bürger und Landleute für Civil» und Criminalſachen erhalcka **),
Nur erft in den Zeiten twurde mehe und mehr die beutfche Nas
tion ihrer Öffentlichen Schwurgerichte, bie allerdings einer Reform, abet
„feiner Aufhebung bedurfter, Beraubt, als, bei machfender Schrankenigs
figfeit des fliefttichen Abſolutiemus, bee Despotismus ber Beamtenkafte
und der Höflinge alle nationalen, vollsmäßigen und freihettlihen Grunde
Tagen des baterländifchen Lebens, die Reichs⸗ und landſtaͤndiſche Were
faffung, die freien Gemeindes und Munkipafrechte In Stadt und Land
mit ihtem Haffe verfolgte, üuntergeub und zerſtoͤrte. — Gerade diefe
Berftörung aber. war es ja auch, melde die deutfche, nationale Bes
finnung und Kraft fo furchtbar Lähnte, welche unfere ehrwuͤrdige Reiches
yerfaffung Auflöf’te, die Fremdenherrſchaft, den Untergang fo vieler
Türftendäufer umd beinahe fhr immer ber Freiheit des Waterlandes ders
— uns 618 jeßt wiſchen unferer doppelten —
ar in unferer Zerfplitterung in einer wahrhaft ges
ran Sage ließ, in weicher nur zeitgemäße Herftellung, nationas
ler, vollängäfiger Snftitutionen, eben fo in der Mechtefi g, wie
In ber bereite wieder volksmaͤßig getworbenen Kandesgefeägehumg und Ge
meindeverwaltitäüg, bie Grundbedingung unferer Kräftigung
und unferer Rettung ifl., P "
&o wit das öffentliche Volks- oder Genoffengrticht überall in
in bey einzelnen Ländern, Städten, und Ständen in dem
fi he, wie noch Sreigeit dawerte, [6 turde es.Üben
up Ban Wieberermacen ber Freiheit niiederberaefkelit, ober.d
jurhägeföidert. — Go wurde es bergeftelle in Frankreich, Mors
— ———— ——
. Ba .
wig und —X il ie yeriee “en “
40 - Sum.
wegen, Spanien, Portugal, Beisten, unb bur:
dh ißee frllägre
Berbindung mit Fraukrelch auch in den preußifchen, be 1
und —8 hen Ländern bes linken Rhein: &o wurde
fommlungen der cönflitutioneilen beutfchen Gtanten
fengerichte duch die Umbildung der Volks: und ber feus
dalftändifhen Werfaffung in freie flaatsbärgerlicdhe
ftändifhe Verfaſſung.
Die vorzöglichften Unterfhiede des neueuropäifhen
Sowurgeriches von den fruͤheren Volksgericht en übers
Haupt beſtehen fuͤr's Er ſt e darin, daß an ben aͤlteren Volksgerichten
mehr oder minder die Maſſe der Bürger Antheil nahm, waͤhrend im
den neueren Schwurgerichten das Volk nur buch eine kleine auser⸗
waͤhlte Anzahl von Bürgen vepräfentirt if. Sodann aber
tichteten in dem Älteren Volkegerichten die Bürger über die That» unb
* die Rechtsfragen, bei dem neueren Schwurgerichte nur über die
leren.
Doch wie im geſchichtlichen Leben gewoͤhnlich die Verſchiedenhei⸗
ten ſich mehr einander annaͤhern, als in abſoluten Gegenfägen ans
einander treten, fo auch hier in Beziehung auf die beiden Hauptunters
fhiede der alten und neuen Wollsgerichte- Es nähern ſich für's Erſte
ſchon die bei den Athenerg in bie einzelnen Gerichtshoͤfe vertheilte
größere Anzahl ber Bürger, und vollends die zu Rom In die verſchie⸗
denen befonberen Griminafgerichte (Quaestiones) vertheilte Heinere Ans
zahl von Volksrichtern (Tudices), welche legtere ſchon ähnlich, wie bei
den neueren Criminalgerichten, unter Mitwirkung des Angeklagten auss
gemäte mar, srmi ſehr — der neueren Volksrepräfentation ber
" d u 8 od zahl
Ju. 4
Auch bei, den dentſchen Schöfferi, änthätt bie, ihnen nach * Ca ro⸗
line und für jeden Hall ſchwi "Becpösfrogen zur Pfüct
des Raths von Defiisveftänbigen fi for eine Art
iÖcänbtng auf bie Thatfragen... Und hierbei und weil fe bie
slnifden und kanoniſchen Gefege, melde durch die Juriſten leider in
fremder Sprache in die Rechtsſprechung allmälig eingedrungen waren,
nicht ſelbſt ſtublren konnten, machte es ſich natüclih, daß bie vorfis
genden jurlſitſchen Richter allgrmeift mehr und mehr Autheil an dem
Urtheite erhielten. Noch näher einem Geſchworenenurtheile blos über
die Thatſache ber Schuld ſteht ein anderes urdeutſches gerichtliches Ins
ſtitut aller ſchen Voͤlker, die Eidheifer oder die Ab ſch woͤ⸗
rung der Schuld zwölf oder meht Mitſchwoͤrer. So B
naͤmuch der Anklaͤger an die oͤffentliche n Geſchworenen wens
dete, um durch ſie den Ausſpruch der Schuld des Beklagten zu
erwicken / fo konnte dieſer oft daburch den Proceß beendigen, daß er
eine Anzahl Privatgeſchworene ſtellte, die, wenn fie mit ihm
ſelbſt einffimmig feine ünſchuld beſchwuren, ein Beweis für
biefefbe wurden unb ihn frei machten. Diefe Art-der Proceffchlichtung
(bei den Engländern Wager of Law, bei den Schweden Edh genannt)
fand theils — —* vor dem Volts· oder Geſchworenen ⸗
Gerichte Statt und war ſeht beliebt. Durch eine größere Anzahl
von Privatmitſchwoͤrern aber konnte auch hier der Ankläger gegen den
Angelogten fiegen.
Auch in den geiftichen Send» oder Synobalgerichten gab
es Schoffen, bie fpäter mehr auf die Thatfrage befchränkt wurden.
Die Bilhöfe hielten naͤmlich [dom fruͤhe bet ihren Kirchenviſitationen in
den einzelnen Kicchfpielen ein ae Stratgericht über veigiöfe Vers
geben. Ban nah den allgemeinen freien germanifhen
Srunpfägen richteten nun hier urfpränglich bie ganze Kite
’ Gengemeinbe, und mit ihe, oder für fie, bald ebenfalls, fo wie in
en weltlichen Berichten, aus ihrer Mitte erwählte Schöffen.
Fi —— der geiſtiichen Hierarchie und ihrer —— — Prie⸗
ftecfafte aber beraubten die geiſchen Vorſtehet dieſer Sendgerichte die
ne 2. —— inde und ihre kirchlichen Schöffen
Maar be kirchlichen Bußen, oder über die Kechtefrage mite
Mur das Eniſcheiden, ja immer Di nur das bloſe
mine nie — keineewegẽ fo vollſtaͤnbig und allge⸗
mein, als größten: den neueren engliſchen, und vollends bei den
frangöfiichen —A— Selbſt aoch Bladftone in feinem Com⸗
ment qr Aber das engliſche Recht (IV. 27. 38.) Lege den neusten enge
* *
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her, ais ein lebendiger @efetcn!
bee © ſammlung bie ganzen Wofksgefehe big berfagen muß
ten. te ſollten dagegen wicht .eigentiäch juriſtiſch ober Logifch befchränid
kend ober außbehnend en ober g bi }
Heralteter und [7 sehen.
hattet Strafgeſede en
tvend: } u
Be a En
etes hen mitderen Ste *
Was fol man nun ſagen von dem großen gelehrten Streltigkeiteng
mie und wo ba ernglifche und das franzöfifche, überhaupt das neuere Ges
ſchworenengericht entftänden fet; ob unmittelbar nur aus dem altheutſchen
Jury. 48
minifterialen unb Hoftagen, ber Sechfte von fürftiichen Privilegien ges
gen Uebernahme landesherrlicher Schulden, der Siebente endlich von
dee Entftehung der Landeshoheit und von der Nachahmung der Reiches
verfaffung unb reichögefeglicher Beflimmung ableiten wollte; während
doch die allgemeine wefentlihe Grundlage in den urbeuts
ſchen Frelheits- und Zuſtimmungs und Bewilligungsrech⸗
ten für alle gemeinſchaftliche Geſetzgebung, Regierung
und Beſteuerung beſtand, und jene anderen hiſtoriſchen Umſtaͤnde
zum Theile nur Momente der Ausbildung, der hiſtoriſchen
Geſtaltüng und der Unterftägung der ſtaͤndiſchen Verfaſſungen
wurden. Der tiefere, praktifchere gefchichtliche Sinn und die wahre Gelehrs
famteit des britifhen Blackſt oa e und unfere® deutſchen Tu ftu 6 Moͤſer
ftanden keinen Augenblid an, auf gleiche Weife das englifche Geſchwo⸗
tenengericht mie das deutſche Schöffengericht des Mittelalter, naments
ld) auch das der Sarolina dem Wefen nad) unbedingt aus ber alls
gemeinen germanifhen Volksfreiheit abzuleiten, aus dem
allgemeinen altdbeutfhen Rechte jedes freien Bürgers, nur auf
SGchuldigerliärung feines Volks oder feiner Mitbürger
verurtbeilt werben zu dürfen. Selbſt der Außeren Einrichtung
nah knuͤpften fie es mit Recht vorzugsweife an das altdeutſche
Volks⸗ und oͤffentliche Geſchworenengericht, bdeffen Eins
richtung aber in der Entwidelung vorzüglid von jenem Beweisin⸗
flitute der Privatgeſchworenen oder Eidhelfer beftimmt wurde.
Sie erklärten es zugleich auc aus der noch Älteren gefunden Vernunft,
aus dem wahren Naturrechte aller freien Völker, welche ſtets einfahen,
daß Gericht über Leben und Tod eine heilige allgemeine Angeles
genheit ifl, ein atle Bürger angehbendes Nationalredht,
welches unter ihrer Mitwirkung und unter dem moralifchen Himmels:
lichte der Deffentlichleit auszuüben fei, und daß zugleich ein befriebis
gender criminalcechtlicher Bewels auf andere Weife in der Megel nicht
zu finden ift, als fo, daß eine Anzahl der tauglichften Mitbürger, nach
möglichft vollftändiger eigener Anfchauung und Prüfung aller Perföns
lichkeiten, ihrer Ausfagen und Verhaͤltniſſe, ihre eidliche gewiſſenhafte
Ueberzeugung im Namen ihres Volkes ausfprechen. Sie erlärten bas
her biefe Mitwirkung des Volkes zu Criminalurtheilen für ein eben fo
unzerſtoͤrbares als uraltes Nationalcedht, obgleich es, wie das Hecht ber
Geſeteszuſtimmung oder das der Steuerverwilligung,, in verſchiede⸗
nen zeitgemäßen Formen auszuüben ift, früher in den mehr demokra⸗
tiſchen, jegt, nach Ausbildung der monardifchen ftändifchen Verfaſſung,
gleich der Geſetzgebung, in mehr monarchiſchen und namentlich, in anges
mefjenee Zuſammenwirkung von Regierung und Regierten ”).
Und babei wird es auch bleiben, mag man aud noch fo einfeitig
gelehrt aus den natürlihen Shwanklungen ber Snftitutio>
nen im Mittelalter einzelne jener Momente ber hiftorifchen Ge:
*) &. oben Bd. II, &. 276.
4 Jury.
ſtaltung unrichtig zus wahren Grundlage des ganzen Nationalinfiktı
ftempeln ober auch durch einzelne einfeitige juriſtiſche und politifche Mü
fihten und. Klügeleien feine wefentliche Gerechtigkeit verdunkeln woll
Gerade eben fo. aber, wie in Beziehung auf die ganze neuere ftändif
Monarchie alle Freiheitliebenden Völker der gefitteten Welt und ihrem
feren Staatsmänner immer mehr jenem tiefen praktiſchen Sinne
freien Briten huldigen, mit welchen fie felbft unter allem Drude d
potiſcher Eroberungs= und Feubalgewalt und‘ ihrer Ueberbleibfel d
ftets die freien Acht deutfchen Grundlagen ihter Geſellſchaft zugls
Biken und zugleich zeitgemäß zu wahtem organifchen Zuſamm
ange auszubilden mußten, fo verdient vor Allem aud das neu
Schwurgericht diefe Bewunderung ‚zumal wenn man vergleicht , tool
die übrigen germanifchen Wölfe und vollends bie deutfhen bei ge
gleichen Grundlagen ſich führen ließen.
Aecht deutſch blieb das neuere Schwurgericht, fo wie aı
noch jenes obem gefchilderte fpätere beutfche Volks oder Schöffen = €
richt nad) der Earolina, in der Hauptſache, ober darin: 1
Fein Bürger, verurtheilt werden durfte, ohne daß er durch achtbare 8
präfentatiom feiner Mitbürger und feines Vaterlandes nad accufat
tifher Sffentliher Verhandlung für ſchuldig erkld
worden war.
Aber wie viel weiſer und für Freiheit und Gerechtigkeit glüdtic
mußten die Briten daſſelbe rein deutſche Inftitut zu behaupten a
auszubilden! - Sie, erhielten es einerfeits gänzlidh rein u
frei von ben frembartigen zerftörenden Einflüffen
volksverachtenden Romaniften, die fie aus Parlament und Gericht j
ten, wie von aller hierarchifchen und -Panonifchen Inquifition, u
tetteten dabuch das Grunbinftitut bürgerlicher Freiheit a
mit ihm die Freiheit ihres Vatetlandes +) "und der Welt. Dage,
huldigten fie anderfeits der mehr monarchiſchen und neu
Jury. , 45
digſten Oeffentlichkeit und ber Mittheilung auch durch preßfrele Zeituns
gen eine mittelbare controlicende Einwirkung. Anderſeits übergaben fie
die Entſcheidung über Verlegung der Gefege und daraus entftehende
Nichtigkeiten bem aus den zwoͤlf recht sgelehrten Oberrichtern ge:
bildeten Töntglichen Öbergerichte, und gaben auch den rechtsge⸗
lohrten koͤniglichen Präfidenten des Schwurgerichts einige unten zu
errmähnende wichtige Mittel, ungerechten materiellen Entfcheidungen vor⸗
zubeugen ober abzuhelfen. Gleich weiſe aber vermieden fie es, aͤhnlich
wie fpäter bie Dänen und Schweden, den aud) dort das oberfte Se:
richt bildenden zwoͤlf Oberrichtern, feit diefelben vom Könige angeftellte
Nechtögelehrte waren, ferner als einem hoͤchſten Schwurgeriht — (mas
das Obergericht urfprünglich fein follte) — eine Oberentfcheibung im
ateriellen zu geben und dadurch eigentlic, das Weſen der Schmurges
richtsentſcheidung zu beeinträchtigen.
2) Auch die Ermählung der Gefchworenen wurde theild monars
chiſcher, theils aber auch in jeder Hinficht beſſer, als die der meiften
fpäteren deutfchen Schöffen. Zwar wurde der uralte Grundſatz, daß
fie VB ollsrepräfentanten, und zwar wie alle ©efege aller ger:
manifchen Völker ſtets forderten , eine Auswahl ber beften und acht⸗
barften Bürger des Volkes fein follten, ſtets feftgehalten. Er
galt auch fpÄäter eben fo gut, wie damals, als bie Schöffen auch
noch nad) Karl's bes Großen Geſetzen und in vielen ber obenerwähnten
fpäteren deutfchen Schöffengerichten unmittelbar vom Wolle erwaͤhlt
wurden, und dieſes die Sprüche feiner Stellvertreter noch reformiren
durfte. Jene Wahl gefhah natürlich auch früher in den ſtandinavi⸗
[hen Reihen, wo die Geſchworenen eben von ihrer meift in der Wolke:
verfammlung Statt findenden Ermählung zu jedem Schmwurgerichte bie
Ermählten (Nämnd, Näpninger), oder von ‚ihrer Eigenſchaft und
Micht der Wahrhaftigkeit die Wahrfprehenden (Sandemen,
veridioi) hießen (moher auch ihre Ausfprühe bier wie in England
Verdicte genannt wurden). Eben fo aber mie ſpaͤter in ben nors
difhen Reichen, fo wurde auch in England die Auswahl der Geſchwo⸗
venen durch die große Zheilnahme, welche einerfeits ſtets die Regierung,
anderfeit® beide Parteien, der Ankläger und der Angelagte, bei dens
felben erhielten, theil® mehr monarchifch, und einer Repräfentation des
ganzen WVaterlandes, alfo auch der jest fouveränen Regierung, wie
des regierten freien Volkes angemeſſen, theils zugleich parteilofer für
den Angeflagten, wie für den Anklaͤger. Es vereinigte in der lebten
Beziehung hoͤchſt vortheilhaft und organiſch Volksrecht und Königsrecht,
und die beiden Richtungen jenes alten Öffentlichen und des Privats
ſchwurgerichts und die in denfelben Statt findenden verfchiebenartigen Ein:
flüffe des Ankiägers und des Angeklagten auf bie Auswahl der Ges
fhworenm. Die Auswahl der neueren Geſchworenen vereint und bes
friedigt, wie fih unten zeigen wird, alle Intereſſen. Durch die ſtets
neue Auswahl für jede Gerichtsfigung und jeden Proceß aber gefchah
diefe® ‚mehr, und es blieben auch die Geſchworenen eine reinere Repraͤ⸗
20 Jury ·
ſentation des Volkes, als wenn, wie ſpaͤter oft in Deutſchland
bie
Schöffen auf längere Zeit ernannt oder mit ber bürgerlichen Magiſtra-
tur identiſch wurden.
3) Aud die Ernennung der Gerichtövorftände, welche in England
aus einem ober zwei der vom Könige umabfehbar angeftelten rechtever⸗
ftändigen zwölf Oberrichter beftehen, und melde nad) einem regelmäßle
gen Wechfel, ähnlich den Sendgraven Karl's des Großen, das Band bes
reiſen, ift ficher monarchifcher, als bie in alten Zeiten auch in Deutfche
land Statt findende Volkswahl ber Graven und Centgraven und in Stans
dinavien der Gefegmänner, ja felbft noch als jenes oben erwaͤhnte Präs
fidium der fpäteren deutſchen Schöffen duch Gemeindevorſtaͤnde. Dar
bei hat es aber auch zugleich, wieder etwas Nationales, der Idee eines
Ausfpruchs des Waterlandes Entfprechendes, daß der Präfident der Afs
fife nicht, wie fpäter der ſkandinaviſche Gefegmann, ein beflänbiger
Beamter des Diſtricts iſt, vollends Fein Wollziehungsbeanater, wie die
alten Graven und Gentgenven, ober wie etwa einer ber beiden jegigen
engliſchen Gravſchaftsvorſtaͤnde.
4) Auf's Neue aber iſt es monarchiſcher und zugleich ber
höheren Civitiſation mit ihrer Thellung ber Arbeit entfprechenber,
für’6 Erſte, daß die Vorſtaͤnde des Schwurgerihte (mie allermeif
auch die Anklaͤger und Vertheidiger) rechtsgelehrie Beamten, aber freie
uch — ftatt dee Romaniſten und Kanoniften — vaterländifhe Rechts.
gelehrte find, mährend häufig auch noch in dem fpäteren Schöffenges
richten Nichtjuriſten präfibirten; fodann auch das, daß Alles, was
gelehrte juriſtiſche Kenntnig erheiſcht, den Rechtsgelehrten, der, wie ſich
zeigen wird, durchaus nicht techniſch juriſtiſche Ausfpruc über Die
Aury. 47
5) Ungleich foͤrderlicher für Gerechtigkeit und Freiheit iſt auch
darin das engliſche Schwurgericht, daß es feſthielt an den altdeutſchen
Srundfägen, daß, verſchieden von dem ſpaͤteren deutſchen Schoͤffengerichte,
die ganzen Hauptverhandlungen, alfo auch bie Ausſagen bes
Angeklagten und aller Zeugen ſtets vor ben Augen und Ohren
des ganzen Gerichts in oͤffentlicher accuſatoriſcher Verhandlung Statt
fanden, und Richter und Geſchworene, Anklaͤger und Vertheldiger belie⸗
bige degn an dieſelben ſtellen konnten; und endlich
6) daß hierdurch, durch die Zuruͤckweiſung aller romaniſtiſchen und
hierarchiſchen Einflaͤſſe, das engliſche Criminalverfahren ſich frei hlelt,
oder doch laͤngſt ſich wieder völlig frei machte von ben unten zu ſchildern⸗
den unheilvollſten Erfcheinungen unferes deutſchen Criminalproceſſes,
von dem Wahne einer juciftifchen Beweistheorle mit ihren ſchauderhaf⸗
tem Folgen, ber alten gefeglichen Tortur nämlih und der neueren uns
gefeglichen ber Sabre langen geheimen Inquifitionss und Kerkerqualen,
von den Verdaches⸗ oder aufßerordentlihen Strafen und den lebenslänglis
hen Verbächtigkeitserfiärungen und DVermögensberaubungen buch bie
Losſprechungen von der Inftanz-
8) Die Entflehung unferes heutigen geheimen ſchrift⸗
lihen In quiſitions- und Relationsproceffes vor blos
juriffifhen Regierungsbeamten durch die bierardhifche
Snqauifition und die unvaterländifhe Jurisprudenz,
duch Beamtenherrſchaft und Abfolutismus und ihre
vereinte Zerfiörung der vaterländifchen Freiheit und
Verfaſſung. — Nur in ſolchen germanifchen Ländern, wo, wie in
Deutfhland, die fremden in einer * die Volksrichter unverſtaͤndlichen
Sprache geſchriebenen roͤmiſchen, kanoniſchen und lombardiſchen Rechts⸗
buͤcher allgemeine Geſetzeskraft erhielten, mithin nicht in Schweden und
England, bildete ſich mehr und, mehr das unnatuͤrliche, geheime in⸗
quifftorifche Beamtengericht aus.
Schon frübzeitig im Mittelalter hatte die Geiſtlichkeit, zunaͤchſt
angeblich aus der Sorge für das Seelenheil (sacramentali ratione)
für Kichens und Sittenzucht, dann aber immer mehr zur Ausbildung
ihrer theoktatiſchen priefterlichen Oberherifchaft eine große kirchliche
Buß⸗ und Strafgewalt uſurpirt. Diefe übte fie früher nach ben
Grundfägen der freien deutfchen weltlichen Gerichte, immer mehr aber
auf eine geheime und inquifitorifche Weife aus. Go gefchah es nad
— — — —
waͤhrend dig alts und neudeutſchen, und namentlich auch bie ſtandinaviſchen Bes
ſchworenen ald Richter fehr natürlich flets nach Stimmenmehrheit entfchieden.
Das doppelte Element ber Entwicklung bes englifhen Schwurgerichts übrigens
veranfchaulicht der Anfang des Criminalproceſſes. Will der Angeklagte
bei demſelben fogleich freiwillig fich ſeibſt ſchulbig bekennen und auf die „Prüs
fung ber Sache durch's Schwurgericht“ verzichten, fo entſcheiden bie Staats⸗
richter allein, will er das nicht, fo fordert er buch das erlangen, „durch
Gott und fein Waterland gerichtet zu werben”, die Jury⸗ 0
48 Sur).
dm 2 null; dem mefptiinglich ——
6 f
seen Beahen —
Spftems hierarchifch⸗ theokratiſcher Hertſchergewalt, Inmocenz I
fer bed eigentli ionsp J
denfelb; nur den geiftlichen Gerichten vor**); doch 6
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Zu dem bieracchifch » fanatifcen Treiben der Geifttichkeit und
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Sie führten aus dem wömifchen. % die Sklaventortur für
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Vorzüglich, die ferne —— Eeler⸗ und Heren
zuerſt im den geiſtlichen, und dann in den weltlichen Gerichten, d
[hrunäpe ausge Ausgeburt de Sirrardie, * zu dleſer ungtädlichen 1 u
Ma mäshias
Sum 49
das vaterländifche öffentlihe Geſchworenengericht fanc:
tionirte, da verfolgte die unvaterländifche Juriſtenkaſte das vortceff-
liche, auch vortrefflich deutſch gefchriebene Geſetz mit Haß und Spott.
Selbſt zu theilweifer Anwendung kam das treffliche Reichsgeſetz zuerft,
als es aus ber beutfchen — „ver Bauernſprache“ — in bie Ge⸗
lehrtenſprache, das Lateinifche, überfegt war. Mit ber Ausbil:
bung des färftlichen Abfolutismus vollends wuchs die Geringfchägung
der kaſtenmaͤßigen Hof» und Beamtenariſtokratie gegen alles Volks⸗
mäßige. Ihnen mußten natürlich mit allen übrigen fielen deutſchen
Nationalrechten auch die Befchmworenengerichte unterliegen. Jene Greuel
bes geheimen Inquifitionsproceſſes, feine Tortur⸗, feine Kerker- und
Juſtizmorde wuͤtheten fort, und die unnatärlichfte Proceß⸗ und Ge⸗
sichtseinrichtung entwidelten und verbreiteten fi) immer mehr*).
Leider benusten die Fuͤrſten die roͤmiſche Juriftens und Beamten:
kaſte für die Ausbildung abfoluter fürftliher Gewalt. Selbſt der Kai⸗
fer Maximilian begünftigte fie in diefer Richtung in feinen Erblanden
und zu vermeintlicher Rettung feiner fuͤrſtlichen Macht im Reiche.
So war denn aller Kampf einfichtiger Vaterlandsfreunde gegen diefelbe
verge 98106 verhallten die furchtbaren Klagen gegen diefe
-Doctoren ber fremben Rechte in ber fogenannten Reformation Kaifer
Friedrich's III. und in Ulrih von Hutten’s Schriften und Briefen.
Erfolglos blieben ihre Worfchläge: ähnlich, wie befanntlidy die Englän:
der umb Lange Zeit hindurch auch die Schweizer **), zur Rettung ihrer
Pationalfreiheiten, gethan hatten, die Doctoren der fremden Rechte aus
den fländifhen und Gerichteverfammlungen auszuſtoßen. Vergebens
blieben ber Bauernkriege blutige verzweiflungsvolle Bemühungen gegen
bie rechtswidrige Zerftärung altbeutfcher Volksrechte; nur voruͤbergehend
wirffam der Würtemberger und anderer beutfchen Volksſtaͤmme
Kämpfe für Ausſtoßung der Romaniften aus ihren Gerichten. Sn
- Würtemberg namentlid forderten die Stände 1514: „wenn bie
„Sache Untertbanen beträfe, die Doctoren nicht zu Rathe zu ziehen,
„das Hofgericht „mit ehrbaren, redlichen und verftändigen” Perſonen
„vom Adel unb von den Städten zu befegen, die nicht Doctores feten,
„auch ferner die Beſchwerde ber Gelehrten zu bedenken, welche merk⸗
„lich bei allen Gerichten durch das ganze Land bei ihren Handlungen
*) G. überhaupt oben: „Ableugnung”, „Anklage”, „Garolina“
„Bolter‘ und „Jurisprudenz“.
”) Gerſt lacher, Sammlung der Würtemb. Geſetze I. ©. 70.
Unter Anderen wies ein fchweizerifcher Gerichtsvorſtand, als eine Partei fi) aus
dem nachbartichen Gonftanz einen Doctor hatte kommen laffen, der ſich nun
auf römifches Recht und feine Gommentatoren Bartolus und Balbus ber
rief, mit den Worten zurüd: „Hoͤrt Ihr, Doctor, wir Schweizer fragen nicht
„nach ben Bartele und Baldele und andern Doctoren. Wir haben fonberbare
„Landbraͤuche und Rechte. Raus mit Euch Doctor!” — Ulzich von Huts
ten (Ulrici Huttenis in Neminem praef. Bas., 1518) klagt unter Anderem:
„Die Bartoliften liegen wie Schwämme in den Ohren der Fürften. Nach ihrem
„Rathe werben jegt die Staaten regiert.”
Staats »Errilon. IX. 4
50 Jury.
„einbteche, fo daß jegt Einer, dem Rechtens noththue, mit 1
nicht davon tomme, der vielleicht vor 12 Jahren mit 10 Hellern
Sache gar gerichtet hätte”). Aehnliche Beſchwerden der Stände
tönten in Medienburg, Franken, Böhmen, Baitern
Eine Verordnung vom Derzog Georg von Baiern hilft hie
unvollitändig ab durch bie Beſtimmung, „daß allweg mehr Kandlı
„als Doctores genommen werden follen *+*).” Beſſer, aber nicht
wirkſamer fuchten viele landſtaͤndiſche Verträge durch die Beſtimm
abzuhelfen: „es folle auch auf Tagen der Nechtfertigung kein „DA
oder Licenciat gebraucht werden +)"
So entftand und fo befeftigee ſich unfer geheimer Inquiſiti—
proceß. Ergeiffen von ben neuen lauten lagen, welche bei dem 9
dererwachen der Lichtſtrahlen geiftiger Freiheit und Bildung zu €
des’vorigen Jahrhunderts Thomafins, Bercaria und die ı
böhere Cultur hervorriefen, ſuchte ziwar allerdings fürfttiche Huma
eifrig feine auffallendften Graufamkeiten, die gefegliche Tortur,
Hätte vieler Strafen, die Güterconfiscationen zu befeitigen. Dody
Zuriften wußten bald ihre guten Abfichten zu vereiteln. Die gefe
Tortur wurde bald durch noch viel furchtbarere und gefährtis
ungefegliche Torturmittel und durch immer größere Dauer der Km
fitiond = und Kerkergualen während der Unterfuchung erfest. Die]
löfung des Reichs aber und der Despotismus der Rheinbundesep
brachte unferen criminalgerichtlihen Buftand neues, großes Ung
Die Reſte alter Volks» und Gemoffengerichte, der accufatorifchen 4
richtung und ber altdeutfchen Deffentlichkeit des Griminalprore
welche bisher noch der Verfolgung der Momaniften und Regierm
Sum. 51
mM. Das Wefen und die Wirkungen ber beiden Pro:
ceßarten unb Gerichte: 1) die unferes geheimen inqui—
ftitorifhen Relations: und Beamtengerichts. Zunddft
Beranfhaulihung berfeiben buch einige actenmäßige
Griminalgefhidhten.
Die Bedingung der von der Gerechtigkeit und Menſch⸗
lichkeit geforderten Aufhebung mangelhafter und verderblicher Einrich⸗
tungen beſteht barin, diefe Mängel möglichft klar zu machen. Viel⸗
leicht iſt es heilſam, der allgemeinen Schilderung ber Mangelhaf⸗
tigkeit unſeres deutſchen Criminalproceſſes zur lebendigeren Veranſchau⸗
lichung einige wenige Criminalfaͤlle, wie fie ſich zufällig gerade zu⸗
naͤchſt darbieten, vorauszuſchicken.
Zu erſt mögen einige Beiſpiele das in Deutſchland leider nur
allzu häufige grundloſe Beginnen von Criminalproceſſen
unb die Unndthigkeit und Willkuͤrlichkeit der Frei:
heitsberaubungen in denfelben veranfchaulichen.
So erzähle Efcher in feiner Lehre von dem firafbaren
Betruge Zuͤrich, 1840. ©. 128. und eben fo das Neue
Archiv des Criminaltehts Bd. II. ©. 634 aus dem Ks
nigreiche Baiern den folgenden actenmäßigen all: Gelegentlich eines
Givitproceffes wurde ein Bürger, der durch Öffentliche gerichtliche Urs
Tunden fi zuerft eine Schuidforderung von 1800 fl. hatte cediren
loffen, um fie auf eine dem wahren Gläubiger bequeme Weife
“gegen eine Provifion für diefen beizutreiben, und fie ihm dann zurüds
cedirte, bei der ehrlichften Dandlungsweife von dev Welt, die auch kei⸗
nen Menſchen befchädigt hatte, dennoch, weil er natürlich bei der Bei⸗
treibung materiell unwahr jene Sorderungen als fein Eigentbum aus:
gab, dur eine unbegreifliche juriftifche Begriffsverwirrung als angeb⸗
licher Betrüger in Haft genommen. Ja, es wurde derfelbe durch Ober:
gerichtebefchluß auf die Acten in Specialinquifition verfegt. — Noch
mehr, der ebenfalls vollig unfchuldige wahre Gläubiger wurde, „um
Gollufion zu verhindern, ebenfalls eingelerkert, bis denn nach
Verlauf beinahe von einem Jahr ein höheres gerichtliches Erkenntniß
dem graufamen Unfuge durch Aufhebung aller Unterfuchung glüdlicher
Welle ein Ende machte,
Über denke man nicht, daß die unglüdlichen Opfer unferer ge
heimen KBeamtenjufliz und ihrer KBegriffsverwirrungen immer fo
—5 find, einen Jahre langen Unterſuchungsarreſt wenigſtens mit
— beendigt zu ſehen. Nein, derſelbe Eſcher berichtet S.
266 ff. au demſelben Koͤnigreiche blos aus dem Capitel der Betruͤ⸗
gerei, zunaͤchſt der Unterſchlagung, fuͤnf verſchiedene neuere Faͤlle, in
welchen ehrliche Buͤrger wegen durchaus nicht verbrecheriſcher und ohne
alle Abſicht der Eigenthumsbeeintraͤchtigung vorgenommene Handlungen
ohne Anklage in quiſitoriſch in Unterſuchung genommen und ale
Verbrecher verurtheilt wurden. Ein Mann z. B., welcher für einen
“ Anderen Gelder einzufordern hatte, verwendete davon eine Summe für
%
—
52 Jury.
ſich, berechnete ſich aber aus freiem Antriebe ſogleich bei ber Abtiefei
darüber mit:feinem Auftraggeber, zog feine Koften ab;, -ftellte ihm
den Neft von 70 fl. einen Schuidſchein aus und verſprach dieſen
juverdienen. Er hatte auch wirklich bereits 40 fl. daran abwerb
als plöglic der Aermſte ohne alle Klage des Gläubigers vom
beiminquifitsrifhen Amtswegen in Unterfuchung gegogen
vom Griminalgerichte als Verbrecher beftraft wurde. Gleich enpd
für den gefunden Menfchenverftand und das Gerehtigkeitsgefühl
die vier Übrigen Fälle, wo völlig unſchuldige Leute meift bei Geh
heit von Civuklagen inquiſitoriſch in Criminalunterfuchung genom
und nur zwei ‚fo gihdlich waren, durch vernuͤnftige Griminalgel
freigefprodhen zu werden, während die zwei Anderen ebenfalls ſchu
veructheilt wurden. Es waren aber diefes Richter, die nach beim
Deutſchlands erftem Eriminaliften, nad) dem von Feuerbach
morfenen ‚Strafgefegbuche richteten. Weiter unten noch mehrere Ahr
Beifpiele aus anderen deutfchen Laͤndern, namentlich aus Baden (IN
Nicht minder häufig find leider ſoiche Fälle, welche die Imı
fitions- und Kerkertorturen, die baburd hervorgel
ten, völlig falfhen Geftändniffe und Ausfagen ge
Mitfhuldige, und bie fo bewirkten falfhen Verurt
Lüngen veranfchaulichen. '
Der aus ber Provinz Shdpreufen, von dem edlen preufi
Suftizminiftee von Arnim in feinen teefflichen Bruhftüäden d
Verbrechen und Strafen ©. 44 ff. erzählte Fall wird
zuͤglich durch feine Einzelnheiten und des Verfaſſers Bemertu
ſtets Iehrreich bleiben. Im Jahre 1800 wurden wegen Brandfth
in zwei Städten, Sieraz und Wartha, fieben Perſonen
haftet. Schon durch die Polizei: und unteren Juſtizbeamten, u
von ihrer Schuld völlig überzeugt, ihnen mit Mißhandlungen
Zum. &8
fiten bie Stabt Sieraz und Wartha nicht angeſteckt Haben koönn⸗
ten, indem fie zur Zeit der Anzinbung von den Brandflätten theils
meit entfernt, theild dergeftalt beobachtet worden waren, baß fie
durchaus nicht die Branbflifter hatten fein können.” Sie wurden nun
natürlich, als ganz unfhuldig, völlig frei gefprodhen. Le
biglich die geheime Snquifitionstortur, bier Schläge in ber Form
von Lügenftrafen und von Strafen wegen Verweigerung
beflimmter Antworten, Torturen, von benen die Acten, fo wie
„faft regelmäßig” (S. 52), fo auch hier, nichts oder doch nur hoͤchſt
weniges Unvoliftändiges (S. 45. 51. 54) und Unverfängliche® enthiel-
ten, und, wie ein Inquiſit ausfagte, „die wahren Martern des vielen
„Bernehmens” (S. 66) hatten bei fe hs Männern die zum gewiſſen
Tode führenden, fo beharrlich wiederholten, völlig übereinftimmenden,
falſchen Ausfagen nicht bloß gegen fich felbft, fondern gegen ihre un:
fAuldigen Unglädisgenofien, fogar den ernftlihen Wunſch baldigen
Todes erwirkt und hätten, ohne Dazmwifchenkunft eines reinen Zufalls,
in einem auf feine Juſtizeinrichtung folgen deutfchen Staate den
(Haubderhafteften Juſtizmord herbeigeführt. Der Eine der Inquiſiten
jebod tar bereit in der Unterfuchung, in Folge ber gleich Anfangs
von den sinteren Polizei= und Suftizbeamten erfahrenen Mißhandlungen,
wirklich geſtorben. Und die angeblichen Lügenftrafen maren der Art,
daß bei der neuen Unterfuchung, nach Entbedung ber Unfchuldsfpuren
officteß für einen Inquiſiten, den ſtets leugnenden Joſeph, einige
Hundert tuͤchtige Kantſchuhiebe zugeftanden wurden. Der Eirie der
Inquiſiten Übrigens fcheint ohne eigene Prügel, blos duch das Bels
fpiel feiner Leidensgefährten, und ein Anderer eben fo durch einen im Un⸗
gluͤck ihm entftandenen Lebensüberdruß zu den ſtets erneuerten falfchen
Ansfagen gebracht worden zu fein.
Herr von Arnim erzählt noch einen andern Fall, welcher fich
faft gleichzeitig in der preußifchen Graffhaft Marl ereignete. Eine
Familie Riffelmann kam zuerſt wegen unbebeutenden Diebftahle,
und als num fcharfe Züchtigungen bes arretirenden Militärs von dem
einen Sohre ein Geſtaͤndniß erpreßt hatten, auch megen anderer in ber
Gegend vorgefallenen Diebftählen und Räubereien und felbft wegen
eines Raubmorbes in Verdacht. In den Worunterfuchungen brachten
es nun das arretivende Militäv und die Polizei duch Mißhandlungen
und Suggeſtivfragen nicht blos zu den ermünfchten Geſtaͤndniſſen, fons
dern auch zur Anzeige fehr vieler zum Theil in der Gegend anſaͤſ⸗
ſigen Mitfchulbigen. Man brachte fie alle zum Arreſt und lieferte
dann fpäter die ganze fogenannte Bande an das competente
Griminalgeriht ob. Hier wurden die Mißhandlungen,, wodurch bie
falfhen Ausfagen erprobt, vollftändig nachgemiefen,, und zugleich
wurde duch die fchmwierigfle Unterfuhung die voͤllige Unſchuld
aller Angefchuldigten ausgemittelt. Mur ber eine Sohn Miffel:
mann's wurde wegen eines Bettdiebſtahls zu zweilähriger Zuchthaus
ſtrafe verurtheilt, während beren er jedoch „nach langen Leiden,
54 Zum.
„als wahrfheinlihen Folgen der bei feiner Arretiri
„erlittenen empörenden Mifhandlungen, im Keı
starb.” Sein Vater wurde als der Theilnahme am diefem =
ſtahle verdaͤchtig (!) verwetheilt zu dem überftandenen Ar
Einen Ähnlichen Fall erlebte ich ſelbſt in meinem Vaterlande |
fen im Amte H., einen Fall, welder auch dadurch merfroätrbig |
daß der hier allzu eifrig auf Entdeckung der von ihm geglaubten Se
binarbeitende Inquivent ein ſehr ausgezeichneter Juriit von ehrem
them Charakter, ein jetzt Hochftehender Beamter, war.
Bon den merkwürdigen Einzelnheiten aus der trefflichen Dal
lung des Herrn von Arnim kann hier nur Folgendes Platz fin
Der vielerfahrene preußifche Juſtizminiſtet bemerkt vor ber.
zaͤhlung jener durch den deutſchen Inquiſitionsproceß verſchuldeten
desurtheile · gegen fechs unſchuldige Menſchen und jener beiden &
ihn berbeigeführten Kerkermorde ausbtüdtih (S. 44), daß ibm
Raum nicht verflatte, in Beziehung auf die ungluͤckſeligen Wirku,
unferer neueren Suguifitionstorturen „eine Menge von Beifj
‚ten aufzuftellen, am welden es ihm nicht fehle.’
| Er fpeicht ferner ausführlih von „dem nur gar zu. beta
„ten Dange der meiften Inquirenten zum Peinf
„und Schlagen ber Angefhuldigten‘ (S. 38), und fi
ihn „fo natürlich, daß diefem Mißbrauche Faum mit der größ
Strenge zw ſieuern ſei.“ „Der Inquitent“ — fagt er — „mil
„an dem allgemeinen Intereffe des Publici Theil, den unbekannten
nbeber eines Verbrechens Eennen zu lernen. Ihn fordert überbies
Jury. ‚8
„laͤßt*), wie kann man fi) wohl wundern, wenn beinahe alle Inqui⸗
„renten, felbft junge unerfahrene Referentarin — gewiß ſehr oft
„ganz den die Abficht des Gefeges — von jener Erlaubniß in vol:
„tem Maße Gebraudy machen.”
Faſt mathematiſch anfhaulidd maht dann ber erfahrungsteiche
Minifter (S. 35. 49. 72) die Mustofigkeit der Beſchraͤnkungen des Ge:
+ feges, „baß, um den Verhafteten zum Geftändniffe zu bewegen, feine
„gewaltſamen Mittel angewandt werben, und daß Schläge blos ale
‚Strafen des Leugnens und der Verweigerung beftimmter Antworten
und der Angabe des Aufenthaltes der geftohlenen Sachen eintreten -
folen. Die durch Eifer oder Leidenfchaft befangenen Inquirenten,
welchen in ihrer geheimen Inquifition gegen den fchuglofen Inquiſiten
Alles überlaffen ift, geben nah fubjectiven Anfihten auch allen
foihen Strafen die Zendenz der Geftändnißerpreffungen und diefen
die Form von jenen. Dartnädiges Ableugnen der zugemutheten Schuld,
Unwiffenheit, wirkliche oder fcheinbare Widerſpruͤche in Beziehung auf
die vorgefaßten Anfichten des Inquirenten über den angeblihen Sach⸗
verhalt, vollends jedes, auch das wahrſte Zuruͤcknehmen wirklicher ober
f&heinbarer Zugefländniffe verdient nach ihnen gefeglich beliebige Züch-
‚tigungen. So erhielt, wie Hr. v. Arnim (S. 72) nachweiſet, felbft
ohne Verlegung des Buhftabens bes Gefeges, jener Eine,
mit Recht leugnende unfchuldige Inquiſit feine etlihe hun»
dert tuͤchtige Kantfchuhlebe; fo wurden er und feine Unglüde:
genoffen zu jenen furchtbaren total falfchen Ausſagen gegen ſich felbft
und gegen einander chne eine buchftäbliche Gefeßverlegung beftimmt.
Mertwürdig aber find die aus den Acten mitgetheilten Beweiſe
von der Furcht, welche die meilten diefer Inquiſiten vor diefen Inquiſi⸗
tionstorturen hatten. Lieber wollten fie zulest auf dem Richtplage durch
Henkershand flerben, als duch Widerruf, ja als nur duch Berufung
auf die Zeugen für ihre Unfhuld, für ihre Alibi, der näheren
Gefahr neuer Prügel wegen angeblich „tüdifcher Winkelzüge” ober der
„wahren Marter unaufhörlihen Vernehmens“ ſich ausfegen. Blos ins
dicect, zweideutig und liſtig ließen fie in ihren Ausfagen die Unfchuld
durchblicken, was aber die befangenen Inquirenten um fo meniger
merkten, da fie nad) ebenfalls geroöhnlicher Weife die Ausfagen nicht
mit den eigenen Worten der Inquifiten gaben, die oft erſt bei fpäterem
Zufammenhalten mit anderen Aeußerungen und Umſtaͤnden oder für
einen Unbefangenen ihre wahre Bedeutung erhalten, während
. fih die MWortfaffungen der Inquirenten gemöhnlid nur deren vorge:
faßten Ideen möglichft anpaffen. So ergab fi 3. B., daß Einer der
ſchuldlos Angefchuldigten feine lügenhaften Ausfagen gegen feine eben:
falls fchuldlofen Unglücsgefährten flets mit den zweideutigen Worten
Es iſt diefes bie Inftruction vom 26. Febr. 1799, welche, nachdem
riebrih der Große alles Schlagen ber Inquifiten gänzlich verboten
‚zum gehen Bebauern des Herrn von Arnim, in gewiflen Faͤllen
e als Strafe wieber erlaubte,
N
\
56 Jury
906, „fie feien fe füetie, wie m fi" &e
nachdem fein fräheres: Burkdiuchmen
das Berufen auf feine Unſchuls umd auf bie Beugen für fein ALS:
als „Lügen und Winkelzuͤge“ beftraft werben
mals auf‘ biefelben Bar aber jeht angeblich nur,
*. — feiner Bekenntuifſe abgehoͤrt werben
die Unterſuchungecommiſſten, einmal feflgerannt in ber
zeugung von der Schuld, und diefe für hinlaͤnglich betviefen — 525
ging auch jetzt nicht darauf ein, dieſe entfernten Zeugen vernehmen zu
läffen. So wiederholten denn ſelbſt bei und nach dem Genuffe bes
heiligen Abendmahls nicht blos jener Eine, fondern alle Unglüdfichen
ihre furchtbaren zum Tode führenden Luͤgen gegen fich felbit und d
Keidensgefährten. Wer hätte nun wohl hier zweifeln mögen? —
hätte bier, wo fogar nicht einmal, fo wie gewöhnlid ein einzelner
Inquiſitor, fondern 'eine ganze Gommiffion unterfucht hatte, foldhe
Derkehetheit der geheimen Inquifition ahnen follen? Bmei der Um:
glüdtichen hatten zwar in bet vertraulichen Beichte ihren Beichtvätern
ihre Unfchuld geftanden;'aber fie waren doch nicht zum Gebrauch eines
Rechtsmittels gegen das ungerechtefte Tobesuetheil zu bewegen. Einer
indeß hatte — ergriffen von der Publication beffelben — fpäter ein
Rechtsmittel eingelegt und feine Zeugen für feine Unſchuld genannt.
Aber alsbald uͤberwog wieder bie Zucht vor neuen Inquifitionsleibem,
und er erklärte bie rettende Wahrheit felbft für Lüge und fich
und feine unfduldigen Mitgenoffen für Verbrecher. Auch nody Arte
gefichts des unmittelbar in wenigen Stunden bevorftehenden Todes
wurden die ſchauderhaften Lügen — — nachdem —9— be⸗
de Ma bi ibi q
Sum. . 57
„in bemahe unzähligen Fällen, bald unter biefem, bald unter
„jenem Borwanbe, buchſtaͤblich verlegt wurde.” Wer aber will nun vols
lends allen Misbrauch erlaubten Schlagens und alle namenlofen und
taufendfachen anderen Quaͤlereien verhindern ?
So — um diefe und ihre Wirkungen in einem anderen
Beifpiele zu veranſchaulichen — erzählt das erfte Heft ber Annalen
der kurheſſiſchen Eriminaljufttiz folgenden Fall:
Wegen eines auf der Straße von Taffel nady Fulda verübten
gräßlichen Raubmordes wurde ein armer Schullehrer eingezogen, nad)
langer Griminalinquifition und auf fein Geftändniß hin zum Tode
verurtheilt. Durch einen reinen Zufall indeß wurden noch unmittel-
bar vor ber Vollzlehung durch einen Angehörigen des Verurtheilten
Spuren vom wahren Thäter und bald diefer felbft entbedt. Da kam
es zu Tage, daß der völlig unfchuldig verurtheilte Ungluͤckliche durch die
gewöhnlichen Kerker⸗ und Inquiſitionsleiden ſchon geſchwaͤcht, endlich
durch einen ihm gemachten Geiſterſpuk, der ihm in der Mitternacht den
Ermordeten im blutigen Hemde vorfuͤhrte, und ihn unter furchtbaren
Drohungen zum Geſtaͤndniſſe aufforderte, das falſche Geſtaͤndniß ab⸗
gelegt hatte. Jedoch die Freiheit laͤchelte dem nun für völlig unſchuldig
Erklaͤrten nicht mieder ; die Folgen der Inquiſitions⸗ und Kerkerqual
machten ihn zum Gefangenen des Irrenhauſes. Den Richter aber
batten zu feinem Vergehen wieder nur jene an fich Löblichen Motive
gebracht, wieber nur die unglüdfelige Natur des geheimen
Inauifittonsproceffes und des Drängens auf Gefländ-
niß verleitet.
Noch empörender find die Torturqualen, welche nah) Demme’s
Annalen der Griminalcechtspflege Bd. VIII. &. 163 und anderen
Zeitfchriften in neuefter Zeit in dem Großherzogthum Heffen ein In⸗
quifitor fi) erlaubte. Er wagte es, einem Sinquifiten, um zur Ent:
deckung der Wahrheit zu gelangen, zuerft eine graufame Prügelftrafe
zuzufügen, dann, als diefe nichts half, ihm mit glühendem Eifen auf
ben Rüden zwei lange tiefe Wunden einzubrennen und enblich ver-
mittelft gefalzener Nahrung und Verſagunq des Getraͤnkes durch die
Höllenqualen eines Durftes, welchen ber Gefolterte durch feinen eige⸗
nen Urin zu loͤſchen fuchte, zum Geftändniffe zu bringen.
Diefe Qualen wurden wie germöhnlich ohne gerichtliche8 Urtheilund meift .
unprotocofliet vollzogen. Der Richter, da deffen Verfahren dieſes Mat gerabe
zufällig entdeckt wurde, erhielt — tie berichtet wird — einen Verweis.
Im badifhen Oberamte Br... brachte vor einigen Jahrzehenten
ein Richter durch die Inquiſitionsqualen, zulegt ebenfall® durch die
Qualen des Durftes eine ganze Familie zu dem falfchen GBeftändniffe
eines großen gefährlichen Diebftahls und dadurch zur Zuchthausftrafe.
As Jahre lang nachher in Tirol der wahre Thäter jenes Diebftahle
entbedt wurde und freimillig unter feinen übrigen Verbrechen auch diefes
geftand, war bie übrige, völlig unſchuldige Familie bem Kerkertode ers
legen. Der allem noch am Leben gebliebene, ebenfalls unfchuldige
58 Jury.
Sohn ſagte nun aus, daß die natuͤrlich meiſt nicht im Protocoll
haltenen Quaͤlereien und Ueberliſtungen ihnen das falſche Geſtaͤn
entlockt, und die ſich jetzt bei jedem Widerruf als Luͤgenſtrafe
neuernden Inquiſitionstottuten ſie endlich für immer von allem WB
rufen abgeſchreckt hätten.
Ein fermeres gutes Bild deutfher Inquifitionsgua
und zugleich ein Beifpiel, was man von dem jet zur Mobe ı
denden Indicienbeweis aus Acten und vor gelebrtem $
riftengericht zu erwarten. hat, liefert auch der in Bau
Strafrehtsfällen Bd, I. S. 1 ff. erzählte, oldenburgäl
Proceß wegen der Ermordung des bänifhen Gefandten, Kanımerh
von Qualen in. Eutin. Her von Qualen wurde am
Februar 1830 im ‚Garten in feinem Blute und todt gefunden,
zwar, wie ber Arzt und die Gerichtsperfonen zuerft glaubten, tobt b
einen Fall, wie fie zwei Tage fpäter uetheilten, duch Mord,
Die alsbald herbeigerufenen Gerichtsperfonen und. die Aerzte
gannen aber leider micht fogleih, wo bei dem gerade liegenden &d
die Spuren der blutigen Mordthat leichter zu entdecken waren, fonl
am dritten. Tage die Obbuction und Unterfuhung. Da fi nur
diefer gegen den wirklichen Thäter gar Leine Spuren finden woll
fo machte der num erwachte und vielleicht durch den vornehmen. Si
des Ermordeten, fo wie durch die außerordentliche Forderung des Hs
‚ihm wöchentlich über die Unterfuchung zu berichten,” allzu fehr ge
gerte Eifer zwei Vedienten des Ermordeten, durchaus unbefhol
Männer, ohne irgend zuläffige Verdachtsgruͤnde, zum Dfer einer
in’s achte Jahr dauernden Inquifitions> und Kerkerqual, in mel
der eine Inquifit, angeblich wegen des unficheren Unterſuchunge
ters, drei Jahre hindurch die gefundheitsverberbliche Pein des Ket
tragens zu erbulden hatte. Nachdem Jeber von ihnen in ihrer
famen Haft durch ahtzig bis neunzig Verhoͤte gemartert,
Jury. 59
menfchliche beutfche Criminaljuſtiz! — obgleich, wie der actenmäßige
Bericht (im Kieler Gorrefpondenzblatt von 1836 Nr. 38) fagt,
„Verurtheilung unmöglih mar, und es fih nur fireiten Eonnte,
„den Ungluͤcklichen die Geld» und Ehrenvortheile zu nehmen, die
ihnen die unparteilfche Juriſtenfacultaͤt für ihre fechsiährigen Leiden
zuerfannte,” wurden fie dennody nad) der Publication dieſes los⸗
fprehenden Erkenntniſſes in ihre Kerker zuruͤckgefuͤhrt. Dieſe
Appellation zur Verſchlimmerung des Urtheils wurde fuͤr zulaͤſſig
erklaͤrt. Jenes Blatt berichtet, daß fuͤr beide ehemals kraͤftige junge
Maͤnner, welche jetzt die langen Leiden zu einer muthloſen Apa⸗
thie gebracht hatten, und von denen der Eine, blaß und zerfallen,
ſich auf den Gerichtsdiener ſtuͤtzen mußte, das losſprechende Ers
kenntniß, als fie die Fortdauer ihrer Leiden vernahmen, keinen
Werth mehr hatte. ”
Nah abermaligem Ablauf eine® Jahres trauriger Kerkerleiden
erfolgte endlih am 18. Zebruar 1837 das (im Kieler Correfpon-
denzblatt vom Februar 1837 abgebrudte) neue Erkenntniß des Ober-
appellationsgerihts zu Didenburg. Es beftätigte gegen den einen
Anguifiten das Göttinger Erkenntniß, fprach aber wirklich den an
been Inquiſiten jegt nur von der Inſtanz Los und veructbeilte
ihn in die Koften feines vieljährigen Aufenthalts im Kerker und
feiner Vertheidigung und in bie Hälfte der Koften ber Actenvers
fendung. So wurbe jegt durch diefe unnatürlihe und graufame,
von beutfchen Suriften geſetzwidrig erfundene Art der Losfprechung
die früher zuerkannte Ehren: und Vermoͤgensgenugthuung für den
Ungluͤcklichen zerftört. Statt ihrer wurde ihm, nad allen feinen
Leiden, auch noch ber bleibende Makel ſcheußlichſten Verdachts und
die ſtete Gefahr beliebiger Erneuerung der Kerker⸗ und Unterfu:
chungsqualen aufgebürdet, und er feines durch bie vieljährige Kreis
heitsberaubung bereits fo ſehr geſchwaͤchten Vermoͤgens beraubt !!
Ganz auf diefelben Acten hin gab das neue Erkenntniß blos
auf angebliche Indicien, welche die berühmte Suriftenfacultät, deren
Referent doch fonft den Indicien nur allzuviel zutraut, für fo völlig
nichtig erflärte, jest die entgegengefeste Entſcheidung. Der Einfender
diefes neueſten Erkenntnifies bemerkt dabei zugleih, dag das in:
quirirende Gericht, bie Juſtizcanzlei in Eutin, ebenfalls im Wider:
fpruch mit dem Öbergericht, gerade ben von demſelben zur lebens:
länglihen Verdaͤchtigkeit und in bie Koſten Verurtheilten für weit.
verdachtlofer, als den auch jetzt wieder völlig Losgefprochenen „hielt.
Er ruft dabei aus: „Das iſt die Sicherheit unferes Criminalbe:
„beweiſes!“ Jener auch jest völlig Losgefprochene hatte jedenfalls
die einjährige Werlängerung der Kerkerqual eben fo grundlos erdul:
det,. wie alle frühere. Denn auch das Öberappellationsgericht fah
fi) genöthigt, demfelben die Forderung auf Schadenerfag gegen das
inguirirende Gericht vorzubehalten, freilich mit den Worten, „daß es
„ihm unverwehrt bleibe, feine vermeintlichen Anſpruͤche auf Schaden:
Jury.
0
„arfsh, im fo weit er ſich damit durch zutommen getraut, in wepa-
rat qeisemd zu machen.” Diefe Worte find in diefem Falle-boppeit ber
P - Kriber fielen mehrfach die Würfel deutſchet Erimmineijufi,
[2727 de⸗delt unglädüih. Der bios von der ebene pur cn
mit feinem Wet von Vermögen bie (age hätte
üfeen töamen, erbielt diefelbe nicht, und er wird dagegen: feines
3 Roften beraubt. Der freigefprochene Bermögeniofe
9 gefchadet hätte, erhielt sein. Reck,
*
wird.
fh aber einem roten Begriff mahen-von dep, ganzen
FH firts gleidy gebliebenen Bodenloſigkeit det angeblichen
gegen bie beiden Ungluͤcklichen, von Verdachts
wI jur Griminalinguifition und Verhaftung, und nad
ger ze jener tesurigen Verbäctigkeitderflärung und Roflenberse
Keliung hüten führen dürfen, und eben fo von der umbegreiflicen eife,
er: umb act umd fiebenzig Indieienbeweiſe für die Schuibs
Wan fit in's are Jade, füge in's achte Jahr, durften in Deutfchland,
im be Deutihtaudb dis meunzehnten Jahrhunderts, im ordentlichen
Wear Mebprns, ein folder einfacher Eriminalptoceß, ſolche furc
bass Unteriuchungsmarter gegen die unfchuldigen Ungluͤcklichen dauern/
Deich: genannte Öffentliche Blatt vom 18. Februar und 8,
1837 ber ihr greichzitig ebenfalls aus dem Oldenburgiſchen
mes Berseis von der furchtbat langen Dauer und der in ihren Dies
faizstın fo traurigen faiſchen Gruͤndlichteit deutfcher Criminalunterfie
Gumgen. Es iA die Nachricht von einem 1832 begonnenen und
Jury. 61
1834 durch ein von ber Göttinger Juriſtenfacultaͤt gefälltes Erkennt:
niß der Zifhlermeifter Wendt in Roftod wegen angefchuldig-
ten Giftmords feiner eigenen Mutter von der Inſtanz entbunden, da⸗
gegen wegen Giftmords feiner Ehefrau und wegen verfuchten Gift:
mords gegen feine Schwiegermutter, wegen culpofer Vergiftung mehr
rerer Perfonen, und endlicd wegen bolofer Brandftiftung zur qualis
ficirten Xodesftrafe bes Rades verurtheilt. Ganz nad) den:
felben Acten und ohne alle Veränderung der Sache fprach ihn
1836 bie Heidelberger Juriftenfacultät frei, und zwar von allen übrigen
Verbrechen gänzlich frei, von dem Giftmorde der Ehefrau jedoch nur
von der Inſtanz; und fie vesurtheilte ihn dabei in die Koſten der Ac-
tenverfendbung. Auf neue Appellation wegen diefer beiden legten Puncte
endlich ſprach, ebenfalle nach denfelben Acten, 18383 das Oberappel⸗
lationsgericht zu Parchim auch in Beziehung auf den Giftmord der
Ehefrau des Inquiſiten deſſen völlige Unfhuld und Verdachtloſigkeit
aus, und befreite ihn natürlidd auch von allen Koften. Im Sahre
1839 erklärte hierauf, vom Gewiſſen getrieben, der Angeber bes Wendt,
fein Sefelle Heufer, welcher des vollgogenen Verbrechens des Gift⸗
mords und ber Branditiftung geftändig und bereits verurtheilt war, aber
diefelben im Auftrage Wendt’s vollzogen haben wollte, gerichtlich alle
feine Ausfagen gegen Wendt für erlogen, fich ſelbſt dagegen für den
alleinigen Schuldigen. |
Se endete im neunten Jahre diefer deutfche Criminalproceß, nach⸗
dem das neue, ungluͤckliche Opfer deutfcher Kerker- und Inquiſitions⸗
qualen biefeiben bis in’s fiebente Jahr erduldet, durch fie der Wer:
zweiflung und beinahe dem Wahnfinn in die Arme geführt und zu
oftmals wiederholten falfhen Belenntniffen verleitet worden mar. Sie
endete, nachdem der nun für völlig unſchuldig und verdachtlos Erklaͤrte,
ein vorher unbefcholtener, wohlftehender Bürger und Gewerbsmann
mit feinen Kindern völlig an den Bettelſtab gebracht, bei zerrütteter
Geſundheit und von feinen Zunftgenoffen wegen des achtjährigen, ges
richtlichen Verdachts barbariſch zuruͤckgeſtoßen, nur kuͤmmerlich durch
Almoſen lebt, die ihm ſein edelmuͤthiger Defenſor reicht und ſammelt.
Das von dieſem Letzteren erbetene Recht gegen das inquirirende Unter⸗
gericht, wegen ſeiner verkehrten Inquiſition, wodurch es den Schuld⸗
loſen in's Ungluͤck geſtuͤrzt, eine Schadenserſatzklage zu erheben, hat
das Obergericht, obwohl voͤllig anerkennend dieſe ganze Verkehrtheit, ab⸗
geſchlagen. Wo waͤre auch in unſerem neueren deutſchen Inquiſitions⸗
proceß ſeinen ungluͤcklichen Opfern jemals auch nur ſolche duͤrftige, aber
von der Gerechtigkeit und Staatsweisheit gleich ſehr geforderte geſetz⸗
liche Genugthuung geworden? Ein Scheingrund, ſie abzuſprechen,
findet ſich ja uͤberall leicht; fo bier darin, daß der der Criminalfehme
verfallene Unglüdliche auch feinerfeite In ber durch dieſes Ungluͤck und
bie Inquifitionstortur verurfachten Angft fich zu einigen Fehlern, zuerft
zu einer unwahren Befeitigung falſchen Verdachts, dann zu unwahren
Bekenntniſſen hatte verleiten laffen. Auch hatte ja der Inquifitor fo
“ Jury.
— — Bir Göttinger Furiftenfaeultät irgend einen böfen Willen.
Zi Woigien ulmche wur mit allzu ee
gie, der Bnsib yar Gttafe zu bringen. Das Berbridien Tiegt
u Hier wiederum nur in der geheimen, ingwäfltorie
ben Procfeinriätung, welde folgen furhtbaren Eiwr
eitigteiten umfer Leben und unfere Sinerbeit über
fr
Boetüich auf «6 feihft das Dberappellationsurtheil im fehnen ⸗
(Gedungsgchnden vortrefflih austinanderfeßen, wie ein währer
Gafist, daß ber Ungrfculdigte die unter ben obwaltenden Umflänben fü
68 gong-unbegreiflien, durhaus nidt metibirsen
cbrebem begangen, gar nicht vorhanden war, und wie Tebiglid
das Gericht buch feine Blinde, verkehrte Verfolgung feiner Dor«
sefoften Anfiht von der Schuld, duch Seelentortue und
Ecweckung von Furcht und taͤuſchendet Hoffnung, die unglaubielicbigen,
Heie wieder zueh@genommenen Geftändniffe verſchuldete. Aber während
man fonft für jede techtswidrige Wermögensbeihädigung, für jebes
Dpfer bes Eigenthums zu Staats zwecken Entſchaͤdigung für eine heilige
Nothwendigt at anerkennt, gibt es ja rückfichtlic aller furdhtbarften Mens
lehungen unferer geheimen Imquifition weder Schub noch Erfah.
Diefe artenmäßige Procepgefhidhte aber follte vor
fändig Tefen, wer noch fein Grauen vor den unvermeibfigen
Ungerechtigkeiten deutſcher geheimer Kerkerinquifition hegt, wer
nicht ſchaudert vor den Gefahren der Verurtheilung nad Acten,
die, wie jene Entfcheidungsgrände des Oberappellationsgerichts Mär
naqwelſen/ aud hier bei aller Dide doc nur fo hoͤcht
feitig aufgefaßte,. unvollffändige Vorftellungen Bom
dem wahren Sahverhalte mittheilen, vor einer
lung vollends nach einer abermals einfeitigen Relation aus fol
Usten, vor einer Verurtheifung endlich nach protocollicten und teferis
Jury. 63
* a en laͤngſt der Angeklagte geſtanden hatte, hier, dann
in der Form jener —6 luͤgneriſchen
55* — wegen der Zuruͤcknahme des zuvor erpreßten
Geſtaͤndniſſes — mithin als reine Zortur zu feiner
Eipeuerung (VI. ©. 247. 264). Eigentlih aber erpreßte ber
-Suauifitor die Beftändniffe dur die Äängfligende und ermat⸗
"gende mosalifhe Zortur langer und vieler Verhoͤre,
buch das gewöhnliche Drängen, nicht auf die reine Wahrheit an ſich,
immer nur auf das, was der Inquifitor dafür hält, nämlich auf
Weitändaif | ber Schuld. Zunaͤchſt wirkte die gem ähnliche Erweckung
der unbeflimmten -Vorftellungen vom Nachteile des Nichtgeflehens und
“von ben Bortheilen des Bekennens, fo wie des Gedankens des Inqui⸗
fiten, bei der feften Weberzeugung des Berichts von feiner Schuld und
wegen der hm actenwidrig vorgefpiegelten, angeblich actenmäßigen
WBeroeife, werde ihm ferneres Leugnen doch nicht helfen.
Auch Hier, fo wie gewoͤhnlich, betrachtete es der geheime
Inquifitor als im feiner Aufgabe tiegend, bie bei ſchweren Criminal⸗
Hogm und einfamer Huͤlfloſigkeit fo natürliche — —
des Inquifiten bis zur Seelentortur, oft bis zur halben Geiſtes⸗
krankheit zu ſteigern. Alsdann aber gelten Auch hier wieder bie fo
ſelbſt hervorgerufenen Schwächen des Unglüdlichen ale neue Beweiſe
felner angeblichen Schuld. In diefer Richtung benust das Bericht
‚für feine „ben eglihen VBorhaltungen zum Beftändniffe”
:die dem unglüdlichen Kamilienvater qualvollen Nachrichten über die
Zerruͤttung ſeiner Familie und feines Nahrungsflandes, fo wie ben
— Verdacht auch der nahe mit ihm verbundenen Perſo⸗
In dieſer Richtung dehnte man, wie es ebenfalls ganz ge⸗
währt iſt in Deutfchland, die qualvolle Unterfuchungsfrage weit
über die in allen freien Ländern anerkannten natürlihen Grenzen,
z. B. auf Geſinnungen, Anfichten u. f. w, aus (VI. 224. 226. 228).
: Sr gleicher Richtung enthalten die Äcten oftmals folche gerichtliche
Ermahnungen: „Inquiſit werde, menn er nicht der Wahrheit bie
„Ehre gebe, zu bärteren Mitteln das Gericht nöthigen, wogegen er
„bei —— Angaben zu erwarten habe, daß man auch Alles
„gerne zur Eroͤrterung ziehen werde, was nur irgend zu ſeiner Ent⸗
„ſchuldigung gereichen koͤnne,“ oder ferner: „daß er durch hartnaͤcki⸗
Leugnen au die Sache erfchwere, feine Inhaftirung verlängere‘
(v1. ©..223. 228. 235). Denke man fih nun lebendig alle Qua⸗
im, alle Augſt alle Gerwifienstämpfe bes durdy die quälenden, in
immer nene Meride verwidelnden, ſtets bebrohlichen Verhoͤre,
buch ben Kerker, durch die Sorgen abgematteten, . dennoch moralifch
aufgeregten Unglüdlihen! Denke man ſich ihn in dem nur nad
graufamem deutſchen Inquifitionsprocefie ſtets geheimen firengen Arreft,
einfam, völlig arbeitslos, völlig Hälfs und rathlos! So
ſteht er gegenäber der geifligen und phnfifchen Weberlegenheit feines
Inquiſitors, deſſen Einfeltigkeiten und Verkehrtheiten bei uns nice-
.
64 Jury ·
wie in dem kurzen franzoͤſiſchen Inquifitionserfahren, durch bie
zeitige Mitwirkung verfchiedener Behörden, fo wie durch bie
vor der Deffentlichkeit gebrochen werden. Denke man ſich ihm olme
die Rechtskenntniß, die ein öffentliches Schwurgericht gibt, ohne bie
Sicherheit vor Jahre langer Fortdauer des Unterfuchungskerkerd und
vor Mishandlungen, ohne die. bei freien Wölkern trofteeiche Geil
heit, in wenigen Woden vor dem öffentlichen Schmurgericdhte, war
feinen Mitbürgern mit feiner Unſchuld fiegen zu müffen!
Denkt man ſich diefes Alles und dabei vielleicht noch, trot aller
Unſchuld im Wefentlihen, doch die Qual des Bemwuftfeins- einzel
ner Fehler, die fi zufällig mit feinem Ungluͤck verketten — alsbann
geroiß begreift man die ganze Verzweiflung des Unglüdfeligen.
Man begreift „die unruhige Angſt, das finftere Dinbräten, dem
„inneren Grimm”, wovon jene Entfcheidungsgrüunde des
lationsgerichts ſprechen (S. 216), und folhe felbit actenmaͤßige
Ferungen des Unglädlichen, „es ift wohl das Belte, ‚daß ich mir
„und meinen. Kindern das Leben nehme, dann weiß ich es hadh,
‚daß ich gefündigt habe,“ oder durch den ‚Angitcuf: „Nun wir es
„gae fo toll, daß. man mid) bald prügeln wird“ (VI. 228). Man
begreift es, ihn bald laut und Lange weinend, dann ſtumm und mit ei:
zeinen Austufen an die göttliche Barmherzigkeit, bald verfehrren Pldnen
zu Eünftticher Rettung eifrig nachgehend zu finden. Jene Entfcpeidunge
gende fagen von demunglüdlichen ſchuldloſen Manne: „In der Mache,
„bieihn umfängt, verliert er dns Steuer feines Lebens; actenmäfige
„zeugen, daß er damit umgegangen, ſich zu erhängen (©. 216); aumb
„später: „Wie haben es mit einem Eurzfichtigen , abgematteten,.
„üngluͤck abgeftumpften Manne zu thun, der nichts als ſchwatze Bilber nor
„fi fieht, der in ber richterlihen Function nur Ausübung ber zichterlidhen
Wacht wahrzunehmen glaubt, der durch feine Stimmung zu ummcheun
‚Alt, um eine Stüge in dem ihm ohnehin nicht klaren Gedanken zu
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66 Sum-
fie ihr Opfer nicht mehr 106, da ſchloß ihm biefelbe. Tortut
nad) der gemöhnlichen Welfe, den Rüdweg zur Wahrbeit
wie 6 jene Lügen ſtrafen und ſolche Actemflelten, wie)
beweifen: Auf die Aeußerung Wendt) si. „Er geftche dies dio
„er führe, daß er doch nicht anders aus dee Sache komme,“ bemerkt
das Protocol: „da wurde ihm vom Hexen Inquirenten allerdings fein
„unverftänbiges Benehmen mit etwas harten Morten norgehakten,
nee beurfundige ſich durch fein Benehmen als einen
Menſchen, mit weichem man gar Feine Umftände macenz-unbugegen
welchen man härter als bisher verfahren werde, wenn er keine be⸗
nieren Wege einſchlage· Von Schlägen und dergleichen, wower im
„Laufe des. Verhörs.der Arteſtant fih zu fuͤrchten bisweilen. morgab,
mift nicht die Rede gemefen!’ (11).
So alfo macht ‚eine richtige Auffaſſung der Natur und der Mir
tung unferer ‚geheimen Inquifition das font Unbegreifliche ‚begreifen,
daß der völlig Schuldloſe ſich ſelbſt oftmals. wiederholt der. fcheufilichiten
Zodesverbrechen, luͤgenhaft beſchuldigt, ja, mit: Geiftesanfirengung amd
mit ‚Hülfe der gem hhulichen Suggeftionen von Seiten des Gerichte der
tailiete Erzählungen vonder Art der, Ausführung macht... So erbichr
get et z. Berzur Beflätigung feiner todesgefaͤhtlichen falſchen Wielenmt-
niſſe, eine 1» Bosheit‘/i feiner hraven Frau, mit der ‚en ſtets
lebte, zum, Ecklirungögrunde feines. Giftmordes gegen ſie. Bay
ſteebt nach ‚Gonfsontationen mit: feinem falſchen Denuncianten, um
durch deſſen falſche Ausſagen-des qualvolien Mach
mens über die paffenden, mit deſſen Ausfagen üben:
im mende n Einzelnheiten u berh oben zu ſein (VL
Dabei bewirkt denn auch hier die ebanfalls nut allzu⸗ge ne
Liche und allzu natu elich e Einfeitigkeit und vorgef
Anſicht des Inquiſitors, daher, wie das Oberappellati—
teefflih ausführt; mehr faſt wie der befangenſte Gegner, vollko m
en blind i ü fe -Umftände und Wider
s
Sur
T
5
3
*X*—
ten: Mſerenten elberger dee Einfluß bee
= —— * — ſo Mesa Be baf * |
} Spruchcollegium, im offenbaren pruche
** eigenen anderen Erklaͤrungen, wenigſtens für das eine ber an⸗
geſchuld Derbrechen noch Berbarhetgränbe ober Indieien finden,
De ER NE.
We ‚bie un ung blos von
ten; — re biee den Unglädtichen, nach endlicher De⸗
feelung aus bem Kerker, aufs Neue m Boden ſchmetterte, indem «B
für ihn Aueſchluß aus ber Zunft unb bem Gewerbe veranlaßte "und
ihn fomit ich nahrungslos machte. |
.. in warnendes Denkmal geyen en Sndieienbeieife juriſtiſcher Rich⸗
ter, gegen Beweiſe auch aus vielen augeblih zuſammen⸗
tr
effenden Subicten unb mie Anfängen. Hirocter Beweife,
aber werden ſtets bie blelben. Dein
im Weſentlichen auf Inbiehai —2* dab:
Facultaͤt,
* —— ——*— — ehe die 5* de biefen ſch
21
Ik
a
il
Hi
andere Perſon duferte, was doch nur dann, wenn das
X fernereß für Die‘
frau Toll fein, daß er beirathetuflig genefen fet, da erbald Di bern
Xobe wieber hatte heirathen rollen. aber hatte
er bei Lebzeiten feiner Frau gar —X getan weiter foct»
gehende Ahniktye Tophiftiiche Verdachts⸗ und Sndkciemmaderet &s
geugte feibf bei fo hochgeſtellten, völlig unpaztelifchen DR ein⸗
ichtern
‚mal: vorgefaßte Anficht von der Schutd bes U Mon
dieſen Indicienbeweis bier geleheten: Richter, m * aber
freilich und Ocharffiun der Uctheilbeerfaſfer — fo
und Anden gar febe 4 ‚ga verhüflen vwifen! Man Ic ihn aud
—
Sum.
68
" darauf * einftimmige Todeturtheil des fenbat nf
quldigen h
vergleiche dann dieſe Beweiſe einer großen Reihe angeblich zufamu
treffender Indicien, bie oft faſt noch ungluͤckſeliget find, als die; *
im vorigen oldenburgifhen Falle von deutfchen rechtsgel⸗
Beamten zur Begründung eines Todesurtheils gegen zwei ebenfalll
fig unſchuidige Männer gebraucht wurden — man leſe fie und" |
dere bei dem Gedanken, daß in Zukunft alle Strafurtheile gegem
ſche Bürger nach geichrten Imdicienberveifen und auf geheim gu
mengefchriebene Eriminaldeten von geheim richtenden Beamten geſpt
werden follen, vom Richtern, bei melden ine gleiche Umabhängl
Geiftesbildung und Sorgfalt des Verfahrens als von unpartel
Juriſtenfaculiaͤten im Durhfhnitt durchaus nicht zu
warten find, deren unglädtiche Mifgeiffe a uch nimmern
fo leicht zu Tage fommen als die der Juriſten facultta
Schon bisher, wo man diefe furchtbare Theorie noch nicht
Fam es nur allzu Häufig vor, daß von verfchiedenen beutfchen Ger
auf diefelben Griminalacten bin, fo wie es hier von zwei der/ber
teſten Juriſtenfacultaͤten gefdjieht, das eine Losfprehung, dası €
Todesſtrafe, oder das eine ein Jahr, das andere zwa nzig
Zuchthaus ertannte. ⸗Wie wird es vollends erſt werden,
die Verurthellung auf Werten: und Metationsindielen
mein: ift?
Wie untrew aber, wie unvollffändig, wir fi
nur altzu häufig das Bild ift, welches die Acten wo
Ausfagen der Angefchutdigten und Zeugen, und von den dur
Mienen und Geberden und durch das ganze Benehmen ſich ergeb
Indicien mittheiten, biefes wird ſchon durch faft alle bisher
Eriminalfälte deranſchaulicht. Es weiß Jeder, der nicht M
iſt in der criminaliftifhen Praris, daß fogar ganze Protorolli
—* nad) dem Verhoͤre von dem Inquirenten —
bi
Jury. 69
Veranlafſung ber Jufättigen Durchreife eines Jugenbbekannten, ber
biervom hörte, und ber den Angefäuidigten als blöbftnkg **2
ge des geheimen Protocollirens und des — auf tedglige
"nahrbeitsmibrige Protocolle. Denn in ben Verhören hatte ber
‚„Unterfuchungsrichter den Inquifiten, um verftänbige Protocolle zu
„haben, immer fo verftändig reden lafien, daß von Wlöbfinn auch keine
„Spur aus den Acten vernommen werben konnte.” Um das Gewichht
ber Controle ber Actuarien zu. brranfhaulichen, theilt Zentwer folk
genden auch vom Geheimenrath Duttlinger in ber rund
Kammer vorgetragnen Fall mit: „Ein ee mgpchter bebiente
„fc zur Erzweckung eines Geſtaͤndniſſes der Oxchläge gegen ben Je '
„quifiten und bictirte dieſen Act mit den Ne Arten zw Protocol: ‚Bam
„„hat dem Inquiſiten — —* un Der Acta
„wollte an ber Richtigkeit Ausbruds zweifeln, wurde aber vom
- "Beam yum Odreiben angeniefen, unb damit ‚behielt es fein Mas
Fur eine ſolche Juſtiz freilich und für ihre Vertheidiger IR es.
ein Städ, ja eine Nothwendigkeit, baf das Dunkel ihr Verfahren
und Die Gräber ber Zuchthäufer, wie die ber Hingerichteten, ihre
Dpfer verbergen! Wielleicht daß‘ wenigſtens noch eine Belt eine
foiche moralifche und e Dum auf bee beu
laſtet, daß auch ferner noch wie bisher viele Deutfche bei ſolchem
Dunkel fich ber die Gerechtigkeit ber gerichtlichen
verbienben, wie ja ihre Vorfahren auch die ber vermeintlichen Deren. |
für völlig gerecht hielten. Wer aber bie Augen‘ öffnet, wer, fo.wie
ber Verfaſſer biefer Zeilen, bei feiner mehr als zwanzigjaͤhrigen Theil⸗
nahme ſowohl an ſchriftſtelleriſchen — für deutfche Eriminals
- vechtöpflege wie an Facultaͤtsurtheilen über Criminalacten aus deu mei⸗
fen deutſchen Ländern, durch DBerufspflicht genoͤthigt wurde, fo weit
in dieſe dunkelſten und traurigfien Wheiledergan-
zen vater! nbifhen Berbättniffe zu blicken, der muß ſchwan⸗
ken, als die traurigſten bezeichnen fo, bie ber
geheimen Sneuifiean: zur Vorbereitung, ober bie bes gehei⸗
men Relationsgerichts zur Faͤlung der Strafurtheile. Je mebe
man aber Gelegenheit erhält, fich über den wahren eriminalrechtlichen
—* bee Länder zu unterrichten, um fo mehr firht man, daß der⸗
‚felbe nicht etwa in denjenigen Stanten am Gchlechteften iR aus vr
den man noch die Öffentiidy mittheilen darf, ober wo vol
lends bie Gerichtsoͤffentlichkeit fie zu Tage bringt, Sondern, wie ſehr
begreiftich iR, in denjenigen, in mn man Gründe au bee.
groͤßtmoglichen Verheimiihung hat, umb eben biscch die Ver⸗
70 Jury.
heimlichung immer mehr die Scheu und die Scham vor
dem Untehte und bie Hülfe gegen daſſelbe gerfiör,
Eine weitere Mitteilung von criminalgechtlichen Beiſplelen ber
jen des geheimen Inquiſitionsproceſſes übrigens verbietet der Raum.
nicht ganz unerfahrene Criminalift, ſei er Richter ober Antsalt,
kann biefelben leicht vermehren.
Bon dem neweften politiſchen Criminalproceſſen in verſchiedenen
deutſchen Ländern aber wollen mic nicht reden. Gie wurden mei
durch bie außerordentlichften und neueften Mittel mehr noch, als je
ſonſt die deutſchen Criminalproceffe, in kuͤnſtliches Dunkel gehuͤllt. Auch
das aber, was man durch Zufall erfuhr, oder was ein ehrlicher
mann baräber urtheilen moͤchte — dieſes wird, fo fuͤrchten wir, tm
unferen heutigen Zuftänden die Cenſur volftändig mitzutheiten nice
erlauben. Giniges indeß, was bereits die cenfirten deuefheon
Zeitungen Öffentlich mittheilten, koͤnnte wohl allein ſchon Mes
gierungen, welche die Gerechtigkeit und bie Ehre allen unwichtigeren
politiſchen Müdfichten vorziehen , beſtimmen, die volllommene Freiheit
der Veröffentlichung diefer Proceffe zu geftatten, um fie, fo weit e8 noch
möglich iſt, der Prüfung und Conteole mohlwollender Regenten wie
des Publicums zu unterftellen, und fo die fehr (däbdliche und gefäges
Ude Wirkung fo mander im Stillen fortfchleichenden , zum Theil wohl
übertriebenen Vorſtellungen und Gerüchte, hier durch deren Biber
legung, dort durch genugthuende Suͤhne und Rüge von Mißgriffen
moͤglichſt auszutiigen. Zu jenen duch Zeitungsbericht notorifchen “
Dingen gehört 3. B. die zwei⸗, drei⸗, viers, ja fünf» und fechsjähe
Jury. 71
{her Vergehen freilich hat man mit Recht zu vermeiden gefucht. Aber
wird al jenes Ungluͤck in den Kerkern für nichts gelten?
Zwei ebenfalls notorifhe Thatfachen find mohl geeignet, biefen
Wünfhen Nachdruck zu geben. Unglüdlicher Weife verbreiten die Ans
hänger der Haller' ſchen Grundfäge, namentlih auch im Ber⸗
Iiner Wochenblatt, ihre Aufforderungen an bie Regierungen, das,
was von jeher bas größte Heiligtum ber dbeutfchen Nation und Nas
tionalehte mar, die unabhängige Juſtiz zu untergraben und umzuftärs
zen. Sie lehren: die Mächtigen, die Regenten, Dinifter, Ariſto⸗
raten müßten das Recht haben, burdy abhängige oder von ihnen
ſelbſt ausgehende Richterſpruͤche fih zu rächen und ihre Intereffen zu
fügen (f. oben „Eabinersjuftiz‘). Nichts aber kann wichtiger fein,
als diefem mehr orientalifchen wie deutfchen Gedanken, es führe in
dem Steafrechte die Macht einen heimlichen, liſtigen, rachſuͤchtigen
Krieg gegen ihre Feinde, felbft jeden Schein von Glaubwuͤrdigkeit zu
entziehen. Er müßte zulegt unvermeidlich den Gedanken eines gleichen
binterliftigen vechtlofen Krieges — wie dort im Namen bes Throns und
ber Gerechtigkeit, fo hier Namens des Volkes und feiner Freiheit —
hervorrufen.
Sodann hat das Ungläd folder fo fehr verheimlichten politifchen
Griminatpeoceffe in einer Reihe von beutfchen Staaten eine Anzahl
von Männern getroffen, bie von ber Nation und ihren Meitbürgern
geachtet waren und al& der legtern gewählte Vertreter oder als Schrift
ſteller muthvoll deren Rechte zu vertheidigen fuchten.
Eine Betrachtung aber iſt es vorzüglich, die bei ſolchen Criminal⸗
fällen wie die früher erzählten, bie, bei allen Inquiſitions⸗ und Ker⸗
kermorden, jeben nachdenkenden Vaterlandsfreund erfchreden muß. Es
ift die, daß die Entdedung der Unfchuld der meiften ungerecht Verur⸗
theilten, fo wie auch der in der Inquifition vorgefallenen Verkehrthei⸗
ten und Greuel in der That faft überall von einem feltenen zus
fälligen Zuſammentreffen giüdlicher Umftände abhing. Wer darf
fih nun dem Gedanken entziehen, daß, fo gewiß das Gewoͤhnliche
häufiger iſt, als das Seltene — von allen falfchen Verurthei⸗
lungen fchuldlofer Mitbürger nur der kleinere Theil entdedt
wird; vollends in einem Lande, wo nicht, wie in England und Frank⸗
reich, vollkommene Deffentlichleit und freie Publicität Statt finden!
Liegt es doch wirklich jedem aufmerffamen Rechtsfreunde Har vor Aus
gen, daß bei uns in Deutfchland nicht blos eine Entdeckung fondern
audy felbft wieder die Veroͤffentlichung der Entdedung falfcher
Urtheile und der Inquifitionsgreuel von feltenen Zufälligkeiten ab»
hängt, nur in ben felteneren Faͤllen der feltenen Entdeckungen
Statt findet! — Welcher Abgrund vor den Augen jedes benfenden
und fühlenden Mannes!
Gewoͤhnlich taͤuſcht man ſich, wie es insbefondere auch die Zeinde
bee Zobesftrafe thun, mit dem Gedanken, bei der Zuchthausſtrafe
fei die Entdedung und mithin bie Aufhebung des Unrechts falfcher
=
12 Jury
Verurtheilungen unendlich leichter, als bei ben Todesurtheilen.
fetten iſt die Falſchheit einer Verurtheilung fo ganz ohme Weiteres
erfennen, fo wie etwa in dem in Schlo zer's Stantsanzeig
erzählten Juſtizmorde aus ber Oberpfalz (mo aber dennoch die Hins
richtung erfolgte). Meift bedarf es dazu, neuer Ausführungen und
Unterfuchungen. Und was hat denn. ber im Buchthaufe Vergrabene
füc Mittel, feine Unſchuld zu beweifen Beichtvaͤter von Strafanftalten
verfidyerten mich tieberholt, daß ein großer Theil der Sträflinge felbfk
in der Ohrenbeichte fottdauernd ihre Unfchuld behaupten. Allein and
bei ſolchen, welche dieſes etwa mit Wahrheit thun: welche weltliche
Behörde hört die definitiv Verurtheilten mit ihrem Worgeben und. feibfE
mit ihrem Erbieten zum Beweiſe des alibi nur an? Selbſt mandje
Aufteuetionen für die Behandlung der Sträflinge, oder auch ohne bier
fe8 die Zuchtmeiſter bedrohen folches Worgeben als hartnddige Wers
ſtocktheit mit Strafen. Breiiih zuweilen, aber wie felten umb
gewiß unter hundert Fällen kaum einmal, drängen fid) den Staats⸗
behörden ganz zufällig neue Beweiſe der Unſchuld auf, fo, wie im
mehreren oben erzählten Fällen, ober wie bei jenem Juben, Daniel
Mofes, In Klein’s Annalen (XV. 6), ber in Preußen menge
einer angeblichen Brandftiftung im Jahte 1763 zum Buchthaufe vers
urtheilt tworden war, und dann. 12 Fahre fpäter, 1775, nach zufälliger
Enidecung und gerichtlicher Anerkennung feiner völligen Unfhulb, aus
dem Zuchthaufe entlaffen wurde. Und mie Viele, wenn ſich auch ferbft
ſolche feltene Beweiſe ſpaͤter fanden, wurden nicht, wie ber größte
Theil jener Bruchfaler Familie, fhon zuvor das Opfer des Kerkersl
Von zehn zu zehn Jahren Zuchthaus DVerurtheilten find. gewöhnlich
neun zum Tode verurtheilt, fallen als Opfer ber Zreiheitsberambung
und ber ungefunden Wohnung und. Lebensart, ehe ihnen der Zag ber
Greiheit wieder ſtrahlt. -
Diefes wohl auch beherzigten zwei eble Fuͤrſten, Carl Fries
Jury. 78
groͤßeren Mehrheit unferer Yuriften und Richter, find bie Urfachen ber
hoͤchſt traurigen Erfcheinungen unferer Strafrechtöpflege, mie fie bisher
gef&hilbert wurde. Die Urfahen liegen in ber Natur uns
ferer firafrehtlihen Einrichtungen felbfl. Ich ſpreche alfo
auch bier Lebiglidy von den objectiven Einrihtungen unfes
ces Sriminalproceffes, beffen Reform ja auch bereits als
dringend nothwendig anerkannt if. Bel der innigen Ueberzeugung,
weiche ich von ber hoͤchſt verberblihen Natur vieler zufällig und hof⸗
fentlih nur vorübergehend bei uns entflandenen Einrichtungen hege,
muß ich es fogar den Gefinnungen unferer Regierungen und eines
großen Theile unferer Richter noch zu einer befonderen Ehre
anrechnen, daß bie Folgen verkehrter Verhältniffe bis jeht nicht
noch trautiger wurben, als fie es Leider freilich fchon find, und als
fie es bei der wachfenden verberblichen Kraft verkehrter Einrichtungen fehr
leicht und fehr bald auch für den Charakter der Richter wie des Volks
werden könnten, ja ohne Eräftige, baldige Abhülfe werben müßten*).
Gerade aber das, daß felbit unter den Augen und Händen wohl
neinender Regierungen und Richter unfere Proceßeinrichtungen fo
fucchtbare Erfcheinungen erzeugen — und daß biefe den allgemein er-
fchütternden, empörenden Eindrud bei uns leider nicht machen, wie «6
bei einem freien, gerechtigkeitliebenden Volke natürlid wäre, daß des⸗
halb auch jene Einrichtungen, trog mancher Klagen und wohlgemein-
ten Bemühungen gegen ihre Mängel gerade in den wichtigſten Punc-
ten fich immer mehr verfchlechteen — diefes fpriht am Meiften
für ihre Verderblichkeit.
Der erfie Hauptmangel bes bisherigen beutfhen
Griminalproceffes betrifft die noͤthige richterlihe Uns
abhängigkeit, die wefentlihfte Garantie für rihterlidhe
Unparteilihleit. Bedarf nun wohl diefer Mangel nod) einer
Ausführung für ſachkundige Männer, welche es wiſſen, was unfere
Vorfahren bis zur Auflöfung des deutfchen Reiche, was alle freien
Voͤlker als die unentbehrlichſten Bedingungen richterlicher Unabhängig>
keit und Unparteilichkeit in ihren Grundgefegen forberten, welche e6
erwägen, wohin wir neuen Deutfhen in diefer Beziehung
bereits feit Aufloöſung bes Reihe gelommen find und
*) Wie kann wohl Willtür und Ungerechtigkeit in der richterlichen Praxis,
auch wo ihre Gründe mehr in der Einrichtung als in ber Geſinnung der Rich:
ter liegen, anbers als verberblich wirken? Niebuhr, in feinen Briefen
2b. 3. ©. 279, Uagte ſchon im Zahre 1830 fehr bitter: Ich will nicht in
„Abrede ftellen,, daB es übel mit der Rechtöpflege fteht. Aber die Vielfachheit
„ber Rechte ift das geringfte Uebel: das traurigfte Liegt in ber Perſdnlichkeit
„De Richter, welche den alten Charakter ihres Standes abgelegt haben. Wo
‚man fi) erfunbigt, ift das ber Kal. Der alte firenge Ernft ift aus ben
„Tribunalen chen, deren Mitglieder groͤßtentheils, wie andere Geſchaͤfts⸗
‚leute, ihre Arbeiten nur nothdürftig abzumachen ſuchen und kein Gewiſſen
„dafuͤr haben, daß fie das Hecht verwalten follen, ein Gebanke, welcher auch
„den Rechtslehrern völlig fremd iſt.“
74 Jury
täglich weiter kommen? Es ift hier fo wenig als dom per
lichen Gefinmungen, eben fo wenig auch davon bie Mebe, daß of
vevolutiondre Tyrannei zuweilen, vielleicht auch troß ber beiten ber
fiehenden Gefege und Berfaffungen, und gegen biefelben
Gewalt ausüben koönnte. Mein, es ift bier bios die Mebe von
gegenwärtigen, hoffentlich nur vorlbergehenden gefeglichen Beſtim⸗
mungen und Einrihtungen und von Störungen und Aufbebungen ,
eichterlicher Unabhängigkeit und unparteiiſcher Gerechtigkeit, die jeden
Tag nach die ſen Geſetzen felbft, die fogar ohne Verfap
fungss und Gefegverlegung möglich find,
Wird man nun aber wohl noch da von dem Schutze durch eich“
terliche Unabhängigkeit gegen befangene oder willkuͤtliche Megterwkges
oder Miniftergewalt reden, wo von der legteren und nicht äusjchließtich
von wahren ftändifchen Gefegen die Organifation und die Normen des
Verfahrens und der Eutſcheidung der Gerichte ausgehen, und io fie
ſchon im Allgemeinen bei Anftelung und Beförderung die Richtet mady,
voͤllig unbefchränktem Belieben auswählen kann, wo fie vollends jeben
ihre mißbeliebigen Nichter jeden Augenblick, zut Vernichtung feines Ber
bens» und Kamilienglüds, willkuͤtiich da oder dorthin, vielleicht
ihm und feiner Samilie unangenehme, fehäbliche Orte verfehen,
kraͤnkender Zurhdfegung, ober Entziehung ber Hoffnung weiteren Bons |
ruͤckens, und mit Verluſt eines großen Theils feiner vielricht noch
ringen Einnahme penfioniten, ja, mo fie zur Strafe wegen
Hiebiger Entfheibungen ſelbſt ganze Gerihtshöfe am —
nehme Orte verweiſen Tann? Doch die hierdurch offenbar für
Richtet entftehende Abhängigkeit von den Anfichten und Wünfchen ber
Negierung oder der Minifter, dieſe iſt noch das Geringfte. Mer
aber weiß es nicht, daß, Bei ber Verſchiedenheit der Menſchen
ihrer Anfihten, man” aus einem Nichtercollegium vielleicht nut ziveh, Beet
feibftftändige, etwa liberal denkende Männer zu entfernen bracht, am
⁊
Jury⸗ 75
allen Bormwurf irgend einer Gefegverlegung, jeben Aus
genbli® in befter Form Rechtens in folhe Commiffionen vers
wandern? in Gommiffionen, von welchen man volllommen aͤhnlid)
zum Voraus fagen könnte, wie Napoleon von feinen Militaͤrcom⸗
miffionen fagte: „Er fol vor biefelbe geftellt und erfchoffen werden.‘
Es find biefeß aber alsdann Commiſſionen, die zur Vermehrung bir
Gefahr und bes Ungluͤcks des Angefchuldigten, zum Schaden feine
Ehre, noch dazu ben täufhenden Schein eines verfaſſungsmaͤßi⸗
gen, ordentlichen, friedlichen Gerichtes an fi tragen. Ein Miniflır
mit folcher Serichtsverfaffiung müßte ein Dummkopf fein, oder keine
Kraft haben, falls er nicht, fobald er es nur wuͤnſchte, innerhalb we»
niger Wochen jebes beliebige Strafurtheil gegen den Unſchuldig⸗
ften und vollends Monate und Jahre langen Unterfuchungslerker fire
alle ihm binberlichen oder verhaßten Gegner In befter Form Rechtens,
auf Außerlich geſetzlichen Wegen erhielt. Man hörte ja doch wohl
ſchon davon, wie man unangenehme Volksvertreter und bie das Vollk
dazu vielleicht erwaͤhlen wollte, ober bie für das Recht und gegen bat
Unrecht etwas laut wurden, bald durch wirkliche, bald durch angebrohte
Griminalprocefie „unfhädlih machte?” Man vergleiche aber nur
die von freien Völkern, ja von der gefitteten Welt am Meiſten verabfcheus
ten Snftitute, eine hohe Sternkammer, ein Napoleon’fhe®
Spectalgericht: wären fie nicht gegen ſolchen, ſelbſt geſetz⸗
Lich jeden Tag möglihen Gebrauch unferer Gerichte, die noch
dazu in völligem Dunkel und unter willkuͤrlicher Genfurunterdrüdung
verfahren und richten und ihre Inquiſiten viele Jahre lang in firenger,
geheimer Haft halten, als wahre Wohlthaten zu preifen? Se
nes Napoleon’fche Specialgericht 3. B. war befegt mit nicht willkuͤrlich
auswählbaren Richtern, nein, mit fünf völlig inamovibeln Appellations⸗
raͤthen eines geſetzlich beftimmten Gerichtshofes und mit drei Stabes
officieren. Und es verfuhr volllommen Öffentlich, und ohne
deutfche Snquifitionstorturen.
Gegen den Hohn, uns gegen ſolche Maßregeln, die nur all
zu bald alle Kraft der Stände brechen, auf bie flänbifchen
Miniſteranklagen zu vertröften, fo wie gegen ben politifchen Unverfland,
der mit augenblicklichen Gefinnungen der Mächtigen beruhigen will —
biergegen wollen wir das Angemeffene nicht erwidern.
Wie raſch wir meiterfchreiten in Vernichtung aller Sahrtaufende
alten Grundfäge unferes deutfchen Vaterlandes und aller andern freien
Voͤlker ruͤckſichtlich der Selbſtſtaͤndigkeit der Juſtiz — davon zeugen
wohl neuerliche Geſetzentwuͤrfe, welhe die richterlichen eidlichen
Weberzeugungen über bie Nechtsgültigkeit einfeitiger Megierungsnormen,
fo ferne fie mißfallen, als Criminal verbrechen erklären, fo wie
die allgemeinen Verbote mißfälligeer Rechtsgutachten. Wo bleiben
bier die fonft flets in Deutfchland von den Auriften und Regierungen
anerkannten Grundfäge (f. „Cabinetsiuftiz‘), welche Feuerbach
(f. deffen Schriften vermifhten Inhalts) in feine Eins
26 - Sun -
fuͤhrungsrede als erfler Präfident Für den Rezatkeeis mit Folgenden
Morten ausſprach? „So find alfo die Richter innerhalb ihres Richter⸗
„amtes fo wenig Diener: der oberfien Gewalt, daß fie diefer, wem fie
‚„iene Grenzen überſchteiten follte, den Gehorfam zu verfagen mächt
„etwa nur berechtiget, fondern kraft ihres: Eides verbunden ſind u
Steht es nun fo traurig mit den gefeglichen oder verfaffungss
mäßigen Bürgfhaften der Unabhängigkeit und Unparr
teitichkeit felbf der Obergerichte, fo ift «8 vollends: meiſt mod,
trcuriger beftellt mit. den Ingquifitoren, bie gegen jeden Bär
ger einen Criminalproceß beliebig beginnen, ihm verbaften, und viel⸗
leicht Jahre lang im größtentheils ungeſunden, oft fcheußlichen Kerkerm
feifeln, in ganz geheimer Haft: mit Iuquifitionen und ihren traurigen
moralifchen und phyſiſchen Torturmitteln zu Grunde richten Bönmenz
melde fogar gewöhnlich in vielen Proceffen feibft- das Endurtheil pres
en, jedenfalls aber für alle in ihren Protocollen die Grundlagen ber
ganzen vichterlichen Entfheidung: zubereiten und alfo faft unumfchrämkte
Herren des Schickſals ihrer Angeklagten find. Sie beftehen häufig fer
gar aus Verwaltungs= und Polizeibeamten, die mebr- an Poligeimille
Er, als an fihernde feſte Rechisformen gewöhnt und als Abmminie
ftrativbehoͤrden ober aud als Civiltichter mit anderen Geſchaͤften Kbers
Laden find, oft aus abhängigen jüngeren Beifisern und Recht
wanten, die fogar. häufig ohne Zugiehung eines felbfiftändigen
öffentlichen Actuats, die allein. oder mit einem blos von ihnen —
haͤngigen Diener — oft. einen verunglüdten Subjecte — hanbein and
protocollicen und audy beliebig, 3. B. wenn fie mißhanbelten, nidht
* * —
of
Sur 77
dem Abel, wenn er in Mißverhättniffe mit „bem Herrn” und feis
nen Miniſtern war, und wie auch in ähnlicher Lage patriotifchen Buͤr⸗
gern, hochmuͤthig und gehäffig gegenüber? Ohne freigefinnte Beſtre⸗
bung und Oppofition gegen manche Regierungsmaßregeln Tann feine
Rede fein von-Freiheit, von der höheren Kraft freier Staaten und
ihree Regierungen, keine Rede von ber Abwendung der Mißgriffe und
falſchen Regierungsmaßregeln und Syſteme, noch ehe fie unheilbaı:
ſchaͤdlich wurden; eben fo wenig al6 von ber Aufdeckung ber Mißbraͤuche
und ber Untreue der Mächtigern gegen die Megierung unb bie Ver⸗
faffung. Diefes geben alle Verftändigen zu. Aber diefe wahrhaft heils
famen, patriotiſchen Beſtrebungen müffen menſchlicher Weife oft den
Minifter und Beamten, und wenigſtens durch fie‘ auch dem Regenten
unbequem, ja gehäffig erfcheinen. Sie treten auch oft, obwohl an ſich
noch fehr ehrenmwerch und heilfam, doch eben fo, wie ja audy alle übri-
gen menſchlichen und wie auch fürfttiche und minifterielle Beflrebungen,
einfeitig, 3. B. mit Uebertreibumgen und in unangenehmer Geftalt, auf.
Sie flören wentgftens nad) der Meinung Andersdenkender unnoͤ⸗
thig bie bequeme Ruhe. Iſt's nun nicht natürlich, daß jene rich
tenben Regierungsbeamten von bem Schelten, von ben Vorustheilen,
von ber gehäffigen "Stimmung bee Mächtigen mitergriffen werben?
Und als vor einiger Zeit in Deutſchland die Schritte mehrerer Ge:
reichte diefe leidenſchaftliche Befangenheit nicht fehnell und ſtark genug
fund geben wollten, ba vernahmen mir alebalb in ben öffentlichen
Blättern, aus ber Feder eines hohen Stantsbeamten, bie bedeutunge:
vollen Vorwürfe: „Die Richter feien ebenfalls von bemagogifchen,
hochverraͤtheriſchen Umtrieben angeſteckt, man muͤſſe ſich gegen ihre Par:
teilichkeit fihern”*). Solches in Verbindung mit allen zuvor erwähnten Mit⸗
teln zur Abhängigkeit der Michter unb bes unmittelbaren Einfluffes auf
das Gluͤck und Ungläd derfelben und ihrer Kinder und Kindeskinder,
kann e6 denn wirkungslos bleiben, fo lange Menſchen nicht
aufhören Menfchen zu fein? So werden nur zu leicht felbft die edel⸗
fien Güter, fo die freie Landes: und Gemeindeverfaffung, und jebe
gefesliche Inflitution zu wahren Fallſtricken für ehrliche
Männer und zu den ungluͤcklichſten Taͤuſchungen für
die Sürften und die Völker, welche beide aber leider oft
dann erſt das Verderben erkennen, wenn e6 zur Ret—
tung zu fpdt iſt. Bei folcher Abhängigkeit der Richter erfcheint «6 _
noch faſt als naive Ehrlichkeit, wenn man von beutfchen Ländern
lieſ't, in welchen geradezu politifche Procefie, Proceffe wegen Majeſtaͤts⸗
beleidigung u. f. m. von denjenigen höheren Staatsbeamten, die ſelbſt
bie Parteien find, von Regierungscollegien und Minifterien, entfchieben
werden, und von andern, In welchen bie Griminalurtheile der Gerich⸗
te nur als Entwürfe erklärt werden, die das Minifterium beliebig
“ abändern dürfe, und in welchen etiwa auch bie Berufung der Ange:
*9) ©, meine Abhandlungen für das dffentl. Recht. S. 7Lff.
vs Sum.
ſchuldigten auf die beftehenden Gefege und Gerichte dadurch =
merden, daß man im Ihren Proceffen wiederhoit neue: — |
|
und vüdwdrts auf fie anwendet , ihre Sache ſelbſt aber
miffton überweifet, und nachdem biefe Beine Schuld finden konnte, fie
wieder einer andern, zuletzt einer dritten, vierten und fünften lien
gibt”). Daß bei den Alten nicht von —— geredet werden
ſell, iſt begreiflich. Und man begreift es leider auch, daß durch
Erſcheinungen der Nechtsfinn unſeter Väter allmaͤlig bei uns fo abge⸗
ſtumpft wird, daß Manche jest ſolche Dinge leſen, ohne andy nr
nor dem Ausiande zu erröthen,
Doch ſelbſt in der aufgehobenen richterlichen Unabhängigkeit Tiegt
noch nicht die, gefährlihfte aller Befangenheitemiund
Parteilichkeiten der Gerihtsperfonen, Der Inguifitionde
proceß macht lediglich dur ch feine Natur die Inquitenten zu ben
parteiiſch geftimmten Gegnern gegen bie Schuldli
der Inquifiten. und gegen fie felbft; deren Schickſal doch gänzlich. in ihren
Händen liegt. Sie, die Inquifitoren, ſtuͤtzten melftentheils dieſeiben
in den Griminalproceß ; fie watfen fie in den Kerker, in dem Werbadhte
und in der vorgefaßten. Anſicht, daß fie das beſtimmte Werbrechen
begangen hätten, "Sie muͤſſen als Inguirenten in ihrer Phantafle den
Bufammenhang, die Art und Weiſe, die ganze Geſchichte ſich ausbens
Een, wie das Verbrechen verübt wurde, Ihre Combinatior barliber
wird ihe geiftiges Schooßlind. Sie bemühen ſich Tage und Wochen
lang mit der die Leidenſchaft fpannenden Arbeit, den hartnddig: leugnen⸗
den Inquifiten zu Eingeftändniffen zu möthigen, welche dieſe Gombb
nationen kroͤnen/ ihtem Scharfſinn Ehre und Beifall, und ihnen viel⸗ |
leicht Befoͤrderung begründen ‚ die auch die Gerechtigkeit und’ öffentliche
Sicherheit befriedigen follen. Und umgekehrt, | wenn das
nicht — fo find ſie, zu allem Berdruffe großer Taͤuſchung
il
en DVerhaftetert , «feiner Familie, feinen Mitb:
. Sur. 70
Ubanen, bie oft nicht vor dem Ende der ganzen langen Unter⸗
udung, ja, oft aud dann noch nicht einen Wertheibiger fehen!
Rs da nicht menſchlich unvermeidlich, daB gerade am Meiften zwiſchen
dem Unſchulb bewußten, ungerecht leidenden Inquiſiten und feis.
nem Inquirenien leidenfchaftliche immungen und bann Mißhand⸗
lungen des Lesteren, ‚daß alle die hundert ungluͤcklichen feineren und
größeren Korturen Statt finden ? Diefe Verlegungen ſelbſt aber find
aur neue Gruͤnde für den Inquifitor, fi) in das Gedankenſyſtem über
die Schul leidenſchaftlich feit zu rennen, um nicht durch baldige und
durdy gänzliche Schuidloserklaͤrung und Befreiung die Beſchwerden des
Wißhandeiten zu Tage kommen zu laſſen. Doch ſchon bie oben er
zählten Proceffe genügen wohl, alle die Qualen ber unglüdfeligften '
Scälarptopfer diefer deutſchen Yufkiz ahnen zu Inffen. Sie zeigen bie
Unglädii im einfamen elenden Kerker, täglich hülflos ausgefegt dem
twilkäcichften Rechto · und Ehrenkränkungen, ben toben Brutalitäten
eines leidenſchaftlichen Inquifitors, und immer new im angflvollen
Kapapfe für Ehre, Sreipeit und Leben gegen feine laͤſtigen Inguifitione
fragen und Schlingen, gegen feine überlegene Rechtöfenntniß, furchtbar
hülftos und mit erichöpften Kräften in einem Kampfe, weichem man
gefund, und chflig vieleiche nicht gewachſen wäre,
lcklich, die demgeren Bürger, welche durch Mangel an Bilbung
doppelt,hülflos, dieſem hoͤchſten menfchlichen Elend, einer deutſchen Crir
minafinquifition, verfallen | Nicht minder unglüdlih aber die Männer
aund Sünglinge bes gebildeten Standes, welche, wie wir's erſt neuerlich wies
erholt aus politifchen Procefjen wiffen, nun gar dem Scheußlichſten, dem
Stod des: beutichen, Inquifitors,, biefer beftialifchen Grniebrigung , untere
worfen ſind Der Inquiſitot aber Hält, ſelbſt abgefehen van jener Be⸗
fangenheit, theils ſchon wegen ber Natur unſeres Proceſſes die
gar hartnadige Durchführung dieſes Kampfes für gerechtfertigt, ja
für Pflicht, Weil wir fein Schwurgeriht haben, fobedär,
en die Richter, wenn fie nicht bei den allermeiften Verbrechen wegen
angels an juriſtiſchem Beweiſe freifprechen wollen, ober jedenfalls um
ihre Verurtheilung zu rechtfertigen, Geftändniffe. Diefe mäffen, da
fie meift nicht freiwilig gegeben werben, erpreft werden. Deshalb alle diefe
geheimen Inquiſitionẽkerker mit ipren Qualen von immer längerer, in
neuerer Zeit oftmals von ein», zwei⸗, drei⸗, vier», ja ſechs⸗ und
ahtijähriger Dauer. Kaum eine Strafe aber vergleicht ſich
unferem beutfhenUnterfuhungsarreft. Daß die Ferker meift
ſchiechter und ungefunder find als die Budthäufer, daß
&infamkelt und Arbeitlofigkeit, jene bärteften Schärr
fungen ber Strafen, meiſt die Inquifiten quälen — dieſes Allee
iſt noch gering gegen die Inquifitionsieiden und die ſchrecklichen Unger
wißhelten und Gerlenlämpfe duch fie.
Es helfen auch die Klagen des ungluͤcklichen Inquiſiten bei den
Obergerichten, falls er, unkundig des Rechts und jedes Beiſtandes be⸗
raubt, ſie wagen ſollte, meiſt wenig oder nichts. Ja, ſie verlaͤngern
80 Jury.
und vermehren nur die Kerker⸗ und Inquiſitionsqualen und reizen
den Inquiſitor zum Aeußerſten. Die Obergerihte bedürfen Gefländs
niffe, mollen den Inquifitor in feinem mühfamen und effrig
nicht kraͤnken, nicht compromittiren. Mo politifche Leldenfe und
Einflüffe einwirken, da iſt vollends Feine Hülfe. Da muß man feine
Legitimitaͤt durch Kerker⸗ und Juſtizmorde gegen die Thronfeinde dar
thun. Und wo hat der ungtädlihe Inguifit Beweismittel für
im geheimen Kerker oder Gericht erduldetes Unrecht * Der Bericht, die
colle feines Gegners vernichten ihm. Geht endlich die Unterfi
quaf zu Ende, dann wird der Inquiſit nicht felten zum Verzicht auf
feine Ktage beflimmt, indem dem Berlaffenen dor ber Abgabe ber Um
terfuchungsaeten im Kerker vorgefpiegelt wird, oftmals durch den —
füngentoärter, der einflußreihe Bericht des Herrn Inqulrenten werde
alsdann fehr günftig für ihn ausfallen. Und ein Abvocat ——
es, der in edler Abficht uits aufmerktſam machte, wie im Dunkel
unferes geheimen Proceffes die hier von Beamten und Be
höcden immer abhängigeren Advoeaten es auch zum Theil ſcheuen, durch
Eräftige Vertheidigung der Mißhandelten ſich Feindſchaft zu erwerben,
vollends gar, wenn die ungluͤckichen —— ihnen durch s Armentecht
aufgedrungen werden, und fie niemals fehen*). Findet endlich —
Obergericht den Ingquifiten ſchuldig, fo würde man doch bem glüidie
lichen Inquifitor, der das Geftändniß erprefte — mag er auch viel
teicht ein neues Opfer eines Juflizmordes dadurch vorbereitet Haben
— feinen Eifer zu gut halten. Wie viele deutſche Michter haben
denn aud) nur eine Ahnung davon, daß freie Völker die
Jury. 881
heit und gefeglihe Ordnung auf eine von allen gruͤnd⸗
lihen Beobachtern bewmunderte Weife erhalten, und zwar
Beides ohne auch nur den zehnten*, Theil unferer Vers
Hafturden und ohne ben zehnten Theil der Dauer biefer
wenigeren. Verhaftungen und der ganzen Criminalproceffe, und
gaͤnzlich ohne irgend eine geheime Inquiſition und ihre,
Dualen. Denn vor Eintritt des äffentlihen Schwurgerichts finden
dort nur zwei einzige Vernehmungen, und zwar oͤffentlich Statt,
bei welchen beiden dem Angefchuldigten, fo wie ftet auch, wenn
er verhaftet it, im Gefängniß, Freunde, Verwandte,
Nehtsbeiftände zur Seite ſtehen dürfen. Aber freilich,
fobald unfere deutſchen Richter diefes nur erft einmal recht müßten
und begriffen, gewiß, alsdann hätten fie auch unferem Proceffe das
Todesurtheil geſprochen. Denn Qualen und Verletzungen und reis
beitsberaubungen unſerer Mitmenfchen, unferer Mitbürger — falls fie
nicht abfolut unvermeidlih find '— mas find fie denn für
die Regierungen, die fie verorbnen und zulafien, was für bie
Richter, welche fie ausüben? Und mie foll man, troß alles moͤg⸗
lichen Scheines unpraktiſcher Gelehrſamkeit, die ſtuͤmperhafte,
barbarifhe Jurisprudenz bezeichnen, die offenbar die zehns
fahen Martern und Opfer ihren Mitbürgern aufbürs
. det, die zehnfahe Zeit braudht, um denſelben Zwed in
günftigerer Lage, fhlechter zu erreichen als er erwiefener Maßen Jahr⸗
hunderte durch in England erreicht wird? Gemwiß, aber fein wuͤrdi⸗
ger deutſcher Richter möchte ſich unndthig zum Kerkermeiſter oder
Folterknechte, zum Werkzeuge vermeidlicher, alfo boppelt Tcheußlicher
Zuftize und Kerkermorde erniedrigt fehen! Alle würden bei ernfle
licher Prüfung und Bergleihung unferes Proceſſes für die ganz
unentbebrlihe Grundreform flimmen.
Jetzt aber, mie er ift, ift e8 nun auch nur zu verwundern,
wenn man überall, fo weit man hinein fehen kann in diefe dunkle
Behme, diefe immer und immer taufendfältig ſich erneuernden
ungefeglihen Inquiſitions- und Kerkerqualen vor fich fieht und diefe _
taufende von falfchen, widerrufenen, oder fpäter widerlegten erpreß⸗
ten Seftändniffen und Ausfagen gegen Mitfchuldige, und fo mandye
auf fie gegründete nur rein zufällig entdedte, fchandervolle Ver: .
urtheilungen von Schuldloſen; Geftändniffe und Ausfagen gerade fo
falſch, als ja doch Hundgreiflih alle die Hunderttaufende e8 maren, |
duch welche die hingemordeten angeblihen Deren und Zuuberer un:
mögliche Dinge eingeftanden und bezeugten? Haben denn wirklich
folhe Suriften den gefunden Menfchenverftand und alles Wahrheites
gefühl ihren Vorurtheilen geopfert, die uns noch Immer belügen
wollen, die Inquirenten im geheimen Inquiſitionsproceſſe feien, obs
\
*) Vergl. z. B. des k. preußifchen Staatsminifters v. Binde Staates
verwaltung von Großbritannien S. 98 fi.
Staats⸗Lexikon. IX.
82 Sum,
wohl fie. der Ratus der Sache nach allermeift die Ankläger
und Einferkerer der Angefhuldigten, und die befans-
genften, intereffirteften, leidbenfhaftlihften. Gegner
ihrer Schuldtofigkeit (ind, dennoch zugleich parteilofe Michter,
ja zugleich, auch noch eiftige.Wertheibiger ihrer Unfchuld ? Nein, mer
Unfinn fäet, muß Unfton ernten. Wer in einem einzigen leibenfchafte
lichen, einfeitigen Menſchen zugleich die völlig widerfprechenden Rollen.bes
Anktägers, Vertheidigers und des parteilofem Richters vereinigen
und ihm dazu im Dunkel gegen ben hälflofen Gegner alle Millkite
und alle Waffen in die. Hand gibt, wer alle feine Intereffen für die
Zortur, zue Erpreffung unglaubmwirdiger Xusfagen und ‚Gefkänbe
niſſe in Bewegung fest und von folhen Ausfagen bie Straf
theite abhängig macht, der mag ſich auch ruhig im. ale hiervon, amger
trennlihen. Scheuflichkeiten und Juftizmorde ergeben, wie ſie der vorige
Abſchnitt aus unferem neueſten deutſchen Criminalproceffe nachtied,
Und eine Nation und ein »Seitalter, melde gegen folhe Unnatlire
lichkeit und Rechtswidrigkeit, gegen biefe volle Ums
menfhlihkeit ihte Augen verfchliegen, find, nit minder barbar
riſch und verbiendet, als es diejenigen waren, welche alle jene gerihte
lichen fcheußlihen Mordthaten gegen. die Heren für gerech
Die aber, welche ſogar im Namen der Gerechti; die, Fottdauer dies
fer Einrichtung fordern, feinen mir um nichts höher zu «ftehen, as
jener. Bifhof, der auf die Anfrage: ob die ſchon graufam gemazterte,
aber immer noch die Hererei nicht gefichende unglüdliche Frau no
ferner zu torguiven fei? „im Namen Gottes weiter zu
befahl. Die endlich, welche hier nicht von gänzliher Aufhebung
j ST 88
„ſchneidender Abſtand, ber die glaͤnzenden Vorzuͤge der erſten nur um
„ſo mehr erhebt und uns fuͤr dieſelben, als fuͤr die allgemeine Sache
„der Menſchheit, faſt zur Begeiſterung hinreißen muß. Jene ſtehen da
„als ein herrliches Kunſtwerk, einfach und groß, von der Freiheit ſelbſt
„erfunden, von der Wahrheit vollendet; dieſe jenen gegenuͤber als ein
„duͤſteres aͤngſtigendes Zwinghaus, das in finſteren Zeiten die Tyrannei
„fuͤr ihre Sklaven gegruͤndet und erſt ſpaͤterhin ein beſſerer menſchlicher
„Sinn in einzelnen Theilen zu lichten und auch für Freie erträglich
„bewohnbar zu machen verfuht hat. Hier — iſt nicht die Rede von
„Richtern, in deren Hände der Angeklagte felbft fein Schidfal legt;
„ein Corps von Blutrichtern, die von ftändigen Amts wegen über alle
„Unterthanen richten, halten in jedem Augenblide das Schwert über
„den Häuptern Allee empor ; flets drohend und doch in bie Finfternig
„des Geheimniſſes gehuͤllt, läßt die ſchreckliche Criminalgewalt aus vers
„ſchloſſenen Kammern jene Urtheile hervorgehen, welche uͤber das
„Hoͤchſte entſcheiden, um deſſen Erhaltung willen ſich der Buͤrger dem
„Staate gegeben hat. In dieſer Form der Ausuͤbung erſcheint die Cri⸗
„minalgewalt mehr als Eigenmacht, denn als Handlung der
„Gerechtigkeit, mehr als Werkzeug, wodurch ber Sous
„derän feine eigenen Beleidigungen räht, denn als
„Das Berföhnungsmittel der Beleibigung Aller, als par
„teiloſes Vertheidigungsmittel der Freiheit eines Jeden.“ .
„Der Angeklagte ift von feinen Richtern getrennt; fie fehen ihn
„micht, fie hören ihn nicht; nur durch Mittelorgane dringt feine Stimme
„und das Mort feiner Vertheidigung bis zu ihnen. Sie hören weder
„die Zeugen, welche wider ihn, noch diejenigen, welche für ihn fpres
„Ken; daß lebendige Wort muß erſt in einem Protocolle zum Ealten
„Buchſtaben erftorben fein, ehe e8 die Gemüther trifft, in welchen es
„als Urtheil über Dafein und Freiheit mwiederauferftehen fol. Die Uns
„terfuhung felbft ift fo geheimnigvoll in ihrem Anfange bis zu ihrem
„Ende, wie die Entſcheidung. Ohne Stüge, ohne Vertheidiger, eins '
„ſam verlaffen fteht der Angeklagte vor dem Inquifitor, der ihm viels
„leicht ſchon vor ber Unterfuhung in feinem Derzen das Verdammungs⸗
„urtheil gefpeochen hat; ber ihn fchuldig zu finden alle Kräfte fpannt,
„weil feine Inquifitorehre ſich hauptſaͤchlich von den Schuldigen nähet,
„die ee dem Obergerichte überliefert. Dem Unterfuchungsrichter it
„zwar von den Gefegen eingefchärft, unparteiifch für die Schuld mie
„für die Unfchuld zu unterfuchen, Feine Lift zu gebrauchen, die felbft
„den Unfchuidigen bethören koͤnnte, fic als ſchuldig zu geben, nicht
„durch Zwang zu erpreffen, was nur durch Freiheit zugeflanden merben
„Sol, Alles getreu zum Protocolle zu geben ohne Zufag, Weglaffung
„oder Aenderung. Aber find das Gefege, denen die Ga:
‚rantie ihrer Befolgung mangelt, bie der Redliche
„nicht braucht und der Unredlidhe firaflos überfchreiter?
„Wo ift das Auge, das über die Wahrheit der Protocolle wacht, die
- „Sonteole, bie ihre Unmwahrheit findet, die Macht, weiche bie vorfägliche
se Sum.
„und unvorfäglice Veränderung ober Unterbrädung der Wahrheit wer
hindert ? Dee Gerichtsſchreiber — wenn er da ift — gewöhnlich en
nabhängiges Geſchoͤpf, ſchreibt, was der Richter ihm in bie Feder ſagt;
dee Angefjuldigte iaͤßt diefen fagen und jenen fchreiben, was ihnen
beliebt, entweder aus Furcht oder weil er im feiner Untoifienheit das
Gericht nicht ahnet, welches erft der erkennende Richter in einem
umſtande mehe ober weniger findet. Um den Unterfuchungsrichter
„einer Gonteole zu unterwerfen, gibt man ihm — zuweilen — zwei
„ober mehrere Veifiger, fogenannte Schöppen, zur Seite, bie aber
„meiit Saum wiſſen, wozu fie da fißen, und am Ende auch nur dazu
„ba find, um einige Unterfchriften mehr an den Schluß des Protocols
„zu heften. &o liegt über dem ganzen Verfahren ein Schleier eines
büfteren mißtrauifhen Geheimniffes. Aus dem einfamen Gefängniffe
wird der Angefchulbigte geführt in die chen fo einfame Verhoͤrſtube,
„in biefe Werkflätte, wo man die Pfeile’ fhmiebet, bie
„feinem ganzen bürgerlichen Reben drohen. Er erfährt
„und fieht feine Angeber nicht, außer etwa aus einer befondes
„ten Gnade; er ſieht feine Anfhuldigungszeugen nice,
außer wenn es darauf ankommt, ihm buch die geifiige Marter der
„Gonfeontation ein noch mangeindes Geftändnif abzugewinnen Er
„ſelbſt erſcheint nicht dor den Augen feiner Mitbuͤrger, außer wenn em,
nachdem fehon das entfcheidende Loos gefallen, zum Schaffot ober im
„das Zuchthaus abgeführt wird, Ein Vertheidiger wird ihm wohl mei
‚tens verftattet, um fich mit ihm zu beſprechen, aber — meiſt nidhe
„während der Inguifition und — nur insgeheim und unter der Wade
„einer gegenwärtigen, vielleicht betheiligten Gerichteperfon ; und biefe Wer
Jury. 8
„muß in allen feinen zufälligen Windungen und Kruͤmmungen erſchoͤpft
„fein, ehe es der Unterfuchungsrichter wagen darf, die Acten für ges
„ſchloſſen zu erklären.” —
— „Ein zweites Mittel, die Unichwd vor Gefahren zu mahren,
„iſt die aͤngſtliche Beſchraͤnkung ber Beweiſe der Schuld. Wo feine
„Bernunft auch bei der Angftlichflen Vorſicht zweifelt, da follen unfere
„Richter zroeifeln, wenn es darauf ankommt, einen Miflethater ſchuldig
„zu finden. Gleihfam als time die Gewißheit eines Verbrechens aus
„andern Quellen, ald aus welcher jede andere hiſtoriſche Gewißheit
„kommt — — — wird der volle Beweis der Anfchuldigung ausſchlle⸗
„ßend an WVorausfegungen gebunden, welche nicht mehr Gewißheit
. „geben, als die ausgefchloffenen. — Die Ueberführung des Thaͤters iſt
„ſonach — abgefehen noch von dem befonderen Beweiſe des Thatbe⸗
„ſtandes — geitellt auf deffen Unverftand — daß er vor wenigftens zwei,
„über jede Einwendung erhabenen Zeugen fein Verbrechen beging —
„oder auf feine ſchwache oder gutmüthige Bereitwilligkeit — ſich durch
„fein Geſtaͤndniß felbft anzuklagen (fich ſelbſt zu verrathen nach engli⸗
„ſchem Ausdrude) und dem Nichter Beweis wider fich zu liefern, wo⸗
„buch bie größeren und feineren Böfewichte der Strafe von Rechts⸗
„regen entgehen — feitdem man nicht mehr buch die Fauſt der
„Henkersknechte die Geftändniffe erpreffen half. — Der gemeine
„Verſtand und das Intereſſe des Staates aber fanden hierbei erhebliche
„Bedenken. Man erfand daher (theils die ungefeglichen langen In⸗
„quifitiongs und Kerkertorturen, tbeils) die Theorle der außeror⸗
„dentlihen Strafen bei unvollftändigem juriftifchen Beweiſe, in-
„dem man dem Angefchuldigten, von bem man ſelbſt eingeftand,
„daß er niche in rechtlicher Art überwiefen fei (baß er alfo viel
„leicht unſchuldig, nur durch ungluͤcklichen Zufall oder dürch feindfelige
„Hintelift in Verdacht gerieth) menigftens einen Theil der Strafe zu:
„ertannte — zu wenig, war er ſchuldig, und viel zu viel,
„wenn er unfhuldig war. — Hin und wieder ging man von
„dieſer Voransfegung zw, noch gefährlicheren Ertremen — dehnte ‘die
„außerordentlihe Strafe bis dahin aus, wo nur dringende Vermuthun⸗
„gen dem Angefchuldigten entgegenftanden, und erhob — den Ver:
„Baht zu einem befonderen Verbrechen.” (Defter auch er⸗
tannte man unter bem Namen von „Sicherheitsmittel” ohne Be-
weiß der Schuld bie araufamen Leiden zu, die man als unverdient
anertannte, welche felbft den elenden Zweck einer ungerechten Sicherung
nicht einmal erreichen. Denn, ſelbſt abgefehen von den verfchlechtern-
den Einflüffen unferer Zuchthaͤuſer, können fie natürlich die ungererhe
Mißhandelten nicht beffern, fondern müffen ihnen und Andern, um fo
kraͤftiger fie And, um fo mehr das Gefühl des Kriegs gegen fo unges
rechte Gefelfhaftseinrihtung einflögen. Und überall ließ man, wenn
nach jahrelangen Unterfuchungsqualen der Inquirent nicht alle vollen
Beweiſe zur Zerflörung jedes erregten Verdachtes gegen den Angefchuls -
digten hatte finden können, oder wollen, durch eine blofe Losfpre:
‘
86 Jury.
hung von der Inftanz, die Schande gerichtlich erfläcter Verdach⸗
tigkeit auf ihm laſten und das Schwert lebenslang über feinem
ſchweben. Jeden Augenblick und bei ber geringften angeblichen neuen
Verdachtsſpur fol er wegen deſſelben Verbrechens, das fein Ankid-
ger, der Inquitent, nicht bemeilen konnte, abermals zur Erneuerung
.„ dee Inquifitionstorturen in den Kerker verftoßen werben dürfen. Man
verband außerdem damit Verluſt ber edelften Vürgerrechte, 3.8. ber |
Wahlfaͤhigkeit in Bezlehung auf Lundftände. Neuerdings Endpfte |
man baran beliefige Verbannungen aus der Heimath u. ſ. w. Ja
man vernichtet zugleich das Vermögen des Unglädtichen, indert man
ihm auch noch, abgefehen von dee Störung feines Hausweſens und
Gewerbbetriebs durch ben Unterſuchungskerker und feine Bolgen mit
der Losſprechung von der Inftanz, die Unterfudungstoften ganz oder
zum Theil aufbürbet.
Bis zur Erinnerung verloſchen find in biefem ganzen Werfahs
von die Grundfäge freier Völker, der Griechen und der Roͤmer und
aller germanifhen Voͤlker wenigſtens bis zum fpäten Mittelalter,
daß vor vollftändig geliefertem Bemelfe ber Schutb
der Angeklagte in feinen Rechten ungekraͤnkt blieb, daß ihm ferner
eine Anklages ein Proceh auf Ehre, Leib und Leben das Heilige
Recht auf eine Veendigung deſſelben durch die Entfdeidung über
feine Schuld oder Unfchuld gab, und daß er, wenn jener volle Be
weis nicht geliefert: wurde, vollftindig und für immer frei‘ vondem
angefhuldigten Vergehen aefprochen werden mußte ). Vergeffen ik
es, daß felbft noch die Carolina(f..den Art.), fo wie Öffentliches
und münbdfiches Gefchworenengericht, fo auch bie ftrengften Beflinimun:
gen gegen. Verfegung in Anklageftand ohne dringend begründeten Mer
dacht gab, eben fo gegen verleende und lange Verhaftungen und Für bie
buch Eautionen und felbft durch Mitverhaftung des Aklds
Jury. 9
ten befonderen Schriften abfolute Unabhängigkeit der Gerichte, ihrer
Drganifation, ihrer DVerfahrenss und Entſcheidungsnormen von eins
feitigen Regiexungsverfuͤgungen. Nicht minder aud bie Oeffentlich⸗
keit des Verfahrens. Sind nun unfere Gerichte feitdem unabhäns-
giger und ihre Verhandlungen öffentlicher geworden? find nicht viel«
mehr fehr große Erſcheinungen für das Gegentheil zu Tage gekom⸗
men, und zugleih auch für Teidenfchaftlihe Gegenfäge zwiſchen gar
manchen Regierungen und einem großen Theile der Bürger, Gegen»
fäge, doppelt gefährlid; bei unferen geheim verfahrenden und im
Dunkel richtenden abhängigen Regierungsbeamten — —
Ja, die letzten Reſte einiger gefeblich geficherten Bürgfchaft, fo
wie für die richterliche Unabhängigkeit, fo aud für Veröffentlichung
der Wahrheit zu Gunften etwa leidenfchaftlich Verfolgter, find felbft
feit jener Napoleon'ſchen Zeit, in welher Feuerbach fhrieb, im⸗
mer mehr verfhmwunden. Das Dunkel des Geheimniffes, welches
den ganzen @riminalproceg und die Leiden und Klagen der einge
kerkerten Inquiſiten bededt, tft, fobald e8 den Miniftern und Ges
richten beliebt, völlig abfolut geworden, geheim von ber erſten Wer
baftung an bis zu dem Tode und nad) bem Tode der Verfolgten.
Selbſt die gutmüchigen Thoren, weldye die Vorwürfe des Dunkels
geheimer Vehme mit ber Berufung auf die gefeglich geficherte freie
gedruckte Mittheilung aller actenmäßigen Thatſachen und Crgebniffe
beſchoͤnigen wollten, haben verflummen müffen. Alle oͤffentliche Mit
theilungen fann bie Genfur belichig unterdrüden. Und ‚was man
zur Beit bes Reichs felbft für moralifh unmöglich gehalten hatte,
es gefchieht täglich mehr. Die Genfur unterdrüdte zum Beiſpiel
"den zur Ehrenrettung eines Eingekerkerten verfuchten Abdrud eines
Rechtsgutachtens, von einer beriihmten Suriftenfacuftät einftim:
mig ertheilt, nicht blos im Lande bes Kingekerkerten, fondern auch
im Lande, in der Stadt der berühmten babifchen Univerfität feldft.
Bei politifhen Verhaftungen und Unterfuchungen, hier wo die Ge⸗
fahren, zumal bei ber viers bis fechsjährigen Dauer ber neueften
Procefſe am Größten ift, ift bekanntlich nocd außerdem zum Voraus
von Bundeswegen jedes Zeitblatt für den, Fall einer Mittheilung
durch den Untergang bedroht. Und nah den dennoch wiederholt in
cenfirte Zeitungen durchgedrungenen einzelnen Nachrichten wurden
feleft den Wertheidigern, hier die Mittheilungen aller Criminalacten,
dort die Mittheilung felbft der Enticheidungsgründe des Gerichts, ver⸗
fagt und aud) nad gefüllten Endurtheiten den Mertheidigern jede
Veröffentiihung zur Vertheidigung der öffentlich angegriffenen Chre
ihrer Glienten unterfagt*). Seldft die Anwälte maht man zu abs
bängigen Gehülfen der Unterdrüdung der Wahrheit und ihrer Recht:
fertigung ihrer Glienten, ben. Richtern bat man laͤngſt an vielen
N
— — ——— rn
Siehe 3. B. Allgemeine Zeitung Beilage 1839 Nr. 256,
©. 2003 ff. 1838 Nr. 357. ©. 2855. 1838 Rt, 115. ©. 919, |
88 Jury.
Orten Öffentliche Mittheilung des feiner Natur nad) nothwendig
Deffentlihen verboten und zum Verbrechen gemadt. Daß man uns
parteiffhen Dritten die Einfiht der durch Endurtheile völlig gefchlofe
fenen Griminalacten verfagte, wie es der Verfaſſer aus Erfahrung
weiß, ift hiernach begreiflich *). Die Angeſchuldigten ſelbſt, entweder
lebenslänglich ihrer Freiheit beraubt, oder auch langen Kerkerleiden faum
enteonnen, möüffen meift eben fo wie ihre Vertheidiger und Angehörigen
duch Veröffentlichung neue Gefahren oder Verſchlimmerung flatt
der Milderung der Leiden befücdten. So bleibt, mas ber Ange
ſchuldigten heiligfte Güter und Rechte, ihre Ehre, mas alle Bürger
angeht, bie zuverläffige gerichtliche actenmäßige Darlegung über bie
Schuld oder Unfchuld öffentlich befdyuldigter Bürger, über die Gründe
der Gerechtigkeit und der Verſtoßung derſelben aus der Geſellſchaft, ja,
fo weit moͤglich, der Ehre ihres Namens aus der Menihen Gedächt⸗
nig, Allen vorenthalten. Ueber Aller Haupt aber ſchwebt biefelbe Ger
fahr, welche mit dem Geheimnifje felbft täglich waͤchſt, fo wie natürlich
hinwieberum dieſes mit den Gründen, das Licht zu ſcheuen, wachſen
muß. Auch nad längft beendigten Criminalprocefien von Mitbuͤrgern,
deren Ehre der Nation theuer iſt, wie es die Nationalehre ihnen war
bieibt, nachdem fie die Grabesnacht des Kerkers det, die Matiom im
Dunkeln über Grund und Necht der Verurtheilung. Daß eing etwa
bier, und ba beltchte, durch den politifhen Standpunct. ber bie
ceiminalrehtlihen VBerfolgungen anordnenden Negies
rungen, alfo ber anflagenden Partei, beflimmte Auswahl von
Nachrichten über politifche Proceffe, belichige Auszüge, welhe Niemand,
mit den Acten controliren und aus ihnen nad dem Stanbpunete ber
Jury. 80
So ſchon die Willkürlichkeit und Formloſigkeit, wo—
mit heute bei uns fo häufig die Criminalproceduren begons
nen, Bürger als perſoͤnlich verdächtig bingeftellt, ihre Häufer und
Papiere durchſucht, fie in Criminalproceffe und fall jedes
Mat zugleich in Kerker geflürzt werden. Keine gefeglihen
feften Bedingungen, Grenzen, Formen und Bürgfchaften,
keine Habeascorpusacte, keine früheren beutfhen Senugthuungss
vechte wegen feivoler Verdächtigungen und Mißhandlungen, fügen bei
ung Ehre, Freiheit, Gefundheit und Lebensglüd der Bürger gegen die
gefährlichften aller MWilltürlichkeiten und Mißgriffe. So aud die fo -
hoͤchſt ungerechte Länge und die noh ungerechtere vielfaihe
Härte bes Unterfuhungsarrefts, welcher doch als ein ſchon an fi
meist Höchft emmpfindliches, für Ehre, Lebensglüd, Gefundheit und Wohl⸗
ftand verderbliches Leiden eines Bürgers, der bis zu feiner Verurtheilung
als unſchuldig anzufehen ift, auf Die aͤußerſten Fälle dringen:
der Nothwendigkeit befhränkt und fo unverletzend als
nur möglich eingerichtet werden muß, wenn von Achtung ber
Gerechtigkeit und bürgerlichen Freiheit auch nur noch die Rede fein
fotl. Das Dunkel des Geheimniffes nimmt oder Lähmt aud) hier über:
au die Vertheidigungswaffen zum Schutz durch höhere Gerichte, durch
eine wuͤrdige Öffentlihe Meinung des Vaterlandes und durch die Du:
manität und Gerechtigkeit des Fuͤrſten, durch bie Scheu vor ber Öffent:
lichen Schande der Beamten und des Landes.
Alle bezeichneten Gebrechen felbft übrigens find wohl fchon durch
die actenmäßigen Mittheilungen im vorigen Abfchnitte hinlaͤnglich ver:
anſchaulicht. Daß aber diefelben unzertrennlih mit unferem
geheimen Inquifitionsptocefje verwachſen find, und ohne Aufhebung der
ganzen Grundlagen diefer widernatürlihen Proceßform, aud
bei den Löblichften, humanften Gefinnungen der Negiering, der hoͤchſten
Staatsftellen und der Stände nicht befeitigt werden Eönnen, diefes wird
Jedem aud) ba, wo diefe Sefinnungen am Günftigften find, der
Biid in feine Umgebungen zeigen. So haben in Baden bie Stände
feit ihrem Entfiehen 1819 unermüdlih auf jedem neuen Landtag gar
nichts dringender immer und immer auf's Neue von der Regierung er:
beten, als Reform des unglüdlihen Criminalproceffes, ins:
befondere auch die unentbehrlichite, die von beiden Kammern ald noth-
wendig anerkannte *), auch für die Treue aller Ausſagen fo wichtige
Miederherftellung dev Deffentlihkeit und Mündlichkeit. Wie:
beeholt erhielten fie auch von der Negierung die feierlichiten Zufagen der⸗
felben, namentlidy durch ein vom Fuͤrſten unterzeichnetes Staatsmini⸗
flerialvefeript vom Jahre 1831, die „der Trennung der Juſtiz
„von der Adminiftration, der Errihtung von Colle—
„gialgerihten aud in ber unteren Inftanz und einer
„auf Deffentlihleit und Muͤndlichkeit gebauten neuen
*) Zentner a. a, O. &, 30. 84.
oo Jury.
„Berichtes und Strafproceßeinricht ung.“ Auch einzelne
Berbeſſerungen verſuchte man vorläufig, und die Verwaltung des jetögen
Inftizminifteriums wird an Einfiht und Sorgfalt von einem andern
übertroffen. Aber aus grundverderblichen Grundlagen entwickein fid
unvermeidlich Immer neu die verderblihen Gebrechen. Diefes fühlen
auch alle einſichtsvolle, wahrheitsliebende badiſche Geſchaͤftemaͤnner
einzugeftehen ſich gedrungen. . j
So beftagen die zwei zunor citirten ber gegenwärtigen Staͤndever⸗
fammtung überreichte Schriften von zwei erfahrenen, ſachkundigen Peak
tifchen Nechtögelehrten, von einem Mitglieb der badiſchen Oberges
richte und einem Unterfuhungsbeamtem, vom Hofgerichtsrarg
Bentner und vom Amtmann von Jagemann, im Sntereffe der
Öffentlichen Gerechtigkeit, wie in dem eigenen Intereſſe aller würdigen
Richter und Unterfuchungsbeamten felbft die ſchon angebeuteten Ge
brechen unferes ſtraftechtlichen Gerichts « und Procefzuftandes in ber
oberen und ih der unteren Juſtanz. Bentner klagt ;. B. (S. 68),
„daß der Anfang oder Nichtanfang und die Fortſehung der Criminafs
proceffe und der Verhaftungen ohne gefesliche Beftimmungen der Mille
„Ehe der oft meit von dem höheren Behörden entfernten einzelnen
„‚Unterfuchungstichtern überlaffen fei, fo daß, wie die Erfahrung Iehre,
ie nach der Individualitaͤt des Beamten Unterfuhungen und Vech
„tungen mit Unrecht begonnen, oder eben fo verkehrt, und ſchon wegen
„ber niederdruͤckenden Laft von anderweitigen Adminiſtrativ⸗ und Gipiß
„huftisgefchäften unterlaffen und verzögert würden. ins der größten
„und gefähtlichjten Gebrechen aber liege in der Art der Erhebung ber
„Beweife: Zu der umnatürlihen, alle nöthige Unbefangenbelt
nbindernden Verbindung des Anklägers und Richters in einer Per
„fon werde bie urkundliche Aufnahme und Abfaffung ber Protocofle,
Jury. | 9
„Anſpruch habendes Volk paßt, gefallen find (S. 69). Noch duͤſterer
„werde das traurige Bild dadurch, daß, waͤhrend viele Richter an dem
„(geſetzl ichen) Grundſatze feſthalten, daß auf Indicien (richterliche
„Vermuthungen) gar keine Verurtheilung Statt finden dürfe, die größere
„Zahl der Mitgiieber unferer Gerichtshoͤfe, ſelbſt des oberften, dennoch)
„veruetheilt, fo daß in einem fo wichtigen, beinahe in jedem Straffalle
„wiederkehrenden Puncte die Meinungen ber Richter fo getheilt feien, daß
„es am Ende von ber zufälligen Belegung des Senats, von
„der Laune des Zufalls abhängt, ob ein Angellagter
„verurtheilt oder freigefprohen wird. Go ärgerlich dieſer
„Zuftand für das Publicum und fo gefährbend für da8 Anfehen der Ges
„eichte, fo qualvoll feier fie den Richter. Auf ber einen Seite flieht
„ee ſich durch feine Ueberzeugung, daß die Verurtheillung auf Indicien
„durch unfere Sefege nicht geftattet fei, oder doch durch bie Betrachs
„tung bergroßen Gefahr, mit welcher bie Verurtheilung
„auf Indicien durch angeftellte Beamten bei verfchlofs
„ſenen Thüren auf blofe trüglihe Protocolle hin die
„Berehtigkeit im Allgemeinen bebroht, eingeengt: unb ges
„aͤngſtigt; auf der anderen Seite hin heiſcht die Sicherheit bes Staats,
„bag feine Richter Beine Angeklagten, welche fie fchuldig glauben, unge:
„fteaft davongehen Laffen. So fei von unferen gefammten Staatseins
„richtungen Fein Zweig ſchlechter beftellt, als gerade ber
„wich tigſte von allen, ber Strafproceß.”
Hr. v. Jagemann klagt vorzüglid über die Criminalunters
fuhungen und zeigt die Unwirkſamkeit der in unferem neuen badifchen
Gefegentwurf vorgefchlagenen ftrengen Strafbeflimmungen gegen die Ins
quirenten zur Abhülfe derfelben, von Strafbeflimmungen gegen gefehs
widrige Verbaftungen u. f. w., wo es an allen Gefegen fehle Er
klagt ganz fo wie Zent ner ſchon in feinem feühern Werk vor zehn
Jahren und in feinem jegigen: daß „nach unferem Inquiſitionsproceſſe der
„Unterfuchungsrichter Alles und Alles nur auf eigene ausfchließliche Ver⸗
„antwortlichleit thun müffe. Keine collegiate Berathung biete ihm bie
„Gerichtsverfaſſung dar, keine Beſchluͤſſe fafle er auf Anträge Dritter.
„Wie ganz anders fet die Zage eines Unterfuhungsßs
„richters nach franzöfifhem Recht. Da werde contrabdics
„tortfch verhandelt. Da könne er abwarten, ob der Staatsanmalt
„einen Antrag ftellen und feine Verantwortlichkeit theilen wolle. Da
„koͤnne er, ohne ſich zu compromittiren, den Angeklagten von den bes
„abfihtigten Unterjuhungshandlungen in Kennmiß fegen und feine Er⸗
„klaͤrungen vernehmen” (ftatt der für freie Bürger und wahre Juſtiz⸗
männer glei unmwürdigen hinterliſtigen Heimlichkeiten
und Raͤnke zur Ueberrafhung und Weberliftung ber
hälftofen Angefhuldigten). „Dort werde auf’s Geftändniß
„nicht mehr Gewicht gelegt, als auf andere Ueberzeugungsgruͤnde.“ (Es
wird bott erfannt, dag Geſtaͤndniſſe, die an ſich fehon, wie bekannt iſt
und au Feuer bach [Criminalfäle Bd. II. S. 249 ff.] actenmäßig
92 Jury ·
nachweiſet, aus den mannigfachſten Gründen. fo- unſicher
einen gewiſſenhaften vernünftigen Mann ger ade durch unſere
hintetliſtigen und gewaltſamen Erpreſſungen ihren Werth:
Rechtsgülthgekeit verliere n.) „Wie ganz anders auch würt
„in werigen- Jahren werden,‘ wenn der nun ſchon feitwier
‚zur Discuffion bereit liegende gedruckte, auf Muͤndlichkeit und
chteit gegruͤndete Eutwurf einer badiſchen Strafprocehordnung fe
wuͤrde. Wie kaͤme da alles Unrecht der Detinqueuten fowohl-als ber
Verhoͤrrichtet zur- Aufklärung und Abſchreckung Aller an das helle Ta-
gesicht (S 24)” He von Sagemann Eagt- fernen „bah dr
Stand. der. Unterſuchungstichtet — von ‚denen. man dag, S
‚rigfteim gangen’Stantslehen — die Vereinigung aller
„ten des Antlaͤgers, Vertheidigers und das pacteilofen Richters im eine
„Perſon fordere im Mißeredig fei, daß man nun ausm ahme«
we i ſe ihnen Bedruͤckung oder Begunſtigung m ich t -zutraye, (Ss 7).
Die, Acten aber koͤnnten ja: Beine, Alare Borftsllung
‚Sange der, Sahe geben, + Bei einmal entſtandenem Mißitennen
„könne man zwiſchen den Zeilen „hindurch! eine ganze, Reihe von Dres
ubungen, BVorfpiegelungen, Verfprechungen und. Suggefliongm.Iefen,
„ohne daß ‚der Inquirent ſich Dagegen verantworten könne. Die ein:
nbige winhfameDeoberfeiner Thätigkeit und Neblächbeit
— die Öffentlihe-müundlihe-Rerapitulation bes wunn:
‚zen Verfahrens fei ja leider, die Mheinprovinzen ausgempmmen,
„noch allenthalben vorenthalten. -Meiftens höre man nur Schlinmies
mon den Inquirenten, und: die Schuldlofen koͤnnten ſich mi von
„Berdähtigungen.- reinigen, weil das geheime Inauifitionsfpfteng Ahnen
die, Hände binde. Es fei ja auch deider wahr, daß den Mißr
nbräuhe gar ıdiehe in die Verhörftuben ſich eingefchlichen Haben,
„daß manche Inquitenten nicht nur die Angeklagten, fonbern
„auch die Beugen aufseine rohe einfhühternde MWeife
Jury. 93
„Scheiftzetchen beobachte? Die trefflichften Gefege, die zögerndfte Sorgs ..
„falt in der Auswahl ihrer Vollzieher werde nie hinreichen zur
„Befeitigung der Beſorgniß, daß mandhmal etwas uns
„terdeädt wird, etwas Anderes in der Verhörftube ge:
„ſchieht, ats die Acten melden (S. 15). Die Unterfuchung,
„welche nicht gehörig eingeleitet wurde oder halbwegs ftedlen blieb,
„oder fo bedeutende Fehler enthielt, daß der Beamte fie nicht
„vorzulegen wagt, Pönne in der Tabelle unterdrüädt wers
„den, ohne daß nur zu beforgen wäre, baß Jemand darnach
„frage. — Aeußerſt felten dringe ber Befchädigte oder der
„Angellagte auf ein Erkenntniß, benn das dbeutfthe Volk ift
„über feine Richter viel zu wenig aufgeklaͤrt (S. 15).
„Bel unferen jesigen abhängigen Actuaren in Buben Pönne man
„Sefege und Negulative erlaffen, fo viel man wolle, und
„jede empfindlihe Strafe androhen, man merde doch ſtets
„Methoden erfinden, um nad) dem alten Schlendrian und Style fort
„zufahren und den Gefchäften ein Kleid zu geben, wie wenn
„Alles in befter Ordnung wäre, und Alles zutbun, was
„bem Beamten gerade beliebt, wenn man ed auch nad>
„her nicht durch die Acten, weihe das Grellſte überge:
„geben, beweifen koͤnne. Namentlich gehörten hierher alle
„‚zechtspolizeilichen Strafen, bie mährend der Unterfuchung erkannt
„werden, und die (obwohl in Baden ausnahmsweife alle Schläge ver:
„boten find) zumeilen von einer Folterung nicht viel verfchie:
„ben find, welche der Pleinliche Richter aus Aerger über eine perfon=
„liche Beleidigung ober über ein hartnädiges, feinen reiflich durchdach⸗
„ten Sermonen fein Gehör gebendes Leugnen anwende (5.16). Häu;
„fig men diefe Strafen vor — felten aber werde man
„eine Ermähnung davon in den Acten finden Berhaftuns
„gen, Hausſuchungen, Specialverhöre, Gonfrontationen würden gar
‚oft vorgenommen, ohne daß eine Zeile Darüber in's Pro⸗
„tocolt !äme (S. 17). Es fet etwas beffer, dag man In Baden jegt
„meift Rechtspracticanten ſtatt blofen Scribenten anwende. Allein
„auch fie feien wegen des Unterhalt und beliebiger Auffündigung und
„Sinnahmsherabfegung ganz abhängig von der Willkür der Beamten,
„and folhe Beamte, die eine genaue Controle als eine Ruthe betrach-
„ten, die fie ſich thörichter MWeife felbft aufbinden würden, würden immer
„Subjecte zu erhalten fuchen , die fo hinlänglich fügfam oder beſchraͤnkt
„nd, dag man ihnen fo ziemlich Alles zumuthen kann. Und
‚ter wollte es leugnen, daß es im Ecribentenftande dergleichen überall
„gibt, weil derfelbe gar oft aus Defperation als letztes Mittel eines
„Thunichtgut ergriffen wird, ber zufällig noch gelernt hat mit der Fer
„der umzugehen (S. 18). —
Wahrlich nah folhen merfmärdigen, aber hoͤchſt ehren»
werthen, dem Öffentlihen Wohl heilfamen Geftändniffen fachfundiger
badifcher Richter und Inquirenten über die Grundlagen unferer Crimi⸗
94 Jury.
nalproceſſe kann auch die edelſte, die wohlwollendſte
traurigſten Erſcheinungen nicht vermeiden, wie ſie auch, ‚teoß d
mäßig völlig, geheimen, Verfahrens, doch zufällig in einzelnen Fälfen |
den Aufmerkſamen oft genug ‚fund. werben. N y
So kann «8 nicht wundern, daß glei In Vezlehung auf bie
Grundtofigkeit des Anfanges der. Eriminalprocefje und Ve
ganz ähnlich ungluͤckliche Mifgriffe, wie die im vorigen Abfchnitte ans
einem Nachbarftante ‚erzählten Beifpiele, vortommen. „In einer
„von Fällen“ — fo‘ berichtet jenes erfahrene Mitglied eines babifchen
Dbergerichtd — „in einer Menge von Fällen wird nad); dem bermmaligen
„Verfahren bie einmal verkehrt angefangene Unterfuchung, viele
und Monate lang fortgefchleppt,” Denn flatt alles des höchft forafdis
tigen engliſchen und frangöfifchen Verfahrens und der dortigen. Bufam.
menwirfung verfchiedener Behörden und, collegialer. großer. Gerichte zum
wichtigen Ausfprudy, ‚einer Verfegung in den Antlageftand
wegen eines genau beflimmten-Berbrehens. bleibt bei ums
auch diefes der Wiltkitr jenes einzigen. geheim verfahbremden
Inquirenten überlaffen. Ja/ horribile dieta! «8 finder, ‚fobalb ein
mal, vielleicht wegen ganz unbeſtimmten Verbadhtes, einem, foldpen In:
quitenten ber Anfang einer Inquifition und Verhaftung beliebte, mei»
ter gar Bein Abſchnitt des traurigen, Verfahrens bis zur oberge:
richtlichen Aburtheilung, Fein Erkenntniß auf Specialinquifition,, ad
weniger alfo Vertheidigung gegen diefelbe Statt, ‚Die In
quixenten tönnen alfo nun in's Blaue heraus und hinein
ven, was und wie es. ihnen beliebt. „Wenn endlich,” fo fährt Bemtr
ner fort, „dem Gerichtshofe die Acten vorgelegt werden, fo muß
„fig erft das, was der Staatsanwalt Längft, ohne die, Gerichte zu ber
„helligen, zur Ausführung gebracht haben würde, "beichloffen. iwexbem,
„dag nämlich die Unterfuhung wegen Mangels am Thatbeftande
„eines Verbrehens.oder wegen Mangels an Inzihren
. Jury. | 95
SHofgerichtöbezicke zur Unterfuhung gekommene all, daß ein Unter
fuchungsbeamter einen lediglid wegen des unbebeutendften Waldfrevels
verhafteten Unglüdlihen fieben Donate unverhört hatte figen laſſen.
Dazu nehme :man noh, bag während in England gar nidht, in
dem noch Napoleon'ſchen franzöfifchen Proceſſe nur ausnahmsweiſe und auf
ganz kurze Zeit die Angefchulbigten das Ungluͤck und die Huͤlfloſigkeit
eines geheimen firengen Unterfuhungshaftes mit Ausſchluß des Troſtes
und Rathes von Verwandten, Kreunden und Beilländen Statt findet,
er in Deutfchland gewöhnlich durch bie ganze fchredliche lange Zeit des
Proceſſes dauert, und auch in Baden ein Vertheidiger nur nad) ges
ſchloſſener Unterfuchung zugelaffen wird und dann, fehr oftmals den In⸗
quifiten gar nicht ſelbſt fieht und ſpricht. —— Fentner fährt fort:
„Auch in den bei ung fo häufigen Fällen, in welchen klagfrei erklaͤrt
„wird, würde das geübte Ermeilen eines Staatsanwaltes, dem das
„oͤftere Unterliegen und Erheben grundlofer Anklagen weder große Freude
„noch Ehre mahen könnte, fiherlidy eine nicht geringe Zahl von den
„Serichtshöfen fern halten. Weit nicht wie in Frankreich gleih Ans
„fange mehrere tüchtige erfahrene unabhängige Behoͤrden, Staatsan⸗
„waͤlte, Unterfuchungsrichter, Uctuare und das Bezirksrichtercollegium,
„und dann bie Anklageflammer zufammenwirken und ſich controliren,
„den Proceſſe eine feſte Richtung und zweckmaͤßige Vorbereitung für
„eine tüchtige Aburtheilung ertheilten, müßten jest oft die erfennenden
„Richter aus den chaotiſchen Protocollen der Unterfuchungsrichter, bie
„manchmal felbft niht recht müßten, wo fie hinſteuerten, erft
„ein beflimmtes Verbrehen auffuhen, wo fie dann
„nicht felten ein folhes fänden, an deffen Thatbeftand
„dee Inquirent kaum gedadht, den er baher gar nicht oder
„nur unvollfländig ermittelt babe (1!) (S. 70). Wie viel durd
„ſolche nutzloſe Unterfuhungen den Hofgaichten jährlich Zeit ge
„raubt und der Staatscaffe unndthige Koften verurfacht werden,
„wiſſe Seder, der in ber Nähe zuzufehen Gelegenheit hat.” '
Um aber dad noch weit wichtigere Unglüd fid zu verans
fhaulichen, welches für die Bürger unfere mangelhafte Einrichtung bes
gründet, bazu blide man — um alles nicht bereits Öffentlich befannt
Gewordene hier zu übergehen, in die fo hoͤchſt belehrenden Verbands
lungen der zweiten badifhen. Kammer über die Beſchwerden
fo vieler Bürger der Stadt Heidelsheim in den gedrudten Protocol:
len der Sißung.vom 12. Juli 1839. &, 312 ff. Welches ers
greifende Bild von bem fchweren Unglüde fuͤt eine ganze Stadtges
meinde, für fo viele Bürger derfelben geben dieſe theild in der Bürger
Ihlihten Worten, theil8 von ihren Anwälten nach den Acten und mit. '
Protocollauszügen vorgetragenen Beſchwerden! Sie fchildern juriſtiſch
nie zu rechtfertigende, im Beginn und in der Fortdauer mit empoͤren⸗
ben und Öffentli und geheim befchimpfenden und verhöhnenden Miß⸗
handlungen verbundene lange Unterfuchungsverhaftungen einer gro⸗
Ben Anzahl von Bürgern, größtentheils achtbarer,. mit Gütern
96 Jury.
angeſeſſener Familienvaͤter und Ernaͤhter zahlreichet Familien, Ch
führen Klagen über Unterfuhungshaft im Zucht haufe Bel
Zuchthaus koſt und bei andern Entbehrungen, und darüher Def
die richterliche Leidenſchaft zum Theil auch noch außerdem und ctifer
jenen Mißhandlungen bei der Arretieung die Verhafteten mit andern
Strafen, namentlich 'monatlangen Blodffrafen des Zuchthaufes wer ber
Unterfuchung belegt und nicht blos fle ſelbſt, ſondern auch ihre Entlar
ſtungs zeugen ungebührlichft behandelt und eingefhüchtert, zum SEheif feibit
unrichtig protocolliet habe. Sie fhildern eine Unterfuhungshafe, I
‚welcher viele der Ungluͤcklichen zu allem Uebeigen nad) ber erften
BVernehmung Monate, zum Theil viertehalb Monate lang underhärt,
in welcher unter Andern ein beinahe fiebenzigjähriger unfhuldiger Greis
nad) perfönlichen Mifhandiungen des Beamten fünf und fiebengig Rage
zulegt im Finfterem eingekerkert hülflos gefehmachter, in welcher ende
lich Einer der Ungluͤcklichen, ein neunzehnjähriger Juͤngling im einem
mit Steinen gepfatteten feheußlichen Kerker, worin er fich Baum auf
menſchliche Art beivegen fonnte, nach der erften kutzen Vernehmumg 97
Tage lang umverhört. ſchmachtete und am 97. Tage endlich imber
Verzweiflung todtgefunden wurde. - un
Den übrigen fonft gewöhnlichen Veranlaffungen ſolcher
ſchichten aber ging hier eine andere voraus, melde der Werfäffer
Beiten in jenen Öffentlichen Verhandlungen S. 323 mit folgenden
Worten fchilderte:
„Sie fehen, meine Herten!‘ bei diefer Gefegenheit einen Fehler im
„unſerer Einrichtung, den man fo oft in dieſem Haufe beffagt hat, Er
feben das Unglüdfelige der Verbindung der Abmindifkrn«
„tton mit der Juſtiz. Hier ſind die Abminifteneivbehörde (Das 2m)
„und die Bürger — über einen von jener begünftigten und tiber einen gegen
nihee Wuͤnſche gewählten Bürgermeifter — in bitteren Streit
‚men, und als der Streit ausbrach, ſtand dieſelbe Behoͤde Kin
Jury. | 97
Protocol nalo gefteht, daß man hier „bie abminiſtrative
„Ruͤckſicht“, „ben in.die Unterfuhung und Verhaftung Hineinge⸗
„zogenen aus bem Semeinderathe zu entfernen,”” in bie
gerichtliche Verhandlung übergetragen (!!) .
Wohl iſt zu hoffen, daß die Gerechtigkeit der Gerichte und
der Regierung, nach völlig beendigten Verhandlungen biefer Trauer:
gefchichte, das Gerechte verfügen wird. Aber gut madhen läßt
fih ſolches Unglüd nit. — Und was nody niederfchlagen-
der iſt, auch die Sorgfalt der höchften Juſtizſtelle wird die Frei⸗
heit ber badifhen Bürger, die Humanität und Gerechtigkeit nim⸗
mermehr rechtlich fchüßen, fo lange fie der geheimen Inquiſitions⸗
fehme einzelner Beamten und ihrer uncontrolicbaren Willkuͤr, ihren
ſtets nur zufällig entdeckbaren Mißgriffen Preis gegeben bleiben. In
wie vielfacher Weife aber diefelben gefährliche Schlingen bereiten, das
zeigt lehrreich Die vor Kurzem von dem H. v. M. gedrudt erzählte Leis
densgefchichte feiner Verhaftung in Freiburg. Diefer Erzählung und
der allgemeinen Kunde zufolge ließ fich biefer ehemalige tin. preußifche
Officier, Befiger eines Haufes und Meinen Guͤtchens bei Freiburg —
durch den Unmillen über eine gegen ihn aus dem nidhtigften Grunde:
und ſchonungslos vollzgogene Unterfuchungshaft zu ber Uebereilung vers '
leiten, fich dem Angriffe der Gerichtsdiener auf feine Perfon zu wis
derfegen, und fein ſechzehnjaͤhriger Sohn, dem natürlichften kindlichen
Sefühle folgend, eilte jegt zur Vertheidigung feines Waters herbei. Beide
Ihmachteten nun gegen ein Fahr im Unterfuchungsterker. — Gegen den
Vater machte man jeßt, wie jene Berichte fagen, ftatt des nichtigen
urfprünglichen Unterfuchungsgrundbes, da8 an fich geringe Vergehen
feiner MWiderfeglicyleit geltend. Der unglüdlihe Juͤngling, gegen wels
hen auch diefer Grund unanwendbar war, und für welchen ber Richter
andere Unterkunft nicht wußte, blieb vollends grundlos den Leiden und
Gefahren einer fo langen Einkerkerung ausgefest, melde Hr. v. M.
auf die ergreifendfte Weife fchilbert, und weiche ihm die näher bezeich⸗
neten unerfeglichften Nachtheile gebracht habe.
Hoffentlicy bedarf e8 nunmehr weiterer Beifpiele nicht, um es zu
veranfchaulihen, daß auch die humanſte Regierung unmöglich fchägen
kann gegen bie unglüdlichften Verlegungen unferer geheimen Inquifition,
gegen furchtbare, duch fie herbeigeführte Werurtheilungen und Juſtiz⸗
morde, wie bie im vorigen Abfchnitte erwähnten, gegen das Trau⸗
rigſte endlich, gegen die durch bie Verzweiflung der Kerkerqualen her⸗
beigeführten Selbſtmorde, wie ber jenes unglüdlichen Heidelsheimer
Bürgers, oder Verftandesbernubungen, wie die jenes Sünglings, deſſen
geſebwidrige Unterfuhung und fpätere Schulbloserflärung ebenfalls bie
öffentlichen Landtagsverhandlungen vom Jahre 1833 ausführlich befpra=
hen. Welches Unheil aber vollends bei folhem Mangel aller Bürg:
Thaften der Unfhuld und Freiheit menfchlid mögliche verkehrte und
Iehenfejafliche Einflüffe dr Macht anrichten koͤnnten, bavon fein
ort
Staats, Lexikon. IX, | 7
Trug
as Su, . ..
Sek abgefehen von befonderen Drffgeiffen, ⸗
für Die uififäpen Ciheinkerseife in unferen geheimen Prowfiup same
zur Expeeffung von Ausfogen und Geftändniffen besedhneten:
langen Verhaftungen wahrhaft barbariic. Griechen und Sömmeh .
tn, daß Für die größten Berbrechen dem Staate Genuprhunngiterede,
wenn der Verbrecher, mit feinem Vermögen in einen fremden S——
ziehe. Sollte es denn nicht wenigſtens bei allen geringern Verbrechen
bhintängtiche Genugthuung für ung fein, wenn der Angefhuldigte Water:
land und Staat und fein. Vermögen Preis gibt? Weit in den meiften
Fällen find hiernach Verhaftungen eben fo unnoͤthige als ungerechte Graue
ſamkeiten. Vollends ift es ihre entſetliche deutſche Länge. Seibſt aus
demjenigen deutſchen Staate, welcher ſich der beften Juſtig ruͤhmt, —
richtete neulich ein Schreiben in der Augsburger allgemeinen Seitumg
und im ſchwaͤbiſchen Mercur, daß bei Anfchuldigungen großer Merbrer
hen Proceß und Unterfuchungshaft, ſelbſt wenn der Angefhufbigte for
gleich geftehe, faſt mie unter bgei Jahren dauerten. Wie 6 iſt
wenn man vergeblich Geſtaͤndniſſe zu erarbeiten ſucht, davon fpradhen
andere öffentliche Mittheilungen. In Baden’ erfcheinen fehr
Weiſe, feitdem das Juftizminifterium auch biefen Mifftand unferes ger
beimen Inquifitionsprocefjes möglihft zu mindern fucht, Geimimale
tabellen, und bie neueſten derfelben von 1837 enthalten zum erfhen lat
auch Angaben über die Dauer der in diefem Jahre a bg euerheibgem
Criminalproceffe (Ne. XII. ©. 70). Ich bebe hier mur die, meiche im
Durchſchnitte mindeftens vier Monate dauerten, aus, indem ich
weil leider die Tabelle keinen genauen Anhaltspunct für die Du
des ganzen Proceffes darbietet, bie getrennten Rubriken der Beit Der
Dauer dev Unterfuhung und der meift gleih langen Dauer
vom Schluſſe der Unterfuchung bis zum Urtheil zufammennehme,
Es wurden (nad) S. 4) 2289 Perfonen in dieſem Jahre in
Unterfuhung gegogen, die entfchiedenen Procejje aber Dastertem
Jury. 9.
zwar bie Tabelle leider ebenfalls nicht an, eben fo wenig als bie Dauer:
zeit ber 32 Griminalpeocefie, wo blos bie Unterfuhung über ein
Fahr dauerte. Doc läßt fid) nach neuerer deutfcher Gewohnheit an⸗
nehmen, daß bei Unterfuchungen, die vier Monate lang dauerten,
weit bie Meiften verhaftet waren. Asdann wurden in dem einen
Jahr (abgefehen von allen Unterfuhungen und Verhaftungen unter
4 Monaten) von einer Seelenzahl etwas mehr als einer Million gegen
1000 Menſchen vom Gericht für unfchuldig erklärt, bie dem Staate
das entfegliche Opfer bringen mußten, über vier Monate und zum
Theil Jahre lang unfchuldig zu ihrem und der Ihrigen Unglüd In
groͤßtentheils ungefunden Unterfuchungsterkern einfam von den Ihrigen
(osgeriffen zu ſchmachten. Wie groß mag erft die Zahl folder und
noch viel unglädiicherer Sriminalopfer in Zeiten und Ländern fein, wo
bie humane Vorforge ber Regierungen, wo vollfommene Ruhe, Wohls
fand und Arbeitſamkeit des Volks die Zahl ſolcher Ungtüdlichen weniger
befchräntten *).
Bedürften aber nun nad) allem Bisherigen bie deutfhen Unters
fuhungss und Kertertorturen felbft noch einer Schilderung?
Oder foll man es erſt noch ausführen, daß biefe Torturen weit vers
tegender, gefährlicher, verderblicher find, als bie fräbes
ven gefeglihen Zorturen, welche body die allgemeine moralis
fhe Empörung mit verdientem Abſcheu von ſich fließ, welche die Hu⸗
manität und Gerechtigkeit der Fürften und Voͤlker feierlich abfchaffte?
Unfere Juriften mußten beide graufam zu täufchen. Jene alten Torturen
waren nicht wie unfere heutigen völlig unbeflimmt, konnten nicht
duch einen einfeitigen, leidbenfhaftlihen Inquirenten,
nah augenblidliher Laune und Willkür formlos dietirt
und ſogleich vollzogen werden, ohne daß felbft nur die Protocolle eine Spur
derfeiben, oder doch nicht ihre wahre Geſtalt erwähnen. Sie mußten
vielmehr duch feierlihe Dbergerihtsbefhluffe und nah ben
Gefegen nur bei fo großen Beweifen der Schuld ertannt
werben, daß heut zu Zage die meiften Juriſten fie für Straferkenntniſſe
genügend finden würden. Sie waren im Gefe& oder Urtheil genau be-
ftimmt und murden nach dem Gutachten von Aerzten, im Beifein des
Gerichts, gefeglich vollzogen — und fie hatten, wenn ber Angefchuls
digte fie überfland, ohne zu geftehen, wie ein Gottesurtheil,
feine gänzlihde Schuldloserklaͤrung und Losfprehung
zur Folge, was heute keineswegs der Fall iſt. Sie waren nicht
mit dee empärendften, aufreibendfien moralifhen Tor—
tur verbunden, welche vollends unfchuldige und edlere Angeklagte
empfinden müflen, wenn fie fih ohne Schug und ohne Ziel der rohen
rechtloſen Willkuͤr und Leidenfchaft ihres gegnerifchen Inquiſitors Preis
*) Ein Beifpiel eines Fünfjährigen graufam firengen gebe»
men Unterfuchungsverhaftes in der Allgemeinen Zeitung 1838, Beilage 116,
©. 917, der andern politiſchen Proceffe nicht zu —*
100 Jury.
gegeben ſehen. Selbſt fo gefährlich endlich ruͤkſichtilch unge.
rechter Verurtheilungen waren ſie nicht, als die oft noch ohne
alle Beweisgruͤnde für die Schuld willkuͤrlich und zugleich geheim
äugefägten, welche In ben Protocollen entweder gar nicht erwähnt
werden oder doch nicht mahrheit@gemäß und als Erpreffungsmittel ber
ändniffe, fo daß num dieſe von dem entfernten, nach dem tobten
zuge aus den tobten Protocollen urtheilenben Obergerichte als Freis
mwiltige gültige Geftändniffe, als unfehlbare Wahrheitöbeweife Ihren
leider fo oft ungerechten Verurtheilungen zu Grunde gelegt werden.
Diefe Torturen aber, zumal bie moralifhen der Inquifition ſeibſt
in Verbindung mit langen Qualen ſtreng einfamer Einfperrung, Hoffe
man nimmer, ganz zu verbannen, fo lange man blofe jur
ſtiſche Beamtengerichte hat, und Inquitenten nieberfegt, um ihnen
bie Entbedung der Schuld durch Geſtaͤndniſſe zur höcften Aufgabe,
zur Bebingung der nothwendigen Verurtheilungen zu machen, weiche
Beamtengerichte ſich ſteis durch die, wenn auch erpreßten Geftändniffe
und Ausſagen werden zu decken ſuchen. Die Unnatur, um jeden Preis
die Verdächtigen beftimmen zu wollen, durch Geftändniffe ſich ſelbſt ans
zuftagen und ihre eigne Schande und Veructheilung zu begründen,
mu$ neue Unnathrlichleiten erzeugen. Gluͤcklich noch — wenn, -tele.gte
Ehre der badifchen Regierung feit dem Landtage 1831 in Baden, das
Gefeg wenigſtens jedes Schlagen verbietet, wenn auch dadurch — tie
ſchon jener Heitersheimer Fall beweif't, und der Minifter von Armim
beftätigte, nimmermehr alle Mifhandlungen der Angeſchuldigten in
ferem geheimen Inquifitionsproceffe, noch weniger alle Inquifitionse md
v Sum. 101
digkeit unferes allmaͤlig gegen die Gefege eingeführten Inquiſitions⸗
und Relationsproceſſes erfcheinen indeß erft in ihrem vollen Lichte,
wenn man genauer die Nefultate und das Ende diefer fo
entfeslih langen, opfer: und gefabrvollen geheimen
Inquiſitionsproceſſe betrachtet und bitfelben mit ben Reſulta⸗
ten und dem Ende des natürlichen, vaterländifchen, bei freien und prak⸗
tiſch vernünftigen Nationen üblichen oͤffentlichen muͤndlichen accufatos
rifhen und ſchwurgerichtlichen Verfahrens vergleiht. Sie werden Bar,
wenn man zufieht, wie der Natur der Sache nad ſo hoͤchſt un⸗
vollftändig, einfeitig und unzuverläffig die actenmäßigen Beweife und Pars
teiberichte der Inquirenten find, und mie dann nicht einmal unmit⸗
telbarauf fie, fondern aufdie abermals einfeitigen, unvoll>
ftändigen täufhenden Ertracte und Referate bed Refe—⸗
renten aus ihnen — wie auf ſolche, fo oft unrichtig protocollirte und
referirte, fo taufendmal falfche, erliftete und erpreßte Ges
ändniffe und Ausfagen, ja auf fo protocollirte und referirte Mies
nen und Geberden bin die geheimen Blutrichter ihre Urtbeile
- über Leben und Zod fällen, ohne daß nur .ein einziger Richter ben
Antläger, den Angeflagten, die Zeugen oder auh nur bie Anklaͤ⸗
ger und Vertheidiger feibft ficht, hört, befragt, ja ohne daß fie
auch nur jene diden Protocolle und die in ihnen enthaltenen Ausfas
gen und Zeugniſſe felbft fehen und lefen, vollends ganz fehen und lefen.
Sie laffen fi) ja abermals nur von einem Dritten, einem Referenten,
einen ermüdenden fchriftlichen oder einen noch ungründlichern münds
lichen Auszug daraus vortragen, der unvermeidlich abermals nad) eins
feitigec Auffaffung unvoliftändig, parteiifh und untichtig fein, das Uns
wefentliche in falfches Licht flellen, das Weſentlichſte überfehen kann
und muß. Alsdann, wenn fie nun diefe ermübdende, einfchläfernde
Vorlefung, ohne, wie ein öffentliches Geriht, vom Auge bed Publis
cums und ded Anklägerd und Vertheidigers bewacht zu fein, oft nicht
ſehr aufmerkſam beftanden haben, alsdann ftimmen fie ab und ent:
fheiden nad einfacher Stimmenmehrheit über Schuld oder Unſchuld,
über Leben und Tod ihrer Mitbürger, und das Reſultat — das bes
kanntlich abermals vom Üeferenten oder vom Praͤſidenten einfeittg oder’
falſch redigirte, zumellen auch durch geheime Einflüffe vor der Publis
cation wieder abgeänderte Reſultat — das heißt man das Urtheil
des Gerichte.
Die Vergleihung mit dem entgegengefeäten Verfahren — nicht
etwa blos nad) einzelnen Mißgriffen, die freilich bei jeder menſch⸗
lihen Einrichtung vorkommen, fondern nad der Natur der Eins
richtung, die fir, wo fie gut ift, vermindert, und wo fie fchlecht
it, unvermeidlich vermehrt — diefe Vergleihung ergibt ſich erft
fpäter. Eben fo auch der Grundirrthum des geheimen fchriftlihen Ins
quifttiong: und Relationsproceſſes, daß ein juriſtiſcher Beweis in
Strafſachen moͤglich und zuldffig fe. Doch fo viel iſt wohl jest ſchon
Bar, dag fürs Erfte kein praktifcher vernünftiger Geſchaͤftsmann,
102 Jury.
um für ein wichtigeres Geſchaͤft feine Leute, ihre Faͤhigkelten, Are
Abfihten und Ausfagen kennen zu lernen, einfeitige, befangene, uncon»
trolirbare Berichte von Dritten feinem Selbſifehen, Geibfihören,
GSelbftfragen vorzieht, daß fein vernünftiger gerechter Vater fein Kind,
fein Here feinen Knecht firafen möchte, ohne, wo er es koͤnnte, fie
ferbft über ihre Schuld zu befragen. Und das ift für's Iweite
ebenfalls fo Mar, tie der Tag, daß in einem wichtigen verroidelten
ſchwierigen Griminalfalle die wirkliche und vollſtaͤndige Wahrheit und
Gewißheit für das ganze Gericht viel ficherer fich ergeben muß,
wenn alle Richter und Geſchworenen fammt Anktägern und Bertheidis
gern, nach früherer, beffer controlitter und ebenfalls ſchon vielfeitigerer
Vorunterfuhung alle Angefhuldigten und Zeugen felbf
hören und fehen, und wenn eine ſolche juriftifche und bürgerliche Elite
der Nation diefelben mit ihrem ganzen Reihthume von Erfahrungen,
von vielfeitigen, fharffichtigen Gedanken und Bliden befragen und
erforfhen und vor Allem auch ſich über die volle Freiheit,
Deutlichkeit und Aechtheit dieſer Ausfagen und der fie
begleitenden Mienen und Geberden Rechenſchaft geben
Tann. Wo kann man die geiftige Blindheit und Verftodts
heit bernehmen, gegenüber einer folhen Unterfuhung und Wahrs
heitsüberzeugung für das Gericht, blos jene jammervollen, eins
feitigen, unzuverläffigen, hundertmal falfhen geheis
men Inquifitions« und Relationsberichte über hundertmal
erpreßte und unmahre Ausfagen vorziehen zu wollen? Wie
Tann man es mit gefundem Menfchenverfiande und mit Ehrlichkeit
auch alsdann noch thun, wenn, wie in Frankreich, diefe unmittelbare viel⸗
Jury. 103
brecher wirken und wahrhaft glaubwuͤrdige Geftändniffe erhalten innen,
roährend alle jene fcheußliche Inquifitionsüberliftung, &rpreffung und
Willkuͤr, die unzertrennli mit der Natur unferes jegigen In⸗
quijition&peocefjed verbunden find, in jeder Beziehung nur für das
Gegentheil wirkten. Nur fo tft überhaupt die völlig unparteilihe Stel
lung und Wirkſamkeit ded ganzen Gerichts ungleich mehr gefichert,
als bei dem geheimen Urtheilen auf die einfeitigen Ertracte der par⸗
telifchen Sinquifitionsacten. Und felbft die Appellation wenn und wo
man fie nöthig findet, wie regelmäßig bei den ſchwediſchen Schtwurges
richten und zum Theil bei englifhen und franzöfifchen, verfpricht jeßt
eine wahrhaft parteilofe gründliche neue Prüfung.
Es it fürs Drittefo viel bereits allgemein anerkannt,
daß heut zu Tage, wo man nit mehr die unficherften und ſchlechteſten
aller juriflifhen Beweiſe, die duch Zorturen erpreßten Ausfagen und
Seftändniffe, haben will, die angeblidy juriftifhen Beweiſe wenigſtens
in den allermeiften Fällen nicht ausreihen, wenn man
niht faft alle Verbrecher, alle nämlich, welche nicht zwei claf>
fifche Zeugen zu ihrem Vergehen zuziehen oder freiwillig ſich felbft an»
Hagen und geftehen, losfprechen will. Alle ihrem Namen nad würs
dige Juriſten aber verabfcheuen endlich nicht blos als ſcheußlich
und ungerecht, fondern audy als wahrhaft abfurd eben foalle Ins
quifitiond = und Kerkertorturen zur Herbeiführung jener ſchlechteſten un⸗
ſicherſten juriftifhen Beweismittel, wie die bie deutſche Rechtswiſſen⸗
ſchaft ſchaͤndenden Erfagmittel für die immer größeren Mängel
und Füden jener Beweiſe, die SInftanzlosfprehung naͤmlich
und die aufßerordentlichen oder Verdaͤchtigkeitsſtrafen.
Und ſomit iſt unfer bisheriger Strafproceß völlig bankbruͤchig ges
worden.
In der Verzweiflung aber, die nun entſtehen mußte, in dem
offenbaren Bankbruche unſeres geheimen Inquiſitions⸗ und
Relationsproceſſes ergaben ſich nur zwei Auswege: ents
weder der allein naturgemäße der Ruͤckkehr zum vaterlaͤn⸗
difhen Schwurgerichte in zeitgemäßer Ausbilbung, oder der für
ein freies Volt fucchtbare, der ndmlih: unter anderem Namen alle
Strafen zu Verdächtigkeitsftrafen zu madhen, ndmlid
bie unabhängigen juriftifhen Regierungsdiener nad
ihrer fubjectiven Meinungserkidärung über Freiheit, Ehre
und Leben ihrer Mitbürger richten zu laſſen. Es ift dieſes der Aus»
weg, welchen ſchon vor fünfzig Jahren ber ehrwuͤrdigſte praftifchefte
Juriſt Deutſchlands, der große Juſtus Möfer, mit Abſcheu zuruͤck⸗
wies. Sogar that er dieſes zu einer Zeit, wo man die heutige Ab⸗
haͤngigkeit unſerer Richter noch für undenkbarer hielt, als unfere heu⸗
tigen, ſie erſt recht gefährlich machenden politiſchen Parteiungen der
Bürger und ber Regierungsdiener. Dennoch urtheilte Moͤſer ſchon da⸗
. mals, daß dieſes: „die gefaͤhrlichſte Wendung ſei, welche wir zu bes
104 Jury.
„fürchten haben, und daß bei ihr Freiheit und Eigenthum einzig, und
„allein auf der Gnade des Kandesheren ruhen würde *).“
3) Wefen, Eintihtung und Folgen des neueren
Schmwurgerihts. — Verfahren bis zur Affife**).
In England behielt man bis heute, eben fo wie ſtets in Gries
henland und Rom und bei allen germanifdhen Völkern bis in's fpäte
Mittelatter, den Privatanklageproces oder den Grundfak bei, in ber
Regel die Griminalproceffe davon abhängig zu machen, daß einzelne
Bürger freitoillig im Namen des beleidigten Vaterlandes oder auch zu
ihrer eigenen Genugthuung al3 Privatanfläger auftreten und für bie Bei⸗
dringung der Beweiſe forgen. Nur in eigentlichen Staatsproceſſen
teitt eim Öffentlicher Anklaͤger auf (attorney general). In feiner
Grundidee und, weil es edle geſebliche, aufopfernde Bürgergefinnung
und den Abſcheu gegen die Verbrechen nährt, hat diefe Form bes
aceufatorifhen Verfahrens freilich viel Gutes. Auch hat dee englifche
Gemeingeift, zum Theil durch Affociationen zur Beftreitung der Laften
der Anklagen, in Verbindung mit einzelnen gefeglihen Nachhuͤlfen, bie
unfeugbaren Bedenklichkeiten gegen diefe Einrichtung bisher noch meiſt
befeitigt. Der Anklaͤger nun forbert einen Friedensrichtet der Graf⸗
ſchaft zur Erlaffung eines Worführungsbefehls gegen den Angeflagten
auf, damit der Friedensrichter den Anklaͤger, ben Angeklagten und bie
Zeugen vernehme. Schon dieſes erfle Verhoͤr ift öffentlich und
ein Beiftand des Angeklagten nicht ausgeſchloſſen. Der Frledensrich⸗
ter laͤßt die Verhandlungen protocolliven. Findet er kein Verbrechen
oder Seinen genügenden Verdacht deffelben, fo läßt er den Angeflagten
gehen. Iſt das Gegentheit der Fall, fo bleibt der Angeklagte ebenfalls
frei, wenn er durch mäßige Cautionen oder durch Bürgen Sicherheit
Jury. 108
Werth auf ganz frei abgelegte Geſtaͤndniſſe, weiß, dag biefelben eher
durch moraliſche Einflüffe, als durch allen liftigen und quälenden Krieg,
welcher zum Gegenkriege reizt, entftehen. Gefländniffe überhaupt, aber
vollends die fo tauſendfach irreführenden, welche auch nur durch eine
bIo8 geiftige Tortur erpreßt wurden, find für’ Schwurgeridhtsurtheile
unnöthig.
In Folge einer vom Friedensrichter vorläufig zugelaffenen Anklage
wird nun der Angefchuldigte alsbald vor die große Anklagejury ges
ſtellt, welche aus mindeftlens 12 und höchftens 24 der achtbarſten Mäns
ner der Grafſchaft beftchen muß, und die von dem Sheriff der Grafſchaft
zufammengerufen wird. Wenn nun bier nicht wenigftens zwölf ber
Geſchworenen die Anklage für begründet halten, fo wird der Anges
(huldigte nicht in Anklagezuftand verfegt, fondern freigelaffen, kann
aber fpäter wegen deffelben Vergehens gerichtlich verfolgt werden.
Hält dagegen die Jury die Anklage für gegründet, fo ift ber Anges
ſchuldigte erft jegt im peinlihen Anktlagezuftande, und der Proceß wird nun,
abermals ohne Dazwiſchenkunft irgend eines Actes umferer deutfchen
Inquifitionsqualen, in ber naͤchſten Affife dee Grafſchaft öffent:
lidy accuſatoriſch verhandelt und endlich entfchleden. Ueber alle gerins
geren Dergehen richten die Vierteljahrsfigungen der Friedens
tichter der Sraffchaft, welche Friedensrichter als unentgeltlich dienende,
aus Grundbefigern der Grafſchaft beftehende Bürger in ihrem Vereine
an fi) ſchon ein Schwurgericht bilden, aber auch noch Geſchworene
neben ſich haben. Wenn nun in der Affife oder ber Vierteljahrsfigung
Losfprehung erfolgt, fo kann der Losgeſprochene nimmer wegen deſſel⸗
ben Vergehens wieder angeklagt werden. Der ganze Griminalproceß
dauert, wenn er nicht fchon gleich in den erften Tagen endet, mit fei-
ner dreifachen Verhandlung und Vernehmung und feinen zwei Schwurs
gerichten, ber Anklage: und Urtheildjurm, nur wenige Wochen,
felten ein Vierteljahr und noch feltener einige Beit länger. Bei
jeder Sigung follen die Gefängniffe geleert, alle Proceffe beendigt
werden. Das ganze Criminalverfahren von feinem Anfange
bis zu feinem Ende und der Angeklagte in demfelben flehen unter dem
Schutze des vollen Sonnenfcheins der Deffentlichkeit. Auch bei den
wenigen und kurzen Berhaftungen ift daduch, daß ben Engländern
alles geheime Inquiriten völlig fremd ift, ſelbſt die Veranlaffung zu
jenen beutfchen Kerkerqualen und zu Erpreffungen unglaubwürdiger
Ausſagen und Geftändniffe entzogen und duch die Zulaffung von
Freunden und Anmälten, wie durch die fpätere Deffentlichkeit der gan⸗
zen Verhandlungen der befte Schug gegeben. Bekannt ilt ed aus
ßerdem, auf welche trefflihe Weife die Habeascorpusacte gegen jeden
Beginn und gegen jede Kortdauer unbegründeter Verhaftung durch eine
Meihe von Beflimmungen forgt, und die Bürger fo gegen furdhtbare,
Gluͤck und Gefundheit zerftörende, dem Despotismus der Beamten
und der Regierung dienflbare Inquifitionsquälereien ſchuͤtzt, unter denen
bei uns mehr Menfchen leiden, als man fich geftehen mag, welchen
106 Jury.
auch nur ausgefeht zu fein, ein allgemeines Ungtüd und. bie gefähe
lichſte Untergrabung der Freiheit. ift, r
Das feangöfiiche: Gerichtsverfahten iſt leider unter Na eons
bespotifhem: Einfluffe mancher Mechtsgarantieen bes engliſchen bermukı,
obgleich es noch unendlich viel gerechter und f(hüähenberr if,
als das deutfche. Gerade diejenigen Puncte, mo es dem fehterem fd,
nähert , bezeichnen die Franzoſen als deſſen partie honteosw mb für
dem deren Meform: Es weicht in der Form des aceufurorifchen Wa
fahrens und der. Vorunterſuchung auf eine der oͤffentlichen Sichecheit
bei unferer heutigen Cultut entfprechende Weife darin won dem
ſchen ab, daß im jedem Gerichtsbezirte Sffenrlihe Antiägen
Staatsanwälte; zu gerichtlichen Werfolgung dev Verbrecher verpflicen
find. Auch findet unter ihrer Controle und Mitwirkung-eine Urt kn
theitweife inquiſitoriſchet Vorunterſuchung Statt.
Den Proceß beginnt mit der VBorunterfuhung ein imammoribie
Collegialmitglied des erſten Inftanzgerichts als Inftructtonsridhter;
bei dem delit flagrant möglicher Weife auf eigene Hand, außerdem eb
regelmaͤßig nuc auf Aufforderung bes öffentlichen Anktägersy” jedes
niemals ohne Mitwilfen und ohme Mitwirkung des Letzteren und ober
Höhere Leitung des Collegiums- bei allen bedetitenden Schritten. Min
haftungen erfordern ebenfalls biefes Zuſammenwirken umd finden zn
häufiger als in England, dody weitaus nicht fo häufig und fo Tanga
als in Deutſchland Statt, nämlich nur bet den größeren Verbtechen
bei fehr deingendem Werdadyte. Auch wird derfelbe öfter durch Sicher
heitsteiftung: abgewendet. Und nur ſehr felten und auf Kurze A
if der Vechaftete Durch befonderen Befhluß der ſogenannten
nen Haft; fo'mwie leider regelmäßig und Jahre fang in Dymtidı
land, des tröftenden und ſchuͤzenden Zufpruchs von Verwandten, een
den und Beiftänden beraubt. Die Vorunterſuchung fetbft- age
nicht fo kurz, wie in England und nicht öffentlich ie dort. Denken
Sum. 107
der Vorunterfuchung nachfolgende öffentliche Verhandlung und bie volle
Freiheit der Vertheidiger und des Angeklagten, in derfelben jede Unges
buͤhr Eräftigft zu rügen und zum Vortheil feines Clienten zu nügen,
eine neue kraͤftige Sicherung. Endlich iſt eine vortreffliche Hauptfolge
diefee Deffentlicykeit, daß jeder englifche und franzoͤſiſche Bürger feine
gefeglichen Mechte und Pflichten ungleidy beffer kennt, als der Bürger
in Deutfchland, und dadurch in den Stand geſetzt wird, jedes Unrecht
ſogleich bei bem Beginne kräftig und wirkſam zu bekaͤmpfen.
Uebrigend wird auch in Frankreich die Vorunterfuhung von dem
Snfteuctiongrichter mit Hülfe des Actuars zu Protocol gebracht, zwar
zunaͤchſt ebenfalls nur, um, wie in England, mit allen etwaigen fon:
fligen Documenten und Beweisftüden für die Frage über. die Ver:
fesung in den peinlihen Anktageftand zur Grundlage zu dienen. Doc)
bleiben diefe Protocolle, fo weit fie in den enblichen öffentlichen Wer:
handlungen Beftdtigung erhalten, eine fchriftlihe Grundlage auch in
dem übrigen Proceffe.
Iſt die Vorunterſuchung beendigt, fo merden bie Unterfuchungss
acten nach vorgängiger Prüfung und Antragftellung der Staatsbehörde
von dem Collegium des Tribunals ber erften Inftanz berathen, und von
diefem,, wenn es nichts weiter zu erinnern ober zu ergänzen findet,
ber Anklagekammer des Appelhofes übergeben. Diefe, "mins
deftens aus fünf Appellätionsräthen beftehend, hat nun ftatt der eng:
tifchen Anklagejury nach genauer Erwägung über die Verfegung
in den Ankllagezuftand zu entfcheiden. Erklaͤrt fie entive-
der, daß die Anklage unzuläffig ober nicht genügend begründet fei, fo
wird der Angeklagte, wenn er verhaftet war, in Freiheit geſetzt. Er:
kennt fie die Verſetzung in den Anklagezuftand,, fo wird nun die Sadıe
an die naͤchſte vierteljährige Affife verwiefen. Auch in Frankreich
werden die meiften Procefie in wenigen Wochen beendigt. Selten
dehnen fie ſich über die naͤchſte Wierteljahrsfigung der Affifen aus und
dauern in der Regel nicht fo viele Wochen als in Deutfdyland Donate,
ja Jahre. Ja, wir haben oftmals in Frankreich, fo mie jest in Eng:
land, große politifche Procefje mit einer [ehr großen Anzahl von
Mitſchuldigen im Laufe weniger Monate beginnen und beendigen fehen, -
Proceſſe, bei welchen unfere bier fi wahrlich nicht als meifterhaft er:
weifende, graufame, deutſche Juſtiz alle irgend Verdaͤchtige Jahre
lang, oftmals fünf bis ſechs Jahre in den Kerkern hätte ſchmachten
laſſen und fie zum Wahnfinne, zum Tode oder zu lebenslänglichem
Siechthume abgemartert hätte, fo daß es in Deutfchland Häufig viel
größere Leiden begründet — vielleiht unfhuldig — audh nur
verdächtig, als in England und Frankreich verurtheilt zu
werden.
Das Hauptverfahren ſelbſt und die endlihe Entſchei—
dung. — Ste finden in England wie in Frankreich in ber feier:
lichen durchaus oͤffentlichen Verhandlung der fogenannten Affife Statt.
Diefe findet in England dreimal, in Frankreich viermal im Jahre, und
108 Jury.
wenn ſich die Proceſſe haͤufen, damit fie ſchnell genug beendigt men
Serichtsdeat
den koͤnnen, auch nach außerotdentlichet Weiſe in jedem
Statt. ,
An der Aſſiſe nun fisen in England. als jutiſtiſcze Srantsrichen
einer ober zwei der Lords Oberrichter von Engiand twelche zu
diefem Zwecke die Grafſchaften bereifen,. zu Gericht, Sie haben du
ganze Gerichtsverhandlung unpartelifd und gefeglich zu leiten,
In Frankreich, und in den deutſchen Laͤndern des linken Reis
ufers, im welchen legteren die fpäteren frangöfifchen bebeutenden Der
änderungen der früheren Napoleon’fchen Gefeggebung über das Scymun
gericht nicht Statt. finden, beftehen diefe Staatsrihter aus fünf mad
meuerem franzöfifchen Gefese leidet nur aus drei) Mäthen des Dim
appellationsgerichts bes Bezirks, von welchen einer zum Pedfidents
der Affife ernannt wird. Sollte eine befondere Thriimabme, die de
Proceß erregt, im ‚einem Departement eine nicht ‚völlig wibefamgen
Jury erwarten laffen, fo kann duch Gerihtsbefhtuß ber Proud
der Affife eines andern Departements. zugewieſen werden. So wurd
z. B. der Proceß von Font in Coͤln, melt dort cite lebhafte Mehr
zeugung feiner Schuld ſich zeigte, ‘vor die Affife in Trier vermieden
Die Bildung ber-Gefhworenen und Verbinbium
der Affife. — Neben den juriſtiſchen Staatsrichtern follen zur unpari
iſchen Entſcheidung über die Ihatfcagen der Schuld die Gefchmo remen
fisen; in England und in Sranfeeih 12 an der Zahl, Die Auswahl
der Geſchwotenen geſchieht auf folgende Weife.
In England ift, nad der neueſten Parlamentsatte (22. I
1825), zum: Gefchmorenen jeder Engländer fähig, melher 21 aber
alt ift und ein. Einkommen von 10-Pfund Sterling aus Gru
thum oder einen Erbpacht von 20 Pfund jährliher Einkuͤnfte har md
in der Graffhaft. anfäffig ift. Doch find manche Perfonen u—
ſchloſſen, weil manı fie für weniger tauglich hätt, oder nicht ala genug
: jeden mit Angabe gefehlicher Mecufationsgrände, wegen Unfähigs
keit, Infamsie, oder Parteiihteit. Bleiben hierbet fein
renen übrig, fo werden Ergänzungsgefhworene, zum. Theil aus ben
. Unsftehenden ernannt, bei weichen dieſelben Eecufationdredhte Statt
finden. Gind endlich 12 nicht recuſitte vorhanden, fo merden fie
ı eberldigt, und das Geſchworenengericht iſt conflituirt. "
"In Srankreich find zu Gefdworenen fähig framzoͤſtſche Staats.
Bürger, welche SO Jahre alt und im Beſitze der politifchen Rechte
And, und durch Einkommen ober ihre intellectwelle Bildung
als notable Bärger Värgichaften geben. Dahin gehören 1) alle
Mitglieder dee Wahlcolegien für Deyutirtenſtellen, weiche im Des
gartement wahlfäbig Tind oder ihren Wohnfit haben; 2) bie vom
‚Könige ernannten unentgeltlich dienenden öffentlichen Beamien; 3) bie
Dfficiere der Land⸗ und Geetruppen, weiche en retraite find, 1200
Francs Penfion haben und felt 5 Jahren Im Departement wohnen;
-4) bie Doctorm und Pieemtiaten einer oder mehrerer Facuitaͤten,
wenn fie Advocaten ober Antedite bei einem Gerichtshofe oder mit
dem Unterrichte In einem Zweige ihrer Faeultaͤtswiſſenſchaft beaufs
tragt find, oder ſchon zehn Jahre im Departement wohnen; ferner
- De Mitglieder und Gorvefpondenten des Jnſtitutes und: die Mitglie⸗
der der übrigen vom Könige anerkannten gelehrten Geſellſchaften; 5) end«
uuch die Notarlen, . weiche ſchon drei Jahre ihre Amatefunctionen aus⸗
üben. Die Praͤfecten fertigen die Liſten aller diefer Faͤhigen und
ergänzen fie, wenn fie nicht wenigſtene aus 800 Mitgliebern in
" einem Departement beſtehen, bie ga ofen Babl, aus ben siak
110 Jury.
den werden in eine Urne geworfen und daraus’ bie 12 Geſchwen⸗
nen herausgegogen. So wie ein Name herausgezogen wird, fat
zuerft der Angeliagte, welchem einen Tag vorher die Gefhinorenm:
tifte mitgetheilt wurde, und nad ihm der Staatsanwalt das Mecht,
ohne Angabe der Gründe, den Genannten zw vecufirem, BES Amict
mehr als 12 übrig find. Bei umgleicher Baht darf der Angeklagte
einen mehr recuficen. Wenn 12 nicht recuficte Geſchworene abır
ſolche, gegen welche nach dem Angeführten kein Netufationseedt
mehe möglich iſt, vorhanden find, fo werden biefelben beeibäge, um)
das Gefäworenengericht iſt gebildet,
Diefe ganze Bildung der Gefhmworenen in England und Frank
reich bezwecht offenbar, daß aus ber ganzen Mation eine Hinldng
liche Anzahl folcher Bürger ats MNepräfentanten berfelben, im Ahrem
Namen gleichfam als ihr oͤffentliches Gewiſſen, wie ausdrüdktich fee
i ifchen Gerichteformeln erklären, über das Dafen
der Schuld richten, welche dazu in jeder Hinfidt am Gun
eignetften find. SPerföntiche Unbeſcholtenheit, ein anſtaͤnc⸗
Ausfommen und Vorzüge des Geiftes und der Ausbildung, Abe
Miſchung aus den verfhiedenen Ständen’ und Berufselaffen der Geb
Schaft, ihr Wohnfis in der Gegend, wo das Verbrechen gefchah, und ir
Angeklagte fich befindet, und dazu die Eigenthümtichkeit, dag fe
fo wie fie vor dem Urtheil aus dem Schooße ihrer Min
bervortreten, nad demfelben ohne bieibende Gemalt im? bemfelhem
zuruͤcklehren ſollen die Annahme rechtfertigen, daß fie durch—
föntiche Tüchtigkeit wie durch Intereſſe für das Waterland mb Be
f ©;
Jury 111
Repraͤſentanten ber vaterländifchen Gerechtigkeit erfcheinen. Der Ans
aefchuldigte und der anklagende Staat belommen fo ein Gericht, das
fie felbft als das moͤglichſt unparteiliche anerlannten, das fie ſich ges
wiffermaßen felbft auserwaͤhlten. |
Zu dem fo vereinigten Gerichte juriftifher Staatss
richter und ber Geſchworenen und vor baflelbe gehören nun
außer dem Angeltagten, den Zeugen, dem Gerichtsfchreiber und dem
Volke, welches der mündlichen Ssffentlihen Verhandlung anmohnt (fos
fern nit ein für bie Sitten feandalöfer Kal ausnahbmsweife nur
allen Advocaten Zutritt geflattet), noch folgende beiden Hauptbeftand>
theile. Auf der einen Seite der Staatsrichter befinden ſich ein oder
mehrere Staatsanwälte, welche ebenfalls, wie die Staatsrichter, für
bie ſtrenge Gefeglichkeit der ganzen Verhandlung, zunddyit aber für die
Wahrung der Staatsinterefien in derfelben. zu wachen haben. Dabei
tritt in dem franzoͤſiſchen Accuſationsproceſſe ein Staatsanwalt regels
mäßig als öffentlicher Ankläger auf und hat als ſolcher befonders auch
für alle Mittel der Ueberführung des Angefchuldigten zu forgen, wäh:
send in England in der Regel noch Privatanlläger auftreten. Den
Staatsprocuratoren und Anklägern gegenüber ftehen dann in England
wie in Frankreich bie frei erwählten, meift techtögelehrten Vertheidiger
des Angeklagten, welche vorzugsweife alle für den Angeklagten günftis
gen Momente hervorheben und, unterftüst von der Deffentlidykeit, für
. genaues Einhalten der Gefege zu feinen Gunſten machen. Freilich
follen auch fie niemals wiffentlich Unmahres und Ungefesliches ver:
theidigen, fo mie vollends der Staatsanwalt im Öffentlichen Intereſſe
feines Amtes daffelbe befämpfen und natürlidy auch die dem Angeklag⸗
ten günftigen Momente anertennen und geltend machen fol. — Doc
find gerade ihre beiderfeitigen entgegengefesten Rollen der Bertheibis
gung und ber Anklage und bie dadurch natuͤrlich gegebenen entgegen:
gefesten Hauptrichtungen für die gerechte parteilofe Entfcheidung we⸗
ſentlich und vortrefflih, um die Sache möglichft vielfeitig und vollftän-
dig von den entgegengefesten Standpuncten auß zu bes
teachten und alle bedeutenden Puncte berfelben hervorzuheben. Schon
allein weil bei uns dieſes mangelt und weil bei uns nicht ein Kläger
und Bellagter vor dem Richter gegenüberftehen, iſt unfer deutfcher
Eriminalproceß wahrhaft monſtroͤs. Dagegen fordert die Staatsrichter
und die Geſchworenen ihre unparteilihe Richterpflicht auf, bie natürs
liche Ausgleihung und die unparteiliche Wahrheit zu ſuchen. Dazu
aber Haben Richter und Gefchworene eben fo wie die Ankläger und
Vertheidiger auch das für Aufbellung der Sade herrliche
Recht, ſtets die nöthigen Kragen an den Angefhuldigten wie an die
Zeugen zu ftellen, oder durch den Präfidenten ftellen zu laſſen, demnach alle
Mifverftändniffe zu befeitigen und über dunkle Puncte fi) und Ans
dern ſogleich Licht zu fchaffen. Sie fehen und hoͤren Alles vollftändig
und ſelbſt lebendig vor fih, haben nicht, wie die Richter bei unfern
Relationen und oft fehr einfeitigen Auszügen aus einfeitigen todten
112 Fury. y
Protocollen nur das durch Dritte vielleicht unrichtig Aufgefagte umbau
vollftändig, vielleicht uncichtig Mitgetheilte vorlefen zu hören „ohme bie
Angefhuldigten und Zeugen mit ihren eigenen Worten, Mienen mb
Geberben jemals felbft zu fehen, zu börem, oder um am
Aufſchluͤſſe angehen zu können, um Auffhläffe, die-oft mehr
als Alles das wahre Licht geben. Um aber die Gefchmorenm
und die anderem Richter in diefern Streben nach der parteilofen Wahr:
heit über Schuld oder Nichtſchuid zu unterſtuͤden, bat der, Präfibent
dee Affife nach beendigter Verhandlung in Kürze mit möglichfter Un
parteilichkelt, Ruhe und Klarheit die Nefultate der ganzen Werken
tung und die für und gegen die Anfhuldigung fprehenden Puncite
wiederholen. - Alsbann uͤberreicht er den Gefchworenen Ichriftkichdir
Fragen über die Begehung oder Nichtbegehung der verbrecherifäen
Thatſache und uͤher diejenigen Thatumſtaͤnde, welche gefeglich met
lich find, um die Hauptthat als ſchwerer oder als milder ftrafbar bare
feiten.
Nach folder reifen und vielfeitigen Vorbereitung m
Bildung einer Ueberzeugung ziehen ſich die Geſchworenen im ihr befen
deres Berathungszimmer zurüd. Sie nehmen dahin aufer dem feheif
lichen Fragen und ihren Auffaffungen: der Verhandlung auch, au rim
zeine Momente nochmals prüfen zw koͤnnen, alle über bie bei
Thatſachen gefammelten Documente mit, Sie haben dann noch umie
einander ſich über ihre Zweifel gegenfeitig aufzuklären und zu Derflie
digen und fid endlich in dem gewiffenhaften Beſchluſſe über die Schu
oder Nichtſchuld zu einigen. Sein endliches Votum foll übrigens Ih
Jury. 118
Schwurgericht ſelbſt beobachten konnte, erfuͤllt die ſtete aͤußerſte Sorgfalt
fuͤr jenen großen Grundſatz mit Bewunderung. Da haben die Gerichte
nichts von der tyranniſchen oder polizeimaͤßigen Haͤſchermanier an ſich.
Da hoͤrt man die vorſitzenden Lords Oberrichter, ſtatt gewaltſamen oder
liſtigen Draͤngens zur Erhaſchung eines Geſtaͤndniſſes, die Angeſchul⸗
digten ſogar vaͤterlich warnen, ſich nicht durch Ueberraſchung zu falſchen
Geſtaͤndniſſen uͤbereilen zu laſſen. „Da iſt es“ — um mit einem Be⸗
richterſtatter der Allgemeinen Zeitung (vom 21. Aug. 1840)
uͤber die neueſte gerichtliche Verfolgung der Chartiſten zu reden —
„ein immer neues erhabenes Schauſpiel, wie bie hoͤchſte Gewalt
„ſich ſelbſt durch kleinliche Foͤrmlichkeiten gegen Willkuͤr bewahrt, wie
„man ſelbſt die Proceſſe gegen Maͤnner, welche die oͤffentliche Ruhe
„ſo groͤblich verletzt haben, und denen man noch dazu die frevelhafteſten
„Abſichten in Bezug auf die beſtehenden Eigenthumsrechte zuſchreibt, mit
„der majeftätifhen Gelaſſenheit und Leidenſchaftsloſig—
„Leit führen ſieht, welche diefe Verhandlungen in Monmuth
„bezeichnen. Auch iſt“ — fo fährt immer noch jener Berichterftatter
fort — „auch ift diefe Gelaffenheit nicht auf den Gerichtshof beſchraͤnkt;
„die ganze Nation, obgleich alle Blicke auf das dortige Verfahren ge:
„ichtet find, nimmt Theil daran, was ſich ſchon dadurch aͤußert, daß
„ſelbſt die wuͤthendſten Zorpjournale bie ganze Zeit über kein Wort fallen
„laſſen, durch das die Lage der Schuldigen verfchlimmert werben koͤnnte.“
Wie viele Menfchen unter uns haben wohl aud nur ein beut-
liches Gefühl von biefer göttlichen, jeden unbefangenen Beobachter mit
Hochachtung erfüllenden Gerechtigkeit in der Sefinnung eines großen
Volks, welche die herrlichſte Frucht des Schwurgerichts und
zugleicy der Eräftigfte Damm gegen alle Wogen ber Keidenfchaften, der
ftärkfte Schirm der gefeglichen Ordnung wie der Freiheit ift.
Bet ber franzöfifchen Jury genügte früher — und diefes gilt noch
in den deutfchen Rheinlanden — eine Mehrheit blos von einer Stimme,
alfo die Mehrheit von 7 Gefchworenen gegen 6 Stimmen, nicht zur
Verurtheilung, fondern alsbann flimmten die Staatsrichter mit über
die Thatfrage, und zwar fo, daß vor dem Geſetze vom 24. Mai 1821
ihre Stimmen mit denen der Geſchworenen zufammengezählt und durch
die Mehrheit entfchieben wurde, fpdter aber die Mehrheit der Staats:
richter die Losfprechung entfchied. Dieſes veranlaßte, daß die Geſchworenen
‚in ſchwierigen Faͤllen, wenn bei ihnen die Ueberzeugung für bie Schuld
überwog, aber noch nicht über jedes Bedenken erhoben war, öfter wohl
gerne durch eine Verurtheilung von 7 gegen 5 bie Entfcheibung in die
Hände ber Staatsrichter Iegten. Nach dem revidirten Code d’instruc-
tion von 1832 aber iſt in Frankreich diefes aufgehoben, und es
werben zur Verurtheilung 8 gegen 4 Stimmen erfordert; nach den
Geptembergefegen jedoch wieder nur.7 gegen 5. Dagegen Binnen bie
Geſchworenen in Faͤllen, wo ihnen die Schuld zwar unzweifelhaft ift,
aber ihnen die Verurteilung durch die befonderen milbernden Umflände
erſchwert wird, mit gleicher Stimmenmehrheit das Vorhandenfein mil
Gtaats⸗ Lexikon. IX. 8
? *
114 Jury.
dernder Umftände ausfprechen, wobei denn bie Staatsrichtet eine geringen
Strafe auszufpeehen haben, Im England haben die Gefd u
ähnlichen ſchwierlgen Fällen, we ihnen bie. Thatfache ber |
ber betreffenden Danbfung zwar gewiß if, ihnen aber doch
fonderer Umftände der verdtecheriſche Charakter und die S 477
Handlung bedenklich ſcheint, auch noch das Recht, ein. fogenamnis
Specialverdict zu geben, buch welches fie, ſtatt ein Schulbig ausw
ſptechen, blos erkläsen, daß die Thatfache wahr fel, ums bem. zedhtd:
gelehrten Stgatsrichtern die. Entſcheidung der Sache anheimzuftellen,
Gegen etwaige Mifariffe fhüsen außerdem noch ‚andere Einrid
tungen. Hierhin gehören nicht blos die, Gaffationen des ganzen
im Falle der. Berlegungen irgend einer der wefentlichen —
ſchriften bei dem Verfahren und bei falfcher richterlicher
des Geſetzes. Dieſe Caſſation kann von dem; Staatsanwalt ober
Angeklagten gefordert werden und hat, wo fie erlannt wird, bie
meifung der Sache an ein neues. Gefchworenengericht zus Bolge, mc
welchem, die, ganze Verhandlung. ſich wiederholt. Auch wenn ein Gr
fhmormer etwa. durch Privatgefpräc, duch eine Bectüce odet durch
Entfernung - während. ber Verhandlung, fo, wie im, geheimen
öfter dev Richter, eine Unterbrechung feiner angeſttengten Nufmerffan
für die ganze Verhandlung zeigte, wich. fogleic. dad _gamze Bier
fahren. caſſirt. Zur befonderen. Garantie, aber, daß die
nicht ein Stenferkenneniß ausſprechen muͤſſen, wo file am
Schuld glauben, und daß nicht etwa die Gefehmorenen im einem
einzelnen Falle der Unſchuld durch eine ſolche Weruerheili ſchaden
Eöunten, bei welcher die wiſſenſchaftlichen Richter ernfiliche Bi
ihrer Gerechtigkeit ‚haben , fteht dem Lepteren bei einem. ſolchen verusr
thellenden Exfenntnik in England. und, Srankreich das. Suspen
ftonsrecht zw, vermoͤge deſſen fie die Sache an ein. neues J
tenengeticht bringen. Auch kann das, Gericht, falls es das Mh
Jury. 118
um eine Verurtheilung auszufprehen, für Volk und
Regierung die bentbar größte Gewißheit und Ueberzeu:
gung von des Angeklagten wirtliher Schuld bewirkt,
widrigenfalls derfelbe losgeſprochen werde.
Einerſeits follen und können allerdings die Geſchworenen über bie
Wahrheit oder Unwahrheit der angefchuldigten Thatfache ſich ein Urtheil
bilden, entweder bie felte, innige moralifche Ueberzeugung, daß ber Ans
gefingte unzweifelhaft des Verbrechens fchuldig fei, in welchem Falle fie
ihn ſchuldig erklären, oder die, daß fie ihn für unfchuldig halten, ober
endlich die, daB auch nur nody Zweifel an biefer Schuld Statt finden,
in welchen beiden letztern Fällen fie nad, ihrem Eide das Nichts
ſchuldig ausfprechen follen. Sie koͤnnen darüber urtheilen. Denn
es iſt diefe Thatſache der Schuld fo unzmeifelhaft ein Gegenftand ber
allgemeinen menfhlihen und bürgerlichen Erkenntniß, daß
nicht blos Jeder ohne alle juriftifche Bildung wirklich täglich mit Ueber:
zeugung darüber urtheilt, fondern daß auch eine Verurtheilung bes
nicht juriftifchen Verbrechers rechtlich unmoͤglich, daß ihm die Handlung
ur vollen Schuld gar nicht zurechenbar waͤre, menn er nicht felbft
—* die Schuld hätte urtheilen koͤnnen. Es find ficherlich die Ge⸗
ſchworenen, zwölf der achtbarften, vertrauenswürbigften Bürger aus
verfchiedenen Ständen und Lebensverhäitniffen, mit gefundem praftifchen
Sinn und Verſtand und vielfeitiger Erfahrung über bie Lebensverhaͤlt⸗
niffe, über Bedürfniffe, Neigungen, Beflrebungen und Handlungsweiſen
ihrer Mitbürger, zu einem folchen Urtheil über eine ihnen fo vollftändig
dargelegte Thatſache des Lebens volllommen befähigt. Das allgemeine
menfchliche Intereſſe und ihre eigenen praktifchen Bebürfniffe in ihrem
Berkehre mit Menfchen aller Claſſen, ihr tägliches Bebürfniß, ſich und
die Ihrigen vor Verbrechen, wie vor Verbrechern zu fhügen, haben fie
längft vor der Affifenfigung bei Hunderten von verfchiedenen Verbrechen
und andern Handlungen ihrer Mitbürger dahin geführt, die verfchiedenen
Ausfagen und Gründe für und mider die Wahrheit der Ausfagen und
Anzeigen dee Schuld oder auch für die Wahrheit der Ableugnung vers
bächtigter Perfonen zu einem moralifchen Uebergeugungsurtheil abzumägen
oder zu combiniren. Alle ihre Verhältniffe, fo 3. B. ihre Verträge
mit ihren Pächtern, Handlungsbdienern, Knechten u. f. w., zwingen fie
ja täglich zu ernftlihen Prüfungen von ſolchen Verdachtsgründen und
von Ausfagen über Schuld oder Unfchuld beftimmter Perfonen.
Dennoch Tann und foll ihre Urtheilen bei der Affife zur möglichften
Bielfeitigkeit und Vollſtaͤndigkeit auch durch die juriſtiſche Bildung
unterflägt werden. Kann diefe ndmlidy etwa mit einem befonderen
Schatz von Erfahrungen und von Scharffinn vielleicht in Beziehung
auf einzelne Umflände und Ausfagen den Schlüffel zur Löfung einzel⸗
ner Verroidelungen und Raͤthſel, ober richtige: Gombinationen und
Schluͤſſe finden, die, fobald fie einmal gefunden und richtig find, neue,
num allgemein verftändliche, Lichtvolle Anfichten über den wahren Bus
fammenbang der Sache eröffnen, können ſie in Bejtchung auf
116 Jury.
ſchuldhaften Charakter ber Handlung, deſſen Erkenntniß mh
dem. Obigen an ſich auch ſchon Gemeingut der. Bürger fein doch
ein etwa moͤgliches Mißverſtaͤndniß aufhellen — nun fo Eönnen und
merden natürlich verftändige praktifhe Männer als Geſchworene ‚nom
dieſen Haren Nefultaten für ihr Urtheil gerade fo gut Gebraudy machen,
als ‚hätten fie Beides aus ſich felbft erzeugt. So num bemusem fie bie
gegenfeitigen Vorträge der juriſtiſch gebildeten Anktäger und
füt und gegen bie Gründe der Anfhuldigung, und den ruhig wermit:
seinen, die Cinfeitigkeiten aufhellenden Vortag des Präfibenten zur
Bildung ihret moralifhen und bürgerlichen Ueberzeugung von ber
heit ober vom der, Ungewißheit der verbrecheriſchen Thatfachen.
Anderfeits bebarf es allerdings der juriftifchen Bildung fiir die
Aufgabe der Staatsrichter, für ihre Auslegung und Handhabung aller
geſeblichen Vorſchriften uͤber das ganze Griminalverfahren und diber dir
Beſtrafung des ſchuldig erkannten Werbrechers, über die Aı fung
des Grades der Strafbarkeit und zur Seftfiellung ber Hierzu
entfheidenden thatfählihen Fragen, melde bie Gefdhisons
nen zu löfen haben, Und auch fir mögtichft vielfeitige Löfung biefer
Thatfragen it nad dem zuvor Bemerkten der Mitwirkung ber Sucifim
und Staatsrichter ein bedeutender Spielraum gegeben, Aber es iii
unendlich heilfam, daß, in Beziehung auf biefes Urtheil über die
Fächliche Schuld und in Beziehung auf die ganze Verurtheilung ade
Losſprechung der umvermeidlihen natürlichen Stanheseinfeitigkeit, der
nur zu oft durch die Gelehrfamkeit felbft verdeckten theoretifchen Spike
findigkeit und befangenen Stimmung der dem Gelehrtenftande ange
hörigen befoldeten Negierungsbeamten ein mwohlchätiges G
und eine Ergänzung ‚gegeben werde. Diefes nun gefcjieht durcch die
Mitwirkung der Gefchworenen, ihres unbefangenen gefunden Menfe
finnes, ihrer frifhen, vielfeitigen, praktifhen Lebenserfahrung, ber
Beurtheilung vom’ Standpuncte des. freien. Bürgerthunies aus, von
Jury. 117
ſchworenen gehen als freie Mitbuͤrger des Angeklagten zwar aus dem
regierten Wolke hervor, und Ihre Richtung wuͤrde zundchft mehr auf
Schutz ber Freiheit und ber Mitbürger gehen; aber durch ihre forgs
fättige Auswahl nad dem Vertrauen ſowohl ber Regierung ale bes
Angeklagten und durch ihre Thellnahme an der Ausäbung des wichtig»
ſten aller bürgerlihen und Regierungsacte zum Vortheil und Schuß
der Orbnung tie ber rechtlichen Freiheit find fie gewiß zugänglich für
alle wuͤrdigen, richtigen Gefichtspuncte der richterlichen Staatsbeamten
und für die rechte Vereinigung mit ihnen in ihrem wichtigen Geſthaͤfte.
Die juriſtiſchen Beamten wären zwar in einfeitiger Abfonderung ben
großen Einfeitigkeiten des gelehrten und juriflifchen Standes ausgeſetzt,
und vollends als befoldete Diener der Regierung, welche ganz natürlich
zunaͤchſt mehr auf Ordnung und Untermürfigkeit,- ale auf Frelheit
‚gerichtet if, eben fo auch den gefährlichen Einfeitigkeiten einer bloſen
Beamtenrichtung. Aber da fie zugleich auch eine unabhängige richters
liche Stellung haben, und auch an ihre eigene Staatöbürgereigenfchaft
durch das Schwurgericht lebendig erinnert werden, fo find fie Im Ver⸗
eine. mit den achtbaren Repräfentanten ihres Volks ihrerſeits ebenfalls
zugänglich ben würdigen bürgerlichen Gefichtspuncten und einem vers
einten Wirken für die wahre, volllommene, allfeitige
Gerechtigkeit. Ganz fo wie bei der ſtaͤndiſchen Verfaf:
fung, welheim Shwurgerihtihren Srund: und Schluß:
ftein erhält, die fiändifhe Mitwirkung bei gefeslihher
Seftftellung des gemeinfhaftlihden Rechts, fo wird im
Gefhmorenengeriht der wichtigfte Theil der Handha⸗
bung dieſes Rehts, fo wird das Endurtheil über Ehre,
Leben und Freiheit der Bürger, auch bier unter fleter
Leitung der Regierung, das Refultat des freien, fid
gegenfeitig bewahenden, ergänzenden und unterftü>
benden Zuſammenwirkens ber Regierung und des Volks,
ber Regierungsbeamten und ber freien Bürger, bes
juriftifhen Wiffene und bes gefunden Menfhenvers
ftandes. So fordern es die Natur und bie Harmonie
des Lebens eines freien, eines gefunden Staats: und
Rechts⸗Organismus.
Dieſes Alles aber wird erſt in ſeiner Vollkommenheit verwirklicht
durch die ſtets offentliche und muͤndliche Verhandlung
des ganzen Proceſſes, in welchem, in fo gaͤnzlichem Gegenſatze
mit unſerem geheimen Inquiſitions und Relationsproceſſe bes bloſen
Beamtengerichts, alle juriſtiſchen und buͤrgerlichen Theilnehmer des Ge⸗
richts den Anklaͤger, den Angeklagten, ſeinen Vertheidiger und alle
Zeugen, ihre Worte und ihre Mienen mit eigenen Augen und Ohren
ſelbſt und vollſtaͤndig ſehen und hoͤren, und ſich durch beliebige
Fragen ſogleich jede Luͤcke ergaͤnzen, jede Zweideutigkeit beſeitigen koͤnnen
und ſollen.
Alle dieſe Perſonen ſelbſt aber ſtehen und ſprechen Angeſichts des
18 . Sum.
Ehrfurcht gebletenden Staats: und Nationalgeridhts. Cie ſtehen wie
allen Richtern felbft gegenüber fowohl der wachſamen ©
wie dem Kreife zuhörenber Mitbürger, welche theilnehmend, moraüſq
bewegt find von der großen, twichtigen, lebendigen Handlung und von
ben im derfelben angeregten hoͤchſten Gefihtspuncten und 1
aller Bürger, des ganzen vaterländifchen Lebens und feiner
Sie fehen ſich gegenüber und bewacht von der öffentlihen Weir
nung des Vaterlandes. Menſchen, fonft falt unfähig der Scham
und höherer Regungen, werden hier von benfelben ergriffen. Die
verfiodteften Verbrecher, die im geheimen, lifligen In:
quiſitionskriege Jahre lang liftig ihre Schuld verftedt
hätten, geflehen oder verrathen fie unwilikürlich, und
Telbi der. Falfhen Ausfagen und Beugniffe Won
wenn fie nicht verſtum men — werden Lügen geftraft buch
bie Geberden, Mienen und Widerfprüdhe, durch bie Am
fammenhangstlofigkeit und ihren unmittelbaren, Teben:
digen Eindrud auf die VBerfammiung, durch bie Verrärher
des böfen, deserfhütterten Gemiffens. Im folder Tebendi
gen Verhandlung und in dem freien geordneten Kampfe, bei: der |
Mede und Gegenrede zur DVertheidigung aller fi gegenüberftehendm
Rechte und Intereſſen von den verſchiedenſten Standpuncten aus, follen
dieſe ſaͤmmtlich in der Tebendigen Wahrheit und Gerechtigkeit ſich auegleis
chen oder ihr Gericht; finden. Aus dem vollftändigen Gegenkampfe aller
Mittel der Anklage und. der Vertheidigung muß in dem unparteilfcen
Urtheile des fo vollftändig und fo vielfeitig befegten vaterlämbäfhen
Gerichts — fo, weit es unter Menfhen möglich ift — der
endliche Sieg der Wahrheit und Gerechtigkeit hervorgehen.
Aber die öffentliche und mündliche Verhandlung gibt nicht bios
alten Ausfagen und Anzeigen durch Mienen und Geberden mehr, Wahr
eit und Treue, und zugleich allen Richtern eine ächtere und zum
Jury. 119
Es ift bie wahre, ehrliche Ueberzeugung bee allfeitig aufgeflärten, un:
parteitfchen Mepräfentanten des ganzen Volles und Staates.
Das aber, daß vollends bie Verurtheilung eines Bürgers
bier kaum je zu denken ift, ohne dag ſowohl die mifjenfchaftlichen .
Beamten als die Geſchworenen fie für gerecht halten, biefes ift klar.
Die Staatsprocuratoren felbft haben die Pflicht, die Anklage
ganz oder theilweife fallen zu laflen, fo weit ihnen die Verhandlungen
die Unfchuld ber Angellagten in's Licht ftellen. Nicht blos der Ver⸗
theidiger macht alle Gründe für die Unfchuld und die Zweifel geltend,
auch der Staatöprocurator foll die ihm gemichtig fcheinenden hervorheben
und anerkennen. Der Präfident hebt fie in feinem Vortrage natürlich
eben fo wie die für die Schuld hervor. Und ſchon an ſich laͤßt ſich gar
nicht erwarten, daß alle zwoͤlf ober mindeftens fieben Gefchworenen
da, wo die wiflenfdhaftlichen Staatsbeamten mit dem Vertheibiger übers
zeugt find, dee Angefchuldigte müfje wegen Ungemwißheit der Schuld los⸗
gefprochen werden, vielmehr verurtheilend ausfprechen, daß ihnen nad
ihrer innigen Ueberzeugung feine Schuld unzweifelhaft fei.”
In Frankreich wie in England haben es wirklich die Geſchworenen
auf ihren Eid betheuert, nur dann zu verurtheifen, „wenn fie von ber
Schuld innig überzeugt find”, alfo Leinen Zweifel haben. Shre Un»
parteilichleit verbürgt die Auswahl, unb daß fte, dag mindeſtens fieben
von ihnen lieber ihrem ide zufolge auch einen noch fo fehr Verdaͤch⸗
tigen losfprechen, als meineibig bie Verurtheilung eines Unfchulbigen
auf ihre Gewiffen nehmen, dieſes verbuͤrgt die menfchliche Natur.
Sollte aber das Gericht ihre Verurtheilung feiner Ueberzeugung über
ben Beweis bee Schuld mwiderfprechend finden, fo bleibt ihm die Pflicht
und das Recht dr Suspenfion, um mit Gaffitung des Urtheile
die neue Prüfung und Entfcheidung einer andern Affife herbeizuführen.
So iſt es fonnenklar, daß der Natur der Sahe nad aus
vielen Gründen wenigſtens falfhe VWerurtheilungen ein gut
eingerichtete® Schmwurgeriht minder herbeiführen kann, als ein
blos juriſtiſches Gericht. Den Gegnern bleibt daher nur der Vorwurf
ber Gefahr zu vieler Losfprechungen, fo wie überhaupt ber Vorwurf einer
zu großen Sicherung der angellagten Bürger. Diefem Vorwurf
aber fegen fiegreich die freien Briten für's Erſte den natürlichen Grund⸗
fag, auch der heiligen Schrift wie des römifchen Rechts entgegen, daß
es beſſer und auch für alle ehrlihen Bürger fichernder ift, wenn im
Zweifel Leber Schuldige ſtraflos bleiben, als dag ein unfchuldiger
Bürger Namens ber Gerechtigkeit zu Grunde gerichtet werde. Sie
fegen für’6 Zweite entgegen: daß jene Sicherheit gegen Kerker⸗ und
Juſtizmorde ihnen als freien Männern unendblih wichtiger
und für ihr Vaterlands- und Freiheitsgefühl echebender fei, als bie,
welche ettva dadurch gewonnen wäre, daß auf Koften derfelben einige
Verbrecher mehr geflraft würden. Sie können ihm endlich drittens
die fiegreiche gewaltige Thatſache entgegenfeßen, daß in England bie
Öffentliche Sicherheit in unendlich fhwierigeren VBerhältniffen
120 Jury · —
dennoch ungleich beſſer gehandhabt wird, "als in faſt allen Laͤndern ber
Erde, Daß diefes mit ungleich größerer Sicherung ber In
ſchuld und ohne ben zehnten Theil der traurigen, theuren
ohne die Verlegungen unferes Inquifitionsprocefies gefchehen kann, das
iſt der Höchfte Triumph ihres Schwurgerichts und das inappelkabie
Berdammungsurtheil unferes Verfahrens, feiner uns
deutfche Juriſten fo tief befhämenden Stümperhaftigkeit und: Ange:
vechtigkeit.
Einleuchtend aber ift es zugleich, daß das Schwurgericht, während
es wenigſtens ſolche Kerker⸗ und Juſtizmotde wie die oben erzählten
unmöglich macht, und überhaupt die größten Gefahren der Verurtheitung
nad) der moralifchen Uebergeugung eben fo, wie die vielen und langen
deutfchen Unterfuchungsverhaftungen, Kerkers und Inquifitionstorturen
befeitigt, doch aud fo manche unfinnige Losfprehungem Öffentlicher
Verbrecher ausfchließt, welche anderwärts wegen Mangels der fogenannten
juriftifchen Beweiſe neben allen Kerker- und Unterfuhungsleiben Uns
ſchuldiger und neben den ungerechten Verurtheilungen umdermieiblih
Statt finden müffen.
Ueberhaupt aber — durch Erwägung des ganzen hier. angebeuteten
Verfahrens — erhalten die großen Worte, twomit noch heute in England
der Angeklagte nach alten Gerichtsformeln das Geſchworenengericht
ſich fordert: „Ich verlange duch Bott und mein Vaterland
„ge rich tet zu werden”, und darauf zue Antwort erhält: „Sieh
„bier find vedlihe Männer, die, dein Volk repräfenticen‘ *), ihte volle
Bedeutung. Alle freien germanifhen Volksſtaͤmme hielten «6 mad
Zacitus mit ber Freiheit unvereinbar, daß ein einzelner Mann, 'eine
einzelne ftändige Behörde Gewalt habe und Herr fei über Leben und
Freiheit des freien Mannes, ihn feffeln und tödten bürfe. So nun will
auch nod) heute daß freie germaniſche Volk der Engländer und jedes Watt,
das Freiheit und Schwurgericht hat ober fordert, Feine einzelne fkdimbige
Sur. . 121
Beine einzelnen Menſchen, welchen er bie Gewalt über Lelb und Leben
über ſich zugeſtehen müßte. Mur Gott und die vaterländifche Gerech⸗
tigkeit find feine Richter. Es ift diefes dafjelbe ewige Grundgejeg der
Kreiheit, nach welhem Cicero mit Römerflolz es preift, daß über
freie Römer nur Mitbürger als Richter fprechen dürfen, bie nach ihrer
Zuftimmung zu Gericht fisen *).
Die höchite Idee der flrafenden Gerechtigkeit follte nach dem tiefen,
gefunden Sinne diefer freien Völker bei jener Bildung eines fo viel
möglih von dem Verbrecher felbft mit gebildeten und gebilligten
Gerichts von Volksgenoſſen dadurdy vermwirkiiht werben, daß ber
Angeklagte nicht als Gegner von feindliher Gewalt zur Rache
verfolgt, nicht ald Sklave vom dbespotifhen Herrn ge>
zuͤchtigt, fondern daß feine That durch die Gottesftimme des eigenen
Gewiſſens und bes öffentlichen Gewiſſens feines Volle gerecht ge»
tichtet, daß fo die Schuld wahrhaft gefühnt und von ihm und dem
Volke hinmeggenommen würde. In diefem Sinne nimmt ein folches
Urtheil des Vaterlandes, fobald Alles gefchehen, was menſchliche Weis:
heit zur Verhütung des Irrthums leiſten konnte, das moͤglichſt
größte Vertrauen der Gerechtigkeit in Anfprud, die für
feine heilfame Wirkung faft noch wichtiger ift, als die größere materielle
Gerechtigkeit felbft e8 war. Es nimmt die Natur eines Volks⸗ ober
Gottesurtheild an und erhält eine unendlich fittliche Kraft. Die Wich⸗
tigkeit des Schwurgerichts für politifche Sreiheit, und mie es zugleich das
heutige höchfte Sittengericht und die Schule und Stüge wahrer politifcher
Bildung, Gefinnung und Freiheit und des Gemeingeiftes ift, kommt hier
noch gar nicht in Betraht. Schon aus der criminaltedhtlidhen
Vortrefflichkeit wird die einftimmige Begeifterung erklärt, womit
alle Völker, welche, fo wie auch unfere deutfhen Rheinländer,
einmal das Schwurgeriht im Leben kennen lernten und er-
probten, an biefem Sünftitute wie an feinem andern unb. als
an ihrem Eoftbarften Kleinode hängen, und nicht minder die einftimmige
Forderung beffelben von allen Völkern, welche, nachdem fie das un-
natürliche entgegengefegte Verfahren erprobten, zum Bewußtſein der
Freiheit erwachten und von dem Weſen des Schwurgerichts Kunde cr:
hielten. Es mird begreiflih, mie felbft der große Hume **) mit
feinem gruͤndlich und in Ealter Parteilofigkeit prüfenden, ja zur Skepſis
geneigten, tiefen und praktiſchen Verftande, wie biefer nichts weniger
als freiheitsſchwaͤrmeriſche Hume, der vielmehr fein Vaterland Lieber
als abſolute Monarchie, denn als Republik fehen will, dennoch das
Schwurgericht „eine der größten und herrlichſten Erfindungen bes
„menfchlichen Geiſtes nennen Eonnte; eine Einrichtung, welche von
„allen, die je der menfchlihe Scharffinn erfann, am Beften berechnet ift
„für die Erhaltung der Freiheit und die Herrſchaft der Gerechtigkeit.”
*) Pro Cluontio 43.
**) &, Eapitel 2, feine engliſchen Geſchichte.
122 Sun.
W.. Gründe für das Shwurgeriht. 1 Erfahren
beweife und Befeitigung blofer Sheingrändu.— er
wohl fein ganz ſchwacher Erfahrungs: und Auctoritätsbeneis.
Schwurgericht und gegen unfer Beamtengericht, daß bekannttich a
alle Voͤller, bei welchen das Schwutgericht heimiſch wurde. malche u
mit feinen Folgen lange und nad) allen Seiten: hin im Leben serie
ben, welche es auch mit dem entgegengefehten Verfahten prüfenib wer:
gleichen konnten, mit bewundernswerther -Einftimmigkelt das Sham
gericht als dem Foftbarften Schab unter allen ihren Inflitutionen pic:
fen, ja den Gedanken, es gegen bie ungegengefett —
vertauſchen, mit Empoͤrung zutuͤckweiſen, während umgekehre bie
fer, bei welchen dieſe andere Einrichtung von lange het ein in
ſobald fie zu freier Sprache gebracht werden: — fo wie, bie
tionellen beutfchen Ständevsrfammiungen das Schwwurgericht Derfängen,
Ein ſolches Urtheil der Völker ift um fo. bedeutungsnoller,; mil
bei ihnen der Vorzug der einen oder anderen Einrichtung ſich banal
beftimmen wird, bei welher am Wenigften Mängel fichtbat
murden. Nun bleiben aber bei dem geheimen Verfahren bie
brechen ungleich ‚mehr verborgen, als bei bem
Scwurgerichte, fo daß am ſich bei der Vergleihung die Uxtheite ft
das letztere noch weit weniger günftig ausfallen müffen, als s
Dumme und umerfahrene Menfchen halten ja oft aus
Gründen die Buftände geheim regierter abfolutiftifcher Länder für
und glüdticer als die der freien Staaten. diefen
Jeder alsbald; alle Schäden und Gebrechen. Die
Volksredner, der Petitionen und der freien Preffe bringen ——
intereſſanteren und zut Ruͤge und Verbeſſerung auffordernden
gehenden Mißgriffe als das gleichfoͤrmiger bieibende ſtille S—
Sprache, haͤufig felbſt mit Uebertreibungen. Da tufen nunjene
ren: ſeht, wie viel ſchlimmer es iſt in England, in der
Jury. 128
Und doch Hätte in biefen Ländern ber Umftand, daß ihnen biefes Ins
flitut von den fremden Eroberern mar aufgebeungen worden, gegen
daffelbe verftimmen koͤnnen. Auch Eonnten die Bewohner diefer Pros
vinzen recht wohl die früher bei ihnen und die noch jett im ihren Haupt⸗
und Nachbarländern herrfchende deutfche Berichtseinrichtung mit dem
Schwurgerichte vergleihen. Dabei befiten fie das Schwurgericht fos
gar nicht im der in Frankreich ſpaͤter wefentlich verbefierten, fondern
nur in ber mangelhaften Napoleonifhen Geſtalt. Den Rheinpreus
fen wurde fogar feit 1819 das, was felbft fonflige Gegner am
Schwurgerichte allein als vortrefflich preifen, die Sicherung ber bürgers
lichen Freiheit in politifchen Proceſſen durch daſſelbe, entzogen. Kür
polttifche Vergehen und Vergehen der Beamten wurbe das Schwurgeridht
aufgehoben. Dennod, auch blos als reines Rechtsinſtitut für die uͤbri⸗
gen Griminalproceffe, bewachen fie daſſelbe mit eiferfüchtiger Liebe.
Lediglich von diefem criminalcechtlihen Standpuncte aus erweiſ't andy
defien Vortrefftichleit das berühmte Gutachten der koͤnigl. preuß.
Immediatjuſtizcommiſſion über das Befhmorenengeridht
1819, die befte Schrift, weldye über das Schwurgericht als rein cris
minalrechtliches Inftitut je gefchrieben wurde. Die Geſchichte biefes Gut⸗
ahtens aber iſt zu merkwürdig, um fie nicht bier mit einigen Zügen
zu geben.
Als einige Zeit nad) der Verbindung der Rheinlande mit Preußen
die Wünfche der Mheinbemohner für die WBeibehaltung des Schwurge⸗
richts und des Öffentlichen mündlichen accufatorifchen Verfahrens in
Widerſpruch kamen mit dem Franzofenhaffe, der alled von den Zranzos
fen Eingeführte, auch mo es urdeutſch war, verfolgte, fo wie mit
dem Stolze auf die altpreußifche Juſtizeinrichtung und mit ben fehr
begreiflihen Wuͤnſchen, die rheinifche Gerichtseinrihtung möge mehr
mit der preußifchen als mit der franzöfifchen Monarchie uͤbereinſtimmen,
da ergriff die Regierung das weiſe Mittel, durch eine tüchtige Coms
miffion die Güte oder Mangelhaftigkeit der xheinifchen Einrichtungen
und die wahren Wünfche der Bewohner an Ort und Stelle unterfus
hen zu laſſen. Damit aber diefe Prüfung deſto grümblicher und alls
feitiger fei, erhielt die Commiſſion zugleidy auf längere Zeit bie mini»
fterielle Leitung der Juſtiz in den Rheinprovinzen, und zugleich hatten
die einzelnen Commiſſionsglieder alle Gerichtsbezirke zu bereifen, um
überall an Drt und Stelle von den Bürgern, Beamten und Advocas
ten Nachweiſungen und Mittheilungen über die Gerichtseinrichtungen
und über die Wünfche für oder gegen diefelben einzuziehen. Die Coms
miffion war zufammengefebt aus fünf der tüchtigften, in den hoͤchſten
Gerichts: und Staatöftellen erprobtejten juriftifhen Staatsmännern ;
unter ihnen war Hr.v. Sethe, der muthvolle Vertheidiger feines Landes
gegen Napoleon, jetzt erſter Präfident des Caſſations- und Oberrevis
fionshofes in Berlin. Aber fie beftand aus nur zwei Nheinpreus
gen und aus brei Altpreußen, drei Mitgliedern ber hoͤchſten alts
preußifchen Gerichtshoͤfe. Diefe waren urfprünglich begreiflih gegen
124 Jury.
das angeblich frangöfifde und für das deutſche und veeofifie Berk
verfahren eingenommen, fo daß die Majorität der
gegen das Schwurgericht ſchon zum Voraus verbürgt ſchien. Und ben
noch: was gefhab? Nachdem jene fünf Männer Jahre lang an Du
und Stelle durch eigene Anfhauung und Gefcäftsführung und bie au
nauefte Erforſchung der Erfahrungen und der Wuͤnſche aller Clafen
des Landes bie rheiniſchen Einrichtungen geprüft und fie mit ben deut
ſchen und preußtfchen verglichen hatten — da entſchieden fie ſich aim
ſtimmig — alfo jene drei altpreufifchen Juſtizmaͤnner mit ein
gefchloffen — im abgefonderten gebrudtten gelmdlichen gutachnichea
Berichten. für das Schwurgericht, für die Deffentlichkeit und Mind:
lichkeit des Verfahrens und für feine aceufatorifche Geftaltı Mbfidt
lich uͤbergingen ſie dabet bie im ‚der civilifieten Melt anerkannter
politifhem Vorzüge. diefer Einrichtungen und befchrämfte fid
nur auf ihre juckftifhen Vorzüge. Nuc fo viel thaten fie in
jener - Beziehung‘ dar, daß jene Einrichtungen jedenfalls‘ mat eine
fireng momachifhen Verfaſſung, felbft mit einer im
conftitutiomellen nicht im Widerfpruche fein, ‚und die
liche Regierung, ſtimmte auf achtungswerthe Weiſe ihren Ueber
gungen beis
Die entſchiedene Liebe aller deutfchen Rheinländer für dag Schu
gericht, die der heffifhen und baierifhen, «ber fo mie bi
der preußifchen , iſt auch noch zwanzig weitere Jahre hinbady, if
bis zu diefem Augenblide völlig unverändert ‚geblieben. Sie
wie in den letzten Tagen ein Bericht aus Rheinpreufen im: dar Allg
meinen Zeitung. fid) ausdrüdte: „ſo feſt an demfelben wie am Ihrem
Glauben.” Die, Verhandlungen der Landräthe und Landftände, fr
wie faft alle, Reden, womit die aus, dem oberften Gerichtshefe a
mählten Präfidenten ber Schwurgerichte diefelben zu eröffnen
bezeugen laut biefe dauernde begeifterte Liebe zu dem grofan
Sur 285
Der bechimte Lriminaliſt Geolmann, alt: et. — damals ſchen
— von Den 5 ua ae eigene Anfchauung een
gerichts in Rheinhefſen e fruͤhere Verwerfung
ftitutes fücmiich zuruͤcknahm later 6. 513), erklaͤrte bie
Entwidelung feiner Vorzüge, fo wie bie MWiberlegung ber Gegen»
gründe in dem erwähnten preußiſchen Gutachten ale meifbechaft,
unb. richmte befonders auch folgende „erfebrungemäfige, fehr große
„nolitifche ‚Vortheile” befieiben. „Es begründet,” fagte er, „in ber
„Meinung des Volks größeres Zutrauen zu ber echtfprechung ;
„erhebt bie Liebe. bes Volks zu einer Regierung, welche ihm —*
„Die zu ber Juſtizertheilung ihr Derirauem und ihr ehren»
des Urchei feine —eai 6 bekundet, es befeſtigt in dem
„WVolke bie ng ber Geſetze und das Intereſſe an dem Gemein⸗
„weſen, es beit bei dem Bürger das Gefaͤhl des eigenen Werthes
„uud es wirkt vortheilhaft auf die öffentliche Sitte.” -
Mag «6 nun wohl ſtaͤrkere Auctoritätss und Erfahrungsbe .
weiſe für. bie Vorzüge einer öffentlichen Einrichtung ‚geben? Einftim-
mig preifen die englifchen Rechtögelehrten, Staatemaͤnner, Bürger,
Dume wie Burke, Bladfkone wie Lord Ruffel*),
Browgham wie Peel, das bei ihnen niemgls untergegangene gets
maniſche Schwurgericht, täglich einftimmiger eben fo alle ——
ſeit ihnen zuerſt ihr großer Montes quieu deſſen Wiederherſtellun
dringend empfahl, und ſeit fie es in nun halbhundertjaͤhrigem de
fige täglich beſſer würbigen und handhaben lernen. Auch beiuns Deut:
ſchen entwickeite fchon laͤngſt vor den Bebürfniffen -unferer heutigen
ſchwer bedraͤngten politifdyen Freiheit ber edelſte und weile unfes
ve Redjeägeleheten, unſer Juſtus Möfer, feine zwoͤlf Gründe,
s weldyen ex die Wiederherſtellung des Schwurgerichtes, als die
Seundbebingung gerechter Handhabung des Strafrechtes im Namen
der egen, forderte. Nicht minder erklaͤrte fait gleichzeitig
* eln as anſeitiger a befreite und ton dem Gewiſſen auserwaͤhl⸗
er anheimgab, er Mitte der — und ans alem
erkunden des lichen ehem —5 jede mögliche Bärafchaft einer
‚nben fo tspollen als —— menſchlichen —22 darbieten.“
aller Garantieen bes Lebens, der Ehre, ber eat ber Bürgtr,
eine —— hs e Berfiherung gegen Unrecht und Gewalt
heile cn bffeher Gtaotsmam das Schwur⸗
gt
gericht. Tot er Deb. 2 Ya „Das Bolt, welches eine ſolche
ut, ſteht —8 Rn as Bolt, dem je mod fehies es it muͤn⸗
N et fc Der Stoatühire den ihtrefiu ab de berufen — as
duch biefes ertrauen in an Grabe geehrt und gehoben fü übten. Er wird
—* gr nt ae e Bet bacf Daber —— em
an eu n —
tfein ‚von dern ich gefprochen babe, auch ein gewiſſer Stolz ſich bes
er eireffiide Bertbeibi des 1
a a la vi. © eis Sqhwurgerich
126 Jury ·
Deutſchlande größter Philoſoph, unſer Kant (Matwer. . 40), mr
diefe Strafgerichtseinrichtung mit dee Gerechtigkeit vereinbar. Und mum
vollends, nachdem diefes vaterländifche Jaſtitut felbft im under⸗
kommener Geſtalt ſeit mehr als einem Menſchenalter bei thel
niſchen Landsleuten fo trefflich die Probe beſtanden, nachdem die vieiſa
tigſien Prüfungen und Vergieichungen deſſelben moͤglich und wictie
geworden — jetzt vereinigen ſich mit jenen Stimmen bie Slimmen
diefee überrheinifchen Bewohner und der diesfeitigen Lanbftände*),
Stimmen folder Staatsmänner und Ständemitglieder wie IE
Kiebenftein, Rotted, und zugleich bie folder praktifchen
männer wie die Verfaſſer jenes Gutachtens, endlic) die Stimmen fok
her theoretifh und praktiſch gleich gründlichen Staatsrechete mb
Strafrechtslehrer wie Klüber und Zach arid, wie Kleinfnre
und Groimann, wie Mittermater und Duttlinger®®),
Diefe Stimmen ſind ſicherlich nicht minder der gefeßlicdem, Dr
monachifhen Ordnung wie der Freiheit befreundet. Stimmen abır
wie die von Grolmann und von Mittermater, find, eben fo nk
die jener altpreufifchen Mitglieder der Immediatjuftijcommifften, Barım
doppelt bedeutend, weil fie ſich früher gegen das Schwurgericie auk
ſprachen, und erft als fie fpäter das Inftitut im Leben Eemmen
hatten, aus früheren Gegnern deffelben mit adhtungstmerther
heitsliebe feine entſchiedenen Vertheidiger wurden. Menigftend folde
Feinde des Schwurgerichtes welche niemals daffelbe im Leben fh
vielfeitig und gruͤndlich prüften, ja vielleicht die Gebrechen unferer
heimen Aetengerichte nie gründlich Eennen lernten, diefe wendgflens je
ten bilfig folhen Stimmen gegenüber verſtummen.
Aber freilich ftehen auch hier der heilſamen Neform,
ald wahre Gründe, Vorurtheile, Scheingeünde und Intereffen
über. So — um hier einige derfelben zu berühren — iſt €8
erktärich, wenn viele Suciften, als folde, fchom Ihrem
\
Jury. 197
wirken dee Gefchworenen mit ben juriflifchen Megierungsbeamten für
beffer und vielfeltiger hält, als der Lesteren ausſchließliche Wirk
ſamkeit. Aber auch trotz des Widerlegung jenes großen Worurtheils
wird doch der Beamten» und Juriſtenſtolz aller befchränkteren und aller
weniger patriotiſch und, bürgerlicy gefinnten juriflifhen Beamten noch
das Schwurgericht haſſen. — Gerade fo haßten und haflen ja auch
die Miinifter und andere Beamte die ſtaͤn diſche Mitwirkung von Nicht:
juriften und ſchlichten Bürgern bei der Geſetzgebung und Staatsver⸗
waltung. Und ganz eben fo empört den Stolz und Kaftengelft ber
Liniemofficiere die Mitwirkung der bürgerlichen Lanbwehr mit
dem ftebenden Deere und mit deſſen zum Lebensberufe ausgebildeter
"Kriegskunft. Die Priefterkafte mit ihrer beöpotifchen Ausſchließung
altes Laien von jedem Antheile am Kirchenregimente find Beiden vor:
ausgegangen. Aber follen wohl nun vernünftige Bürger und Gtaate-
männer fich durch ſolche Urtheile eines befchränkten, engherzigen Ka⸗
fiengeiftes beftimmen laſſen, jenes vierfahe organifche geſell⸗
ſchaftliche Zuſammenwirken nicht mehr für heilfam und noth⸗
wendig zu erfidien? Sobald es auch nur einmal eingeführte iſt, fühle
ſich ſeibſt jener früher verfiodte Kaftengeift befehrt oder belehrt. Oder
wird nicht in allen fländifchen Ländern endlich auch von den Miniflern
- und Beamten die vor ihrem Siege fo ſehr gefürchtete und geſchmaͤhte
ſtaͤndiſche Verfaſſung, die Mitwirkung der Nichtjuriſten zur Geſetzge⸗
bung und Staatsverwaltung — welche doch unendlich viel größer und
ſchwieriger if, als der Gefchworenen Ausfage über eine blofe Thatſache
des Außeren Lebens, für vernünftig und ungefährlih anerkannt?
Stimme nicht auch felbft der militärifch kunſtmaͤßig am Meiften aus:
gebildete Officierſtand, der preußifche, mit feinem ganzen Vaterlande,
mit ganz Europa überein, daß bie Verbindung ber bürgerlichen Land:
wehr mit Linienmilitär vortrefflich, die beilfamfte und glorreichite aller
Ssnftitutionen ber preußifhen Monarchie ift? Sehen wir nicht das
Gleiche in Beziehung auf die Jury bei dem wahrlich in ber Achtung
Sehr hoch ftehenden Juriſtenſtande Englands, Frankreichs und ber deut:
Shen Rheinlande, unb endlich auch bei der Zulaffung ber Laien zu
unferer neuen proteftantifhen Synode?
Aus einem zweiten, britten und vierten Mißverftändntfie
verwerfen folche das Schwurgericht, welche das allein jest zu empfeh⸗
Iende Öffentlihe Antlageverfahren mit bem Privatanklage⸗
proceffe verwechfeln, oder welche einige wirkliche Vortheile ſchrift⸗
licher Aufzeichnungen und einer inquifitorifchen Unterfuchung nicht aufs
geben wollen. Allein die obige Darflellung, vorzüglich auch des frans
zoͤſiſchen Schwurgerichts, zeigt es ja, daß fih alle wefentiihen
Vortheile der Schriftlichkeit und der inquifitorifchen Unterfuchung
mit dem Schwurgerichte eben fo vortefflich vereinigen, als die Wirk:
ſamkeit juriſtiſcher Beamten. Nur ihre Einfeitigkeiten werden
ausgeſchloſſen ober ergänzt. . |
. Ein Fünfter Grund zur Verbreitung falfcher Scheingrände bes
128 Jury ·
ſteht in dem oben ſchon bemerkten Umſtande, daß’ bie Mängel der
öffentlichen aeeufatorifhen Verfahtens und des Gefe
öffentlich werden, alle großen Gebrehen des gehe en
Inquifitonsproceffes dagegen meift im Verborgenen
bleiben und diejenigen, die fie treffen, meift flumm zu maden
So laſſen fich denm manche unferer beſchraͤnkten gutmüthigen —
die und: Juriſten mehr zutrauen, als wir ſelbſt zu vermögen und cübe
men möchten, von den Gegnern des Befchworenengerichts täufcen.
Sie taffen ſich oft durch ein Hiſtörchen von einzeinen Mißgeiffen, die
feeitich bei allen ſtets unvollkommen bleibenden menfchlichen
vorfommen müffen, oder durch einzelne fehlerhafte Einricht des
Schwurgerichts einnehmen. Und ſelbſt viele unferer guten
Juriſten — nad) der uralten Weife nur den Splitter im fremben
erblidend — koͤnnen über einen Fehler, dem fie von ber framgöfiiden
Jury erzählt erhielten, und wmeldyer: vielleicht getinger iſt, ais Die In
ihrer naͤchſten Nähe in der geheimen Vehme ſich täglich ermewermben
— doch faft außer ſich gerathen.
Ein fehfter Grund der Worurtheile gegen das. Schromrgeridit
befteht im pedantifcher Anhänglichkeit an das gerade Beflchende, Lund din
ftebenter endlich in’ der Untertvärfigkeit und Schmeicelel gegen vr
gerade herrſchende Tagespolitit und Hofmeinung. Die dabudh be
ündete doppelte Billigung der von der Gewalt feltgehaltenen Ein
richtungen wird noch dazu Durch zwei praktiſch verderbliche Schulehenriem,
die natuephitofophäfcye, befonders Hegel’fche, und bie —— —
(f.„Atterthimer” und Hegel), mit einem fuͤr unſelbſtſtan
fter räufchenden gelehrten und phitofophifchen Scheine — Bar
manche träge, bequeme und für ihren eigenen Vortheil, für ihre Stautebe
förderung allerdings politiſche und praftifhe Männer finden 6 um “
nicht phitofophifd) und hiſtoriſch, nicht polleifh und praktifch, wie
Veränderung des hergebracjten von der Gewalt begünftigten Burflande
Jurh. 18
> Rein beffees Gegengewicht gegen bie aus allen jenen Quellen fließen.
den Taͤuſchungen aber gibt es wohl, als gruͤndliches Prüfen und Selbſt⸗
- fehen und, wo biefe unmöglich find, der Blick auf jene erfahrungsmaͤ⸗
figen Uebergeugungen ber Voͤlker, welche prüfen umb vergleichen
Ä 2) Befeltigung der vier ſchaädlichſten Mißveriiänd:
niffe: 3. Die Aufgabe ber Befhworenen ift Leine wife
ſenſchaftlich juriſtiſche. 1. Eine jurifiifhe Beweis».
theorie in Ctiminalſachen if eine unheilvolle Xäus
(Yung IM. Ein Jurifiengeriht mie Mifhung juriflis.
(hen und Shwurgerihtsbemeifes, iſt eben fo unmöglich
wie jeder andere Ausweg aus unferen Procegübeln
außer dem Schwurgerihte IV. Das Schwurgericht iſt
weit entfernt von einer Ausfhliegung ober Zurück⸗
fegung ber Wirkſamkeit der jurifiifhen Staatsbeam⸗
ten und von blofem Volksgetichte.
Mir iſt nicht eine einzige Ausführung gegen das Schwurgericht
‚ befannt, bie nicht weientlih auf den bier widerfprochenen Voraus
fegungen beruhte, durch die man natürlich leicht gegen das Schwurge⸗
richt eingenommen wird, bie fidh jedoch ſaͤmmtlich als falfch erweiſen
lafien*). Die ihnen entgegenftehenden Wahrheiten kann man auch pofitiv
fo ausdräden: 1) Die Geſchworenen follen (nad I. und IK)
nach ihrer allgemeinen bürgerlihen Erkenntniß und Webers
jeugung über die Wahrheit von Thatfahen bes gemeis
nen Lebens den Theil des Strafurtheils ausfprechen, über
welchen auch Juriſten vernünftiger Weiſe nur nah denfelben
Quellen, nidt nad wiſſenſchaftlichen Principien pen koͤnnen.
2) Sie ſollen (nach IH. und IV. und der obigen Ausführung LU,
$) keineswegs für fih allein, fondern in organifher Verbins
dung und in Wechfelwirtung mit den juriflifhen
Staatsrichtern urtheilen. Nach diefen beiden Sägen gilt es
6106 um die Sage: ob dieſes Zuſammenwirken von beiden
zunaͤchſt in Beziehung auf die Entfcheidung der Thatfragen beffer If,
als das alleinige, ausſchließliche Wirken ber juriflifchen
Staatsbeamten. Der gewöhnliche Streit darüber, ob für das
Griminaluetheil Bürger beſſer feien als Suriften, oder vollends beffer
als dieſe deren juriſtiſche Aufgaben Iöfften, iſt noch wiberfinniger
als ein Streit, ob die Regierung beffer fei, oder da® Parlament. Sie
find nur zufammen gut, nur gut bei richtiger Abtheilung -und richtiger -
Wechſelwirkung in Beziehung auf die gemeinſchaftliche Aufgabe.
3u I und IV. Zur Entfcheidung der eben aufgeftellten: Trage
kommt e8 auf zwei Vorfragen an: 1) wem muß bewiefen und 2) wie
muß bewiefen werden ? Ä |
in aa han heraben auch ale Khenfunigen Ehnäibungen von Trefart,
Gtaats sEeriton. IX,
130: Jury
Offenbat uf nun (ui). der ganzen Scaatage
das heiße: dem Volke und der Regierung in —J———
einigung, bewiefen werden; und ed muß (zu 2) auf eime ihre
möglichfte moralifhe Ueberzeugung don ber
ber Schuld ober Unfhuld begründende Meife
werben. Es iſt, fobaldein wahres, alfo ein gegenfeltigi
meinfhaftlihes, verbärgtes Nedhtsverhättnig zwiſch (di ben
gern und der Regierung beſtehen fol, ein heitiges Mecht aller Bilicgen,
feinem: vom ihnen von der Negierung Ehre und en
werde, ohne ali gemein erfennbare Nahmweifung bes
dazu, ober ber Wahrhebt der firafbaren —— —
gleich aber iſt es der Bürger und der Regierung heilt,
Rede, daß die wirklich ſchuldigen Verleger des gem
Rechtes auch bie gerechte Strafe treffe.
Die wahre Bedeutung diefer Forderung, ſo wie die Nature tue Bra
minalrechtlichen Beweiſes ergibt fidy vollſtaͤndig erſt dutch bie
tung der gänzlich derfchiedenen Natur der Eivil⸗ und Gr
und der Entſcheidungen derſelben. Bei dem Givilpröceffen
ſich um feiedliche Schlichtung eines Streites Über veräug
Privartinteroffen zweier flreitenden Theile gegen n
worüber fie fich jeden Äugenblick beliebig vergteihen inner, ine
stehung auf welche ‚auch der ganze Givilproreß umd_feine Menefe
der Thatſache in demfelben, feine Eideszufchiehungen ,
Berweisverfäumniffe u; ſ. w. von jeher nach den fogenannten Een
twal:Berhandlungss und Eonventionalmarimen —8
wahrhaft conventionelle Natur hatten. —
Parteien betrachten, ſobald über die beliebig beigebtachten CH
geftandenen Beweiſe, Eide, Zeugen u: f. w., nady dem
conventiomellen und formellen Feſtſtellungen der
definii ben Steele in
Jury. 181
durch ntoralifche Ueberzeugung erkaunt erben koͤnnte, nur moͤglichſt nach
der moraliſchen Ueberzeugung der ganzen Geſellſchaft.
Nur eine ſolche Entſcheidung iſt gerecht. Daß hlervon auch die ge⸗
rechte und heliſame Wirkung der Serafurthelle abhängt, bedarf keiner
Ausführung. Es wäre Uebermuth eines einzelnen Standes, hier des
juriſtiſchen, fein ſubjectives Glauben an die Stelle ber bier allein der
Dbieciuide ſich nähernden und das Beweisurtheil objectiv machenben
Sefammtüberzgeugung des Staats ober feiner moͤglichſt bes
fien and allfeitigen NRepräfentation — an die Stelle ber
Ueberzeugung and Entfcheidung „des Vaterlandes“, im britifchen
Sinne, fegen zu wollen.
Es ift nun aber in ber That an fich ſchon derjenige Theil bes
Strafurtheils, welcher entfchelbet, daß man annehme, ein beflimmter
Angeklagter habe die ihm angefchuldigten verbrecherifchen Thatfachen bei
gangen, durchaus nicht objectiv demonſtrirbar oder nach technifch juris
ftifchen Srundfägen als wirklich wahr zu ermweifen. Die Unmöglichkeit
einer folchen juriflifchen Beweistheorle iſt bereits von ben beiten Erimi-
naliften nachgewiefen *).
Die Entfcheidung Über die Thatfeage der Schuld hängt ab von ber
Wahrheit befonderer, freier, zum Theil innerlicher hiſtoriſcher
Thatfadyen, naͤmlich von der Wahrheit der Thatfachen, ber Ange:
Magte habe wirklich die angeſchuldigten Handlungen, und zwar mit innen
ver Abſicht, mit böfem , ober doch mit fahrläffigem Willen begangen ober
nicht begangen. Die Wahrheit folcher befonderen, freien, hiſtori⸗
(hen Thatſachen aber iſt für Alle, welche fie nicht unmittels
bar ſinnlich felbft empfanden oder wahrnahmen, melden
fie alfo bewiefen werden follen, nicht etwa, wie eine naturges
fegtihe, mathematiſche, logiſche Wahrheit nady abfolut allges
meinen Principien, Gefegen und Formen menfchlicher Auffaffung o b⸗
jectiv oder abfolut allgemein gewiß und erweisbar. Sie
iſt es nicht durch ben fogenannten natürlihen oder directen
Beweis, durch Zeugenausſagen und Bekenntniſſe uͤber unmit⸗
telbare, ſinnliche Wahrnehmungen ber Thatſache, welche
betolefen werden fol. Sie iſt es noch weniger durch den indireeten,
künſtlichen, den Anzeige- oder Schlußfolgebeweis, wobei
man, ohne unmittelbare Ausſagen ſinnlicher Wahrnehmungen, uͤber
das, was bewieſen werben ſoll, nur aus andern Thatſachen
(Anzeigen) mittelbar darauf ſchließt. Er fordert alſo fuͤr's Erſte
ſchon einen voltfiändigen birecten Beweis jener anderem
Thatſachen (3. B. der Thatfache, daß man den bes Mordes VBerbächtigten
mit blutigen Kleidern ſah), und ſodann für's Zweite, daß mit Wahr
ſcheinlichkeit aus diefer Thatſache allen befonderen Umfänden nnd) eine
*) 6, Wittermaier, Strafverfahren $. 44 und bie dort citicten
Schhriften. Fenerbach, über — —— Gyros
ten der pr. J. 6. S. I ff. as
Jury. 188
Selbſt der im Begenftande ehr befchränkte Beweis durch Augenfchein von
Gerichtsperſonen erhaͤlt meift jene unfichere Natur der Auffaffungen und
Ausfagen über zum Theil innere Hiftorifche Thatſachen und der Schluß⸗
folgerungen aus ihnen. Auch das ändert nichts, daß in den feltenften
Fällen denkbarer Weile einzelne Puncte des Schuld« oder Uns
fchufdsberweifes auf mathematifcher, naturgefeglicher und logifcher Un⸗
möglichkeit des Begentheils beruhen könnten. Die Annahme der Uns
möglichkeit wird auch regelmäßig felbft wieder Umftände vorausfegen,
die, wie 3. B. das Alibi, nur auf Ausfagen des Angellngten ober
dee Zeugen oder auf Indicien beruhen. Jedenfalls find die Faͤlle, wo
durch gerichtlichen Augenfchein oder durch jene Unmöglichkeit allein ein
volftändiger Beweis dee Schuld oder Unfchuld ſich ergäbe, ja, es find
fogar die Säle, wi völlig glaubmwärbige Belenntniffe oder eben
ſolche Ausfagen zwei vollgültiger Augenzeugen für das Ver⸗
brechen vorhanden find, nach ber Natur dee Sache und der Erfahrung
fo fetten, baß fie bei der Entfcheidung über die Natur des Bewei⸗
ſes überhaupt niht in Betraht fommen. Nur das Wes
nige, ſagt Kant, ift in den Beweiſen Gewißheit, was Mathematik iſt.
Aber wie ifl’6 mit dem Webrigen, alfo mit bem Ganzen? |
Hier HE nur praftifhes Kürmahrhalten, nur auf ber
moralifhen Weberzeugung beruhbende Annahme ber
Wahrheit, nur Berveisentfcheidung nad ihr, moͤglich.
Die praktiſche moralifche Uebergeugung von der Wahrheit dieſer
beflimmten hiſtoriſchen Thatſachen befteht aus vielen einzelnen
Elementen oder Wahrſcheinlichkeiten. Diefe aber beruhen
einerfeits auf einer unerfchöpflichen Reihe einzener befonberer
Erſcheinungen des beftimmten Falles, aller dabei vorkommenden
eigenthuͤmlichen perfönlichen oder ſachlichen Eigenfchaften, Umflände und
Verhaͤltniſſe; anderfetts auf der eben fo unerfchöpflihen Reihe
von Lehenserfahrungen und "Verknüpfungen berfelben, nad welchen
biejenigen , welche bie hiftorifihe Wahrheit des Kalles beurtheilen, feine
Erſcheinungen auffaffen, unter fit und mit dem Endreſultate vers
Inüpfen. Diefe Annahme der Wahrheit geht jedesmal aus von
allen beſonderen Umftänden des individuellen Falles unb
gile nur für ihn. Hierfür nun — oNer für die hiſtoriſche Gewiß⸗
heit der einzelnen freien biflorifchen Thatſachen und für ihre Scheidung von
biofer Wahrſcheinlichkeit ober felbft von der Unwahrſcheinlichkeit — gibt
es, wie auch Feuerbach richtig ausführtte, durchaus Beine
Wiffenfhaft, keine wiffenfhaftlihen allgemeinen Bes
fege. Iene im jedem individuellen Kalle verfhledene und
unendliche Weihe der Erfcheinungen und der allen Lebenserfahruns
gen entiprechenden möglichen Verknüpfungen in allgemein entfcheibens
ben Beweisregeln zum Voraus umfaffen und für jeden Fall die Kraft
beflimmen zu wollen, welche fie für den Verſtand des Richters haben
follen, „dieſes wäre”, wie Feuerbach fagt, „nicht vernünftiger als
„dee Plan, den Dcem In: einen Eimer zu faflen, Solche Geſetze
134 Jury.
lagen immer zu wenig und zu viel, find eutweder ai erg
„tosit, und darum eben fo begünftigend für die et
ndie Unfhuld gefährlich.” —
Es bildet ſich fo vielmehr jene praktiſche Ueberzeugung Ban ber
Wa hehe it der einzelnen individuellen ferien inmerlichem ab Aufere
lichen Hiftorifchen Thatſachen in jedem Falle frei nach dem allge:
meinen menfhlihen und bürgerlihen Auffaffungen, Ex
Eenneniffen, Begriffen und Schtäffen. Die nicht juchlifhen Bine
eben fo gut wie die juriftifchen — Tobald Ausfagen oder andere
gen einen Verdacht begründen, ein beſtimmter Menſch habe eine be:
ſtimmte verbrecherifche That veruͤbt — benutzen ihre allgemeinen Kent
niffe von der Welt, den Menfchen und ihren Wechältniffen, Ko tele
von ber moralifchen und ber bürgerlichen Drbrtung amd Den allge:
meinen Pflichten ber Bürger in derfelben. Sie fragem einerfehts ihre
Erfahrungen, Empfindungen, Uetheile, ihren barauf fi grünbenben
Glauben oder Unglanden an die Mahrheitsliebe umd; dem
Blick der Ausfagenden, anderfeits ihr natürliches logiſches Schlußs umd
Berbindungsvermögen über den Zuſammenhang der vorliegenden be
fonderen Umftände, um ruͤckſichtlich jenes Werdachtes die Wahrheit br
die glaubhafte Annahme zu findm. Ein Collegium von wiif
gut ausgewählten Gefchworenen ift am ſich fhon hierbei. mach
Obigen (II, 3) no im offenbaren Vortheile vor einem
ſtaͤndiger gelehrter Juriſten. Jene gehen gröfiteneheils unmittelbar
aus dem praßtifchen Leben hervor. In dieſen Gefchworenen, aumter eh
chen Mitglieder aller Stände und Lebensverhältniffe Plah finden, und
zwar meift Mehrere, bie ben Angeſchuldigten und den Beugen miek mäher
ſtehen, „fie beffer werftehen und durchfhauen Eönnen, vereinigen fi,
vielfeitigere und praktifhere Standpuncte und Anfichtem gut
Beurtheilung dee Thatfahen, der Ausfagen, der Mienen und Geberben,
Und aud zur Webung in diefer Beurtheilung Habem fie
dalih 9 auls 0 hei nie ruf h hie 2
Jury. 135
zwar fe, nicht aber diefe Staatsrichter, alle Ausfagenden felbft
feben, hören und fragen? Je weniger biefes Legtere ber Fall iſt,
je mehr Zwiſchenorgane zwiſchen das Gericht und alle jene indfvis
duellen hiſtoriſchen Umftände und Verhaͤltniſſe des beftimmten alles,
alte jene Worte und Mienen der Ausfagenden u. f. w. geftellt werden,
je mehr entfernt fih das Gericht von der Wahrheit und
von ber Reinheit und Sicherheit ihrer Auffaffung.
Dod prüfen wir die Einwendungen, gegen unfere Anficht!*)
Man wendet hiergegen zielerlei ein. Fuͤr's Erſte fagt man:
das Schuldig der Gefchworenen enthält mehr ald das Urtheil, daß diefe
beflimmte dußere Thatſache, z. B. die Töbtung eines Andern, don
einem beflimmten Manne hervorgebracht ſei. Sie enthalte auch das
juriſtiſche Urtheil, 3. B., daß jene Toͤdtung das ſtrafbare Verbrechen
eines abfihtlihen Mordes bilde. Ia, allerdings etwas mehr als bie
Wahrheit der phyſiſchen Thatſache ſagt das Gefchworenenurtheil aus.
Aber ift diefes Mehrere, iſt — nachdem zuvor die juriffifchen Richter
duch ihre Frageftellung die Wefenheit der verbrecheriſchen Hands
lung unter ihren richtigen Gefichtspunct des beftimmten vom Gefege be-
ſteaften Verbrechens geftellt haben, und nun fragen: iſt der Angelagte
ſchuldig, diefen beftimmten Menſchen ermorbet zu haben — iſt num die
fes eine lediglich nach wiffenfhaftliher Jurisprudenz von dem gelehrten
jueiflifchen Regierungsdiener zu entfcheidende Frage? Bewahre! Wäre
dieſcs, dann dürfte auch nur ein Juriſt, nie der nichtjuriftifche Ver⸗
brecher darnach geſtraft werben. Er ift nur ſchuldig wegen des Un-
echte, das er als Bürger nad den allgemeinen morali—
Then und bürgerlihen Kenntniffen von den verbotenen,
verbeeherifhen Handlungen erkannte und ertennen
mußte. Es wäre fcheußlich, ihm zu ſtrafen, wenn nur ein gelehtter
Juriſt mit feiner gelehrten Jurisprudenz ben verbrederifchen Charakter
feiner Handlung entdeden koͤnnte, wenn nur er aus feinen 5108 juriſti—
ſchen Gombinationen eine Handlung als mit criminaliftifhen Geſichts-
puncten zufammenhängend und gefährlich oder ſtrafbar erkennen koͤnnte.
&s’ bleibt alfo auch diefee Theil der Schuidigerklaͤrung eine
Frage für bie allgemeine bürgerliche Erkenntnig**).
*) In jeder Ginficht iſt alfo gerate das Urtheit des Schwurgerichts das
tunftverftändige Urtheil,
**) Die Gegner ſeibſt, z. B. Trefurt (S. 295), erklären fogar den
Strafgefeogeber „gebunden durch die in feinem Wolke entwidelten Bor:
fellungen und Begriffe. Nur das, was die ducch religiöfe, rechtliche und po:
itiſche Aufklärung im Volte entwidclte Meinung für ftrafbar
hätt, darf er fkrafen.” um wie vielmehr muß alfo der Richter zum Aus-
ſpruche der gerechten Strafe an die moralifhe und rechtliche Bildung und Nieber-
aeugung feines Volkes gebunden , ihrer völlig kundig und ihr treuer Repräfen
tant fein! Zrefurt, der fogar vom Richter ausdrücklich fordert, er folle,
„als Gefhworener mit ber Gefchworenen freiem Ermeffen‘‘ richten, hätte
hiernach, fo ſcheint es notkwendig, aufs Shwurgericht geführt werden
follen. Doch mit feiner eigenen Brundanficht nicht übereinffimmend und an
ſich unrichtig, ſucht er auch den Ausfpruch Über die Thatfrage der Schuid von -
186 Sum.
Auögefühst aber wurde es bereite (oben ILL, 3), wiedaß
geite x nik ds a — Juriſtiſche Fi pe Pi
unl tung bes ſes, Auslegung und
und geftglichen Zormen, Grageftellungen, Strafausmeffung -
urtheit — den Jutiſten zumeifet, fondern fie auch zum Tharurthe
Geſchworenen in folder Weile unterftügend und contweodie j
mitwirken tät, daß dieſes als gemeinfdaftlicyes Reſultat ihees R
beben
einem blos tehnifhsjuritifchen Miffen abzufeiten. Gr ex |
affung bee thatfädlihen Erfcheinungen bes Wi
jufammmenfaffung derfelben in dem Urtheile, daf fir basbewimmi |
Berbrecen bilben, mit Unrecht als eine angeblich tedhmifch Li2
fifche Function ganz gleich der technifch-medicinifhen Auffaffum _
ber einzelnen Erfheinungen einer Krankheit und ihrer ”
fammenfaffung in dem Urtheile, daß fir die und bie
Krankheit bilden, Allein bie richtigen mebieinifchen Auffafe und un
theile beruhen ja auf naturwiffenfchaftiichen und mediciniſchen
bie feineswegs pofitiv gefehlich für alle-Bärger |
Find, vie micht alle Bürger felbft befigen und befolgen mäj \
tie die gefeglichen Verbote der Werbredhen. Eben fo irrig wie Wied:
Reltung des nothwendig allgemeinen bürgerlichen mtl de
Ihatfrage der Schuld mit einem tehnifh-medieinifhemim
Exiſtenz und Natur einer beftimmten Krankheit iſt aun ach ir
Gegenfat zmifen Gefdworenen und Zuriften rücfichtlid der Bllbung
Urtheils über die Thatfragen ber Schuld. Die Geſchworenen follen
lebiglih nad Gefühlen urteilen, wie Trefurt fehr ircig Ühre
mein bürgerliche Erkenntniffe, Auffaffungen, Crfahrungen und
eine
urtheiten koͤnnen. Das
nen. der tieferen Grünb
(üy *
Iur. | 187
feitigen geordneten organtfchen Zuſammenwirkens; als das Reſultat beibers
feitiger Erkenntniſſe und Vorzüge erfcheint, und dag vollends bie Vollziehung
einer ben Juriſten unrichtig erfcheinenden Verurtheilung ausgefchioffen ift.
Schon allen hierdurch ift denn auch — ſelbſt abgefehen von dem
Rechte der Juriſten, als Befchworene erwählt zu werden — das IVte
Mißverſtaͤndniß befeitigt, daß Mämlih, wie Trefurt ſich aus
druͤckt, das Schwurgericht „Über die Jurisprudenz den Stab breche”,
„Denn“ — ſagt er (I. S. 338) — „was kann unbilliger und graufamer ſein,
„ots einen Wenfchen zu verbammen , ohne verfichert zu fein, daß er ba
„Gefeh , deſſen Webertretung ihm zur Laft gelegt wird, begriffen und, vers
„fanden habe, oder habe begreifen und verftchen können. Die beutiihfte
„Probe aber, daß ein Verbrecher das Geſet verftanden habe ober habe
„verſtehen Tonnen oder follen, if unftreitig biefe, wenn 7 ober 12 ungelehrte
„Männer ihn darnach verurtheilen und durch eben biefes Urtheit zu erkennen
„geben, wie ber allgemeine Begriff des Abertretenen Geſezes geweſen, und wie
„jeder mit gefunder Bernunft begabte Menſch folches verftanden habe. Dies
‚am die einzige Probe von der wahren Deutlichleit bes Bes
„ſetzes, weiheber Gelehrte nie geben Tann, weil feine Sinne gu
„geſchaͤrft, zu fein und über ben gemeinen Begriff zu fehr erhaben (und, wie
er ſpaͤter hervorhebt, ben natürlidhften Gefühlen, Anfichtöweifen, Verhaͤltniſſen
und Gewohnheiten ber Bürger kaſtenmaͤßig fremb, oft gegnerifdh) „find. Der
„‚in ber peinlichen Halsgerichtsordnung vorgefchriebene Eid erforbert von den
„ungelehrten Urtheilsfindern, daß fie nah ihrem beften Berftändniffe
„ſprechen ſollen. Das befte Verſtaͤndniß eines Gelehrten ift aber nothwen⸗
„big von bem beften Verſtaͤndniſſe des MWerbrechers fehr unterfchieben. Der
„Belchrte if ein Naturkundiger, der durch ein Bergrößerungsglas hun⸗
„dert Dinge in einer Sache entdeckt, welche ein gemeines Auge nicht fieht. —
„Benn alfo ein Gelehrter urtheilt, fo ift er in beftändiger Gefahr, von feiner
„feineren Ginfiht entweder zu unzeitiger. Milde oder zu einer. übermäßigen
„Bteenge verführt zu werden, und er follte fih um feines eigenm Gewiſſens
„willen nie mit peinlichen Urtheilen abgeben” (nie fie ausſchließlich und allein
fällen wollen). An einem andern Orte (IV, 25) hebt er noch befonders den
Vorzug praltifher, handelnder Menfchen vor ben Belehrten hervor,
fobald es Urtheile Über ganze Thatſachen gilt. „Wie giädlic”
fo fagt er, „iſt der Menſch, daß er durch die allmächtige Wirkung eines To⸗
‚taleinbruds und nicht durch kleine abflrahirfe Negein zum Handeln
„beftimmt wirb , indem wahrlid mehr Gutes in ber Welt unterbieiben würde,
„als jet barin Boͤſes geſchieht, falls es in des Menfhen Vermögen geweſen
„wäre, fi an ber Schnur abgezogener Regeln zu halten, oder jede feiner
„ganblungen fo einzurichten, wie er es fich in feinem Lehnftuhle bei Kalter
„weberlegung vorgenommen hatte. — ben fo wird der durch den aangen
„Eindruck ber Schöpfung belchrte Bauer immer des metaphyſiſchen Atheiften
„lachen und Sort da erkennen, wo biefer ibn nah dem Maße verliert,
„als ertrennt, theilt und in's Unendliche geht. Unter jenen bat
„nie Einer an feiner eigenen Eriftenz und feiner Zreiheit gezwei⸗
„fell. — — — Zum BIäd müflen die meiften abgezogenen Regeln in dem
„Augenblide ber Handlung und Entſcheidung dem mächtigen Total⸗
„eindbrude weihen. In den mehrften Ländern werben die Verbrechen
„nach abflracten Regeln verdammt, aber in England erkennen zwölf Zotaleins
„drücke über bie eoncrete That, — Aber des Allen ungeadhtet verachte ich
„die Gelehrſamkeit nicht. — Allein die Geſchaͤftsmaͤnner und bie handelnden
„Männer follen die Refultatenügen, ohne mit jenen einerlei Bang
zu gehen — — fie follen, wie ein Muſiker die Roten, den Verſtand bucch’6
138 Sury.
daß durch daſſelbe die juriſtiſchen Staatsbeamten zuruͤckgeſetzt unb ganz
aus der ſtrafrechtlichen Wirkſamkeit verdraͤngt wuͤrden, und Alles von den
Geſchworenen ausgehe. Dieſes iſt gerade ſo falſch, als wollte man
ſagen: durch die Mitwirkung der aus allen Buͤrgerclaſſen erwaͤhlten
Landſtaͤnde bei beſtimmten Regierungsgeſchaͤften wuͤrde die Regierung
herabgeſetzt und wirkungslos gemacht. Vielmehr iſt nur das allein die
Frage: erklären mit Recht alle freien Völker dee Erde jenes. con:
trolirende und wechfelfeitig unterfiügende Zufammen-
wirken eben fo wie bei dem Geſetzgeben fo auh im Strafgericht zur
fleten Vereinigung der Intereſſen der Öffentlichen Ordnung mit
denen der Freiheit, zu einer vielfeitiger erwogenen, gerechten Geſetzge⸗
bung , zur vollen Mepräfentation des ganzen Staates und zur
Vebendigeren Gerechtigkeit im Wolke und in der Regierung für beffer als
das ifolirte abfolute Befeggeben und Richten blofer Regie—
zeungsbeamten in ihrer kaftenmädgigen Abfonderung vom Wolke ?
Im Strafgerichte aber iſt jene organifche Vereinigung und bie
Mitwirkung dee Bürger für Freiheit und Rechtsſicherung fogar noch
weit unentbehrlihher, als bei der Geſetzgebung. Auch laͤßt fid)
dort eine nicht technifchsjuriftifche von einer bürgerlichen Kunction für bie
Bürger ungleich befier abfondern als in ber ftändifhen Gefesgebung *).
— — —— —
„Auge in bie Finger gehen laſſen, und das commercium rerum et animae, wie
„es Bıacon!nemt, fo wenig buch das Denfen ber Beiden als durch
„deren Ausdruck aufhalten.” (Sie follen nicht wie bie Theoretiker durch das
Schwanten über bie Gründe unb bie Befege der Thatſachen bie
Wahrheit und Bewißheit von diefen letzteren felbft verlieren.)
Ka diefen vortrefflichen Bemerkungen entfcheibet bem praktiſchen
Refultate nach aud gerade über die fehwierigften Puncte bei der Schuld⸗
frage, ob im individuellen Falle ein Handeln mit Freiheit oder Zurechen⸗
barkeit, mit böfem Vorſatze, mit ſtrafbarer Nachläffigkeit vorhanden war, das
Schwurgeriht mit größerer Siherheit gerecht und richtig, als nur allein
Gelehrte, die hier wie über die Eriftenz eines perfönlichen Gottes und der mo:
rali'hen Freiheit in tauſend Streitigkeiten, Einfeitigkeiten und unnatürtichkei:
ten gerathenz fo wie z. 8. ſelbſt Feuerbach mit ſeinen „zwei Vernunften, einer
moraliſchen und einer juriſtiſchen,“ mit feiner ausdruͤcklichen Ableugnung aller
moralifchen Zreiheit im Rechtsverhaͤltniſſe, mit feinem Grundſatze, daß es auf
die Schuld in concreto bei bem Strafurtheile nicht ankomme (!), daß
ſchlechte Erzichung bie Strafbarteit erhoͤhe (!) u. f. w. Auch das Gut:
achten (8. 112 ff.) weift an mehreren Stellen nad, wie die berühmteften
Auriften und Gerichtshöfe durch ihre theoretiſchen Spisfindigkeiten, und aͤhn⸗
ih wie foftematifirende Hiſtoriker, zu den falfcheften praktiſchen Urtheilen über
Thatſachen geführt werben, zu Verkehrtheiten, wie fie dem gefunden prat-
tifhen Sinne bes Schwurgerichtes unmöglich find. Bei den für das Schwur⸗
ht etwa unlbsbaren Fragen der Zurechnung aber, ba müffen ja auch bie
uriften nach kunftverfländigem medicinifchen Gutachten urthrilen.
*) Deshalb mußte denn auch fchon die unvermeidliche Gonfequenz ben in
der vorigen Note von mir beftrittenen babifhen NRechtögelehrten, indem er bic
Bürger für unfähig zum Sawurgerichte, und ihre Mitwirkung als Hrrab:
fegung und Störung der Wirkſamkelt der juriftifchen Richter crllärte, un-
wilttärtich zu Brunbfägen führen, welche auch aller ftändifchen Berfaffunu
das Zodesurtheil fprechen. Diejes thun denn auch diejenigen, weiche berfelbe
Jury. 189
Erſcheinen aber wohl irgendwo in Deutſchland, wo man fie zu Schreib:
mafdyinen macht und in beftaubten Gerichtsftuben von ber Nation ab-
fondert, die Mechtögelehrten jemals in einer gleich hoben, geachteten,
einfiufreichen Stellung und Wirkſamkeit als die englifhen und franzoͤ⸗
ſiſchan Zurtften in ber Affife ?
Ein zweiter Einwand gegen unfere Behauptung, daß die Ents
ſcheidung der Thatfragen an ſich und nothwendig eine allgemein bür-
gerliche Aufgabe fei, führt näher
zu dem I. Mißverfländniffe Jener Einwand beſteht
nämlich darin, bie Gefeggebung koͤnne und folle wenigftens zur Si⸗
cherung gegen untichtige richterliche Beweisurtheile kuͤnſtliche juri-
ſtiſche Beweife erfhaffen.
Wie aber kann biefes nach der unter I. entiwidelten Natur des
eriminalcechtlichen Beweiſes und des Beweiſes ber Wahrheit ber be:
fonderen freien biftorifhen Thatſachen, ſowohl der verbre⸗
cheriſchen Handlungen wie auch ber Ausfagen darüber gefchehen? Blog
conventionelle Beweife oder eigentliche Vergleiche, altdeut:
[che Beweiſe durch Eidhelfer, Zweikaͤmpfe, Gottesurtheile, Torturen
oder andere Loosentſcheidungen, gleich viel ob der wirklichen Wahr:
beit entfprechend oder nicht, Bann man doch unmöglich heut zu Tage zur
Grundlage der Strafurtheile machen wollen. Dennod aber führen
alle juriflifchen Zwangsgeſetze über ben Beweis jener Thatfachen, weil
übe befter, ihr einziger Beweis in der jedesmaligen möglichft freien und
volftändigen Auffaſſung und moralifchen Ueberzeugung je nad allen
ibren befonderen Erſcheinungen und Verhaͤltniſſen befleht, zuletzt
auf jene Abwege und zur Berfiörung bes wahren Beweifes
bin. Der Geſetzgeber muß nämlich die Richter zwingen, in jedem be:
fonderen zukünftigen Falle nicht mehr das fuͤr wahr zu halten und als
folches auszuſprechen, was wahr ift nad) ihge moralifchen Ueberzeu⸗
gung, welche ihnen ihre eigene Anſchauung, Auffaffung und Prüfung
aller befonderen perfönliden und fählihen Erſcheinungen und
neuerlich mit ben Annalen ber badbifhen Gerichte in der erften
©itung dieſes badiſchen Landtags über das neue Strafgeſetzbuch gegen bie Fa:
bigteit der nicht juriftifchen Mitglieder zur Theilnahme an der Berathung von
Geſetzbuͤchern geltend machte. Die hier auögefprochene Behauptung: daß fuͤr
biefe Berathung eine Verſammlung von Technikern oder Zuriften und die Re⸗
ſultate ihrer Berathung durch Theilnahme von Nichttechnitern fogar we:
fenttih verfälechtert werden müßten, ift in der That das To:
—5 für alle Kaͤndiſche Gefeggebung , die ja ſtets zum Theil juriſtiſch und
techniſch iſt. Ja, fie ift ein Todedurtheil für jede ftändifche Berathung, weil
für einen jeden befonderen Gegenſtand immer ein Theil der Mitglieder
nicht techniſch kunſtverſtaͤndig if. Es vertheidigt — wie wenig auch diefes dic
Abficht des ſehr achtbaren Schriftflellers war — doch in unwillkuͤriicher Son:
ſequenz diefe Merwerfung des Schwurgerichts die Grundidce der ſtrengſten
kaſtenmäßigen Sefhäftsabfondberung ber abfolutefien Mon:
archie, nicht aber bie Ibee des lebendigen Organismus eines
freien Volkes, auf welcher bie conftitutionelle Berfoffung und bas Schwur:
gericht beruhen.
140 Jury.
Berhättmiffe det angeblichen verhtechertſch en Handlungen unt
ſagen und Anzeigen über dieſelben begründet. ER el
dasjenige, für wahr zu halten, was er, ohne alleldief
deren Erfcheinungen ſelbſt zu Lennen, zum Woraus U
meinen blos nad) einigen wenigen Umſtänden die
ten abſtracten Erfahtungsregeln unifaßt, für das Fin iin
liche hält, und deshalb als juriſtiſchen Beweie zu eriid
Er fagt: wenn diefe zwei, drei beſtimmien Umftände, BL
fügen von zwei Beuigen oder vom Angeſchuldigten, weichEift
fendmal fhon'irrig oder fatfh waren, In bie
Art vorhanden ſind, alsdann befehte ich zu glauben arg
Magte (huldig ift. Ale Nichter und” dad Volk ' FoNmeh
jedem. zukünftigen Falle daffelbe glauben, was ich forgt
glaubte oder glauben’ wollte. Sie follen dieſes, went fie
allen den taufendfach verſchie denen Umftändew b)
deren Falles, die Bein Geſebgeber der Welt zur
und. gefeglich feſtſtellen kann, und die wohl fie, niche aber)
(indem wohl fie, nicht aber ich, ale Worte, Mienen um
der Angefhuldigeen und Zeugen , dieſe beſten Wetbeife Aal
der Wahrheit oder der Unmwahrheit, Fe rbft hörten und ſahen
völligen Gegentheite Übergeuge fein) föllten. "Dennoch fölle
meinen ganz unvollfländigen, erwieſenetmaßen tauſendfach
abſtracten Regeln Schuldige laufen läffen und Unſchudig
Iſt nun wohl dieſes vernuͤnftig und gerecht? Dffenbe
angeblich juriſtiſche Beweis doch an ſich weiter nichts, ie
Lifdyes Glaubens⸗, ein Gefhworenenurtheitiäbk
riſche Thatſache a der fich er Fein gutes. Esiltelnwom
zum Voraus, ohne irgend genaue und anſchauliche Kenntnig —
jener Thatſache und au über Beweismittel gegebenes. Ja, wa da
Hei: es iſt ein ſolches/ das der Gefesgeber ſelbſt nicht für
Jury. 141
überall verkehrte Folgen erzeugt, bei ber gefeglichen Beweis⸗
theorie reichlich dargethan. Die North und fehlerhafte Bermifchung von
Gioll: und ..Griminatbeweilm hatten im fpäteren roͤmiſchen und deut:
ſchen Rechte, nach der Zerſtoͤtung des einzig wahren Griminalbeweifes
bar vollſtaͤndiges Schwurgericht, auf eine gefegliche Beweistheorie zur
Sicherung ber Unſchuld gegen angeblicyes individuelles Glauben ber
Beamten. geführt. — Die Gefege forderten, um eine ftrafrechtliche
Veruxtheilung auszufprechen,, vollftändigen, durch Augenfchein ober zwei
nöllig zlaubwürdige Zeugenausfagen zu liefernden direc⸗
te»: Beweis des Thatbeſtandes des Verbrechens und einen eben fo
vollſtaͤndigen, durch folche Zeugenausfagen ober ein völlig glaubwärbiges
Geſtaͤndniß zu liefernden dDirecten Beweis, daß ber Angefchuldigte
der Thaͤter war. Sie verboten durchaus die Verurthei—
(ung auf iIndirecte oder Indicienbeweiſe, weil biefe dem
Wein nad nur zu fubjectivem Glauben des Richters fuͤh—
sen. Diefe geſetzliche Beweisſthorie aber offenbarte und bewirkte bald
folgende Gebrechen: .
1) Jene directen Beweiſe bildeten in der That doc) nur eine
Loosentſcheidung. Ste führten zu fehr vielen falfhen Verur⸗
thejlungen von Unfchuldigen, noch ungleich mehr aber zu falfchen
Losfprechungen von Schuldigen. Sie waren mit ihren gefeblichen Be:
dingungen der Bollftändigkeit nur fehr felten vorhanden. Man
mußte alfo alle Verbrecher, die nicht zwei völlig glaubmürbige Zeugen
zu ihrem Verbrechen zuzuziehen ober es zu ihrem Verderben freiwillig
vollguͤltig zu geftehen beliebten, Losfprechen.
: 2) Um. diefem Skandal zu entgehen, gelangte man denn fehr
bald dahin, daß man nicht mehr blos glaubwuͤrdige Ausfagen und
Geſtaͤndniſſe, fondern auch völlig unglaubmwärbdige ale geſetzliche
Beweife der Wahrheit anſah. Man verurtheilte auf die vermittelft
ber gefeglichen und der willkuͤrlichen richterlichen Martern, auf bie
duch Schmerz und Todesangſt, durch Inquiſitions- und Kerker⸗
qual, durch Lebensüberbruß und Leberliftung erpreßten Ausfagen. We⸗
nig half es, daß ber Widerfinn ſolcher Theorieen ſchon an ſich zu Tage
lag und bald durch Zaufende von Juſtizmorden, fo z. B. auch durch
die erpreßten Ausſagen bes Unmoͤglichen, von den Deren, bandgreifs
ih wurden. Steht einmal ein verkehrtes Srundprincip feſt, dann
find die verkehrten Folgen ober Aushülfen unvermeidlich. Und fobald
das pofitive Geſet oder die juriſtiſche Praris einmal etwas feſtgeſtellt
bat, dann hoͤrt für viele Juriften der Unterfchied von Sinn und Un:
finn, von Gerechtigkeit und Barbarei auf (e vinculis sermocinantur),
Und wirklich vertheidigen ja noch heute viele ganz flattliche deutfche Su:
riſten biefelbe Theorie und die durch Tortue unter der Form von Luͤ⸗
enftrafen und von andern nquifitionds und Kerkerqualen erpreften
meismittel; und baher eben biefe neubeutfchen Torturen und Ju⸗
Rismorde ſelbſt. |
3) Ehen weil bei ben juriſtiſchen Beweiſen body dinmal er Yaakı
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man dann‘ preifen —
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Pech und Unfehutd
und
das nicht empört,
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144 Jury.
Zu IM, Die Einſicht. der; abſoluten erg ran
urtheife von juriftifchen ‚vollends von amopibeln und,
venden Regierungsbieneen nach ihrem. ſubjectiven
ehrlichen Sicherheit der Bürger, has eine Abartberfe,
Mifhungsverfud von objertivem, juriflifhem.
salifhem Glaubensbemweis bei neueren Eriminafifkem rum,
fegvorfchlägen erzeugt, und, troh der Warnungen Han Grimme
dicis an eine Formoorfchrift oder an ein — Regeim
Iren, Abgefehen davon, daß ein Miderfpruch in ſich J
‚Das. Geroilfen- mit der Form und mit den Regeln —2 t, und
„the Shlendrian erflidt die Anfiht von ber Bi:
„der einzelnen rihterlihen Handlung, — Man darf me
der ehrlichfte Schulmann ungereht wird in der Beurthi —
nex indicüs, Auch bie Gollegiatttät hilft wenig. fie er i
tert oft die Veruttheilung, wenn die Werantwortung gleichfams. auf —
„‚Einzetnen nicht fügen. bleibt. Gnblich-ift es wie mit dem. Arzt,
Rtante behandelt: er wird Lühner, fein Spftem reift ihm fort, ne
treu, hätt er fich bei jedem nn 6 te Dinge — der
„nichts Schrechaftes mehr für ihn. der Jurift, welchem ber
„seine arbitrium gegeben ift, — Er macht ſich eine Art von Goftem
„it fein Seoifen befhrichtigt, und bie Berurtheitun 2. if * keine |
„ionbern eine alltägliche Sache” (mie.jenem berühmten & 308,
fih rühmte zu.20,000 Zodesurtheilen mitgewirkt zu haben.) 4,
ders fteht eẽ hier mit dem Gefchworenen, zumal wenn er feinen
Bahrſpruch thut. Daher nodimals meine volle Uebe
—9 gefährlicher als der den Rihterrollegiem fre
„Beweis aus Bermuthungen.“
Nehme man mun zu biefem Allen ferner noch die Abhängigkeit
genheit von Regierungsdienern in politifchen Proceffen , — u
fie, fih dem Geift der Regierung und dem Verdacht der, Bi
politifcpen Gegner zu entziehen, wenn. fie biefelben nicht fchuldig findEm)
Dürften fie nur nad objectiven juriftifchen Beweifen verurtheiten, fo.)
mit dem Mangel derfelben ſich ftets.entfculbigen. Richten fie aber
um. 145°
.®e von Möfer, von Mittermaier (a. a. O.), gegen ſolche ins
Yeneinbare iſchung des ——— — verbreitet jegt die Vers
lung am ber Achten juriſtiſchen Berweistheorie, wie an der blofen
dentheorie 5 a a u 2 ne einzige Pr
rechte Auspüll urgerichts dern, diefe je Theorie.
Man hält nach derfelben eine Bruchftuͤcke der alten directen
jeglichen Beweiſe feft und erlaubt, fie durch die Suite nie bes
Wahrſcheinlichkeiten blofer Indicien unb das fubjective
GSlauben der Richter. an dieſelben zu ergänzen. Auch erklärte. man
bereits Häufig geradezu, der Richter folle often ale Losfprehun:
sen nad feinem fubjectiven Glauben entſcheiden. Ex folle nur
dermittelſi fogenannter negativer juriſtiſcher Beweiſe Beine Vers ⸗
urtheilungen ausfprehen Sinnen, ohne baf einige Trümmer des
juriſtiſchen iſes fi mit feinem Stausen oder laubentwollen vers
binden. In allen diefen Faͤllen aber bleibt einestheils ber Vorwurf
ber Untanglicykeit aller aufgezwungenen —— 1 ihrer ——
ihrer verderblichen Hemmung der Wahrheit.
gleich die ganze Gefährlichkeit der cidjterlichen ge und —
denn feinem wahren Weſen nach bleibt ſolcher Beweis fubjectiver Stau:
bensbereis. Diefes bleibt ex vollends nach der Theotie derer, bie,
wie Roßhirt, dadurch zu einer juriſtiſchen Weweistheorie helfen wole
len, daß fie den bisher als un zuverläfſig anerkannten Bruchftüden
Taziflifcher Bewelſe außergerichtiichen Geftändniffen, den Ausfagen von
Mitfyuldigen, von einem Zeugen u. f. iv. eine dohere Berveiskraft
heime Kerkere und * —ãS truͤgliche Ieten, beliebiges Hinein⸗
derausinquiriren Sirafen, doel der
Sue Mint ⏑,———————— more
fahrens, und dazu noch BRichterfprüche nach dem ful — — Meinen — und que
legt enbtich jegt ein Gpielcaum bes richterlichen fens zwiſchen dem en
Fe —— Dr de m — — die a ae un und
Er Sarlaormel her Mrkliden ser — —— ng.
6 ga viel, wenn t, daß eine s Srmäätigung une ab M \
5 n a erh heh “4 Indicien, aul 5 fette Per en
gie: en Ermädtigung NER u QJufi Teen
‚man fich auch nicht etwa darauf, daß Na franzöflfe ürden Orr —ã— —
über unb correctionelle — auch nicht am juriſtiſche Geweij
en En
un
AN
und die folgen vi
denn uns armen Deutfen
146 Jury ·
andichten. Dadurch wird ber juriſtiſche Beweis aur
unzuverläffig, oder er muß doch mehr feine Kara
durch Indieiem oder moralifche Ueberzeugung erhalten.
Wenn auch eimelne Städe directen juriſtiſchen Verweilen, eima m
Beweis des Thatbeftandes und ein Fragment des Zeugen» imb
nißbeweifes gefeslich gefordert würden, welche feld nur
—— — en und durch meue
ergänzt werben m fo- Täße fih ja num md nimmermehe >
Bruchſtuͤck, die Stärke umd der Mangel feiner Gl
die nothwendige Stärke der zur Ergänzung nothweridigem
lichkeiten objecttv, mathematiſch und jueiflifh al und
gleichen, eben fo wenig als die Stärke ber Indicien fe
fcheidet in Beziehung auf jeden Punct ri das far
jeetive rihterlihe Meinen und Ermeffen,
Den Richter aber In ben Fällen, wo vollftändiger juriſtiſcher —
weis fehle — das heißt aber in den allermeiften Criminal
fälten — in feiner, nad alen unberehenbaren, le£@ Herfäin
denen Befonderheiten jedes conereten Falles zu it (4
jectiven Ueberzeugung zum Boraus durch einzelne abficncte, m
fubjectiven Weberzeugung bes Geſetgebers gebildeten. juriſte |
gungen und Regeln, ihn duch Halbe und viertelssjuriftil —
gewaltſam befcränfen zu wollen, dieſes iſt vielfach noch
die Forderung ganz juriſtiſcher Beweiſe. Es ergeben fi Klee
gen Nachtheite beider Bormen; zugleich aber aoch bee
liche neue, daß num hier bei diefer Mifchung fubjectiver
und juriftifcher Beweiſe, bei_biefer Miſchung der fubjectiven
gung des Richters und des Gefekgebrrs, beide verberbt ober aufan
merden, daß doppelte Taͤuſchung, Unficherheit und WIlEkE au
Eee v4 huiftiihen * wie des titeelihen ———
Surg. 147
gefhilberten allertraurigften Folgen und. Aushälfsmittel
der juriflifhen Beweistheorie und des Beamtenge⸗
richto, die langen geheimen Kerker⸗ und Inquifitionstorturen zur Tr⸗
preffung von Ausfagen und Geftänbniffen, die Verdaͤchtigkeltsſtraſen
umd Inſtanzlosſprechungen und das vehmgerichtliche Dunkel des Vers
fahrens. Das reine Juriftengericht, das fie ſchuf, wird fle
.aud gegen den Wilten der Gefege erhalten. Die Natur
der Dinge iſt flärker als die Befege.
Außerdem fteht die abſolutiſtiſche Verſchlimmerung der Dinge nie
von felbſt ſtill. Es liegt eine flets wahfende Kraft im jeder
Berkeherheit, fo Lange das Leben nicht eine gänzlih entgegens
gefegte Rihtung erhält. Ohne biefe werben auch. jene Uebel,
pt das Beheimniß des Erlminalproceſſes und die Abhängigkeit der
erichte ſtets wachſen, tie fie feit Anfang ber Rheinbundẽdespotie
fhon zum Erſchreckken gewadhfen find und nod taͤglich
wach ſen. Sie werden wachfen, felbft trog dem, daß fogar bie Abfos
tutiften aus Zucht vor Schande dagegen proteftiren und 3. B.
haͤngigkelt der Berichte für ſcheußlich, und eine Yufklz, die das Licht
ſcheut, alles Vertrauens unwuͤrdig erklaͤren, ja es ausfprechen, daß eine
geheime abhängige Juſtiz der ausgeſprochene Kriegezuftand zwiſchen
ort und Regierung ſei. "
Freilich muß man es achtungs voll anerkennen, daß alle
unfere ehrenwerthen Rechtsgelehrten vor einem ſolchen
Eriminalverfahren und feinen unvermeidlihen Folgen zuruͤckſchaudern,
und einftimmig als Grundbedingung eines ehrenhaften Rechtszuſtan⸗
des, als Grundbedingung aud für die Mifchungstheorie: Oeffent⸗
lichkeit und Muͤndlichkeit und accufatorifhe Einrihtung
des Verfahrens und das Selbſtſehen und Selbſthören
der Ankiäger, Angeklagten und Zeugen von allen Kich-
tern fordern. Und zugeftehen muß man, daß, wenn dieſe Forderungen
ehrlich erfüllt und gehalten würden, ja werden koͤnnten, im Vergleich
mit unferem bisherigen täglich ſich verſchlechternden criminalcehtlichen
Buftande, ſelbſt ein ſolches Beamtengeriht mit jenem ungluͤcllchen
+ Mifhjungsbeweife noch eine wahre Wohlthat genannt werden
müßte, zumal bei einer Forderung bedeutender negativer Beweisgruͤnde
und Öffentlicher Entfceidungsgründe, bei der Forderung einer größeren
Nichterzapt und einer größeren Stimmenmehrheit, bei ausgebehnteren
Recufationsrechten gegen bie Richter und vor Allem bei wieberhergefkellter
Unabhängigkeit ber Gerichte
Dennoch aber muͤſſen wir nady allem Visherigen den Unglauben
an ein ſolches widernatürlihes Sthämwerk, ja den Uns
glauben, daß es nur irgend im Leben ſich werbe,halten
tönnen, offen ausſprechen. Sogar in dem Hauptforderungen Iäft
ſich die Schwaͤche bereits wieder das Weſentlichſte abdingen. Selbſt
die richterliche Unabhängigkeit fordert man nicht einmal fo weit, als fle
für gerechte Straffuſtig Trefutt (©. 816) für anentbepriig
148 Sum.
erklärte, vollends nicht fo, wie fie mit den Relchegeſehen (Beift’s
Staatsr. $. 148) und ben Gefegen freier Völker Feuerbach forderte
Die kuͤnſtlich combinirten Trümmer ber juriſtiſchen gs
und des fubjectiven richterlichen Meinens aber bieten. feine
nügenden Bürgfchaften, hindern bier bei bem Mangel jener
tiven-Bedingungen bie Verurtheilung offenbar Schuldiger,
führen dort, ſchon um das Pegtere zu vermeiden, zur Mi und zur
Verhüllung derſelben und der von iht ausgehenden , Verurthelfumgen
tmirklich oben juriſtiſch Unfchuldiger. Bor Allem aber muß ſchon, um
jene negativen Bedingungen der Beructheilung, Geftändniffe und. Auss
fagen von Mitſchuldigen herausjubringen, gerade die größte Scheuf-
lichkeit, die lange Inquifitions> und Kerkertortur unb die durch fie feibft
wieder begründete Unglaubmwärdigfeit jener Ausfagen aub
hier der Natur der Sache nad fortdbauern. Diefes IE um fo
unvermeldliher, da Gerichte von juriftifchen Regierungsbeamten nie
fortdauernd vor dem Volke die Verantwortlichkeit von Griminaluerheilen
auf ihr fubjectives Meinen auf ſich nehmen und ihrem Fürften auf:
bürden können. Wo aber foll nun der Much und das gute Ge
wiſſen herkommen, dem Rechtsgefuͤhle und gefunden Menfhenverflande
des Volks dieſe Schauber erregenden, unnatuͤtiichen, geheimen Worbereis
tungen des unnatürlichen Gerichts mit feinen Kerker⸗ und Juflimorben
öffentlich vor Augen zu flellen, der Muth, diefe deutfche Suftiz mit
ihrem Moderduft und blutbefledten Kleide zu enthüllen? So aber
werben die Inquiſitionskerker geheim und hülftos bleiben tie —
Die Thuͤren des Urtheilsgerichts aber werden ſchon, um ihre Mater
und um das Urtheilen auf folche Grundlagen hin nicht öffentlich fehen
zu laſſen, entweder nie wirklich geöffnet oder gar Bald
wieder gefhloffen werben, gerade fo, wie man fhon früher Die
uralte deutſche Deffentlichkeit gefegwibrig aufhob, eben weil das Wir
fahren der Gerichte das Licht fheuen mußte. wi
Jury. 149
„den Nachtheilen unſerer alten Einrichtung noch unzaͤhlige neue ver⸗
„binden und keine Vortheile des wahren Geſchworenengerichts geben
3) Die größere Verbuͤrgung ber Gerechtigkeit ber
Urtheile bes Schwurgerihts. Das aus dem Vereine von
Staatsrichtern und auserwählten Volksrepräfentanten gebildete Schwurs
gericht gibt nach der obigen Ausführung (II, 2 und 3) entfchieden bie
beften Bedingungen und Bürgfchaften für wirfiih objectiv ges
rechte Urtheile und verbannt allein alle oben geſchilderten Unges
techtigleiten unferes geheimen Inquifitorifchen Beamtengerichte. Es
wirkt zugleih am Beſten für die fubjective Gerechtigkeit ober
auf den fubjectiven Glauben der Bürger an die Gerechtigkeit und
auf die Sefinnung für fie.
fleller! Vor Allem muß man jebem Gedanken, juriſtiſche Beamten ohne
vollftändige flreng juriftifhe objective Beweiſe Griminals
urtheile fällen zu laſſen, fletö neu entgegenfegen, was unfer Juſtus Möfer
(I, 308) bemfelben mit entrüfteter Seele entgegenrief: „Die gefährlichfte Wen⸗
„nung aber, welche wir zu befürchten haben, ift nur biefe, daß Ungenoſſen⸗
‚Richtern die Macht gegeben wirb, welche vordem die Genoſſen hatten. — Wenn
„diefen erlaubt wird, nad dem gewöhnlichen Ausbrude mit Hintanfegung uns
„möthiger Kormalitäten gu entfcheiden, wenn diefe von dem bärren
„Buhftaben ber Befege auh nur ein Haar breit abweidhen
„dürfen, fo beruht Kreiheit und Eigenthum einzig und allein
„auf der Gnade des Landesherren, fo kann er foldhe Leute zu Richtern
„verfchreiben, die in dem Lande, wo fie nad) ihrer Weisheit und Billigkeit
„verfahren follen, nichts Eigenes haben und Keinem Genoß find, die aus ber
„Tuͤrkei und Zatarei zu Haufe find, und bie es nach unverwerflichen Gründen
„darthun können, bar es vernünftiger fei, bie Beinkleider als den Hut unter
„den Arm gu nehmen — — —“
Solche gerechte Empoͤrung gegen ben, allen Brundfägen vaters
Ländifher Gerechtigkeit widerfprechenden, Bebanten aber ſprach — um
diefes wieberholt hervorzuheben — der prattifche Mann fchon zu feiner Zeit aus,
Schon bamals fah er barin eine Zerſtoͤrung aller gefeglihen Sicher:
heit, aller bärgerlihen und politifhen Freiheit. Was aber
würbe, aus feinem Grabe erſtehend, heute ber große Mann fagen, wenn unfere
jest von den Machthabern täglich abhängigeren, unfere beliebig penflonirbaren
und verfegbaren juriftifhen egierungsbiener nach ihrer unverantwortfichen
fubjectiven moralifhen Weberzeugung ben Bürgern Ehre, Freiheit und Leben
abfprechen, über fie bei politifchen Proceffen und gegen politifch Berfolgte allein
richten, vieleicht gar nach geheimer Inauifition auf Actenrelation geheim richten
folten? wenn fie mit biefer entfeglinen Gewalt auch noch bie bes furcht⸗
baren neuern Ermeffens in Beflimmung ber Strafgröße verbinden, unb
fo entweder felbft zu despotifhen Herren ber Bürger ober zu
abhängigen Werkzeugen ber NRegierungsbespotie werben
müffen? Was würbe er fagen, wenn deutſche Zurifien ſolchen Rechtes
zuftand ohne Befäht der Scham und der Empörung den ihrigen nennen Eönnten,
ihn als einen der deutfchen Nation wuͤrdigen vertheibigen möchten? Gr würbe
in Kummer fi zu feinem Grabe zurädfehnen, nachdem er alle Grundfäge
früherer beutfher Freiheit und Gerechtigkeit felbft in bem Stauhe
te und erlofhen fühe, der vorzugsweife ihr Erhalte un The G
ollte
150 Sum.
*
Die drei unentbehrlihften Bärgfhaften (& ob
feetive Gerechtigkeit. 1) Das Schwurgericht wir
Duttlinger (1, © 131) döhtig fi ausbrüdt, „die einheenkiche
„Unabhängtgkeit gegen bie unfauteren Einflüffe von Außen bee mit
„mer Sicherheit und Trefflichteit, wie es auf feinem andern
Areichbar iſt.“ Es wirkt am Beſten gegen’ das Unheil, daE Die
tichte und ihre Urtheite, ſtatt von der Gerechtigkeit und ihrer eigenen
freien rechtlichen Webergeugung, vielmehr von dußerem WWilfen, kon
fremden Einflüffen abhängen und zu deren MWerkjeugen erniebrige erben.
&8 wirkt 2) am Bellen für die rihterlihe UnparteffichBeit,
für vieffeltige, parteitofe Auffaffung der Sache und 3) für bie ri,
terliche Fähigkeit, ober dafür, daß die Berichte nad) allen Wezie
hungen das Alles, was für die Gerechtigkeit der Urthelle einfluifreich if,
volftändig und richtig auffaffen und würdigen. Schon allein bat
Bufammenwirten, bie natürliche, wech ſelſettige
zung, Unterflüßung und Controle der Saatsrihter und
ber Gefhmworenen gibt nothwendig ihrem vereinten Win
Ten in allen drei Hauptbegiehungen Vorzüge ‚vor jebem Bias
einfeitigen Beamten⸗ ober vor jedem reinen Buͤrgergericht.
dadurch nothwendig eime größere Schugwehr gegen uͤngebuͤhtliche
hängigkeit von der Regierung, ihren einfeitigen Richtungen mb
wechſelnden politifchen Intereffen und Leidenſchaften, und eben fo
die freilich ungleich feltenere Abhängigkeit von Veflehung und
willkuͤt. Der eine Beſtandthell des Gerichts gibt dem andern Shus
und Kraft, und warnt und bewacht ben andern gegen. S
Beide find nicht abhängig von denſelben Einflüffen. Mer abe
mödhte behaupten wollen, alle Gefdmworenen, alle die Erufenbe
von Bürgern, die nach dem Loofe einmal zum Richter berufen find,
feien ſo leicht feiner ober gröber, durch Belohnungen ober Machiheile,
Jury. | 181
gruͤndlich unterrichten, tie jeder vernünftige Geſchaͤftsmann und
Familienvater felbft bei unendlich unmwichtigeren. Schon nad
dem bier Angebeuteten müflen der Natur der Sache nad bie
unter Mitwirkung gut ausgewählter Geſchworenen gefällten Strafurtheile
im Durchſchnitt wirklich objectiv gerechter ausfallen.
Die fubjective Gerechtigkeit oder bie heilfamere
Wirkſamkeit des Schwurgeriht® für Erhaltung unb
Beförderung des Glaubens ber Bürger an die Gerech⸗
tigkeit und ihrer Gefinnung für fie. — Das Schwurgericht
würde von der Gerechtigkeit gefordert werden, weil es die befte, ſorg⸗
fältigfte, vielfeltigfte Einrichtung ift, in unfern befchränkten menfchlichen
Verhaͤltniſſen objectiv gerechte Urtheile zu erhalten. Es wird aber
doppelt nothwendig, weil feine Urtheile auch ſeiner Natur nad
das größte Vertrauen ber Gerechtigkeit für fih Haben
und fchon deshalb am Meiften günftig für die Gerechtigkeit wirken.
„Bon Gott und feinem Baterlande gerichtet zu werden” — dieſes große
Mort des Briten zur Bezeichnung des Gefchworenengerichts druͤckt
Alles aus. Deutſche Gegner des Geſchworenengerichts, wenn fie
nicht ableugnen Eonnten, daß bie Voͤlker, welche das Gefchwormens
gericht befigen und im Leben erprobten, mit feltener Uebereinflimmung
dieſe Gerichtseinrichtung jeder andern vorzogen, bebaupteten,, diefen
fo großen Vorzug gebe man ihre nur megen ihres großen Schutzes
der politifchen Freiheit. Nun, auch dieſer Schug kommt der Ges
techtigleit zu Gute. Die gaͤnzliche Abfonderung ber politifchen Vor⸗
zuͤge des Schwurgerichts von den rechtlichen iſt eine Thorheit. Iſt
denn für edle Menſchen und Völker die politifche, bie vaterländifche
Sreiheit, der Schutz des Rechts und der Verfaffung gegen Willkuͤr
und Despotismus, gegen ihre Ungerechtigkeiten und Verderbniſſe
nicht felbft ein Recht und das edelfte von allen? Und
wirft Ddiefelbe, wirkt der veredelnde Einfluß der politifhen Freiheit
nicht für den Schutz, für die höhere Achtung alles Mechts und
dee Geſetze überhaupt? Bewundert nicht die Welt bei den Briten —
trotz aller ihnen eigenthümlichen Verfuchungen zum Gegentheil durch
bie ſchon aus dem Feudalismus und Fauſtrecht flammende furchtbare
Ungleichheit der Güter und zugleich durch die riefenmäßigen Handels⸗
und Fabrikverhaͤltniſſe — dennoh den geſetzlichen Sinn, bie
- Hohe Achtung des Rechts? Werden nicht mehr als durch Strafs.
urtheile durch Vaterlandsſtolz, patriotifchen Gemeingeift und Verfaſſungs⸗
treue die rohen und niedrigen, die felbfifühtigen und ver»
breherifhen Triebe veredelt oder unterdbrüdt, und Ver—⸗
brechen alfo verhindert? Allein jene Behauptung iſt auch ganz
erdichtet, denn bei weitem der größefle Theil aller Bewunderer des
Schwurgerichts in England, Frankreich und in den beutfchen Rheinlanden
— von welchen bie preußifchen fogar in politifhen Sachen des Schwurs
gerichts beraubt find — die Schziftfleller, wie Hunberte von Bewohnern
jener Länder, die ich befragte, zogen das Gelkwarenragriikt, dar ia
153 gury.
wie Hume und unfer Zuftus Möfer, wier@rolmann umb ie
ganze preußiſche Immedlatjuſtizcommiſſion wegen feiner geredhteren
Urtheile und wegen des Glaubens an diefelben vor. Wenn ſich abe
bei der Unvolltommenheit aller denkbaren menſchlichen Berichtsekarid«
tungen die Frage, weiche die gecechteften Urtheile, die wenigften unge
rechten begründet, felbft nicht mit Sicherheit zu Gunften bes Schwan
gerichts entfcheiden ließe, abfolut volllommene Gerechtigkeit aber wnadglih
iR, fo ift doch ficherlich die Einrichtung die gerechteſte, und diejenige
wirkt wohl am Beften für die Erhaltung der Gerech tig⸗
keit und ber Achtung berfelben, melde die Bürger, weiche Me
Angektagten felbft für die gerehtefte halten und als ſolche
wollen. Kann benn irgend etwas bie Achtung der Gerechtigkeit uns
der Regierung, den wohlthätigen und ftolgen Glauben der Bürger au
ein gerechtes, die Unſchuld — Verfahren toͤdtlicher laͤhmen, ai
der Gedanke der Bürger, Criminalurtheile wuͤrden beftimme bach
Regierungseinfläffe und durch Kaftengeift der Beamten? BDiefer Ge
danke aber iſt unmöglich bei Mitwirkung der Geſchworenen.
Das Schwurgericht wirkt ferner dadurch objectiv wie fubjectin
unendlich heilfamer für die Erhaltung ber Gerechtigkeit, weil es alle
Zaufende von fheußlihen langen Verhaftungen und Inquifitionss uud
Kerkertorturen mit ihren Kerkers und Juftizmorden, bie Qı
ungen und andere Verdaͤchtigkeitsſtrafen, meil es alle diefe Leibe
ſelbſt für fo viele voͤllig Unſchul dige unndthig macht und abfdyafft.
Es ift ein weiterer unendlichet Vorzug für eine gerechte Wi de
Strafurtheile, daß fie moͤglichſt ſchnell der verbiecherifchen That anf
dem Fuße folgen, fo bei Allen den Glauben an die Heiligkeit ber
te erhalten und herftellen, während bei ung bie
Jury · 1583
jeber Bürger folle an der Steinigung des Abgoͤtters thaͤtigen Antheil
nehmen, Aber nicht blos lebendigen Haß und Entruſtung gegen das
Verbrechen — flatt der tödlichen Gleihgältigkeit — erweckt
und naͤhrt das Schwurgericht; es bildet bei den Bürgern auch den
Sinn und die Achtung für Leidenfhaftslofe Gerechtigkeit
und gerechtes Maß und für die Sicherung der bürgerlichen Freihelt
aus. Denn als felbfithätige Theilnehmer an gerechten”Urtheilen, als
verpflichtet auf fie, verlieren fie diefe dumme, alle Gerechtigkeit und
Kreiheit Preis gebende Stimmung fo vieler deutſchen Bürger, bei welcher
fie nur blindes Wuͤthen der Strafuſtiz fordern und ihnen keine Strafen
hart genug, keine Beweis⸗ und Steafurtheile formlos genug find. Im
deutfchen Mittelalter ftanden und in England ftehen blos durch
Schwurgeriht, trog fo vieler fonftiger Mißverhaͤitniſſe, doch die
Vürger in wahrer Bürgerbildung ungleich höher, als fo
viele unferer jegigen deutfhen Bürger!
In Verbindung vollends mit folder thätigen Teilnahme der Bürger
an bem Gericht erhält ihre fernere Theilnahme durch die Deffentlichkeit
der Verhandlung erft ihren vollen Werth. Sie dehnt jene wohl
thätige Wirkung von ben Gefchworenen auf alle ihre Mitbürger aus,
In bee ganzen feierlichen, lebendigen Zuſammenwirkung der Eöniglichen
Staatsanwälte und Ankläger, der präfidirenden Staatsrichter, ber Ges
ſchworenen, der Zeugen, der Angeklagten und ihrer Vertheidiger und der
ter, liegt etwas moraliſch tief Ergreifendes. Ein wuͤrdiger Praͤſtbent,
feine und der Staatsanwälte und Vertheidiger feierliche Neden erwecken
jest mehr, als man je hätte ahnen Binnen, die Stimme des oͤffent⸗
lihen Gewiſſens, bie Gefühle der Moralität und Humanität, der
Scham und Scheu vor dem Nichtswärdigen, ben Abfcheu vor dem
Verbrechen und zugleich bie gewifienhafte Sorge für unparteliſche, hu⸗
mane und vollsmäßige Gerechtigkeit. So wird wahrhaft die
GStrafgerehtigkeit mit der Moral und moralifhen Ges
rechtigkeit und der befferen öffentlihen Meinung ver-
bunden, wie es niemals bei uns in Deutfchland ber Falt
iſt. Sie wird ein wahrhaftes Sffentlihes Cenſurgericht *),
allgemein ergreifend für die Zuhörer. &o oft ich auch in dem derſchle⸗
denften Ländern dem Schwurgericht beimohnte, erneuerte ſich lebhaft in
mir vor Allem diefe Weberzeugung und die Beobachtung des gleichen
Gedankens bei Andern.
So gaͤnzlich Hohl und aus der Luft gegriffen iſt die naive Befürch-
tung mancher deutſchen Theoretiker, die öffentliche Verhandlung
ſchade der Moralität und Sicherheit. Als hörten etwa hier
die Verbrecher zuerſt vom Böfen! Als wenn nicht auch alle Schaͤnd⸗
lUchkeiten der Verbrecher ſich hundertfady im Volke herumtrügen! Aber
fie thun dieſes meift nur auf eine frivole Weife, während fie im
Öffentlihen Gericht unter die Herrſchaft der höheren moras
*) S. oben Bd. vhn. ©. 386,
154 Jury.
Ufhen Gefihtöpuncte geftellt erfheinen, mb Das h
Gewiffen gegen. fie gewedt wird. Die in mißteauifchet und zu
erwed endes Dunkel ey — und ng
Beamten dagegen machen fo häufig flatt eines wohlthätigen,
einen nmachtheiligen, nicht felten ‚gefährlichen Eindrud, Sam öffentliche
—— — man ihre Gründe und ſicht ud bu
itwirfung der Mitbürger und Die wuͤrdige, unpartelifpe Handlung
meife bes Gerichts.
4) Die politifhe Heilfamkelt des Schwurgerihn
für den Schuß ber Berfaffung und ber aatsbärgeriidn
Freiheit, für eblere Volksbildung und patriotifhe Br
finnung, fo wie _beffen Ungefährlichkeit und doppelt
Heilfamkeit und Nochwendigkeit in unfern monar de
Berfaffungen. — In politifcher Hinficht iſt der Vorzug bes .
gerichts augenfällig und felbft von den fonftigen Gegnern biefes
anerkannt, Sogar die größten Gegner der englifchen Derfeffung m
unter ihnen ber Nordamerifaner Pivingfton (im feiner Ungerfuhug
der engl. Verf. &. 36) preifen doch Laut fein Schmwurgeriche fee
Volksrepräfentation. „Nur diefe zwei einfachften Juflituter, 1
Livingfton, „haben alle diefe Vorzüge, haben das
„die Bewunderung des Weltalls, nur diefe beiden Anflitute
„Englands großen Vorrang vor den übrigen Völkern bewixkg”
Altes dasjenige, was etwa in Beziehung auf uns für bie
Heilfamkeit, ja Nothwendigkeit des Schwurgerichts noch zur fe
wird gefagt fein, und was etwa — werden möchte, merk
mir befeitige haben durch die Miderlegung der Einwendungen,
Entwidelung fih Feuer bach's glänzender Scharffinn gefiel ©
Härt das Schwurgericht in feinem Werke (S. 47) mefemtlih
gemifhte und für bemoftatifche Berfaffungen. „In beim
Jury. 155
nicht mit vorherrſchender Gewalt über dem Gefehgeber. Der That⸗
eichter ift verborgen unter der Menge und verliert ſich nach abgeges
benem Spruche wieber unter feines Gleichen. So laͤßt fich denn erwarten,
daß die Heine, flille Verfammlung gut und unter Mitwirkung bes
Angeklagten auserwählter parteilofer Richter nicht nut leidenfchaftslos
das Urtheil fuche, fondern auch mit richtigem Verſtande das wahre Urs
theit‘ finde.’ 0
Unter einer gemifchten Verfaffung verſteht Feuerbah (S. 57)
nur eine folche, wo die Sowuveränetät felbft zwiſchen dem Volk und
einem Monarchen ober einem ariftofratifchen Körper oder zwifchen dieſen
dreien materiell getheilt fei, fo daß jedem einzelnen mitherrfchenden
Theile nur gewiſſe Beftandtheile der hoͤchſten Gewalt, fo wie in Eng⸗
land dem Parlament nur die Geſetzgebung, dem König nur die Volls
ziehung zuſtuͤnde. „So wie alles Leben Kampf der Kräfte
ift, fo auch das Leben einer folhen politifhen Maſchine. Durch bie
Trennung feien die oberften Kräfte in mechfelfeitigen Widerſtreit geſetzt,
fo daß aus dieſem Widerſtreite — der Geiſt alles politifgen
Lebens und Wirkens und felbft das Princip der Kortdauer einer folchen
Berfaffung hervorgehe. Auf welche Seite man bier das Gewicht der
Griminalgewalt lege, werde ſtets das Gegengewicht /aufgehoben und die
Berfaffung durch Ufurpation des UebergewichtE von einer ber getrennten
widerſtreitenden Gewalten zerſtoͤrt. Werbe 5. B. ber Monarch allein
Herr der Criminalgewalt, ſo waͤre er zugleich Herr uͤber jeden Willen,
der etwas Anderes wollte, als er, mithin auch über Jeden, ber
die Sonftitution buch Wort oder That gegen ihn zu
vertheidigen wagt. Er würde mithin alsbald der Geſetzgeber
fein, fobald er es werden wolle, und in folhen Dingen
tommt flets das Wollen von felbft, fobald nur immer das
Können in Richtigkeit gebracht if. Geſchworenengerichte find daher in
einem folhen Staatsorganiemus der Schlußſtein der ganzen
Berfaffung oder vielmehr ihr Grundftein, mit welhem
fie ſelbſt ſteht oder fällt. Der König muß die Gewalt haben,
die Verbrecher durch Anklage zu verfolgen und durch die von ihm ges
fegten Richter zu beftrafen. Aber diefer Gewalt muß das Palladium
einer magna charta mit dem Grundſatze 'gegenüberftehen: nullus liber
homo capiatur vel imprisonetur aut exulet aut aliquo modo de-
struatur nisi per legale judicium parium suorum vel per legemterrae.
Alle Könige Englands, welche nad) der Alleinherefchaft ſtrebten, ſuchten
baher durch Umgehung ber Jury die Verfaſſung, welche fie umſtuͤrzen
wollten, an ihrer Wurzel anzufaffen”. — „Da nun (2) nad dem Ausge⸗
führten” — fo fährt Feuerbach fort — „die Jury blos (?) auf einem
zepublicanifchen (7) Princip ruht, entweder zum Schug ber Volksfouveränes
tät oder zum Schus des Volks antheils an ihr, zum Schuß der poli⸗
tifhen Freiheit gegen eine nach Alleinherrſchaft ſtrebende Monarchie
ober Ariſtokratie nöthig iſt, fo Uegt die Jury nicht im Geift einer Re»
gierungsform, welche, indem fie ale Gewalt in einem von bem Wolke
156 Jury ·
verſchiedenen Regenten vereinigt, dieſen zum alleinfgem Depais
aller Rechte der Nation erhoben hat. Man Tann fogar Kehaupm
daß in einer ungetheilten, wenn glei conftitutionellen ad
men befchränkten Monarchie oder Ariftoktatie das Imftitue dee
dem Geift und Mefen diefer Verfaffung wiberfpreche (7). Denn ba
politifche Sreiheit einer Nation eins ift mit ihrer Souveräneräe (f), f
Eann fein (?) conflitutionelles Mittel zur Erhaltung jener palktifhe
Freiheit gegen einen Negenten gedacht werden (?), deffen ver
mäßiges Recht gerade datin befteht, daß er die ganze Souverii w
getheift in fich vereinigt. Was in jeder andern Verfaffung gegen ia
Regenten (?) durch bie Jury vertheidiget werden foll, ft in Diefer nis
mehr vorhanden (). Die politifche Freiheit HE allem im im
Negenten (?), und alfo wäre eine Vertheibigung derfelben moiber bike
nur eine Vertheibigung des Negenten wider fich ſelbt ) I
Lange fie befteht, ſchuͤtt die Jump zwetmäßig auch bie perfönlie:
Kreiheit der Bürger gegen bie Allgewait des bödflem Meine
Altein, daß fie beftehe, oder nicht mehr beftehe, hängt unter einer Tolda ”
Reglerungsgewalt ento®ber mittelbar oder unmittelbar von eben ba
Willen ab, gegen welchen fie die Schubweht ift (27). Sie
alfo gegen die höchfte Gewalt nur fo lange als diefe mitt (2), W#
gegen fie ſolche Vertheidigung beftehen folle, mithin nur dann — wem
es bes Vertheibigungsmittels nicht bedarf (?). Denken wir und
Jury ober irgend eine amdere (?) bürgerliche Einrichtung bewgeftalt #
einer DVerfaffung garantitt, daß dem Negenten tweder Gemalt me6
Recht (!) darüber zuftehe, fo müffen wir bem Willen bes Mi
einen andern von ihm verfhiedenen Millen gegenüber benfen, Dex feine
Zweck ala Rehtsanfprud behaupten und geltend machen Kinn
und haben alfo dem hoͤchſten Willen einen andern Willen Bei- on
übergeordnet, durch Abtöfung eines Theils der Souverdmetät (,
0 wie durd) bie Idee eines rechtlichen Widerftandes gegen bei
Jury. 17
kann er die Jury tilgen, umgehen, außerordentliche Gerichte und beſon⸗
dere Commiſſionen ernennen, aber auch, ſtatt aller gerichtlichen For⸗
men, entweder durch lettres de cachet ober durch bereitwillige Werks
zeuge ber Polizei erlangen, was er von der Jurp nicht hofft (2). Was
nuste feibft den Engländern ihre magna charta gegen Heinrich VII,
ihre Jury gegen die Sterntammer? Gegen ben volftändigen (2) Re-
genten fhäst keine todte Gonftitution, die zulegt nur auf ihm felbft be
ruht (7), Bein ſchwaches Geſetz — wohl aber die öffentlihe Mei—
nung (?). Nur das macht den Unterfchied zwiſchen Despotie und
Monarchie, daß bier eine sffentlihe Meinung lebt (?),
dort aber der Sklave zwifchen loͤblicher und unlöblicher Handlung bes
Heren Seinen Unterfchiedb mehr findet (?). In einer felbegründeten
ungetheilten Regierungsverfaffung ift felbft die Gefahr, wogegen bie
Jury fügen fol, entweder gar nicht oder nur gering und entfernt
vorhanden.” Nach der Ausführung des juriflifchen Lobes ber abfoluten
Monarchie im Herodot fährt Feuerbach dann meiter fort: „Wo ber
Thron noch unbefeftigt, die Gewalt mit dem Volk getheilt oder durch
ariſtokratiſche Anfprüche befchräntt ift, da reizen ihn zahllofe Aufforbe-
rungen zu Derlegungen, da find ewige Gdhrungen und widerfireitende
Intereſſen. In einer zufammengefegten Verfaffung, bemerft Delolme,
kann die Gewalt der Nation, welche bie des Fuͤrſten befchräntt, nur
durch einzelne Unterthanen thätig wirken. Bald ift diefes ein Bürger,
der duch die Deffentlichkeit und Stärke feiner Klagen der Nation die
Augen öffnet, bald ein thätiges Mitglied der gefeggebenden Verſamm⸗
lung, welches wider den Mißbrauch der monarchiſchen Auctorität ein Ge
feg in Vorfchlag bringt. Gegen diefe Einzelnen wendet daher der Fürft
feine Kraft und fucht die Anfprüce bes Volks zu vernichten, indem er
auf deſſen Häupter die Macht feines Eigenmwillens lenkt." — ‚Das
fonft entgegengefeste Intereffe des Monarchen und des Volle wird
dagegen bei einer Verfaffung mit ungetheiltee Gewalt, fo wie feit ber
anerkannten abfoluten Monarchie in Frankreich nah Ludwig XI. (?)
nur Eins und der Reiz zu Gewaltthaten verfhmwindet (?). Er braucht
bier nur verftändig zu fein, um in ber allgemeinen Gerechtigkeit feine
eigene Sicherheit zu entdeden, denn wenn er nicht für die Gerechtigkeit
ft, fo wird die Gerechtigkeit ſich wider ihn erheben nad) dem perfifchen
Roſengarten.“ (Alſo doch Widerſtand und Furcht vor ihm.) „Da er
Alles befigt, (auch alles Eigentum und alle Weiber?), fo braucht er
nichte zu erobern.” „Durch feine Erhabenheit und die Niedrigkeit
aller Unterthanen ift eine foldye Kluft zroifchen beiden,. daß keine feind-
liche Berührung der Intereffen den Eigenwillen des Monarchen reizt,
die Form der Juſtiz heimtüdifch zur Vernichtung einzelner Unterthanen
zu mißbrauchen. In der Menge verloren, ohne Gewicht, Einfluß und
Anfpruch gegen den hoͤchſten Willen hat jeder Einzelne fchon in feiner
politifhen Nichtigkeit, in dee Dunkelheit, die ihm verbirgt,
die Garantie feiner Sicherheit. Zwar gilt diefes nicht von denen, welche
als Däupter Über die Menge hervorragen und weiche in ber Nähe bes
158 Jury ·
Throns ſtehen. Dieſe ihre Höhe zieht nur am I
Blige aufihr Haupt, und die Gefahr und bie be
gegen fle It heilfam für'd Wort (2). Unter einer wı
ungsgemalt fehle «8 Überdies an den Bedingungen
Gebelhens einer Jury, an jenem fittlihen Gemeing,
durch welchen jeder Einzelne fid felbfi nur fi
zen fühlt, und wodurd er Altes, was ben Gtaat angı
unmittelbar ſelbſt angehenb betrachtet. Hier, beſteht
alles bürgerlichen Lebens darin; — ungeflört zu erwerben, |
zu befigem und rubig zu genießen. Deffentiihe j
ten, mithin das Geſchworenenarat, werden bier dem Bürger
megen feiner Privatangelegenheiten übernimmt er fie
nur durch Strafen geswungen, und wird fie fo fehleht vermuten,
det Staat das Inflitue bald wieder aufgeben muß” (9).
NRichtercollegien mit Richtern, die nicht nad dem Willen be®
fondern nur nad collegialem Richterſpruch —
ihrem Einfommen nicht gefhmälert werben Di
des Inhalts ihrer Michterfprüche dem Regenten nich t
Uch find, eben fo fehr (?) — denn mehr koolle er EeH
fogen — als eine Jury fhügend für die pesfönliche Freibele
Gollegien feien unabhängig vom Oberheren in ihrem Wirken IE
baid fie entjtanden find (1), und far durch die Sffensi
Meinung (?), um die Willkür in ehrerbietiger Scheu g
halten oder ihrem Anbringen mit Muth su be
„Stets den Augen bes Publleums blosgeftellt.(?), nme fir
nem Verrath an der Gerechtigkeit fich befleden, ohne zug
ſelbſt das Wrtheil der Öffentlichen Verachtung auszufprechen.
Megenten ſelbſt auf die Gerechtigkeit verpflichtet, bürfem
willtührlihem Anfinnen nicht meihen und gehorfamen,
Fürft koͤnne die Richter wegen eines nicht twohlgefälligen U
u no ihrsm [Finfommen en mau hisfad no
et
Sur. 189
es blelbt traurig, einen Feuer b ach ſeine Regierung wegen Ihres dama ⸗
ligen Abſolutismus und ihrer Verweigerung des freilich auch dem des:
potiſchen Kheinbundsprotectot hinlaͤngũch widerwaͤrtigen Geſchworenenge⸗
richts auf ſolche Weiſe rechtfertigen zu ſehen. Jedenfalls find die
fon durch) Sragezeichen angedeuteten Begriffeverwechſelungen und
Widerfpräche des großen SJuriften nicht würdig.
1) &8 iſt gleich Anfangs eine gewiß feichte Anſicht: bie englifche
Berfoffung in einen abfoliten Gegenfag nicht ‘etwa gegen despotiſche
Mheinbunbszuftände, ſondern auch gegen andere rechtliche, ſelbſt freie
und conflitutionelle Verfaffungen fegen und ihr Wefen dann in jener
wölligen Trennung und lung der fouverdnen Gewalt finden zu
“wollen. Der König von England iſt weſentllch Mitgefeggeber, und
das Parlament wirkt auch bei der Vollziehung weſentüch mit. In
einem gewöhnlichen theoretifchen Sinne iſt alfo eine folche Theilung im
Gtaatsleben auch in England gar nicht wirklich und nicht durchführbar,
und wird ebenfalld auch von dem bei Feuerbach felbft angeführten
Livingflon verfpottet. In einem allgemeineren Sinne iſt fie, wie
ſchon die Artikel „Cabinetsjuftiz” und „Jufizverweigerung“
nachweiſen, größer ober geringer überall vorhanden, fobald nur nicht
abfolute Rehtlofigkeit in einem Staate anerkannt if, wenn
alfo neben unb gegenüber der Regierungsbehoͤrde noch anderen Perfonen
wahre, d. h. von ber Regierungẽwillkuͤt rechtlich unabhängige Rechte
zuſtehen. Nach Hugo ift ſchon alles, wahre Privatrecht der Bürger,
das des Eigenthums, der Ehe, der Familie, verbunden mit der recht⸗
chen Befugniß, unabhängig von Regierungsmilllür in biefen bes
deutenden Kreiſen bes ſtaatsgeſellſchaftlichen Lebens über "Mittel für
Zwecke deſſelben zu gebieten, eine wahre Theilung ber Gewalt. Vollends
aber ift jede Befugniß der Einzelnen, der Gorporationen, ber Landftände,
der Städte, der Kirche, ber unabhängigen patrimonialen oder Staats:
gerichte, unabhängig von willfürlihem Belieben ber Regierung über
Mittel und Rechte für den öffentlichen Befelfchaftszwed zu verfügen,
eine Abtrennung eines Theil der feibftftändigen öffentlichen Verfügungs-
gewalt über die ſtaattgeſellſchaftlichen Vechältniffe, eine größere oder ges
ingere Theilung der Gewalt. Und wer nicht Angefichts der urkundlichen
Sefchichte und des urkundlichen und neu anerfannten Rechts von ganz
Deutfdland und von ällen deutſchen Staaten *) ſich offenbare Lügen eriau⸗
ben will, der muß zugeben, baf in dem Staatsrecht diefer Staaten Ein⸗
vu und Gorporationen der Regierungsgemwalt gegenüber und von ihrem
egierungsbelieben unabhängig, alfo wahre und fehr bebeutende ſelbſt⸗
fländige Privats und öffentlihe Rechte hatten und haben, bie fie auch
gen den Regenten auf allen allgemein rechtlichen
egen, namentlich auch ducch Anrufung des Weiche, wie jegt des
Bundesſchutes, der Reiche und jest ber Bundesſchiedegerichte geltend
Pr Re Artikel „deut ſche Seſchichte und teatiärn
160 Jury ·
machen und vertheidigen konnten und koͤnnen. Gleiches galt widjterid
von jeher von allen germanifhen Staaten. Somit findet,
ihren Verfaffungen und zwifhen der in folhem Sinn werkam
denen Abtrennung und der Vertheilung des engliſchen Mecdhts an dm
König, an das Oberhaus, am das Unterhaus und andere phufifche und
moralifhe Perfonen, burhaus Fein abfoluter Grgenfag Star
Auch in England erfennen die ftaatsrehtlichen Urkunden bem Mönis
allein als ben fonveränen Regenten, als den Erdgerbn
ganzen Majeftdt an. Erift, wie fein Minifter auf dem Wink
Eongreß erklärte „unleugbar eben fo fouverän, als jeder
andere Fürft von Europa”. Und jene Urkunden forschen Ami
Wort von jener förmlichen Trennung oder Theilung der Gr
malt. Jede von diefem Standpuncte ausgehende Deduction alfo, BE
bei den Briten das Gefchtworenengericht, welches feibft alle Ihre abı
bängigen Colonieen haben, nur durch Princip und Mefen ber iu
tifhen Verfaffung als vortrefflic und abfolut nothwendig geboten, it
den übrigen Staaten, namentlich den deutſchen, dagegen unzutäffie fd
ift eine von dem vielen gehaftlofen deutſchen Schultheorieen, eine ber wie
fen auf febfterfundenen Gegenfägen gegründeten Sophifteteien.
2) Es find ferner abfolut falfhe und feichte Begriffe don Cr
veränetät und politifcher Freiheit, daß beide eins und Dafpene
ſeten, daß mithin die politifche Freiheit eines Wortes Ideruzifch fer mi
Negierungsfouveränetät und mit Volfsfouveränetät, und dag alfe ah
da, wo bie Berfaffung dem Negenten das Necht ber Soiveräneräe pe
fchreibe, gar keine politifhe Freiheit ber Bürger Sat
Jury. "100°
Gewalt, d. h. alfo er habe das Recht, alle verfeffungsmäßigen öffentlichen
und Privatzedhte, mithin auch eine verfafjungsmäßige Jury, aufzuheben
und mithin audy alle Unabhängigkeit der Berichte: durch Cabinetsjuſtiz
zu erfegen, überhaupt jedem Buͤrger geradezu fein Wermögen, Weib
und Kind zu rauben und alle beſchworene Grundverträge und Verfaffuns
gem jeben Augenblick beliebig aufzuheben. Nur die unglüdfelige Rheins
bundsepodye und der Mangel wahrer Gründe gegen die von Feuer:
bad felbft anertannte Nothwendigkeit des Schwurger
richte für wirklich politifch Freie Völker verbiendeten hier den
alu oft leider fophiftiihen Schriftfleller. So weit geht biefe Verbien«
dung, daß er die erften Grundbegriffe eines Rechtsſtaates und recht⸗
lichen Buftandes aufgibt und Recht mit Gewalt vermiſcht! Gefegt
auch, ein Monarch habe, zumal durch den Schut eines Napoleon,
eine factifch unmiderftehlihe Gewalt, ift fie denn darum auch eine
rechtlich umwiderſtehliche und unbegrenzte? Iſt das Recht der Buͤr⸗
ger, ja ihre Pflicht, alle ihre verfaffungsmäßigen Rechte auf
ie rechtlichen Wege geltend zu machen und gefchügt zu verlangen,
zerflört?
4) Es iſt deshalb auch ein großer Irrthum Feuerbach's, uns
täufhen zu wollen, als bebürfe man des Schutzes bes Schwurgerichts
außerhalb der materiellen Theilung der Souveränetät gar nicht. Hob⸗
bes, beffen Grunbfäge von der abfoluten Gewalt und dem paſſiven
Sehorfam Feuerbach früher fo kraͤftig beftritt, jest annimmt,
fordert zwar auch blinden Gehorfam ; aber der Brite hatte die Männ-
lichkeit, zu fagen, dag fein abfoluter Zürft die Natur einer Beflie
habe gegen die Bürger und nur darum vortheilhaft fei, weil er fie von
vielen andern Beftien (tie er fie aus dem Buͤrgerkrieg vor Augen hatte)
befcete, welche Befreiung indeß die freie englifche Verfaſſung ſeitdem
viel beffer bewirkte, als durch beftiale Despotie. Der deutſche Philofoph
dagegen möchte uns von der Trefflichkeit feines abfoluten Herrſcherthums
und der Rheinbundezeit überreden. Verſchwindet wirklich füs den Mes
genten und für feine, ihm ſelbſt bekanntlich nur zu oft beherefchenden
Suͤnſtlinge und Minifter in der Monarchie aller Anreiz zu Verfolgun⸗
en, zu Mißbräuchen und Gewaltthaten durch abhängige Gerichte u. f. w.?
& conſtitutlonellen wie abfoluten Monarchieen folten fogar ſolche Maͤn⸗
ner ſicher fein, welche, nad, jenen Worten von Delolme, ben Macht
habenden mädtigen Beamten und buch fie dem Regenten unbequem
und gehäffig werden, teil fie in patriotifcher aufopfernder Beſtrebung
für ihre umd ihres Vaterlands beſchworene Mechte, für diefe wahre, aber
fo oft verlegte Grundlage auch der Throne in ober außerhalb der
Wahl: und Ständeverfammlungen mandye Regierungsmaßcegel getadelt
und befämpft, mandye Mißbraͤuche aufgedeckt und angellagt, die Bürger
zur patriotiſchen Handhabung ihrer verfaffungsmäßigen Rechte geſtimmt
haben? Dieſe für Vaterland und Fuͤrſt wohlgeſinnten Männer ſollten
I ficher fein, nicht von der abhängigen Griminaljuftig um Einfluß, Ehre,
1 Sreigeit und Leben gebracht ober, wie man fagt, „ankälhlin gender
1 zu werden?” Wlide doch nur Jeder mit offenem Kuge won Gin ar
Gtaath s Erpilon. IX. 0x
160* Jury.
eringere Widerſtand, den der wach fen de Uebermurh ber Mi
Shen finden würde, wenn der kraͤftigere verbannt wäre, würbe
gehaßt, ja mit doppelter Shonungslofigkeit verfolge merim
Seuerbady ſelbſt aber weiß ja nur dadurch dem m
ſiaat von ſcheußlichem Despotismus zu unterfdeiden, daß im jmm
eine freie dffentlihe Meinung der Bürger. fi gegem alle um
rechtliche und ‚verkehrte fürfttihe minifterielle Gewalzäbum
geltend macht und den Fuͤtſten noͤthigt. Hierin ſieht er den
gen wahren’ Schus, die Bürgfhaft, daß die Sewait ak
mohlchätigen Inftitwtionen, die confitweionelle Werfalı
fung, bie auch ihm fo mefentlihe Unabhängigkeit ou
allein die Achtbarkeit der Richter fhügende Deffentlichkeit der Meridien
umftoße, daß fie nicht die Iegteren zu bequemen Mitteln ber Mund
und Privatrahe oder der Güterberaubung gebtauche. Run aber; mu
denn ein Feuerb ach fo unfhuldig, midht zu wiſſen wenait
diejenigen, welche eine folde wohlthätige, aber gervähmlich fahr
unangenehme Öffentliche Meinung befördern oder. anadfpenie
tödelich gehaft und als angebliche Verbtecher verfolge mmerbeal
Haben wir ja doch in Particulargefegen, ja zum Theil im;
Beuerbah's Namen tragen, fogar Strafbeftiimmungen g. Bi
unebrerbietigen unhoͤflichen Zabel von Regierungsmm
oder „über Aufcegung zur Unzufriedenheit”, welche ſich fo
gebrauchen Laffen, um jene mwohlmeinenden Förderer ber
Öffentlichen Meinung mit ihren Familien zu Grunde gm
Juty · 160°
leider nur allzu wenig. Er iſt hier eines Staatemannes ganz unwuͤr⸗
dig. Die Befchichte müßte nicht voller Belfpiele von’ Regierungen fein,
die zuerſt Ehre, Tugend und Wohlſtand ihrer Bürger und dann ſich
feldft culmicten, um fid durch ihn beraßigem zu laſſen. Fuͤr ale
einzelnen Menfchen ift ja auch nur allein Weisheit und Tugend der
wahre Wortheil. Aber hält fi) wohl ein vernünftiger Staatemann
dadurch und ohne gute Staatseinrichtungen geſchuͤtt gegen ihre Thor⸗
heiten und Lafter?
6) Es if aber auch ein neuer Ircthum, wenn Feuerbach in dem
Staate ohne materielle Trennung der Gewalten deshalb
den Schut des Schwurgerichtes wirkungeélos erklaͤrt, tell es bier
nicht voliſt dndig gegen einen böfen Willen der Regierung ſchuͤte.
Auch hier iſt fein Gegenfag gegen England gänzlich falſch. Auch dort
®onnte, tie er felbft erwähnt, der Despotismus eines Heinriche
VI. das Schwurgericht umgeben. Auch in unferen Staaten aber
werden ja gänzlich dieſelben Schugmittel, welche, wie bie öffentliche
Meinung, von gewaltfamer Zerftörung der übrigen Eonftitution
und insbefondere der Unabhängigkeit der Richter abhalten ſollen, wohl
auch eine verfaffungemäßige Jury ſchuͤtzen. Sie ift ja doch feibft für
die öffentliche Meinung wirkſamer und durch fie kraͤftiget und weniger
leicht abhängig zu machen, als ein bloſes Beamtengeridt, vollends ein
gedeimes und inquiſitoriſches. Und body fol ſelbſt diefed nah Feuer⸗
ach gegen bie Gewalt fügen und ihr widerftehen.
H So ergibt ſich denn auch im Allgemeinen auf's Neue die Seich⸗
tigkeit jener ſchon von Kant mit gerechtem Spotte gegeißelten politiſchen
Weisheit, welche, weil Leine menſchlichen Inſtitutionen je vollko mmen
fichern, die Bürger, ſtatt auf fie vielmehr, lediglich auf die ja ebenfalls fehr
unvolltommene und unfichere Tugend einzelner Regenten ver«
weiſen will, die diefen Schu unndthig made. Diefe aber wird oft
fehlen und oft mißleitet werden, und wir fragen gerade darnach, welche
Einrihtung der Natur der Sache nach bie befle Regierung
bewirkt. Regeimaͤßig ſchuͤen gute Inftitutionen, welche [cher und
nicht ohme offenbaren Verfaſſungebruch und bedenkliche Warnungen
und Mifftimmungen der öffentlichen Meinung umgeftärzt werden koͤnnen.
8) Es ifk aber aud ein fernerer Itrihum, dem ganzen politis
fen Werth freier ſtaatsbuͤrgerlicher Inftitutionen, wie das Schwur⸗
gericht, Lediglich in ihrem unmittelbaren Schuge gegen Regen:
tenmwilltür und insbefondere in ihrem Schutze der patriotifchen Beſtre⸗
1604 Jury.
immer neue muthige Vertheidiger. Der Schut des Bebine, ber uk
heit, ber Ehre und des Lebensglüdes von ſolchen
iher am ſich keineswegs bie Hauptſache, obwohl auch
gangnieberträchttgen Volke werthlos fein könnte
ihre wohteHätige Wirkfamteie, «6 gilt darum
Auftreten und Streben folher Männer verhindert,
oder wirfungslos gemacht werde,
lieben Deutſchland befonders leicht möglich. Denn
ferer Nation, im den höheren wie in den niederen S ‚ bei unie
ver Berfplitterung und bei langer Entbehrung ‘politifcher Weriheie nad
etwas pofitifch feig und dumm iſt — wer kann diefes Teutgnene Se
bald num durch einigermaßen ſchwere Verfolgungen pölitiihe Weiten
gen für die gefebfiche Freiheit — und felbft auch die würbigften
oben mit fo gehäffigemm Scheine umgeben und fo gefährkich fü a
Leben und die Familien der Ucheber werden, alsdann, flärt bag eben
freiere Völker fie nun doppelt preifen würden, erfeheinen fie beniinn
fen bei uns als Thorheit oder als wirkliche Verbrechen, vom denn
jeder „vernünftige”, jeder „gemäßtgte"" Wiegen ich make
weit entferne zu halten habe. Bedentt man biefes, blicke nam Karim
in Deutfhjland, tie Diele Männer feit den Anfängen aim
neuen Staatsrechtes ſchon die Dpfer ihrer) polltifchen Weftrebuunge
wurden, durch Verfolgung, durch geheime Proceſſe vand
ihre Wirkfamkeit, ihre dußere Ehre , ihr Lebensgtte, Ge E07
heit und Leben verlorem — wahrlich, dann wird man Viebemfkeiny
Worten beiftimmen, daß Schwurgericht und Pregpeeisin
bie ganz unentsehrlihen Pfeiler der Verfaffung Find:
dann wird man die Behauptung nicht gewagt finden: ohne
bes oͤffent lichen Shwurgerihts tft unfere Jehige pol
tifche Sreiheit faſt nur eine gefährlihde Shtim b
diejenigen, welche an fie, am ihre Bufage durch
Jury. 160.
- nahme an dem oͤffentlichen Rechte und ber Verfaſſung ihres Vater⸗
landes, wahren moraliſchen Gemeingeiſt erwecken und erhalten. Es
iſt die herrlichſte politiſche Erziehung, die wirkſamſte Cenſur fuͤr das
Staatsbuͤrgerthum. Es iſt eine weſentliche Ergaͤnzung des politiſchen
Rechtsorganismus und die lebendige Vereinigung von Recht und Sitte,
von Öffentlicher Meinung, Volk und Regierung. Wenn die Bürger
in dee Ständeverfammlung in Verbindung mit den Organen der Res
gierung zu ben Gefegen mitwirken, fo müffen fie eben fo in Verbindung
mit den Organen der Regierung wenigſtens in ben wichtigften Sällen an ber
Rechtsprechung Theil nehmen. Das Eine macht das Andere heilfam. Mit⸗
telbar bewirkt fo das Schwurgericht, indem es auf die angegebene Weiſe
bie Nation moralifdy und politifch erzieht und ihre patriotifche Bürgergefins
nung und ihre rechtliche Freiheit Träftigt, vor Allem auch Feuerbach's
einzigen und in der That koͤſtlichen Schug jedes Rechtsſtaats
und feines Charakters, nämlidy jene freie, verftändige öffent»
lihe Meinung zum Heil bes Thrones und Volkes.
Solche freie Inftitutionen aber haben als Veredlung und ale
ebeifter Lebensgenuß tüchtiger Völker auch einen ſelbſtſtaͤndigen
Werth, einen noch viel höheren, denn als blofe Schugmittel. Der
befie Regent kann fie fo wenig überfiüffig machen, als
Gott ‚die Freiheit und Zugend der Menfhen, als er ihre eigene Er:
findung und tapfere Anwendung von Schugmitteln für ihre Beſtim⸗
mung überflüffig machen wollte.
9) In der That denken wohl aud wenige Fürften und Bürger
unſerer Motion fo niedrig, dab ihnen ein ſolcher monarchiſcher
Staat ohne Theilung der Gewalt, und ohne politifche Steiheit, fo
wie ihn Feuerbach will, gefallen möchte. Iſt ia doch auch ihm ſelbſt
ber verfaffungsmäßige politifche Kampf freier Völker „Die Grund⸗
‚ bedingung ihres träftigen und würdigen Lebens und .
Gedeihens, ihres fittlihen Gemeingeiftes, ihrer Ehre
und Macht!‘ Und was iſt ihm nun das Wefen einer folhen Mon⸗
archie, wie er fie uns Deutfchen zufchreiben will, um uns das Schwur⸗
gericht abfprehen zu Finnen? Was Anderes, als Niedrigkeit und uns
fittlicher Eigennug, als Mangel an allem edlen Gemeingeifte und Wi:
berroillen gegen jedes Opfer für das Gemeinmwohl, ale eine unfittliche
eigennüsgige Geſellſchaft mit natürlich flets wachſender Kraftlofigkeit
für tüchtige Waterlandsvertheidigung und ehrenvolle Thaten. Es ift
ein Zuftand — wie er die Auflöfung unferes Reiches, bie
Fremdherrſchaft, die Öruberkriege, den Umſturz vieler
Sürftentbrone — lurz den Rheinbund bewirkte — und —
wenn er Wurzel faßte — morgen bei der erſten europdifchen Bewegung
wieder bewirken würde. Der zweite Hauptzug in dieſem abfchreddenden
Bilde ift die abfolute Rechtlofigkeit und Schuglofigkeit der Bürger,
mindeſtens aller nicht in Niedrigkeit und Dunkel ſich bergenden, aller
ebien Patrioten und aller Göherfichenden, welchen Feuerbach
ſelbſt flete Gefahren von venetianifchen Inquifitiontareunte , ua Id
und Juſtizmorden, von Gift und Doich zumeiiet. Baripa "ERk
1601 Jury.
nah Feuerbach der eble Lohn der feigen und niedrigen
den Gefahren woͤrdiger Freiheit. Welder Water unter uns
wohl fo nieberträchtig oder fo ſchwach fein, feinen Söhnen aus
vor den Gefahren tüchtiger jugendlicher und männlicher Emtwidelin
in feige Thatlofigkeit, in dunkle Niedeigkeit, in gemeine Seibfkfüdhtz:
kelt hinunter zu drüden? Und ein Volt von noch nicht nieder⸗
trächtigen Buͤtgern und feine eigenen Fuͤrſten follten mi
den Söhnen des Vaterlandes beabfichtigen ? Diejenigen, weiche ſich win
zugsweife Väter des Volks nennen, die ſollten folch aermedichigs
Streben hegen und begünftigen, die follten ihr eigenes Monk emtabrin
und entmannen wollen? Wahrlich ihre Gefinnung und Ihre Ehre,
Bürger uralte Natlonaltechte und ‚die Sicherung gegen brahende
fahren fordern fie auf, eine abfolute Gewalt in jenem Bewerb,
ſchen Sinne zu verfhmähen und vielmehr einen wahren
und: die: patelotifche Kraft Ihres Volks — und' als deren
mittel, dad Schwurgericht zu fördern. Es ift endlich Hohe Weit, ie
forgen, daß die unnatürlichfte Gerichtsverfaſſung nicht ferner das gan
Recht nur zum Privilegium einiger Wenigen und zum dem
Unterdrüctung mache, die Bürger des Rechts aller Teilnahme, ja
des Bufehens und Zuhörens an der Verhandlung über ihre
Rechte beraube, den tiefgefuntenen Gemeingeift vollends erflidte. 7
10) Ganz im Gegenfage von dee Bewerbacdh’fcem Anficye, meh
cher das Schwurgericht um. fo weſentlicher hält, je bolläfreier aim
Staatsverfaffung ift, erfcheint es nah allem Bisherigen gerade m [#
unentbehrlicher, je monarchiſcher diefelberifk Im
volkofteien Staaten ift ja ſchon durch andere Eräftige Inſtitute bie
liche und politifche Freiheit gefehlt, Gemeingeift und politifche Bir
dung befördert ‚und dev Despotismus ausgefchloffen. deden
Jury. 160€
nad welcher man das Schwurgericht als ber Monarchie nachtheilig
und gefährlich, als zu einer falfchen Wolksfouveränerät führend
darzuftellen ſucht. Dazu hegte er ein zu gefundes Vertrauen, zu viel
Achtung gegen unfere erbmonarchiſchen Regierungen und ihre Grundlagen.
Nicht ihmen, fondern nur Stlavenherren kann eine Einrichtung
ſchaben, nad) welcher bei den Staatsgerichten auf eine fo geordnete,
jnoffenfine Weife eine kleine Zahl bürgerlicher Kunfl-
verftändiger nicht als Ripräfentanten einer Buͤrgermacht, fondern
des Bürgerfinnes von der Regierung mit erwählt und unter Vorfig und
Leitung ber, Staatsbeamten zugezogen werden. Nicht ihnen kann das
nachıtheltig fein, was das Geſchworenengericht wirkt, und was vielmehr
ben Regierungen wie ben Ständen Kraft und Ruhm verleiht, nämlich
das Bewußtfein rechtlicher Sicherheit, lebendiges Rechtsgefühl, lebendige
thätige Achtung der Gefeglichkeit, thätiger Gemeingeift, Vaterlandsſtoij.
Es ift auch felbft in der Gefchichte fein Scheingrund zu finden, daß
ein Schwurgericht der Monarchie widerſtreite oder Gefahr bringe. Die
noch im achtzehnten Jahrhundert in Deutfchland uͤberall beitehenden
Schoͤffengerichte, die Benoffengerichte felbft für die Keibeigenen, haben
nie ſich dem fürfttihen Rechte feindlich gezeigt, eben fo wenig ais bie
Geſchworenen in den Mheinlanden oder in den Monarchieen von
Schweden, England und von Frankreich, und faſt überall es jegt in
bem Militär. B
Vollſtaͤndig nachgewieſen aber wurde es oben (II, 2), daß in vielfacher
Hinfiht das neuere Schwurgericht ungleich monarchiſcher, weniger des
mokratiſch eingerichtet iſt, als die bis tief in's adhtzehnte Zahrhundert
nad) der Carolina in Deutſchland beftandenen Schwurgerichte. Weit
eher, als die neueren Schwurgerichte, koͤnnte man das Mitftimmen der
Bürger bei der allgemeinen Beſteuerung und Landesgefepgebung, oder
anderen Regierungsmaßtegeln, das Mitftimmen von Ständen, welche
bleibender find und weniger unter Mitwirkung der Res ,
gierung erwählt werden, als unmonacchiſch verſchreien, als daß,
daß für den einzelnen Straffall jene wenigen Geſchworenen das Zeugniß
über die Thatſache der Schuld abgeben. Wer möchte davor erzitteen?
V. Beleuhtung der Einwendungen gegen das Schwur«
gericht; 1) folder, welche von einzelnen Mißgriffen her»
genommen wurden. Ehrliche Deutſche, die zum Theil eben fo
menig ein Öffentliches Schwuͤrgericht, als die Mängel und Greuel
unferes geheimen Inquiſitionsproceſſes je mit Augen fahen und eine
geündliche Vergleichung beider nie anftellen konnten, wagten in befonders
Schriften ein Berdammungsurtheil des großen Inftituts, blos nach ben
ihnen zufällig zu Gefiht getommenen, bekanntlich durchaus nie offis
ciellen und nie vollftändigen, oft ſehr einfeitigen Zei—
tungsnadrichten über einzelne Urtheile. Sie wagten diefelben in
Beziehung auf ſolche Verurtheilungen, welche, wie 3. B. die gegen den
Kaufmann Font von Cöln oder die gegen den Grafen La Ronciere
von Paris, ihnen zwar bedenklich (dienen, deren Wociänken uber
durch nichts in der Welt erwieſen if, und über werde ir aünaih
160 Ium.
gruͤndlichen wiffenfchaftihen Jurifien, die Augene-
zeugen dee vollftändigen, mündlichen B— }
fich völlig mit der gewiffenhaften Ueberzeugung der Gefdhtogremem sim
verftanden ertären. Diefe Schriftſtellet verurtheilten gerade ſo
unterrichtet das Inſtitut, als unfere Richter sim geheimen
gerichte die von ihnen mit ihren eigenen Augen nicht gefehemen:
Hagten, Ueber Fonk ſaßen in Trier neben fünf Obern:
zwölf Geſchworene zu Gericht, uͤber deren, wie jener Räthe, mchkunse
werthe, tüchtige' Perfönlichteiten und völlige Unparteilichkeit,feibik ka
den Gegnern und ben Vertheidigern des Verurtheilten nur eine Sri
war, Für Fonk's Mettung waren geofe Summen vermenber ie
den. Seine liebenswärdige, ungtüdtiche Gattin war ammefend bei du
Verhandlungen, Ihe und ihrer Kinder Schidfal rührten alle Gern
Fonk wurde vertheidigt von ben zwei. erften Advocaten der
wie durch felne eigene ſcharfſinnige, vorher gedruckte, und durch —
jeglge mündfiche Vertheidigung und duch viele bejahlte Domemakarikl
und Flugſchriften der verfchiedenften Art. Auferdem Hatte ich du
Gerticht verbreitet, die dem Schwurgericht nicht geneigte MR in
günftige, im Glauben an feine Unfhuld, ben Angellagten und meh
bei deffen Veruetheilung den Nheinländern das ihnen fo theure uf
des Schwurgerichts entziehen, fo daß Altes für ein Nihefchmibis
zu beftechen ſchien. Dennoch — nachdem in der’ all
mebrwähentlihen Verhandlung die Geſchworenen alle“
und Gegenzeugen, den Angeflagten und feine Vertheidiger felbfk
und ſelbſt gehött hatten, ſprachen fie — unbeftochen ducch alle Augen
Gründe für die Losfprehung — „mach ihrer innigen
ide einffimmiges Schuldig. Zwar bei der erfien Feage ob, h
Könen getöbter habe, hatten fie aus einem wenigſtens hier- ehe madke
lichen Wunſche, die Staatsrichter in ihrem Sprucye mit ich nee
einigen und ſie denſelben rechtfertigen zu laffen, nur mit einer ekehit
Sur. 1001
die zum Thell jenen großen Summen zur Rettung Fonk's
the Dafein verdantten, bie Thatſache dee Schuld richtiger bes
urtheilen zu koͤnnen glaubten, als alle jene einfiimmigen 12 Geſchwo⸗
renen und alle jene fünf juriſtiſchen hohen Staatsrichter? Wer hätte
denken follen, daß fie nicht wenigftens, flatt der Gefhworenen,
die Jursfen hätten angreifen mögen, ohne deren Schuld ja nie-
eine ihnen falſch ſcheinende Verurtheilung vollziehbat wird (oben AI, 3),
die aber hier einftimmig ausbrädiich verurtheilten?
Faſt Gleiches gilt von der vor einigen Jahren in Paris wegen
eines Nothzuchtangriffs erfolgten Verurteilung des Grafen von La Rons
ciere, weicher, wie fo eben die neueften Zeitungen melden, nachdem er .
mehr als fünf Jahre feine Gefängnißftcafe erflanden, trotz des natürlichen
Antheils für feine geadhtete Familie und trog dem, daß ihn die Geſchwo⸗
renen nur „mit mildernden Umftänden ſchuldig“ erklärten, vergeblich
von dem Könige einen Nachlaß der Strafe im Wege der Gnade erbat.
Letzteres aber iſt wohl ein ficherer Beweis, daß man in Paris, wo man
mit großem Antheil der ganzen gründlichen Verhandlung gefolgt war
und geiwiffe, aus Discretion gegen das angegriffene unſchuldige Fräulein
in den Öffentlihen Mittheilungen verhüllte Umflände
eben fo Mar wie die Geſchworenen durchſchaute, trotz aller zu des Ans
geklagten Gunften aufgewendeten Mittel, auch jest nody keinen Zweifel
egen bie volle Gerechtigkeit feiner Verurtheilung aufzubringen weiß.
[he Schriftſtellet gründeten ihn auf offenbares Mißverftändnig
jener Mittheilungen.
Noch lauter aber erwedkte die Straßburger Looſprechung der Ges
bälfen des Prinzen Louis Napoleon ben Lärm unferer beutfchen
Gegner des Geſchworenengerichts.
Auch ein deutſches Zuriftengericht aber müßte ja, wenn es nicht
rechtsverletend verfahren will, unter beflimmten Umftänden lediglich toegen
des Mangels einer Form, auch bei Angeklagten, an deren Schulb «6
nicht Im Windeſten zweifelte, dennoch ftatt der Verurtheilung die Loss
ſprechung erkennen. Die Geſchworenen in Straßburg aber hielten «6
aun nad) ihrem Proceffe für eine wefentlihe Bedingung und Form
einer gerechten Verurtheilung gegen folhe, die als Gehülfen eines
Hauptuchebers angeklagt find, daß nicht durch das gefegwibrige
Belieben der höheren Gewalt ber Hauptucheber dem Procefic,
als von jeder Anklage und Strafe befreit, zum Voraus entzogen und
durch deffen gewaltfame Hinwegführung fogar die von ihm ſchon ans
etändigten Zeugniffe und Auffhlüffe zu Gunften feiner Mit
Psuligen unmöglid gemadht würden. Sie hielten «6 alfo für
ungerecht, bazu mitzuwirken, daß nur allein diefe ihrer Entſchuldi⸗
gungsbeweiſe beraubten, weniger ftrafbaren Gehülfen im Namen der
Öffentithen Gerechtigkeit ihres Vaterlandes verurtheilt
würden, nachdem die öffentliche Gewalt des Landes den Haupt⸗
thäter beliebig feeigefprochen, entfernt und fo jene Entfhuldigunggiemitr
unmöglich. gemacht hatte. Ein Skandal blieb jebenioße
ſprechung; aber bie Schuid deffelben trug, vote {elhR der vuie aerel
160% Jury ·
Staatsmann Lord Ruſſel im engliſchen ee erflärte, bie hösh
Gewalt. Ein Skandal aber wäre offenbar auch die Wernetheilung
wefen, und zu biefem wollten ihrerfeit bie Geſchworenen icye Names
ihres Vaterlandes und feiner ordentlichen Gerechtigkeitäpflege mitteirkm
Beſſer als ben fegteren ſchien es ihnen, der [chulbigem polätifäe
Gemalt bie Verantwortlichkeit gugufchieben. Diefes follte bier, de
die Form andere Worte unmöglich machte, ihr Nicht ſchuldig allein
ausbrüden. Daß dabei im diefem au ßerordentlihften Fallı
eine Ueberfchreitung dee buchftäbtich den Geſchworenen
Grenzen vorfam, ift allerdings fehe traurig. Aber nochmals, bie Si
liegt in bee Urſache. Dartber übrigens, daß von bios juriſtiſchea Do
amtengerichten eine firengere Gefeglihkeit gwierwartenik
als vom Schwurgericht, fpäter unten! (S. 1609)
Auch Feuerbach hatte ſechs Geſchworenenurtheile gue Werhihr
tigung des Schmwurgerichts zufammengeftellt. Allein das Gutahın
der Pönigt. preuß. Immediatcommifftonc hat SS: 126 4
geändlih mahgemwiefen, daß alle biefe ſeche wermeindih
Thlimmften Urtheile, die Feuer bach aus allen flets —5 —
kannt werdenden Schwurgerichtsurtheilen von England, Frankreich m
den bdeutfchen Rheinlanden und aus den Sammlungen folder Uri
aufteeiben konnte, und die faſt ſaͤmmtlich Losfprehungen waren, am
‚gar ‚ feine Vorwürfe begründen. Im erften diefer feche Fäne
foll der Skandal darin beftehen, daß in einem Nothzuchtsfalte Die ie
ſchworenen losfprachen. Aber +8 war fein einziger dicectetr id
Imwanges da; ein Beuge hatte bie Frau während des Acts Tachem —
und fie hatte ſich durch ungeswungenes Eingehen in dae B
welchem fie die Gefahr vorausfah, verdächtigt. Meldes Gericht bare
hiet verurtheilen ? Gleich unſchuldig find die übrigen fünf Sale
muß gut ſtehen mit einem Inftitut, von dem die Gegner nichs —
meres aufzufinden wiſſen. Wahtlich alle jene oben (IE,
Jury. | 1001
An fi ſchon aber könnte man nimmermehr buch menfchlichen
Irrthum zufällig veranlaßte ungluͤckliche Urtheile ber englifchen und
franzoͤſiſchen Schwurgerichte, zufällige Mißgeiffe, wie fie bei jedem
menfchlihen Inſtitute unvermeidlich fein werden, vergleichen mit
diefen aus ber verdberblihen Natur unferer deutſchen Gerichtsein⸗
richtungen fo oft entftehenden Juſtizmorden, und noch viel weniger
mit jenen nur Deutfchland allein angehörigen vielen fcheußlichen Kerker⸗
morden, tie fie oben erzählt und angedeutet wurden. Ja felbft wo
jene obigen Mißhandlungen nicht Statt finden — und wo in Deutſch⸗
fand koͤnnen fie bei dee Ratur unferer Einrichtungen je ficher und
gänzlih ausgefchloffen werden? — da wiegen fhon allein bie
lange Dauer und bas Leiden des Unterfuhungsterkers
und mindeflens die moralifhe Tortur auch für alle [päter
fhuldlos Erklaͤrten alle irgend denkbaren Verirrungen der zehnfach
kuͤrzeren, unenblid weniger qualvollen franzöfifchen und englifchen Cris
minalprocefie überreihlih auf *). — Dabei aber können jene
wurbe ber Ungluͤckliche dennoch von ber Staatsgewalt in Haft behalten. Gr
mußte nunmehr einen neuen Griminalproceß aus anderem Grunde beftehen, bis
auch in biefem fich endlich nichts finden wollte. Sein Referent bei dem erften
jener Urthelle, vom oberften Gericht der Actenwibrigkeit gegen ben Angeklagten
befchuldigt, wurde dem Vernehmen nach ſchnell in das Obergericht felbft und
in den Senat vorgerüdt, ben das Volk, weil ihm piöglich die politifchen Proceffe
zugewiefen wurben, den politifchen nannte. Unter den ſchon von Schlöger
in feinen Staatsangeigen mitgetheitten Juſtizmorden verbient ber in Bd. III.
©. 155 erwähnte vorzüglich deshalb Beachtung , weil hier das ſcheußliche uns
gerechte, auch wirklich dlzogen⸗ Todesurtheil Lediglich durch den Terro⸗
rismus und die Mandores des Präfidenten gegen feine ſchwachen
Kaͤthe erpreßt wurde, fo wie der in Bd. III. ©. 420 wegen der wahrhaft
ſcheußlichen Behandlung der SInauifitn. Zu den obigen neueften, offenbar
falfcheh WerurtHeilungen von Wendt u. f. w kommt nad dem neueften Städ
ber Demme’fhen Annalen X, 2. bie fhaudervolle Geſchichte von einem
Mädchen aus dem Braunfchweigifchen,, weiches durch Mißhandlungen bei der Arre⸗
rung in foldye bleibende Angſt verfegt wurde, daß fie in perl Inſtanzen bes
Harrlich ſechs Brandfliftungen FAIFHhLich eingefland und hierdurch und durch
unrichtige Protocollirung einem falfhen Todesurtheil entgegenging , hätte nicht .
ein reiner Zufall ihre völlige Unſchüld enthüllt.
*) Nur um an feine Schiußftelle eine wichtige Bemerkung zu knuͤpfen, theile
ich Hier einen Gorrefpondenzartikel aus Berlin mit, welcher bereits in beutfchen
cenfirten 3eitfchriften, namentlih im ſchwaͤbiſchen Mercur und aus ihm
zuiegt in der Freiburger Zeitung vom 27. Aug. 1839 wörtlich fo lautet: „Bei
„der jegigen Methode kommt es nicht felten vor, daß die Unterfuhung eines
„Griminalfalles weit länger dauert, als die endlih dem Gefangenen zuer⸗
„kannte Strafe, und bei ber Menge ber Werhafteten ift es. überdies völlig un⸗
„möglich, die menfchenfreundtiche Vorſchrift unferer Befege zu befolgen, nad
„welcher täglich in jeder Sache etwas gefchehen fol. Es vergehen vielmehr
„oft Zage zu Wochen, ehe die Inquirirten weiter ruͤcken. Bei Gapitalvers
„beechen liegen Sabre gwifchen den Urtheilen erfter und zweiter Inſtanz, und
„note haben faft Bein Beifpiel, wo einer Mordtbat bie Strafe unter zwei
„bis drei Jahren gefolgt wäre, wenn au das Beftändnif fofort ers
„folgte. Wie viele Verbrecher flerben daher im Gefängniß
„ober entleiben fi, und bie erfchütternde unb warnende Wirkung einer fchnellen
Aerechtigkeit geht verloren. — Deshalb nun foll, wie verlautel, ein Theil der
160" Sum.
Mitglieder der Immediatcommiſſion, welche duch ange Sabre
bie Schwurgerichte in den Rheinlanden genau kannte n, und
der berühmte Daniels, ausdrüdtih erfläcm-(S, IE): Beh im
auch noch nicht ein auffallender Mifgeiff-eimes cbeinide
difhen Shwurgerihts bekannt geworden ober bei ihn
genanen Nabforfhungen zu Ohren: ge men fei, #
daß feibft die wiſſenſchaftlichen Richter noch nicht eim einzig
Malinden . gefommen en wegen Ihres
eine grundlofe etheilung der Geſchworenen iht Sußpemflsni
zum Schuge der Unfhuld zu gebrauchen, Wahrlich, Bas Ef ci
ſtarkes Beugnift Won welchem gleih großen bemefdhen Bus
kann e8 von fo langer Zeit ber Mechtsverwaltung durch
gegeben werden, felbft troh des Dunfels, das bier» ſo Dieies Mamk
verhält? Gleich herrlich ift das Beugniß, meides Mertim,
Gegner des Schwurgerihts, (Bepert Bd. Vi. &.627) non dm
ben ablegt: ,‚Rendons pourtant Justice aux erreurs, mdme äh
prevarication des Jures: ils ont trop de fois acqmittek des me
pables, mais il n’a pas encore 6dt& promva, gull
eussent: jamais fait couler une gontte dm sm
innocent!“ .
—
BVerbrecher an die Polizei abgegeben werben”, — — Mär: u
nicht unendlich beffer, fatt jenes kaum glaublichen, weder ber
wahrer 3eit» und Xrbeitserfparniß förderlichen Worfhlage und +
Schreibens und deſens dider unfiherer Acten und Mei
fo unendlich Zeit erfparende als der richterlichen Erkenntniß der
derliche Schtwurgericht mit feinen mündlichen öffentlichen Werbörem und)
lungen, mit feinem Selbftfehen, Selbfthdren, Seibftfragen aller
und Zeugen-vom Anfläger und Wertheibiger, von allen Richterm
nen zu fegen ? Wird dann in den meiften Fällen wegen des-jept.fer
zen erfien Gerichts bie ubende Appellation an ein
fo ift diefes neuer Gewinn für bie Gerechtigkeit wie für die Any
Sum. :1604
2) Von den übrigen Einwendungen, außer den in bee
vorigen Abfchnitten ſchon gnuͤgend befeitigten, möchten mohl nur tes
nige die befondere gründlihe Widerlegung verdienen und bes _
dürfen, bie fie ſaͤmmtlich in bem trefflihen Butachten gefım-
den haben.
So wird fiher Fein edles Volk das .Schwurgeriht wegen ber
Laſt zuruͤckweiſen, welche es für bie Bürger begründet, daß fie alle ans
derthalb bis zwei Jahre einmal auf kurze Zeit diefes heilfame und ehren»
volle Amt auszuüben haben.
So hat ferner Feuerbach rüdfichtlich der Standesgleichheit fidh
ſelbſt zuerft Lünftich Schwierigkeiten gebichtet,, welche er dann dem Sins
ſtitut entgegengefegt. Er ſchiebt demfelben die Korberung einer abfor
luten Gleichheit aller denkbaren Verhaͤltniſſe zwifchen dem Angeklagten
md dem Belchworenen unter und tabelt dann, daß fie nicht Statt finde,
Sie ſoll's aber auch nicht. Unter der Bedingung ber nöthigen Stan⸗
desgleichheit verftanden die Völker nur: 1) die gleiche Mitbürgerfchaft,
fo daß fie vermittelft ihrer und nicht als vorgefegte bleibende Obrigkel⸗
ten entfchieden ; fodann 2) eine Gleichheit der poltitifhen Stans
desrechte, fo daß die politifch privilegieten abelichen Pair und bie mit
bleibender politiſcher Gewalt bekleideten Vorgeſetzten nicht bie übrigen
Staatsbürger und ihre eigenen Untergebenen richten und nicht von
ihnen gerichtet werden follten. Unter diefen Bedingungen fo viel als
möglih aus allen verfhiedenen Bürgercelaffen unte
Mitwirkung des Angeklagten, wie der Regierung erwählte Ges
ſchworene fihern nun wirklich, fo weit es möglich iſt, eine par
teilofe, vielfeitige gerechte Würdigung und Weurtheilung der Thatfachen
und bee Ausfagen über fie. Sie geben dafür eine Bürgfchaft ganz
ähnlich, wie die ähnlich ermählten Volksvertreter eine möglichft vielfeitige
gerechte Berathung ber Geſetze verbürgen. Hier paßt noch immer ber
Srundfag: der Menfh wird am Billigſten und Richtigſten von feines
Gleichen beurtheilt, nicht von feinen Vorgefegten. Die doppelte poli⸗
tiſche Standesgleichheit mit dem Angeklagten haben alle Ges
ſchworenen. Aehn liche befondere Lebensverhälmifie und daraus fidh
ergebende Erfahrungen und Befihtspuncte haben fie mehr oder minder;
Weder trennen fie zu große Gegenfäge, mie bei ben blos juriflifchen
Staatebeamten und den Bürgern, noch find fie auf eine der Vielſei⸗
tigfeit und Unpartellicykeit ſchadende Weife zu fehr mit einander ver
bunden, zu fehr nur einem einzigen Lebensverhäftnig angehoͤrig. Weber
das Beſtmoͤgliche kann man auf Erden nicht hinausgehen. Feuers
bach felbft mußte in Beziehung auf die Wahlbedingungen der franzoͤ⸗
fifhen Geſchworenen zugeltehen (S. 109):
„Auf diefe Weife beruft das Geſetz nur die Einfichtsvoltften,
„Gebildetſten und Wohlhabendflen ber Nation zu dem
„Amte eines Geſchworenen, erhebt diefes Amt zu einer Art
„von Ehrenftelle, welche die Eiferfucht dee Ausgefchloffenen fpomt und
„die Erwaͤhlten durch Ehrgeiz befeuert, ſich ihres Berufes würdig zu
„machen, fo daß ber alte deutiche Rechtsgrundſat bes Katferrechts-
180° Jury.
¶ 5): mund no Gericht üft, da ſoen bie
Aſt.“ Dennoch fagt er fpäter im feinem Eifer, das een
sicht weniger gut zu finden, hiermit Widerſprechendes.
feitigkeiten einer Wahl 1) blos nah Vermögen, 2) blos madı
hervor. Und dann, wer follte es möglich; halten — da mu im
eich die Geſchwotenen mad) diefen zwei Gefie
gefeht werden, mas bie Einfeitigkeiten ausgleicht, die Gelbgefichtspunin
3: B. durch höhere Bildung, addiet er die befonderem —— "
unter jene Gefihtspuncte gehörigen Claſſen gerade fo, als menu mn
aus den zwei Sägen: einfeitige Lörperlihe Ausbildung. fyader, mi
einfeitige Geiftesbildung ſchadet, den Schluß ziehen: wollte zer —
Ausbildung verbindet, der iſt doppelt einfeitig. Noch
aber hebt Feuer bach felbft vollends alle Vortheife der
und der Vielfeitigkeit duch das ausſchließliche Richterrecht der —
Beamtenkaſte auf.
Auch noch ſonſt macht Feuerbach dem von Ihm ſed ſt veche
ten Fehler deutſchet Juriften, daß fie bei Beurtheilung bifkorifder Ir
flitute gerne mit Windmühlen kaͤmpfen, indem fie flatt mady dem mil
lichen Grundlagen der Imftitute zu uerheiten, fi aus fogenammien
nen Begriffen andere Grundlagen feibft erft ſchaffen, um
widerlegen. So fhlebt er dem Schwurgerichte fälfchlich unter: ME
dere einen von allem übrigen verftändigen praktiſchen Urthe
verfhiedenen, fogenannten gemeinen Menſchenverſtand/ ber
ſchluß vernünftiger Belehrung,’ Reflerion und Prüfung bios wie
ſtinct nach einem Zotal-Gefühl, wie eine Art von Son
ober von Drakel, entfcheiden follte. Er tabelt es dann(&. 4
biefes natürliche Urt heil der Gefchworenen getrübt werde |
Vorträge der Juriften, vorzüglich des Präfidenten, dem bie
um fo mehr folgten, je mehr er Achtung und Vertrauen:
Böker aber verlangten und erwarteten nach dem Obigen (Hil, 8%,
Iury: 160?
cRechtſchaffenheit und richterlichen Weisheit unterſtuͤtten Anſichten einen
wercliichen Einfluß bei. der Prüfung der Geſchworenen, folten dann
vollends diejenigen darüber Magen, die lieber Alles bios von den ſtaate⸗
uichterlichen Anfichten möchten abhängen laſſen ? Bllebe dann bie
der Zeſchwereuen nicht immer noch vortreffliche Controle
Mad eigener vieljaͤhriger Erfahrung bezeugten uͤbrigens die rheini⸗
fchen Mitglieder der preußiſchen Commifſion (6, 216), daß „die Ge⸗
Acqhworenen Werftand und Faͤhlgkeit genug befigen, um bie Vorträge
‚im den mündlichen Verhandlungen zur volftändigeren Ueberficht zu bes
wagen, ohne fid von ihnen irre leiten zu laffen, unb daß bie vom
n&euerbady gefhliderten Gefahren ber Verwirrung ihres Urtheils von
malter Realität entblöf’t und aus willkaͤrlich aufgeftells
„ten Begriffen bergeleitete Luftgebilde find.“ Viele
WBeifpiele zeigten ihnen: „daß ſelbſt die kuͤnſilichſten rechtlichen Aucfuͤh ⸗
zungen vechtsgelehrter Vertheidiger ober auch einzelner im öffentlichen
Aniereſſe zu weit gehenber Staatsanwälte, und auch befangene und zu
ntoeit gehende Aeußerungen eines Präfidenten nicht vermochten, fie von -
ben richtig aufgefaßten wahren Geſichtspuncten abzubeingen.”
Das Bisherige befeitigt dann auch die völlig grundloſen Einwen ⸗
ungen, namentlih aud von Feuerbach und Krefurt, als
wenn die Geſchworenen bei ber nur nach aligemein bürgerlicher prak⸗
tiſcher Erkenntniß, Erfahrung und Beurtheilung zu gebenben Entſchei⸗
hung det Thatfrage mehr von Gefühl und Willkür beftimme
werden oder gar werden follten, und weniger nad objectiver
Wahrheit richteten als die Staatsbeamten. Der Gutsbefiger, der
Kaufmann, der Notar urtheilen als Geſchworene über die Glaubwuͤrdig ⸗
Belt einer Thatfache, einer Ausfage eben fo wenig nad) einem bloſen
dunklen Gefühl, als fie darnach ihre andern praktifchen Gefchäfte, bie
Auswahl ihrer Leute u. f. w. beforgen. Weiſe man uns body vor
Allem eine ihrem Weſen nady von ihrer allgemeinen Lebenserfahrung
verfchtedene, wirkllch juriſtiſche Exkenngnigquele der Wahrheit nad !
Gelb die fogenannten juriflifhen Beweisregeln find ja nur aus ber
aligemeinen Lebenserfahrung entnommene Wahrfcheinlichkeitsregein.
Waugten aber die Feſſein juciflifcher Beweisregeln im Geiminalpreceffe
Has, num dann koͤnnten natürlich auch die Geſchworenen darnach
Eihten, wie es ja Sahrhunderte lang bie Gefchworenen nad) ber
Barolina thaten, und noch heut zu Tage in England bie
nen im Civilprocefie thun. Man denkt auch in England gar nicht
basam, daß die Geſchworenen anders, als nady prüfender Wergleihung
re en, fid aus der allgemeinen Erfahrung ergebenden allger
meinen Refaltate und Regeln über bie Wahrheit ‚der Thatſachen und
Kubfagen urtheilen ſollen, man feffelt ihre Ueberzeugung nur nicht durch
ıhaafeitigen juriſtiſchen Zwang, mithin auch nicht durch ben Zwang einer befons
vesem Recyenfcyaftsablegung über bie Beweife. Mur zum höheren Scuue
vg Angeklagten, und zioar gerade da, wo der Dekyatkuanas am Kuiafiro
yünt, bıi Sitaatsoerbrechen, fordert dab freie, grohhernar erulkän Dr
Sehumgen der Gehe mn Der Mherfehen vum Den
tungen und wenigftens einer Verhinderung gaͤnzlicher
nicht einmal zu reden — wie oftmals fah ich 8 1
Ja, es vermag es gewiß hoͤchſt felten ein Nicht
da wo ihm die — wie Platon fagt, hoͤchſt eigen
befondere Fälle oft Höhft unger⸗chten — pofitiden G
— gegen feine feſte ſubjective Ueberzeugung
einen Mitmönfchen uͤberbauvt oder auch nu
— —
Jury. 1607
mit unumflößlicher Gewißheit die Losfprechung gebieten (in den Fällen
bloſer Indieienbeweiſe nämlich). Aber fehe man doch nur in die beutfche
Griminalpragis! Da haben bie Gerichte fogar durch fortgefegte Ge⸗
ſetzwidrigkeit gegen Mare Gefege die wichtigften Proceßeinrichtungen
und Vergehen abgefchafft und andere new eingeführt. Abgefchafft
haben 3. B. meift vor fpäterer gefeugeberifcher Beftätigung bie Gerichte
die Deffentlichkeit, das Schwurgeriht, die Zuziehung von Schöffen
und felbftftändigen Gerichtöfchreibern zu den Procephandlungen, bie rechte
Trennung von Generals und Specialunterfuhung, eben fo ferner die
Strafen des Ehebruchs, des Stuprums, der Gotteslaͤſterung, ber Hexerei
wm f. w. Eingeführt haben fie eben fo ben geheimen Inquifitionss
proceß, die Zortur, die Losfprehungen von der Inſtanz, die Verdaͤch⸗
tigkeitsſtrafen, die furchtbare Theorie ber delicta excepta, die Strafen
blofee Körperveriegung ohne Klagen, die Strafen der Duelle, ber heim»
lichen Niederkunft, des Vergehens der Aufreizung zum Mißvergnügen,
bes Eonats des Hochverraths u. f. w. (&. Art. „Carolina’ ©. 275.)
Soll man vielleicht auch ſolche Einwendungen noch tiderlegen,
wie die von Graͤvell, durch die oben erwähnten gefeglichen Verſtaͤrkun⸗
gen der Bürgfchaften und Controlen für das Schwurgericht, z. B.
jenes Suspenfionsrehts von Seiten der Staatsrichter, ſpreche ſelbſt
bie Gefeggebung ihr Mißtrauen gegen daffelbe aus? Thoren, die ir
gend eine menfchlihe Eintihtung für abfolut volllommen, für uns
fehlbar in jedem einzelnen Falle halten! Verbrecher, die, wo es das
Heiligſte gilt, nicht auch die Sicherung durch die möglichft befte Eins
richtung fo meit gu vermehren trachten, als es die Natur der Sache
erlaubt! Auch gegen das Koͤnigthum, auch gegen die wifjenfchaftlichen
Gerichtshoͤfe fpriht dann die Gefeggebung Mißtrauen aus, wenn fie
Stände, Miniſteranklagen, oder Appellationen anordnet.
Oder foll man vollends Feuerbach's Tadel widerlegen, daß man
bei dem Schwurgericht mehr Vorficht anwende gegen ungerechte Verurtheis
lungen, als gegen unverbiente Losfprechungen? Er fügt (S. 113): „Der
„Grundſatz: es ift beffer, daß Schuldige entlommen, als baß ein Uns
„ſchuldiger geftraft werde, ift ald Marime der Geſetzgebung nicht mehr
„werth, wie der entgegengefeste.” Das gefunde Rechtsgefuͤhl aber, die
Volksſtimme aller gefitteten Völker verurtheitt im Vereine mit der heilis
gen Schrift *) und mit dem claffifchen römifchen Rechte diefe neue Weiss -
heit, nad) weldyer man auch confequent bei blofem Verdachte ftrafen müßte.
Auch hier wurde der berühmte Gelehrte wieder von feiner Sophiſtik und
durch allgemeine abftracte Begriffe verleitet. Freilich, nach ber Gerechtigkeit
in abstracto gedacht, kann eben fo wenig ein Schuldiger freigefprochen ale
ein Unſchuldiger verurtheilt werben. Weil aber die concrete menfchliche
Gerechtigkeit und ihre Beweiſe unvollommen find, fo fol fie, mo fie
ſelbſt die Mangelhaftigkeit und Ungemißheit in einem beftimmten Falle
erkennt, nad jenem uralten, ehrmürdigen, eben fo gerechten als hu⸗
manen Grundfage. verfahren. Sie fol im Zweifel flets das Mit
*) 1. Moſ. 18, 23—82. x .
Gtaatösteriton. IX. 10b
160s Jury.
dere waͤhlen, die juriflifche Worausannahme der Unſchulb
ten. Denn kann fie bei dem beften Willen u
weifen, fo iſt das nit ihre Schuld. Wohl aber wi
und ‚eine Berftörung des ganzen auf ber bona * un
sumtio boni viri beruhenden friedlichen Rechtsyuflandes, ekmem
fein Recht auf Leben und Freiheit zu vernichten, gegem
möglichft vollgüftige Beweis der Schuld fehlt. Nach jemer mir
getadelten Marime verwirft aud das gemeine deutſche
Appelation in Criminalſachen eine Verfchärfung der Strafe, eime rel
matio in pejus, und erlaubt dem dürften, Begnadigumg umb m
Vermehrung der Strafe.
Man hat getabelt, daß die Geſchworenen unmittelbar, alfo d
genügende Prüfung das — fällen ir Allein —
offenbar, eben ſo wie nach dem Obigen, ruͤcſichtlich der angel
theile der. Inquiſition, ber Bewirkung moraliſchet und
Bekenntniſſe, wieder. ber Vorzug auf Seiten des Schwurg }
dem geheimen Juriftenverfahren entſcheiden, ohne felbjt zu ſehen und,
hören, auf die Relation des Referenten die Richter meifk fchon,
einer ober in einigen Stunden, nachdem fie bad rfte
Sache erfuhren. Die Gefhworenen fehen und hören, nadh ber fu
ven forgfältigen. Inſtruction des ganzen Proceffes, mim bie
Verhandlung deſſelben Tage, oft Wochen lang feibfE vor
Augen, und berathen fi alsdann auch in ihrem Berathfe
mer bei irgend ſchwierigen Faͤllen oft nod mehrere, ofk hu)
bis ſechs Stunden lang.
Man tadelt ferner, Ya das Schwurgericht die Sich
Gontrole durch Appellationen, neue Prüfungen des. Urtheil® %
Allem die. Scheiftlichkeit ausſchließe. Diefes ſcheint eigeneiheh
mand gegen bad öffentliche, und mündliche Verfahren,
dungen, bie auf diefes gegründet find. Wo man nicht bie
|
Sum. 160%
für den Angeklagten und für feine Befreiung ımb für ben Staat als
überwiegend nachtheilig erfcheinen. In Schweden übrigens
ift bei den Schwurgerichten fogar. doppelte Appellation zulaͤſſig an
mittlere und oberfte Gerichte. |
Unter jenen Controlen des Schwurgerichtes fehle auch ſchriftliche
Aufzeihnung keineswegs. Diefe Controle iſt freilich an ſich unendlich
unvolltommen und unficher, obwohl fie die weſentliche Bontrole bes ges
heimen Beamtengerichtes bilden muß. Aber fie iſt fogar bei dem
Schmwurgerichte in viel zutrauensmwärdigerem, vollfläns
bdigerem Grabe vorhanden, als bei dem fchriftlichen geheimen
Beamtengerichte. Die ganze Vorunterfuhung wird actenmäßig pro⸗
tocollirt, und zwar, bei der Selbſtſtaͤndigkeit des Actunrs, bei der beftäns
digen Controle des Staatsprocurators und des Collegialgerichtes und
der fpäteren der Anklagekammer über bie ——n der Unterſuchung
und endlich bei der nothwendigen Scheu, daß die oͤffentliche Verhand⸗
lung jede Ungenauigkeit, Unvollſtaͤndigkeit, leidenſchaftliche Uebereilung,
Befangenheit und Untreue zur oͤffentlichen Schande vor der Nation und der
Megierung an ben Tag bringen koͤnne, läßt fie ſich hlerunendlich treuer
und gewiſſer hoffen, alsinden Protocollen unferer ewig
geheimen Beamtengerichte. Diefe Acten werben auch nad)
ihren Ergänzungen auf Anordnungen ber Anklagefammer in der muͤnd⸗
lichen Verhandlung und beider Berathung der Gefchworenen zu Rathe
gezogen und benust. Schon vor dem Anfange ber öffentlichen und muͤnd⸗
lichen Verhandlungen aber und vollends mit benfelben beginnt, neben
deren unvergleihbar trefflichen Sarantieen, neue fchriftliche Aufzeichnung,
die abermals ungleich voliftändiger, vielfeitiger und treuer, zugleich unends
lich viel lesbarer und mehr gelefen ift, als die unferer unglüdfeligen,
ſchlechtgeſchriebenen dicken deutſchen Proceßacten. Neben dem fortbaus
ernden SProtocolle des Gerichtsfchreibers über das Michtigfte, theilen
naͤmlich Tag für Tag verſchiedene öffentliche Zeitungen, nad) den
wörtlichen Aufzeihnungen verſchiedener Geſchwindſchreiber, bie
ganien Verhandlungen mit. Man gibt fie in directer Mittheilung ber
orte der Angeflagten, der Zeugen, ber übrigen Theilnehmer an ben
gerichtlichen Verhandlungen. Moͤglichſte Treue und Vollſtaͤndigkeit bes
wirkt die Controle des ganzen Publicums, das Gericht mit einbe⸗
griffen, und der MWetteifer und die gegenfeitige Ergänzung ber verfchie:
denen Gefhmwindfchreiber und Journale. Auch bier wieder drängt ſich
unwillkuͤrlich des großen britifchen Geſchichtſchreibers Bewunderung über
das Schwurgericht auf. Auch hier, wie faft In jedem Puncte, verhält
fih bie Volftändigkeit und Güte unferes guten beutfchen Verfahrens
zu bem der Briten und der Franzoſen ungefähr wie etwa unſere
früheren deutſchen Reichspoſtwagen, oder wie bie alten Flußſchiffe zu
den franzöfifhen und englifhen Diligencen, Dampffciffen und Eifen-
bahnwagen. Die frohe Erwägung, daß in dem Meifes und Handels
verkehr die Annahme der verbefferten Einrichtungen endlich auch bei
uns entſchieden ift, und dag hier die Vertheidigung des Alten, felbft wo es
N
160= Sum. in
von der Reaction gegen bie gefürchteten Fortfähcitte ber
ging, doc vor dem gefunden Menfhenverftande bei
lange halten Kann, gibt mie auch Hoffnung für den endlichen
gefunden Vernunft in unferem Rechtsverkehr, Erlebe ih es
febft, der ich nach den Freibeitäfriegen im Hannöterifdhen, io |
damals aus alzu großer Anhänglichkeit an’ Alte bie ehemaligen
phoͤliſchen Diligencen wieder durch die langfamen, unbe:
Regen und. Wind nice fhügenden alten Poftwagen erfege
traurige Fahrt mit denfelben beftand, daß fehon ein Fabe
guten , ſchnellen Diligencen gefiegt hatten. Es fdhadete num
daß, wie ich es ebenfalls felbit noch vernahm, einzelne alte
ſter alles Ernſtes noch ‚unfere alten Reihspoftwagen
neuen Eilwagen anpriefen. Hoffentlich fiegt ja auch bet
nicht allzu fpät die gefunde Vernunft, fa daf, wenn erme
ten alten deutſchen Procefwiberfian noch von einzelnen alten
juftizmeiftern. preifen hört, man, eben fo gut dazu lächeln baef,
damals Über ben alten beutfchen Neichspoftmeifter. Pd
Ja ſelbſt bie lichtſcheue Reaction wird mit ihrem fatfehen
fierungen endlich diefe unentbehrlihe Reform nicht mehr auf
men. Der von ihr im Geheimen herumgetragene Gedanke,
meinen vaterlänbifchen Werhäftniffe ftünden hier im Wege,
an's Licht der Deffentlichkeit nicht hervorwagen. Mer mu
fprechen ben. beleibigenden, den in gefährlicher Lage bes @
doppelt gefährlichen Gedanken, diefe vaterländiihen Merk,
der Art, daß, fie unfere Nation unvermeidlich ausfeatön |
wichtigſten Gütern der eucopdifchen Givilifation, bom Dem Berk
Entreidelungsmitteln patriotifcher Bildung und Geftnmung
der Art, daß fie uns bie zeitgemaͤße Wirderherftellung M
ſten vaterländifhen Inſtitutes und durch daffelbe die 38
in. ungtüdlihen, Zeiten uſurpatoriſch eingebrun, i
Suci
Kabinet. — Kemeralsiffenichaft. 161
Kabinet, f. Gabinet.
Kärnthen, f. Deſterreich.
Kaiſer, f. Titulatur.
Kameralwiffenfhaft. Die rirthfchaftliche Thaͤtigkeit, d. 6,
die auf Dervorbringung, Erwerbung und zweckmaͤßige und ſparſame
Verwendung materieller (fachlicher) Güter gerichtete Zhätigkeit der Men
fhen, gründet ſich auf die unabmweislichen Webürfniffe der menfchlichen
Natur. In dieſer natürlihen Nothwendigkeit der twirthfchaftlichen Be⸗
ſchaͤftigung der Menſchen und in ihrer Wichtigkeit fuͤr das unzertrenn⸗
liche materielle und geiſtige Wohl der Einzelnen, der Voͤlker und Staa⸗
tem liegt die Rechtfertigung einer wiſſenſchaftlichen Auffaffung
jener Thaͤtigkeit: einer Wirthſchaftslehre*) oder, um fie mit dem⸗
jenigen Namen zu bezeichnen, der ſich aus deutſchen Staateverhaͤltnifſen
gebildet hat: einer Kameralwiſſenſchaft.
Die wirthſchaftlichen Verhaͤltniſſe laſſen ſich nad verfchiebenen Ge⸗
ſichtspuncten auffaſſen; nach ihrer rechtlichen, fittlichen, politiſchen, ober
aber nach ihrer rein wirthſchaftlichen Seite; und es iſt klar, daß die
Wirthſchaftslehre, je nachdem man ſie z. B. von dem rein wirthſchaftli⸗
hen oder von dem politiſchen Standpuncte aus behandelt, eine verſchle⸗
dene Stellung in dem Kreife der Wiſſenſchaften überhaupt und ein
größeres oder geringeres Recht erhält, bei höheren gefelfchaftlichen Kragen
fi) eine entfcheidende Stimme zuzueignen. |
Geht man von dem rein wirthſchaftlichen Standpuncte oder von
der Trage aus: welches find die Bedingungen des wirtbichaftlichen Woh⸗
les der Einzelnen und der Geſellſchaft? fo erfcheinet die Wirthſchafts⸗
lehre als ein felbftitändiges, in ſich abgeſchloſſenes Glied in der Kette der
Wiſſenſchaften. Das Princip, welches innerhalb dieſes wiſſenſchaftli⸗
chen Gebiet alle Fragen entfcheiber, ift das wirthſchaftliche Wohl.
An biefem Maßftabe werden alle wirtbfchaftlihen Beſtrebungen, felbft
alle Maßregeln bes Staats, welche auf fie Einfluß ausüben, gemeſſen.
Betrachtet man aber die wirthſchaftliche Thaͤtigkeit von dem polls
tiſchen Standpuncte; fragt man, melden Einfluß fie auf das geſammte
Staatsleben ausübe? fo bildet die Wirthſchaftslehre einen Theil der
Staatswiſſenſchaft, und die mirthfchaftlihen Strebungen und Refultate
find Hier nicht blos nach Preis, Maß und Gewicht zu beurtheilen, ſon⸗
dern die höheren ſtaatswiſſenſchaftlichen Principien machen ihre Der
‚ Schaft geltend.
Es ergibt fi) von felbft, dag alle wirtbfchaftlihen Fragen, ſobald
fie in irgend einer Weife über das rein wirthſchaftliche Gebiet ſich hin⸗
aus erfireden und in das gefellfchaftliche Leben eingreifen, nach ihrer
Beantwortung in der reinen Wirthfchaftsiehre noch einer höheren Revi-
fion in der Staatswiſſenſchaft fih zu unterwerfen haben. ,
Die Behandlung der Wiffenfchaft auf die eine Weife fchließt die
*) Wirth, vir, Mann, Hausherr, Anordner von Bermögensverbältnifien,
olnovdpog.
Staats : Lerilon. IX, 11
162 ameralwiſſenſchaft.
andere keineswegs aus. Es ſcheint vielmehr bie doppelte Weiſe ber
Behandlung mannigfach foͤrdernd für dieſelbe zu fein.
Wird in der Wirthſchaftslehre, wenn gleich einfeltig, dd wirth⸗
ſchaftliche Intereſſe allein als Princip aufgeſtellt, ſo wird dieſer Seite
ungetheilte —— gewidmet, und es laͤßt ſich um ſo ſicherer
eine erſchoͤpfende Behandlung derſelben erwarten. Ueberdies fuͤhrt eine
tiefere Betrachtung der geſellſchaftlichen Entwickelung zu der Ueberzeu⸗
guns daß in den meilten Fällen das wirthfchaftlihe und das geiftige
ohl und Wehe der Völker innig mit einander verknüpft find.
Jene einfeitige Behandlung der Wiffenfchaft gibt ferner den Bears
beitern Veranlaffung, mehr in die niederen Sphären des wirthfchaftlis
hen Privatlebens hinabzufteigen, bie Gebiete der Privatwirthſchaftsleh⸗
zen zu durchforſchen und mit den baraus abftrahirten Sägen die allge
meineren Disciplinen zu befruchten. Eben fo kann hieraus für die Pris
vatwirthſchaftslehren Nutzen gezogen werden, indem die Grunbfäge der
‚ allgemeineren Lehren auf fie übertragen und jene durch diefe auf eine
höhere Stufe der wifienfchaftlichen Ausbildung gehoben werden,
Die Bearbeiter der Staatswiffenfchaft aber erhalten eine Seite des
Volkslebens auf eine Weiſe wiſſenſchaftlich beleuchtet, einen wichtigen
Theil ihrer Miffenfchaft fo vorbereitet, daß ihnen faum welter etwas
obliegt, als die theoretifchen und praftifchen Refultate der Wirthſchafts⸗
Iehre, fo weit fie das Öffentliche Leben berühren, in ihre Spitem aufs
zunehmen, nachdem fie diefelben einer Prüfung vom ſtaatswiſſenſchaftli⸗
hen Standbpuncte aus unterworfen haben.
Die Wirthfchaftslehre in ihrer einfeitigen Abrundung nun hat fich
in Deutfchland unter dem Namen der Kameralwiſſenſchaft ausgeöilbe,
Geſchichte ber Kameralwiffenfhaft.
Die Wirthſchaftslehre kann fidy nicht rühmen, fchon in dem Bo⸗
den bes Alterthbums tiefe Wurzeln gefchlagen, aus deſſen Bildung reiche
Säfte gefogen zu haben. Sie ift eine Frucht der neueren Zeit und der
neueren Bildung. Zwar fehlt e8 nicht an griechifchen*) und römifchen **)
Schriſtſtellern, welche namentlih den Aderbau behandeln ; auch allges
meine Betrachtungen über Wirthfchaftsverhältniffe find von den größs
ten Männern des Alterthums, von Platon, Ariftoteles, Cicero, in ih⸗
ren Werken über den Staat angeftellt worden. Allein der Lehre vom
Ackerbaue fehlt die naturwillenfchaftliche Grundlage, die ihr in der neues
ven Zeit gegeben worden ift, und die allgemeineren Betrachtungen koͤn⸗
nen kaum als ein ſchwacher Keim ber neueren national-sfonomifchen
Lehren angefehen werden ***). Diefe Thatſache erregt Leine Verwunde⸗
zung, wenn man bedenft, daß auf der gewerblichen Zhätigkeit, "mit
Ausnahme des Landbaues, die Verachtung der Öffentlichen Meinung
laſtete, und daß fi mit anderen Dingen Lorbeeren erringen ließen,
*) Zenophon.
**) PYalladius, Sato, Varro, Plinius u. A
*se) Bergl. Rau, Anſichten ber olkswirthfchaft. Leipzig, 1821, 1. Abhblg.
Romerahiviffenfchaft. 168
als durch bie wiſſenſchaftliche Betrachtung von Beſchaͤftigungen, bie '
meift dem Stande der Sklaven und den nieberfien Volksclaſſen über
lafien waren.
Auch im germanifchen Mittelalter erfuhr die Wirthfchaftsiehre Leine
jorgfame Pflege. Der Geift der Zeit war in’s Jenſeits gerichtet, und
das Reid) des Geldes galt als das Neid, des Satans. '
Erf nahdem der Seeweg nad Oftindien und Amerika entbedk,
in den wirthſchaftlichen Verhaͤltniſſen der europäifhen Voͤlker wichtige
Veränderungen vorgegangen, der Geift der Wiſſenſchaft durch die Me:
formation wieder erweckt, und ber ZOjaͤhrige Krieg namentlid) dem Wohl:
flande Deutfchlands tiefe Wunden gefchlagen hatte, hielt man es der
Mühe werth, auch den wirthfchaftlihen Dingen, ſowohl im Staatsle⸗
ben als in der Wiſſenſchaft, größere Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Den
deutfchen Regierungen namentlich mußte fich die Weberzeugung aufdrin⸗
gen, daß eine ihrer naͤchſten und wichtigiten Sorgen die Wieberherftels
fung des öffentlichen Daushaltes und namentlidy die Verbeſſerung bes
Wohlſtandes ber Unterthanen fein müfle, als der reichften und dauer⸗
hafteſten Quelle von Einkünften. In diefem Sinne wurden theils
im Auftrage der Negierungen, theild aus eigenem Antriebe von einzels
nen Staatsmännern die in den Kammercollegien (f. Art. „KRammer”)
geltenden Gefchäftsregeln zufammengetragen, um durdy Verbreitung bes
waͤhrter Grundfäge auf eine zweckmaͤßige Fuͤhrung ber Gefchäfte einzu⸗
wirken. Diefe Lehre „von den Kammerfachen” enthielt neben polizeilis
hen Regeln hauptſaͤchlich die Regeln für die Bewirthfchaftung der Dos
mänen, der Forſte, für den Betrieb der Bergwerke und für die Behands
lung ber Regalien; in geringerem Maße die Grundfäge des Steuerwe⸗
ſens, weil baffelbe feiner ftaatsrechtlihen Natur nach den Geſchaͤftskreis
der Kammerbehoͤrden nur auf untergeordnete Weife berührte.
Die hervorragendften Männer, welche in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts durch ihre fchriftitellerifchen Arbeiten den Webergang
von der Praris zur Theorie vermittelten, waren Sedendorf, Schröder
und Hornet. Ihre Schriften erlebten eine große Anzahl von Auflagen
und dienten lange Zeit als Grundlage von Univerfitätsvorträgen. Zwar
fehlte es nicht an Schriften in Spanien, Frankreich, England und
Ftalien, melche privatwirtbfchaftlihe und finanzielle Gegenflände behan⸗
deiten; auch die Schriften der Alten über Landbau wurden aus bem
Grabe gezogen: allein eine umfaffende Betrahtung der wirth:
Thaftlihen Dinge von dem Gefichtspuncte der Kameraliften, wie
die erwähnten Schriftfteller fie anſtellten, gab es nicht.
Menn gleich von der Begründung einer Kameral:Wiffenfhaft
durch diefelben nicht gefprochen werden kann, fo ift doch Thatſache, dag
fie in hohem’ Grade anregend wirkten.
Die Einfiht in den Nugen einer wiflenfhaftlihen Bildung ber
Kameraliften veranlaßte Friedrich Wilhelm I. von Preußen an den
Univerfitäten zu Halle und Frankfurt an der Oder Profeffuren der Ka:
meralmiffenfchaft zu errichten. Diefer Vorgang fand, raſch zahlreiche
1
veranſtaltet igſtens
Aufgabe der Finanzwiſſenſchaft endlich
die Staats zwecke erforder! wirthſe 5
Akswirthſchaft am Wenigften druͤckende Weiſe zu
walten find.
Ueber die Scheiftiteller, melde: um die.
und Ausbildung ber Kameralwiſſenſchaft ſich B
(Böllinger, Serger, Schmalz, Fulda, Oberndo: e
* ee ſich verdienftlichen Schriften von Rau über die Mämeralı
haft (Heidelberg, 1815), Er Baumſtark, tameratiftifche €
& (Heidelberg , 1835) ©. 44. ff. PR
Die Kameralwiffenfchaft, als Inbegriff fÄmmtlicyer auf —
ſchaftsweſen eines Volks ſich beziehender Kehren, iſt
eigenthümliche Wiffenfhaft. Was in England, g
unter politifcher Dekonomie verftanden wird, umfal
derfelben, nämlich die Volkswirthſchaftolehte, im
Hauptgrundfägen der: in Deutfchland abgefondert
fenfchaftlidy weiter atısgebildeten —— ft
wiſſenſchaft, weiche drei Wiſſenſchaften in
Deutſchland unter dem Namen der —5
faßt worden find. Wenn gefagt worden iſt, ba
eine ben Deutfchen eigenthümliche Wiſſenſchaft fei, ſo win
lich nicht heißen, daß anderen Völkern die Landwirthſchaft
nifhen Wiffenfchaften x. mangeln; die ſtuͤnde in W
den offenkundigften Thatſachen: «8 fehlt ihnen nur
Witthſchaftsweſen umfaffendes wiſſenſchaftliches Syſte
Deutſchland find namentlich in der neueren Zeit die La
die Forſtwiſſenſchaft, die Technologie und die politiſche
ſelbſtſtaͤndig und unabhängig von einander. fortgebilder
Eameralwiſſenſchaft. Kammer. 167
iſſen worden iſt. Sie hat ihren Werth eben ducch die Aufzeigung jeme®
ineren Zufommenhangs, durch Aufdedung von Mängeln und Lüden
Em ben einzelnen Zehren, ober darin, baß fie Weranfaffung gibt, die
Bortfchritte in der einen Miffenfchaft überzutragen auf die andere. Dieſes
hri uns zum Schluffe auf eine Bemerkung über die Behandlung der
Wrivatreicchfchaftsichren in der Kameralwiſſenſchoft. .
Die hauptfächlichfte praktifche Tendenz der Kameralwiſſenſchaft war
rem Urfprunge nad) die: dem Polizei: und Finanzbeamten des Staats
de GBrundfäge für feine amtliche Thaͤtigkeit am die Hand zw geben.
Diefer urfprünglihen Tendenz entfpricht derjenige Theil, den man auch
ımter dem Namen der politifchen Oekonomie zufammenfaßt, heute in
Inem früher ungetannten Grade. Nicht das Gleiche laͤßt fih von ben
Drivatwirthfchaftsichten fagen. Sie mögen dem Privatwirth ober dem
Staatswirih in feiner Eigenſchaft als Peivatwirthſchafter im Namen
«6 Staats in der Art, wie fie in der Kameralwiſſenſchaft behandelt
werden, mehr oder weniger von Nusen fein ; aber dem Staatswirthe,
116 folhem, dem Wirthſchaftspolizeibeamten, als ſolchem, find fie fo
‚ange von untergeorbnetem Werthe, als nicht anſtatt der technifchen Seite
ver einzelnen Gewerbslehren die Seite des wirtbfhaftlihen Bes
triebs in den Vordergrund tritt. Für den Staatsmann, ber bie Ges
merbe zu unterflügen, zu fördern, zu befteuern hat, iſt micht ſowohl
des techniſche Detail des Landbaues, der Forſtwirthſchaft, der Spinner
jek x. von Wichtigkeit, als vielmehr die Innere Gliederung, die Form
Betriebes, die wirthfchaftlichen Refultate jener Gewerbe. Die tech⸗
alfhen Grundfäge müffen diefen Bettachtungen ohne Zweifel zur Bas
6 dienen; aber jene mehr national⸗oͤlonomiſchen Seiten find es, die im
dee Kameralwiffenfchaft bis jest, wie uns feheint, noch nicht jene Bes
rᷣckſichtigung gefunden haben, die fie verdienen. Es dürfte, wenn uns
die Beichen nicht trügen, die Zeit nicht ferne fein, mo es moͤglich fein
vird, der Kameralwiſſenſchaft auch nad) diefer Seite hin eine vervolls
!ommnete und in wiſſenfchaftlicher und praktiſcher Hinficht vielfaches Ins
ereſſe gewaͤhrende Geftalt zu verleihen. Wir hoffen und wuͤnſchen naments
ich, daß der Verfaſſer des Auffages (deutfche Dierteliahrsfchrift vom
Julius — Sept. 1838) „über gewerbliche Literatur” den Gedanken, den er
safelbit (S. 154.) über die Bildung einer Gewerbe: Wiffenfhaft ges
Imßert, und der, wenn mir ung nicht täufchen, mit demjenigen zus
ammentrifft, den wie in Bezug auf bie Behandiung fämmtliher Pri-
vatmwicthfchaftsiehren in der Kameralwiffenfchaft ausgeſprochen — wir
vuͤnſchen/ daß er felbft jenen Gedanken recht bald tealificei’ möge.
Dr. Wolfgang Shüs.
Kammer (fürftliche oder Rentlammer). Das Wort „Kammer“ ift
16 bee griedhifchen Spradye (xauaga) in bie römifdhe (camera) und aus
niefee in die deutſche übergegangen. Geine Bedeutung ift im Wefents
ichen in allen drei Sprachen diefelbe: ein gewoͤlbter Raum, Gewölbe,
jebeimes Gemach. In der deutfhen Gtaatsipradye hat von wur Wem
Kusbrude „fürftliche Kammer“ den xt, voo die Fürtäitgen Inasaurehr?
. 3
Kameralwiſſenſchaft.
Einzelnen oder freler Vereine uͤberſteigen, odet aus
finne der Einzelnen von — wen
veranflaltet oder wenigſtens Übermacht werden Im
—— der ——— — iſt es u
für die Staatozwece erforderlichen wirthſchaftüchen Guͤter aa
Volkswirthſchaft am Wenigften drüdende em zu —
walten. find.
Ueber die Schriftſtellet, welche um bie foRemarlfah
und Ausbildung der Kameralwiſſenſchaft ſich Verdienſte er
(Böllinger, Seeger, Schmalz, Fulda, DOberndorfer, Beier
die für ſich verdienftlichen Schriften von Rau Über die Ki
ſchaft (Heidelberg, u > Baum ſt ark, kameraliſtiſch
die (Heidelberg , 1836) ©. 44. ff.
Die ie Kameralmiffenfehft, als Inbegriff fÄmmtlicher au
ſchaftsweſen eines Wolts ſich beziehender Lehren, ift eine d
eigenthuͤmliche Wiffenfhaft. Was in England, Frankreich
unter politifcher. Defonomie verftanden wird, umfaßt mu
derfelben, naͤmlich die Volkswirthſchaftolehte, in Berbint
Hauptgrundfägen der in Deutfchland abgefondert behandel
fenſchaftlich welter ausgebildeten Volkswirthfchaftspflege )
wiſſenſchaft, welche, drei Wiſſenſchaften in der neueren
Deutfchland unter dem Namen der „„politifchen Dekonomiet“
faßt worden find, Wenn gefagt worden iſt, daß die Kamel
eine den Deutfchen eigenthmiiche Wiffenfchaft fei, fo milk
uqh nicht t beißen, * daß anderen Voͤlkern die kLandwirthſchaftel⸗
* *
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. .
*
" ⸗
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eewesheiſeuſthaſt ¶ eineve. u?
gerriffen werben iſt. Sie hat ihren Werth üben durch die Aufzelgung jenes
inneren Bufanimenhangs, durch Aufdeckung von Mängeln und Lüden
in ben einzeinen Lehren, ober darin, daß fie Veranlafſung gibt, die
Fortſchritte in der einen Wiffenfchaft überzutragen auf bie andere. Diefeb
führt uns zum Schluffe auf eine Bemerkung über die Behandlung ber
Privatwirthſchaftslehren in ber Kameralwiſſenſchaft. a
Die hauptſaͤchlichſte praktifche Senden; der Rameralwifienfchaft war
ihrem Urfprunge nach bie: dem Polizei: und Finanzbeamten des Staats
Die Grundfäge für feine amtliche Thaͤtigkeit an die Hand zu geben.
Diefer urfprünglichen Tendenz entfpricht derjenige Theil, den man au
unter dem Namen ber polltifchen Defonomie zufammenfaßt, heute in
einem früher ungelannten Grade. Nicht das Weiche laͤßt fi) von bew
—— eh pa fslabern fagen. Sie mögen dem Privatwirth oder dem
atsſwirth in feiner Eigenſchaft als Privatwirthſchafter im Namen
des Staats in der Art, wie ſie in der Kameralwiſſenſchaft behandelt
werben, mehr ober weniger von Nutzen fein; aber dem Staatswirthe,
als ſolchem, dem Wirthichaftspolizeibeammten, als ſolchem, find fie fo
lange von untergeordnetem Werthe, als nicht anſtatt der ech ni ſche n Seite
Ba
dee einzelnen Gewerbslehren die Seite des wirthſchaftlichen ae N
triebs in den Bordergrund tritt. Für ben Staatsmann, der die
werbe zu unterftügen,, zu fördern, zu beftenern hat, iſt nicht ſowohl
das techniſche Detail des Landbaues, ber Forſtwirthſchaft, der Gpinnes
rei x. von Wichtigkeit, als vielmehr die innere Gliederung, die Form
bed Betriebes, die wirthfchaftlichen Refultate jener Gewerbe. Die tech⸗
niſchen Grundfäge müflen dieſen Betrachtungen ohne Zweifel zur Bas
fis dienen; aber jene mehr nationalsötonomifchen Selten find es, die in
bee Kameralwiſſenſchaft bis jest, wie uns fcheint, noch nicht jene Bes
ruͤckſichtigung gefunden haben, die fie verdienen. Es dürfte, wenn uns
die Zeichen nicht trugen, die Zeit nicht ferne fen, wo es möglich fein
wird, der Kameralwiſſenſchaft auch nad) diefer Seite bin eine vervolls
Sommmete und in tmiffenfchaftlicher und praktiſcher Hinficht vielfaches Ins
tereffe gewaͤhrende Geſtalt zu verleihen. Mir hoffen und wuͤnſchen naments
lich, daß der Verfaſſer des Auffages (deutfche Vierteljahrsſchrift vom
Julius — Sept. 1838) „über gewerbliche Literatur‘ den Gedanken, ben er
bafelbft (&. 154.) über die Bildung einer Gewerbes Wiffenfhaft ger .
äußert, und der, wenn wir uns nicht täufchen, mit demjenigen zu⸗
fammentrifft, den wir in Bezug auf die Behandlung fämmtlicher Pri⸗
vatwirthſchaftslehren in ber Kameralwiffenfchaft ausgefprohen — wir
wuͤnſchen, daß er felbft jenen Gedanken recht bald realiſiren moͤge.
Dr. Wolfgang Shäü;.
Kammer (fürftliche oder Rentlammer). Das Wort Kammer“ if
aus der griechifchen Sprache (xauapa) in bie römifche (camera) und aus
dieſer in die deutfche übergegangen. Geine Bedeutung tft im Weſent⸗
lichen in allen dert Sprachen biefelbe: ein gewoͤlbter Raum, Gewölbe,
geheimes Gemach. In der deutfchen Staatöiprache bat man mit dem
Ausdrude „fürftliche Kammer” den Dirt, wo bie fürfitichen Angelegenhei⸗
I 3
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108 Berner. — Kammerherr.
ten verhandelt wurden, wohin bie fuͤrſtlichen Eintünfte flofien, bie
fuͤrſtliche Caſſe, endlich auch die den fürftiichen Haushalt leitende Be:
hoͤrde bezeichnet. Der an der Spitze dieſer Behörde (Rammercolkegium,
Rentkammer) ftehende Beamte wurde Kämmerer, Rammermeifter, auch
ber Landfchreiber genannt ; bie Unterbeamten hießen Amtsverwwalter, Kell⸗
ner, Vögte xc. .
Die Geſchaͤfte der Kammer beftanden urfprünglich hauptſaͤchlich in
ber Beauffihligung und Leitung der Domaͤnenwirthſchaft, in der
Einbringung dee herifchaftlihen Gefälle, twie Zehnten, Zinfen, ſo⸗
dann in ber Verwaltung dee Regalien, mie des Jagd⸗, Straßen⸗,
Muͤnzregals etc.; endlich) in ber Verwaltung des Steuermwefens, fo fern
nicht eine eigene unter ber Verwaltung der Landftände ftehende Steuer:
caſſe vorhanden war. \
| Zwiſchen den Einkünften aus Domänen, Gefälln und Regalen
und jenen aus Steuern beftand jedoch ein fehr wefentlicher Unterfchieb.
Jene bildeten das regelmäßige, ordentliche, der Einwirkung der Landſtaͤnde
mehr ober weniger entzogene, alfo hauptſaͤchlich in ben Berufs-
reis der Kammer fallende fürfllihde Eintommen; bie
Gteuern aber das außerordentliche unbebingt von ber Verwilligung der
Stände abhängige, oft felbft von ihnen verwaltete Einkommen.
An die wiethfchaftliche Thätigkeit der KRammerbehörbe knuͤpfte fich auf
natürliche Weife eine polizeiliche an. Mit der Sorge Vermeh⸗
rung der fuͤrſtlichen Einkuͤnfte hing die Sorge fuͤr Verbeſſerung des Zu⸗
ſtandes der Unterthanen, mit der Verwaltung der Regalien, z. B. der
Muͤnze ıc., in mannigfacher Beziehung eine polizeiliche Thaͤtigkeit zuſam⸗
men. Se unausgebildeter die Polizei, je enger ihre Geſchaͤftskreis war,
defto Leichter ließen ſich verfchiedene Zweige derfelben mit ber natürlichen
Thätigkeit dev Kammerbehörde in Werbindung bringen. Selbſt eine
rich terliche Thaͤtigkeit fiel in ihren Berufskreis: die Entſcheidung
von adminiſtrativ⸗ contentioͤſen Kammerſachen und bie Beſtrafung ber
Uebertretungen von Finanzgeſetzen. (Vergl. namentlich Bergius, Po:
lizei und Cameralmagazin. 1767. 1. Band. Art. „Kammer.“)
Mit dem Anwachſen der finanziellen Geſchaͤftsmaſſe wurden die
Kammern in eine Reihe verfchiebener Behoͤrden geſpalten. Aus ihr ha⸗
ben fidy die Kinanzminiflerien,, die Finanzkammern, die Steuercollegien,
. die Zolldirectionen, bie Oberrechnungskammern ıc. entiwidelt; die poli-
zeiliche Thaͤtigkeit iſt an die Behörden des Minifteriums des Innern
übergegangen, und die Verwaltung der fürftlihen Privatdomänen iſt
wenigſtens in einzelnen Staaten, mo eine Ausfcheibung des Staats⸗
und des fürftlihen Familienguts zu Stande gekommen ift, eigenen Hof:
bomänenfammern übertragen morben.
| Dr. Wolfgang Sduͤz.
(st Kammer I. und II, f. Conſtitution und Zweilammer:
yſt em.
Kammergut, f. Domainen.
Kammerherr, Kammerjunker, ſ. Hof.
j
Haut und bie Kantifche Baitefopitz — Sr Kanes
Leben und Wirken überhaupt‘). Immanuel Kant, biefes
—— hrs Diitofenbie ben man nicht mit Unrecht den Herkulee
deu Denbern —
—— bat, und weicher einen größeren Einfluß als irgend ein Andere,
namentlich nun Philoſoph auf Mit» und Nachwelt ausgehbt, war zu
in Preußen 1724 am 22. April geboren. Sein Vater (bee
berflammmte, die in Schottland gelebt hatten, und fi Eant
| —* war Sattiermeiſter und zeichnete ſich Durch feine — Rechtuch⸗
Beit eben fo ſehr aus, als feine Mutter in ihre innige Froͤmmigkeit.
Kant feibft Hat fpäterhin beflimmt und dankbar dem toebiehätigen ia
Auf diefes Gharakters feiner Eltern und feiner fa „pietiſtiſchen“ Er⸗
Ziehung auf feine ganze Entwickelung anerkannt. Im Sabre 1732 Um
ex (von einem Oheime mütterlicher Seite, dem Schuhmachermeiſter Rich⸗
‘ter, unterflüst) auf das Königsberger Gymnaftum (Collegium Frideri-
cianum), auf weichem er bi6 zu 1760 biteb, wo ee bamıi zur
eine Fortſ
Giaffiker aus. ( Unter feinen Mitſchuͤlern befand fich Damals ber nachema⸗
ige beruͤhmte Philolog Ruhnkenius, der mit Kant näher .
war.) . Auf ber Univerfität widmete er ſich der Theologie, noch mehr aber
dem Studium dev Phyfik, Aſtronomie, Mathematik und Philofepfe.
In den beiden lektgenannten Disciplinen wr Martin Kunzen, ein
außgezeichmeter Kopf, fein Lehrer. Wie außerordentlich thätig Kant in
den 5 Jahren feines Univerfitäreflubiums — beweif’t am Welten
ſein ſchon 1746 herausgegebenes ausführliches Werk: „Gedanken von dr
wahren Schägung ber lebendigen Kräfte.” Nach Beendigung feiner Stu⸗
dien brachte er einige Jahre als Hausiehrer auf bem Lande zu. Er ver⸗
ſuchte auch einige Male in Dorflicchen zu prebigen, entfagte aber, ze
bet Befegung ber unterften Schulcolegenfthe bei der Königsberger Doms .
ſchule einem nem gewiß nicht Geſchickteren, .nachgefegt warb, allen Au⸗
forhchen auf geiftliches Amt (wozu aud wohl die Schwaͤche
Duft mit PN haben mag) und wibmete fid) von feinem SO. !
5 an er! bem Doppelberufe bes akademiſchen Lehrers und bes
Saite
in welchem er (zumal in letzterem) ohne Frage das Größte erreicht
2 was bisher von irgend einem einzelnen Menſchen darin erreicht wor⸗
ben iſt. Noch vor feiner Habilitation in feiner Waterftabt gab er (1706),
außer einigen Eleineren in Zeitfcheiften eingerk@ten aſtronomiſchen und _
phyſikaliſchen Abhandlungen, eine „Allgemeine Naturgefchichte und Theo⸗
vie des Himmels oder Verſuch von ber Verfaffung und dem mechanifchen
Te a BT ——
Jahre —— ı und re I
18 herich
r Bert, 17
* vr Kane uber Rofentrans * —*
170 Aeant mad Die Kantifche Philofophie.
Urfprunge bed ganzen Weltgebäudes, nad; Newton'ſchen Grundſaͤtzen ab»
gehandelt” heraus, welche im Weſentlichen ganz diefelbe Theorie des Welts
baues durch blofe Combination von Schlüffen enthielt, die 6 Jahre fpäter
ber berühmte Lambert in feinen kosmologiſchen Briefen (ohne etwas von
‚der Kant'ſchen Schrift zu wiffen) aufftellte, und die Herfchel SO Jahre
fpäter durch feine Beobachtungen volltommen beftätigt fand*)., Am
27. September 1755 vertheidigte er feine Dijfertation: „‚Principiorum
primoraın cognitionis metaphysicae nova dilucidatio.“ In der zuerft
genannten Schrift von der Schäsung der lebendigen Kräfte hatte er bes
reits ſich als Achten Selbſtdenker gezeigt, indem er als 22jähriger Juͤng⸗
ling den berühmteften Männern feiner Zeit und Vorzeit, einem Leibniß,
Wolf, Bernoulli und Anderen, zu widerfprechen wagte, fo wie er auch in der
Vorrede im edlen Seibftgefühle die Worte ausfprach: „Ich habe mir die
Bahn vorgezeichnet, die ich halten will; — ich werde meinen Lauf antres
ten und nichts fol mic, behindern, ihn fortzufegen!
Es ift in der That duferft merkwürdig, daß fich fhon in diefer Ju⸗
gendarbeit miehrere der eigenthuͤmlichen Grundideen der Vernunftkritik fin»
den (fo 3. B. ſchon die Anficht, daß der Raum eine Anfchauungsform ſei,
welche die Gefege enthalte, unter denen unfer Vorflellungsvermögen von
den finnlichen Eindrüden afficirt werde; man findet dafelbft ferner auch die
Anficht ausgeſprochen, daß es an ſich feiende Dinge geben koͤnne, welche nir⸗
gende und nie in unfer menfchliches Vorftellungsvermögen zu fallen vers
möchten), fo wie, daß das, was ſich als Mefultat der Ueberzgeugung durch
diefe Arbeit bei ihm feftfegte und er fpäter in feinen „metaphyſiſchen Ans
fangsgründen der Naturwiſſenſchaft“ vouftändig entwidelte, von da
in die Naturconftsuctionen der Schelling'ſchen Schule übergeflofien ift **).
Noch deutlicher bezeichnete er den eigenen, von ihm eingefchlagenen Weg
buch die gedachte Differtation, aus deren Thema feine Abficht deutlich
hervorleuchtete, der Metaphyſik oder theoretifchen Philofophie eine Revo⸗
Iution zu bereiten, indem er fchon bier die erften Grundfäge derfelben einer
unerbittlich ſtrengen Cenſur unterwarf. In den folgenden Jahren erfchien
von ihm eine bedeutende Zahl kleinerer, theils philofophifcher , theils phy⸗
ſikaliſcher und vermifchter Schriften T), unter denen befonders der ‚neue
Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe” u. f. w. (1758), die „falfhe Spitz⸗
findigkeit der follogiftifchen Figuren‘ (1762), der „einzig mögliche Beweis⸗
. geund zu einee Demonftration des Dafeins Gottes‘ (1763), fcdann die Ab:
handlung „über die Evidenz in den metaphyſiſchen Wiſſenſchaften“ (welche
das Acceffit zur Mendelsſohn'ſchen Preisfchrift hierüber erhielt, 1764 +}),
2* bie deutſche Ueberſetzung von Herſchel's Schrift: „Vom Bau bes
e PL
**) S. Fortlage’s treffliche Abhandlung in ber beutfchen Vierteljahrs⸗
a Per die Stellung Kant’s zur Philofophie vor ihm und nach ihm.‘
9 Bonftändig aufgeführt in Boromsti’s Biographie Kant’. S. 53 ff.
++) ueber die Wichtigkeit diefer Schrift hat ſich neuerdings Friſes ausge
ſprochen. (&. Polemifche Schriften 182%. S. 158.)
Kant und bie Kantiſche Phlloſophie. 11
beſonders aber die Differtation:: „de mundi sensibilis atque intelligibilis,
forma et principiis“ (1770) ebenfalls um deswillen merkwuͤrdig find, weit
in ihnen die Grundzüge feines fpäteren Syſtems ſchon theilweife enthalten
find. Eben fo bezeugen andere feiner: damaligen Gelegenheitsfchriften
(3. B. die „Gedanken beim Ableben des Heren von Funk 1754” und an»
dere mehr), daß Kant ſchon damals ſich mit fichtlicher Vorliebe für Reli⸗
gion und Moral nad) einer Anficht ausfprach, welche fid) weigerte, in den
Meinungen über die Zwecke des Lebens und der Tugend Partei zu neh⸗
men, und fich im Gegentheil mit Hinwegmwerfung aller anderen Hülfe nad)
den reinen Geboten der gefeßgebenden Vernunft richtet, im Vertrauen,
daß, wenn der Menſch auf diefe Art nad) dem von Gott ihm auf feine
Fahrt mitgegebenen Compaſſe feine Schuidigkeit thue, auf der anderen
Seite der Beherrfcher der Meere und Stürme das Seinige hinzufügen
werde, nach dem in einem jener Auffäge angeführten Verfe Pope's: „Daß
Jeder feinen Kreis vollende, den ihm der Himmel auserfehn ” *).
Diefer Punct, daß Kant auf die Grundgedanken ſowohl feiner theoretis
ſchen als praktiſchen Phitofophie fo frühzeitig und durch ſich ſelbſt gekommen
war, iſt wohl zu beachten; denn einerſeits muß eine Philoſophie, die aus einer
ureigenen Anſchauung der Welt, ber Dinge und ber Gedanken entfpruns
gen ift, zu ganz anderen Refultaten führen, als eine folche, die blos aus dem
Studium fremder Lehren und Syſteme hervorgeht; anderfeite kann
nur eine folhe Philofophie, die aus dem inneren Lebensborn hervorquiltt,
auch felbft wieder auf das Leben wahrhaft probuctiv wirken, fo wie eine
foihe auch ſich nie in der Darftellung des außern blofen Schulfuftems
völlig erfchöpfen läßt, deffen Form ohnehin jedes Mal durch äußere zus
fällige Umitände beftimmt wird, die oft dem Werfen der Sache felbft Eintrag
thun **). Einer foichen Philofophie find endlich die Verirrungen der mit feis
nem Buchſtaben Goͤtzendienſt treibenden blinden Nachbeter und Schüler eben
fo wenig zuzurechnen, ale die der felbftdenfenden Nachfolger, die gleich
wohl, ftatt ebenfalls aus ureigner innerer Weisheitöquelle zu fchöpfen,
und über die Welt und das Menfchenteben felbftftändig zu philofophiren,
dieſes Letztere nur über die Schriften des Meiſters thun; vielmehr geht
*) Bortlagea. a. D. IV. S. 103.
**) Auch diefes weift Kortlage a. a. O. in Bezug auf bie Kant'ſche Phi⸗
lofophie nah: „Die Kant'fche Lehre ift alfo gar nicht in dem Grade Sache ber
blofen Berftandesberehnung, in weldem fie diefes, nah der Form
der fpäteren Kant’fchen Schriften zu urtbeilen, wohl fcheinen kann, und in wels
chem fie auch nach dem eingefchlagenen falfchen Begriffe des fogenannten trodenen
und dürren Kantianismus gemeiniglich dafür gilt. Ihr Fundament iſt vielmehr
eine Srundanfhauung des Lebens, welche fchon vom 22. Jahre an fo frifh und
lebendig in Kant’s Adern pulfirte, ald nur der gleichzeitige Klopſtock von feinen
poetiſchen Idealen als Zriebfedern des innerften Lebensblutes feinerfeits in
Bewegung gefegt fein mochte. Aber indem biefe pofitive Kant'ſche Grundan⸗
ſchauung ſich als Maßſtab fowohl an die beutfchen als ausländifchen fpeculativen
Syſteme anfeste, gebar fie eine fundamentale Kritik berfeiben, und trat fo in
der Geſtalt einer Kritik der philofophifchen Speculation überhaupt, ober als eine
Kritik der reinen Vernunft auf.”
172 Kant und bie Kantiſche Philofophie. |
fie wie ein Phöniz aus der Afche blofer Schulform mit verjüngter
Kraft hervor, und es ift mit Recht bemerkt worden, daß erft, feit es Leine
Kantianer mehr gibt, Kant’s Philofophie ihre zeitliche Bedeutung
abgeftreift und ihre ewige erhalten hat*). —
Um auf Kant felbft zuruͤckzukommen, fo hatte Derfelbe gleich beim
Beginne feiner akademiſchen Laufbahn die großen Erwartungen erregt,
die er während ber langen Dauer derfelben auf fo glänzende Weife er-
füllte. Ex gehörte ohne Zweifel zu den ausgezeichnetften akademiſchen
Docenten, namentlich in feinem Hauptfache der Philofophie, über deffen
zwedimäßigite Lehr» und Lernmethode er ſich auch bereits im 3. 1765
in einer eigenen, nur einen Bogen flarten, aber hoͤchſt gehaltvollen
und lehrreichen Schrift ausgeſprochen but *). Kant las über Logik,
Metaphyſik, Anthropologie, über Naturrecht, Moral, Religionsphilofo-
phie oder fogenannte rationale Theologie und Pädagogik; ferner auch
über Mathematik, Phnfit und phufifche Geographie. In den letzteren
beſchraͤnkte ex fich übrigens blos auf die fogenannten Öffentlichen Vor:
lefungen über Logik und Metaphufit, und auf die Anthropologie und
phyſiſche Geographie, welche lebtere beide auch von zahlreichen Zuhoͤ⸗
tern ber nichtftudentifchen gebildeten Bewohner Königsbergs befucht
wurden. Sein Vortrag war ganz frei, in jeder Beziehung hoͤchſt
zwedmäßig, was auch noch ganz neuerlich von einem ehemaligen Bu:
hörer Kant’s, dem berühmteften der deutfchen Giviliften, von Thibaut, aner:
kannt worden ift}), und in allen ben Materien, in welchen es bei
Gegenftand nur irgend erlaubte, hoͤchſt anziehend und begeifternd 4).
. *) Kichte d. I. über Gegenfag und Wendepunct d. Phil. S. 11.
Nachricht von der Einrichtung ber Vorlefungen im Winterhalbiahre
+) ueber die fogenannte hiftorifhe und nichtshiftorifche Rechtsſchule. 1888.
34.
++) Den vollgültigften Beweis hierüber gibt Herder, betanntlid fpäter
Kant’s ner, in feinen Briefen zur Beförderung der Humanität. (W. 1829.
XIV &. 47) in folgenden Worten : „Ich habe das Gluͤck genoffen, einen Philoſo⸗
phen zu kennen, der mein Lehrer war. Cr in feinen blähendften Jahren hatte
bie fröhliche Sunterkeit eines Juͤnglings, die, wie ich glaube, ihn auch in fein
greifeftes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war cin Sit
ungerftörbarer Heiterkeit und Freude; bie gedankenreichſte Rede floß von feinen
Lippenz Scherz und Wi und Laune flanden ihm zu Gebot, und fein Iehrender
Bortrag war der unterhaltendfie Umgang. Mit eben dem Geilt, mit dem er
Leibnig, Wolf, Baumgartens Erufius, Hume prüfte, und die Raturgefege Kepp:
lex’s, Newton's, der Phyſiker, verfolgte, nahm er auch die damals erfcheinenden
Schriften Rouffcau’s, feinen Emil und feine Heloife, fo wie jede ihm bekannt
ewordene Naturentdedung auf, würdigte fie und kam immer zurüd auf unbe-
gene Kenntniß ber Natur und auf moralifhen Werth des Menfchen. Mens
ſchen⸗, Boͤlker⸗, Naturgefchichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren
bie Quellen, aus denen er feinen Vortrag und Umgang belebtez nichts Wiflene:
würdiges war ihm gleichgültig; Leine Kabale, Leine Secte, kein Bortheil, kein
Ramenehrgeiz hatte je für ihn den mindeſten Reiz gegen die Erweiterung unb Auf:
hellung ber Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum @elbfibenten ;
Despotisnus war feinem Gemäthe fremd. Diefer Wann, ben ich mit groͤßter
Dankbarkeit ımd Hochachtung nenne, if Immanuel Kant.‘
Bent und bie Kantiſche Phllofophie. 178
Auch in Hinficht der Pünctlichkeit im Halten ber Vorlefangen war Kant
mußterhaft, fo wie er fid) auch ber Studitenden auf das Baͤterlichſte an⸗
nahm (moräber namentlid, feine Biographie von Jachmann viele interefs
fante Züge enthält). Nichts defto weniger mußte er 15 Jahre hindurch
biofer Magifter oder Privatdocent bleiben, obgleich bereits .1756 nad
feines Lehrers Kunzen Tode eine Ertraorbinars Profeffur derPhiloſophle
und 1758 die Profefiur der Logik und Metaphyſik erledige ward, unb
obgleich er durch König Friedrich II., dem er feine allgemeine Natur:
geichichte ded Dimmeld gewidmet, einen wiederholten Ruf nah Halle
erhalten hatte, den er jedoch aus Liebe zu feiner Vaterſtadt (mie [päter-
bin den Ruf nad) Jena, Erlangen und Mitau) ausſchlug. Friedrich Il.
Hatte hierauf dem Univerfitäts- Euratorium in Königsberg aufgegeben,
bei der erften erledigten Profefiur der philofophifchen Facultaͤt Feinen
Andern ald Kant in Vorfchlag zu bringen. Aber Kant nahm bie erfle
ertebigte Profeffur nicht an, weit fie für die Poefie beſtimmt war, ber er
nicht genugfam gewachfen zu fein glaubte. Endlich wurbe 1770 die ordent⸗
Siche Profeffur der Mathematik vacant, die er annahm, aber fofort gegen
Die Profeſſur der Logik und Metaphyſik vertaufchte. — Am Jahr 1781
enblich (alfo im 57. Jahre feines Lebens) machte Kant fein Hauptwerk
bekannt, „die Kritik der reinen Vernunft‘, welches ſpaͤter eime fo
große Revolution in dee Philofophie hervorbrachte und einen unberechen-
baren Einfluß auf alle Willenfchaften und das Leben felbft gewann,
Anfangs aber mit großer Gleichgültigkeit aufgenommen ward und faft
ganz unbeadhtet blieb. Man fah es (mie Nehberg bemerkt *) nur als
eine neue Erklaͤrung und Werarbeitung von Begriffen, Lehrfägen und
Schluͤſſen au, dergleichen feit dem erften Anfange ber abſtracten Spe⸗
culation fo viele in mannigfaltigen Seftalten erfchienen find. Es ward
neben Lambert's Anlage zur Architektonik geſtellt und hätte mit andern
Erzeugnifien eines unfruchtbaren Tiefſinnes in der dunkeln Ruͤſtkammer
ber Metaphyſik bleiben mögen, wenn ber Verfaffer nicht im Untillen
über das Mißgefchid feines Werkes einen neuen Verſuch gemacht hätte,
feinen Ideen mehr Eingang zu verfchaffen. Worzüglich war er durch
eine Beurtheilung der Kritik der reinen Vernunft gereizt, die in den
Böttingifchen gelehrten Anzeigen erfhien und zur Hälfte von Garve,
zur Hälfte von Feder herruͤhrte, ſchlecht zufammengefügt und innerlid)
wiberfprechend,, dabei in einem Zone angemaßter Ueberlegenheit abgefaßt
war, der den Schriftſteller um fo mehr verlegen mußte, ba die ganze
Beurtheilung auf Mißverftändniffen beruhte. Garve hat fi in der
That nachmals feines Antheils gefhämt. Kant warb durch jene durch⸗
aus verfehlte Beurtheilung veranlaßt, die Hauptideen feines Syſtems
herauszuheben und unter dem Titel: Prolegomena zu jeber
Metaphyſik, die künftig als Wiffenfhaft wird auftreten
wollten (1784) zu eridutern *). Diefes Mat flellte er fie wirklich in
*) Bermifchte Schriften I, 13.
22) Ironiſch fagte Kant in der Vorrede: „Dieſes lange Schweigen (in Dinficht
der Kritik der reinen Vernunft) bemweif’t doch einen Auffchub des Urtheils und alfo
178 Kant und die Kantiſche Philofophie.
das hellſte Lichte. Die kuͤrzere und leichter verftändliche Darftellung ber
Brundzüge einer neuen Philofophie fagte dem allgemeinen Sinne beffer
zu und leitete die Aufmerkſamkeit auf die Keitit der reinen Vernunft,
die Anfangs einem todtgeborenen Kinde unfruchtbärer Speculation aͤhn⸗
ih ſchien; nunmehr aber plöglic eine nicht geahnete Herrſchaft über
die Köpfe der jüngern Welt erlangte. — Diefes ging von Jena aus,
indem die daſelbſt feit 1785 (unter des Philologen. Schäg Redaction)
erfcheinende allgemeine Literaturzeitung gleich Anfangs die hohe Bedeu:
tung ber Kant chen Philofophie anerkannte, bereits im 4. Monateflüde
ihres erſten Jahrgangs (in der Anzeige von Kant’d damals herausge:
kommener Grundlegung zur Metaphufil der Sitten) eine bevorftehende
Revolution der Philofophie durch diefelbe verfündigte *) und ihre Abficht
erklaͤrte, nach und nach eine vollftändige Weberficht der Kant'ſchen Lehr:
fäge und der durch fie im Reiche der Philofophie bewirkten Veraͤnde⸗
rungen mitzutheilen, welcher Plan auch in einer ſehr beftiedigenden
Weiſe zue Ausführung gebracht wurde **). Den größten Einfluß in bie
fee Hinſicht hatte ohne Zweifel K. L. Reinhold duch feine ihrer
gefhmadvollen, blühenden Sprache, ihrer Lebhaftigkeit und Klarheit
wegen hoͤchſt anziehende Darftellung der Hauptrefultate. der Kant’fchen
Kritik der reinen Vernunft in feinen ‚Briefen über die Kantifche Phi:
lofophie‘‘, welche in dem von Wieland herausgegebenen viel gelefenen
deutſchen Merkur feit dem Augufiftüde des Jahres 1786 zum Vorfcheine
Samen, fpäterhin (1790 und 1792) mit Erweiterungen und Zufägen ber:
ausgegeben wurden, einen ungetheilten, von vielen Seiten. ber ſich aus⸗
fprechenden Beifall gewannen, in welhen Kant felbft öffentlich mit ein-
flimmte, und welche ſich gemeinfchaftlid, mit den Bemühungen der allgemei:
nen Literaturzeitung das ruͤhmliche Verbienft-erwarben, in die Theilnahme
an bem neuen Lehrgebaͤude, welche bis dahin auf den Kleinen Kreis der
Philoſophen von Profeffion ſich befhränkt Hatte, das ganze literarifche
auch einige Vermuthung, daß in einem Werke, welches alle gewohnten Wege
verläßt und einen neuen einfchlägt, in den man ſich nicht fofort finden kann, boch
vielleicht etwas liegen möge, wodurch ein wichtiger, aber jetzt abgeftorbener Zweig
menfchlicher Erfenntniß neued chen und Fruchtbarkeit befommen könne, mithin
eine Bebutfamkeit, durch Fein übereiltes Urtheil den noch zarten Pfropfreiß ab-
zubrechen und zu zerftören.’’!!
*) Nr. 80 den 7. April 1785, woſelbſt e8 unter Anderem heißt: ‚Dit
Kant’s Kritik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erfchienen, ift
eine neue Epoche ber Philofophie angegangen. Wir wiflen fehr wohl, daß das
viel gefagt ift, behalten uns aber vor, es bei einer anderen Gelegenheit zu bewei-
fen. Roc) wird diefes tieffinnige Wert von ben beften Köpfen der Nation ſtudirt,
noch iſt es als neu zu betrachten, bie Revolution, die es ftiften wird und fliften
muß, ift nur erft im Anfange begriffen.” Vergl. Ernft Reinhold, allg.
Geſchichte der Philoſophie. IH. &. 14.
+) Vorzügliches Verdienſt kommt in diefer Hinficht ohne Zweifel dem Su:
riften Hufeland au (dem wahrfcheintihen Berfaffer der eben angeführten Re⸗
cenfion), welcher ebenfalls fchon 1785 in feinem Verſuche über den Grundfag des
Raturrechts (beſonders &. 226 ff.) auf bie Wichtigkeit ber Kantifchen Philofophie,
und namentlich auch auf ihren praftifchen Einfluß aufmerffam gemacht hat.
| Kant und die Kantifche Philoſophie. 178
Publicum Deutfchlands hineinzuziehen und einer bis dahin noch nicht
erhörten Einwirkung einer philofephifchen Theorie auf ihr Zeitalter dem
Weg zu bahnen. Da noch diefes hinzukam, daß Reinhold, der bad nach
der Belanntwerdung biefer Briefe als Profeffor der Philofophie nach Jena
berufen worden war, und ber im Herbſte des Jahres 1787 feine Vor⸗
lefungen daſelbſt eröffnete, mit dem gluͤcklichſten Erfolge feine Zuhörer
u dem Verfländniffe der Kantifchen Lehrbegriffe anleitete, da in kurzer
it dorthin von allen Gegenden Deutfchlands, feibft aus dem entferns
teften Puncten, ftudirende Jünglinge und zum Theil aud) Männer, - die
ihre alademifchen Studien bereit vollendet hatten, firömten, um duch
Reinhold in diefes Verſtaͤndniß eingeweiht zu werben: fo wurde bie
Univerfität Iena der Hauptverbreitungsort der. Kantifhen Philoſophie,
und behauptete in diefer Hinficht eine weit größere Bedeutung für
Deutſchland, als Königsberg felbft )). In der That konnte nur im
Jena eine Phitofophie, wie die Kantifche, deren Grundgedanke die Frei⸗
heit und Selbſtſtaͤndigkeit des Geiſtes im Forſchen und Handeln, die
Emancipation der Wiflenfchaft fomohl aus dem blinden theologifchen
Auctoritäteglauben, als auch aus den dogmatifhen Feſſeln der bloſen
Schulſyſteme, und deren Haupttendenz die Erhebung ber hödhften prak⸗
tiſchen Intereſſen über die blos fpeculativen war — eine mahrhafte
Entwidelung finden ; benn die hohe Megentenweisheit Karl Auguft’s,
weiche die größten Geifter der Nation um fich zu verfammeln mußte,
anerkannte und fchirmte die Geiftesfreiheit als das höchfte dußere
But aller aͤchten Jünger der Wiſſenſchaft; mährend gerade damals in
Preußen die Berfinfterungsperiode der Wöllnerinde begann; fo wie
überhaupt in Jena der innige Zufammenhang ber Philofophie mit allen
übrigen Wiffenfhaften und dem Leben felbft zuerft mit voller Klarheit
erfannt und praktifc verwirklicht ward **). Die meitere Darftellung
des in der Sefchichte der Literatur ohne Stage einzigen „Jenenſiſchen
Denkproceſſes“ (durch Weinhold, Fichte, Schelling, Hegel, Fries)
kann natürlich hier nicht gegeben werden ***), zumal da Kant felbft an
demfelben nicht unmittelbar Theil nahm (mit Ausnahme feiner berühmt
gewordenen Aeußerung über die Fichtifche Wiſſenſchaftslehre im Intels
ligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung 1799, in welcher ex diefelbe
als ein gänzlich verfehltes Werk erklärte; ein Urtheil, deffen Richtigkeit
ſich fpäter bekanntlich vollfommen bewaͤhrt hat und indirect von Fichte
feibft fpäter anerkannt wurde, indem er in der neueften Darftellung
feines Spitems feinen früheren idealiftifchen Standpunct mit dem realis
ftifhen vertaufchte). — Nady einer Reihenfolge Beinerer Schriften, die
meiftens in der Berliner Monatsfchrift 1784 u. f. w. veröffentlicht
wurden, gab Kant 1786 feine metaphyſiſchen Anfangsgruͤnde der Nas
*) 8. Reinhold, allgemeine Gefchichte der Philofophie. II. &. 137 ff.
*%) Scheibler, die Idee der Univ. und ihre Stellung zur Staatsgewalt.
©. 249 ff. Vergl. Troxler, bie Gefammthochtheile der Schweiz. &. 167.
=) Bergi. Hortlage a.a. O. S. 122.
176 Kant und die Kantifhe Philofophie. -
turwiſſenſchaft und im folgenden Jahre die Kritik ber praktiſchen Ver⸗
nunft heraus; in weicher er auf biefeibe Weiſe, wie in der Kritik der
seinen Vernunft die Nichtigkeit ber bisherigen Metaphyſik, fo jetzt bie
Nichtigkeit der bisherigen Woralphilofophie, die man nur auf bie
Strundfäge der Gluͤckſeligkeit oder Vollkommenheit gegründet hatte, nach⸗
wies, und an ihrer Stelle ein vollſtaͤndiges Syſtem aus den erſten Grund⸗
“ begriffen mit imponirender Confequenz entwidelter und mit ruͤckſichts⸗
Lofer Strenge bucchgeführter Sittengebote feßte, wodurch er freitich nicht
“ weniger gegen die hergebrachten Anfichten anftieß, aber doch ebenfalls einen
geoßen Einfluß auf die gefammte Denkart ber Ration ausübte. Den bei:
den genannten Kritiken fügte er fpäter (1790) noch die „ber Urtheilskraft
binzu und legte nad) feiner Anficht durch dieſe Werke das Fundament
zu einem neuen Lehrgebäube der gefammten Philofophie, deſſen einzelne
Faͤcher zum Theil noch von ihm felbft bearbeitet worden find*). In
Hinficht feines aͤußeren Lebens iſt nur noch zu bemerken, daß es ruhig
und ungeftdrt verfloß, und ihm im In⸗ und Auslande bie allgemeinfte
gebührende Anerkennung zu Shell ward, mit einziger Ausnahme einer
Differenz mit der preußifchen damaligen Regierung, wegen feiner „Re:
ligion innerhalb der Grenzen ber blofen Vernunft‘, in Hinficht welcher
Kant's Wirkfamleit als öffentlicher Lehrer der Philofophie verdächtigt
wurde. Unter dem Wöllnerfhen Dinifterium erfolgte (unter'm 1. Octo⸗
ber 1794) eine Eönigliche Cabinetsordre, weiche Kant wegen jener Schrift
zur Rechenſchaft zog und ihm verbot, fi) auf dem Katheber oder in
Schriften über die Religion fernerhin auszulaſſen. Damals erfuhr man
nichts weiter von dieſer Sache, bis Kant felbit in der Vorrede zu dem
„Streit der Facultaͤten“ die Cabinetsordre und feine Verantwortung
veröffentlichte. In legterer erklärte er, daß ex dem Königlichen Gebote
gehorfam fein und ſich fernerhin aller Öffentlichen Vorträge, die Reli:
ion betreffend, es fei die natürliche, oder die geoffenbarte, ſowohl in
orlefungen, als in Schriften als Seiner Löniglihen Majeſtaͤt
getreuefier Unterthan gänzlich enthalten werde; — ein Ausbrud,
den er, wie er felbft fagt, vorfichtig wählte, bamit er nicht der Frei:
heit feine® Urtheils in diefem Religionsprocefie auf immer, fondern
nur fo lange Seine Majeftät am Leben wäre, entſagte. (Man bat
diefes als eine fogenannte reservatio mentalis fehr anftögig und mit
Kant’s fonftigem moraliſchen Rigorismus ganz in Widerftreit gefunden,
aber dabei offenbar nicht bedacht, daß kein Regent in der Welt das
Recht hat (wenn auch die Macht!), einem Schriftfleller kuͤnftige,
no gar nicht vorhandene Werke zu verbietm, und dag Kant bierbei
in gerechter Nothwehr ein angeborenes, unverdußerliches Menſchenrecht
gegen den Machtſpruch eines abfolutiftifchen Gewalthabers vertheidigte,
*) Die Religion innerhalb der Grenzen der blofen Vernunft. Königsberg,
1798 verm. Aufl. 1794); metaphyſiſche Anfangsgründe der Tugendlehre.
König ‚ 1797; metaphyſiſche Anfangsgründe ber Fechtslehre. Bar er
1799; Anthropologie in pragmatiſcher Dinfiht. Koͤnigoberg, 1798. — die:
fem Jahre erfchien auch Kant’6 lente Schrift: ber Streit ber ten.
Lant und die Kantifche Philoſophie - 17%
> gegen welchen, als ſolchen, er nur bie Klugheits⸗ und Rechtspflicht bes
äußerlihen Gehorfams hatte, die, wie alle Rechtspflichten, ..nach
dem DBernunftrechte nicht über die Grenze bed Lebens hinausgeht.) In
den letzten Jahren feines Lebens, deſſen lange Dauer er freilich felber
feinem urfprünglic, ſchwaͤchlichen Körper durch unausgefegte Aufmerffams
Eeit und Sorge abgeswungen hatte, nahmen feine. Geiftesträfte nach
und nad) fo bedeutend ab, daß er in der letzten Zeit völlig geiftes-
ſchwach oder kindiſch ward. Am 12. Februar 1804 befreite ſich endlich
diefer große Geiſt von den irdiſchen Banden und verließ bie Sinnen-.
melt in Zeit und. Raum, deren Nichtigkeit in Vergleich mit dem wah⸗
ren, ewigen Wefen der Dinge er fo deutlich erfannt und gelehrt hatte.
Ueber die fittliche Größe feines Charakters, feine große Kraft der Selbſt⸗
beherrſchung, feine firenge Rechtlichkeit, ungeheuchelte Frömmigkeit, fo
wie über feine Zapferkeit im Forſchen, feinen ‚regen Antheil an allen
großen Intereffen, namentlic des politifchen Lebens, ift nur Eine
Stimme, und er verdient gewiß den ihn ſchon bei feinen Lebzeiten bei⸗
gelegten Namen des. Königsberger Weifen.
Mir glauben diefe kurze biographiſche Schilderung Kant's nicht
beſſer fchließen zu innen, als mit einer allgemeinen Charakteriftit
Kants und feines Wirkens aus ber Feder eines Mannes, der als units
verfellfter Gelehrter, namentlich Sprachforſcher, und als Selbſtdenker
einen eben fo großen Ruhm ſich erworben hat, wie als Staatsmann,
nämlich With. v. Humboldt's, ‚der in der Einleitung feines „Brief⸗
wechfels mit Schiller” (S.43) folgendermaßen ſich ausdrüdt: „Kant
unternahm und vollbrachte das größte Werk, das vielleicht je die philo⸗
fophirende Vernunft einem einzelnen Manne zu banken gehabt hat.
Er prüfte und fichtete das ganze philofophifche Verfahren auf einem
Wege, auf dem er nothwendig den Philofophen aller Zeiten und aller
Nationen begegnen mußte; er maß, begrenzte und: ebnete den Boden
deffelben , zerflörte Die darauf angelegten Zruggebäube und ftellte nach
Vollendung diefer Arbeit Grundlagen feſt, in welchen die philofophifcye
Analyſe mit dem durch die früheren Spiteme irre geleiteten und übere
täubten natürlichen Menfchenfinn zuſammentraf. Er führte im wahr⸗
ften Sinne des Worts die Philofophie in bie Tiefen des menſchlichen
Bufens zurüd. Alles, was den großen Denker bezeichnet, befaß er in,
vollendetem Mafe und vereinigte in fih, mas ſich fonft zu widerſtre⸗
ben ſcheint, Tiefe und Schärfe, eine vielleicht nie übertroffene Dias
lektik, an die doch der Sinn nicht verloren ging, auch die Wahr:
heit zu faffen, die auf diefem Wege nicht erreichbar ift, und das phis
tofophifche Genie, welches die Fäden eines weitläufigen Ideengewebes
nach allen Richtungen hin ausfpinnt und alle vermittelft der Einheit
der Idee zufammenhält, ohne welches Eein philoſophiſches Syſtem moͤg⸗
lich fein würde. Bon den Spuren , bie man in feinen Schriften von
feinem Gefühle und feinem Herzen antrifft, hat fhon Schiller richtig
bemerkt, baß der hohe philofophifche Beruf beide Eigenfhaften (des
Denkens und bes Empfindens) verbunden fordert. Verlaͤßt man ihn
Staats = Leriton. IX. 12
178 - Auut und die Kantiſche Philofophie:-
aber auf der Bahn, wo fi fein Geift nad Einer Richtung hin zeigt,
fo lernt man das Außerordentliche des Genies diefes Mannes auch an
feinem Umfange kennen. Nichts, weder in der Natur, noch im Ge⸗
biete des Willens läßt ihn gleichgültig, Alles zieht er in feinen Kreis;
aber da das felbfithätige Princip in feiner Individualitaͤt ſichtbar bie
Oberhand behanptet, fo leuchtet feine Eigenthuͤmlichkeit am Strahlend⸗
fien da hervor, wo, wie in den Anfichten über den Ban des geflicnten
Himmels, der Stoff, in fih erhabner Natur, der Einbildungstraft
unter ber Leitung einer großen Idee ein weites Feld darbietet. Denn
Größe und Macht der Phantafie ftehen in Kant der Tiefe und Schärfe
des Denkens unmittelbar zur Seite. -. Ein großer Mann tft in jeder
Sattung und in jebem Zeitalter eine Erfcheinung, von der ſich mei:
ftencheil® gar nicht und Immer nur fehr unvolllommen Rechenfchaft
‚ablegen (dit. Wer mödıte es wohl unternehmen, zu erfldten, wie
Soethe ploͤtzlich daſtand, der Fülle und Tiefe des Genies nach, gleich
groß in feinen früheften, wie in feinen fpäteren Werken! und doch
ründete er eine neue Epoche der Poefie unter uns, ſchuf die Poeſie
Überhaupt zu einer neuen Seftalt um, drüdkte der Sprache feine Form
auf, und gab dem Geifte feiner Nation für alle Folge entfcheidende
Smpulfe. Das Genie, immer new und die Regel angebend, thut fein
Entftehen erft durch fein Dafein Bund, und fein Grund fann nidt
in emem Fruͤheren, ſchon Bekannten gefucht werden; mie es erfcheint,
ertheilt es fich felbft feine Richtung. Aus dem dürftigen Zuftande, In wel:
hem Kant die Philofophie eklektiſch herumirrend vor ſich fand, vermochte
er Beinen antegenden Funken zu ziehen. Auch möchte es ſchwer fein,
zu fagen, ob er mehr den alten oder ben fpäteren Philoſophen ver:
dankte. Ex felbft, mit diefer Schärfe der Kritik, die feine hervorſte⸗
chendſte Seite ausmacht, war fihtbar dem Geiſte der neueren Zeit nd«
her verwandt. Auch war es ein charakteriftifher Zug in ihm, mit
allen Kortfchritten feines Jahrhunderts fortzugeben, jelbft an allen Be⸗
gegniffen des Tages den lebendigften Antheil zu nehmen. Indem er
mehr, als irgend Einer vor ihm, die Philofophie in den Tiefen der
menfchlihen Bruſt ifolirte, hat wohl Niemand zugleich fie in fo man-
nigfaltige und fruchtbare Anwendung gebracht. Diefe in alle feine
Schriften reichlich verftreuten Stellen geben ihnen einen ganz eigens
thuͤmlichen Reiz ).“ -—
„Wie viel oder wenig ſich von der Kantiſchen Philoſophie bis heute
- — — -
*) Wir erinnern hierbei an das Lreffende Wort Klinger s (Werke Bd. XII.
S. 208): „Wären die Deutichen fo gerecht gegen ihre großen Männer, als fie es
gegen die großen Männer anderer Kationen find, fo würde man fchon Längft ges
jagt und in Schriften erwiefen haben, dag kin Philoſoph der alten und neuen Zeit
erhabenere Gedanken Aber den Menfchen , feine wahre Würde, die Welt und Gott
gedacht, in der einfachſten, anfpruchtofeften Sprache auögchrädt hat, als Kant;
und in ſoicher Anzahl), daß man erflaunen würde, wenn man fie in einem Aus:
zuge zulammenläfe. Wan fpricht aber in Deutfchland noch immer lieber von den
erhabenen poetifchen Gedanken Plato's, bie doch mehr durch Afthetitche Kunft:
Kit und die Kantiſche Philoſophie 199
erhalten Hat und kuͤnftig erhalten wird, maße ich mir nicht an zu
entſcheiden; allein breierlei bleibt, menn man den Ruhm, den Kant
feiner Nation, den Nugen, den er dem fpeculativen Denken verliehen
hat, beflimmen will, unverkennbar gewiß. Einiges, was er zertruͤm⸗
mert bat, wird fich nie wieder erheben; Einiges, was er begründet
bat, wird nie mieder untergehen; und was bas MWichtigfte ift, fo bat
er eine Reform geftiftet, mie bie gefammte Gefchichte der Philoſophie
wenige ähnliche aufmweift. So wurde bie bei dem Erfcheinen feiner
Kritik der reinen Vernunft unter uns kaum noch ſchwache Kunde
von ſich gebende fpeculative Philoſophie von ihm zu einer Regſamkeit
eweckt, die den deutfhen Geiſt hoffentlich noch lange beleben wich.
a er nicht ſowohl Philofophie, als zu philofophiren lehrte, meniger
Gefundenes mittheilte, ale die Tadel des eigenen Suchens anzündete,
fo veranlaßte er mittelbar mehr ober weniger von Ihm abweichende Sp:
fteme und Schulen, und es charakteriſirt die hohe Freiheit feines Gets
ſtes, daß er Philofophien, wieder in volltommener Freiheit und auf ſelbſt
gefchaffenen Wegen für fi, fortwirkend, zu wecken vermochte.
MH. Kant's Phitofophie. Es ift natürlich hier. nicht der Det,
in eine ausführliche Darftellung und Prüfung des Kant'ſchen Syſtems
einzugehen , fondern es koͤnnen hier nur deffen Grundzüge entwidelt
werden, fo weit diefes nöthig ift, um die große, nicht blos volksthuͤm⸗
che, d. h. auf Deutfchland unmittelbar ſich beziehenbe, Tondern auch
welthiftorifche Bedeutung defjelben zu verftehen *).
Das Eigenthümliche der Kantiſchen Phitofophie befteht vornehmlich m
folgenden drei Puncten : zunaͤchſt in formeller Hinficht in dem fogenannten
Kriticiemus oder der Eritifhen Methode des Philofophirens,
fodann in Hinficht des Gegenftandes oder Nefultates in dem Spftem
des fogenammten transcendentalen Idealismus, und endlich
in dem fogenannten Primat der praftifhen Vernunft und
Philoſophie vor der theoretifhen. Um biefes Alles deutlich
einzufehen, muß man nothiwendig auf das Wefen und die Probleme
der Philofophie überhaupt, fo wie auf die gefchichtlich gegebenen Verfuche
und Methoden ihrer Löfung zurüdgehen. In Hinficht des erften Punes
te6 muß der Begriff der Philofophie natürlih nicht von dem Stand»
puncte eines einzelnen Syſtems, fondern vom welthiftorifhen Ges
— —z — — —
griffe hervorgebracht find, als durch die hohe Kraft des Verſtandes, welche ben Kb⸗
nigsberger Weifen nicht allein bezeichnet, ſondern vor allen ſpeculativen Philoſophen
alter und neuer Zeit auszeichnet.”
*) Die Literatur ber Kantifchen Philofophie findet fih in Wachler's Hob.
» Geſch. d. Lit. 1824.1V. ©. 168. Krug’s phil. Wörterb. sub „Kant; am
Vollftändigften in Kiefewetter’d Darft. d. wichtigfl. Wahrh. db. Erit. Phi⸗
loſ. Berlin, 1824. Won neuern Schriften find zu vergleihen: Fichte (d. I.)
Beiträge zur Charakteriftit d. Philof. 1829. &. 108 ff. Beyeke, Kant und
d. philof. Aufgabe unfrer Zeit. 1832, W. Menzel, deutfche Literatur Bd. 1.
S. 157. Stahl, Rechtsphiloſophie Th. J. S. 124. Rehberg, Verm. Schrifs
ten. I. S. 14. 62 ff. Shalybäus, hiſtor. Entwickelung der fpeculativ.Philof.
von Kant bis Hegel 1837 8.19 ff. Roſenkranz, Geld. d. .. Phil. 1840,
⸗
4
180 Kant und bie Kontifche Philoſophie.
ſichtspuncte, d. h. ſie ſelber muß als Thatſache der Geſchichte auf:
gefaßt, mithin nachgewieſen werden, was der Menſchengeiſt eigentlich,
Indem er die Philoſophie hervorbrachte, wollte? Auf dieſe Weiſe wuͤrde
man ſelbſt in dem Falle, daß die wahre Philoſophie noch gar nicht
aufgefunden oder aufgeſtellt ſei, doch ihren wahren oder richtigen Be⸗
griff faſſen koͤnnen (oder genauer: ihre Idee); daher auch uͤber dieſe
weſentlichen Probleme der Philoſophie ſo ziemlich alle Philoſophen ei⸗
nig ſind, ſo verſchiedene Wege ſie auch zu ihrer Loͤſung eingeſchlagen
haben. Alles Philoſophiren überhaupt beſteht nun in einem ſelbſtſtaͤn⸗
bigen, von fremder Auctoritäe unabhängigen Nachdenken über die
legten Gründe, Gefege und Zwecke im Sein ber Dinge
überhaupt und des Menfcheniebens insbefondere, und Philofophie ihrer
Idee nad) iſt nichts Anderes, als die Wiſſenſchaft von dem Räthfel
der Welt und der Beſtimmung des Menfhen. As Wiffenfchaft kommt
fie natürlich nur bei den Völkern vor, die ſich zur eigentlichen wiſſen⸗
(haftlihen Gultur erhoben haben, mithin fi nicht mehr damit be:
gnügen, etwa In Bilderfpielen und Mythen jenes Raͤthſel der Dinge und
des Lebens ſich zu deuten, fondern die denkend im beflimmten Ur-
theilen und Schlüffen daffelbe zu ergründen ſtreben. Da ferner nicht
blos Wiffen und Denken überhaupt, fondern Selbſtdenken weſent⸗
ich zum Philofophiren gehört, fo kann Philofophie fi nur da fin-
den und entwideln, wo ber Geift der Forſchung fidy unabhängig von
den pofitiven Religionen und deren bogmatifchen oder theologifchen Aus:
fprüchen über jenes Raͤthſel fich emancipiet hat. Aus diefen Gründen
datirt alle Philofophte vonden Griechen, indem bei diefen zuerft, im
Gegenfas gegen bie mythologifhen Kosmogonieen und Theogonieen der
Dichter und gegen die myſterioͤſe Priefterweisheit, wiffenfhaftlidye
Syſteme von einer Reihenfolge von Selbfidentern aufgeftellt wurs
den, was außer der glüdlichen geiftigen Organifation diefes Volkes bes
onders in feiner freien republicanifhen Staatsverfaffiung und dem
ichtvorhandenfein einer eigentlichen Prieflerkafte feinen Grund hatte*)
während der allerdings früher gebildete, aber despotifch und theokratiſch
regierte Orient nie über die Bilderfpiele der Mythologie und den blin⸗
den Glauben an die pofitiven' Priefterfagungen binauslam”**’) Es
kann hier nicht näher erörtert, aber wohl als bekannt vorausgefegt wer-
den, daß die Griechen in dem kurzen Zeitraume von etwa zwei Jahrhun⸗
derten (von Thales bis Arifloteles) in ihrer Philofophie eine fo große
Melt der Gedanken erfchufen, daß an ihr, um fie in ihrem vollen
Reichthume zu erfaffen und ſich anzueignen, die civilifirte Menfchheit
ſich ſeitdem über zwei Jahrtauſende abgearbeitet hat ***). „Ohne in
das Einzelne hier eingehen zu koͤnnen, nennen wir nur die drei Na:
© 1. Sr Schlegel, Vorlefungen über die Geſch. d. Liter. I, (Werke 1822. 1.
++) Seeren, Ideen Ab. d. Politik. Th. II. Scheidler, Idee ber
univ. &. 138. Yol. ©. 180.
er) Garone, Kosmorama ©. 182,
l
J
Kant und die Kantiſche Philoſophie. 181
men, an welche ſich die ganze und hoͤchſte Bedeutung aller Philoſophie
knuͤpfen laͤßt: Sokrates, Platon und Ariſtoteles; wir werden
jedoch die Nachweiſung, warum der Erſtgenannte Epoche gemacht hat, an
einem andern Orte geben, und bemerken hier nur noch, daß Platon und
Ariftoteles nicht nur den vollftändigen Umfang der griehifchen
höhern Bildung bezeichnen *), fonbern das ganze Gebiet des menſch⸗
lichen Wiffens und Denkens gewiffermaßen erſchoͤpft und den größten
Einfluß auf die Nachwelt gehabt haben. Insbefondere in Bezug auf
die (wie bald näher gezeigt werden wird) Präjudicialz oder Cardinal⸗
frage aller Metaphyſik, nämlich die nad) dem Urfprung unferer Er⸗
kenntniß, find die genannten zwei großen Geifter vorzugsmeife die Res
präfentanten der zweifachen Grundrichtung alles Philofophirens, die fich
duch die ganze Gefchichte der Philofophie hindurchzieht und ale der
Kampf bes Rationalidmus und Empirismus bezeichnet zu werben pflegt.
Diefer Kampf liegt gewiſſermaßen in bem Weſen der Erkenntniß
felbft gegründet, in fo fern er im letzter Inſtanz auf der zmeifachen
Art unfers Abſtractions⸗ und Reflexionsvermoͤgens beruht, welches ent-
weder von dem Allgemeinen, der Einheit, wie diefelbe in der Vernunft,
als dem hoͤhern Erkenntnißvermögen, unmittelbar aufgefaßt wird, ober
von dem Befondern, dem Mannigfaltigen der Sinneswahrnehmung oder
Erfahrung ausgeht, und‘ entweder in dem Einen oder dem Andern da®
wahre Weſen der Dinge zu finden meint. Schon in ber älteften
griechifchen Phitofophie traten diefe beiden Grundrichtungen des philo>
foppifchen Denkens aus einander, indem die ionifche Schule dem Em⸗
pirismus, die eleatifche und puthagoreifche dagegen dem Rationaliemus
huldigte; noch entfchiebener aber in Platon und Ariftoteles, von de:
nen der Erftere die Erkenntniß des wahren Seins allein aus ben reis
nen angeborenen Ideen der Vernunft ableitete, fo wie dieſe legteren ſelbſt
aus einem früheren Dafein ober göttlichen Leben, der Legtere dagegen
dieſe höhere Einſicht durdy die reine Fgrm der allgemeinen Begriffe bes
ſtritt, die Erkenntniß des Allgemeinen erft durch Induction und Abs
ſtraction aus dem Beſonderen ableitete und allen Gehalt der Erkennt⸗
niß blos in der Erfahrung fand. So wurden Platon und Ariſtoteles
für die folgende Zeit die beiden Anfangspuncte, von denen die fpäteren
Spiteme bis auf die neuere Zeit in die getrennten Richtungen des Ra⸗
tionalismus und Empirismus aus einander liefen. Nachdem Anfangs
der Platoniſche Rationalismus in der idealsteligiöfen Nichtung der
neuplatonifhen Schule, unterflügt durch den hoͤhern religioͤſen Geift
des chriſtlichen Dogmatismus, eine Zeitlang geberrfcht hatte, bemaͤch⸗
tigte ſich allmaͤlig der Ariftotelifche Empiriemus der Oberherrfchaft, bie
in der Scholaftit des Mittelalters der Ariftotglismus felbft in einen
leeren logiſchen Rationalismus ausartete. Baco von Verulam flürzte
diefe Ariftotelifhe Scholaftit, indem er die Naturwiſſenſchaften durch
den Grundfas der Induction reformirte, und wurde fo Gründer des
*) Schlegel, a. a. D. ©. 82. WBgl. ©. 140.
N
182 Kant und die Kantifche Philofophke.
neuern Empirismus, der in England, vornehmlih buch Locke, auf
bie neuere Philofophie angewendet wurde, mwährend Descartes die
Platoniſche Lehre von den angeborenen Ideen fefthielt, fein Syflem aus
blofen Bernunftbegriffen entwidelte und fo der Anfangspunct bes
neuen Rationalismus wurde, der hauptfädhlic in Spinoza, Ma:
lebranche und Leibnig zur Ausbildung kam. Befonders feit Locke,
ber auf dem Ariftotelifhen Standpuncte blieb, war entſchiedener
als je vorher die bebeutende Frage in Anregung gekommen, welche ale
dorbereitenbe Unterfuchung aller wiſſenſchaftlichen Philofophie allerdings
vorerft entfchieben werden mußte: weldye® überhaupt ber Urfprung Ders
jenigen Erkenntniffe fei, die vom Bewußtſein der Allgemeinheit und
Nothwendigkeit begleitet werden? — Sind fie nur empitifhen Ur⸗
ſprungs, fo iſt auch Philofophie nicht eine eigenthümliche, vom ges
wöhnlicyen Eriennen gefchiedene Wiffenfchaft — deren es dann überhaupt
feine gibt; es wäre überall nur ein Quell, wie ein Element des Er-
kennens, die Erfahrung; und das Wiffen, indem es ſchlechthin
nur am Gegebenen haftet, wäre nur durch Stoff und Inhalt zu un⸗
terfcheiden, keineswegs durch feine Korm innerlich ſich entgegenzufegen;
endlidy bliebe jede Bemuͤhung vergeblih, in ein Jenſeits für bie
Erfahrung — denke man diefes, in welhem Sinne man wolle —
überhaupt in ein dem unmittelbaren Bewußtſein fih Werbergen:
des eins und hinuͤberzudringen*?). In der That läßt fic Leicht
zeigen, daß es fidh bei der Frage nach dem Urfprung unferer Er:
kenntniſſe um die Möglichkeit aller Philofophie überhaupt handelt,
daß dieſe einzige Frage es ift, auf deren Löfung die Gewißheit aller
Erkenntniffe beruht, deren Behandlung alfo den Inhalt aller eigentli-
hen Philofophie ausmacht *). Sobald die Wahrheit aller unfrer
Ueberzeugung zulegt auf finnlichen Einbräden, alfo auf aͤußerlicher Er⸗
fahrung beruht, wie das Syſtem des Empirismus behauptet, fo gibt
es gar kein unumſtoͤßlich gewiſſes Wiſſen, gar Feine unerfchütterliche
Zuverlaͤſſigkeit, keinen Punct im ganzen Umkreiſe unſers Bewußtſeins,
der bleibend und feſt waͤre, ſondern Alles ginge ohne Ordnung und
Geſetz in der bunten Reihe der Vorſtellungen, als ein zweckloſes Gau⸗
kelſpiel, an uns und in uns voruͤber. Wir koͤnnten mit jener Lehre
nicht einmal Ordnung im Zuſammenhang in der wirklichen Welt mit
Sicherheit vorausſetzen, geſchweige uns mit Zuverſicht zu dem Ueber⸗
ſinnlichen, zu den Ideen von Gott, Freiheit, Unſterblichkeit erheben, da
dieſe Ideen gar nicht auf ſinnlichen Eindruͤcken beruhen, mithin nur
als eine Fiction des dichtenden Verſtandes ohne alle aͤußere Berechti⸗
gung erſcheinen wuͤrden **). —
”) Fichte, Beiträge z. Charakt. d. n. Philoſ. 1828.
**) Shalybäus, hiſtor. Entwickel. S. 15.
wer) GChalybaͤus a. a. O. S. 16. „Mannichfaltige Kenntniffe, Vorſtel⸗
lungen, been haben wir, das iſt factiſch; aber entſpricht dieſen Vorſtellungen
auch etwas in der Wirklichkeit * Und wenn ihnen etwas entfpricht, ift es auch
gerade fo befchaffen, wie biefe Worftellungen befagen? Won vielen, ia ben mei⸗
.. Kant und bie Kantiſche Philefoppie. 483
Diefe Frage nah dem Urfprunge unferer Erkenntniſſe
ift alfo die Grundfrage, von welcher alle Metaphyſik ausgehen muß,
und welche baber die fämmtlichen neuern Philofophen vorzugsweife
befchäftigt Hat. ode hatte die buch Descartes wieder aufges
ſtellte Platonifche Lehre von den angeborenen Jdeen beitritten und
verworfen, die menſchliche Seele für eine tabula rasa erklaͤrt, die erſt
von der Erfahrung befchrieben werden müffe, und beflimmt bie Säge
ausgefprodhen: alle unfere Vorflelungen ſtammen von den Gegenftän-
den; aus den Vorſtellungen macht der Veritand feine allgemeinen Bes
griffe, aus allgemeinen Begriffen werden Urtheile, Schlüffe, wird bie
ganze Logik, wird zuleht das ganze Spftem unfers Denkens und
Glaubens zufammengefest; das ganze Syſtem beruht alfo zufegt und
im Ziefften auf der Mahrheit ber finnlihen Eindbrüde; laͤßt
fi eine Annahme zulegt nicht auf einen folhen Eindruck zurüdfüh-
ten, fo ift die Annahme felbft und Alles, was daraus folgen fol, eine
Fiction. Daß 3. B. ein allgemeiner Zuſammenhang unter ben Din-
gen und Vorgängen in der Welt, daß mithin eine allgemeine Verket⸗
tung von Urfahe und Wirkung Statt findet, miffen wir blos deswe⸗
gen, weil wir diefen Zuſammenhang in ber Wirklichkeit aufzeigen
Eönnen und oft genug felbft erfahren.
Leibnig trat, der Platonifchen Anficht folgend, Lode’n ſofort
entgegen, indem er in feinen „neuen Unterfuhungen über ben menſchli⸗
hen Verſtand“ die Lodifhe Theorie Schritt für Schritt prüfte und wider⸗
legte, und gleich zu Anfang nachwies, daß die allgemeinen und nothwen⸗
bigen Wahrheiten nicht als ſol che (actuellement) da find und fi) uns
darftellen , fondern nur der Anlage nad) (virtuellement) dem Bewußt⸗
fein gegenwärtig find, und fih nur im Einzelnen darftellen und darin,
—— u EEE
ften ſinnlichen Vorſtellungen lehrt ja fchon ein geringes Nachdenken, daß ihnen
- die Wirklichkeit gar nicht fo entfpredhen kann, wie wir gemeinhin annehmen ;
. B. die Karben, welche durch die Brechung des Lichte, die Töne, welche
dur die Schwingungen der Luft erzeugt werben, Tonnen fie wohl außer uns
auch als Karben und Toͤne exiſtiren, oder find fie diefes blos in unferm Auge
and Ohr? Und nody mehr, die Süßigkeit und Saͤure, die Wärme und Kälte,
die wir empfinden, find fie nicht offenbar blos fubjective Zuflände von uns
fetoft? Exiftirt etwa bie Suͤßigkeit anderswo als auf unfrer Zunge, in unferm
Schmeden, unb das Zrieren, ift e8 nicht offenbar ein Leiden, ein Verhalten
unfer3 Körpers? Freilich mögen biefe Affectionen von irgend etwas Beſonde⸗
rem in der Ratur herruͤhten; aber das, was wir dabei an und in uns wahr:
nehmen, ift nur unfer Verhalten zu jenen Rarurkräften‘, und was diefe Ras
turbefchaffenheiten an fich, d. h. außer unferer Empfindung , find, das bleibt
ung vor der Hand nody völlig unbekannt. Die Frage ift alfo immer die: wo⸗
ber fommen alle unfre Xorftelungen? Welches iſt ihr wahrer Urfprung? Wers
ben fie in uns und von der Serie felbft nur etwa auf gewifle äußere Veran-
laffungen erzeugt, ober ftammen fie — wenigftens zum Theil — wirklich fo
von ten Geaenfänben her, daß wir an ihnen ein treffendes, volllommen ents
fprechendes , d. i. wahres Ebenbild haben, ober nicht? Und geſetzt, eö wäre fo
wie fommen wir dahinter, wie tönnen wir zu der KBemwißhrit gelangen, ba
es. wirflich fo ift? Wo liegt die Würgfchaft bafür ?”
.\ S .
184 „Künt und bie Kantifche Philoſophie.
wiewohl ohne deutliches Bewußtſein, unendlich angewendet werden.
Eben deshalb koͤnnen fie nicht durch Induction hergeleitet werben aus
dem Bewußtſein dieſes Einzelnen ; denn Induction vermag überhaupt
nur Erfahrung zu erzeugen, Die nie aufhört, weiterer Berichtigung
zu bedürfen, nicht aber ein fehlechthin in fich abgefchloffenes Bewußtſein
abſoluter Allgemeinheit und Nothwendigkeit hervorzubringen. Alſo
nur entwickelt, aus ihrer empiriſchen Umhuͤllung und Verflechtung zu
deutlichem Bewußtſein gebracht koͤnnen die allgemeinen Wahrheiten
werden; ihr Erkennen iſt ein rein aprioriſches, ſchoͤpfend aus dem
Innern des Geiſtes, der das Maß und die Nothwendigkeit der Dinge
in ſich ſelber traͤgt. Daher nach ihm die wiſſenſchaftlichen Definitionen
- nur die zum Bewußtſein gebrachten urſpruͤnglichen Ideen der Dinge ſelbſt
find. Auch Ieugnete Leibnig beftimmt, daß die Seele von Außendingen
afficiet werde; denn die Seele fei Subftanz, lebendige Wirklichkeit, Ein:
heit pofitiver Kräfte (monss), und mithin, wie alles wirkliche, ferbfttrdf:
tige Dafein, fchlechthin in fich befchloffen und unangteifbar oder unberuͤhr⸗
bar durch Anderes. Daher er denn auch den gewöhnlichen Gedanken einer
gegenfeitigen unmittelbaren Einwirkung von Geift und Körper ale eine
rohe, unphilofophifche Vorftelung verwirft und durch feine Hypotheſen
der präftabilirten Harmonte zu erfegen fuhht *). — Allein fo richtig biefe
Leibnigifche Widerlegung Locke's (die übrigens erft 30 Fahre nad) dem Zode
Leibnigens (1765) veröffentlicht ward **) auch an fich war, fo beging Leib⸗
nitz doch bei ber Entwickelung feiner Lehre ben Fehler, dag er feinem Sy»
ſtem lauter identifche Säge als Grundſaͤtze an die Spige ftellte +), ſowie
auch er und befonders Wolf, der Leibnitzens Lehre in ein ſchulgerechtes
Spftem brachte, dem vationaliftifhen Vorurtheil huldigte, durch logifche
Bemweife alle Wahrheit und Sicherheit in der Philofophie zu begründen.
Man hat diefed Vorurtheil das der „mathematifchen Methode” genannt,
eigentlich aber ift es nichts als bie allgemein logiſch⸗ dogmatiſche Me:
thobe, d. h. das Berfahren, alle Begriffe einer Wiffenfchaft in Defini-
tionen zu ſchlagen, daraus Ariome zu bilden und aus diefen Beweiſe
zu führen. Indem man fo nad) und nad) Alles und Jedes dem Bes
weiſe unterwarf, fo hing am Ende das ganze Syſtem menſchlicher Weis:
heit nur an dem einzigen Ring logifcher Identität,’ des MWiderfpruches
und zureihenden Grundes; denn es war hier der denkende Verſtand ganz
ſich ſelbſt überlaffen, und der legte Grund, auf den es ſich flügen konnte,
waren nur bie Regeln feines Denkens felbft * ). Darum blieb auch diefer
Lehre David Hume’s Skepticismus überlegen; denn aus ibentifchen
Sägen folgt nur, was ſchon in fie hineingelegt ift, und aus Beweiſen,
was in ihren Prämiffen liegt.
w) Fichte, Beiträge &. 41.
IK. 2. Reinhold's Beiträge u. f. w. 1802. I. &, 53
3 —8 — Don Kant in d. Krit. der B. (8. d. Amphibolie
der Reflexionsbegriffe S. 235.
+4) Zries, Kritik der "Bernunft I. &. 12. Deſſen pol. Schrift. I. 888.
Kant! und die Rantifche Philoſophie. 185
Locke's zulest erwähnten Gedanken nämlidy, daß unfre Vorftelungen
einer allgemeinen Verkettung von Urſache und Wirkung nur aus Erfah⸗
rung, Induction ober Gewohnheit entfpringen, unterwarf David Hume
vorzugsweife einer Prüfung. Er behauptete, pon dem urfächlihen Verhälts
niffe fei uns weder a priori, noch a posteriori irgendwie eine Anfchaus
ung gegeben; ber innere Zuſammenhang, die geheimnißvoll wirkende
Kraft bei zwei Dingen oder Erfcheinungen, deren eines als Urfache, das
andere als Wirkung betrachtet wird, entgeht nicht nur unferer Beobach⸗
tung, ſondern es gibt auch feinen Grund, der mit Sicherheit und Noth:
wendigkeit bei jeder Erſcheinung die jedesmalige Urſache unferm Verſtande
offenbarte. Ueberall liege une nur ein fletes Nach⸗ etwas, kein Durch⸗
etwas, Feine Nothwendigkeit der Verknüpfung oder kein innerer
Zufammenhang zmifchen den wahrgenommenen Erfolgen vor. Die Vers
brennung des Holzes zu Afche nennen wir eine Wirkung des Feuers; der
Ernährung des menfchlichen Leibes legen wir den Genuß des Brotes und
anderer Nahrungsmittel als Urfache zum Grunde, nicht deshalb, meil
wir das Innere Werden des Einen durch das Andere nachzuweiſen im
Etande find, fondern weil wir jenes beftändig nach diefem beobachtet
haben. Die von ung angenommenen urfächlihen Verknüpfungen alfo
feien ein Erzeugniß der Gewohnheit: was wir ſtets nad) einem Andern
wahmahmen, gewöhnten wir uns als nothwendig mit biefem zufams
mengehörig, oder als durch daffelbe gewirkt zu betrachten; und für biefe
blos fubjectiv begründete Ueberzeugung laſſe ſich feine objective
Gewähr geben *).
Hume's Räfonnement gründet fi auf die Behauptung, daß es
nur zweierlei Vorftellungen in unferm Geifte gebe, nämlich entweder uns
mittelbare Wahrnehmungen (Senfationen) durch finnliche Eindrüde (im-
pressions), oder frei erzeugte Gedanken, Begriffe oder Ideen (No:
« tionen, thoughts), welche nur Copieen oder Abdrüde, Schattenbilder
ber Impreffionen fein. Er gibt dafür zwei Gründe an: 1) Wenn
wir unfere Gedanken oder Ideen analyfiren, fo laffen fie fi) immer in
einfachere auflöfen,, wovon jede die Copie einer der Idee correfpondirenden
Empfindung if. — Da Hume die Allgemeinheit diefed Sages nicht ber‘
meifen ann, fo forbert er diejenigen, welche ihn leugnen wollten,
auf, einen Begriff, der nicht aus biefer Quelle, fondern a priori fel,
anzugeben , dann wolle er den finnlihen Eindrud (die Erkenntnißquelle
a posteriori) angeben, der ihm correfpondire. 2) Wenn ein Menfch
megen eines Fehlers feiner Organe gewiſſer finnlichen Eindrüde (Ems
pfindungen) nicht empfaͤnglich ift, fo fehlen ihm auch die Begriffe, die
aus biefen Empfindungen entfpringen. Wie groß daher uns auch der
Umfang und der Reichtum unſers Verftandes erfcheinen möge, fo bleibe
er doch immer auf ben Stoff angemiefen, der ihm in den unmittelbaren
Senfationen gegeben ift ; daher es natürlich gar Feine angeborenen Ideen
geben kann, da alle Gedanken nur aus ber Trennung und Verbindung
*) Berg, Beneke, Kant u. d. philof. Aufg. unfr. 3eit S. 34.
186 Kant und die Kantiſche Philofophie
der gegebenen Vorſtellungen zu neuen entflehen, welches Trennen und
Verbinden das einzige Geſchaͤft des Verſtandes iſt, der daher in keiner
Beziehung uͤber jenen Bereich des Gegebenen erkennend hinauszugelangen
vermag. Iſt nun dennoch von wiſſenſchaftlichem Erkennen und nament⸗
lich von Philoſophie die Rede, ſo kann dieſe eigentlich nur beſtehen in
einer eigentbämlihen Verknüpfung gegebener Vorftellungen zu
‚neuen Ideen; betrifft num die Unterfuhuny Thatſachen, deren Sein
ober Richtfein — ulfo unabhängig von aller Erfahrung - bier erfannt
werden foll, fo bedarf es vor Allem eines untrüglihen Princips, nad
welchem das Erkennen nit fiherem Schritte auch über das unmittelbar
Gegebene fich erheben koͤnne. Wir kennen in diefer Beziehung nur
das Princip von Urſache und Wirkung, wodurch überhaupt eine Reihe
von Wirklichkeiten fol verbunden werden koͤnnen, die nicht .alle cegeben
find: man Bann, wie man fi ausdrüdt, in jedem Kalle von der Ur:
fache auf ihre Wirkung vorwärts — ſowie von der Wirkung auf ihre
Urſache zuruͤck — ſchließen. Diefe Ausdrude erklärt nun Hume für
Leere Worte, indem keine nothwendige innere Verknuͤpfung zwiſchen dem
liege, mas wir in einem gegebenen Fall die Urſache, und dem, was
wir die Wirkung nennen, und nicht der geringfte innere JZufammenhang
zwifchen beiden, als Begriffen, Statt finde, da auch die fchärffte
Analpfe des Einen und nicht den Inhalt des Andern auffinden lehrte.
Hume zeigt, wie ſchon angedeutet, daf jene Ideen von Urſache und
Mirkung nur Folge einer unmilltürlihen Gewoͤhnung find,
und zwar eine ganz grundlofe, da die Erfahrung, die einzige Quelle
umferer Erkenntniß, uns immer nur dae Zugleichfein oder die Aufein-
anderfolge der Dinge, aber keinen innern Zufammenhang zwifchen bei:
den lehrt. Conſequent entwidelt Hume dann meiter heiraus einen voll⸗
fändigen Skepticismus ( — nur die Mahrheiten der reinen Mathematif
ließ Hume als » priori gültig, weil er irrig meinte, fie feien nur
analytiſch aus dem Logifhen Sage des MWiderfpruchs abgeleitet — ),
welcher Stepticismus fhon die Sinnenwelt in blofen Schein auf:
Iöft, da dem Bewußtſein eigentlich nur Bilder und Vor ftellungen
gegenwärtig find, nach der Hume’fchen Lehre von Urfahe und Wirkung
aber der Schluß von denfelben auf Dinge eine ganz grundlofe Hypo⸗
thefe ift; noch weniger kann das Prineip der Gaufalität für die Philoſo⸗
phie zu Schlüffen dienen, die über alle Erfahrung hinaus:
reichen follen, indem bier alle Analogie, fo mie jede Bedeutung unb
Anmendung deſſelben durchaus verfchwinde. Woher nämlid ein Ana
logon aus wirklicher Erfahrung, das 3. B. dem Schluffe von der Sin:
nenmelt auf einen höchflen Urheber derielhen zu Grunde gelegt werden
koͤnnte? Wiffen wir denn, mas die Sinnenwelt eigentlich fei, daß mir
von ihre, als einer Wirkung irgend eines Andern, auf deffen Natur
zurüdfchließen zu tönnen meinen? Was heißt „höchfter Urheber”? Mas
iſt — zu denken bei dieſer Urheberſchaft, bei dieſem „Schaffen“
der Sinnenwelt, da uns doch die Erfahrung durchaus nichts von einer
Schoͤpfung, ſondern nur immer ein Entſtehen aus Anderem, ſchon Ent—
Kant und die Kantiſche Philofophie. ' -187
flandenem, zeigt? Sind Obiges daher nicht. leere Worte? Und muß nicht
die Urfache, auf bie wir aus ihrer Wirkung fchließen, .hiefer legten
durchaus angemellen fein, fo daß mir jener Beine andern Kigenfchaften
beilegen dürfen, außer denjenigen, welche nothwendig zur Hervorbrins
gung der Wirkung erforderlich find ? woraus folgt, daß, felbft zugeftanden,
eine Gottheit fei der Urheber von ber Kriftenz und ber Orbnung bes
Univerfums, fie audy nur den beflimmten Grad von Macht, Verftand
und Güte befigt, der in ihrem Werke fichtbar iſt, aber auch durchaus
nichts weiter. Und da die Welt, die mir kennen, unleugbar unvoll-
kommen ift, indem das Uebel und das Boͤſe in derfelben als gegebene
Zhatfache feitfteht, fo wäre ein Schluß von ihr auf ein allervolllom:
menftes Weſen, als ihren Urheber, wider alle Logik*). Weberhaupt aber
enthält alles ſolches Raͤſonnement nur Schlüffe aus der Wirkung auf
die Urfache, welche doch nad) Obigem nur grundlofe Sophismen find.
So entwickelte Hume hieraus fein confequentes Spftem eines Stepti-
cismus, welcher die Grundveften unferer hoͤchſten und wichtigſten
Ueberzeugungen erfchütterte, zumal da Hume nicht, wie Rode gethan **),
in dem Glauben an die pofitive Religion des Chriftenthums einen Er:
fag für die durdy feinen Skepticismus zerflörte Metaphyſik oder Philo-
fophie flehen ließ, fondern auch die Offenbarung auf alle Weiſe beſtritt;
wie er benn überhaupt fehr reich an populären Auseinanderfegungen
und Entwidelungen ift, um die Grundlofigfeit aller gewöhnlichen dog⸗
matifhen Anfichten über Gottes Dafein, über die Schöpfung, Vor⸗
fehung , Freiheit und Unfterblichfeit u. f. w. zu zeigen***).
!
+, Berge. Hume's Schrift: „Ueber den menfcht. Verſtand, über. von
Zen .“ S. 319 ff. Fichte, Beiträge S. 90.
He de fpriht feinen Dffenbarungsglauben ganz unverboblen aus: So
unmoveable is that truth delivered by the Spirit of truth, that though
the Light of Nature gave some obscnre glimmering, some uncertain hopos
of a future State ; yet haman reason could attain to no clearness, no cer-
tainty about it, but that it was Jesus Christus alone who had brought
Life and Immortality to light through the Gospel. II. Timoth. 1, 10. '
(Essay. T.4. Ch. 3. $. 6 Note.) — (Auch bei Baco ift der Gedanke Bots;
te8 als ber einer erften Urfache nur auf ber Betrachtung und Durchſicht der
nicderen hergeleitet (e causarum dependentia, serie et concatenatione, Dign.
et A, Sc. lib. 1.) Weil die Bernunft ficher bis dahin fchließe, nennt er (4, 10.)
bad Dafein Gottes veritatem aliis omnibas, quae ratio tradit, manifestiorem.
Dadurch wird aber der Gedanke nicht höher, er bleibt ein Anhang ber Naturs
Fennis. (Baumgarten-Cruſius, das Menſchenleben und die Religion
*5*) Er ſelber ſpricht das Reſultat feines Philoſophirens in dieſer Hinſicht
mit folgenden Worten aus (Essay XII, ©. ): „Gehen wir, von der Rich⸗
tigkeit diefer Grunbfäge überzeugt, unfere Bücherfammlungen durch, welche Zer⸗
rung müßten wir in ihnen anrichten! Wir nehmen z. B. einen Band theo⸗
logifher Unterfuchungen oder Schulmetaphnfil in die Hand! Laßt uns fragen:
enthält er abftracte Vernunft über die VBerhältniffe von Zahl und
Groͤße? Nein! Enthält er Grfahrungsvernunft Aber wirkliche Dinge
oder Zhatfahen? Nein! — Darum in’s Feuer mit ihm; er Tann nur Gopbis
ferien oder Träume enthalten!‘
. . . \
188 Kant und bie Kantiſche Philoſophie.
Hätte Hume Recht, daß es überhaupt keine Erkenntniß a priori
in der menſchlichen Vernunft gibt, fo waͤre der Empirismus bie eins
zige Quelle unferer Principien ; beruht aber die Wahrheit aller unferer
Begriffe, folglich auch die ber Gaufalitdt,. allein auf der Erfahrung,
fo gibt es keine ausnahmelofe Megel, Beine Zuverläffigkeit ; feine all
‚gemeine, nothwendige Wahrheit iſt als ſolche erweislich; der Zuſam⸗
menhang in ber Natur, die Ordnung der Welt und mithin alle Ueber:
zeugung, die fi darauf gründet, ift eine bloſe Angemöhnung des
Denkens ohne Halt und Stüspunct, ein Traum, ber heute verfchwin-
‘den kann; es gibt Überhaupt Leine wahre Erkenntniß ber Dinge, ihrer
Natur und Gefebe an fi), d. i. Eeine Metaphyſik. Kant nun warb,
feiner eigenen Aeußerung zufolge (in der DVorrede zu den Prolegomenen),
Durch Hume zuerft aus feinem eigenen vieljährigen bogmatifhen Schlummer
erweckt und hielt fich überzeugt, daß aller Dogmatismus oder vielmehr
alle Philofophie in Empirismus und Skepticismus ausſchlagen muͤſſe,
“ wenn es nicht gelänge, auf einem andern Wege, als dem bisherigen,
das wirkliche Vorhandenfein allgemeiner und nothwendiger Wahrheiten
in unſtrer Erkenntniß nachzumweifen und fo zugleich unfere heitigften
und wichtigften Weberzeugungen in fittlicher und religiöfer Beziehung
gegen den Skepticismus ficher zu flellen. Er verfuchte zuerſt, ob ſich
Hume's Behauptung, daß ſich Peine Urſache a priori erfennen laſſe,
nicht allgemein vorftellen laſſe? Da Hume die Nothwendigkeit der Syn-
thefis (Verknüpfung) von Urfahe und Wirkung angegriffen hatte,
alles Erkennen aber ein Syntheſiren ift (ein Beziehen einer Mannig-
faltigfeit von Bellimmungen auf innere Einheit), und ba felbft das
Analyſiren (das Sondern bes Mannigfaltigen) fchon gegebene Spnthefis
vorausfegt, fo konnte der Hume’fche Imeifel in das allgemeine Pros
blem gefaßt werben: wie ift überhaupt ein Spnthefiren moͤglich? Un⸗
mittelbar freilich bietet die Wahrnehmung fertige Spnthefen dar;
aber von biefen kann in Bezug auf wahrhaft wiſſenſchaftliches Er⸗
Tennen nicht bie Rede fein. Hier ift die Syntheſis gegeben, erfcheint
alfo als zufällig — auch anders fein koͤnnend. Jene Frage bedeutet
baher nur, wie nothmwmendige (vom Bewußtſein ber Nothwendigkeit
begleitete) Syntheſen möglidy feien, und welches das Princip berfelben ?
Und hieraus erklaͤrt fi, mie Kant die Frage: wie find ſyntheti—
[he Urtheile a priori möglich? als die Gardinals oder Lebens:
frage der ganzen Metaphyſik bezeichnen tonnte. Um diefe genügend
zu löfen, ſchlug er nun den kritiſchen Weg ein, indem er unſer gan»
zes Erkenntnißvermoögen einer genauen und vollfländigen Unter:
fuhung unterwarf. Kant felbft*) bezeichnet feine Methode als eine
Nachahmung der in der Mathematik und Phyſik mit fo großem Er⸗
folg angemwendeten, Indem er dabei als das Kriterium der Richtigkeit‘
einer wiffenfchaftlichen Methode den Erfolg bezeichnet. Wenn fie nad)
viel gemachten Anftalten und Zurüftungen, fobald es zum Zwecke
*) Vorr. z. 2. Ausgabe d. Kritik d. x. Bernunft.
4
Kant und die Kantifche Philofophie. 189
Sommt, in Stocken geräth, oder um biefen zu erreichen, öfter wieder
zurüdgehen und einen andern Weg einfhlagen muß; ingleihen wenn
es nicht möglich ift, die verfchiedenen Mitarbeiter in der Art, wie bie
gemeinfchaftlihe Abficht verfolgt werden foll, einhellig zu machen: fo
kann man immer überzeugt fein, daß ein folches Studium bei Weiten
noch nicht den höhern Gang einer Wiffenfchaft eingefchlagen, fondern
ein bloſes Herumtappen fei; und es iſt fchon ein. Verdienft um bie
Vernunft, diefen Weg wo moͤglich ausfindig zu machen, follte auch
Manches als vergeblich aufgegeben werben müflen, mas in dem ohne
Ueberlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war. Die Metaphye
fit habe nun, wie fehr offenbar, diefen fihern Weg nicht einzufchlagen _
vermocht und fei nur ein Kampfplag gewefen, feine Kräfte im Spiel
gefechte zu üben, auf dem nod Niemand irgend als echter ſich auch
den Heinften Platz hat erkämpfen und auf ſeinen Sieg einen dauer
haften Beſitz gründen können. Auch bei ber Mathematik habe offen
bar Anfangs ein folches blindes Herumtappen Statt gefunden, bis der
gluͤckliche Einfall eines Griechen, deilen Namen uns die Gefchichte
nicht mit Sicherheit aufbehalten bat, eine Revolution in einem ers
fuhe zu Stande brachte, von welchem an bie Bahn, die man nehmen
mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und jener fichere Gang für alle Zei:
ten gefunden und vorgefchrieben war. (‚Dem Exften, der den gleichſei⸗
tigen Zriangel demonftrirte, er mag nun Thales oder wie man
will geheißen haben, dem ging ein Licht aufs denn er fand, daß er nicht
dem, was er in ber Figur fahe, oder auch dem blofen Begriffe der⸗
felben nachſpuͤren und gleihfam davon ihre Eigenfchaften ablernen,
fondeen durch das, was er nad Begriffen felbft a priori hineindachte
und darſtellte (durch Conftruction), hervorbringen müffe, und daß er,
um ficher etwas a priori zu wiſſen, der Sache nichts beilegen müfle,
als was aus dem nothwendig folgte, was er feinem Begriffe gemüß
ſelbſt in fie gelegt hat.’) — Auch die Naturwiſſenſchaften erhoben ſich
erft in Folge der großen Revolution ber Methode, welche Baco von
Verulam in diefem Gebiete veranlaßte. Kant führt in biefer Hinficht
Folgendes an: „Als Galilei feine Kugeln die fchiefe Flaͤche mit einer
von ihm felbft gewählten Schwere herabrollen, ober Zoricelli die
Luft ein Gewicht, mas er fi) zum Voraus dem einer ihm bekannten
Waſſerſaͤule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder im noch fpäterer
Zeit Stahl Metalle in Kalk und biefen wiederum in Metall verwan⸗
delte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab, fo ging allen Nas
turforfchern ein Licht auf. Sie begriffen, daB die Vernunft nur das
einfieht, was fie felbft nach ihrem Entwurfe bervorbringt, daß fie mit
Principien ihrer Urtheile nach befländigen Gefegen vorangehen und die
Natur nöthigen müffe, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber ſich
allein gleihfam am Leitbande gängeln laffen; denn ſonſt hängen zu⸗
fälige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtun:
gen gar nicht in einem nothwendigen Geſetze zufammen, welches doch
die Vernunft fuhrt und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prins
Kaut :und die Kantiſche Philoſoßhle. ‘19%
Der Gang und fummarifhe Inhalt des Kantiſchen Kriticismuß
ſeibſt IfE num folgender. Kant geſtand Hume’s Hauptfat zu, daß ber
Begriff von Ur ſache und Wirkung als wahr und allgemeingüfs
tig gar nicht aus der Erfahrung bewiefen werden koͤnne; aber er fol«
gerte Daran, daß berfelbe doch allgemein und nothtvendig angenommen
wird, daß er eben nicht aus der Erfahrung flamme. Diefer Begriff
ift in uns; aber er iſt weder eine blofe Angewoͤhnung des Denkens,
noch ein Refler aus dem Naturlaufe, fondern er -ift vielmehr ein ur
fprüngfiches, angeborenes Eigenthum des Verſtandes; diefer trägt ihn
vor aller Erfahrung, a priori, ſchon in ſich, und wendet ihn nur auf
Altes, was Ihm finnlich erfchelnt, was er erfährt, an. Diefe Ueber:
tragung eines fubjectiven Begriffes auf die Sinnenwelt ift aber Fein
Ungluͤck für unfer Wiſſen; denn meit entfernt, daß es dadurch unjus
verläffig würde, wird es vielmehr nur dadurch erfl fireng allgemein gültig,
nothwendig und gewiß. Die Erfahrung kann uns überhaupt nimmermehr
etwas durchaus Gewiſſes lehren. Auch nach einer noch fo langen und reifen
Erfahrung bleibt immer ber mögliche Fall, — d.h. bleibt immer der Fall we:
nigſtens denkbar, daß einmal gerade das Entgegengefeßte ſich ereignen koͤnne.
Dasjenige, was unerfchütterlid; wahr, was abſolut nothmendig und
allgemein bei allen und für alle Menfchen gültig fein foll, kann gerade
auf nichts Anderem beruhen, als auf der urfprünglichen Einrichtung
unfereseigenen Denlvermögens. Daher find 3. B. die ma:
thematifchen Säge nicht deshalb von fo zwingender Gemißheit, meil fie
etwa aus den Formen und Verhältniffen der Natur abilrahirt wären,
fondern umgekehrt nur deswegen, weil fie auf unferer fubjectiven Denk⸗
nothwendigkeit beruhen. Was fih in der Natur Alles noch: ereignen
£önne und merde, das läßt fih gar nicht wiſſen; gewiß wifſen laͤßt
fi) blos, wie in alle Ewigkeit hin die Menfhen die Natur anfe
ben, was fie darin im Allgemeinen für Geſetze erbliden werben, fo
lange die Menfhen Menfchen find, d. b. ihre jetzige Verſtandes⸗ und
forfhe: eine agnatihe Revolution mit derfelben vornehmen, befteht nun bas Ge⸗
fhäft diefer Kritik der reinen fpeculativen Vernunft Gi t
ein Zractat von der Methode, nicht ein Syſtem der Wiflenfchaft ſelbſt;
aber fie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derfelben, fomohl in Anfehung
ihrer Grenzen, als auch ben ganzen innern Gliederban derfeiben. Dena has
die reine fpeculative Vernunft Eigenthümliches an fih, daß fie ihr eigen
ermögen, nach Derfchiedenheit der Art, wie fie fi) Objecte zum Denken
wählt, ausmeffen, und auch ſelbſt die mancherlei Arten, fich Aufgaben vcrzules
gen, vollftändig vorzählen, und jo den gangen Vorriß zu einem Syſtem ber
Metapbufit vorzeichnen Tann und foll; weil, was bas Grfie betrifft, in ber
GErlenntni$ a priori den Objecten nichts beigelegt werben Tann, ale was bas
denkende Subject aus fich felbft hernimmt, und, was das Zweite anlangt, fie
in Anfehung ber Erkenntnißprincipien eine ganz abgefonderte, für ſich beſte⸗
hende Ginheit ift, in melcher ein jcdes Glied, wie in einem organffirten Koͤr⸗
per , um aller andern und um eines willen da find, und Fein Princip mit Si⸗
cherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zugleich in ber
duchgäng.gen Beziehung zum ganzen veinen Vernunftgebrauch unterfucht
su haben.” (Vorr. 3. 2, Ana.)
Kant und die Kantifche Philofophie. 198
gibt, daß wir fie beide als unendlich ober grenzenlos uns vorftellen
muͤſſen, alle Erfahrungserfenntniß dagegen immer nur'auf dad End⸗
liche und Beſchraͤnkte fich bezieht. Sie find ferner nothwendige Vor-
ftellungen a priori, von denen wir gar nicht abſtrahiren Finnen, wähs
rend alle Erfahrungserkenntniſſe nur zufällig find; wir Sinnen uns. gar
kein Dofein ohne Zeit, d. h. ohne daß es in irgend eine Zeit falle
und eine Zeitdauer habe, und insbefondere kein koͤrperliches Daſein ohne
Raum, d. h. ohne an irgend einem Orte befindlich, vorftellen ; wir koͤn⸗
nen ferner und zwar eime leere Zeit (in der nichts gefchähe) und einen
leeren Raum (in dem nichts angetroffen würde), aber nicht vorftellen,
daß keine Zeit oder kein Raum fei, wir Lönnen die Zeit und ben
Raum nicht wegbenten. Beide find nothiwendige Formen unferer Sinn⸗
lichkeit, d. h. fie geben unfern Anfchauungen mit Nothwendigkeit eine
beftimmte Zorm, etwa wie eine Fluͤſſigkeit, die in ein Gefäß gegoflen
wird, ihre Korm durch letzteres erhält. — Was fodann die Urtheile-
oder Denkformen betrifft, fo ift ſchon von dem Begriffe der Caufalität,
d. h. de Zufammenhanges vor Urſache und Wirkung, gezeigt worden,
dag unfer Verftand ihn in die Erfcheinungen hineinzudenken fich gend»
thigt findet. Allein diefe Verknüpfung iſt nicht die einzige, die wir
unter ben, Außendingen wahrzunehmen glauben; fie verhalten fich auch
z. B. als Weſen und Eigenfchaften (Subftanz und Accidenz) zu eins
ander, und fo gibt es der Verbindungsmeifen und Verhaͤltniſſe unter
den Dingen nody mehrere, die wir als fubjective Mebertragungen von
unferer Seite auf jene anzufehen haben. Es ift von großer Wichtig-
feit, diefelben alle zu Eennen, damit wir wiſſen, was an den verfchie-
denen Vorflellungen eigentlich uns felbft, d. i. unferer Verftandesthä-
tigtelt, und was ben Empfindungen oder Erfcheinungen angehöre und
mithin von ben Eindrüden der Dinge herrühren mag. Die Empfin-
dungen geben den Inhalt oder Stoff der einzelnen Worftellungen; ber -
Verſtand gibt die Formen und Verhältniffe, in welchen jene unter ein⸗
ander in Verbindung gefegt und zu einem Ganzen ber Erfahrung vers
einigt werden *).
Wollen wir nun vollftändig wiffen, welche und mie viele ſolche
Verbindungsweiſen der Verſtand in feiner Gewalt habe, und wie vide
ſolche allgemeine Grundbegriffe demnach möglich fein werben, fo dürfen
‚wie nur auf die verfchledenen Arten ober Formen bes Urtheils fehen,
welche uns bie Logik aufzeigt; benn urtheilen heißt eben fo viel, als
eine Vorftellung (als Subject) mit einer andern (als Prädicat) verbin-
den. Nun zeigt die Logik, dag es im Ganzen nur zwölf verfchiedene
Arten ober Formen von Urtheilen gibt; mithin hat der Verſtand zwoͤl⸗
fertei Weifen, feine zerſtreuten Voritellungen zufammenzufegen. Die:
fes find alfo die urfprünglichen allgemeinen Handlungsweiſen oder Ge:
feße des Verſtandes bei feinem Verfahren. Man kann fie leicht aus:
finden, wenn man bei ben verfchiebenen Urtheilen von allen den Din:
*) Ghalybaͤus a. a D. ©. 22.
GtaatssLeriton. IX, 13
ger $
38
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Er.
—
Kant und die Kantifche Philofophie. 195
en ihr rigenthuͤmliches Schema findet, bei deſſen Erfcheinen fie eintritt.
B. io etwas in immer gleicher Ordnung auf einander folgt, bit-
‚bet dieſes ‚mfeinanderfolgen ein Schema für die Kategorien ber Ur⸗
ſache und Wickung; wo in einer wechfeinden Erſcheinung etwas Be:
harrendes wahrgenommen wird, woran der Wechfel vorgeht, bildet bie:
ſes Beharren ein Schema für die. Kategorie der Subſtanz u. f. w.
Das Erkennen fit alfo nach Kant eine überaus Eünftlihe Mafchinerie,
bei welcher viele Räder in einander greifen müflen, um das Productt
beroorzubringen. Alles aber, was wir erkennen, ift ein durch dieſe Ma⸗
ſchinerie verarbeiteter Stoff, und wir erfennen bie Stoffe nur als ver:
arbeitete. Denn die rohen Stoffe, d. 5. die Dinge an ſich ſelbſt,
zu erkennen, ift darum nicht möglich, weil ein jedes Erkennen ſchon
ein Werarbeiten des rohen Stoffes ift, welcher, fo lange er nicht un⸗
ter die Mafchinerie des Apriori gebracht wird, auch nicht erkannt wer:
den kann; denn er kann doch unmöglich eher erfannt werden, als er
erkannt wird, obgleich er vom verarbeitenden Erkenntnißacte immer:
während im feiner noch umverarbeiteten Geſtalt als Stoff vorausgefegt
wird*). Wir Sinnen überhaupt gar nicht aus unferm Erkennen ber:
-außtreten und unſere Erkenntniſſe, um ihre Wahrheit zu erproben,
„wit den Dingen felbft vergleichen, da wir lebtere ja nur. durch unfer
| gen erkennen. -— Darum findet ganz baflelbe Statt: in
Hinſicht der Höheren überfinnlichen Vorſtellungen einer abfoluten Bol:
tommenheit imbd Unbedingtheit, welde Ideen oder Bernunftbe;
‚geiffe heißen und ſich auf Gegenſtaͤnde beziehen, die gar nicht Ob⸗
jecte der’ Exfahrung, in der Wirklicykeit nie als vorhanden nachzuweiſen
find, gleichwohl aber das hoͤchſte Intereſſe für unfere Vernunft haben,
die ſich nicht Damit begnügen kann und darf, die „mannigfadyen (durch die
Stimme erkannten) Erſcheinungen der Welt zu buchflabiren, um fie
(durch die Kategorien bed Verflandes) als Erfahrung lefen zu Binnen“,
fondern nechwendig nad) dem Abfoluten oder Unbedingten firebt ; daher
denn auch gerade diefe Sdeen, und zwar die Ideen: Seele (nament
lich, ihre Breiheit, und Unfterblichleit), Welt und Gott — es finb,
‚weiche, den. eigentlichen Gegenſtand alier Metaphyſik ober fpeculativen
Ydofophle überhaupt ausmachen **). Nun zeigte Kant, daß auch
‚Mtfe Dosen: urfprünglih nur Formen oder Gefege unferer ſubjectlven
‚Bermunftthätigkeit beim Erkennen bezeichnen, außer dieſem legifchsfors
‚ „malen: Gebrauche jedoch keinen materiellen in der Theorie zulaflen, in:
dem .wir, wenn wir ihnen Obiectivität beilegen, d. h. fie auf das Gen
der Dinge: fetbft Übertragen oder ihnen entfprechende Gegenſtaͤnde an-
:aehmen wollen, uns dabei unvermeidlich in Paralogiemen und Wider⸗
fpräcye, namentlidy in die fogenannten Antinomien der reinen Ber:
nunft verieren , deren Nachweiſung das eigentliche Fundament des Kan-
mgerttast a. a. O. S. Neff. Sigwart, Hbb. d. theoret. Philoſ.
79) Kritik ber r. Bernunft, Cinleit. III.
8.
18°
.196 Kant und die Kantifce Ppilofophie.
tifchen tranfcendentalen Jbealismus ausmadıt *), die wir übrigens hier
nicht weiter erörtern koͤnnen **). Dennoch find biefe Ideen keineswegs
bedeutungslos In uns, vielmehr von der hoͤchſten Wichtigkeit, wenn
gleich nicht brauchbar, um eine fogenannte rationale Pſychoiogie, Kos:
mologle und Theologie zu begränden. Diefes führt nun auf den Kan
tiſchen moralifhen Glauben und das Primat der prakti—
fhen Vernunft, indem biefe legtere uns in das Gebiet bes Ueber:
finntichen führt, welches der theoretifchen durchaus unzugaͤnglich ift.
Kant weif’t naͤmlich nad), daß unter den genannten Jbeen der fpecu:
lativen Vernunft der Losmologifche Begriff der Freihe it ber einzige
ift, dem man objective Realität verfchaffen, oder den man als
Thatſache aufreifen kann, waͤhrend die übrigen tranfcendentalen Ideen
nur eine leere Stelle für reine mögliche Verſtandesweſen bezeichnen,
aber den Begriff von ihnen nicht beilimmen koͤnnen; daher auch di
Idee der Freiheit allein und eine Erkenntniß der uͤberſinnlichen oder in-
telligibeln Welt verfhafft. Es handelt fi) darum, nachzuweiſen, dag
getwiffe Handlungen eine unbedingte Caufalität vorausſetzen, d. h.
eine folche, die nicht in der Erfahrung gegebene empiriſche Beſtimmungs⸗
gründe zuruͤckwies. Diefes konnte nur durch einen untiderfprechlichen,
und zwar objectiven Grunbfag der Gaufalität geſchehen, in welchem bie
Vernunft fid nicht weiter auf etwas Anderes, ais Beſtimmungs⸗
grund der Caufalität, beruft, wo fie alfo als teine Vernunft prak⸗
tifch fich erweife. Diefer Grundfag iſt nun bie Sittlichfeit, oder
das moralifdhe Gefeg, welches nicht erft entdedt zu werben braucht,
dem Wefen der Menfchenvernumft einverleibt ift, und eine Caufalität
der reinen Vernunft, unabhängig. von allen empitifden. Bedingungen
Kant und die Kantifche Philofophie. 197°
fation und Eultur, oder die Gefchichte der Menſchheit überhaupt hervorge⸗
sangen iſt; ber Übrigens doch auch nur ein egoiftifcher Trieb tft, d. h.
wobei der Menſch in defien Befriedigung nur ſich ſelbſt liebt, nur fein
perfönliches Intereſſe ſucht. Wir finden jedoch noch einen andern Trieb
im uns, den wir ben fittlihen, fo mie feine Anforderungen bie Stimme
bes Gewiſſens nennen, welcher einen andern Urfprung haben muß, in»
dem er oft unferm perfönlihen Intereffe gerabe entgegenzuhandeln fors
bert, und deſſen Anforderungen in Rüdfiht einer Handlung immer
buch em Sollen ober mit einer Unbedingtheit, Nothwendigkeit der
Anforderung begleitet find. Jedes Bewußtfein, daß ich foll, jede Noth⸗
wendigkeit in einer praktiſchen Regel, db. h. jede Nothmendigkeit in der
Anforderung eines Antriebes zur MWillensbeftimmung, fest die Freiheit
meiner Willkhr voraus. Die Freiheit ber Willkuͤr befteht darin, daß
fie in ihrem Entſchluſſe von irgend einem finnlichen Antriebe, fo ſtark
er auch fein mag, doch nur afficirt und nicht beflimmt werben koͤnne.
Die Freiheit der Willkür befteht in der ducchgängigen, abfoluten Au⸗
tonomie des Willens darin, daß er jedes Geſetz, welches für ihn gel⸗
ten foll, durchaus nur ſich felbft gibt, daß er in der Natur niemals
zue Handlung beflimmt werden kann, durch irgend einen Außern An-
trieb, fondern nur durch fich felbft*). Ein ſolches Vermögen der Frei⸗
beit oder der abfoluten Autonomie des Willens überfchreitet aber alle
Schranken der Natur und ift in der Natur unmöglihd. Denn in
ber Natur ift jede Kraft eine enblihe und kann alfo von einer grö-
fern und ftärkern überwältigt werden. Daher werden in der Natur
in jedem Entfchluffe aud nur endliche Kräfte der Antriebe mit einan-
der ſtreiten, und dee fittliche Antrieb ber Tugend mag in der Natur
eines Menſchen fo ftark fein, als er will, er wird dennoch einen noch
flärkern finnlichen Antrieb treffen und von diefem überwältigt werden
koͤnnen. Wenn wir uns alfo das Vermögen geben , uns dennoch von
keinem Antriebe, fo ſtark auch er fei, übermältigen zu laſſen, fondern
mit abfoluter Freiheit uns zu entfchließen, fo fegen wir unfre Kraft im
Entſchluſſe im Berhältniffe zur Natur als unendli an und ers
heben uns alfo in dem Bewußtſein unferer Freiheit über die Nas
tur?*). An Gott und Unfterblichleit glauben, heißt demnach, ale
*) Gin ſolches Vermögen wirb unmittelbar in bem vorausgefeht, dem ich
füge: Du ſollſt. Denn in demjenigen , was er foll, 3. B. fein Berfprechen hal:
ten , wirb angenommen, daß bie Unforberung diefer Vorftellung bes gethanen
Berfprechens raus entfcheibend in feinem Entſchluſſe zur Handlung fein foll,
welcher fremde Antrieb fich auch dagegen ſetze. Ich fchreibe alfo demjenigen, zu
dem ich fo ſpreche, ein Vermögen ber Willtür zu, jedem Antriebe, ex mag fo
ftark fein, als er irgend will, zu widerfiehen und fich für dasjenige zu ent-
_ Scheiben, was mit Rothwendigkeit geboten if. Er wird alfo nur feiner eiges
nen abfoluten Selbfigefeßgebung unterworfen ‚fein und barin die Kreiheit ber
Willkür befigen. Vergl. Fries, Wiffen, Glaube und Ahnbung. &. 162 ff.
”r) Wie Kan t be (am Schluſſe ſ. Krit. b. prakt. Bernunft) biefes fo
ſchoͤn ausbrüdt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zus
. nehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je dfter und anyaltender ſich das
196 Kant und bie Kantifche Philofophie.
Bürger der höhern überfinntichen Weltordnung handeln! Die
Gegenftände des religiöfen Gtaubens fallen ſchlechterdings über bie
Grenzen des Wiflens hinaus. Der Glaube beruht auf keinerlei Art
von Einfiht, fondern auf einem moralifhen Willensentfhiug
von eigenthiimlich dringender Art, Der Glaube ift nothiwendig immer
mit einer moralifhen Gemüthsummandiung verbunden. Ex tft felbft
eins mit der Richtung , die das Gemüth von feinem Streben nach
unten, nach den Gütern der Erde, hinaufwärts nad) oben, nad) der
eenfthaften Bollziehung des moralifchen Gefeges nimmt. Wie biefe
Richtung ſchwindet, ſchwindet auch nothwendig der Glaube; mie fie
wieberfehrt, kehrt auch nothwendig der Glaube wieder. Wer für das
moralifhe Gefch ſich anſtrengt und in ihm ſteht, der iſt ein Gläubiger,
indem der Glaube nichts ift, als die Gonfequenz diefes Geſetzes; wer
hingegen den Gtauben annimmt und befennt, ohne ihn mit der mo:
raliſchen That zu befiegein, deffen Glauben hat keinen größern Werth,
als eine metaphofifche Einſicht von Gott und göttlihen Dingen, d. h.
den Werth einer Selbfttäufchung *). Dagegen wird unfere wichtigfte Ange:
Nachdenten damit beichäftigt: der beflirnte Himmel über mir und .
das moralifhe Seſet in mir. Beide darf ih nicht als in Dunkelheiten
verhält, oder im ueberſchwenglichen, außer meinem Gefichtätreife , ſuchen unb
blos vermuthen, ich febe fie vor mir und vertnüpfe fie unmittelbar mit dem
fein meiner Griften,. Das erfte fängt von dem Plage an, ben ich in
ber äußern Ginnenweit einnehme, und erweitert dic Perfnäpfung, darin ich
ftehe, in's unabſehlich Sroße mit Welten über Weiten und Gpftemen von So—
ftemen, überbicg noch in grenzenlofe Zeiten ihrer periodifchen Bewegung, deren
Anfang und Fortdauer... Das zweite fängt: von meinem unfichtbaren. Selbft
meiner Perfönlichkeit an, und ftellt mich in, einer Welt dar, die wahre line
Kant. und die Kantiſche Philofenbie. 199
legenheit auf Erden, die Entwidelung unferer moralifhen. Kraft, durch
den nachgemiefenen vernunftmäßigen Glauben an Gast und Unſterh⸗
Iichleit auf das Entſchiedenſte befördert, mwährenb fie mit zureichenden
theoretifchen Beweiſen für beide Wahrheiten nicht mohl vereinbar fein
mürde. Wenn Goͤtt und Ewigkeit in ihrer furchtbaren Majeſtaͤt uns
unabläffig mit zweifelloſer Gewißheit vor Augen lägen, fo mürben bie
meiften gefcehmäßigen Handlungen von uns aus Furcht, einige aus
Hoffnung und gar feine aus Pflicht vollzogen werden, und fo müßten
fie alle des moralifchen MWerthes gänzlich entbehren. Jetzt dagegen, ba
nur in $olge einer thätigen und herrfchenden Achtung gegen bas Sit⸗
tengeſetz Ausfichten in das Meih des Weberfinnlidhen mit ſchwachen
Biden uns vergönnt find, kann eine wahrhaft fittliche, dem Guten
unmittelbar geweihte Gefinnung in uns Raum finden, und das ver
nünftige Einzelmefen vermag eines Antheils an dem hoͤchſten Gite
würdig zu werben, welcher der Guͤte feines Charakters und nicht blos
der Regalität feiner Handlungen angemeffen iſt.
In dem eben Erdrterten iſt zugleich das Hauptprincip der Kan:
tiſchen praftifchen Philofophie angebeuter, deren nähere Betrachtung
den Artikeln Moral und Praktiſche Philofophie, Natur:
wie Urfache und Wirkung. Bon einem tugendhaften Menſchen urtheilt unfere
praktiſche Wernunft, er fei ein Menſch, welcher verbient, wahrhaft glüdfellg
zu fein. In den Fällen alfo, wo das moralifhe Belek mit unferm Streben
nach Gluͤckſeligkeit im Einklang ſteht, hat bie Befolgung bes erftern keine Schwie⸗
tigkeit. Aber dieſer Einklang ifl nicht immer vorhanden. Wan nehme alfo von
den Fällen des Gegentheils bie die Erfahrung bietet, einen heraus, welcher
die That, woburdh wir erhöhte Gluͤckſeügkeit und Vervollkommmung verdienen,
mit ungläd ober gar mit 3erflörung aller uns erivorbenen Wolllommenheiten,
d. 5. mit dem Tode belohnt oder zu belohnen verfpridt. In diefem Falle ex»
Scheint nothwendig das moralifhe Gebot als eine Abfurbität, welche im Ge⸗
e ber Leidenſchaften, bie ein folcher Zall mit ſich führt, uns nur noch ein
achfelzudtendes Lächeln abndthigen kann, womit wir uns Aber das Gebot Hins
wegfegen; Aubere aber, welche fich demfelben dennoch unterwerfen, als Thoren
beritleiben. Und fo wird das moralifche Geſez zum Scherz, zu einer Wacke,
die nur fo lange cine Bedeutung hat, als fic die Zwecke der Blüdfeligkeit und
Bere sIfommnung zu ÜüberBleiden dient. Dies Verhaͤltniß weicht nicht eher , als
wir uns entfchließen , die Zuſtaͤnde, welche uns bem moralifhen Geſet gu:
folge blos des Gluͤcks und der Volllommenheit würdig machen, ohne fie zu Bes
‚ für reelle Urſachen eines noch höheren Gluͤcks, einer noch höheren Wolls
tommenheit in einer über biefem Leben ftehenden höheren moralifchen Weltorb⸗
nung anzufehben. Ohne diefen Slauben ift eine Willenskraft, welde in allen
Bällen ausreiche, dem moralifchen Geſes nachzukommen, unmoͤglichz und wenn
es uns daher wirklich Ernft ift, ohne Ausnahme au thun, was das moraliſche
Geſetz gebietet, fo muß es und vor Allem mit diefem Glauben Ernſt werben,
ohne welchen das moralifche Gele keine Kraft hat. In biefem Glauben an
eine gerechte Vergeltung in einer Höheren Ordnung ber Dinge legt aber Beih
eingefchloffen, der Glaube an die Fortbauer des Subjects, weichem vergolte
wird, ber Blaube an eine Allwiſſenheit, Allgerechtigkeit und Allmacht,
welche vergelten Tann unb will”, Man leiche hiermit —AA treff⸗
—— über Kant's Sittenleyre, Verm. Hehriften 1. &. 6i ff., bes
> = 7
200 Kant und die Kantiſche Philofophie-
‚re un > 5 Staatslehre überlaffen bleihen muß,
Kantiſchen in dieſer Hinſicht nur Im Zuſammenhange
3 — i zu der —— gehörig, verftanden
werben Binnen. Dort (namentlich im Artikel: prakuſche Phitofophie)
wird auch der gerignetfte Ort fein, über den entf ibenden und höchit
wichtigen. Einfluß Kant's und feiner Phitofophie auf das wirkliche Leben
das Mähere zu entwideln. Mir befchränten, uns hier auf folgende
Hauptpunete in Betreff des Kantifchen Bauen, auf die Se en»
fh aft der Phitofophte, als folder. Daß Kant eine wirkliche Nevo-
{ution in der de hervorgebracht und eine neue Epoche in
derfelben, im melcher wir felber ung gegenwärtig noch befinden, begon⸗
nen hat, — * in 5* G if Schon MR. Si
meller Bazii bat Kant ai ie in mehrfacher Hin
fiöht auf das influpesiöfte und Wohtehätigfte gewirkt. Zundchjt dadurch,
'dafi er dem feichten Efleftichemus der zu feiner Zeit fo —
verbrelteten P —— ein Ende *) und an deſſen Stelle
wiſſenſchaftlichen Ernft und Strenge, fowie die — aller phil:
fophifchen Erkenntniß auf den legten und höchften Zweck des Menſchen ⸗
lebens geltend machte, wie diefes Deutfchen Geifte und deutſcher
Volksthuͤmlichteit uͤberhaupt ziemt und entfpricht**). Sodann dadurch,
daß er alle —— ſtuͤrzte, deren Weſen * darin beſteht, aus
Biafen Begeifen, umabhängig von-aller Erfahrung, Miffenfchaften au
conſtruiren, ‚namentlich mit blofer Logie — machen und Rn
abftracte Begriffe das Mefen der Dinge erkennen zu wollen ***), was
insbefondere von dem heile der Metaphufit gilt, welcher fpecula=
tive Theologie Benanht wird, weiche Ihre: 3 Lehren von der
MetelhAnfumar Em DE ai Ve sche Sr
Kant und die Kantifche Philofophie. 201
men paßt*). Aber ganz auf dieſelbe Weiſe wie den einfeitigen Ra:
tionalismus oder Intellectualismus widerlegte Kant auch den
einfeitigen Empirismus oder Senfualismus, indem er das Vor⸗
handenfein fogenannter rationaler, nicht aus der! Erfahrung flammenber
Vorftelungen und Begriffe, namentlich in unferm Geifte als Thatſache
ein Bewußtfein von Allgemeinheit und Nothwendigkeit nachwies, wel⸗
ches nad dem Grundfage des Empirismus ſchlechthin unmöglich fein
mußte *).
Der Kampf des Kriticismus gegen den Mationaliemus und Em:
pirismus (oder wie man fonft die verfchiebenen Kormen des Dog ma⸗
tismus, zu dem auch der Stepticismus, als negativer Dogmatis⸗
mus, zu rechnen ift, nennen mag) betrifft eigentlich die Thaͤtigkeit des Ver:
ftandes überhaupt, um Wiffenfhaft zu Stande zu bringen ; er betrifft
die Negeln der Kunft, mie aus der gemeinen Erfahrung Wiſſenſchaft,
als ein fuflematifches Ganzes, zu machen ſei. Der einfeitige Ratio-
nalismus verlangt hier, daB man von der Einheit und Nothwen⸗
digkeit, als conflitutivem Princip, ausgehen follte, aus dem fich alles
Wiſſen müjle entwideln laffen. Der Empirismus hingegen erkennt
als einziges conftitutived Princip die Mannigfaltigkeit der finnlichen An⸗
ſchauung an. Beiden ftellt fih der Kriticismus entgegen, welcher
von gar feinem Princip ausgeht, fondern durch bloſe Requlative als
heueiftifche Ideen das Intereſſe der beiden entgegengefesten conftitutiven
Principien vereinigt. Es ift allerdings Grundgefeb unſrer Erfenntniß,
daß alles Mannigfaltige unter Gefegen der Einheit und Nothwendigkeit
zufammengehört, aber unfre Erkenntniß geht einzig von ben vereinzelten
Anſchauungen in der Empfindung aus, für fie ift die Erfahrung, und
für die Erfahrung ift die finnliche Affection, alfo der Quell der Man
nigfaltigkeit, das Exfte und Unmittelbare. Erſt in der Wiffenfchaft, d. h.
unter ben logifhen Kormen der Meflerion, und mittelbar durch Be:
geiffe, Urtheile und Schlüffe, innen wir dieſes mannigfaltige Einzelne
unter die allgemeinen Gefege der Einheit befaffen. Es ift allerdings
ein Gefes für alle unfere Erkenntniß: baß alles gegebene und irgend zu
gebende Mannigfaltige unter Formen der Einheit und Nothwendigkeit
zufammengehört. Aber diefe Einheit und Nothmendigkeit ift uns nicht
- 9 „Die Kritik verhält fihzur gewöhntihen Schulmetaphyſik gerade
wie Ghemie zur Alchymie, oder wie Aftronomie zur wahrfagenden Aftcologie.
IH bin baflr gut, daß Niemand, ber die Grundfäge der Kritit auch nur in
diefen Prolegomenen durchgedacht und gefaßt hat, jemals wieder zu jener alten
und ſophiſtiſchen Schulwiffenfchaft „gurüdtchten werde, vielmehr wirb cr mit
einem gewiflen Grgögen auf eine Metaphyſik Hinausfehen, bie nunmehr aller:
dings in feiner Gewalt ift, auch keiner vorbereitenden Entdeckungen mehr be:
darf, und die zuerft der Vernunft dauernde Befeiebigung verfchaffen kann.
Alle falfhe Kunſt, alle eitele Weisheit dauert ihre Zeit, denn endlich zerftört
fie ſich ſeibſt, und bie hoͤchſte Cultur derſelben ift zugleich der Zeitpunci ihres
Unterganges”. Proleg. z. Metaphyſ.
»*) Fries, pol. Schrift. I. S. 388. Krit. d. 8. I. 15.
mi A In in
bleiben, weiche nur eime ner Em ge Mar
Einzelnen. b il,
en — vn Bam — Be
migaligen lien ia
and vorauszufegenden: Productes der Speculätion;, durch
metches die iſſenſchaft ze —— indem man davon ab⸗
litet geht ber —— Kun ‚einer Aunmittelbaren Beurtheilung
dev Erfahrung ſabſt aus. : Auf * Boden! det erregen
find mir Alte einheimiſch und bekannt, auf, dieſem find wir meiftentheifs
einverftanden und wiffen uns einander. verflänblich zu machen. ı —
gibt es alſo eine empiriſche Wahrheit, deren air‘ — ſind, und von
der wir ausgehen koͤnnen / um zur Speculation zu gelangen. Dleſes ift
zugleich das Ahr‘ Sotratifce Verfahren, deſſen Mefen ——
in ber dialogifchen Fotm, = darin beſteht don dem unmittelbar
Gegebenen der Erfahrung concteten Beutthellungen im
— —— und durch — unſerer Fon rar
Kant und die Kantiſche Philoſophie. 208
remen Kantianismus zurkdzulommen*). Wir koͤnnen biefe kri⸗
tifhe Methode, ‚melde aller philofophifchen Geheimnißfrämerei,
allem Monopol fpeculativer Großhändler ein Ende und die Philofophie
zur Sache der inneren Erfahrung, mithin jedem Gebildeten zugaͤnglich
macht, zugleich ale eine von dem Geiſte der neuern Zeit hervorgerufene
und ihn felber mächtig fördernde anfehen, indem fie die große Sache
der Emancipation, ober das aͤcht demofratifhe Princip (im
Gegenſatz des autofratifchen und ariftotratifchen) auch in diefer Hinſicht
geltend madıt, wie Kant felbft ausdruͤcklich von feiner Kritit der Ver⸗
nunft es ausgeſprochen **).
Was fodann das Verhaͤltniß der Kantifchen Phitofophie zu dem Gange
dieſer Wiſſenſchaft betrifft, fo zeigt fich auch hier eine durdhgreifende Ana-
logie zwifhen Kant und Sokrates, wie biefed befonders neuer:
) Sries, polemifhe Schriften &. 257. Bgl. deſſ. Sufl.d. Logik am Schluſſe.
”*) ‚Bei diefer wichtigen Veränderung im Felde der Wiffenfchaften, und dem
Beriufte, den fpeculative Vernunft an ihrem bisher eingebilbeten Befige er-
leiden muß, bleibt dennoch Alles mit der allgemeinen menfdlichen Angelegenheit
und dem Rutzen, den die Welt bisher aus den Lebren ber reinen Bern 208,
in demfelben vortheühaften Zuftande, als es jemalen war, und der Berlu
teifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Intereffe
der Menſchen. Ich frage den unbiegfamften Dogmatiter , ob ber Beweis
von der Fortdauer unferer Seele nach dem Tode aus der Ginfachheit ber Sub⸗
fang , ob der von der Freiheit des Willens gegen den allgemeinen Mechanismus
duch die fubtilen, obzwar ohnmädhtigen Unterfcheidbungen fubjectiver und ob«
jeetiver praftifcher Nothwendigkeit, oder ob der vom Dafein Gottes aus dem
Begriffe eines allerrealftien Beſens (der Zufälligteit des Beränderlichen,, und
der Rothwendigkeit eines erſten Bewegers), nachdem fie von den Schulen aus:
gingen, jemals haben bis zum Publicum gelangen und auf deffen Weberzeugung
den minbeften Einfluß haben können? Iſt diefes nun nicht gefchehen, und kann
es auch, wegen der Untauglichkeit des gemeinen Meenfchenverflanbes zu fo fub:
tifer Speculation niemals erwartet werben; hat vielmehr, was das Erſtere be:
trifft, die jebem Menfchen bemerklihe Anlage feiner Natur, durch das Zeitliche
(as zu den Anlagen feiner ganzen Beflimmung unzulaͤnglich) nie zufrieden ge:
flellt werden » önnen, die Hoffnung eines Eünftigen Lebens, in Anfe:
Yung des Zweiten die blofe Klare Darftelung der Pflichten im Gegenſatze aller
Anforüche der Neigungen das Bewußtſein der Freiheit, und Arte was
das Dritte anlangt, die herrliche Ordnung , Schönheit und Vorſorge, die aller:
wärts in der Natur hervorblickt, allein den Blauben an einen weifen und gro:
Sen Selturheber, die fi) auf's Yublicum verbreitende Ueberzeugung, fo:
fern fie auf Sernunftgründen beruht, gang allein bewirten müffen : fo bleibt ja
atcht allein diefer Beſitz ungeſtͤrt, fondern er geminnt vielmehr baburch noch
an Anfehen, daß die Schulen nun mehr belehrt werden, ſich keine höhere und
audgebreitetere Einficht in einem Puncte anzumafen , der die allgemeine menſch⸗
liche Angelegenheit betrifft , als diejenige iſt, zu der die große (für uns adhtungs:
wuͤrdigſte) Menge auch eben fo leicht gelangen kann, und fich alfo auf die @ul:
tur diefer allgemein faßlichen und in moralifher Abficht binreichenden Beweis:
nde allein einzufchränten. Dic Beränderung betrifft alfo blos die arroganten
nfpräce der en, die fich gern hierin (wie fonft mit Recht in vielen andren
Stüden) für die alleinigen Kenner und Aufbewahrer folder Wahrheiten möchten
alten laſſen, von denen fie dem Publicum nur den Gebrauch mittbeilen, den
chläffel derfeiben aber für ſich behalten (quod mecum nescit, solus vult
scire videri).“ Worr. 3. 2. Ausg. d. Krit. d.r. B.
h 2 Sokratiſche darin bewies,
fen, altes philoſophiſches Material zu neuen Zweden zu benugen und
dadurch auch wieder neuen Stügen zu verfehen. Die
Kantiſche Philofophie erfheintfhon jest als die Durdh-
——— alte wa vor — nad ihm.
u men ‚um entgegenge| chtungen wieder
ufteömen. eriebifchen Jr
einen Begriffen
halb a lichen Erfahrung) zu begründen, umb ift
in anderer „daraus wieder hervotgeſtrͤmt als eine aus Begrif⸗
fen conſtruirte Schelling’fhe J welche aus dem
Utquell des hoͤchſten die
eibung unferes Vorftellungsfages HE eingegangen in te als
Em Sharing un Conny dr vefng Grant, 6 da
BE...
Kant und die Kantifche Hhiloſophie 205
Abftoßungsfräften, unb ift wieber baraus hervorgegangen als eine
Oken'ſche Naturphilofophie, welche von ben erſten Anziehungen ber
Atome an bis in ben Organismus des denkenden Gehirns hinauf den
Act eines einzigen ſich vollziehenden Selbftbewußtfeins nachweiftt. Die
Lehren bed Grotius und Hobbes find in’s Kantifhe Syſtem ge:
drungen. ald Idee zu einem Maturrecht, und find bereichert und ver:
wanbeit wieberum daraus hervorgetreten als Staatslehren, durch welche
Männer, wie Degel und Krauſe, das deal der Platonifchen Re⸗
publik zu übertreffen fuchten. Der mit Ab dlard angefangene theo⸗
logifche Rationaliemus, welcher den Glauben aus der aͤußeren Auto:
rität in die innerliche Autorität des eigenen Gemuͤthes hinüberpflanzte,
ift in die Kantiſche Philofophie eingekehrt als eine Religion innerhalb
der Grenzen der blofen Vernunft, und ift wieder andersgeſtaltig dar⸗
aus hervorgetreten als ein Glaube, welcher feine Dogmen aus den Er-
regungen und Empfindungen des eigenen Herzens empfängt, wie er
von Schleiermacher am Gluͤcklichſten und Wirkſamſten ift vertheidigt
worden. Mit einem Worte, das Kantifche Spftem ift bie Pforte,
duch ‚welche Alles aus: und einftrömt, was die philofophifche Welt
vor und nad in Bewegung gefest bat, die univerfelle geiftige Boͤrſe,
wo ſich alle Ideencireulation concentrirt, um von dort fi) in aͤußer⸗
fin Weiten wiederum zu verlieren, das philofophifche London, welches
feine Schiffe in alle Weitgegenden ausfendet und wieder zurkdinimmt,
und für welches kein unbefuchter und unbenußter Drt auf dem Erb-
ball. dee menfchlichen Begriffe eriftict, den es nicht bei feinen Weltum⸗
fegelungen und Irrfahrten begrüßt und colonifirt hätte.‘
In Beziehung auf die neueften Syſteme der Philofophie ins⸗
befondere iſt es ebenfalls eine ganz richtige Bemerkung, daß die Philo:
ſophie des heutigen Tages einem mannigfachen Ausbau von Kammern
und Bellen gleicht, die zufammen ein ſchwer Überfhaubares Ganzes
bilden, von denen jeder der neuen Philofophen nur einen Slügel bes
Gebäudes inne hat, das im Grundriß aber von Kant conſtruirt ifl,
und daß fih Niemand nad ihm gefunden bat, der ſich als Derrfcher
bes Ganzen gezeigt hätte, wogegen, leider! gerade die große Anſchauung
dieſes Ganzen, wie fie Kant befaß, eigentlich verloren gegangen ift. Die
Nothwendigkeit, auf die Kantifche Vernunftkritik zuruͤckzugehen, wenn
man ſich in ber heutigen philofophifchen Welt gründlich orientiven will,
braucht ‚nicht bewieſen zu werden; fie iſt jetzt allgemein anerkannt.
Schon vor 30 Jahren fagte Fries*) — ber bebeutendite unter allen
neuen Philofophen, die auf der von Kant vorgezeichneten Bahn ge:
blieben und in feinem ‚Seifte, namentlih mit Anerkennung des Pri-
mats ber fittlichen und veligisfen Intereſſen, die Philofophie ſelbſtſtaͤn⸗
dig fogtgebildet haben —: „Im. Kant wenbete feinen ausgezeichneten
Zieffinn ein langes Leben hindurch auf die Kortbildung der Philofos
phie — da verfteht es fich eigentlich von felbft, dag wir Züngeren bis -
*) Am Schluſſe feines Syſtems der Logik,
Kurt. und die Rewilche Philofophie. 809
diam iheer Serie wich ſich immer von alten Serten.auf Kant
seht gegen Kat. und 3 np für Lelbnig — erkennt dieſes in
—2 der Meiſten, wenn wir mit Im. Kant den Brain ber:
fegen. Denn indem zugeflanden werben muß, daß wir biefem
gervaleigen Geiſte entfchieden die Richtung verdanken, die die Philboſo⸗
in neiserer Zeit genommen, fo tft eben damit zugleich bezeichnet,
nur die in ihm niebergelegten Anfänge im weiteren Verfolgen aus:
ibiidet terben konnten nach einer oder der andern Seite bin; daß
alfo nothwendig von ihm auszugehen fei. Und in der That, Nachfol⸗
ger wie Gegner wurzeln in ihm, und 'auf Beide übt er auch je zt noch
den: entfchiebeniten Einfluß; z am Meiften aber da, wo man, mit unbe:
ſtimmtem Triebe irgend ein Beſſeres fuchend, oder auch blos aus Sehn⸗
des Neuen, überhaupt nur ſich ihm entgegenſtellen zu muͤfſen
meint, - ohne durch ihn feiber ein wahrhaft Hoͤheres und wiſſenſchaft⸗
fidy Durchgebildetes erreichen zu koͤmen. Und fo iſt auch jebt noch ge:
tade da Tem Einfluß am Staͤrkſten, wenn auch verborgener, wo man am
'unbedingteften deifelben ſich entzogen zu haben ginubt.”
Mit diefen legten Worten meint Fichte ohne Frage bie Be:
gel'ſcher Schule, in der es biäher Mode war, auf den Kantiſchen
Stundiiiniet, als ben unkergeordneten des blos Eritifirenden -abftratten
Berffandee,. von dem angeblich hoͤhern der -fogenannten concteten
Bernehftioahtheit vornehm :Sernbzufehen,, ja auf Kant ſelbſt zu ſchim⸗
Man ging unter Anderen in dieſer Schule fo weit, daß man
die —* Philofophie für total beſeitigt und abgethan erklaͤrte, und
den Umſtaud, daß der (allerdings geiſtreichſte und vielfeitigfte) Hegelia⸗
ner Rofenkranz an Herbarr's Stelle kam, dahin deutete, Herbart, als
er ‚leute Kantianer,“ "habe durch Roſenktanz von Königsberg vertrie⸗
berz werden muͤſſen, auf daß wun die wmbebingte Dertfchaft ‘der neusten
“ ofopbie bes Unbedingten auch auf dem eigenen Lehrſtuhle Kant's
1 NG neiget 2 Aber dieſe Abſurditaͤt hat bereite ſich geraͤcht. Denn chen
J
*) Meiträge 3. Gharakteriſtik d. neuern Philoſ. 1829. ©. 29. |
a
—— Leben d ſ. Sohne 1825, ©. 41.: t zu Tage
eutblddet ne Re tteimäßigteit nicht, gegen Kant’s beralunär:
digend * einem vornehmen Zone von dem nicderen Stantpuncte,
aut dem er Era geblieben, unb von dem Bielen, was er wie blind überfes
keck auczuſprechen: kd Kant’ Bere l
— en. Dh ER eine fo *umverfhämte Aeußerung —— be, Yas
eros zu verkünden, welcher die Fortfchritte in ber intellectuellen "Sul:
auch ber Mittelmäßigkeit zu Gute kommen, herbeigeführt und deflen
Ki e die — — tt ‚mar Makler a ermödten, auf
Biife ‘ er ihnen o e und jenes ein⸗
8* wird, was er dem lee ihres Führers um ' —* ſich noch verhuͤllt
Roſenktanz*) hat ja bie seine der ‚beiden: jetzt ‚gleichzeitig: erfhienenen
Gefammtausgaben ber Kantifhen Werke beforgt ‚und. hierdurch allein
ſchon einen vollgältigen «Beweis feiner Anerkennung Kant's gegeben,
und: nod) »beflimmter erkfdet -fich ganz meuerdings ein namhafter ji
ger: Degelianer.**) in dem literariſchen Organ diefer Schule ing)
chem Sinne über die. hohe, Bedeutung ‚dev Kantiſchen Philoſophie, in-
dem er ſagt (S. 812), man thue derſelben fehr- untecht, ‚wenn, man
fie in das kahle Reſuitat, daß das. Denken die Wahrheit ‚nicht erfen-
nen koͤnne, zuſammenfaßt, und. hierüber den ‚Bang ber. Unterfuchung,
die Fülle von fpeeulativen Gedanken, die Tiefe des Princips vergißt.
Derfelbe fügt dann bei dev Nachweifung,, wie die Philofophie , ‚obwohl
nothwendig auf, fubiectiver Freiheit. und: Selbftftändigkeit des Denkens
beruhend, dennoch die objectiv göttliche Wahrheit fehr wohl in ſich auf:
nehmen and. diefe dann mod) reicher enthüllen kann ‚und ſoll, die Worte
hinzu, mit, deuen wir dieſe Exörterungen ſchließen wollen, da in
ihmen ‚recht paſſend «zugleich «der allgemeinere Einfluß Kant's
auf unſere Beit angedeutet ift: „Auch die Kantifhe-Phi-
tofopbieift cin dieſem Procefje, bes, Erkennens eine wefent-
tie Stufe; fie hat, mie fie vorbereitet war. durch die Vergangen-
Kanzleifäffigkeit. 208
Kanzleifäffigkteit (Schriferäffigkeit). Zu dm Ins
flituten,, die manche Rechte des Adels einzelnen Stänbeclafien geben;
gehört die Kanzleiſaͤſſigkeit. Man begreift darunter das Vorrecht, nur
den höheren‘ Auftizcollegten des Landes unterworfen zu fein. Se nach:
dem nun dieſes Vorrecht ſich auf dingliche (3. B. Güterbefig u. dergi.)
oder perfönliche (Aemter, Stellen und Dienfte) Verhaͤltniſſe gründet,
heißt die Kanzleiſaͤſſigkeit dingliche oder perfönliche. Der Gegen»
fag der Kanzlei⸗ oder Schriftfäffigkeit ift die Amtsſaͤſſigk eit. Was
amtsfäffig iſt, fleht unter dem gemöhntichen Richter, dem Unterrichten,
dem Amtmann, Stadt: oder Lanbrichter.
Das Inſtitut der Kanzleifäffigkeie ft fehr alt. Die im Lande
wohnenden Edelteute fanden unter den Landgerichten, deren Bei⸗
ſitzer fie theilweiſe felbft waren, und aus welchen fpäterhin die Hofge⸗
richte wurden. Nachdem die Landesherren, wie der Kaifer den Reichs⸗
bofrath, Häufig noch neben dem Hofgerichte eine Juſtizkanzlei, Regierung,
Regierungskanzlei eingeführt hatten, und biefen gleichmäßige Gerichte:
barkeit beigelegt wurbe, waren die Edelleute dem einen ober andern bies
fer Gerichte, worunter der Kläger die Wahl frei hatte, untergeben.
Aber auch bie im Lande belegenen Güter theilten ſich in amtefdffige
und Eanzleifäffige. Die eriteren beftanden aus folhen Gütern, melde
nicht in der ritterfchaftlihen Matrikel verzeichnet waren, fondern , obs-
gleich zeitweiſe von Edelleuten befeffen, von Bürgern ober Bauern her»
rührten. Unter den Eanzleifäffigen Gütern dagegen verfland man die
Ritterlehen oder auch die Erbguͤter, welche in der ritterfchaftlichen Ma⸗
trikel eingetragen waren. Nicht meniger waren in mandyen Städten
einzelne Häufer — fogenannte Freihäufer — von ber Gerichtsbarkeit ber
Magiſtrate ausgenommen. Ferner waren alle landesherrlichen Kammer:
güter vorzugsweife Banzleifäffige Güter, es mußten denn diefelben ebens
false von Bürgern oder Bauern angelauft fein. Wenn unmittelbare
Reichsguͤter auch mitten in einem Gebiete eines beutfchen Reichsfürften
lagen, fo blieben diefe doch eben ſowohl als bie fie befigende reichsfreie
Ritterfchaft blos den Reichsgerichten unterworfen. Ein unmittelbarer
Reichsadelicher aber, welcher fich in eines andern Landesherrn Dienft
begab, war ein Unterthan und fand, wenn er gleich außer Landes wohnte,
unter den Obergerichten des Landes. Gleiches gefchah mit dem unmit⸗
telbaren Reichsadelichen, der Lehengüter in einem fogenannten gefchlofs
fenen Lande erwarb, nicht allein in Anfehung jener Güter, fondern
auch in perfönlichen Klagen”). |
| Noch mannigfaltiger entwickelte ſich die perfönliche Kanzleiſaͤſſig⸗
keit. Dem bereits Sanzleifäffigen Edelmanne ſchloſſen fich da die herr⸗
*) Zu den gefchloffenen Länbern gehörte: Defterreich, Böhmen, Schle⸗
fen, die Laufis, Baiern, die Obers und Unterpfalz, Sachſen die Mark Brans
enburg und Braunſchwei ‚eünebung: Ungefhloffene Lande und Reiches
arm der feäntifhe, ſchwaͤbiſche, vheinifche, wetterauifche Kreis uind
Staats⸗Lexikon. IX. 1&
210 Sanzteifäfigkeit.
ſchaftchen, ſowohl wirklichen als titulirten Diener, die Doctoren und
ya privilsgirte Perfonen an, deren Specification durch das Beſtre⸗
der Vormehmen, ben eigenen gerichtlichen Nimbus zu erhöhen, in
dem fie ihre Untergebenen, vis & vis bem Bürgers und Bauerſtande,
daran Theil nehmen ließen, bunt genug ausfiel. Go waren auch
fopriftfäffig: die abelichen Gerichtshalter, Hausferretäre, Informatoren
und Sranzöfinnen. Unterförfter, untere Gteuereinnehmer, Pächter von
hertſchaftlichen Vorwerken, welche nicht charakterifist waren, und Pofte
halte auf dem Lande ober in amtsfäffigen Städten, ausgenommen
in Pofts oder Offictalfachen, waren amtsfäffig ; mogegen bie Poftmeifter,
Gomptoicofficianten und Poſtverwalter in den Städten ſich ber Kanzleis
fäffigtelt erfteuten. Eben fo ftanden die bei einem Obergericht in wirt:
lichen Dienſten befindlichen Perfonen, vom Oberften bis zum Unterften,
unter jenem Obergerichte. Die proteftantifchen Mediatſtifter waren den
Dbrrgerichten unterworfen; bie einzelnen Glieder derfelben aber häufig
den eigenen Stiiftsgerichten. Die Städte waren theils Fanzleis, theild
amtsfäffigs das Exftere jedoch häufiger. Die Magifttatsperfonen ftanden
unter dem Magiftratz der Bürgermeifter jedoch meift unter den Kanye
lien. Die Advocaten und Procuratöcen waren bald Tanzleis und bald
amtsfäffig. Desgleichen fand ſich bisweilen die Kanztifäfigeit durch
befonderen Gnadenact ertheilt.
Außer dem ausgezeichneteren Gerichtsſtande hatte bie Kanzleiſaͤſſigkeit
aud wohl noch andere Vortheite im Gefolge (3.8. hinfichtlich der
Steuerbeitreibung, der Heitathsconſenſe, der Confeription, der Bulaffung
zum Stubicen u. ſ. w.).
Man hätte annehmen fellen, baß die feit 1789 aud mehr und
mehr in Deutfchland ſich verbreitenden Gleichheitsideen, zumal über bie
Idee der Gleichheit des, Rechts, das Inſtitut der Kanzleifäffigteit in
dee Wurzel hätten angreifen muͤſſen. Eben fo fonnte die Auflöfung des
Karzleifäffigkeit. al |
lich getbefette — Gerichtsſtand ber Dienftboten, in fo fern fie ſchrift⸗
ſaͤſſige Hertſchaften haben, fchon ſeit mehreren Jahren aufgehoben.
&8 teischtet ein, daß ein vernunftgemäßer Mechtszuftand vom In⸗
ftitute der Kanzleifäffigkeit unmöglich etwas kann wiſſen wollen, und daß
die 3 der meiften beutfchen Verfaffungen : Alle Staatsbuͤrger
felen vor dem Geſetze gleich, auf fo Lange nur eine halbe Wahrheit tft,
als die Peoceßordnung noch zroifchen den Perfonen Ausnahmen macht
und nicht bios zwiſchen den Sachen (Proc: Dbjecten). Eben fo
verlangt ber conflitutionelle Srundfag einer gleichen Befteuerung, ba im
ben verſchiebenen Inftanzen verfchiedene Stempel ober Gerihtstaren gel
ten, die Aufhebung einer Einrichtung, weiche die Meiſten, die fie begaͤn⸗
fligen ſoll, nicht einmal mehr in der Vorftellung gluͤckllch macht. Die
Ausnahmen, die dabet Statt fänden, wuͤrden dann noch bie Mitglieder
der fuͤrſtlichen Familie und, nach ber beutfchen Bundesacte, die Stan
desherren uinfaſſen. Man wuͤrde fich damit aber Immer noch nicht voll
ftändig den in Frankreich geltenden Principien angefchloffen haben, welche,
obgleich die Pairs hinfichtlich ihres Gerichtsſtandes privilegirend, doch Die
Herzogin von Berry 1832 eigentlicdy den Geſchworenengerichten bes Lan⸗
des zur Aburtheilung zugewieſen hätten.
Die faſt völlige Aufhebung ber Kanzleiſaͤſſigkeit wuͤrde vorausfichtiich
eine beflere Einrichtung und Belegung ber Untergerichte, fo mie ein geb»
eres Raumgeben für Richters Collegien, je nad ber Wichtigkeit ber
yor ihnen zu verhandelnden Sachen, zur Kolge haben und ſonach auch
in diefen fo wichtigen Beziehungen vom weſentlichſten Nugen fein. Wirk
lich find wir auch nicht ohne pofitive Spuren, daß die bevorftehenden beuts
Then Gefesgebungen in jenem alten Wuſte mit ber Zeit gar nicht mehr
barmonirenber Lächerlicher Standesvorurtheile bedeutend aufraͤumen wer⸗
ben. Wentoftens haben ſich die beiden Kammern des Großherzogthums
Heſſen 1836 vereint und einflimmig bahin ausgefprochen, daß bas In⸗
itut der privilegirten Gerichteftände, „mit Beruͤckſichtigung erworbener
te,” im. der neuen Gefeggebung aufgehoben werben folle, während
man noch 1817 Seitens der Geſetzgebungscommiſſion und der Staatsregie⸗
ung beabfichtigte, das Privilegium der Kanzleifäffigkeit, „als Folge einer
in der unterften Inſtanz nicht colleglalifch verwalteten Juſtiz,“ auch in
ber Provinz Rheinheſſen demnaͤchſt einzuführen. Jenes „mit Berüds
fichtigung erworbener Rechte“ Hatte der Ausfchußbericht der. großherzog⸗
lc, beffifchen erften Kammer dahin praͤciſirt, daß der privilegirte Gerichts⸗
fand der Prinzen bes Haufes und der auf befonberen erworbenen Rechten
beruhenden Gerichtsſtaͤnde, „als der Standesherren u. ſ. w.“, beftehen
bleiben ſolle; — wo dann möglicher Weife diefes „und fo weiter” und bie
Begriffebefiimmung von ‚erworbenen Rechten” demnaͤchſt noch allerlei
Schwierigkeiten unterliegen kann.
Berwandt mit bem Inſtitute bee Kanzleiſaͤſſigkeid, obgleich auf ans
deren hiſtoriſchen und rechtlichen menten berubend, find bie befrei⸗
ten Gerihrsftände: 1) in Anfehung der Pperſonen und 2) ganzer
Mae
Kaften nenne man Stänbe,
—— aan Bin Su — F
ige u ee N
* Di Saftene ntheif: — Voͤltern * Walt Ihr
———
J—— mi dat je
ber Unmädhtigen wi in Gefeb und Vor|
"Stimm von Höhere Bildung ober g \
— Urbemohnern — And
jafteneinrichtung zu gründen und die Urbewohner deren
— einnehmen zu — entweder förmliche Unterjod ng, ober Cultur⸗
Diefer kam ih) dann ein verehrungsvolles und 8 —
hen gern entgegen. east —
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igften in ——— bung — —
tag, und der Volts-Wille faſt noch Beine Gelegenheit hatte
Mat.
— — in fo weit fie nicht dutch
aa Ste a ES
NE Bau sl Mohn rei
Bas
Kaſten, Kafteneinfheilung. 213
irgend eine Hoffnung von Erfolg Hin, fich zu entfalten. Und fo fehen
wie denn 3. 3. in Indien, wo die Kafteneinrichtung ſchon vor Jahr⸗
taufenden auf Zrabditionen hin beftand, noch heute theilweife ähnliche
Verhaͤltniſſe forterben, mährend anderwärts, 3. B. in Aegypten, furcht⸗
bare Stürme ber Zeit nöthig waren, um mit ben Bevoͤlkerungen und
ihren Verhaͤltniſſen auch den urfprünglichen Typus jener Kafteneinrich-
tung um und um zu fehren. Nicht aber blos mit einer entfernte:
ren Vergangenheit und demjenigen, was fie ber Jetztwelt an ſtklaviſch⸗
büfterer Erbſchaft hinterließ, haben wir hierbei zu thun. Wo keine,
Kaften im engften Sinne des Wortes waren, fanden ſich body
häufig kaſten maͤßige Einrihtungen felbft in Jahrhunderten vor,
wo der Geift des Chriftenthums und eine fortgefchrittene Civilifation
entfchiedenere Gleichheit, nicht nur vor Gott, fondern aud vor den
Menfchen hätten predigen folen. Ja noch jest, und zwar mehr ale
fhon zu anderen Zeiten Statt gefunden, macht ein Kaften-Geift in
den, meiften Theilen Europas fich geltend, welcher wie ein giftiger
Mehlthau entweder die. Blüthen am Staatenbaume unferes Jahrhun⸗
derts bedroht, oder wirklich diefelben bereits zum Wellen gebracht hat.
Selbſt bei den Peruanern und Mericanern zeigen fi, nad)
den von Clavijero gefammelten Nachrichten, einige Spuren ber Kaften-
einrichtung; Im Driente hauptfächlich aber iſt fie feit den aͤlteſten
Zelten gegründet worden. So gab es bei den Perfern fchon vor
Zoroafter eine Atheilung in vier Kaften: Priefter, Krieger, Aderleute
und Gewerbetreibende. Die Priefter oder Magier, mie fie bier bie
fen, waren ein urfprünglich medifher Stamm und vom größten Ein-
fluffe. Ihnen lag allein die Beobachtung der heiligen Gebräuche ob,
fie allein waren im Befige der Gebetsformeln, mit denen Ormuzd ver:
ehrt ward, und kannten die Opfergebraͤuche; nur durch fie Eonnte man
daher Gebete und Opfer darbringen. Auch glaubte man, daß ihnen
Blicke in die Zukunft vergönnt feien. Ueberhaupt fanden fie dem Koͤ⸗
nige als Rathgeber in feinen heiligen und weltlichen Verrichtungen zur
Seite. — Aehnliches erzählt Herodot von den Medern. |
Nirgends aber war die Kafteneintheilung fo ausgebildet und fo
ganz die Grundlage der gefellfchaftlichen Einrichtung, als in Aegypten
und Indien.
An Aegypten zählte man urfprünglich fieben Kaften. Die Prie:
fterkafte war die edelfte und reichfle; der größte und ſchoͤnſte Theil ber
Ländereien Ihr Eigenthbum. Doch befchränkten fi Beruf und Beſchaͤf⸗
tigungen biefer Priefter keineswegs blos auf den Dienft der Götter,
fondern umfaßten die ganze höhere Cultur ber Nation. Sie waren im
Beſitze aller wiſſenſchaftlichen Kenntniffe, waren Richter, Aerzte, Bart:
meifter, kurz Alles, was befondere Bildung des Geiftes und eine Aft
von Gelehrſamkeit vorausfest. Auch ben Königen ftanden fie als Rä-
the zue Seite, und da biefe in Zeit und Einrichtung der Staatsge-
fhäfte, der gottesbienftlichen Gebräuche und bes häuslichen Lebens an
ſehr genaue religioͤſe Vorſchriften gebunden waren, fo befanden fie Ti
EEE
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Kaften, Kaſteneintheilung. sis
and in bem Geſetbuche Menu's, werben die Kaften erwähnt. Es gibt
bei den Indern vier Hauptkaſten: 1) die Brahmanen ober Priefterg
2) die Kſchatrijas oder Krieger, auch Kettries und Tſchettries genanntz
3) die Weisjas (Vaiſyas) oder Gewerbetreibenden, worunter Handels⸗
leute und Ackerbauer verſtanden werden, und 4) die Sudras oder Die⸗
nenden, wohin Handwerker, Aufwaͤrter und kleine Kraͤmer gerechnet
werden. Die vierte Kaſte iſt wieder in viele Zuͤnfte getheilt; und durch
eirathen ber Mitglieder verſchiedener Stände entſtehen eine Menge
wiſchenſtaͤnde. Die Brahmanen, d. i. Abkoͤmmlinge und Verehrer des
Gottes Brahma, bilden ben erſten und einflußreichſten Stand, deſſen
Btieder heilig und unverleglih find. Sie find die Priefter, Lehrer,
Wellen der Nation, Raͤthe des Königs, Richter, Aerzte. Ein ſtrenges,
tabellofes Leben wird yon ihnen gefordert, fie follen oft faften und bes
ten, nichts Lebendes tödten oder genießen, hoͤchſtens geweihtes Opfers
fleiſch. Vor Atem follen fie fih dem Dienfte der Religion widmen,
bie heitigen Bücher eifrig leſen und erklaͤren und bie Opferceremonien
verrichten. Doch iſt dieſes nur ihe Hornehmfter Beruf, nicht ihr aus⸗
ſchließlicher. Vielmehr ift es ihnen erlaubt, fich durch jedes ehrbare Ges
(häft ihrer Unterbalt zu erwerben; daher fie in großer Anzahl weltliche
Beſchaͤftigungen ergreifen. Zu ihren anfehnlichften Vorrechten gehörte
die Abgabenfreiheit für ihre Ländereien, während die aller übrigen Scänte
bem Könige ſteuern mußten. — Die Könige der alten Inder waren
aus dei Kriegerkaſte; aber das Geſetz fchrieb ihnen vor, Ihre vornehms
ften und oberften Diener aus der Brahmanenkafte zu wählen. Durch
die Priefler und bie von Ihnen ausgegangenen umfaflenden Gefege war
die koͤnigliche Gewalt beſchraͤnkt. Wenn die Priefter und Krieger dfe
mächtigften Kaften bildeten, fo twaren die Vaiſyas doch keineswegs zus
ruͤckgeſezt. Beſonders enthält das indifche Geſetz für die zu ihnen ges
hörenden Kaufleute und Aderbauer günftige Vorſchriften. Handet,
Aderbau und Viehzucht find die vorherrfchenden Neigungen bed Im
dere. — Dagegen waren die Sudras zwar nicht von ber Ausübung
eines Gewerbes, Handwerks oder einer Kunft ausgefchloffen, jedoch wat
zroifchen ihnen und jenen drei höheren Kaften eine wefentliche Verſchieden⸗
heit geſeßt. So war es ihnen z. B. unterfagt, bie heiligen Religions
bücher zu lefen, ober dem Vorleſen bderfelben beizumohnen.
Was die außerhalb der indifchen Kaften befindliche Abtheilung
dee Paria's betrifft, fo hat namentlich Delavigne's Tragoͤdie: der
Parta, und ein aͤhnliches deutſches Stud von M. Beer, fogar bie bel⸗
letriſtiſche und Theaterwelt auf diefe ſtaatsrechtliche Inſtitution In⸗
diens hingelenkt. Aber die mancherlei Unrichtigkeiten in jenem erſtge⸗
nannten Stuͤcke und in ben Urtheilen der Pariſer Journale darüber
gaben zugleich einem alten Seefahrer, Hrn. Joſeph, Gelegenheit, in
feiner Schrift: „Les oastes de l' Inde ou lettres sur les Aindous eto,
Paris, 1822”, dieſelben zu berichtigen. Darnach HE die indiſche Eins
wohnerabthellung, weiche auf der‘ Küfte von Coromundel Pariq, auf
der Kuͤſte von Malabar Poulla ober Poulichi, und im Innern und
im Norden Indiens, ſo wie an ben: Ufern des Ganges anders heißt;
eine ‚erin, ———— Eben! ———
enge ae 6 mit den Angehörigen ber
‚vier
———— ann ein. Brahmane, * — andere Din
bow, kn, ara (ine feiner Wohnung, mit —— —— in Benehmen tre⸗
gen, und, von da zurüdtehrend , iſt er unden, Ban
(Das fpeiht-alfo doch. baflie,- daß die. ——* der
ihr. biofer Anblick "verunseinige, heute mod) nicht Nob legal; —
aud, ſoctal in Judien gilt): Eben ſo mag, nach Herrn Joſeph's
vorkommen, daß ein Brahmane einen
Verſicherung, ‚nie der, Fall
umbringe, weil ber- fanfte Hinbow. im en
verabſcheut z aber, das dispenfirt, bie, nicht von dem Vor⸗
wurfe graufamer Ungerechtigkeit, ‚wenn fie — was
aodeheu vu hun, ebagrap bare eier iiae Safaätuchekue
zu *
durch Handel, Eroberet, und Luxus ——
einticht d eben ee
— Fee Geſtalt vor
in
p äftigungen.. Die Kafte der: Brahmanen
liefert Soldaten, Kuͤnſtler, Handwerker und Sintger 6 Kaps
a enge
— — — —— ve viren
und (Poucohita oder Pourowetn)s nd
wu wife man doch auch ‚dergleichen in anderen Kaſten. Wenn
amd han Balte han Menkmanan) Aains- ai
Kaſten / Kaſteneintheilung. 217
fi davon Handelt, zu efjen, zw trinken ober zu rauchen. Go weit
die Notizen aus Herrn Joſeph's erwähnter Schrift, dieraber doch im
Ganzen mit einigem Mißtrauen zu betrachten iſt; wenn auch nicht in
Bezug auf die Wahrheitsliebe, doch auf die Prüfungskraft und Unpars
teitichkeit des Herrn Sofeph, der 3. B. auf den Umftand hin, daß bie
Reichthuͤmer und der Einfluß des Einzelnen ihre Ableiter in Werken
für das allgemeine Befte oder für weniger begüterte Mitmenfchen ha⸗
ben und bie rechte Geltung dem Individuum allein verſchaffen, die in⸗
diſche Kafteneintichtung „ſeit einer Langen Neihe von Jahrhund
das Gluͤck von 150 Millionen Menſchen machen laͤßt.“
Aber auch im Decibent, und zwar bei den aͤlteſten riechen,
teat die Kafteneintichtung hervor, nur dag man ſich, der griechifcdhen
Volksthuͤmlichkeit gemäß und bei mehr Freiheitsfinn, als jemals buch)
bie Miedberungen des Ganges und über die Nilkatarakte raufchte, bie
Grenzen keineswegs fo ſcharf gezogen und mit der Zeit immer mehr
verfhmwindend denken muß. So machten die Priefter, beſonders die
in ben Tempeln des Aesculap die Arzneikunde ausübenden, eine ganz
abgefonderte und erbliche Kafte aus, und lange vorher, ehe Theſeus
die Eintheilung aller atbhenienfifhen Bürger in drei Claſſen: Edle,
Aderleute und Handwerker, vorgenommen, kannte mian eine Einthels
lung in vier Phylen ober Stämme, welche mythiſch auf die Söhne
bes Fon zurüdgeführt wurde, naͤmlich in Kriegsadel, zinsbare Aders
bauer, Handwerker und Hirten.
Strabo fagt von den Iberiern (Spanien), daß dort ganze
Völker ſich in foiche erbliche Kaften getheilt hätten. Noch mehr find
die drei Claſſen der Patricter, ber Ritter und der Plebejer, welche eben-
falls etwas Kaftenartiges hatten, im alten Rom bekannt. Auch von
den alten Deutfchen iſt es aus einzelnen Stellen im Zacitus wahr⸗
fcheinlih und von den Angelfahfen gewiß, dag fie eine ähnliche
Einrichtung hatten. Und felbft dad, mas man bei ihnen Stände
nannte und noch bei uns nennt, iſt eine Derivation jener Kafteneinrich:
tung, nur in weniger abftracten und unbebingt gefchiedenen Formen:
babei bucch die Verhaͤltniſſe begreifbae und möglicher Weife unſchaͤdlich.
Uber noch weit möglicherer Weife das Gegmtheil. Adel, Geiftlichkeit
und dritter (Bürger: und Bauer:) Stand, mie fie, vom Beginn un:
ſerer Geſchichte und das zunftreiche Mittelalter hindurch in unfere land:
ſtaͤndiſchen Verfaſſungen fich ſchlingen, treiben nicht nur ſtaatsrecht⸗
kich, fondern auch foctal Immer nody ihre gefchiedenen Knospen. Ja,
faft noch tiefer ſchneidet dieſer fociale Unterfchled, als ber ſtaats⸗
rehtlihe. Wir wiſſen in der Wirklichkeit kaum noch von einem
Bauerfiande, was aber die Adelskaſte fei, weiß nicht nur ber
Prolstarier, fondern ber Abel felbft will umd weiß es feiner Mehrzahl
nady ; nachdem bie berüchtigte Adels kette ſich durch ganz Europa:
geringelt bat, iſt bie new erfchienene Adelszeitung (von Baron
v. Fonquo redigirt) fein neueſt pusblicirtes literarifches Manifeſt. Aehnlis.
ches beim Soldatenſtand, der, nach Organiſation (ſo lange man
236 Satafter.
politiſchen Stanbpuncte aus, worauf man geflellt war, mußte man viel⸗
mehr ben zweiten Hauptweg einfchlagen und ſich hiernach zum Zwecke
der Befteuerung vorzüglich mur nach Äußeren und objectiven Merkmalen
des Einkommens umfehen, die von den Regierungen felbft feſtgeſtellt
und fortwährend überwacht wurden. So kam benn das Kataftertvefen
mehr und mehr in Gang. Beſonders viel für diefe Löfung einer der
ſchwierigſten Aufgaben der Staatswirthſchaft gefhah in Frankreich,
mo die Idee der ftantöblirgerlichen Gleichheit die der Freiheit überlebte,
und namentlich) unter ber Fatferlihen Regierung der Mechanismus ber
Staatsverwaltung zu einem hohen Grade ausgebildet wurde. Noch jest
Tann die innere und aͤußere Einrichtung ber franzoͤſiſchen Katafter für
befonders empfehlenstwerth gelten. Bum Theil nach diefem Vorbilde
richtete fich die Gefeggebung in mehreren beutfchen Staaten. Nament-
uch ift in Baiern, Würtemberg und im Großherzogthum
Heffen für die Vervolltommnung des Kataſterweſens viel gefchehen;
mährend man ſich in anderen Staaten nod mit minder zunerläffigen
Schägungen begnügt. ,
Für die Aufftellung eines Kataſters über das landwirthſchaftlich und
forſtwiſſenſchaftlich benuste, oder body einer folhen Benutzung fählge
Grundeigenthum iſt zunaͤchſt eine Bemeffung bes Bodens bis in feine
einzelnen Parcellen erforderlich. Zu biefem Zwecke hat man ba und dort
verfchtebene Methoden vorgefhlagen und in Anwendung gebracht, bie
entweder wenig Zuverlaͤſſigkeit geben, ober andere zahlreiche Schwierig ⸗
Zeiten und Inconvenienzen zur Folge haben. Ais einfachſtes Mittel
für die Ausmittelung der dan der Grundſtuͤcke, forderte man von
den einzelnen Befigeen Declarationen über die Ausſaat, um darnach
den Flaͤchenraum zu berechnen. Aber davon abgefehen, daß hierbei die
Belchaffenheit des Bobens und die verſchiebenen Culturarten vom größe
ten Einfluffe find , hatte man _fich zugleich zahllofer abfichtlicher Ti
Kataſter. 231
heit des Bobens und hiernach deſſen Ertragsfaͤhigkeit abgefchägt werben.
Diele Bonitirung der Grundftüde ift noch viel unficherer, und vergebens
fieht man ſich nad. einem feften Maßſtabe für die Vergleichung ihres
Werthes um, mag man nun dafür die durchſchnittlichen Kaufpreiſe ober
Pachtſchillinge, ober eine unmittelbare Schägung des cohen oder reinen
Ertrags zu Grunde legen. Am meilten Anhalt gab nody die Boben-
claffification, nach Maßgabe der forgfältig geprüften und erfahrungse
mäßig bewährten Srunbfäge und Regeln dee Landwirthſchaft. Die Er⸗
gebniffe folcher Meſſungen und Schägungen für richtig angenommen,
bat natürlich ihre Zufammenftellung im Katafter, fo wie die Liquidirung
der von jeder Parcelle zu tengenden Laſten, keine befonderen Schwier
rigkeiten mehr.
Bei Gebäuden hängt das Einkommen, als ber Maßftab bes Wer⸗
the und ber Beiteuerung, in noch viel geringerem Maße, ale bei
Grundſtuͤcken, von der blofen Ausdehnung ab. Auf dem Lande, wo
“fie nur felten an und für fi) einen reinen Gewinn abwerfen, fondern
nur zum Betriebe der Wirthſchaft dienen und als blofe immobile
Merkzeuge derfelben zu betrachten find, follten fie wenigftens fo weit
in gar keinen Anfchlag kommen, als fich ihr productiver Einfluß ſchon
in dem anderwaͤrts gefhägten Ertrage des Bodens fund gibt. Im
Städten dagegen bildet der wirkliche oder möglihe Miethertrag bie
Srundlage bes Gebaͤudekataſters.
Der reine induftrielle Ertrag ift das zufammengefegte Ergebniß
des Lohne der Arbeit und des Gewinns von. dem auf die Arbeit ver
wenbeten Betriebscapitale. Die Aufgabe für die Aufftellung eines Ge⸗
werbkataſters für jeben befonderen Zweig ber Gewerbsthaͤtigkeit ift
die Feſtſtellung einer Verhältnißzahl, die als Simplum der Abgabe nah .
bem Staatsbedarfe und nach ber Ausbehnung bes Gefchäfts im bes
ſonderen Falle fich vervielfacht, oder entfprechende Zufäge erhält. Bei
der Unmöglichkeit, den reinen Erwerb jedes Einzelnen im Voraus zu bes
rechnen, hat man faft überall auch die Gewerbetreibenden in verfchiedene
Glaffen eingetheilt und hiernach der Beſteuerung unterworfen.
Im Artikel „Grundſteuer“ find bereits die Grundfäge ent-
widelt, deren Anwendung Recht und Staatskiugheit bei der Beſteuerung
bes Bodens und der Gebäude erheifchen, und die folglich auch bei ber
Aufftelung der Kataſter, die folcher Befteuerung als Bafis dienen fol
len, zu berüdfichtigen find. Um jene Anwendung im Einzelnen an-
ſchaulich zu machen, it e8 am Imedimäßigften, die das Katafterwefen
betreffende Geſetzgebung eines befonderen Staats näher in's Auge zu
faſſen. Zu diefem Zwecke wählen wie die in dieſer Hinficht fehr aus⸗
gebildete Geſetzgebung des Großherzogthums Heffen, um fo mehr, als
in diefem Staate die im Artikel „Grundſteuer“ aufgeftellten allgemeine⸗
ven Geſichtspuncte wenigftens zum größeren Theile eine fpecielle Beruͤck⸗
fihtigung gefunden haben.
Im Allgemeinen iſt vorerft zu bemerken, daß fich während der
neueren Zelt, beſonders in Folge ber Handelsvereinigung mit Preußen
son e
for nun en Immoblkiars ‚atafter
alles Grundeigenthum enchalten; die Gebäude nebſt Bir
te dingliche fobanın bie ind
Von bi Inden — d beſondets
Sa ——
unbewohnbaren
tg des Aderbaus und Stallungen ie, Die
= ee reinen Ertrag in
Dieſer reine Ertrag wird bei
* bei Sala und
eg außer ———
ähigkeit des Bodens In Safe
—— den ſie bei ihrer jegig
heit fiefert. Bei den
jerfaufsprelfe
Geldanſchlaa aebracht: bie Kofınreife nacı den
\ D
«
‘
Lataſter. 2
ber Abſtand von ber einen zur anderer nie mehr Beträge‘, als
vom Gtewerenpital eines Gebdudes bee nächft vorhergehenden, niedrigeren
Glaffe. Fuͤr die Bonitirung wird im Wefentlichen auf folgende Art vers
fahren: Die höhere Finanzverwaltungsbehörde (Ober⸗Finanzkammer)
waͤhlt für jeden Steuerbezirk eine Normalgemarkung aus. In biefer
werben burch drei Sachverſtaͤndige aus den drel Provinzen des Großher⸗
zosthums Haupt-Rormalftäde beſtimmt und bezeichnet, ſowohl
jebe ‚ als aud für eine hinreichende Anzahl von Claſſen
berfelben Culturart. Sammtliche Grundſtuͤcke der Normaige⸗
markung werden ſodann in dieſe Gaſſen eingereiht und der reine &
trag: jeder Eulturart und Claffe durch die Sachverſtaͤndigen abgefchäßt.
Aus den Varationen ber drei Sachverſtaͤndigen wird das arithmetifche
Mittel genommen und diefes mit dem Namen „Rormals Steuer
capital“ bezeichnet. In den übrigen Gemarkungen beflelben Steuern -
bezirks werden fobann Örtliche Normalſtuͤcke für die verfchiedenen Cul⸗
turarten und Claſſen gewählt und genau bezeichnet. Die Abſchaͤtzungen
bee HauptsNormalftüde in der Normalgemarkung werden den Orks
vorſtaͤnden vorgelegt, welche diefelben entweder anerkennen möüffen, ober _
ihre Reclamationen gegen diefe oder die Zarationen anderer Normalge⸗
markungen der Oberfinanzlammer zur Entſcheidung vorlegen koͤnnen.
Endlich werden die Normalftenercapitalien dee oͤrtlich en Normalſtuͤcke
in den übrigen Gemarkungen bes Steuerbezirks benen der Rormalge⸗
markung gleichgeftellt und ben Ortsoorftänden wie vorher aufgegeben,
diefe Anreihung an die Normalgemarkung entweder anzuettennen, ober
Dagegen zu reclamiren.
Zur Vollendung des befinitiven Katafter® fol eine allgemeine
Landesvermeffung In der Art fortgefeht werden, daß in der erſt en
Periode die Meflung dee Grundlinien, bie trigonometrifche Berechnung
und die Ausfteinung ber Dreiedde bes erften und zweiten Rangs, bie,
in allen Xheilen des Großherzogthums Hauptanhaltspunrte und Wer
fiherungebafen Hiefern, vorgenommen wird. Die Seiten ber Dreiecke
berfeiben Ordnung follen fich nicht fchneiden. Hiernach erſtrecken
ſich die Dreiecke des erften Rangs, ats ein zufammenhängendes Net, über
das ganze Großherzogthum; waͤhrend bie Dreiecke zweiten Range ein
Zwiſchenglled bilden zwiſchen denen ber erften Ordnung und ben für bie
Controle dee Detailmeffung beftimmten Heineren Dreiecken. In Ber
zweiten Periode fol die Aufnahme und Ausfteinung ber Dreledle db eit>
ten Range und der Gemarkungs⸗ und Flurgrenzen erfolgen; fo wie bie
Zeichnung ber Flur⸗, Gemarkungs⸗ und Bezirkskarten und die Berech⸗
nung ihrer ſteuerbaren Grundflaͤche. Die Dreiecke bes dritten Range,
dee Aufnahme der Gemarkungs⸗ und Flurgrenzen zur Grundlage bien
nend, follen mit dieſen moͤglichſt viele Duncte-gemein Haben. Die Flu⸗
gen, als Unterabtheilungen der Gemarkungen, follen im Mittel 200
bis 300 Morgen enthalten und ihre Grenzen, fo viel thunlich, entweder
“- natürliche fein, oder aus Gewanngrenzen, die Grenzmale haben, beftehen.
Endtich ſoll in dee dritten Periode die Aufnahme und Ausſteinung
Frag a een Verlangen der Gemeinden, welche bie,
Parcellens e en haben, enemmen
Koften der —— Sb rain ber —æã*
telung: des ataſters iſt verfügt, daß bei der erſten
Aufftellung die Reinerträge, Behnten und. Grundrenten ganzer Gemein-
den abgefondert zu behandeln find. Für die jaͤhrliche Fortführung der
Subrepartitionsnormen (Beittagsverhältniffe der einzelnen Grundbefiger)
follen die einzelnen ‚Refultate in ein Hauptgefcho$ zufammengeftellt
werden. Zur Grundlage diefes Hauptgefhoffes dienen die einzelnen Ge—
ſchoſſe eines jeden Steuerpflichtigen, die fich wieder in Güter, Behnt-
und: Laſten⸗ (Gefaͤll⸗) Geſchoffe theiten. Außer dem Hauptgeſcho
wird ein Klurb aufgeftellt, E3 enthält die Rein Erträge, bie Zeh
’
*
Kataſter. 422326
Gewerbſtener, bie zum großen Theile blos auf dem Bauerſtande la⸗
ſtete, waͤhrend bie ſpaͤtere Perſonalſteuer hauptſaͤchlich bie Beſoldeten und
Wohlhabenden trifft, aufgehoben und durch eine allgemeine Claſſenſteuer
erfegt. Namentlich war früher auch der perſoͤnliche Verdienſt
des Landmanns als ein Gewerbſteuercapital ſolcher, die
außer ihrem eigenen Feldbaue kein ſonſtiges Gewerbe treiben, mit 24
Sulden in Anfchlag gefommen. Diefe Abgabe fiel durch bie neuere
Geſetzgebung gleichfalls weg. Weber die Beſteuerung der Gewerbe ber "
flimmt nun das angeführte Gefeg vom 16. Juni 1827, daß jeder In⸗
länder im ganzen Großherzogthum ein Jahr lang dasjenige Gewerbe
fol treiben koͤnnen, das in einem auf Stempelpapier vom Bürgermeis
fer des Wohnorts oder der Gewerbsanlage ausgefertigten Patente ber
zeichnet ifl. Davan treten Ausnahmen ein, wenn zur Betreibung bes
Gewerbs erſt die Aufnahme in eine Zunft, oder die Einwilligung von
Standbesherren und Patrimonialgerichtähereen erforderlich ift; wenn das
Gewerbe zu ben von ber Staatsregierung bezeichneten gehört, bei wel:
hen aus pöllzeilihen Ruͤckſichten, oder aus Rüdficht auf die beftehen-
den Finanzgeſetze, ober wegen befonderer Gemwerbsberechtigungen bie
unentgeltlich zu ertheilende Zuſtimmung der höheren Abminiftrativbe-
börde vor ber Ausfertigung des Patents erfolgen muß. Zum Zweck
der weiteren Befteuerung ber Gewerbe, find diefe in fieben Glaffen
eingetheilt. Ihre Steuercapitalien richten ſich nad drei Rangſtufen
der Orte. Außerdem erhalten dieſe Steuercapitalien, nad) dem größe:
ren ober geringeren Umfange der Gewerbe von einer und derfelben
Claſſe, einen verhältnigmäßigen Zuſatz, entweder nach der Zahl der Ge
hülfen, ober nad, dem Miethwerthe des Gewerblocals. Kür einen
Gehuͤlfen wird ein Deittheil zugeſetzt; bei MWittwen wird der erfte Ge⸗
hülfe nicht aufgerechnet, und da, wo die Zahl der Gehülfen periodiſch
ift, oder im Laufe des Jahres ſich dndert, wird das Mittel genommen.
Mo der Miethwerth des Gewerblocals für die Größe des Gewerbe in
Anſchlag kommt, bildet bei Gaſtwirthſchaften, bei Muͤhlwerken und
bei Fabriken, die über fünfzig Arbeiter befchäftigen, die Hälfte bes
Miethwerths, bei ben übrigen betreffenden Gewerben aber ber ganze
. Miethwerth des Gewerblocals den verhältnigmäßigen Zuſatz. Der Ge:
werbfteuer find nicht unterworfen: die öffentlichen Beamten und befol-
beten Angeftellten; die Grunbeigenthümer und Pächter landwirthſchaft⸗
licher Grundſtuͤcke für den Handel mit ihren toben Producten; Aerzte,
Advocaten, Pofthalter, Künftler für den Verkauf ihrer Kunftprobucte;
Geſellen ꝛc. Ausländer, im Beſitz von Gewerbsanlagen im Inlande,
werden wie Sinländer behandelt. Diejenigen Ausländer, die ſolche Anlas
gen nicht befigen, müffen von einer Provinzialtegierung ein für ein Jahr
gültiges Patent loͤſen, wofür fie, nebft ber Ausfertigungsgebühr, zugleich
für das ganze Jahr die Gewerbſteuer entrichten, die, ohne verhältniße
mäßigen Zuſatz, mittelft eines Stempels für fieben. Claffen von 11
bis zu 40 Gulden erhoben wird.
Gleichzeitig mit dieſer Gewerbſteuer wurde eine fogemannte Perſo⸗
J
a Aoataſter. Aathollcismuus.
nal ſteuer eingefähet, „um ben Beduͤrfaifſen einer ‚gleichen and ger
rechten ri Kara Steuern votitaͤadig zu entiprechen und
die Seſetgebung für das Scohherzogthum in Beziehung auf bie dire⸗
cten Steuern zu vollenden.“ Die Perfonaifteure beſtimmt fi nach dem
Mıtäwerthe der Wohnungen, webel das gefammmte Local, welches ber
Steuerpflichtige für ſich und feine Familie als Wohnung benutt, in
Anſchlag kommt. Bum Anhaltpuncte dienen die Steuercapitalien des
Gebäudelatafter, denen, um fie dem wirklichen Diethwerthe gleihzus
ſtellen, nad) teglementäten Beftimmungen ein ‚Deitehet zugefeht wich.
Das allein zum Gewerbe dienende Eocal kommt etich bei der
Perfonatfteuer nicht im Auſat. Sammtliche Perſonalſteuerpflichtige
find in 9 Giaffen eingeteilt, je’ nachdem fie mit einem größeren oder
geringeren Mieihwetthe der Wohnumgen (In ber teten Claffe, bei einem
Miethioerthe von 1 dis 10 Gulden, mis 10 Bulden Normalſteuerca⸗
pital) in Anſat kommen.
Den ſchon im Artikel „Grund ſteuer“ angeführten zahlreichen
Schriften, die wenigftens zum größeren Thelle mehe oder minder auch
in da6 Katafterwefen einfchlagen, find etwa noch beizufügen: Ben»
zenberg, „Ueber das Katafter” Bonn, 1818. 2 Bde.) und „Ueber
Handel, Gewerbe, Steuern und Zoͤlle“ (Eiberfeld, 1819), v. Groß,
„Die Reinerttagsihägung des Brumbbefiges, nebſt Vorſchriften zw
einer auf Vermeffung, Bonitirung und Kataſteirung gegründeten Steuer»
tegulirung” (Meuftadt a. d. D., 1828), „Das Steueriwefen, nach
feiner Natur und feinen Wirkungen, unterfucht von 8. Krönde”
(Darmftadt und Biegen, 1804), fo wie deſſen „Ausführliche Anleitung
zur Regulicung der Steuern“. (Gießen, I. Th. 1810 u. Th. 1811).
Die zuerft genannte Schrift von Kroͤncke entwidelt bie Peincipien,
die im Weſentlichen in der nad) ihren Grundzuͤgen dacgeſtellten Geſetz⸗
gebung des Großh. Heffen fpäter zur Anwendung gelommen find. ©.
Katholicismus. — Wir mäffen, um den Begriff deffelben
Katholicismus. 297
lange fie fidy nicht in eine aͤußere Lebensgemeinfchaft ausgeſtaltet und
im diefer veckoͤrpert hat. Der Menſch iſt Seele und Leib.
ätte darum der Gruͤnder des Chriftenthums auch keine alle feine
Bekenner verbrübernde äußere Gemeinſchaft und Einheit mit ausdruͤck⸗
lichen Worten angeordnet, fo hätte er ſolche um fo unbeſtreitbarer
factifch geftifter, indem er den Geiſt der Liebe als ‘eine weltums
geftaltende, allverbrüdernde Kraft vom Vater herab fendete. Mit dieſem
Geiſte war weſentlich die äußere und fichtbare Einheit und Gemeinſchaft
aller derjenigen gefegt, welche dieſen Geiſt in fich empfingen und Ihm
gehorchten. Es bedurfte hierzu keines Befehles: wie fih denn auch
ſolche Einheit und Gemeinfchaft nicht von Außen her befehlen läßt, ſon⸗
dern frei und freubig kommen muß von Innen.
Ä Inden, eben weil der Gründer des Chriftenthums mit dem Geifte
der Liebe, den er gab, factiſch auch die aͤußere Vereinigung und Ges
meinfhaft der von diefem Geifte Getriebenen fliftete, fo mußte ihm
diefe Vereinigung und Gemeinfchaft ald die weſentliche Frucht ſei⸗
ner Pflanzung von Anfang an vorfhweben, und wir müffen fchon jet
Anordnungen von ihm erwarten für die Zukunft, mo eine von dem
Geiſte der Liebe gefchaffene fichtbare Gemeinde feiner Bekenner In ber
Melt da fein würde. In der That machte er ſolche Anordnungen.
Dahin gehört 3. B. der Auftrag, der ganzen Welt das Evangelium
zu predigen unb Alle, die an ihn glauben würden, auf den Water,
Sohn und heiligen Geift zu taufen. Es ift diefe Taufe ein Ausfons
berungsact feiner Belenner von der Welt und eine Einweiſung ders
felben in ben Kreis feiner Angehörigen. Dahin gehört des⸗
gleichen die Stiftung bes heiligen Abendmahls. Es iſt diefes Mahl
die fortdauernde fichtbare Darftellung der Gemeinfchaft Aller mit ihm
und mit den Mitgläubigen. Bei diefem Mahle follte der allvereinende
Geiſt der Liebe Alle, die mit diefem Geifte getauft worden, als Bruͤ⸗
der verfammeln und fie bis zu feiner Wiederkunft für und für als Der
einte — als Glieder Eines Leibes — darftellen. Ein Geift, Ein Brot,
Ein Leib. Dahin ferner gehört die Einſetzung des Apoftolates, d. t.
die Ausfendung der heiligen Apoftel und Jünger mit dem Auftrage
und ber Vollmacht, Gläubige um fich zu fammeln unb unter diefen
ein geiftliche® Vorſteheramt (lehrend, leitend, weiſend ac.) auszuüben.
Dahin enbdlich gehört eine gewiſſe organifche Einrichtung unter biefen
Vorſtehern felbft, die Auswahl nämlich von Zwoͤlfen aus der Zahl ber
übrigen Jünger, die Ueberordnung diefer zwoͤlfe über bie anderen, und
‚ unter den Zwoͤlfen felbft die Obenanftellung eines Einzigen, daß in bie
fem die Sefammtheit feiner Sünger und Apoftel einen Einheits⸗ und
Mittelpunet hätte, durch den fie zu einem Ganzen organifch verbunden
wäre. Diefe Einrichtung, d. h. diefe organifche Gliederung und Eini-
gung, der Dirten unter einander z0g weiter von felbft die Einheit und
Gemeinfchaft auch derjenigen nach fich, welche fi um fie, ale um ihre
Lehrer, Hirten und Fuͤhrer, fammeln würden.
Wir Haben gefagt: das Chriftentyum und ber Geil, der Liebe in
1
—
238 Katolicismus. ,
ihm, indem er Alle, bie ihn empfingen, einigte, mußte fie
unfehlbar auch zur Außeren Gemeinſchaft verbinden; und es waren
dafuͤr von dem Herrn zum Voraus in dem Apoflolate die Vereinigungs⸗
und Einheitspuncte gegeben. In der That nun vereinten ſich an dem⸗
felben Tage, an weichem das Apoflolat feine Predigt eröffnete, und
der heilige Geift der Liebe über die, welche der apoſtoliſchen Predigt
glaubten, ausgegoffen, ward, an brei Taufende zuc Gemeinfchaft; in
ihrer Mitte, als Sammel: und Einheitspuncte, die Apoftel und Jünger.
„Sie waren‘, wie die Schrift fagt, „Alte Ein Herz und Eine
Seele. Und wie fie Ein Herz und Eine Seele waren, fo auch
Außerlic zu Einem Leibe verbunden. „Alle Gläubigen”, heißt es
von ihnen,, „hielten ſich zuſammen, treu beharrten fie in ber Lehre der
Apoftel, in gefellfhaftliher Vereinigung, im Brechen des
Brotes (in der Feier des heiligen Abendmahle) und im Gebete. Sie
hatten Alles unter fi) gemein. Hab’ und Gut Bertaufeen fie und
theilten es unter Ale, Jedem nach feinem Bebuͤrfniſſe. lich fan:
den fie fi) einmüchig zufammen im Tempel brachen das za auch
8 Haufe und hielten ihre Mahlzeiten in Heiterkeit und Einfalt des
jerzene.”' .
So ift die erfte chriſtliche Gemeinde in der Welt da — hervor:
gegangen aus dem Zuſammenwirken bes heiligen Geiſtes und des
Apoftolates.
Aber der Geift Gottes ift ein ewig bleibender, und das Apo-
ſtolat gefliftet zum Ausgehen in alle Welt. Geift und Apoftolat
werden alfo in der Melt protenfiv und ertenfiv fortwirken und Die
erfte chriſtuche Gemeinde zu einer Kirche erweitern durch alle Zeiten
hinab und über alle Länder der Erde dahin.
Indeß werden ber Geift und das Apoftolat diefes thun unter Ver⸗
mittelung von 52 als welche uͤberhaupt zu allet —
Kotpolicems. 220
brachten fie zum lebendigen durchgreifenden Bewußtſein wie ihrer Eins
heit unter fidy, fo ihres Gegenfabes gegen das Heidenthum.
Die Eiferfucht der Juden gegen den Mitantheil auch ber Heiden
an Chriſtus führte zu der Idee einer Vereinigung alles bis dahin Ge-
trennten in Chriftus, zur Idee der Verſoͤhnung ber bisherigen Ges
genfäge in ber Welt und zur dee einer ohne Unterfchied alle
Völker umfchliegenden Semeinfhaft. (Man fehe z. 2.
Eph. 2, 14 fig.) .
Die verfchiedenen unter den Gläubigen ausgetheilten Wunbergas
ben bes heiligen Geiftes, von denen der Eine diefe, der Andere jene
erhalten hatte, erregten in Wielen ein neidiſches erlangen nad
ſolchen, die ihnen verfagt waren. Diefem neidifhen Begehren gegen
über machte ſich durdy den Mund des heiligen Paulus die ‚große dee
geltend, daß die Kirche ein Leib fei, beſtehend aus vielen Gliedern, des
ten jedes, zum Beften des Ganzen, wie feine eigenthümli»
hen Gaben, fo feine befonderen Verrihtungen babe. Hierdurch
wurde fofort die Kirche Chrifti zu einer großen, alle Gaben und Kräfte
der Welt umfangenden und jebe bderfelden an Ihrem Orte zur Außs
führung des Einen der Menfchheit aufgegebenen Werkes‘ einordnenden
Gemeinfchaft. .
Chriftus ift nur Einer, feine Lehre nur Eine, fein Heilsweg nur
Einer. Alte ſonach, fo Viele deren an Chriftus glaubten, waren ver: -
einigt um Einen Herrn, in Einem Glauben und Einem Lehrworte.
Aber von Neuerern und Irrlehrern kam ed, daß diefe Lehrs
und Glaubenseinheit von Allen recht ausdruͤcklich feftgehalten
wurde, und daß das, was Lehre Chrifti und Inhalt des Gemeinglau:
bene fei, Allen recht beftimmt zum Bemwußtfein fam. Wenn
ndmlid) an irgend einem Orte ein Mann mit ungewohnter Lehre in
einer chriftlichen Gemeinde auftrat, fo ward alfogleich gefragt: „Vertraͤgt
ſich diefe Lehre mit dem von Chriftus durch feine heiligen Apoftel auf
uns gebrachten Glauben?‘ Im Zweifel folgte Erkundigung bei den von
Apofteln geftifteten Kirchen. Hier ja mußte man vorzugeweife wiſ⸗
fen, was Lehre der Apoftel geweſen. Dder man fragte: „Was ift dies:
falls gemeinfame Lehre unter allen Kirchen aller Drten?” Was
ſich bei den Kirchen der verfchiedenften Länder übereinflimmend
vorfand, mußte wohl apoftolifcy und chriftlich fein. Auch kam es, wenn
ein Irrlehrer Anhang fand, menn er es zweifelhaft zu machen mußte,
ob fein Lehrweg nicht mit dem apoftolifhen übereinftimmend fei, und
wenn er, trog ſich erhebenden Widerſpruchs, auf feinen Irrwegen bes
barrte, daß fämmtliche Bifchöfe einer Provinz, ober auch der ganzen
Chriftenheit zur gemeinfchaftlichen Berathung zufammentraten. (Pro:
vinziale und Generalconeilien.) Die Bifhöfe nämlich, ald Nachfolger
der Apoſtel (die erſten Biſchoͤfe unmittelbare Schüler der Apoftel, die
folgenden Schüler von Apoftelfcyälern), waren bie. Depofitäre des ur:
fpränglichen, d. i. apoftolifchen, Lehrwortes. Sie alfo mußten wiffen,
was diesfalls die althergebrachte, in ihren Kirchen beitandene Lehre fei,
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deſſen gewtß, baß ihre Entſcheldung nicht dem apa»
widerſtrelten Fönne.
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Ketholiciämus: 2
bee Kirchen von Anfang an gelebt und fich fortgeerbt habe, bie Wahre
beit und ber Heilsweg fei, Dagegen im Abfalle von biefem allgemei⸗
nen Glauben ber Gefammtliche, Abfall von der Wahrheit. und
dem chriſtlichen Heilswege. Mochten fi bei den Abtränuigen
chtiſtliche Wahrheiten finden, fo doch nicht die Wahrheit. Im
Gegentheite war jeber Abfall von der Objectivität des Gemeinglaubens
eine Geitendmachung des Principe der Subjectivitäten, und
damit eine- Auflöfung der Einen in die Welt bingeftellten Chriftuss
wahrheit In fo viele Anfihten und Meinungen als Individualitaͤten.
Daher bee Gap: außer der Kirche, d. i.im Principe der Sub⸗
jeetivitär, Bein Heil für die Menſchheit.
Es verftcht fich weiter von felbft, daß die Kirche, im Bewußtſein,
die von Chriſtus gefegte Bewahrerin der Wahrheit zu fein, Jeden als
ausgefhieden von ihr betradhtete und von fih ausfchieb,
N
weicher fi, von dem Einen allgemeinen Glauben trennte und ber ſtets
beftandenen und von Allen gemeinheitlich anertannten Lehre
fene Privatlehre entgegenfegte. Schon bie Apoftel hatten ausdrüd:
lich die Einheit der Lehre feftzubalten und von Irrlehrern zurüdzus
treten befohlen.
Doch follte die Glaubenseinheit ausſchließend für die von
den Apofteln verkündete und von Anfang an in allen
Gemeinden vorhandene und bewahrte Lehre gefordert werden.
Was außerhalb dieſes Kreifes lag, follte der freien Anficht eines
Jeden überlaffen fen. Auch felbft in dem, mas Gemeinglaube mar,
Tonnte und mollte die Individualität der Gläubigen, d. i. die eigens
thuͤmliche Anſchauungsweiſe eines Jeden nicht unterdrückt werden. Wohl
war das Lehrmort und Slaubensbelenntniß Allen gemeinfam ; aber tie
mannigfach mobdificiet dabei die innere Auffaffung, Verarbeitung ıc. des
gemeinfamen Wortes! —
Tun noch die Frage: wie verhielt ſich das gefchriebene Wort
dee heiligen Apoſtel und Evangeliften zu der aller Orten gehaltenen
and von fämmtlichen Kirchen angenommenen und bemwahrten Predigt.
berfelden? — Die mündlihe Predigt und die Belchrung der
Hirten und ihrer Gemeinden durch diefe war das frühere. Die Vers
?örperung der Predigt im gefchriebenen Worte war das ſpaͤ⸗
tere. Allerdings alfo hatte man in lesterem (in dem gefchriebenen
Worte), wenn man bie heiligen Apoftel aud nicht mündlih hören
konnte, ihre Lehre fchriftlich; und dieſes fchriftliche Wort mar und blieb
normgebend In den Kirchen für und für. Aber diefes fchriftliche Wort
bob das muͤndlich gefprochene nicht auf. Im Gegentheile: ob ein ges
fhriebener Auffag wirklich apoftolifches Wort fei, mußte fi be:
währen an feiner Uebereinftimmung mit bem in den Kirchen bewahrten
mündlichen Worte. ine den Apofteln untergefchobene Schrift ward als
foihe erkannt an ber in ihr enthaltenen Abweichung von dem münbds
lich empfangenen und im Gemeinglauben bewahrten apoftolifhen Worte.
So wurde bie lebendig fortgepflanzte Lehre und das Epifkopat (als des
ven Bewahren) der Kicht ex über die Kechtheit bee apoftelifchen
Schriften. Achnliches galt in Bezug auf Unverfätfgeneit berfels
Kirche
sleger der apoſtoliſchen Schriften aner ⸗
-Diefes um fo mehr, als (mie ſchon oben ber
merkt wurde) der Glaube feſtſtand, der heilige Seiſt (ausbrädkich -ges
ſendet, um die Lehrer in alle Wahrheit einzuführen) werde
die Gefammtheit der Lehrer im Geſchaͤfte bee Ausbeutung ber apo=
ſtollſchen Worte leiten und in diefer Ausbeutung nie einen Abfall von
bem Sinne: und Leheiwege Chriſti geftatten. ndlid), ba es bei der
mehr und weniger bios gelegenheit lichen Abfaffung ber apoftoli«
ſchen Schriften Leicht geſchehen mochte, daß einzelne Lehrpuncte in den ⸗
ſeiben gar nicht vorkamen oder doch nur ganz. obenhin und wie zu⸗
fällig berührt wurden, war es ber In ber Gefammtheit ber Kirchen fort«
lebende voliſtaͤndige Lehrbegriff, welcher ergänzend zu bem fchriftlis
dm Worte dee. Apoftel. binzutreten mußte. Ueberhaupt ſollte und
wollte das ſchrift liche Wort ber Apoftel nicht etwa an die Stelle
ber lebendigen Prebigt treten, vielmehr fort und fort durch diefe
aus feiner Werfeftigung in Fluß und Leben umgefegt werben.
Aus dem VBisherigen ergibt fi uns num ber richtige Begriff
vom Katholicismus. Faffen mir. für's Erſte bie Kräfte in's
Auge, aus denen er entfpeofien iſt und fortbauernb hervorgeht, fo iſt er
das von Chriftus eingelegte Apoftolat, ausgegangen und ewighin
ausgehend in alle Welt, umtingt von Millionen. Gläubiger. — Alle
bin übrt ben In guusgeaofl eilt d abrhett
t_burch Gi
Katholicismus. 288
gekommen und in die Welt eingeführt. — Faſſen wir ihn im Ge:
genfage gegen den menſchlichen immer mehr und weniger für,
fich und iſolirt fchaffenden, nie die Idee einer organiſch ſich einenden
Thaͤtigkeit begreifenden Egoismus, fo iſt er |
bie organifche Vertheilung und das harmoniſche Zu⸗
ſammenwirken der verfchiedenften Gaben und Kräfte zur
Ausführung der Einen der Menfchheit geftellten Gefammtaufgabe. —
Schauen wir auf die Organifation, durch welche eben die Allges
meinheit und Einheit allee Gläubigen vermittelt wird, fo ifl er
jene Einrichtung, nach welcher aller Orten von Chriſtus eingefegte
Lehrer, Snadenfpender und Leiter ftehen ; um fie, ald um Mittelpuncte,
Hörer, Gnadenbedürftige und Leitfame ; nad) welcher diefe Lehrer, diefe
Spender der chriftlichen Heilsmittel und Leiter fammt ihren Angehö-
eigen verfammelt find (als um Höhere Einheitspuncte) um Oberhirten
oder Bifchöfe; und nad) welcher endlich die Gefammtheit der Bifchöfe
fammt ihren Hirten und Gläubigen zu einem einzigen Körper orga⸗
nifch verbunden ift in einem oberften Bifchofe — dem Nachfolger des
von Chriftus gefesten Hauptes der Apoftel — des heiligen Petrus.
Dem Katholiten erfcheint daher der Gedanke an eine Ablöfung von
dem kirchlichen Einheitöpuncte und an eine Vereinigung in Natio-
nalkirchen als ein Abfall von dem eigenthümlihen Wefen des Ka:
tholicismus, welches ja eben Einheit und Allgemeinheit ift. Nod
mebr: jener Gedanke erfcheint ihm als Rüdfall von dem Univerfas
lismus bes Chriftentbums zum Particularismus der vor=
chriſtlichen Zeit. Wie einft, fo würde in Nationallichen auf’s
Neue die Religion nicht das große, Gott und Menfchheit vereinigende
Band, fondern ein Landesinftitut fein. — Uebrigens ifl die in
dem Katholicismus liegende, eben gedachte durchgehende Unterordnung
und Einigung mefentlid eine organifche, daher nicht die felbfi:
thätige Kraft und Wirkfamkeit des einzelnen Gliedes
an feinem Orte aufhebend oder hemmend, fondern nur hindernd,
daß folche nicht etwa der allgemeinen Einheit des Glaubens und Lebens
Zuwiderlaufendes ſchaffe. — Faſſen mwir den dem Katholicismus eigen-
thümlihen Lehr: und Lernweg in's Auge, fo ift er
der apoftolifhe Lehrbegriff in ununterbrodener,
von dem heiligen Beifte gefhüster Vererbung. Es ift
nach ihm hriftlich, mas katholiſch ift, d. bh. was von ben Apos
fteln an zu allen Zeiten und in allen Kirchen als Wort, als Stif:
tung und Anordnung Chrifli gegolten bat. Selbſt die heilige Schrift
iſt nach ihm bie heilige, meil als ſolche zu allen Zeiten und in allen
Kichen anerkannt und überliefert. Der Katholicismus ift der ausge:
machte, der fertige, der ſtets beflandene, nicht erfi auszumit:
telnde chriftliche Lehrbegriff; der Anſchluß aller Einzelnen an bdiefen
und die Unterwerfung des Privaturtheil® unter den vom Geifte Gottes
behüteten Gemeinglauben. — Iſt alfo (kann man fragen) im Katho:
licismus uͤberall Fein Fortſchreiten, fondern geiftige Exftarrung? — Je
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nichts mehr zu chun, denn ber Leht
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3
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welhe de m Princhpe des Privarurrheits folgen, fo ift er
Katholicisnus. 285
orientiren mögen. In der That, wenn es auch nit Ein Bud
der Beiligen Schrift mehr gibt ,. deſſen Verfaſſer und Inhalt unanges
fochten wäre, und wenn enblich felbft Chriſtus ats hiſtoriſche Perfon
in Frage geftelle wird, fo ift es wohl einzig noch die Batholifche Kirche
— diefes lebendige, von Anfang an durch die Jahrhun⸗
berte feſt gefhloffen herablaufende Zeugniß, was bie heis
lige Schrift, was ben geſchichtlichen Chriffus und damit das
Ehriſtenthum ſelbſt fiher ſtellt. — Faſſen wir den Katholle
cismus endlich in feiner gefchichtlihen Entwidelung, fo iſt er
das Chriſtenthum ale Sauerteig, gemengt unter drei Scheffel
Mehl. Das Mehl ift die Menfchheit. Der Katholicismus, d. h. dab
Apoſtolat, ging mit dem Worte und der Gnade bes Herrn, gefräftigt
von dem heiligen Geifte, aus, die Menfchheit zu durchſaͤuern. Nas
türlich gab der Durchfäuerungsproceß nach ber Verfchiedenheit des Durchs
fäuerten Stoffes, d. h. nach der Eigenthuͤmlichkeit der Zeiten, Voͤlker
und einzelnen Perfonen , bie verfchiedeniten Erfcheinungen; und wenn
fit) in ihm oft das Chriftentbum zu einer Zeit nicht rein darftellte, fo
trug wohl das Mehl, nicht der Sauerteig daran die Schutt. Man
beurtheilt ben Erzieher nicht blos nach dem Erfolge, fondern auch nad)
dem Charakter des Zoͤglings, und beurtheilt den Erfolg nicht nad) dem,
was fich heute, fondern nach bem, was ſich im Werfolge und am Ende
zeigt. Eine andere Beurtheilung iſt bornirt und ungereht. Wenn
ba6 und bdiefes, was fi) aus dem Geifte und Bebürfniffe ber Jahr:
hunderte berausgebitdet Hat, im Katholicismus noch erhalten wird, ob
es fich gleich vielleicht überlebt hat, fo muß man nicht vergeffen, daß einer»
ſeits das Urtheil über Abgelebtheit ein ſchweres ift, anderſeits das Prin⸗
cip dee Erhaltung zum Weſen des Katholicismus gehört.
Vielleicht fragt man, wozu diefe ausführliche Erörterung bes Ber
griffs des Katholicismus in einer Encyklopaͤdie dr Staatsmwiffen»
(haften? Die Antwort lieat nahe. Die Staatswiſſenſchaften koͤn⸗
nen nur bie Wohlfahrt der Staaten befördern wollen. Nun hängt
aber die Wohlfahrt der Staaten eng zufammen mit der Achtung,
welche einer Confeffion und ihren Belennern von Seite ber Regierun>
gen und der Mitbürger zu Theil wird. Es iſt hier folglich ganz an
feinem Orte, ben Millionen, welche ſich zur katholiſchen Confeſſion bes
kennen, durch Darlegung des Mefens diefer Confeffion, wenn auch
nicht die Beiftimmung der Andersdentenden, fo doch die Achtung ber»
felben zu vindiciren.
Es fei nun noch geftattet, einen Blid auf den Einfluß zu wer
fen, den der Katholicismus auf die Völker im Großen, dann auf bie
einzelnen Staaten, ihre Verfaffung und ihre Wohlfahrt ausüben
mag. Wir fagen nit: ausüben muß, indem wir wohl wiſſen, wie
Vieles diefen Einfluß, fo unläugbar berfeibe auch im Weſen des Ka⸗
tholicismus Liegt, ganz ober theilweife hindern Tann.
Im Katholiciemus liegt vor Allem die Idee eines allgemets
nen reinen Voͤlkerrechtes und Volkerwohlwollens. Da
286 Katholicimus.
er nämlich das Chriftenehum tft, Glaͤubige aus allen Nationen ſam⸗
melnd und fie in Liebe vereinend zu Einer Familie, fo fteht nicht zu
erwarten, daß er in der Entwidelung diefes feines univer:
falten Charakters auf halbem Wege ftchen bleibe. Es liegt
vielmehr weſentlich in ihm, daß er bald nicht mehr Gläubige aus
allen Nationen, fondern bag er bie Nationen felbft fammle
und diefe nicht anders betrachte, benn als Individuen neben einander,
auf der Baſis gegenfeitiger Gerechtigkeit und Liebe zu einem großen
iedifchen Gemeinwefen gehörig. — Allerdings hat das Chriftentgum zur
Zeit den Nationalegoismus nody viel zu wenig überwunden. Nichts
defto weniger liegt es ald geſchichtliche Thatſache vor, um wie
viel daffelbe, namentli in der Form des Katholiciemus, bie Voͤlker
einander näher gebracht hat.
Wenn es jemals unter den Nationen zu einem Zufammenftehen
für ein großes Gut der Menſchheit kommen folte, fo wäre ſolches Zur
fammenftehen wohl nur durdy Vermittelung des Katholiciomus denkbar.
Erſcheinungen, wie z. B. die Kreuzzüge, koͤnnen wohl nicht außer dem
Katholieismus vorlommen.
Was das Verhaͤltniß des Katholicismus zu den einzelnen Staaten
betrifft, fo ift daffelbe in vieler Hinficht kein anderes, als das der Kirche
überhaupt zum Staate. (Siehe darüber den einfchlagenden Artikel.)
Dos verdient Einiges in dieſem Verhaͤltniſſe ausdruͤcklich berührt zu
toerben.
Der Katholicemus hat (meil lediglich praktifches Chriſtenthum)
nichts mit der Werfaffung der Staaten zu ſchaffen. Er kann feine
Aufgabe verfolgen und erreichen unter jeder Regierungeform, die dem
Bürger ein rechtliches Dafein ſichert. Ex fordert nur und bittet zw
Sott um jene Äußere Ordnung, bie nöthig it, „daß wir (wie der Apo⸗
fiel fagt) ein ftilles und ehrbares Leben führen mögen in
Sottfeligkeit.”” Doc, _ift feine Verfaffung (mweil_ihrem Grundcharatter
Katholicismus. 237
Wenn ferner einer der Hauptzwecke des Staates die Sicherheit
des Eigenthums und der Ehre iſt, ſo kann auch von dieſer Seite
ber Katholicismus nur förderlich auf denſelben wirken: fo fern naͤmlich
nach katholiſchen Srundfägen in ber Regel Beine Sündenvergebung iſt
außer in Kraft der Beichte und priefterlichen Losfprehung, und feine
Losfprehung außer in Folge gefchehener Wiedererflattung — ſei es
der Ehre oder bes Eigenthums.
Der Katholicismus betrachtet fich felbft als eine nicht von Men:
fhen, ſondern von Gott gefliftete Anftalt, hat feine Verfaffung un-
mittelbar von feinem Stifter und fpricht freies Leben unb freie Be⸗
wegung au. Dan hat ihm daher zumeilen aufgebürbet, daß er ein
Staat fein wolle im Staate. Aber er wäre ein Staat im Staate nur
- dann, wenn er JIntereſſen und Zwecke hätte, denen des Staates fremd
ober gar zumiderlaufend. Da er aber nichts iſt, als das Chri⸗
ftentbum, in's Leben gefegt — wie kann er ein Staat fein im
Staate und bem Wohl eines Volkes fremb oder entgegen? — Hödy-
ſtens mag er mit ber Selbſtſtaͤndigkeit, welche er anfpricht, jenen zum
Anſtoße gereihen, welche ber Anficht find, es dürfe nichts leben und
fi vegen, das nicht von ihnen gefegt und regiert fei. In Wahrheit -
ift dee Katholiciemus nicht ein Staat im Staate, fondern bie vom
[H (mehr und weniger) durchdrungene Menfchheit im Staate.
: Mebrigens laͤßt ſich der Katholiciemus von: jedem Staate, in wel:
chem er lebt, willig beauffichtigen. Nicht als könnte er an ſich
dem Voͤlkerwohle jemals nachtheilig fein, fondern dazu, daß nicht etwa
Semand (feinem Geifte entgegen) angeblid in feinem Namen etwas
in felbflifcher Anmaßung unternehme, fo der bürgerlihen Wohlfahrt
zuwider. Wo er dagegen von einem Staate nicht blos beauffichtigt
wird, fonbern wie eine Landesanftalt angefehen und behandelt werben
wii, ba Hast er ob ſolches Webergriffs und fieht fih in feinem in:
nerften Leben, d. i. in der von Chriſtus empfangenen Seibftftändigkeit,
bedroht. — Auch des Schutze s ber betseffenden Regierungen mag er
fi gerne erfreuen und wirb folchen überall dankbar anerkennen: wie⸗
wohl es ein ungerechtes Mißtrauen gegen feinen Stifter verrachen
würde, wenn er nicht glaubte, daß er auch, blos dem @eifte Gottes
und fich felbft überlaffen, blühen koͤnnte.
Wenn etwa der Katholicismus auf die Wohlfahrt (auch die bür-
erliche) irgend eines Volkes nicht fo wohlthätig einwirkt, als er feinem
Weſen nach follte, fo liegt das nimmermehr in ihm, als ſolchem, ſon⸗
bern (mo nidyt in eigenen aͤußeren Verhältniffen und unglüdlichen Ein-
flüffen) darin, daß feine Lehren und nftitutionen von feinen eigenen
Bekennern vielfach nicht gehörig begriffen und noch weniger in feinem
Geifte ausgeführt find; daß hier und dort eine Form geblieben, aber
der urfprängliche Geift aus ihr entiwichen ift, und daß nicht felten
jener Eifer, welcher dem inneren An = und Fortbaue der chriftlihen Wiſ⸗
ſenſchaft und des chriftlichen Lebens zugewendet fein follte, aͤngſtlich der
Erhaltung alles und jebes Dergebrachten zugemwenbet wird. Wenn man
i
2 Kathofkeiäirne:i'n Kauf.
daher den Karpolktuniiß' und deffen gefegneten Einfluß auf Bolker · und
Bürgerwohl fbrdern WIN," muß man die Wiſſenſchaft und Liebe bes reis
‚nen (nicht des tatkonaitfltfhen) Chrifterrthums unter feinen Bekennern
pflegen; muß dadurch fein (des Katholicismus) Selbitbeiwußtfein mög
tchft allgemein aufklaͤren und feine innerfte geiftige Lebens+ und Krieh-
kraft heben. Was ihm der Durchgang durch die Tahrhunderte, war
nicht in feinem Weſen, wohl aber in feinem Beiwerk Ungehöriges ange
hängt Haben mag, wird fofort (fan Laffe ihm mir Seit) durch feine ger
funde innere Kraft Son ſelbſt außgeftogen und abgeworfen werden. Yede
eines Gemeindebezirks gelegenen unbeweglichen Gutes fei. Im alten
Deutſchland war bdafke anerkannt, wer ein But untee Garantie der
Gemeinde durch öffentliche Auflaffung bes bisherigen Inhabers: vor ders
felben erworben hatte. Dieſe Form Sam wegen fhrer Läftigkeit mit der
Zeit in Abgang, umb eine andere, leichtere, dabei zugleich zuverlaͤſſigere
trat an ihre Stelle, beſtehend darin, dag die Käufe in öffentliche, unter
der Garantie dee Gemeinde geführte Bücher eingefchrieben wurden, und
nur derjenige für den rechtmäßigen Eigenthuͤmer und dinglich Werechtig-
ten eines unbeweglichen Gutes galt, den diefe Beurkundung dafür ers
Härte. Diefe Form befteht mitunter noch jest. Außerdem aber wird
heut zu Tage theild nur zum Zweck des Beweiſes, häufiger jedoch zur
zechtlichen Gültigkeit eines Kaufvertrags über Immobilien erfordert, daß
i
' Kauf. — Rinbermorb. a
Sin. manchen Ländern iſt es den Beamten gefehlich verboten, inner»
halb ihres Amtsbezirks unbewegliche Güter zu kaufen“), oder bei öffent»
licher Verſtelgerung ſolcher mitzubieten**), wovon der Grund offenbar
darin Gegt, zu verhindern, daß das amtliche Anfehen zur Bereicherung
auf Koften Anderer mißbraucht werde, |
In Beziehung auf Mobilien iſt insbefondere der Viehverkaͤufe zu
erwähnen, mobei allgemein dee Verkäufer bem' Käufer für gewiſſe echeb>
liche, nicht in die Augen fallende Fehler und Krankheiten, fogenannte
Hauptfehler, während einer gefeglich beflimmten Zeit, gewöhnlid, von
14 Tagen ober 4 Wochen (Währzeit), haften muß, fo daß der Käufer
innerhalb dieſer Zeit wegen eines folchen entdedten Fehlers vom Ver⸗
teag abgehen kann, in fo fern die Gontrahenten nicht ausdruͤcklich etwas
Anderes bebungen haben. Diefes findet Statt bei Pferden, Rindvieh,
Schafen und Schweinen.
Endlich iſt noch zu erwähnen bes in älteren Reichsgeſetzen (Reichs⸗
polizei⸗Ordn. von 1543 Fit. 10. und von 1577 Xit. 19) gegen den
Wucher gerichteten Verbots, Früchte, die noch auf dem Halme ftehen,
zu laufen, es wäre benn, daß ber Kaufpreis nach dem gemeinen
Werth des Ertrags zur Zeit des Gontracts ober 14 Tage nach ber
Ernte beſtimmt wird. G. Ruͤhl.
Ketzer, ſ. Auto da fe und Duldung.
Kindermord. Verheimlichung der Schwangerſchaft
und Geburt. Abtreibung ber Leibesfrucht. Kinderaus⸗
ſezung. — Unter ben Verbrechen, weiche als Beraubung des Gutes,
das als das hoͤchſte angeſehen wird, als Beraubung des Lebens ers
ſcheinen, hebt ſich durch charakteriſtiſche Individualitaͤt der Kinder⸗
mordese) hervor, die von ber Mutter an ihrem neugeborenen lebens⸗
fähigen unehelihen Kinde begangene Xödtungr). Diefer Mifferhat
*) 3. 8. in Braunfchweig.
*0) In Heſſen.
vr Burzer, Bemerkung über den Kindermord und deſſen Beſtrafung
(eeipiig, 1822). Sans von bem Verbrechen des Kindermords. Hannover,
1824, Mittermaier, Beiträge zur Lehre vom Verbrechen des Kindermords
und der Verheimlichung der —— (im ſiebenten Bande des Neuen
Archivs des Sriminalrechts, Halle, 1825). Moft, Encyklopaͤdie der Staatsarzneis
kunde, Band 1. Leipzig, 1838, &.1001—1016 s.v. „Kindermord, In-
fanticidium Te und &. 1016
—1020 s. v „Kindermord (criminaliftifher). Brefeld, Beitrag
Er Lehre vom Kindermord, befonders in Beziehung auf die Repifton der
dnigl, preuß. GStrafgefede (S. 368-388 des 32. Bandes der Hentefchen
Zeitſchr. f. d. GStaatsargneit, Grlangen, 1836). Henke, Bemerkungen zu
biefem Beitrage (©. 426353 deff. Band. feiner Zeitſchr.).
+) Spangenberg über den Begriff bes Kindermorbs (im zweiten
und dritten Bande des Neuen Arch. d. Grim.sechts). Mehrere Strafrechts⸗
lehrer forbern bie berandgegangene Berheimlichung der Schwangerfchaft zum
Begriff und Thatbeſtand; allein biefe ift, in Verbindung mit der Werhrims
lichung der Riederkunft, nur die gewöhnliche vorangehende Begleitung der That,
Bergi. übrigens Wäctes Über Werheimlichung der Schwangerſchaft und
ga
>
240 —E—
gibt ſich, vorzugewetſe aus dem publieiſtiſche n Geſichtopunete in's
Auge gefaßt, befonders in drei Beziehungen bie Betrachtung hin: —
GSefeggebung und Gefeggebungspolicit binfichtlich der Straſe, befonders
der Größe derſelben. — Staatsarzneikunde, als gerichtliche Medicin,
Lehrerin des Gefeggebers und ein wichtiges Hülfsmittel der Steafrechts:
pflege. — Mittel, um dem Verbrechen vorzubeugen.
ı Gefeggebung und Gefeggebungspolitit*). Das beutfche
Mittelalter erfannte in der That der Mutter, welche fähig fei, das
kaum aus ihrem Schooße in das Leben hinausblidende Kind, das
fie unter ihrem Herzen getragen, mit eigener Hand oder durch Ver⸗
fagung der nöthigen Hälfsleiftung zu tödten, ein unnatuͤrliches Ver⸗
brechen, welches mit der Graufamkeit beſtraft werden müffe, mit wel:
her es begangen worden fei; es vollzog die Strafe bes Lebendigbegra⸗
bens und Pfählens**). Die Strafgefeggebung- Kaifer Karl's bes Fünf:
ten behielt diefe qualificirte Todesftrafe nur ausnahmsweiſe bei und droht,
im Algemeinen milder, der Schuldigen den Tod durch Ertraͤnken.
Artikel 131 der peinlichen Gerichte: Ordnung: „Welche Weiber ihre
Kinder, fo das Leben und Gliedmaß empfangen haben, heimlicher,
boßhafftiger, willlger Weiß ertödten, die werben gewöhnlich lebendig
begraben und gepfäle. Aber barinnen Verzweiflung zu verhüten,
mögen diefelbigen Uebelthäterin, in welchem Gericht bie Bequemlichkeit
des Waffers vorhanden ift, -ertränkt werden. Wo aber foldyes Uebel
offt geſchaͤhe, wollen wir die gemeldte Gewohnheit des Vergrabens und
Pfaͤlens um mehr Furcht willen folder boßhafftigen Weiber auch zu
taffen.” Der fpätere Gerichtsgebrauch behielt die Todesſtrafe bei, welche
er in die Strafe des Schwertes verwandelte***); ließ ſich aber in neues
ver Zeit von ber durch bie Wiffenfchaft nahe gerüdten Betrachtung der
Niederkunft, als Erforberniffe des Thatbeftandes des Kindermorbs (Archiv des
Kintermort. | 793
zur That Eüheiuben Motlve, fo wie bes geifiigen und phyfiſchen Zuſtan⸗
des dev Gebaͤrenden, dazu befiimmen, von ber Todesſtrafe abzugehen*)
und nur. auf zeitige, hochſten⸗ lebenẽewierige Freiheiteſtrafe zu erkennen.
—— werde da, wo auf bie Todesſtrafe erkannt wurde, dieſe
icht voltgogen**). Schon im vorigen Jahrhunderte erhoben ſich, un⸗
* derch das abſchreckende Beiſpiel graͤuelvoller Juſtizmorde, Stim⸗
gegen Die extreme Veſtrafung bes ſogenannten Kindermords.
(Deus mit NRecht fagt Mittermaier a. a. O. S. 218: „Unrichtig iſt
e6, wenn man den Kindermorb immer als eine Art des Mordes ans
ſicht, da in den meiften Faͤllen gewiß mehr ein Zufland zum Grunde
Itegt, ber dem Buftande des Tobtſchlags zu. Grunde liege”) Be ccaria***)
gab fein von Anden unterftüßtes}) Votum ab, weiches aber von den
Geſetzgebern fofort nicht beachtet wurde. Der Schöpfer des preußifchen
Landrechts, das auch als Straf: Gefegbudy noch herrſcht, verordnet
(X. 2. Tit. 20. $. 966-967) noch: „Eine Mutter, die ihr neuges
borened Kind bei ober nach bee Geburt vorfäglich toͤdtet, foll mit der
Todesſtrafe des Schwertes belegt werden tt). Jebe vorfägliche Unter
nehmung oder Veranflaltung ber Mutter, welche den Tod ihres neu-
geborenen Kindes, dem gewöhnlichen und ihr bekannten Laufe der Dirige
gemäß, nad fi, gezogen hat, ift mit diefer Strafe zu ahnden. Wenn
eine Wöcnesin ihr Kind durch umterlafiene Werbindimg ber Nabel⸗
ſchnur vorfägtich verbiuten läßt, oder demfelben bie nöthige Pflege und
Abwartung vorfägtih entzieht, fo wird fie als bie Mörderin deffelben
angeſehen PD." Ja ſelbſt dad bereits aus dem Schooße des neunzehn⸗
*) FJenerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts. Mit vielen Anmer⸗
en und au ſatparagraphen herausgegeben von Mittermaier. Gießen,
1. Rote 1 des Herausgebers zu $. 236. ©. 217. 218.
Pr So wurde 4. 8. im Sabre 1831 in Würtemberg in 4 Faͤllen auf die
| —5* dieſe aber nicht vollſtreckt. Archiv des Eriminalrechts.
Kr Fe. Sa 4 1834, ©. 10. Weber Hannover und Dänemark f. ebens
**7) Abhandlung von Dertrehen und Gtrafen. Aus bem Stalienifchen von
Bergk. Leipzig, 178. Th. 1. S 292.
+) unterfu ‚ob der Berfchuldung einer Kindesmörderin die Todes⸗
Auafe angemeffen Bon on ©. U. D. Eeimia, 1798.
+4) De Dalber g’fhe „Entwurf eines Gefehbuchs in Griminalfachen‘
(v. 1792) fehlug vor: „Kindermord im Augenblide ber Geburt, ohne vor⸗
Worfas, ift der Betäubung zuzufchreiben, wird mit 10 Jahren
Bei vorhergehendem Vorſate aber ſteht
Gehen tung auf u kant. Berbreden. Ausfegung der Kinder wird
lein, & emein b einli
ne
nen * 4. a Griminalrechts. in, 1827. G. 614. $. 1084.
Zum Bad, Aufichten und ——— über ga ände bes Gtrafs
rechts mit einem Ruͤckblicke auf iſchen Fe — als Beitrag zur Re⸗
viſion ber 5* Bein, Ye, V. ueber Kinberr
morb.” Hitzig chrift Sie —— — e in den preuß.
Staaten. d 1. Berlin, 1825. ©. 120 — 132; —XR das WBer⸗
Staats s Lexikon. IX 16
ten SJahrhunbert6 hervorgehende feangöfiiche Sstcafgefecbud behielt, dem
eher an's Licht getzetenen öfterreichlichen. Gitrafcober (u... 1803)
gegenüber, deſſen Exhöpfer ſich enefchloh, ſelbſt die Todtung neugebores
ner ehelicher Kinder nicht mit Todedſtrafe zu bedrohen und iebens⸗
wierige Kerkerſtrafe zu fubftitwiren, und die Toͤdtung neugeborener un =
ehelicher Kinder nur mit zeitiger Freiheitsſtrafe (Kerker) zu verpönen *),
die Todesſtrafe (meiche auch der Entwurf eines Strafgefegbuches für das Kö⸗
nigreich der Niederlande aboptirt hat; f. Neues Archiv des Criminalcecht6,
Bd. 10, &. 192) bei. Denn während e6 im Art. 300 heißt: „Der Tobt-
ſchlag eines neugeborenen Kindes heißt Kindermorb” beftimmt ber Art.
su, der Gegenftand fo vieler Kritiken, fehr lakoniſch und ſummartiſch
weiter: „Jeder des Mordes, Eitern⸗, Kinder: und. Giftmordes Schul
b des Kindermorbs nad preußifhen Gefegen.” (Aus
—— —A an 2, 0
rechene der Töbtun
allge des zu (en Rechis Berlin, 1836.
(®. jorofität diefer —ã— auch —8 fir bie
Gegenwart ii in — 3 e se 8* (zugleich auf Gina dindeutend, wo ber Kinders
mord, ai at, der eberobiterung zu fleuern, geftattet ift) es Wohi bes
bhaupten wir, daß der Mord ein Berbrechen fei, welches Obrigkeit ohne
fehwere Be ap ber Bere Ber: nicht geringer, als mit Ya Tode beficas
fen bürfes ) vorfanben fein, beim SKindermorbe von ber
einfachen Zobesflrafe abguacihen, wenn ber Thatbeftand beffelben volftändig
hergeftellt iſtz daß auch das Leben des unehelichen neugeborenen Kindes benfelben
Anfpruch auf den San der Landesobrigkeit Hat, wie jedes andere Menſchen⸗
leben, als foren, ba es unrecht und uncühmlic fei, aus furchtſamer (?)
Milde gegen das Werbrechen jedem Kinde diefen Schub, deſſen es in noch weit
größerem Maße bedarf, als das Leben ermachfener Menfchen, oder chelicher
Kinder, fhmälern zu wollen, endlich — ba bei alternden Völkern die Gefegt
eben fo Einfluß ar die Sitten, als im ——— der Nationen die
bie
Kindermord. 243
dige, wird mit dem Tode beitraft*). Das von dem fpanifchen Cor⸗
tes berathene und am 9. Juli 1822 publiciete (von Ferdinand bem
Siebenten nad feiner Reftauration außer Wirkſamkeit gefekte) Straf
gefegbuch, weiches im Ganzen ben Code penal zum Muſter genommen
hatte, wich in dieſer Beziehung von ihm ab, indem es (Art. 613) ben
Kindermorb nur mit zeitiger Sreiheitsftcafe (fünfzehn bis fünfundzwans
sigjährige8 Arbeitshaus) und Verweiſung aus dem Drt der begangenen
That und zehn Meilen im Umkreiſe bedrohte”*). In Deutfchland ers
fcheint als Uebergangsftufe die Griminalgefeggebung für das Koͤnigrei
Baiern v. J. 1813, welche (Th. 1. Art. 157) den Kindermorb
Zuchthaus auf unbeflimmte Zeit, wiederholten Kindermorb aber mit
Todesſtrafe bedroht ***). Denn die neueften Strafgefegbücher und Ent⸗
würfe derſelben haben die Todesſtrafe ganz ausgeſchloſſen 7). So
— —
*) Gtreafeoder für das franzbfifche Reich, uͤberſegt und mit Anmerkungen ze.
verfehen von &. Hundrich. odeburg, 1811. &. 115. 116. Wergleiche
noh Wildberg, Jahrb. der Staatsarzneitunde. Band 3. Leipzig, 1837., &,
576-5: „Sommentar zum 300. Art. bes Code penal, enb ben
Kindermord, der an einem Kinde begangen worden if, das noch
nicht geathmet bat.’ Haas, observations sur le projet_ de revision
du Code penal, presente au chambres beiges. Gund. Vol, II. 1836. p.
180—191, wo ber Werfafler diefen Gober in Bezug auf Kindermord beu
und Berbefferungsvorfchläge macht, Weber die Rechtsſprechung des Cafſations⸗
hofs, wornach beide Gitern und auch Dritte fich des Kindermords Tchuldig
machen Eönnen, f. Dullez, jurisprudence generale de Royaume. Tom.
XIL p. 1 Rote. >
"r) GSriminaliftifche Beiträge, herausgegeben von Hudtwalker unb
Trummer, Band 1. Hamburg, 1825: „Die Strafgefeggebung der
Cortes.“ S. 34. Als nach der Iulirevolution ſich die Stimmen Die
Berbefferung ber GStrafgefehgebung immer lebhafter ausfprachen, und man fors
berte, daß auch der Kindermord nicht mehr abfolut mit der Todesſtrafe bedroht
werbe, wurde biefes Botum von der diefe Revifion vornehmenden Geſetzge⸗
bung vom 28, April 1832 nicht beachtet, indem man, da das Geſet ben
fhworenen bie Befugniß einräumte, auczuſprechen, daß Milderungsgruͤnde vor⸗
lägen, fih begnügte, auf biefe Befugniß hinzugeigen, welche die Todesſtr
abmwenben inne. ©. Mittermaier, das franzöfifhe Belek v. 23.
1832 über die Verbeſſerung der Criminalgeſezgebung, geprüft. (S. 319—
des 13. Bandes des Neuen Archivs des Sriminalrechte. Dalle, 1832, S. 340. SA4.
) Steafgefeggebung für bas Königreich Baiern. München, 1813. ©, 66,
Die Revifionen diefes Gefehbuhs haben die Tobesftrafe als Strafe des Kins
dermorbs verworfen. Vergl. übrigens noch Gens, mebicinifche Bemerkungen
über das neue Strafgefegbuch für das Königreich Baiern. Nürnberg, 1817,6.8 ff.
+) Shen das im Jahre 1816 für ben Canton Zeffin erlaffene, im
Jahre 1822 revidirte Geſetzbuch ſchloß, zeitige Freiheitsſtrafe fubflitufrend, bie
Todesſtrafe aus, während noch im Jahre 1823 ein Geſet für ben Canton
Bern (abgebrudt im Neuen Archiv bes Eriminalrechts, Band 7, &. 45—52),
in Beruͤckſichtigung befonderer Verhältniffe (die Motive hoben hervor , daß die
leidige Sitte bes Kiltgange die Schärfe des Gefuͤhls für Geſchlechtsehre fo fehr
abgeftu babe, daß die Abſicht der Rettung derfelben- nur fehr felten noch
dee Antrieb gur That fei, und die höchft graufame Art ber Toͤdtung bes Kin⸗
bes eine Rohheit beurkunde, die nur durch Androhung ber Todesſtrafe Inigens
maßen zurüdgebrängt werben koͤnne) dieſe ertremfte Strafe fanctionirt as
Strafgeſetrebuch für den Ganton Zürich v. 3. October 187 gaßt ſechs⸗ dis
=
—5
Kinbermprd. 2%
haften Handlungen, oder Unterlaffungen der Mutter, in Folge ber
Härflofigkeit bei der Niederkunft allein um das Leben gelommen tft
($. 196). Hatte fich die außerehelich Schwangere ohne bie Abſicht, bas
Kind zu tödten, in folhe Lage verfegt, und iſt fobann das Kind in
Folge ber Hülftofigkeit bei der Nieberkunft allein, ohne Mitwirkung ans
derer fchulbhafter Handlungen ober Unterlaffungen ber Mutter, um das
Leben gekommen, fo wird fie mit Gefängniß oder Arheitshaufe bis zu
zwei Jahren beftraft ($. 197). Iſt in den Fällen des $. 195 Nr. 2
und des $. 196 das Kind nicht in Folge der Hürflofigkeit bei der Nies
derfunft allein, fondern unter Mitwirkung anderer, ber Mutter zur
Sahrläffigkeit zuzurechnenden Handlungen oder Unterlaffungen um das
Leben gelommen, fo Finnen bie dort gedrohten Strafen um bie Hälfte
erhöht werden*).” In verwandtem Sinne find die für das König:
reich Hannover**) und fürdas Großherzogthum Heffen**)
berechneten ntwürfe von Streafgefesbüchern verfaßt. Alle diefe Er:
ſcheinungen der neueften Zeit find Urkunden der fie beherrfchenden
Geſetzgebungspolitik, die ſich nach allen Seiten hin geltend gemacht hat
und auch bie Redaction des für das Königreich Griechenland erlaffenen
Strafgeſetzbuchs beherrſchte. (S. Maurer, das griechifhe Volk ıc.
Band 3. Heidelberg, 1835. S. 415. 416.)
Staatsarzneitunde. Diefe, welche in neuerer Zeit, beſon⸗
bers in Deutfchland, ſich einer forgfältigen Pflege erfreut, macht,
fo wie fie überhaupt eine praktiſche Wiffenfchaft iſt, welche die Staats:
verwaltung für Gefeggebung, Adminiſtration und Rechtspflege verwen⸗
det, ihren Einfluß auch in einer Beziehung geltend, in der fie eine bes
fonbers wichtige Aufgabe dienend zu Iöfen hat. Den Gefeggeber, ber
zu der Stelle feines Werks gekommen ift, wo er fich über das Verbre⸗
hen und die Strafe der Tödtung neugeborener Kinder ausfprechen foll,
fest die Staatsarzneitunde, in ihrem Charakter als gerichtliche Mebicin,
in ben Stand, den rechten Weg einzufchlagen, indem fie ihm ihre Erfah⸗
rungen und Beobachtungen über den fomatifchen und geiftigen Zuftand
einer Gebärenden hingibt; fie zeigt ihm, daß dieſer Zufland als ein
Eörperlich krankhafter anzufehen ift, der nicht felten fogar Ehefrauen als
*) &. Annalen ber deutſchen und ausländifchen Griminalrechtspflege , bes
gründet dom Griminalbirector Dr. Higig in Berlin und fortgefeht don ben
chta⸗Directoren Dr. Demme in Altenburg und Klunge in Beik.
Bande Torigefepten Eetifäen Bemehungen ————
e " en Bemerkungen e96’6 au adiſchen ⸗
wurfe ara) ©. 286. 2897. sn
Spangenberg, einige Bemerkungen über die Strafe bes Kinder:
morbs in auf den Artikel 225 bes Entwurfs eines Strafgeſetzbuchs für
das Königreidh Hannover (&. 631 ꝛc. des 8. Bandes des Neuen Archivs des
Griminalrchts. Halle, 1826), Mittermaier, über ben neueften Zuſtand
der Erinrinalg — in Deutſchland. Bit Prüfung ber neuen Entwuͤrfe
für die Königreidhe Hannover und’ Sachen.’ Seibelberg, 1825. &. 38.
vr) Get eines Steatgef budis Für bas_@roßfergogthum Seffen,
- übergeben bet zweiten Kammer ber Staͤnde. Harmſtadt, bin 22. April 1886.
246 Kindermorb.
Erftgebärende in einen Zuftand . vorübergehende Geiftesftörung verſetzt,
und Iehet, daß die Maſſe von Gefühlen, welche auf eine außerehelich
Gebärmde, vermöge ihrer befonderen Lage, einftürmen, bie neruöfe
Reizbarkeit fteigert,, weiche der Geburtsact erweckt*). „So hat daher”,
fagt Mittermaier a. a D. (N. Arch. d. Er.“R. Bd. 7) ©. 23,
nber Geſetzgeber die Pflicht, als den Grund für die milbere Anfiche
bes Kindermords bie durch dem Act ber Geburt erhöhte Reizbarkeit des
Gemüthes und bie krankhafte, das Nervenſyſtem ergreifende Veränderung
zu berüdfichtigen, in welcher mit der hoͤchſten Kraft die Vorftelungen
der Zucht vor Schande und ber Armuth auf die Seele der Gebärenden
einftärmen und den Enefchluß bes Mordes entweder erzeugen, ober zur
Reife bringen.” Der Strafrechtöpflege dient die Staatsarzneitunde in
ihrer Verzweigung ale legale Medicin zur Feſtſtellung wichtlger Vor⸗
fragm**). Schon darum, weil der Geburtsact felbft das Leben des
*) Henke S. 219 1c. bes zweiten Heftes ber Naffe’fchen Zeitfchrift für
ea & Aerzte v. 3. 1819. Mende, dandbuch ber den Mebiein
jand 4. 617 ıc. Slarus, Beitedge ger Sztenntnip pi eifelpafter Serien:
uftände, ne 1828. 8. 821 27. Wigand über einen wich en
Ynet bei Unterfuchung bes Kindermorbs (im 9. Band des Kopp ’fchen
buche der Gtaatsarzneitunde, &. 116 ıc.) Derfelbe, die Geburt des
Denfchen, Perantaegehen von Nägele. Band 1. Berlin, 1820, ©. 68 1.
Platner Lipothymia parturientium quantum ad excusationem infan-
tieidit, Lips. 1801. ade, die —— biget der Schwangeren und
Gebärenden, beleuchtet ıc. king, 1 SHreyer, Gutadten
über eine ——— hwangesfhaft und Geburt, ein
getras sur Beurtpeilung ber Burehnungsfäbigkeit der
Schwangeren unb Gebärenden. (©. 1% zıc. bes 23. Grgänzungss
beftes der Henke’ Zeitſchr. fär bie Staatsergneit. Erlangen, 1887.
Moft a. a. D. Band 2. Leipzig, 1839. =. v. „Mania“ ©, 170. 171, wo
ber Berfaffer (Dr. To tt) unter Anderem vorträgt: „Daß in Folge der Aufregung
* Anſtrengung, worin. ſich waͤtrend bes Geb —* das Steromfoften oft be⸗
Hi in_Kolae der das
SKindermord. 247
Kindes gefährdet, kann es nicht als gewiß angenommen werden, daß es
nach dee Geburt gelebt habe; beflimmte Merkmale müffen fich bafür
bingeben, daß biefes der Fall geweſen*). Das Erkennen und Würs
digen" diefer Merkmale ift die Aufgabe der Staatsarzneiltunde, der Be
ruf ihrer Beamten, der Gerichtsärzte. Als ein wichtiges, aber nad
ben Zugeftänbnifien der Pfleger diefer Wiſſenſchaft nicht ganz untrüg:
liches Mittel zur Erforfhung erfcheint die fogenannte Lungen oder
Athemprobe**), welche, erſt feit dem Jahre 1683 in Uebung”***) und
lichen Rechtspflege.“ S. 603—625. Pet. Kemper’s Abhandlung von den
Kennzeichen des Lebens und Todes bei neugeborenen Kindern. Aus bem Hol⸗
laͤndiſchen. Frankfurt, 1777. Riemann, Taſchenbuch ber Gtaatsarzneis
tunde. Band 1. Gerichtlihe Arzneiwiſſenſchaft. Leipzig, 1827. $. 32 ıc.
Mende, Handbuh Bd. 3, Gap. 235—27. Metsger, Syſtem der gericht:
lichen Arznetwiffenfhaft, 4. Ausgabe von Gruner. Königsberg und eipg ‚
1814. Dritter Abfchnitt S. 272—377; „Zweifelhafte Geburtsfaͤlle.“ Henke,
Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Neunte Auflage, Berlin, 1838. $. 506
—605 : ‚‚Unterfuchungen über zweifelhafte Todesarten neugeborener Kinder.‘
Schwärer, Beiträge zur Lehre von dem Thatbeftande bes Kindermorbs Über:
haupt, und ben ungewiflen Zobesarten neugeborener Kinder insbefonderez nebft
Mittheilung eines Falle von tödtlihem, während der Geburt, ohne Einwir⸗
rung Außerer Gewalt entflandenen Schaͤdelbruche eines Kindes. Freiburg,
1836 (verglichen mit ber Beurtheilung diefer Schrift &. 314324 des 25. Er:
gänzungsheftes der Henke'ſchen Zeitfchrift f. d. Staatsarzneikuͤnde. Erlangen,
1838). Mittermaier, die Lehre vom Beweiſe im beutfchen Strafproceffe.
Darmflabt, 183. ©. 211. 212. Denke, Abhandlungen aus dem Gebiete
der gerichtlichen Medicin, Band 5. Leipzig, 1834. Abb. II: ‚Zur Lehre von
ben rüfungemetoben und Kennzeichen zum Behufe der gerichtöärztlichen Ent⸗
ſcheidung über Leben ober Zobtgeborenfein der tobtgefundenen neugeborenen
Kinder. G. 115—157.
*) Mittermaier a. a. D. Beiträge ıc. „J. 10. Crforberniß, daß
das Kind lebend zur Welt gekommen ſei.“ S. 493—522. Bünther, Re
viſion der Kriterien, deren ſich gewöhnlich die gerichtliche Arzneiwiffenfchaft zur
Entfcheidung der Frage bedient, ob todtgefundene neugeborene Kinder eines nas
türlichen ober gewaltfamen Todes verflorben. Gbln, 1820.
Banb 2. Aufl. 2. Geige, 1823. S. 83 1. Mende, Handbuch.
3, Sap. 26: „Von der Athbem-: und Lungenprobe” ©. 475-515.
Wildberg, Lehrbuch der Staatsarzneitunde. Band 4. Leipzig, 1838. &. 192 —
202: „Ueber den nicht zu beffreitenden Antheil ber vollftändigen
Lungenprobe an der fiheren Beweisführung des Statt gehabs
ten oder niht Statt gehabten Refpirationslebens‘ und 304326.
574—612. Dr. Kriemer, welchen wiffenfhaftlihen und legalen
Werth Hatdbiekungenprobe in Beziehung auf bie Ermittelun
von Statt gehbabtem Leben eines Kindes nah ber Beburt?”
Moft, Encykiopädie. Band 2. Leipzig, 1839. ©, 117—142. 3. v. „Lungen:
probe. Dr. Gleitsmann, aur Lehre von der Lungenprobe und beren Werth
als Beweismittel in gerichtlichen Fällen 3 nebft Anfichten über den Thatbeſtand des
Kindermordes. (&. 239—270 des 36. Bandes der Hente’fchen Zeitfchr. f. d. St.
A.⸗K. Grlangen, 1838.) Dr. Hohnbaum, „Fundſchein und Butachten über
ein angeblich todtgeborenes Kind, nebft Bemertungen über fich widerfprechende Er⸗
gebniffe der Lungenprobe.” (S: :288 :c. des 26. Ergaͤnzungsheftes der Hente-
chen Beitfchr. Erlangen, 1839.)
‚) Mende, Handbuch. Band 1. &. 1466. Kurze Geſchichte ber
gerichtlichen Medicin. ©. 175 ıc. Kriemer a. a. D. ©. 308. 309.
248 . Kinbermorb.
ben Satz lehtend, das Schwimmen ber Zungen eines neugeborenen Kin⸗
des thue dar, baß das Kind nach ber Geburt gelebt und geathmet
habe, das Niederſinken derſelben aber zeige, daß «ed ſchon vor der Ge—
burt geftorben fei, fich darauf ftügt, daß durch das Achmen bes Kindes,
welches mit dem Augenbiide beginnt, wo es geboren wird, in deſſen
Körper bedeutende Veränderungen vorgehen*), daß ber vorher flache
Thorar (Bruftlaften) ſich mehr wölht, daß bie Lungen, welche vorher
den Bruſtkaſten nicht ausfüllen, fondern zufammengehalten nad hinten
zu in einem befchränften Raume liegen, nun ausgedehnt find, bie
Bruſthoͤhle mehr ausfüllen und ben Herzbeutel mehr hebeden. Als ein
anderes Mittel erfcheint die zuerſt von Autenrieth in feiner Schrift:
Anleitung für gerichtliche Aerzte bei Legalinfpectionen und Sectionen.”
(Tübingen, 1806) empfohlene Leberprobe**) zwar felbftftändig nicht
von Gewicht, aber in fo fern von Werth, als fe andere Beweiſe unter-
ftügt ober ſcheinbare Beweiſe widerlegt. Auch die fogenannte Harn»
blafenprobe**) und Kindespehprobe }) kommen in Be
tracht. — Iſt ermittelt, daß das Kind nad der Geburt, wenn auch
nur ganz Burg, gelebt hat, fo hat bie Staatsarzneikunde noch zu erforfchen,
ob das Kind eines natürlichen oder eines gewaltfamen Todes geftorben fei,
und auf welche negative }}) ober pofitive Weife, ob an Erſtickung, Vers
biutung duch bie Nabelſchnur, Entziehung der Wärme, Verlegung
u. f. 1. — eine Exforfchung , die nicht felten ſeht ſchwierig if. Ferner ift
es, wenn fid) Bmeifel darüber erheben, ob bie Angefchuldigte geboren
babe, Sache der Stantsärzte, diefe Thatſache zu ermitteln. Zulegt find
diefe berufen, gu unterfuchen, im welcher Lage ſich die Mutter im Mo—
mente der Geburt befunden, ob die Wehen fehr ſchmerzhaft waren, und
. die Geburtsperioden länge dauerten, zu ermitteln, wie ihr koͤrperlicher
und geiftiger Zuſtand bamals war, und bie Frage ber Zurechnungsfähigkeit
moͤgũchſt erfchöpfend zu beantivorten.
erhü i
Kinbermorb. 248
bie Geifter und Gemuͤther beſchaͤftigt. An Rathſchlaͤgen und Werfuchen
hat es nicht gefehlt. In Preußen glaubte man ſchon bald nach der Mitte
bes vorigen Jahrhunderts das Ziel auf dem Wege der Geſetzgebung zu er⸗
reichen. Unter'm 8. Februar 1765 wurde ein Geſetz wieder den Mord
neugeborener unehelicher Kinder, Werheimlihung der Schwangerſchaft
und Niederkunft erlafien*), welches ber ſpaͤteren Geſetzgebung zu Grund
gelegt wurde. Das preußifche Landrecht**) verordnet nämlih (Ih. 2.
Tit. 20. 6. 888—932): „Ss. 888. Um ben Kindermorb möglichfl zu ver-
hüten, haben bie Geſetze unbefcholtenen ledigen Weibsperfonen , wenn fie
unter dem Verfprechen der Ehe geſchwaͤngert worden, bie Rechte und
Wuͤrden einer Ehefrau, oder wo bie Ehe nicht Statt finden kann, einer
Hausfrau beigelegt (Zit. 1. $. 1047 sqg.). $. 889. In jeglichem Falle
haben Weibsperfonen, welche außer der Ehe gefhmängert worden, bie
Tit. 1. $. 1044 sqq. ober doch die $. 1023 sqq. beftimmte Entfchä-
digung von dem Schwängerer zu erwarten. $. 890. Auch für das Belle
der aus einem unehelihen Beiſchlafe erzeugten Kinder ift durch die Vor⸗
fchriften des neunten Abfchnitts ins zweiten Zitel geforge***). 6. 891. &o-
bald die Schwangerfchaft angezeigt ift, muß der Leibesfrucht ein Vor⸗
mund beflellt werden, welcher beren Rechte wahrnehmen , und für bes '
Kindes Verpflegung und Erziehung forgen mug (Tit. 2. 6. 614 sqq.).
$. 892. In welchen Fällen die Verwandten ber Mutter und des Schwän-
gerers unb zulegt der Staat bei Verpflegung bes unehelihen Kindes zu
* Hülfe tommen muͤſſen, ift ebenfalls am angeführten Orte verordnet.
$. 893. Befonders ift jedes Orts Obrigkeit bie Vorforge für dergleichen
Kinder zu übernehmen ſchuldig. 6. 894. Wo keine öffentlichen Gebaͤr⸗
bäufer vorhanden find, muß bie an jebem Orte zur Hülfe ber unchelich
Geſchwaͤngerten beftellte Hebamme ſchwangere und ber Entbindung nahe
Perſonen, bie ſich bei ihe melden, ohne Widerrede aufnehmen und mit
der erforderlichen Pflege verforgen. F. 895. Die Obrigkeit jedes Orts
muß bafür forgen, daß ben Hebammen, welche zu dieſer Werpflegung be:
ſtimmt find, eine binlänglidy geraume Wohnung verfchafft, und fie mit
dem nöthigen Vorſchuſſe, zu Beſtreitung der Miebertunftss und Ver⸗
pflegungstoften, verfehen werben. 6. 896. Kann bergleichen Vorſchuß
von dem Schwängerer, ober denen, welche bei beffen Ermangelung oder
Unvermögen dazu verpflichtet find, nicht fofort beigetrieben werden , fo muß
die Obrigkeit felbigen aus einer dazu angemwiefenen oͤffentlichen Caſſe neh:
men. $. 897. Iſt die Geſchwaͤngerte den Vorſchuß aus eigenen Mitteln
zu leiften im Stande: fo ſoll ihr dazu durch bie bereitefle Erecation gegen
den Schwängerer wieder verholfen werben. 6.898. Auch ift jeder An:
*) Peter Frank Hat biefes Belek, weil es „einen fo einen Bei:
fall’’ verdiene und „ber allgemeinen Rothwen der Sache fo angemeffen‘
fei 5* 7 des Bernd —— * einer —V me⸗
dicini o , vollſtaͤndig mitgetheilt. Vergl.
daruͤber: Bum Bach a. a. O. ©. 219 ıc. . si nor
or Grundſaͤte. ©. 251 ıc.
" Moſt, Encyklopaͤbie. Band 1. ©. 1002.
250 Kindermord.
verwandte, und uͤberhaupt jeder wohlgeſinnte Bürger bes Staats berech⸗-
tigt, ſich der Geſchwaͤngerten anzunehmen, ſie zu verpflegen und die
Auslagen von demjenigen, welcher eigentlich dazu verpflichtet wäre, zus
rüdzufordern. $. 899. Zur Seftfegung ſolcher Forderungen (6. 897. 898.)
fol kein förmlicher — verſtattet, ſondern die obrigkeitlich ermaͤßigte
Summe von dem eigentlichen Schuldner, ſobald derſelbe ausgemittelt iſt,
unverzüglich beigetrieben werden. 6. 900. An Orten, wo zur Geburts⸗
huͤlfe dec unehelich Geſchwaͤngerten keine eigenen Hebammen beftellt find,
muß diejenige, bei welcher fi) die Schwangere meldet, mit deren Anver⸗
wandten, Herrſchaft oder Hausgenoffen den Drt der Niederkunft und
die Verpflegung während ber Wochen verabreben; wenn biefes aber nicht ge:
ſchehen ann, ber Obrigkeit den Fall zur weiteren Verfügung anzeigen.
5. 901. Jede Srauensperfon, die eines unehelihen Beiſchlafs ſich bewußt
iſt, muß auf ihre koͤrperliche Beſchaffenheit und die bei ihr fich ereignen=
den ungewöhnlichen Umftände forgfältig Acht haben. $. 902. Mütter,
Pflegerinnen und Andere, die in Ermangelung ber Mutter an deren
Stelle treten, müffen daher ihre Töchter ober Pflegebefohlenen, nad) zus
ruͤckgelegtem vierzehnten Jahre, von ben Kennzeichen der Schwangerfchaft,
und den Vorſichtsregeln bei Schwangerfhaften und Nieberkunften, bes
fonders von der Nothwendigkeit der Verbindung ber Mabelfchnur, jedoch
mit Vorficht unterrichten. $. 903. Sobald eine Geſchwaͤchte aus folhen
ungewöhnlichen Umftänden eine Schwangerfhaft vermuthen kann, muß
fie davon ihrem Schwaͤngerer Nachricht geben, auch ſich den Eltern,
Vormuͤndern oder, bei deren Ermangelung, einer Hebamme, oder einer
andern ehrbaren Frau, welche felbft ſchon Kinder gehabt hat, entdedten,
und fich deren Unterrichts bedienen. $. 904. Frauensperſonen, welche
ſich nicht unter Aufſicht ihrer Anverwandten oder Vormünder befinden,
oder ſich dieſen ſogieich zu entdecken Anftand nehmen, müffen, fobalb
fie ihrer Schwangerfhaft gewiß find, nothtwendig einer Hebamme oder
N Kindermord. 351
bei herannahender Niederkunft ihre Pflicht erfüllt, bleibt von aller Vers
antwortung frei, felbft wenn ein tobte® Kind zur Welt kommen follte.
$. 910. Gefchieht die Entbindung im Beiſein zweier Frauen, unter
welche auch die Mutter zu rechnen ift, fo Tann bie Geburt, außer
dem Kalle einer richterlichen Nachfrage, gegen Jedermann verfchiwiegen
werden. $. 911. Wenn ber Geburtshelfer oder bie Hebamme gegen-
waͤrtig iſt, fo ift die Anmefenheit einer einzigen ehrbaren Frau hinrels
hend. $. 912. War aber nur die Geburtshelferin oder eine andere
Perſon ganz allein bei ber Miederkunft zugegen, fo muß biefe, wenn
das Kind todt zur Melt gefommen, ober binnen vierundzmanzig
Stunden nach der Geburt geftorben ift, einen folhen Vorfall bei Ver⸗
meldung breis bis fechsmonatliher Gefaͤngniß⸗ oder Zuchthausftrafe,
dem Richter ohne Zeitverluft zue nähern Unterfuhung anzeigen. $. 918
Ueberhaupt muß außer dem Falle des 8. 910. 911 die todtgeborene, oder
binnen vierundzwanzig Stunden nah der Geburt verftorbene unehe⸗
liche Leibesfrucht dem Richter allemal binnen vierundzwmanzig Stun:
den nach der Geburt, ober dem Tode des Kindes vorgezeigt werben.
$. 914. Jede Mannsperfon, die fi) eines außer der Ehe gepflogenen
Beifchlafs bewußt ift, muß auf bie Folgen, welche dieſe Handlung bei
ber Gefchwächten hervorbringen kann, aufmerkfam fein. $. 915. Sos
bald er durch die Entdeckung ber Gefchwächten, oder fonft, bie vor;
bandene Schwangerfchaft vermuthen kann, muß er darauf dringen, bag
bie Geſchwaͤchte den geſetzlichen Vorſchriften ($. 901—913) gehörig
nachkomme. $. 916. Berabfäumt er diefe Pflicht ($. 915): fo madht
er fih in allen Fällen, wo die Geſchwaͤchte zur Strafe gezogen werden
muß, einer zwei⸗ bis viermonatlichen Gefängnißftrafe fhuldig. 6. 917.
Auf die einer Schwangerſchaft verbächtigen Meibsperfonen muͤſſen bie
Eitern derfelben, befonders die Mutter, oder bie an deren Stelle teitt,
genaue Obficht nehmen. $. 918. Eine gleiche Pflicht liegt den Dienft-
berefchaften ober denjenigen Hausbebienten ob, benen die Auffidht über
das meibliche Geſinde aufgetragen iſt. F. 919. Auch Haus: oder Stu:
benwirthinnen , bei melden ledige Weibsperfonen gemeinen Standes
ohne ihre Eltern fich eingemiethet haben, Binnen ſich diefer Obliegens
‚beit nicht entziehen. $. 920. Alle vorftehend benannte Perfonen muͤſ⸗
fen, fobald fie zum Verdachte einee Schwangerfchaft Anlaß finden, bie
Verdächtige zur Rede ftellen; und nad erfolgtem Eingeftändniffe, das,
was zur Verhütung eines beforglichen Verbrechens dienen kann, veran-
ftatten. $. 921. Wollen fie dergleichen Vorhaltung nicht felbft uͤberneh⸗
men, ober leugnet bie Verdächtige eine vorhandene Schwangerfchaft be
harrlich, ohne die Gründe des Verdachts durch mahrfcheinliche Gegen:
gründe zu heben, fo müffen fie ihren Verdacht, nebft ben Gründen bef:
felben, der Obrigkeit zur weitern Unterfuchung anzeigen. $. 922. Jede
der Schwangerfchaft Verdaͤchtige muß fich, bei beharrlichem Leugnen,
auf Verlangen ber Eltern, Dienftherefchaft oder Obrigkeit, und nad) dem
Befinden zweler ehrbaren Frauen, ber Unterfuchung einer vereibeten Hıb-
amme unterwerfen. 5. 928. Findet biefe keinen Grund zum Verdacht:
asa Kinbermord.
fo müffen Eiteen, Dienſtherrſchaften und Obrigkeit bei ihrem Zeugniffe
fi berußigen. $. 924. Die Hebamme felbft aber muß nody ferner auf
dergleichen verbädhtig gewefene Perfon ein wachſames Auge richten und,
bei fid) ereignendem vermehrten Verbachte, die Unterſuchung wiederholen.
$. 925. Wird die Verdächtige bei der Unterſuchung wirklich ſchwanger be⸗
funden, fo muß bie Hebamme entweder mit ben Eltern ober fonfligen
Vorgefegten ber Schivangeren, wegen ber Art ihrer Niederkunft, das
Nöthige verabreden, ober den Fall ber Obrigkeit anzeigen. 6.926. Im
letztern Sale muß die Dirigfelt die Schwangere einer genauen Aufficht
unterorbnen, und zur Verhütung eines Kindermordes zwecmaͤßige Ver⸗
fügungen treffen. 6. 927. Wenn bie $. 917—919 und 924 benannten
Perfonen ihre Pflichten vernachlaͤſſigen, und dadurch zu einem Kinder
morde auch nur entfernten Anlaß geben: fo haben fie dadurch zwei,
vier: bis ſechsmonatliche Gefaͤngniß⸗ oder Zuchthausſtrafe verwirkt.
$. 928. Mütter und Pflegerinnen, "die ſich einer ſolchen Verabſaͤumung
ihrer Pflichten ſchuldig machen, ſollen mit der haͤrteſten im $. 927 be⸗
ſtimmten Strafe belegt, faumfelige Obrigkeiten aber, nach Verhaͤltniß
ihrer Verſchuldung, mit Suspenſion oder Caſſation beſtraft werden.
$. 929. Auch ſolchen Perſonen, welche mit der Geſchwaͤngerten in kei⸗
ner beſondern Verbindung ſtehen, liegt dennoch ob, diefelbe, wenn fie
ihnen ihre Schwangerfchaft anvertraut oder eingefleht, zu Beobachtung
der gefeglichen Vorfchriften ($. 901 sqg.) auzumahnen. $. 930. Neh⸗
men fie wahr, daß fie ihre Schwangerſchaft auf eine gefegwidrige Weiſe
zu verheimlichen Millens fei, fo müffen fie ſoiches ihren Eltern, Vor—
münden, ober andern Perfonen, unter deren nähern Aufficht fie fi
befindet, oder auch der Obrigkeit ungefäumt anzeigen. $. 931. Die
unterlaffene Beobachtung biefer Vorfchriften fol, wenn bie Leibesfrucht
duch Schuld ber Geſchwaͤchten verunglüdt, mit einer vierwoͤchentlich—
Gefaͤngniß⸗, oder fünfzig Thalern Geldfteafe geahndet werden. 6. 932.
PN hi allen olla hisisninsn solche ih 244 hi un an
den Alabennoch und Worfärtäge, demſelben beſonders bir Auſtalten
für Wr unehellcher Kinder zuvorgulommen (im Jahrg. 1778
dee Behffägchfe: Ephemeriben der Menſchheit), — Bölkerfam, Pils
uſcher Berfach, den Kindermord ohne alle Strafen und ohne daß der
si tüte Sindeihäufererbaunmg beſchwert wird, ſicher vorzubeugen,
—5E Heß, ee —5 —ã— en
die atieflihebaren ‚ bem Kindermorb alt zu th?
1780. — Urber den Kindermord. (©. 5% ic. des neunten Bandes
von Schtözer’s Briefwechſel. Der Verf. ſchlaͤgt vor, ein Gefeg zu
erlaſſen, weiches den Vater des Kindes noͤthige, daß er „die Gefchwächte
eratfje, ober bei gar zu ungleichem Gtande morhdärftig dotire und die
urt älkmentice,” und das auch die Ehe bei ihrer Eingehung zum Bu⸗
dung eines Fonds für bie Ernährung unehelicher Kinder befteuere)*). —
Uber den Kindermord. (S. 198 1c. deffelben Bandes des Schlöͤz.
Brtefwechſels. Der Verfaffer ertheilt den Rath, befonders durch Unter»
sit, dahin zu wirken, daß „nach umd nach der Begriff von Schande,”
ber atıf dem witehötichen Finde und deffen Mutter ruhe, fid) Yerflere,
und dakur zu forgm, daß Erſteres auf öffentliche Koſten verforgt
werde) — Gpöris, Beantwortung ber Mannheimiſchen Frage:
Meldhes find die beften ausführbarften Mittel, dem Kindermorde Ein
halt er eh 7 I En en I ae
über dieſelbe Preisfinge an ten 7t., welche ig,
die neuere Literatur der Polizei und Cameratiftit. Th. 2. ©. 21. 22.
verzeläpnet find). — Veantwortimg der Frage: Weiches find die beſten
ausrührbaren Mittel wider ben Kindermord? Frankfurt und Leipzig,
1782. (Huch diefes Jahr war gefegnet an Schriften zc. über daffelbe
Thema, |. Röffig a. a. O. ©. 22. 23.) Knippel, freimthige
Gedanken, Wünfhe und Vorfchläge eines vaterländifhen Bürgers aͤber
den Kindermord. Germanien, 1783. — Schlegel, Mittel zur Ver—
19 bes Kindermords, bei Gelegenheit der Mannheimer Aufgabe.
Leipgig, 1783. — Ueber Empfindelei und Rraftgenie. 1783. Heft 1.
Me. 8: „Bom Kindermord.“ — H. Peftalozzi über Geſetgebung
und Kindermord zc. Deſſau, 1785. — Drei Preisfchriften über bie
Trage: Walches find die beften und ausführbarften Mittel, dem Kin⸗
dermorbe abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünfligen? Mannheim,
1784. — Unvorgreiflihe Betrachtungen über die drei zu Mannheim
gekronten Schriften von ber beiten ausführbaren Verhütung bes Kinder
mords. Leipzig, 1785 — Scloffer, die Wubblaner, eine nicht
gekzönte Hreloſchrift: Wie ift der Kindermord. zi verhindern? Bafel,
1785. — v. Bint, Abhandlung über die beten und ausführlichen
Mittel, den Kindermord zu verhüten (in Poffelt's wiſſenſchaftlichem
'87
Magazin für Aufklärung. Band 3. St. 2. Nr. 13. 1787). —
ri ee a a — —
en "bi inbermot » len, wi
in Feruben vi Yäykhe Baht beruhen cima 30 Danne ——
254 Kindermord.
Servin über die peinliche Geſebgebung. Aus dem Eranzöfiichen
von Gruner. Nürnberg, 1786. ©. 176 x. (Der en
dachte ſich nicht, als Mittel zur Werhinderung bed Kindesmords bie
Verftümmelung der Schuldigen vorzufchlagen, ihr 3. B. „die Nafe oder
die Dberlefze abzufhhneiden” und ihr mit einem glühenden Eifen ein
Zeichen, welches auf Ihe Verbrechen Hindeutet, auf die Stirne zu
drüden, indem er meint, daß nichts geeigneter zur Abſchreckung wäre.)
Dr. Pfeil, Preisſchrift von ben beiten und ausführbarfien Mitteln,
dem Kindermorde abzubelfen, ohne bie Unzucht zu begünftigen. Leipzig,
1788. — Rathlof, vom @eift der Criminalgefege. Bremen, 1790.
Erfter Anhang. Der Kindermord und feine Strafen, nebft den Mit⸗
tein, demfelben vorzubeugen. &.147 ıc. (Der Verf. glaubt, das befte
Mittel beftehe in Anflalten zur Aufnahme Schwangerer zum Zwecke
ihrer Niederkunft, unter Bewahrung bes Geheimnifies für ſolche, weiche
ihre Schande verbergen wollten)*). — Der Kindermord zur Beherzigung
am alle meine Mitmenfhen. Roſtock, 1792. — P. Frank a. a. D.
(Spftem) Band 4. S. 145 ıc,**)— Sreimäthige Gedanken, Wuͤnſche
und Vorſchlaͤge über den Kindermord und bie Mittel, denfelben zu hin
dern. Stendal, 1793. — Ueber den Kindermord, feine Quellen und
feine Verhütung. Baireuth, 1799. — Weber, ſyſtematiſches Hands
budy der Staatswirthſchaft. Band 1. Abtheilung 1. Berlin, 1804.
$. 52: „Won dee Fürforge der Polizei um unehelih Schwangere und
von Verhütung des Kindesmords“ S. 198—201. — Spangen-
berg über die Vorbeugungsmittel zur Verhütung bed Kindesmords
(&. 165—176 des dritten Bandes ber Zeitſchrift für die Criminalrechts⸗
pflege in den preußiſchen Staaten, herausgegeben von Higig, Berlin,
1826. (Der Verf. ſchlaͤgt unter Beurtheilung der preußiſchen Geſet⸗
gebung ***) vor, den Verführer, die Hebamme, den Arzt, Apotheker,
SKindermord. 255
Eiteen Kunb Pflegeeltern, Vormuͤnder u. f. w. durch Strafandrohung
anzubalten, bie vermuthete ober entdeckte Schwangerſchaft ber Orts⸗
obrigfeit anzuzeigen, bie Sefchwächte vor Beleidigungen und Vorwuͤr⸗
fen zu fügen und, im Halle ihrer Dürftigkeit, ihr und ihrem Rinde aus
ber. .Semeinbecaffe Dülfe zu gewähren.) — Mohl, Syſtem der Praͤ⸗
ventivfufliz ober Rechtspolizei. Tuͤbingen, 1834, ©. 275—277. —
Zum Bad a. a. O. ©. 206. — Meyer a. a. O. S. 71.
= men — ——
gen Perfonen, welche bie Geſchwaͤngerte auf die Schwangerfchaft anzureden
und fie darum gu befragen, gefeglich befugt und verpflichtet find, allein
angemeffen. Sch verfenne es nicht, daB biefer meiner Anficht bedeutende Aus
to entgegenflchen ‚ indem feit dem preußifchen Edicte vom 8. Februar
1765 alle mir belannte neuere Gefehgebungen,, mit Ausnahme einer einzigen,
die Gefchwängerten zur Selbſtanzeige verpflichten, und man daher die Zweck⸗
maͤßigkeit derſelben, als durch die Erfahrung bewährt, anzunehmen geneigt
fein muß. Außer der preußifchen, in dem angezogenen Edicte und bem
allgemeinen Landrechte ausgefprochenen GBefeggebung , verpflichten auch die ol⸗
denburgifche Berorbnung vom 25. November 1776, die walbedifche
Verordnung vom 3. Januar 1780, und bie heffenscaffelfche Verordnung
vom 10. Geptember 1765, welche unter dem 22. Zuni 1787, den 2. Auguft
1803 und noch neulih am 2. Auguft 1815 erneuert ift, die unchelich Ges
ſchwaͤngerten unbebingt zur Selbſtanzeige; wogegen die einzige anhalt⸗
berndurgifche Werorbnung vom 9, September 1799 eine ſolche Verpflichtung
nicht ausfpricht, fonbern es bei einer Gontrole von außenher beenden läßt.
t6 ' erlaube ich es mir, gegen eine ſolche Verpflichtung Fol⸗
genbes bemerklich zu machen. Es ift zwar gewiß, daß ein verführtes Mädchen
keinen beſſern Beweis feiner unfträflichen Abfichten in Bezug auf das zu ges
bärenbe Kind barbringen kann, als wenn fie ſelbſt ihre Schwangerfchaft anzeigt.
Es lehrt jeboch die tägliche Erfahrung, wie ſchwer eine ſolche Seilbſtanzeige
von einer Geſchwaͤchten zu erhalten iſt. In ber Regel find, wie jeder aufs
mertfame Griminalrichter einräumen wird, diejenigen Sefchwächten, welche ihre
Schwangerſchaft verheimliht haben, keineswegs liederliche Dirnen, fondern ges
woͤhnlich chwaͤngerte gefallene Maͤdchen, welche theils mit den Kennzei⸗
chen der angerſchaft, worin ja oft die groͤßten Aerzte ſich geirrt haben,
und ſich feibft Ehefrauen noch taͤglich taͤuſchen, unbekannt geblieben find, theils
ein hohes: Gefuͤ chande befigen und eifrig nach der Erhaltung ihres
Ramens und der Ausficht, durch eine Heirath ihr Gluͤck zu machen,
Unterlaffen fie, im erſten Kalle, aus Unbelanntfchaft mit den Kenns
der Schwangerfchaft,, die Seibſtanzeige, fo koͤnnen fie der Uebertretung
des Geſetzes nicht für ſchuldig geachtet werben. Das allgemeine Landrecht
($. MR) Hat zwar diefen Fall vorgefehen, und verfügt, daß jede Frauen
fon, die eines unehelichen Beifchlafs fich bewußt fei, auf ihre Törperliche
ſchaffenheit und die ſich bei ihr ereignenden Eörperlichen Umftände forgfältig
Acht Haben folle, ja fogar, um den Geſchwaͤchten bieferhalb alle Entſchuldigung
abzuſchneiden, die Mütter, Pflegerinnen und Andere, die in Ermangslung. ber
Mutter an deren Stelle treten, verpflichtet, ihre Töchter und Pflegebefohlenen
nah zurüdgelegtem” viergehnten Jahre von den Kennzeichen ber Schwangere
f und ben Worfichtöregein bei Schwangerfchaften und Niederkunften, bee
fonders von der Nothwendigkeit der Unterbinbung der Rabelfchnur, genau zu
unterrichten. Indeſſen möchten doch biefe Borfchriften ſchwerlich auf allgemeis
nen Beifall rechnen dürfen. Es iſt fehr leicht zu fagen, daß Geſchwaͤchte auf
thre Törperlichen ‚umftände Acht Haben follenz ber jener anbefohlenen Aufs
merkſamkeit aber ſehr ſchwer zu erreihen. Dergleichen Geſchwaͤchte, befonders
ba das Borurtheil auf dem Lanbe fo tief eingewurzeit iſt, der erſte Beiſchlaf
$
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—
2a
Kindermord. 257
tenswerther Geſichtspunct) und in einer firengen Gefeßgebung gegen
ben Water des unehelichen Kindes, wegen der Pflicht der Sorge für
daffelbe befteht. In letzter Beziehung Hat mit Recht ein ftrenger
Zabel die ben Kinbermord fördernde Gefehgebung getroffen, welche
durch das Werbot ber Erforfhung der Vaterſchaft dem Erzeuger einen
Freibrief gefchrieben hat, alſo bie feanzöfifche Geſetzgebung, welche im
Artikel 8340 des Givilcoder ein ſolches Verbot ausgefprohen hat, und
die Gefebgebungen der Staaten, weldye fogar ohne das Auskunftsmit:
tel Frankteichs, die Sindelhäufer, zu adoptiren, aus deſſen Legislation
geſchoͤpft Haben, alfo z. B. die von Baden *), vom Großherzogthum Hef:
fen**)u.f.w. Vergleiche Pfeiffer, Ideen zu einer neuen Civilgefehge-
bung für beutfche Staaten. Göttingen, 1815. $. 39. „Unehelidhe
Kinder. Erforfhung der Baterfhaft.” Mohl a. a. D.
S. 277 Note *’**). Es ift nicht zu leugnen, daß die Errichtung von
*%), Zaharid: „Zur Bergleihung bes franzdfifhen und
englifhen Rechts mit dem gemeinen deutſchen Redte in ber
gebre vondem Rechte uneheliher Kinder, die Paternitäts:
und Baterfhaftsflage anzuftellen” (&. 1—46 des zehnten Bandes
der kritiſchen Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft und Geſetggebung des Auslan⸗
des. Heidelberg, 1838) leugnet (S. 41 — 43) mit Mittermaier: „Be:
trahtungen über bie Bermehrung der Zahl ber une helichen
Kinder’ (im Juliheft der Pblig’fchen Jahrbücher für Geſchichte und Staats:
tunft v. 3. 1835), daß biefe Befeggebung den Kindermord befördere, indem er
fih befonders auf die Erfahrung im Großherzogthume Baden, in wels
chem Jahren 1829 — 1835 42 Unterfuchungen wegen biefes Verbrechens
verhängt wurben, auf welche in 13 Fällen Freiſprechung erfolgte, bezieht. Die
Grfahrung im Großberzogthume Heſſen bezeugt das Gegentheil. &iche meinen
Beitrag zum britten Bande des A. Müller’ fchen Archivs für die neuefte Ge⸗
feggebung aller beutichen Staaten. Mainz, 1882: „Die Civil- und Gri-
minalgefeggebung des Großherzogthums Heffen feit der
Zeit, da daffelbe zu den conflitutionellen Staaten gehört.“
Viertes Sapitel: „Geſetz über die Aufhebung der fogenannten
Kornicationsftrafen.” (S. 439— 476) ©. 464 — 466. Anmeri.
++) S. Bloret: ‚‚Diftorifchskritifche Darftellung der Berhanblungen ber
Stänbeverfammlung des Großherz. Heflen im Jahre 1820. 1821.” &. 262-269,
Allg. Iufligs, Samerals und Polizeiffama v. 3. 1830, Nr. 59. 60: „Weber
cationsproceß und Fornicationsitrafen im Groß. Heflen’’ meinen gen. Beitr.
m Müller’fchen Archiv, und Röder: „Kritifche Beiträge zur Wergleichung
merkwuͤrdiger beutfcher und auslänbifcher Geſeggebung und Rechtspflege über die
außereheliche Geſchlechtogemeinſchaft, Vaterſchaft und Kindſchaft, zunaͤchſt in
Bezug auf den Art. 340 des Code Nap. etc. Darmſtadt, 1837.
) Der Verf. macht darauf aufmerkfam, daß zu den Mitteln, dem Kin⸗
dermorbe vorzubeugen, gehören „die Rötbigung des Waters, ſich aud bes uns
ehelichen Kindes nach allen Kräften anzunehmen“, und fügt in der Note hinzu:
„Dieſe Borfchläge find dem Grundfage mancher Zheoretiter, und namentlich auch
der frangöflfchen Geſetzgebung gerabezu entgegen, nach welchem nämlich jede Un⸗
terfuchung der Waterfchaft und noch vielmehr alfo jede mißbeliebige Folge der⸗
felben unbevingt unterfagt wird. heile follen hierdurch falfche Anklagen und
Mißgriffe verhindert, theils dem weiblichen @efchlechte weitere Gründe zur Zu⸗
rüdhaltung gegeben werben. Allein offenbar wird dadurch eine große Unbillig«
Eeit gegen Mutter und Kind begangen, bei dem Manne eine tiefe Unfittlichkeit
jogar bervorgelodt und ſchließ lich zum Kindermorde faft genöthigt.“
GStaats⸗Lexikon. IX, 17
\ .
258 Kindermorb.
Findelhaͤuſern ein fehr wirkſames Mittel iſt *); die Erfahrungen der
Staaten, welche ſolche Anflalten befigen, iſt Lehre. So ift z. B. bie
Zahl der Kindermorde in Preußen, wo Leine ſolchen Inſtitute beftchen,
die ſechsfache gegen bie in Frankreich **), wo bekanntlich laͤngſt ſolche Fine
delhaͤuſer beſtehen. Allein abgeſehen davon, daß in dieſen Verwah⸗
tungsanftalten bisher eine ſeht große Sterblichkeit herrſchte, ſprechen
gegen ſolche Inſtitute wichtige Gründe, befonders ſolche, welche ſich aus
der Nothwendigkeit der Auftechthaltung und Bewahrung der Sittlichleit
ergeben, deren Werlegung ſich keines Privilegiums erfreuen darf.
Nach dem gemeinen beutfchen Strafrechte iſt Berheimlichung
ber Shwangerfhaft und Riederkunfe***), bie, wie ſchon bes
«merkt, nicht zum Begtiffe und Thatbeſtande des Werbrechens des Kins
dermordes gehört, Sein felbftftänbiges Vergehen; es erkennt darin nur
die Begruͤndun des Verdachts des Kindermordes, wenn das Kind tobt
gefunden wird — Indeſſen hat die Rechtsſprechung (die Mutter neue ⸗
ser Theotie) ſich daran gewöhnt, auch in biefer Verheimlichung (als einer
einen gefährlichen, polizeilichen Geſichtspunct barbietenden Handlung )
ein felbftftändiges Vergehen zu erkennen, und auch dann Strafe eintres
ten zu laffen, wenn der darin wurzelnde Verdacht des Kindermordes
nicht zum Beweiſe erhoben wird, alfo wegen beffelben nicht auf Strafe
erfannt werden kann, oder biefe Verheimlichung nicht als (firafbarer)
Ver ſuch des Kindermordes erfheint Ft). Neuere Geſetzgebungen find
dieſes Leriton Band V. ©. 573 fi. ». v. „Bindelhäufen“
me, St eiwiſſenſchaft. Band I. ©. 836 ff.
Moll a. 0. D. (Syftem ber Präventivjuftiz) ©. 276. Note, Julius,
Bocfingn über Gefängnißkunde. Berlin, 1828. &. KXXVII, und LIE.
Kindermord. 259
diefem Impulſe gefolgt. Noch dem preußiſchen Strafrechte find Ver⸗
heimlichung dee Schwangerſchaft und Geburt an und für ſich ſtrafbare
Vergehen; die Strafe beſtimmt ſich darnach, ob die Verheimlichung
ſich auf beide Thatſachen erſtreckt, oder nicht, das Kind am Leben er⸗
halten worden iſt, oder nicht. Das Geſetz ſpricht ſich naͤmlich dahin
aus: „H. 988. Eine Geſchwaͤchte, weiche die Entdeckung ber Schwan⸗
gerſchaft an die Eltern, Vormuͤnder, Dienſtherrſchaften, Hebammen
oder Obrigkeit laͤnger als vierzehn Tage, nach dem ſie dieſelbe zuerſt
wahrgenommen hatte, verſchiebt, macht ſich einer ſtrafbaren Verheim⸗
lichung der Schwangerſchaft ſchuldig, und wegen aller daraus entſte⸗
henden nachtheiligen Folgen verantwortlich. $. 934. So bald die Lei⸗
besfrucht das Alter von dreißig Wochen erfuͤllt hat, kann ber Vor⸗
wand, daß die Geſchwaͤchte ihre Schwangerſchaft noch nicht wahrgenom⸗
men habe, oder die zu deren Anzeige beſtimmte Friſt noch nicht abge⸗
laufen ſei, ferner nicht Start finden. $. 936. Wird eine Geſchwaͤch⸗
te, die ihre Schwangerſchaft nicht vorfchriftsmäßig angezeigt hat, von
eine ungeitigen Leibesfrucht entbunden: fo begründet biefes wider fie
eine Anzeige, daß fie die Frucht vorfäglich abgetrieben habe ($. 986. sqq.).
6 936. Wird diefer Verdacht durch die darauf gerichtete Unterfuchung
nicht beftätigt, fo wird file wegen verheimlichter Schwangerfhaft nach
den folgenden Vorſchriften beftraft. $. 987. Wenn fie jedoch die uns '
zeitige Leibeöfeucht binnen vierundzwanzig Stunden nad ihrer Eut»
bindung ben Gerichten vorzeigt; und weder bei der Obbuction, noch
bei der vorläufigen Vernebmung ber Gebdrerin felbfi, fo wie derjeni⸗
gen, weiche zur Zeit der Entbindung um fie waren, einige weitere vers
daͤchtige Umstände wegen etiwaiger Abtreibung ober Vernachlaͤſſigung der
Frucht fi) hervorthun, ſo fol die Gebaͤrerin mit dee förmlichen Cri⸗
minalimenifiiion und allee Strafe verfhont und nur mit ben Koſten
der ufigen Unterfuchung belegt werden. 6. 938. Faͤllt ihe nur
eine Vernachlaͤſſigung der Leibesfrucht zur Laſt, fo bat fie eine vier
bis acht Gefaͤngnißſtrafe verwirkt. 9. 939, Hat fie bie
Leibesfrucht vorgugeigen unterlaſſen; 46 findet fich aber, daß felbige noch
nid Wohn alt geweſen fei, fo hat die Geſchwaͤchte, wenn
fie einer im $. 933 befchriebenen Berheimlichung der Schwangerfchaft
ſchuldig befunden wird, je nachdem bie Leibesfrucht ſich diefem Alter
mehr ober weniger genähert hatte, eine ſechsmonatliche bis zweijährige
RBuchthauoſtrafe verwirkt. 6. 940. Iſt die nicht vorgezeigte Leibesfrucht
wahrfcheiniicher Weile todt zus Welt gekommen; es kaun aber nicht
ansgemittelt. werden, baß felbige unter dreißig Wochen alt geweſen fel,
fo hat die Gebaͤrerin eine zwei» bis dreijährige Auchthausitsafe zu ger
toärtigen. F. 941. Iſt es gewiß, bag das Kind bei der. Geburt gelebt
babe, oden daß es zwar tobt geboren, aber ſchon dreißig Wochen ober
— —
meinrechtif bart Mitgetheitt | ‚Ratho.
Ita Runbars itgusüeilt non Derem geh Ward m
verneinte bie Frage. 178
Anzeigen des gefliffentlichen Mifgebärens \] ‚u mit
weiterer Untsefuchung gegen’ die Gebdterin —— in
$. 948. b. It lt, daß Die Frucht ſchon uͤber 3: Monate,
aber noch nicht 80 Mochen alt'gewefen, und —* die Gebaͤrerin nicht
.
li it der Geburt keine
— Bean era, mb: and He mm ep —
bei zugezogen worden. &. 946. Doch ſoll bie
ten hat. 6. 946.
ihre Schwangerſchaft bis zur Niederkunft verheimlicht hat, die Entſchui-
digung, daß fie von der Geburt dibereilt worden, niemals zu Statten
tommen. 6.947, Wenn wider die Verordnung des. $ 912. 913.
Bat geben og Binnen, 20 Eitunden mad dr Genus neochme
ee Sn ma a Ann
Kindermord. 261
mittelt werden, fo bat die Gebärerin eine zweijaͤhrige Zuchthausſtrafe
verwirkt. 6. 954. Iſt der Zufall, wodurch das Kind dem Begraͤb⸗
niffe, oder der richterlichen Unterfuchung entzogen wird, durch bie
Schuld der Gebärerin veranlaßt worden, fo bat fie, wenn ihre Unſchuld
an dem Tode des Kindes ausgemittelt ift, eine einjährige, bei dem
Mangel dieſes Beweiſes aber eine zwei⸗ bis breifährige Zuchthausftrafe
zu gewärtigen. $. 955. Hat die Sebärerin die Leibesfrucht vorfäglich
in den Zuſtand verfegt, daß ihre Verſchuldung oder Unfchuld an bem
Tode des Kindes nicht mehr ausgemittelt werden kann, fo bat fie, ber
angezeigteh Schwangerfchaft ungeachtet, nad, Verhaͤltniß der wider fle
- flreitenden Vermuthung einer böfen Abficht, eine 4 bis Gjährige Zucht
hausſtrafe verwirkt *). $. 956. SSft fie einer vorfäglihen unnatürlis
hen Behandlung des Kindes verbädhtig, fo foll fie, je nachdem bies
fee Verdadyt mehr oder weniger dringend ift, mit einer ſechſs⸗ bis zehns
jährigen Zuchthausftrafe belegt werden. 6. 957. Hat die Gefchwächte
Schmwangerfhaft und Niedertunft verheimlicht, fo fol fie, wenn fie ein
volftändiges Kind tobt zur Welt gebracht hat, mit 4 bis G6jähriger
Zuchthausarbeit geftraft werden. $. 958. Einem vollftändigen Kinde
wird eine Leibesfrucht, welche ſchon Uber breißig Wochen alt ift, gleich
geachtet; doch foll, wenn das Kind nicht völlig ausgetingen geweſen,
nur ber niedrigfte Grad der gefeglichen Strafe Statt finden. $. 959.
Hat das Kind, nad dem Befunde der Sachverſtaͤndigen, in der Ges
burt noch gelebt, fo wird bie $. 957 beflimmte Strafe auf 8 bis 10
Jahre erhöht. F. 960. a. Zeigen fid) aber an dem Körper des Kin⸗
bes tödtliche Verlegungen, ohne daß ein von der Mutter verübter Mord
vollftändig ausgemittelt ift, fo fol diefelbe dennoch mit öffentlichen
Staupenfchlage und lebenswieriger Zuchthausftrafe belegt werden. 6.960. b.
Iſt zwar Leine Spur tödtlicher Verlegung, wohl aber der Verdacht
einer ſonſtigen unnatürlichen und lebensgefaͤhrlichen Behandlung gegen
die Gebärerin, welche Schmangerfhhaft und Geburt verheimlicht hat,
vorhanden, fo findet gegen fie zwoͤlf⸗ bis funfzehnjährige Zuchthaus⸗
firafe nebft Willkommen und Abſchied Statt. $. 961. Iſt ein Kind,
welches nad) $. 958 für volftändig zu achten, von einer Geſchwaͤch⸗
ten, welche die Schwangerfchaft nicht entdeckt hatte, heimlich geboren,
defien Körper aber von ihr dergeftalt behandelt, ober mweggefchafft wor:
den, daß die orbnungsmäßige Unterſuchung der Sachverſtaͤndigen: ob
das Kind bei der Geburt gelebt habe? nicht mehr erfolgen kann, fo
bat die Gebärerin gleiche Strafe ($. 960. b.) verwirkt. 6. 962. Iſt
ausgemittelt, daß das Kind in ber Geburt gelebt Habe; die Mutter
leugnet aber den Vorſatz, zu tödten, und Bann deſſen auch fonft nicht
überführt werden: To fol die $. 960. a. beftimmte ordentliche Strafe
wider fie Statt finden. $. 963. Der Beweis des Umftandes, dag
*) Bergl. den III. Band von Hitzig's die Griminaleschtes
in Draußen. ©. 259 — 264. anne Anfichten über
die beftehenden Strafgeſetze.“ 3u 5. 955 ff. |
263 Kindermord.
das, erweiolich ohne Schuld der Gebaͤrerin, in ober nach ber Geburt
geſtorbene Kind der richterlichen Unterſuchung durch einen von ihrer
Seite unverfchuldeten Zufall entzogen worden, kann biefelbe, wenn fie
die Schwangerſchaft nicht angezeigt und heimlich geboren hat, von
der 5. 959 beftimmten acht» bis zehnjährigen Zuchthausftcafe nicht bes
freien. $. 964. Werm es andy noch ungemiß ift, ob bie Gebärerin
das tobte Kind vorſaͤtlich der richterfihen Unterſuchung entzogen habe,
fo hat fie dennoch eine zehn» bis zwoͤlfjͤhtige Zuchthauoͤſttafe mit Will»
tommen und Abſchied verwirkt, wenn fie ſowohi die Schwangerſchaft
als Geburt verheimlicht hat.“ Dieſe Geſetzgebung bietet der Kritik
vielen Stoff dar *), beſonders auch in fo fern, als fie es fuͤr unmoͤg⸗
lic) erklärt, daß die Geſchwaͤchte nach 30 Wochen ihren Zuftand nicht
*) ©. Meyer a. a. D., wo ber Verf. im Allg. fagt: „Wie Id
die vom — — gr
mords, Berheimlicung
erden
Kindermord. 263
folte erkannt haben, da die Erfahrung lehrt, daß das Gegentheil aller«
dings möglich ift *).
Unter den Gefetgebungen des neunzehnten Jahrhunderts (die
Otrafgefetgebung von Frankreich beobachtet Stillſchweigen) hat bie
Strafgefeugebung von Baiern die Verheimlichung der Schmangerfchaft
und Geburt zwar für Bein felbftftändiges Verbrechen erklaͤrt, aber dieſe
Handlung doch bedingt mit Strafe bedroht, namentlid dann, wenn
„bucch diefe Verheimlichung felbft die todte Geburt oder das Abfterben.
des Kindes fahrläffiger Weiſe veranlaßt worden iſt“, oder baraus Vers
muthungen zu Ungunften der Mutter des Kindes hergeleitet **). Nach)
der Geſetzgebung für den Canton Zürich (v. 3. 1835) „ift blos Vers
heimlihung der Niederkunft an und für ſich ftrafbar ($. 155)
und mit eins bis breimonatlichem Gefängniffe verpönt. Auch die Straf:
gefeggebung für das Königreih Würtemberg***) bat nur bie
„Derheimlichung der Geburt‘ in's Auge gefaßt, indem fie fid) unter
diefer Ueberfchrift im Artikel 252 dahin ausfpriht: „Eine Perfon,
welche ihre Niederkunft verheimlicht, ift 1) wenn fie biefes in der Abs
fiht gethan hat, um ihre Kind zu tödten oder auszufegen, bie Auss
führung dieſes Vorſatzes aber wegen dußerer Hinderniffe unterblieben
tft, mit Arbeitshauſe zu beftrafen; follte jedoch die Verheimlihung nur
in dee Abficht gefcheben fein, das Kind ohne Gefahr für daſſelbe aus:
zufegen, fo kann auf Kreisgefängniß erkannt werben. 2) Iſt eine
huͤlfloſe Niederkunft erfolgt und hierdurch allein oder unter Mitwirkung
anderer fahrläffiger Handlungen ober Unterlaffungen die todte Geburt
oder das Abfterben des Kindes veranlaßt worden; fo foll die Mutter,
wenn fie bei der hülflofen Niederkunft bie Abjicht hatte, das Kind zu
tödten, mit einjährigem Arbeitshaufe bie achtjährigem Zuchthaufe, falle
*) Bum Bad a. a. D. S. 2112 ff. Knebel: „Zeichenlehre der Ent⸗
binbungstunft. Breslau, 1798. S. If. Mittermaier: „Weber die Hers
Relung bee Tpatbeftantet des Kindbermorbes in Bezug auf bie Todesurſachen.
(S. 024 — 661 bes VII. Bandes des Neun Archivs bes Criminalrechts.
Halle, 1825.) &. 654. 655, mo ber Berf. u. A. fagt: „Schon das Obermes
bicinalcollegium In Berlin (Gutachten in Palzow's Magazin der Rechtsgelehrſ.
in den preuß. Staaten. Band J. S. 349) Hat bemerkt, daß oft Kalle eintres
ten, in welchen die Schwangere bis zum legten Augenblicke entweber wegen
allgemeiner gewöhnlicher Kraͤnklichkeit die Zeichen ber Schwangerfchaft nicht des
achtet, ober bie apnehin oft ſchwachen Bewegungen bes Kindes für Blähungen
oder krampfhafte Bewegungen Hält. Auch die Mebicinaldeputation von u
(80 gr ® Lehrbuch ber Staatsarzneilunde. Wand IX. &. 44 ff.) verfickert,
daß Beiſpiele von erfahrenen Frauen, die mehrere Kinder geboren, In fpäterer.
Schwangerfchaft über ihren Zuſtand in vol Ungewißhelt blieben 3c.
—— „Zur Lehre von der Moͤglichkeit einer der Schwangeren un⸗
ewußten Schwangerſchaft is ur ueberzafhung durch bie Geburt. Grfahruns
gen aus meiner Praxis.” (S. 290 — 296 bed KXXVI. Bandes ber Henke'⸗
ſchen Beitfcht. f. d. Staatsarzneik. Griangen, 1839.) S. auch noch Mende,
— — —
. er und Aber bie onen biefes buchs Mittermai
*8*) Abegg a. a. O. (Beitraͤge ꝛc.) G. 74. 75.
264 Kindermorb.
nur eine Ausfegung beabſichtigt war, mit Arheitshaus,
auch eine ſolche Abficht nicht vorhanden war, mit —E —
unter 6 Monaten, beſtraft werden. Die Niederkunft iſt verheimlicht,
wenn die Gebaͤrende unter Umſtaͤnden, wo ſie zu der Entbindung den
Beiſtand einer anderen Perfon haben konnte, entweder ohne Beiſein
Anderer, oder nur in Gegenwart mit ihr einverflandener Perfonen ges
boren hat.” Der Entwurf eines Strafgeſetzbuchs für das Großherzogs
thum Heſſen ſchmiegt ſich diefer wörtembergifähen Gefeggebung ganz
an. Ueber den Entwurf für Baden f. oben *).
Dem Verbrechen des Kindermordes fteht nahe die Miffethat der
Abtreibung der Leibesfruht**). Die mofaiihe Gefeugebung
bedroht bloß den mit Strafe, meldyer durch mechanifhe Gewalt die
Behlgeburt der Schwangeren verurſache, und übergeht die Bewirtung
“ felben durch dynamiſche Mittel und durch die Mutter ſelbſt. Die
Griechen erachteten, davon ausgehend, daß das Kind erfi nach der Ges
= Wert. auch noch Abegg a. a. D. (Annalen. Bb. IV. &. 237. 238.)
*) Schröder, vermifchte juriftifche ‚Abhandlungen. Band II. &. 431 ff.
„Bon ber Abtreibung der Kinder,” Spangenberg: „Ueber
"daB Verbrechen ber Abtreibung der eikesfeng 1” (im Neuen
Archiv des Criminairechts. Band II. &. 1 — 58. 173 — 1! Servina.
a. ©. &. 176— 181. ‚Won Abtreibung, Berlaflung und Aula 0 der Sr
burt.“ Fe uerbach, Lehrb., Ausg. u. Mittermater S. 253—:
ziaetigemedicinifa: Mo, Enchkiopädie. Kan I.
S. 11 — 30. Megger, Suftem ıc. ©. 28; Unreife Geburten. ''
Mende, „Hanbbudy der gerichtlichen Mebiein.” Dr W. 6. 537. Bert,
„Elemenie der gerichtlichen Bedien. Erſte Hälfte. Weimar, 1827. ©. 217 ff.
Henke, „Echrbuh” ıc. S. 600 — 605. Riemann, „Zafdenbuc ıc.
©83f. Fabrieius, „Kritit der kchre von der Abtreibung
2 im XXXI. Bande der Henke'ſchen Zeitſchr.f. d. Staatsarznei⸗
tunde. Erlangen, 1836, S. 101 — 111. (Der Berf. ſucht darzuthun, daß die
‚Theorie von den ſogenannten Abortivmitteln auf fchwantenden Füßen ſtehe und
Kindermorbd. 265
burt befeelt werde, das Abtreiben ber Leibesfeucht als erlaubt. Ertheilte
ja Arifloteles felbft den Eheleuten, welche nicht im Stande fein,
mehr Kinder zu ernähren, den Rath, zu biefem Mittel zu fchreiten
(Holit. VIL 16.), defien fih, zu den Zelten des Sittenverfalls, bie
Griechinnen (gleich den Römerinnen nad) dem Zeugniſſe Ovid's und
Tertullian's) bedienten (jenes Peſſarium berüchtigten Andenkens).
Bei den Römern herrſchte die gleiche Anſicht. Selbſt als der Sitten»
verfall die Abtreibung der Leibesfrucht häufig werden ließ, wurde darin
nur eine unmoralifhe Handlung erblidt, weiche zwar von ber Geifel
Martial’s und Juvenal's, aber nicht von dem Strafgefege verfolgt
wurde. Nur einmal murde, fo weit die Beurkundungen reichen,
eine Frau wegen Abtreibung ihrer Leibesfrucht beftraft, aber nicht we⸗
gen diefer Handlung an und für fi, fondern wegen ihrer boshaften
Abſicht; aus Haß gegen den Vater ihres Kindes, von welchem fie ge⸗
ſchieden war, trieb fie daſſelbe ab, um ihn der Vortheile zu berauben,
welche ihm durch die Geburt eines Sohnes erwachfen waͤren; fie ward
auf Anklage des fo Beeinträchtigten mit Verbannung beftraft-. (Cicero
deutet außerdem in einer Rede auf bie Befltafung einer rau mit
dem Tode hin, meil fie, ducch entfernte Verwandte ihred Gatten be⸗
ftochen , ihre Leibesfrucht abtrieb, um bdenfelben deſſen Vermögen zuzu⸗
wenden.) Nur unmittelbar fuchte der Geſetzgeber durch das Verbot ber
Darreichung abtreibender Träne entgegenzumirten ; er geflattete außers
dem demjenigen, welchem durch eine gewaltfam verurfachte Fehlgeburt ein
Schaden verurfaht wurde, eine Klage auf Schabenerfat , ein Princip,
welches auch in den Mechtsbüchern der Alemannen, Saalfranken, Ris
juarier u. f. w. (die auch Kindermorb und Kinderausſetzung nicht vers
pönten) berefcht *)., Erſt die päpflliche Geſetzgebung erhob in ihrem
Geiſte die verabfcheute Handlung zur ſtrafbaren und bedrohte fie, wenn
fie an einer fhon belebten Leibesfrucht begangen werde, mit dem Tode,
- fonft mit Geldbuße. Die Gefeggebung Kaifer Karl’s des Zünften *),
. auf welche die Lehre der Kirchenväter, daß das Kind durch die Toͤdtung
im Mutterleibe der chriftlichen Taufe und ihres Segens beraubt werde, eine
wirkte, fand (Art. 133 der peinl. Ger.⸗Ordn.) in der abfichtlichen Handlung
ein fchweres, im Fall die Leibesfrucht fchon befeelt fei, mit dem Tode
zu beftrafendes Verbrechen, möge es die Mutter oder ein Dritter be
*) Dagegen verpönte das weftgothifche Geſetzbuch, welches fchon die Abtrei⸗
bung der Leibesfrucht durch dynamiſche Mittel Eennt, biefes Attentatz es
verurtheilte Jeden, der einem Weibe einen abtreibenden Trank gegeben, zum
Zobe und die Schwangere, die fich deffelben zum Abtreiben bedient hatte, zum
Auspeitfchen, wenn fte Sklavin war, fonft zur Sklaverei. Bewirtung der
Fehlgeburt durch äußere Gewalt hatte Geldfirafe, und, war der Schuldige ein
Unfreier, Auspeitfchen zur Folge. Der Sachſen⸗ und Schmabenfpiegel ſchweigt.
In England wird ſchon zur Zeit der Sachen die Bewirtung des Abortus, wenn
der Foͤtus ſchon gebübet war, als Zöbtung beſtraft. Unter Eduard dem
Dritten wurbe der Grunbfag herrſchend, daß die Zerflörung eines Kindes im
Mutterleibe darum nicht frafbar fei, weil es noch nicht exiſtire, es alfo nicht
Gegenſtand einer Zödtung fein könne. Crabb a. a. D. S. 297.
266 Kinbermorb.
gangen haben. Die Gefehgebungen der Neuzeit find auch Hier wenl⸗
ger rigorss. Awar bedrohte noch die Strafgefeggebung des Großher⸗
3096 Leopold von Toecana vom Jahre 1786 die Mutter und alle
ihre Gehälfen und Mitfchuldigen mit dee Strafe des Mordes; allein
dieſe Legislation hatte zugleich bie Todesſtrafe ausgefchloffen. Die preu⸗
giſche Strafgefengebung verhängt zeitige Zuchthausftrafe und nur bei
Wiederholung lebenswierige Feſtungeſtrafe *). Der franzeſiſche Erimis
nalcoder ſpricht ſich im Artikel 317 dahin aus: „Wer durch Rahrungs⸗
mittel, Getränke, Arzneimittel, Gemwaltthätigleiten, oder durch jedes
andere Mittel die Abtreibung der Frucht einer Schwangeren mit ihrer
Zuftimmung,, oder ohne fie betwirkt, wird mit der Einfperrung beffraft.
Gleiche Strafe wird gegen bie Srauensperfon, welche die Abtreibung
felbft betoirkt, ober welche bie Anwendung der ihr nachgewieſenen und
ihe für diefen Zweck zugetheilten Mittel verftattet hat, ausgeſprochen,
menn bie Abtreibung daraus erfolgte. Die Aerzte, Wundärzte und
andere Gefundheitsbeamte, fo tie die Apotheker, welche diefe Mittel
nachgetviefen oder zugetheilt haben, werden zu Bmwangsarbeiten verurtheilt,
wenn die Abtreibung Statt fand **).” Das Öfterreihifhe Strafe
geſetbbuch ($. 128— 132) droht mit zeitiger Kerkerftrafe von kuͤrzerer
oder längerer Dauer, je nachdem bie Abtreibung bloß verfucht oder
bewirkt worden, oder wenn nicht die Mutter die Schuldige ift, biefe
dadurch an ihrer Gefundheit befchäbigt oder im Lebensgefahr gerathen
mar. Im Wefentlichen übereinffimmend ift die baterifche Legislation
(Artitel 172. 173), welche mit mehrjägriger Arbeits⸗ oder Zuchthaus
ſtrafe droht +), das ſchon genannte Geſetz für den Eanton Bern ($. 24.
27), die Gefeggebung für den Canton Zuͤrich ($. 157 ff.) und
die Franzöfifche Legielation (6. 340 — 353), welche ein Kind von
noch nicht fieben Jahren fordert und neben der Freiheitsſtrafe Geld⸗
ſtrafe eintreten läßt }}). Das neuefte deutſche Strafgefehbuch, das für
Kindermord. 267
WBürtemberg, handelt von der „Abtreibung ber Leibesfrucht” in ben
Artikeln 253 — 255. Der Artikel 263 bedroht die Mutter, welche
mit einem untelfen ober mit einem todten Kinde niedergefommen iſt,
und zuvor aͤußere oder innere Mittel, welche eine zu frühzeitige Ent:
bindung oder den Tod ber Frucht im Deutterleibe bewirken innen, in
der Abficht angewendet hatte, um einen ſolchen Erfolg herbeizuführen,
mit Atbeitshaufe nicht unter drei Zahren‘, eine Strafe, welche auf bie
Hälfte herabſinkt, wenn es gewiß tft, baß die vorzeitige Niederkunft
oder ber Tod der Frucht im Mutterleibe nicht durch jene Mittel hers
beigeführt wurde. Nach Artikel 254 trifft gleiche Strafe den, welcher
eine ſolche Handlung von einer Schwangeren mit deren Einwilligung
vornahm. Wer aus der Abtreibung der Leibesfrucht ein Gewerbe
macht, wird mit acht⸗ bis zwoͤlfjaͤhrigem Zuchthauſe beftraft. Gleiche
Strafe von laͤngerer oder kuͤrzerer Dauer trifft nach Artikel 255 den,
welcher ohne oder wider den Willen der Mutter handelte, je nachdem
deren Tod bewirkt oder ihre koͤrperliche oder geiſtige Geſundheit verletzt
wurde u. f. w. Der Entwurf eines Geſetzbuchs für Baden ſtellt
ſich — Legislation des Nachbarſtaates nahe: „XIV. Vom Verbrechen
der Toͤdtung im Mutterleibe und der Abtreibung der Leibesfrucht“
($. 218 — 222 *)). Gleiches gilt von dem heffiihen Entmurfe
(Kit. KXXIV. $. 259 — 262), der fogar die Todesſtrafe vorfchlägt,
wenn der Tod der Mutter Folge des angewandten Mittels war, unb
ber Thaͤter wußte, daß bdaffelbe diefen Erfolg haben konnte. — Ueber
bie Mittel zur Verhinderung bes Verbrechens ſ. bef. Frank a. a. D.
6. 17: „Wie diefem Lafter füglicher zu begegnen ſcheine“, S. 139 ff.
Ueber Gefepgebungspotitit f. Feuerbach. Kritik des Kleinfchrodifchen
Entwurfs zu einem peinlihen Geſetzbuche für die kur⸗pfalz⸗ baierifchen
Staaten. Th. I. Gießen, 1804. ©. 1% ff.
Eben fo mehr, als die Miffethat der Abtreibung der Leibesfrucht,
ſtellt fi dem Verbrechen des Kindermorbes das Vergehen ber Kin
besausfesung**), defien ſich bie Eltern eines hülfsbedürftigen Kin-
bes dadurch ſchulbig machen, daß fie fi von bemfelben in ber Abficht
trennen, um bie Sorge für bafjelbe überhoben zu fein. Die Strafe der
Verlegung der von dee Natur und dem Geſetze bictirten Pflicht der
Sorge für ein durch die engften Bande verbundenes Wefen ift nad
dem Erfolge der That verfchieden, fo wie nad) den Umſtaͤnden, unter
benen fie verübt wurde. Die Gefesgebung Karl's des Fuͤnften (bei den
*) Demme, Annalen. Band IV. ©. 406. 407. ab -
©. 25 —u. und Abegg, ebendaf.
**) epangenberg über das Berbrechen des Kinbermorbes und ber
Ausfegung ber Kinder (&. 1 ff. des Reuen Arch. des Gr. Rechts Band III.)
Heffter, Lehrbuch des gemeinen beutfchen Griminatrechts mit Rüdfiht auf .
die nicht ven Landesrechte. Halle, 1833. &. 290 — 293. geutrba R
Lehrbuch des peinl. Rechts. Ausg. v. Mittermaler, &. 47— 351. Moft,
Encyklopaͤdie. Band I. ©. 1021 s, v. „Kindesausfegung”
268 Kinbermorb.
Römern mar im Anfange die Kinderausfegung nicht verpoͤnt ), bis
das im Verfalle der Gitten iwuchernde Ueberhandnehmen Strafgefege
provociete) läßt im ertremften Falle, wenn bie Ausfegung des Kindes
deffen Tod zur Folge hatte, die Gapitalftrafe eintreten. Das preußiſche
Strafrecht (und das [don erwähnte Geſetz für den Canton Bern) droht
mit gleicher Strafe, wenn die Mutter ihr Kind an einem Drt aus:
fegt ober ausfegen läßt, two es nicht leicht aufgefunden werden Bann,
und deffen Tod die Folge ift, während es im allen übrigen $ällen
zeitige Zuchthausſtrafe eintreten 1äßt**). Das baierifhe Straf:
geſebbuch, dem die Gefeggebung für Zurich ($. 160— 161) und
Griechenland (Maurer a. a. D. ©. 418) gefolgt iſt, und wel⸗
ches der Kinderausfegung duch die Eltern den Fall gleichſtellt, da an:
dere Perfonen Kinder, Kranke oder Gebrechliche, zu derem Verpflegung
fie verbunden find, in einen hülflofen Zuftand verfegen, bictirt gleiche
falls zeitige Freiheitsſtrafe, und ftellt das Ertremfie: „wenn bie Aus:
fegung auf folhe Art, an einem folhen Ort oder unter ſolchen Ums
fänden geſchehen ift, wo die Rettung des Ausgefegten mit Wahrſchein⸗
lichkeit nicht erwartet werden konnte, und der Tod die Folge war”, uns
Pr Roch jegt ift die Kinderausfegung im himmlifchen Reiche, in ahtns,
gebräuchlich. Die neueften Rachrichten Daräber enepät tin Schreiben eines kas
— Simenoe⸗ in Ehina vom 7. März 1838, welches in der Nr. 105
des Beitblatt6: Ausland v. 1839 abgebrudt if. a heißt darin : „Man hat viel
über bad Ausfegen von Kindern in Ghina geferieben, und bie Häufigkeit biefes
Verbrechens feht übertrieben, obgleich es allerdings esiftirt. Dieſe unglüdlichen
Greaturen machen jedoch zum großen Theile nicht zu Grunde; denn es gibt in allen
Städten Denfchen , ‚e fie auffuchen und, Hei es aus Menfchlichleit, fei e6
aus Habfucht , ernähren. Ich habe oft auf meinen Reifen auf dem platten Tanbe
—* gefehen, welche 6 8 Kinder in zwei Körben trugen. — Diefe
Kinder werden von ihren Gtiefoätern auf dem unbe verkauft, die Knaben an
Leute , bie keine. Söhne haben und einen Erben wünfchen, die Mädchen an Kas
milien, die fi) Schwiegertdchter zu erziehen wünfchen, wenn fie vorausfehen,
Kindermord. Kirche; Kirchenrecht. 269
ter feine Gefebgebung wegen Beſtrafung der verurfachten Toͤdtung.
Gleichfalls mit zeitiger Freiheitsſtrafe verpoͤnt das würtembergifche Cri⸗
minalgefegbuch (Art. 256 — 269) die Kinderausſetzung ſelbſt in dem
Falle, wenn die Rettung unwahrſcheinlich war und der Tod erfolgte.
Im Banzen hat denſelben Weg die Redaetion des heffifhen Ent:
wurfs (Tit. XXXVII. „Von der Ausfegung huͤlfloſer Kinder oder ans
derer huͤlfloſer Perfonen.”) eingefchlagn. Noch umfichtiger ift der
Entrourf des für Baden beftimmten Strafgeſetzbuchs*) redigiet, daher
competente Richter ihm ben Kranz gereicht haben. Bopp.
Kirche; Kirchenrecht, allgemeines ober natürliches.
Innres Kirchenrecht. Aeußeres Kirchenrecht. Rechte der
Staatsgewalt gegenüber der Kirche. Garantieen der kirch⸗
lichen Rechte gegenüber ber Staatsgewalt. — Die allermeiſten,
in der Schule wie im Leben vorkommenden Lehren und Vorftellungen von der
Kirche und ihrem Verhältniffe zum Staat ruhen auf den biftorifch gege-
benen Zuftänben beider, wornach, wechfeind nad Ländern und Zeiten, die
Kirche, Iinbbefondere die hriftliche Kirche, als einedem Staat bald über:
geocbnete, bald untergeordnete, bald beigeord nete Gefellfchaft
ober Corporation gedacht wird, überall aber der innere Kirchenver:
band, ungenchtet ber anerkannten Berfchiebenheit feiner Zwecke von
jenen des Staatsverbandes, als ein dem Wefen nad oder dem
rechtlichen Fundamente ber Vereinigung nah dem letztern
ähnlicher, namentlich als mit. einer der Staatsgewalt analogen Ge⸗
fellſchaftsgewalt befieideter und ale ein durch bie Vernunft all⸗
gemein gebotener, mithin felbfl die Unwilligen oder Abtrün-
nigen mit Auctorität in feinen Schooß rufender oder darin zurüd:
haltender, wohl auch: biefer Abtruͤnnigkeit oder überhaupt des Ungehors
ſams wegen mit Recht beftrafender Verein erfcheint. Von biefen
Vorſtellungen und Einfegungen des hiftorifhen Rechts muͤſſen
wir durchaus wegblicken, mindeftens von der dee, als wäre nur auf
ben Grund foldyer Hiftorifchen Verhoͤltniſſe ein. Kirchenrecht zu erbauen,
uns voͤllig frei machen, wenn wir für ein natürliches, d.h. vefn
vernünftiges Kirchenrecht bie wahren Principien auffucheh, d. h.
ein über den vielfach wechſelnden Exfcheinungen in dee Geſchichte ſtehen⸗
des, ihnen allen aber nis Prüfftein ber Rechtmäßigkeit dienendes Lehr⸗
gebäude des Kirchenrechts errichten wollen. in folches hier vollſtaͤndig
zu errichten, iſt allerdings nicht unfere Aufgabe. Doc, kann, wegen
der vielfachen unb hochwichtigen Beziehungen ber Kirche zum
Staat, das Stantsleriton die Zeichnung wentaftens einiger Grund:
Linien zu jenem Lehrgebäube und zumal die Aufflellung der für das
Wechfelverhältnif der Kirche und des Staates maßgeben:
ben vernunftrechtlichen Principien nicht als außerhalb feinem Zwecke
*) Tit. 15: „Son der Kusfehung huͤlfloſer Kinder oder anderer duͤlfloſer
Seelonen. ‚Demms, Annan ac ee ech
270 rlecheʒ Kiechenrecht.
gelegen betrachten. Deßhalb die madfehne — auf die dautſache
chunlichſt beſchtaͤnltte — Ausführung
IL Begriff der Kirche. — De Kirche, in weiteſter Bedeutung
des Worts, ft der Inbegriff der Genoffen eines und defs
felden (zumal pofitiven) veligiöfen Glaubens oder aud der
vermöge folder Genoſſenſchaft berechtigten oder berufenen Theilneh⸗
mer an ben Wohlthaten einer zur Pflegeund Forterhals
tung jenes Glaubens errichteten Anftalt (bie Leiter und
unmittelbaren Diener folcher Anftalt oder bie Ausfpender jenes Wohl:
Ihaten natuͤtlich mit eingefchlofen, ja vorzugsmweife dazu gerechnet).
Diefer ganz einfache und allgemeine Begriff muß und zum Leisfaben
dienen, am bie ſchon vernunftrechtlich anzuerkennenden Geſetze für bie
Wechfelverhättniffe der Kirchenglieder unten fid and zur —— ſo wi
für jene der Kirche zum Stoate, aufjufinden und von dem, was
pofitio ober Ka it, ‚gehörig zu unterſchelden · Dei unferem —
meinen Begriff haben wir, was zur Vermeidung von ——
wirrung en nothwendig —X abgeſehen von dem, was durch pos
ſitives ober hiſt oriſch es Recht, oder überhaupt bios eharfeg-
lic), zu jenem einfahen und urfprünglihen Verhaͤltniß binzulonmen
Tann, ober hier oder dert, namentlich bei uns, ober insbeſondere bei
ber heiligen Kirche, hinzugelommen ift (woraus nämlich Kid
ein pasticuläres und yofitives Kirchenrecht entfieht), und unſern
Bid nur auf das Wefen ber Kiche, auf das, mas nothwendig gu
ihr gehört und allein ſchon fie ausmacht, gerichtet. Hat man ſich über
diefen reinen — —Se dann tet kann man die poßliven
Kirchenverhaͤltniſſe und Einfegungen würdigen, ihre Rechtmaͤßigkeit ader
Rechtswidrigkeit (mach ber Austorität, von weicher fie herruͤhren, ad
nach ihrem Inhalt) erkennen und die Korberungen der Reform auf eine
feſte ger bayens 4
Kirche; Kirchenrecht. 2371
Kirche gerirt, ober diefe Kirche als blofe Dienfimagb zu politifchen
Zweiten mißbraucht. Und noch andere Dale hat ſich eine Art von Gleich⸗
gawichs ‚ber beiden Gewalten, d. 5. das Princip eines folchen, hervor⸗
gethan; und es haben ſich die Häupter des Staates und der Kirche in
die Beherrſchung ber Volksheerde getheilt, einander wohl auch werhfels
feitig Beiſtand geleitet zur Erhaltung bes gewuͤnſchten Geherfams,
zwifchen fich ſelbſt aber mit diplomatifcher Kunſt gezeichnete und wohl
verwahrte Grenzmarken des jedem zukommenden Gebietes errichtet. In
dem Maße nun, als eines oder das andere dieſer Verhaͤltniſſe ſich far
tifch ausblibete und durch Geſetze oder kuͤnſtliche Einzichtungen befeftigte,
oder rinalificenb eines auf Unkoſten des anbern emporrang oder das
gegenuͤberſtehende feindlich ‚befämpfte, hat dann auch bie Wiffenfchaft
ober die Schule bie Wertheidigung bed einen oder des andern uͤbernom⸗
men, es zum Spſtem erhoben bber gar zu einer Act von Glaubens
artikel geftempelt. So hat namentlid in der chriſtlichen Welt, abwech⸗
ſelnd ober gleichzeitig, je nach Ländern ober Gonfellionen , die Schule
den beiden Mächten, bes "Staates und ber Kirche, ihren Beiſtand ges
leiſtet, für den jeweils ſtaͤr kern oder fiegenden Theil die Herrſchaft,
für den ſchwaͤch ern ober unterdruͤckten mindeftens die Selbftfiän>
dig keit in Anfpeuch genommen, im Mittelalter namentlich die Kirche
oder das Papftthum taufendfiimmig über alle Erdenkoͤnige erhoben;
in ber weuern Zeit dagegen bie irdiſche Macht auch mit Herrſcherrechten
in deu Kirche bekleidet, waͤhrend dort bie Vertheidiger des Thrones und
hier isme des Altars fich ‚anf. die beſcheidene Forderung ber GSelbfifiän-
digkeit ober gegenſeitigen Unabhängigkeit beider beſchraͤnkten. So mußte
dann :faeilich die: Heflfebung des ber einen und der anden Macht na-
türlich zufichenden Bebietes ein Gegenſtand bes Haders bleiben, und
Sonnte «in aufrichtiger Friede zwiſchen beiden Parteien niemals zu
Stande Iommen. Daher auch noch heute, ja heute wieber mit erneuter
Heftigleit dee Kampf um Herrſchaft und Frelheit fortdauert.
Ä Bur Schlichtung ſolches — in feinen Wirkungen meiſt unfeligen
— Streites iſt vor Allem bie möglichft allgemeine Verſtaͤndigung
Aber bas urfprängliche und fortbauende Wefen oder den wahren
Begriff der, Kicche noͤthig, weil nur hieraus ihre vechtliche Natur und
Stellung mis Klarheit erfannt, und ſowohl für das innere als das aͤußere
Kicchenrocdgt eine fefle Grundlage gewonnen werben kann. Wir haben
bie Kicche dabei blos als: menſchliche Einſchung, und welche unter
Rechtsgeſetzen flieht, zu betrachten, bliden daher weg von ihres
höheren Weihe, als berufen zur Heiligung ber Erdenpliger, als
große Erzieherin. bes Menſchengeſchlechtes. Das Recht, deſſen Gefet
wie auf. Eischliche Dinge hier anwenden follen, bat blos die Harmo⸗
nie ber äußern Wechfelwirkung dee Menſchen zum Zweck; alles
Höhere, Ueberirdiſche, Heilige gehört anderen Gebieten, namentlich
jenen bee Moral, ber Bortfeligkeit, des Glaubens u. f. m
an, und ſteht nicht unter Rechtsgeſchen.
Drei Hauptgrundſaͤe oder Hauptvorſtellungen walten vor in De .
972 Kirche; Kirchenrecht.
bisher aufgeftellten Syſtemen eines allgemeinen — ober angeblich na⸗
türlihen — Kirchenrechts. Bon ihrer Wahrheit ober Falſchheit hänge
natuͤrlich auch die Wahrheit oder Falſchheit der von ihnen abgeleiteten
einzelnen Lehren oder Rechtöbehauptungen ab. Es thut alfo Noth, fie
mit voller Aufmerkfamleit in's Auge zu faflen.
Diefe drei Vorftellungen find: 1) Die Kirche iſt eine Gefelt:
ſchaft; in ihrer Mitte waltet alfo das natürlihe Geſellſchafts⸗
weht; namentlich; befigt fie, gegenüber ihren Mitgliedern, eine Geſell⸗
fhaftsgewalt, melde Folgeleiftung als Rechtsſchuldigkeit anſpricht
und diefelbe auch durch (phpfiichen ober pſychologiſchen) Zwang fich zu
fihern berechtigt iſt. 2) Die Kirche hat aber nicht bloß die Rechte einer
gemeinen ober einfachen (Privat=) Geſellſchaft, fondern fie befigt, wegen
der Heiligkeit und Erhabenheit ihrer Imede und wegen ber (in der
Negel) fehr großen Ausbreitung ihres Wirkens nach der Zahl ihrer
Mitglieder und nach Raum und Zeit," ganz eigenthümliche Rechte,
namentlich eine weit größere Selbftftändigkeit gegenüber dem Staate,
welchem fie, gewiſſermaßen als Schweſtergeſellſchaft, zur Seite ſteht,
und mit ihm ſich in die Beherrſchung der Völker theilt; und ganz bes
fonders findet 3) diefes Statt ruͤckſichtlich ber hriftiihen Kirche, als
einer bie ebeiften Nationen. der Welt unter ihre Angehörigen und bie
Gewaltigſten der Exde unter ihre Unterthanen (als Gläubige und Laien)
zählenden, auch durch den Inhalt ihrer Lehren, fo wie durch die Befchichte
ihrer Gründung ſich als göttliche Einfekung, al6 Bewahrerin der ger
offenbar, mithin wahren und allein wahren Religion barfteenden
Inigung. "
Bei allen diefen - Borftellungen nun, fo bürfte nicht ſchwer zu ers
weifen fein, walten manderlei Verwechſelungen der Begriffe oder Bes
fangenheiten des Urtheil6 vor. Keine beefelben ift haltbar; mindeſtens
kann ohne wefentlihe Beſchraͤnkung nicht eine gerechtfertigt werden.
Zur Begründung, diefer Behauptung mögen/nachftehende Bettachtungen
Kirche; Kirchenrecht. 273
flimmenden, beren Summe zwar wohl.idealifch als eine &efammt-
heit gedacht werden kann (wie man z. B. auch die Summe ber
irgend einem phüofophifchen, aͤrztlichen, politiſchen u. ſ. w. Lehrſyſtem
Anbängenden ſich als eine Geſammtheit vorftellt), darum jedoch
eine jur iſtiſche Geſammtperſoͤnlichkeit noch keineswegs bildet.
Wohl koͤnnen aus ſolch' einer Summe oder Geſammtheit bloſer Ge⸗
noſſen einer und derſelben Ueberzeugung mehr oder weniger Theilneh⸗
mer ſich im Geiſt oder Intereſſe derſelben zu einer wahrhaft juriſtiſchen
Sefammeperfönlichkeit unter rechtlichem Titel verbinden, z. B. eine
nſtalt zur Ausbildung, Erhaltung oder Fortpflanzung eines Lehr⸗
ſyſtems gründen, auch Behufs der Erſtrebung ſolches Zwecks eine wahr:
haft geſellſchaftliche Vereinbarung unter ſich eingehen; aber we⸗
ſentlich gehoͤren ſolche Vereinbarungen zum weiteſten Begriff
einer Kirche (oder Schule) nicht; und wo ſie auch beſtehen, da um⸗
faßt in der Regel der Kreis ihres Beſtehens und Wirkens nur einzelne
Theile des ber großen Gefammtheit angehörigen Gebietes; fie find
dann Geſellſchaften oder Anftalten,. die wohl in dem Schooße ber
Kirche (oder Schule) errichtet wurden, doch im allgemeinen Begriffe ders
feiben keineswegs enthalten find. Wo finden wir z. B. die juriftis
(he Geſammtperſoͤnlichkeit, oder gar die wahrhaft geſell⸗
fhaftlihe Vereinigung unferer großen und allgemeinen chriſt⸗
lichen Kicche? Weber unzählbare Länder und über alle Welttheile aus⸗
gebreitet fleht der große Tempel der im Chriſtusglauben vereinigten
Bekenner. Aber von einer Vereinigung berfelben zu einer juriftifchen
Befammtperfönlichkeit, - oder gar zu einer wahren, durch einen
rechtlich verpflichtenden Sefammtmwillen verbundenen Gefell:
fhaft kann durchaus keine Rede fein. Nicht ein Gefammtredht,
nicht ein Sefammtbefisthum hat fie aufzumweifen. Nur in ber Idee,
als Inbegriff von Belennern, ſtellt fie als ein Ganzes fi)
dar, ja mag -felbft als ein Geſammtleben lebend betrachtet werben;
das Surikif he aber — und nur von biefem kann im Kirchen⸗
Recht die Sprache fein — kommt nur theils ihren einzelnen.
Mitgliedern, als individuellen Perfonen, die da die Freiheit bes
Glaubens und Gottverehrens in Anſpruch nehmen, theild den in ihrem
Schooße auf mancherlei Weife und unter bunt verfchiedenen Rechts:
titeln entflandenen größeren ober Eleineren, immer jedoch nur parti-
eulären Vereinen zu, zwiſchen welchen unter ſich dann gleiche
falls Beine juriſtiſche oder gar gefelfchaftlicdye Wereinbarung befteht, fon-
bern abermals, fo wie unter der Summe der einzelnen Gläubigen, blos
eine Vereinigung, b. h. factifche (mehr oder minder vollftändige) Ueber:
einflimmung im Glauben oder in religiöfer Gefinnung
oder auch in religiöfen Uebungen, Gebraͤuchen und Anftalten.
Man wird vielleicht biefes zugeben in Bezug auf die Kirche (im
weiteften Sinne dieſes Wortes genommen , d. h. in Bezug auf die
biofe Summe der einem beflimmten religiöfen Glauben angehörigen
Individuen, und auch auf den Inbegriff aller unter den Ges
Staats⸗Lexikon. IX. 18
274 Kirche ; Kirchenrecht .
noffen ſolches Glaubens wo immer auf der Erde geflifteten befon-
deren Vereine oder Anftalten); nicht aber in Bezug auf ehen
diefe befonderen Vereine oder Anftalten felbft, weichen man daher ben
Namen der Kirchen im engeren Sinne beilegt. Diele teten wenigſtens
wird man als wahrhafte jurifkifche Gefammtperfönlicfeiten
und als eigentliche Geſeliſchaften geltend machen. Wir be
baupten dagegen: auch diefe engeren ober eigentlichen Kirchenvereine
koͤnnen den Charakter juriftifher Geſammtperſoͤnlichkeiten
nur durch pofitives Gefes oder Anerkennung von Seiten einer
Staatsgewalt oder Stantsgefellfchaft erhalten, und jenen
dee Gefellfhaft nar durch ein hinzulommendes, dem Weſen ber
Kirche fremdes Factum, welches, eben weil nur zufällig und daher auch
in bunter Verſchiedenheit nady Inhalt und Umfang vorfommend, für
den Grundbegriff der Kirche ohne alle Entfcheidung ift.
Nur im Staate laffen juriſtiſche Gefammtperfönlichkeiten, wie
überhaupt mpftifche Perfonen, naͤmlich in der Sinnenwelt nicht er-
ſcheinende, fondern blos auf pofitiver Statuirung oder Anerkennung
beruhende Subjecte von Rechten und Schuldigkeiten ſich denken. Ein
Kichenverein, wenn er nicht zugleich ein Staat felbft iſt und in
der legten Eigenfchaft ſich durch eigene Auctorität geltend made, ift
für die ihm nicht angehörigen Perfonen blos eine Summe von
Einzelnen. Niemand ift ſchuldig, noch außer den diefen Ein
jelnen, als ſolchen, zuftehenden Rechten welche anzuerkennen, bie ber
— von der Summe folder Einzelnen verfhiedenen — Geſammt⸗
beit, als einer bloß idealen Perfon, zuftänden. Dan ift gar nicht
fhuldig, auch nur Notiz zu nehmen von dem Vorhandenfein eines
Kirchenvereins, und alles nach Außen wirkſame Recht des Iehteren iſt
lediglich abhängig von r_pofitivem Geſetze.
Daſſelbe finder Statt, auch wo die Kirche ſich als Gefetifgaft
geltend macht. Auch eine Sefelfchaft nämlich, bedarf in ihren aͤnß e—
Kirche; Kirchenrecht. 275
pflihtung ber Mitglieder zur Erſtrebung eines Geſammtzwecks
amd. ein biefe Erſtrebung leitender, rechtlich verbinbliher Geſammt⸗
wille. Von Beidem kann in der Kitche, nad) ihren wefentlihen |
Chauatteren, keine Rebe fein.
Was iſt der Zweck der Kirche? Sicherlich die Schaltung und Pflege
— ewa auch Verbreitung — eines religidfen Glaubens, bie ben Glaͤu⸗
bigen zu bereitende Gelegenheit ober barzubietende Hülfe zu erbaulicher,
die tugembhafte Gefinnung erwedender oder flärtender oder die Ausſicht
auf bad dunkle Jenſeits erheiternder, Das etwa beängftigte Gewiſſen beru⸗
bigender Andachtsuͤbung und bie geregelte Ausipendung ber eben die
Gläubigen Eoflbaren geiftlihen Güter und Wohlthaten ; dann audy
wohl, als letztes Ziel, die allgemeine Beförderung der Gittlichkeit und
Humanität in moͤglichſt zu erweiternden Kreiſen. Von allen biefen
Zwecken nun iſt Seiner geeignet, ald Geſellſchaft s⸗Zweck, db. h. als
ein ſolcher anerkannt zu werden, zu deſſen Erſtrebung ſich alle Mitglieder
der Kirche gegenſeitig verpflichtet haben, oder als dazu natuͤrlich verpflich⸗
tet koͤnnten betrachtet werden. Jeder Einzelne mag wohl fuͤr ſich
felbſt die Theilnahme an jenen geiſtlichen Gütern und Wohlthaten
verlängen ; aber er begehrt nicht nothwendig, duß auch bie Uehrigen
berfelben theilhaft werben, und iſt auch nicht ſchuldig, ſolches zu be
gehren. Eben ſo mag jeder Einzelne ſich der durch gemeinſames Gebet
oder uͤberhaupt durch gemeinſamen Gottesdienſt Allen dargebotenen
Gelegenheit zur Erbauung freuen und fie eifrig für ſich ſelbſt benutzen;
doch achtet er fich keineswegs für rechtlich verpflichtet, durch, Anmohnung
beim Gostesbienfie oder durch Mitmachen der Ceremonieen auch bie
Uebrigen zu erbauen, obfchon er aus moraliſchen oder veligisfen Gründen
Beides mit Freude thut. Er empfängt alfo zwar mit Dank, was
‘ ihm dargeboten wird, erfüllt wohl auch die Bedingungen, unter
weichen das Darbieten gefchieht, und enthält ſich — was übrigens
auch der Krande thun muß — jeder pofitiven Störung bes Gottes;
dienfles oder überhaupt der von ber Anftalt in dem Kreife bes ihr recht:
lich zuftehenden Wirkens ausgehenden Anordnungen: aber er denkt nicht
an eine Rechtspflicht, die ihm nur perfönlich werthvollen und darum für
fich ſelbſt von ihm erſtrebten Wohlthaten der kirchlichen Gottesverehrug
als einen gemeinichaftlichen oder Geſellſchaftszweck auch für die Uchrigen
zu erfieeben. Auch wird ihm bie Theilnahme an jenen Wohlthaten ohne
weitere Bedingung , als daß er fie für fich begehre, fortan gewährt; man
verlangt von ihm durchaus Bein als NRechtspfliche zu leiftendes Zuſammen⸗
wirken mit Anden. Ja, es ift, um als Kirchenglied geachtet zu werben,
nicht einmal nothwendig, daß man für fich perfänlich jene Zwecke
der Erbauung, Gemuͤthserhebung, Gewiſſensberuhigung, oder was fonft
noch für Wohlthaten die Kirche ihren Angehörigen fpenbet, begehrte:
Man kann fich ihrer — zeitlich oder fortbauernd — auh entfchlagen
und gleichwohl Kirchenglied fein ; denn es genügt zum Aufgenommenwer:
ben und zum: Verbleiben in dem Schoeße ber Kicche die aus ber (er⸗
ſcheinenden oder vorausgefeßten) Genoſſenſchaft des eligiöfen Gtaws
1 R
276 Kirche; Kirchenrecht.
bens hervorgehende Berechtigung zur Theilnahme an ben von ber
Kirche alten Gläubigen bargebotenen Hülfsmitteln der Andacht und
Gottſeligkeit.
Noch viel weniger aber, als die bisher beſprochenen kirchlichen
Zwecke, welche, wenigſtens in der Regel, Jeder fuͤr ſich ſelbſt, wenn
auch nicht für Andere erſtrebt, kann man die übrigen Zwecke der
fichlihen Anftalten (fo wie wir oben fie andeuteten) als Zweck der
einzelnen Kichhenglieder, und zwar als von ihnen vermöge gefell:
ſchaftlicher Rechtspflicht, zu erftrebende geltend machen.
Forterhaltung eines veligiöfen Glaubens oder feine Ueberlieferung an
die nachkommenden Geſchiechter, fo wie bie Ausbreitung deſſelben
unter den bisher noch Ungläubigen Tann — ob auch als natürlicher
Wunſch der Gläubigen — nimmer als von Allen fammt und fonders
zur felbftehätigen Erſtrebung ſich gefegter Zweck, und zu deſſen Erſtre⸗
bung man felbft eine Rechts verbindlichkeit auf fid genommen,
betcachtet werden. Eben fo die mittelft der kirchlichen Mirtel gu be-
fördernde allgemeine Moralitit und Veredlung der Menfchheit. Bu Ex:
ſtrebung folder hohen, auch allerdings von den gelftig und moraliſch
höher Stehenden mit Eifer verfolgten, ja felbit duch moral iſche
wpflicht zur Erſtrebung empfohlenen Zwecke kann man eime von
allen Angehörigen einer Kirche übernommene Rechts: oder eigent»
lich gefellfhafttiche Pflicht durchaus nicht vorausfegen. er es
thäte, der befände fi im Lande der puren Dihtung; unb es if
nicht erlaubt, aus ſolchen Dichtungen wahre Redyts = Verbindlichkeiten
abzuleiten. Aus dem Umftande, daß Einer einem gewiffen Fix
tigen Glauben zugethan ober in den Schooß einer gewiſſen
kirchlichen Gemeinde ober Anftalt aufgenommen, daher zur Theilnahme
Kirche; Kirchenrecht. 277
feitige Vertragepflicht vereinigte Gefammtperfönlichkeiten und für
welche ein allgenreines oder vernunftrechtliches Geſetz aufzu-
ftellen wäre, nimmer. In ber Kirche nun, menigftens in den Haupt:
richtungen ihres Lebens und Wirkens, herrfcht in der Regel keineswegs
ein Geſammtwille, ſondern zuvoͤrderſt ein von der Willensrichtung
der jeweiligen Mitglieder unabhängiges, höheres — auf himm⸗
tifche Auctorität, d. h. religiöfen Glauben, gegründetes — ober
auch ein- von längft verftorbenen Stiftern vorgefchriebenes ſtatutari⸗
ſches Gefeg, und fodann innerhalb des durch folhe unantaftbare Nors
men gezeichneten Kreiſes gewöhnlich nicht der Wille der Geſammt⸗
beit, fondern ber einer eigens mit geiftlicher Würde bekleideten Prie⸗
ſterſchaft.
Freilich Tann auch ein wahrer Geſammtwille in einer
Kirchengemeinde walten; doch gehoͤrt er nicht zum Begriffe einer ſolchen,
ſondern iſt ein zufällig Hinzugekommenes (wenn naͤmlich die
Kirchengemeinde oder ein Theil derſelben ſich zugleich eigens zu einer
Geſellſchaft gebildet hat); und felbft dann ift, wenn naͤmlich auch
die Laien dazu gehören, feine Herrſchaft gewöhnlich auf außerwe⸗
fentlihe Dinge — z. B. Herbeifchaffung der Unkoften für die Er:
haltung der Anftalt, Ernennung ber Beamten oder Diener berfelben,
Abſtellung von Mißbraͤuchen, Pflege der dußeren Ordnung u. f. w. —
beſchraͤnkt, während die reinreligtiöfen, die Seele des kirchlichen
Lebens sausmadyenden, Dinge, Glaubensiehre und Gottesdienft, ihr
Sefeb theils Bon hoͤherer Auctorität empfangen, theild den, vermöge
eben dieſer Auctorität (oder befonderer Weihe), zu Vorſtehern und
Verwaltern berufenen Prieftern überlaffen bleiben. Wo aber biefe
Driefter ganz allein, nämlich mit Ausfchließung der Laien, [ämm t:
Liche Kichhenangelegenheiten beforgen: da mag zwar. unter ihnen
ſelbſt gleichfalls ein gefellfchaftliches oder der Geſellſchaft ähnliches
Verhaͤltniß beftehen, und folglich ein Gefammtwille herrfchen; doc, neh:
men baran dann die Laien, b. h. die Grundmaffe der Kirchenge:
meinde, durchaus feinen Theil, und auf fie alfo erſtreckt das ger
feltfchaftliche Band fih nicht. Ä
Man wirb vielleicht einwenden: aud dee Staat wird ja für
eine Gefelfchaft erkannt, obſchon auch bei ihm der Geſammtwille
meift nur durch Wenige, ja oft durch einen Einzigen repräfentirt ober
ausgefprochen wird, und obfchon überall — felbft in den freieften Res
publiten — gar Viele, die ihm doch wirklich angehören, find, welche
(wie 3. B. Srauen, Kinder, Dienftboten u. f. mw.) weder mittelbar
noch unmittelbar an der Bildung oder am Ausdrud de Gefammt-
willend Xheil nehmen. Und auch im Staate wird Mandyes als Zweck,
und zwar ald von ſaͤmmtlichen Staatsangehörigen demeinſchaftlich (wäre
es auch nur mittelft der Steuern) zu erfirebender Zweck aufgeftellt,
was — wie namentlid) wieder die Beförderung der Humanität und
eblern Gefittung — von fehr vielen Mitgliedern gar nicht gewollt, ja
nicht einmal gefannt if. Warum follte man alfo der Kirche folches
378 Kirche; Kirchenrecht.
Umftandes willen ben Charakter der Geſellſchaft abfprehen? Wir ant ⸗
worten darauf wie folgt: Auch im Staate beſteht die wahre Gefells
fhaft nur unter jenen, melde zu mittelbarer oder unmittelbarer
Theilnahme an Darflellung des Geſammtwillens berufen oder geeignet
find, .alle Uebrigen find blos Angehörige oder Schußgenoffen, zur
Theilnahme an den Wohlthaten des Staatövereins Berufene, nicht
aber Gefeltfhaftsglieder. Kür fie iſt der Staat blos eine An=
falt, auf deren Wohlthaten fie nach dem Stiftungegefege derfelben,
d. h. nach dem Staatszwecke, einen rechtlichen Anſpruch haben, nicht
aber eine Geſellſchaft, welcher fie als wirkliche Mitglieder an-
gehörten. Was fodann bie Staatszwecke betrifft, fo iſt unter
ihnen der erſte und oberfte, nämlid die Gründung eines geſi—
Herten Rechtszuſtandes oder die gegenfeitige Gemwährleiftung
eines ſolchen, ein durch die rechtliche Vernunft Allen und Jeden, die
nicht aller Wechſelwirkung mit andern ſich entſchlagen wollen, gebo=
tener, und melden daher jeder im Staate Lebende — wenn er nit
als Feind ber Uebrigen angefehen werden fol — wollen muß. Ein
anderer Zweck: „Beförderung aller erlaubten Privatlebenszwecke mittelft
Hintegräumung der ihrer Erreichung entgegenftehenden Hinderniſſe
und mittelft zwanglofen Darbietene von geeigneten Hülfsmitteln,” if
fo beſchaffen, daß die Einwilligung in deſſen Erſtrebung bei allen Vy
ſtaͤndigen und mit den natüclichen Trieben Verfehenen als zweifellos vOrs
handen angenommen ober vorausgefegt werden kann. Und nicht mins
der natürlich ift die Annahme, daß die dergeflalt bereits unter
ſich gefeltfhaftlih Werbundenen und in folder Eigenfchaft
bloß ihrem eigenen Gefammtwillen Gehorhenden auch
bie allgemeinen Humanitätszwede — in fo weit deren Er:
Kirche; Kirchenrecht. 279
dem Begriffe der Kirche abzuleitenbes beftimmtes Rechtsverhaͤltniß,
fondern es kann ein foldhes blos hiſtoriſch Hinzulommen und nur
burch pofitive Statuirung eine fo oder anders geartete Geſtaltung
erhalten. Die Aufgabe bes VBernunftrehte befchränkt fich dabei
auf Zuruͤckweiſung aller unter dem mißbraudhten Titel feiner Geſetz⸗
gebung von einer oder ber andern Seite erhobenen Anfprühe und auf
Anerkennung oder Nichtanerkennung der Vereinbarlichkeit irgend welcher
pofitiven Satzungen mit feinem eigenen, allgemeinen und ewigen Ge⸗
feße.
Wenn die Kirche eine Geſellſchaft it, mas ift fie denn?
Wir fagen: die Kirche (nämlich der befondere, in dem Schooße der
allgemeinen, b. h. ſchlechthin die Summe ber Bekenner eines beſtimm⸗
ten religiöfen Glaubens in fich faſſenden, Kirche errichtete und wahre
Rechte und Verbindlichleiten begründende Verein) ift eine — fei e6 von :
Bekennern ſelbſt, fei e8 von Fremden, etwa felbft von der Staats:
gemalt, gegründete — Anſtalt zur Pflege und fortbauernden Erhal⸗
tung eines religiöfen Glaubens. Eine folhe, mit den Nechten einer .
anerkannten juriffifhen Perföntichkeit verfehene und für
ihre Fort dauer nicht nur gegen Außen, fondern auch gegen etwaige
Untreue ober Wantelmüchigkeit ihrer zeitlichen Verwalter oder Benoffen
geficherte Anftalt nun Bann offenbar nur gebacht werden als flehend
unter de Schuthertlich keit eines Staates oder auch als zu:
gleich feluft Staat; und es iſt diefe Betrachtung von fehr großer
Bedeutſamkeit nicht minder für das innere als für das Äußere
Kirchenrecht.
Mir Eönnen, mas die Rechtöverhältniffe betrifft, die Kirche -— fo
erhaben und heilig fie nad) ihren Zwecken, oder um fo viel höher
ftehend fie immer als die blos zeitlichen Intereſſen gewidmeten Anftal-
ten fei — ohne Anftand vergleihen 3. B. einer Unterrichts: oder
einer Kranken: oder einer VBerforgungs: m. f. w. Anftalt. Eine
folche kann errichtet werden von eben benfelben,, deren Frommen fie
gewidmet ift, oder von Genoſſen derfeiben Bedürfniffe. Sie kann es
aber auch und wird es in der Regel von Andern, fel e8 von einzel
nen 'mohlthätigen Stiftern oder von zu foldhem Zwecke ſich bildenden
Privatgefellfchaften, fei es vom Staat. ine foldye Anftalt, 3. B.
eine Schule (im engern Sinne; denn wie die Kirche wird auch die
Schule mitunter In weiterem Sinne genommen, naͤmlich für den
blofen Inbegriff der einem gemwiffen Lehrſyſtem Anbän:
genden), alfo eine als eigene Anftalt errichtete Schule bat zuvoͤr⸗
derſt den Charakter der juriftifhen Perſoͤnlichkeit, vermöge deffen
fie — getrennt von der Perfönlichkeit ihrer Mitglleder oder Angehoͤri⸗
gen — ale eigenes Subject von Rechten und Schuldigkeiten ge:
achtet wird, und als ſolches fortdauern Bann nicht nur unter allem
Wechſel ihrer Angehörigen, fondern felbft bei zeitlihem Ermangeln
derfelben. (Wenn nämtich auch zeitlich Beine Schüler und Peine Lehrer
da find, kann die Schule — fo wie ein Krankenhaus bei zeitlichen
280 . Kirche; Kirchenrecht. J
Ermangeln der ———— Anftalt nich,
daher ihre, jueifläfche beibehalten; und ſchon hieraus.
der ‚große Unterfchledb einer ſolchen Anſtalt oder Stiftung von.
Gefettfchaft hervor, welche lehtere nämlich aufhört, ſobald
Mitglieder mehr. da find.) Sodann find: in dee Schule, wie gie
in der Kicche, zwei. Hauptelaffen von Angehörigen zu unterſchei⸗
ven, einmal die Glaffe der. Lehrer (hberhaupt der An
oder auch, Beamten und Diener) und dann bie der Lernenden.
Beide Claffen gehören zufammen der Anftalt anz aber unter ihnen
fetbft befteht Keine juriſtiſche Gefammtperföntichkeit (denn biefe kommt
nur ber Anftate felbft, als idealein Weſen oder myſtiſcher
zu), und nod viel iweniger eine Gefellfchaft. Ihre Rechte und
Schuldigkeiten nämlich find verfcjieden, fo wie ihre Zwecke, indem bie
Mitglieder. der einen den Zweck und zugleich die Schuldigkeit des
Gebens oder Mittheitens, bie der Anderen den Zwe und bas
Recht des Empfangens haben. Auch zwiſchen den Schhälerm
unter fich befieht Reine Geſellſchaft; dem jeder verfolgt blos feinen
eigenen Zweck und iſt den Mitfchitern. oder ber Schule kein Zufammen-
wirken zu einem gemeinſamen Zwecke (mit Ausnahme ber allgemeinen, .
blos negativen Pflicht des Nihtftörens, und dann ber Veo!
der etwa als Bebimgung der Aufnahme oder des Verbleibens in der
Schule erlaffenen Disc tinarvorfhriftem) ſchuldig. Die
Lehrer unter fid) aber eg zwar eine Geſeliſchaft bilden ober
in einem der Geſellſchaft ähnlichen Verhäftniffe zu einander ſtehen;
doch iſt auch dieſes nicht mothwendig und darum oft gar nicht: vorhanz
den. Das Gefez für ihre Wirken zum Anftaltspwec erhalten fie ges
wöhnlich durch, die pofttiven Statiten der Stiftung oder aud dueh
einen auswärtigen, Höheren— erwarben Regierungs-—Bil-
ten, mit nichten alſo durch ihren eigenen Gefammtwillen,
als. für. melchen nämlich in ber Megel nur ein flatutarifch beftimmter
und.enger Kreis des ‚übrig bleibt, es ſel denn, fie feien ſelbſt
Die Gtiftor und Finsnthlimor her Mnftalt sinh Adttom nm Amer nam
Kirche; Kirchenrecht. 281
äußere dagegen gründet ſich zumal auf die zwei weiteren Säge:
1) Die Kirche, fei fie eine Geſellſchaft oder nicht, hat wegen der Hei⸗
tigkeit oder’ Erhabenheit ihrer Zwecke nad ſtrengem Recht nichts
Mehreres oder Anderes anzufprechen,. ale was aus ihrer allgemei⸗
nen Redhtseigenfhaft und aus dem allgemeinen Rechte ber
Einzelnen fließt. Die ihr hiernach zulommenden Rechte mögen
zwar heiliger, d. h. die Verlegung derfelben einer ſchwereren Zurechnung
oder Verantwortung unterliegend fein, ale bei minder heiligen Inſti⸗
tuten von gleicher Rechtseigenfhaft; aber der Wefenheit nach bleibt
dort wie hier Alles gleih; nur pofitive Einfegungen können eine
Verfchiedenheit begründen. 2) Eben fo hat auch die hriftliche Kirche,
als folhe, ihrer innern Vortrefflichkeit und aͤußeren Majeflät ungeachtet,
nach allgemeinem und firengem Rechte Beinen Vorzug oder kein befonderes
Recht anzufprechen vor allen übrigen (verfteht fih, dem Staate nicht
etwa feindfelig gegenüberftehenden oder nach Lehren und Uebungen ges
fährlihen) Kirchen; wiewohl die ihr von ben ihr felbft zugethbanen
Machthabern und Völkern erwiefene ausgezeihnete Gunſt ganz
natuͤrlich und — wofern nicht mit Verletzung ober Kraͤnkung der den
übrigen Kirchen zuftehenden ftrengen Rechte verbunden — aud) preis:
wuͤrdig iſt. | Ä
Wir gehen, nach folcher Feftftellung des Grundbegriffs zur
Zeichnung bes natürlihen Rechtes ber Kirche über.
Die Kirche iſt — wie ausgeführt morden — eine Anftalt zur
Dflege und Erhaltung eines religiöfen Glaubens und mittelft folcher
Pflege zur fittlihen Veredlung allernächft ihrer Angehörigen und, wenn
man will, mittelbar auch der gefammten Menſchheit. Welche Rechte
und Schuldigkeiten nun (von blos moraliſchen Pflichten fpre:
hen wir nicht) fließen aus diefem allgemeinen Begriffe, und zwar
fowohl in Bezug auf das innere Leben ber Kirche, d. h. bie Wech⸗
felwirtung ‚ihrer Glieder unter fi, als in jenem auf ihre Stellung
zur übrigen Gefellfhaft und namentlih zum Staate? — Rad
ſtehende Säge enthalten bie Andeutung (die umſtaͤndliche Ausführung
würbe ein Buch erheifhen) der für die Kreiheit, deren Intereſſe
mit jenem des Rechtes identifch ift, michtigften Kolgerungen aus unſe⸗
rer Grundanſicht.
1. Bon dem inneren Kirchenrecht. Die Licchliche
Anftalt kann naturrechtlich nur gedacht werden ale eine freie,
d, h. als eine folde, zu deren Errichtung einerfeit® zwar ein na⸗
türlihes Recht, nicht aber eine Schuldigkeit befteht, und
welcher anderfelts beizutreten oder in ihr zu verbleiben, von
dem freien Willen jedes Einzelnen abhängen muß, endlich ale
eine folche, die auch über bie bereitd Beigetretenen, d. b. ihr An:
gehörigen, durchaus Feine vehtlihe Gewalt oder Herrſchaft
befist, fondern bei ihrer — eigentlich kirchlichen — Einwirkung auf
dieſelben lediglich auf die zmanglofen Mittel der Lehre, bes Ras
thes, der Gemwiffensrührung u, f. w. beſchraͤnkt ift.
288 Kirche; Kirchenrecht.
Schon ans dem Imede der Kirche, Erweckung und Erhaltung
eines beflimmten religiöfen Glaubens und feommer Gefinnung, geht
hervor, daß bei ihr von einem Zwange ober Zwangerechte die Rede fein
Zann. Der religioſe Glaube, tie bie religisfe und moralifhe Ge—
finnung, iſt nichts Erzwingbares; und ber Vegriff eines Kirchenan⸗
gehörigen führt die Worausfegung feiner Glaͤubigkeit, folglich feiner '
freien Ueber zeugung ober feines innen Dafuͤrhaltens mit fid.
Ueberzeugung und Dafüchalten aber find keine Handlungen und fine
Willensacte, fondern lediglich Seelenzuftände, melde eben fo
fehr jebem feemden Zwange unzugänglic als der Herrſchaft des eigenen
Willens enträdt find. Ein Recht, Jemanden zu zwingen, daß er in
die Reihe der Stdubigen trete, oder daß er ein Gläubiger bleibe,
erfcheint hiernach als ein Unding; und bie Anmafung eines ſolchen.
welches dann ein Recht wäre, ein heuchlerifches, folglich fünd-
baftes, äußeres Bekennen eines innerlich, nicht vorhandenen Glaubens
zu erzwingen, als etwas bem Begriffe der Kirche ſelbſt, bie da jebe
Sünde verabfcheut, völlig Widerfprechenbes.
Wäre jedoh dem auch nicht alfo, wären witklich Glaube und
Gefinnung erztwingbar, oder wäre da6 Erzwingen dußerer religidſer
Handlungen, welchen die Ueberzeugung des zu Zwingenden widerflrebt,
moraliſch erlaubt: fo wuͤrde gleichwohl der Kirche Fein Recht zukommen,
jemals folhen Zwang auszuüben. Worauf follte fie diefes Zwangétecht
gründen? Welchen rechtlichen Anſpruch auf irgend Jemandes Beitritt
Zönnte fie aufftellen? Die Kirche iſt errichtet theils zu Zwecken, melde
blos für den Eintretenden perfönfich eine Wohlthat fein follen, theils
zu folhen, welche zwar auf’s allgemeine Wohl der Menfchheit gehen,
R un N
Kirche; Kirchenrecht. 288
als ſei er wirklich gefchloffen ober dem verftändigen Willen des Einge⸗
tretenen gemäß, rechtfertigen? Der Gläubige iſt Kirchengenoſſe auch
ohne Vertrag, wenn man nicht etwa feinen durch die That erklaͤrten
Wim der Annahme ber ihm von der Kirche dargebotenen Wohls
thaten einen Vertrag nennen mill, ber jedoch ſtets nur ein ein:
feitiger, d. b. unbeläftigter, ‚bliebe, weil der ingetres
tene nur zu empfungen, nicht aber zu Leiften, zumal aber feine
geſellſchafttiche Pfliht zu erfüllen hat. Es verhäte ſich hier mit
ihm, wie 3. 3. mit dem in ein Krankenhaus aufgenommenen
Kranken. Derfelbe ſchließt weder mit den übrigen Kranken beffelben
Haufes, noch mit der Anftaltsdirection einen Gefellfchaftsvertrag, ja
überhaupt Beinen ihn zu irgend etwas verpflichtenden Vertrag; fenbern
er meldet fidy lediglich zur Aufnahme, unter Darlegung ber nach dem
Stiftungsgeſetze dazu erforderlichen Eigenfchaften, und wird fodann, wenn er
diefes gethan, von der Dospitalvermaltung als qualificirt anerfannt und
unter die Pfleglinge aufgenommen. Seine ganze Verpflichtung beftcht
jest darin, daß er die Orbnung des Haufes nicht flöre (eine
negative, daher auch den Fremden obliegende Schuidigkeit), auch etwa
einige ihm ald Bedingung der Aufnahme gefegte Disciplinarvor:
ſchriften beobachte. Aber von einer Pflicht "des pofitiven Zuſam⸗
menwirkens mit ben übrigen Kranken oder Überhaupt Angehörigen
der Anftalt zu einer gemeinfamen Zweckerſtrebung ift bei ihm
keine Rebe, oder kann es wenigſtens nur in Folge eines weitern, eigen?
eingegangenen (3. B. Dienft » oder auch Zahlungs =) Vertrages — der
aber blos etwas Zufälliges, mit dem Hauptact der Aufnahme und
der daraus folgenden rechtlichen Stellung in gar Feiner nothmendigen
Verbindung Stehenbes wäre --- fein.
Es fei uns erlaubt das Gleichniß des Krantenhaufes noch etwas
meiter zu verfolgen. So mie der Eintritt in baffelde dem — gehörig
qualificirten — Candidaten frei fland, fo fleht aud dem Aufgenomme-
nen der Austritt jeden Augenblid frei. Nicht nur nicht zum Mit:
wirken zur Heilung der Mittranten hat er fic verpflichtet, fondern
nicht einmal zum felbfteigenen DVerbleiben in der Anftalt oder zu pofl-
tiver Erſtrebung der eigenen Heilung. Go wie er etwa bus Vertrauen
in bie Güte der ihm dargebotenen Arzneimittel und Pflege verliert,
oder aus welch' anderem Grunde fonft ihm der Aufenthalt nicht mehr
behagt, kann er austreten, und nimmer hat die Anftaltsdirection eine
rechtliche Gewalt, ihn gegen feinen Willen (es fel denn, er wäre 5.8.
mwahnfinnig oder als Fieberkranker keines verftändigen Willens mächtig)
zurädzuhalten.e Ducd das Verlaſſen der Anftalt fügt er derfelben
durchaus keine Beleidigung oder Rechtsverletzung zus denn er ijt blos
Empfänger oder Befchenkter, nicht aber zur Annahme Verpflichteter.
Ja, nicht eimmal die Arzneien oder die Speifen, die man ihm darreicht,
ift er zu nehmen verpflichtet, wiewohl die Anftaltsdirection ihm erfid:
ven kann, daß, wenn er die Mittel der Heilung beharrlich von fich
284 Kirche; Kirchenrecht.
weißt, er aufhoͤre, qualificirt zum PVerbleiben in ber Anflalt zu
fein, und dieſelbe baber zu verlaffen habe. B
Die der, Anftaltsbirection zuftehende Gewalt ift daher befchränkt
theils auf die Vermögensvermwaltung, theils auf Exlaffung alls
gemeiner Vorfchriften für die Hausordnung und auf Handhabun:
derfelben, theils endlich auf die bienftherrliche Auctorität über bi
ducch befondere Verträge angeftellten Beamten und Diener des Haufes.
Auf die Perfonen der zum Zwecke ber Heilung darin aufgenommes
nen Kranken erflvedt fie ſich nicht weiter, ald eben die Hausord⸗
nung erheifht, und das — ihr Mag und Richtung vorſchrei⸗
bende — Stiftungsgefes mit ſich bringt. Jedenfalls kann fie
blos über die willig in der Anſtalt Verbleibenden ausgeübt werben,
unb niemals ein härteres Mittel, als die Ausfchließung aus der⸗
felben, gegen bie Ungehorfamen anwenden. Die unmittelbaren Kran⸗
Eentoäcter und Aerzte haben aber noch weit weniger Rechte; kenn mit
Ausnahme des auf bie nothwendige Hausordnung (zu deren Hand:
habung etwa ihre befondere Dienftpfliht fie verbindet) ſich Beziehenden
haben fie nur Hülfe anzubieten oder Rathſchläge zu ertheilen,
nicht aber Befehle zu geben. Es ift dem Kranken erlaubt, ſolche
Hülfe, wo er fie nicht nöthig findet, auch abzulehnen, und die Rath:
ſchlaͤge, wenn er ihnen mißtraut, zu -verwerfen.
Nicht anders bei der Kirche und den Kirchengenoſſen. Auch
bier hat die aufnehmende Anftalt durchaus kein Recht weder auf ben
Aufzunehmenden, nod auf den Aufgenommenen. Diefer
befigt nur Rechte ober empfängt Wohlthaten, if aber — bie bloß
negativen Schuldigkeiten und bie in ber Beobachtung der Hausordnung,
Kirche; Kirchenrecht. 285
hengemalt und der Staats- oder irgend einer andern Geſell⸗
[haftsgewalt. Die des Staates zumal erſtreckt ſich über alfe
innerhalb ihre® Gebietes ſich Aufhaltende ; die Kirche hat — mit Aus:
nahme etwa des ihr privatrechtlich zuftehenden Grundes — Fein ande:
ve6 Geblet, ale Geiſt und Gemäth der Gläubigen, und eine Verpflich-
tung zum Eintritt und zum Verbleiben in ihrem Schooße kann nie
mals auf einem Rechte der Kirche, fondern hoͤchſtens auf einem etwa
rechtsbegruͤndeten Befehl einer andern Auctorität, namentlich jener des
Staates (von deren Umfang wir fpäter fprechen) beruhen.
Ueber bie freiwillig Eingetretenen und freimillig Verbleibenden
äußert dann auch die — fogenannte — Kirchengewalt fih ganz an:
ders, als eine wahre Gefellfchaftsgewalt. Wo fie — in eigentlich
religiöſen Dingen — gefeßgebend, befehlend oder frafend auftritt,
da thut fie es gemöhnlih aus einer an ihr anerkannten höheren
(himmtlifchen oder auch durch befondere heilige Weihe erlangten) Aus
ctorität, welche natürlich mit dem Rechte gar nichts gemein hat, fons
dern lediglich auf dem Glauben und der Gefinnung oder bem
Gewiffen ber ihr Gehorchenden beruht. In diefer Sphäre alfo
kann — wenn nicht eine widerrechtliche Anmaßung factifch durchgefuͤhrt
wird — nur von freiwilligem, aus innerer Ueberzeugung oder Vers
trauen fließendem Gehorfam die Rede fein. Nur eine außerhalb
der Kirche beftehende, atfo namentlich wieder die Staat6 = Gewalt kann
(fol jebody in ber Regel nicht) den ihr felbft untergebenen Kirchen⸗
äliebern die Folgſamkeit auch in dieſer Sphäre (3. B. die Heiligung
des Sonntags, die Unterwerfung unter eine auferlegte Kirchenbuße
u. f. w.) anbefehlen oder zur Bedingung gemiffer bürgerlichen
Nechte fegen. Der Kirchengewalt, als folcher, fteht bier nur ein rechtlich
unverbindlicher Ausſpruch, der im Wefen nichts Weiteres als Lehre
oder Rath ift, zu.
Indeſſen gibt es für die Kirchengewalt auch mehrere Sphären
des Wirkens, worin fie als wirkliche und mit Zwangsrecht verfehene
Gewalt — ob aud nit eben Geſellſchafts⸗Gewalt — auftritt.
Dahin gehört zumal die über die eigens angeftellten Kirhenbeam-
ten und Diener, welche nämlich, wenn fie die vertragemäßig über:
nommenen Pflichten verlegen, nach Maßgabe der Anftaltöflatuten mit con-
ventionellen oder auch richterlich erkannten Strafen belegt oder des Dienftes
entlaffen werden koͤnnen. Dahin gehört überhaupt alle in dem Begriffe
einer Anftaltsdirection oder Stiftungserecutorte liegende Ge⸗
walt, theils die auf Anordnung oder Vollzug der durch die Statuten vorge:
fchriebenen oder fonft als nöthig zur Imederftrebung erfcheinenden Verrich⸗
tungen fich beziehende, theil® bie polizeiliche, auf Abhaltung der von
Seiten Fremder ober Einheimifcher etwa zu beforgenden Störungen gerich-
tete, theils die mit der Bermögensverwaltung befchäftigte und uͤber⸗
baupt die juriftifhe Perſoͤnlich keit der Anftalt gegenüber von
Anderen vertretende. Alle diefe Gewalten mögen ganz unbeſchadet ber
jedem gemeinen Kicchenmitglied zukommenden vollen perfönlichen Frei⸗
2 Sicäe; ircheueht.
heit und Ungebundenheit beftchen. Auch fegen fie durchaus Beinen Ge⸗
fellſchaftsvertrag voraus, und gründen fi — ſowohl in ber Perſoni⸗
fication als in der Ausübung — keineewegs auf einen Gefammt:
milten jener Mitglieder, fondern entweder auf wirklihe Glaubens:
artikel (wie 3. B. in der katholiſchen Kirche die päpftliche Gewalt),
in weichen Zalle fie, fo lange der Glaube ſelbſt nicht geändert wird,
unantaftbar find, oder theils Sat pofitives Stiftungsgefeg, theils
ſchlechthin auf hiſt oriſch aufgekommene Verhaͤltniffe, welche dann
auf gleiche Weiſe, wie fie entſtanden, auch wieder abzudnbern find.
Was hier üben die Ausfchliegung des Gefammtwillens von
der Leitung der Kirchenangelegenheiten gefagt ward, gilt wenigitens als
Regel, und zumal von: ben großen, über weite Länder und ganze
Nationen ausgebreiteten Kirchen. In Fleineren kirchlichen Auſtalten,
welche etwa für einzelne bürgerliche Gemeinden oder von diefen felbft
errichtet wurden, ober deren Gründung von einer Anzahl Bidubigen,
die fich zu dieſem Zwecke eben näher vereinigten, ausging, mag jedoch
allerdings wenigſtens ein Theil ber der Kirchengewalt zuftehenben
Zunctionen duch, den Geſammt willen der Gemeinde, welche näms
ti in ſolchem Falle als wirkliche Geſell ſchaft erſchiene, oder durch
von jenem Geſammtwillen ernannte, ihn alſo natuͤrlich repraͤſentitende,
Organe ausgeuͤbt werden; oder auch es mag ſolcher Gemeinde (ben
Laien) wenigftend eine Mitwirkung, eime mehr oder weniger zaͤh⸗
tende Stimme, bei Verwaltung der Kirchenangelegenheiten eingeräumt
werden. in allgemein gültiger Grundſatz jedoch ift dafuͤt nicht aufzu⸗
ſtellen. Alles hängt von den befonderen ſchen Verhaͤltniſſen ab,
und das Vernunfitecht muß ſich darauf tänfen, unter Anerken-
nung der Gittigkeit einer jeden redjtgemäi Dafein gerufenen Form,
Kirche; Kirchenrecht. 287
fon eigenen Rechte und ntereffen betreffen, nicht aber die Glaͤu⸗
bigen, als folche, oder den Glauben felbft angeben: fo mögen fie
allerding® auch als wirklich rechtsverbindliche Vorſchriften gelten,
und entweder bucch Befehle der durch die Statuten der Stiftung ein-
gefegten Vorſtaͤnde oder au duch Majoritdtsbefhlüffe der i
Geſellſchaft zu Stande kommen.
Diefelbe Unterfcheidung gilt auch für die auf beſtimmte Faͤlle
oder Perſanen fich beziehenden — adminijtrativen oder richterlihen —
Acte der Kirchengewalt. Auch diefe nämlih, je nad Beſchaffenheit
ihres GBegenflandes und Inhalte, find entweder blos rechtlich unver:
bindliche, daher nur auf freitillige Unterwerfung berechnete Ausfprüche
oder Rathſchlaͤge der für inſpirirt oder für kundig Geachteten, ober.
aber wirkliche, und — wofern in der Sphäre der Gompetenz erlafs
fen — mit Rechtskraft verfehene Befehle oder Anordnungen einer
beftehenden Anſtaltsdirection ober auch Geſellſchaftsgewalt. In bie
erfte Claſſe gehört z. B. die einem Sünder auferlegte Kirchenbuße, dus
Erkenntniß über facenmentale Gültigkeit oder Ungültigleit einer Ehe u. ſ. w.,
in bie zweite die Verfügungen über weitliches Kicchengut, die Beſchluͤſſe
über Kirchenbau und Kirchenbenutzung, die Anftellung und Entlafſung
von Kirchenbienern, die Aufnahme von Profelpten ‚unter die berechtige
ten Kirchengenoſſen u. ſ. m. — Ob auch die Ausſchließung mirk
licher Kirchenglieder wegen Abtruͤnnigkeit oder Suͤnde? Allerdings! wie⸗
wohl nicht eigentlich zur Strafe oder vermoͤge einer uͤber die Per⸗
ſon ſich erſtreckenden Gewalt, ſondern blos als Erkenntniß des Stif⸗
tungs⸗ oder Anſtaltsvorſtandes, der Betreffende beſitze die zum Genuſſe
derſelben (in Gemaͤßheit des Stiftungsgeſetzes) noͤthigen Eigenſchaften
nicht mehr. — In wie fern, wenn die Betheiligten vermeinen, daß
durch ſolche Erkenntniſſe ihnen Unrecht geſchehen, dagegen an die
Gewalt oder die Gerichte des Staates appellirt werden koͤnne, wird
ſpaͤter zur Sprache kommen.
1. Aeußeres Kirchenrecht. So wie beim innern, fo
gehen wir auch beim äußern Kirchenrechte allererft vom Rechte der
Einzeinen aus, weil überall dieſes lehte die Grundlage und ber
Prüfftein der Rechtmaͤßigkeit aller, auch in den Sphären des äffent:
lichen Rechte zu gründenden Verbättniffe und Einrichtungen iſt. Und
gleichfalls beim“ dußern, wie beim innern Kirchenrecht halten wir an
dem Grundfase feit, daß, in fo fern in der Kirche eine wahre juri:
ftifhe Perföntichkeit oder auch eine wahre, rechtlich beftehende,
Geſellſchaft zu erkennen ift, für fie in Bezug auf alle ihre Wedh-
felwirtungen, fei es mit eigenen Angehörigen, fei e8 mit Fremden, daſ⸗
feibe Rechtsgeſetz wie für alle Uebrigen gilt. Wir ſtellen daher
ruͤckſichtlich des bier ganz vorzugsmeife zu betrachtenden Verhaͤlt—
niffe® der Kirche zum Staate den Grundfag auf, daß bie
Kiche, in fo weit fie die Mechte der Perfönlichleit oder der Gefell-
(haft anfpricht, aud in Bezug auf jenes hochwichtige Verhältnig, vor
anderen zu gemeinen (veriteht ſich rechtlich erlaubten und dem Staate
zz
288 . Reh
Bremen sachen er, — * — ar te ine \
ben Gefepe des er Bent
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jede A
der Sphäre: folcher Pole
dings Vieles davon ‚ weldjer fi
eben bie Regierung, d.h. diertegierenden —*
aber — die Gefammeheit oder die Mm
menigfteng ein bedeutender Thetl der Nation
iſt rn ee Besietchlige
J——— tar Fan vnakiet We =.
es i oder kanu fu gar oft.
Mifbraud jener, Gunſt von Seiten dev Kirche oder ber 2
ter —— nee ia — —
der haupteten ober
tiche Einwirkungen auf den Staat ober auf beffen
gehen; und es liegt baber der Staatsgewalt ob; dagegen,
Kirche; Kirchenrecht. 280
ben, was er eben glaubt, das dürfte wohl in unferer Zelt. fo wenig
eines Beweiſes bedürftig erfcheinen, als daß er das Recht hat, groß ober
Hein, blauaͤugig oder ſchwarzaͤugig, gefund oder krank zu fein, überall
nämlich fo mie er ifl. Das Recht des Glaubens ober Denkens aber
kann anders nicht ausgeübt ober als wirkliches Recht geltend gemacht
werben, als buch Kundgeben deſſen, was man glaubt oder denkt;
und e& iſt alfo das Recht der Slaubens- Mittheilung in dem Rechte
des Glaubens felbft ſchon enthalten oder identiſch mit ihm; und zwar iſt
es ein in dem Maße heilige Recht, als die Gebankenmittheilung zum
Weſen des menfhliden Lebens gehört, und als zu Beiner andern
Mittheilung der Drang ſtaͤrker und zugleich, achtungswuͤrdiger iſt, als zu
jener in cefigtöfen Dingen. Der Menſch auf jeder Culturſtufe fühlt
ih, zumal in den Momenten ber Geiftes- und Gemüthserhebung,
durchdrungen von der Ahnung bed Himmels, und aus ihr allein ſchoͤpft
er Troſt unter den Drangfalen bed Lebens und Bekraͤftigung zu tugends
baftem Thun. Er ift mit Nichten in den Staat getreten, um ſolchen
verebeinden religiöfen Gefühlen unter dem Titel eines erdichteten Ges
meinwohls ober einfeltigen Regierungsintereſſes Zwang anthun zu laffen,
fondern vielmehr, um bier, wie überall in den natürlichen Lebensrich⸗
tungen und Zwecken, ſich ber möglichft größten Freiheit zu erfreuen,
ia dafür eigens noch befonderen Schu und Befoͤrderung vom
Stagte zu erlangen. Mindeſtens fordert er alfo von biefem bie Ge⸗
währung voller Freiheit in Ausübung "der natürlihen — alfo
namentlich auch. ber auf Belennen und Ausüben eines religiöfen Glau⸗
bens gehenden — Rechte, in fo meit fie irgend vereinbarlich find mit
ben eden auf die größtmögliche Kreiheit Aller gehenden Staatszwecken.
So wie alfo die Aeußerung religiöfer Gedanken und Ueberzeus
gungen, fo muß auch bad Handeln darnach, d. h. der durch biefels
ben beftimmte SG ottesdienft ober bie Ainbachesübung einem Jeden frei
fiehen ; verfteht ſich in fo fern bie unter ſolchem Titel geichehenden
Handlungen nicht an und für ſich dem Rechte Anderer ' zumwiderlaufend
ober der oͤffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt gefährlich find. Es hat
ſonach Jeder im Staate das Recht der freien Religionsüäbung
für ſich felbft und für feine Familie, und nicht minder für einen. Kreis
von Freunden und Bekannten, überhaupt Sinnesgenoſſen, mit welchen
er gemeinfchaftlich ſolche Privat⸗ oder fogenannte Hausandaht zu
verrichten geneigt fi.
Eine zu ſolcher gemeinfchaftlihen Andachtsuͤbung eingegangene,
auf Uebereinftimmung in einem veligiöfen Glauben beruhende Verei⸗
nigung mag [don als Kirche, im meiten Sinne des Wortes, gelten;
und in diefem Sinne kann Jeder im Staate das ‚Recht anfprechen,
in Semeinfhaft mit anderen Gteichdentenden eine Kirche zu gründen.
Der Staat, wenn er diefem natürlichen Rechte eine andere Schranfe
feßt, als weiche durch die etwa rechts⸗ oder polizeiwidrige Eigenfchaft
der angeblich religiöfen oder gottesdienſtlichen Handlungen geboten ift,
überfchreitet die ihm rechtlich zuftehende Gewalt und ftellt ein Princip
Staats ⸗Lexikon. IX. 19
Becher Kirchenrecht. 291:
gaͤngliche Sentflätte haben, und — wit Ausnahme befien, was an und
. für ſich sches» ober polizeiwidrig iſt, wofuͤr nämlich auch die angeb⸗
Itche Gewiſſenspflicht keinen Freibrief gibt — foll jedes aus religiäfer
—— fliegende Thun und Laſſen ben Bekennern erlaubt fein,
‚Dem Staate, tie wir fpäter zeigen werden, bleiben Mittel und Wege
genug, um, auch ohne Machtgebot und. Zwang, gegen das ihm etwa
nachtheilig Scheinende ſich zu verwahren. Selbſt die der Kirche etwa
erzeigten Wohlthaten (mie wenn ber Staat etwa ben pecunlaͤren
Fond zu ihrer Gründung hergegeben, oder wenn er die Kirche mit bürs
gerlichen oder politifchen Vorrechten und Ehren begabt bat) können kein
Recht zur Herrfchaft geben. Der Staat, wenn er eine Kirche gründet,
wie wenn er eine Gemeinde oder eine Familie ‚gründete, foll der von
ihm in's Lehen gerufenen Anftals die ihe nach ihrem Begriffe zukom⸗
mende Selbſtſtaͤndigkeit des Seins und Wirkens eben fo gewähren, als
wenn fie. ohne ihn, von: felbft ‚oder durch irgend andere Stifter ents
flanden wäre, Und nicht nur das Mecht, fordern auch bie Politik
erheiſcht dieſes. Die fegendreichen Wirkungen, welche ber Staat von
ſolchen Einfehungen erwarten mag, werden nur al&dann eintreten, wenn
fie ein. freie® Leben entfalten und naturgemäß wirken dürfen. ine
der weltlichen Macht. unterthane Kirche tft gar Beine Kirche im—⸗ ebleren
Sinne, naͤmlich keine Achte Religionsanftalt mehr, fo wie eine
Schule, welche nad, Gewaltsdietaten Ichren müßte, keine rein wifs
ſenſchaftliche, fondern eine bloß polizeiliche, und darum ihrer
hen, ebleren Natur beraubt ‘wäre.
Mit Gewaͤhrung ber hier geforderten Freiheit des Glaubens unb
Gewifſens, nebſt der damit verbundenen freien Ausübung des Privat⸗
"gotteädienftes., find die ficengen und allgemeinen Rechtsanſpruͤche ber
Bürger in der Eigenfchaft als Bekenner irgend einer (verſteht fich durch
Lehrfäge oder Uebungen nicht feindfelig gegen den Staat ober bie Rechtes
ordnung auftsetenden) Kirche befriedigt. . Ein Mehreres kann nur in
Solge befonderer Rechtstitel oder wohlerworbener pofitis
ver Rechte vom Staate gefordert, gleihwehl aber aud) ohne fie,
je nach Umfländen, von einer weifen Politik befielben erwartet wer⸗
den. Zwar ber. Staat, ala foldyer, oder die Staatsgewalt, als folche,
bat Peine Religion oder foll Teine haben, d. h. bie zufällige Con⸗
feffionseigenfchaft der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt foll auf ben
Rechtszuſtand der Kirchen im Staate von durchaus keinem beflimmenden
Ein fein. Wenn eine Regierung, von dem. allgemeinen
Staatsintereffe megblidend, blos aus perfönlicher Anhänglichkeit
oder Vorliebe ihrer Mitglieder für eine oder die andere Religion berfels
ben oder ihrem, Bekennern eine partelifche Gunſt zumendet, namentlich
um ihr bie Alleinherrſchaft oder das Uebergewicht über bie anderen zu
verfchaffen odes zu erhalten, ober wenn fie zu ſolchem Zwecke gar bie
anderen. Confeſfionen mit ihrem Haſſe verfolgt und ſie in natuͤrlichen
oder wohlerworbemen Rechten ſchmaͤlert, ba hat ſie eben ihre Gewalt miß⸗
braucht und Unrecht begangen. Wohl aber [ol und wisd. eine
* ————
Serien, + ie Be
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Kirche; Kirchenrecht. a8
erkennen; daß, da einmal bie Pflege ber - Relisiofität überhaupt, als
eine: dem Staate obliegende Pflicht anzuerkennen iſt, die Confeffiog der
großen oder gar der Geſammtzahl ber Bürger ſich nähernden Mehrheit
die naͤchſte Beruͤckſichtigung verdiene, indem ja bie. Kirchenanſtalt nur
für die Btdubigen wirkſam, und daher, je größer die Zahl ber Letz⸗
‚ten, deſto lohnender und alfo aud dem Geſammtwohle frommender
des Einfuß folcher Anſtalt iſt. Entgegen wird aber auch bie einm be bes
ſtimmten Gonfeffion anhaͤngende Mehrzahl anerkennen, daß, wenn
‚eine nur irgend bedeutende Zahl von Bürgern einer anderen als ber
herrſchenden Confeſſion anhängt, zur Vollſtaͤndigkeit der Zweckerreichung
nöthig ſei, auch ihr die Errichtung einer Kirche zu geſtatten, wafern
zumal... bie Grundlehren der. Diffidenten, insbeſondere ruͤckſichtlich ‚her
Moral, -von jenen der herefchenden Kicche nicht weſentlich abmeichen,
‚oder. übeehaupt vereinbarli mit der Rechts: und Staatsordnung find.
Es ‚wird diefe Mehrzahl feibft geneigt fen, zur Errichtung und Un-
—— einer Kirchenanſtalt für ſolche Diſſidenten wealgftene in
| Verhältuiffe beizutragen , als von diefen zum Unterhalte ber herr
—— etwa aus Stantsmitteln fundirten — Kirche beigetragen
wird: : Im-Zalle jedoch, daß die letzte auf felbfleigenem, von S *
beiteägen.-amabbängigem Vermoͤgen ‚begründet wäre,: wird freill
Doticung der neu zu errichtenden diſſidentiſchen Kirche ben —2 —
derſelben allein zu uͤberlaſſen ſein, und die Gunfibezeugung Gi anf
Biefes Beftatten der Errichtung befchränfen bürfen.
+ Unten: Worausfehung ſolcher vernünftigen, dulbfomen, von gan⸗⸗
tiamm seinen Geſiunung ber Staatsbuͤrger (oder ber in deren wohrem
pe. handelnden Regierung) Tann bie Berleipung ſelbſt. ausge
ter. — und bürgerlicher, wie politiſcher Rechte an bie
Kirche dev Mehrheit (mißbraͤuchlich die herrſchende genannt), ober
Fr an mehrere, für anſehnliche Volkstheile ober Summen 2
Bekermern ‚errichtete. Kirchen, rechtlich nicht mehr bedenklich fein,
Verleihung gefchieht einmal ohne Beeinträchtigung ber ne
and, finengen Rechte aller übrigen Confeſſionen und ihrer Angehs
sam fle .gefchicht ferner bios im vernunftgemäß anzuerkennenden
‚der Gtaatsgeſammtheit, und bleibt endlid in Anfehung Fe
* petbauıse (wofern nicht eine kuͤnſtliche —— — —*
ward) immerder abhaͤngig von der Fortdauer deſſelben G fammttwillens,
dee ſie in's Leben rief. Zu folchen, ben Kirchen ohne Anſtand ar
nach Umſtaͤnden fehr zweckmaͤßig zus verleihenden, befonderen, b. $.
Noch außer dem ihnen überhaupt ale juriftifchen Derfönlihkeiten, —
„allgemeinen gerichtlichen und polizeilichen Schutz zu
leihenden, Berechtigungen oder Vorzuͤgen gehoͤren z. B. das Det auf
sffentiie und feierlich zu baltenden — bie Erhoͤ⸗
hung von deſſen Feier durch die Theilnahme der Staatsbehoͤr⸗
den, ein ben Dienern des Altars ertheilter — etwa jenem, ber
Staatediener analoger — höherer bürgesliher Rang, ein ihrer
Perfon und ihren Threnrechten etwa durch ſchwerere Gtrafandrohung
—
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Kirche; Kirchenrecht. 299
Händen beus -fruchtbriugenben :Werlehre entzogen ſind, theils durch Ab⸗
hamgigkeit von: auswärtigen, vielleicht: ein · verberbliches Beh :nerfelgenden
Hötpteen ; und Konfl noch auf: mancherlei Weiſe. Dem Allen nen
Lolt unbsbasf daher aud His Staatsgewalt hemmenheoder heilend
vontgegentreten; "und. banakt :befigt ‘fie. beigrroligältigen; wenigſtens den
ſcheinbaren. Titel zu faſt jeder: beliebigen Veſchraͤnkung, 2*5*
‚der Unterbruͤckung des Kirchetilhums. Freilich wenn eine der Kicche
iſouſt —— ober der: Coufeſfion nach de eh. auge»
Hörige: Staatsgetdalt ſolche —— übt, ſo iſtfuͤr ſie wenigern zu
beſorgen. Menn aber die. Machthaber einer andern, vielleicht dieſer
—**8* tobrfeinblihen Goufeffiom awgehören, .. wer. wirh ‚dawn: eine
für die Kirche ſichernde Greuge ber weitlichen Machegeichnen ind
"it erg. Duskber ſchreiben: Bis Hischer and nicht mein iR ri.
—3) Es zeigt ſich dieſes ſchon bet bein als allgemeines: Borbengungs»
mittel gegen verberdliches oder gefährliches Meinten ber indie. aber ihrer
Häupter vieiſtimmig 'einpfohlenen and in der Schule faſt ald!nin Mes
ſtulat anginemimenen F des ſogenanaten Tiniglichen Pla oen: Kaine
allgemeineerorbnung, Bapuay,: Belehtung, Ermahmng :öber- tie
Ammer (2.8: Misc, Hirtenbeief)ibenaunte Mittheikitug tor Rigchen:
—— ande ihnen ! untergebenuh erg toben - * hurfm
det werben, ‚ohne zuvor vingeholte⸗ IB den: Stantöggs
Bo Exi gehubes:fich: ſolches Recht ınber-folcher Anſpruch eimlerfalts
auf die. Boeeracſetzung,ba bie: ueche anuwenw · ſie Ahi aichti an: einen
Aiegoſtanbee gegen ben Staat gefchti hat, run weichen Galle ibinfern ohre⸗
hin *** gufichen Muß dem. Watften iger unlin haben koͤnge,
den Rochten bet: Zutereſſen des Staates durch ihre Verorhnungen gu
nahe zu treten, daß alſo, wenn —— te dieſer: Art. ie der
‚WBerorbuiung! läge, es nur aus Jarthum⸗. ober Unbefanntſchaft
zit den obwaltenben:Berhättniffen oben: Intarefien bes Mitantpt: Heflef-
fen fein mäffe, wornach bie ber: Kirche durch die ABerveigemung.: hrs
Maacet daruͤber ertheiite Belehrung ven ihr wur. wit Dank „merde
angenehmmm werbenz. anb :andeufelts auf 6a8 beliebte: Mrincip aß es
beſſer fei, derw/Usbel yuvorzaasfonmımiew uni‘ edſt, wenn es ich ein⸗
getreten, nach Boll neit ein: ſich: umzufchhen. Aber jene Mgraniiies
wung an mur in:fo. for n von Vedendung fein, oe: eon ſich aa
wahrhaft: dem Staatsinterefſen nachtheilige Biverbuumgen :hanhalt,
"nicht Aber auch.alebann , wenn ſolcher angebliche Nachtheil ven: her etwa
einer boftimmten Kirche aus confeſſioneller: Befungenheit;. jahr! bein
Seaatsgewnit blos aſls Vorwand zur Nuterhrädungseitwnräge wißs
fälligen Verordnung gebraucht: wird.In dieſem lehzten sr igetwäß
nicht eintretenden — Falle wird’ dieKirche volig we hrlpoo ge⸗
macht durch das koͤnigliche Pladet, und es wird der Staattgewalt bas
durch ( ſo wie in baͤrgerlicher Gphärei durch die enger). bie: Macht
verllehen, die Stimme ber Wahrheit und des KRechtes völlig zu erſticken.
Bergebens wird dann bie Kirche, wenn einmal das Princip der prä:
venttven Maßregeln, anftatt ber zepreffiven, auch an biefe kirch⸗
Kirche; Kirchenrecht. 301
Staatsgewalt ausäbt. Won ber Nichtung der Haͤupter ober Hirten.
hängt natutgemaͤß auch jene der: Heerden ab; und es kann einer. Res:
gietung) weiche —— Di PM ane gegen eine Kirche hegte, deren Dafein,
als. einmat rochtüch ‚begründet, fie nicht offenbar amgeeifen barf, nie⸗
mals: ſchwer: werben, unter ben Gliedern bes Clerus einzelne ehrgeizige, :
dee Goreuption zugaͤngliche Männer zu finden, welche die Erhebung,
z. B. 4 einen Biſchofsſitz, mit Hingabe eimiger- dem Regenten ver:
haften Glaubens⸗ oder Disciplinarartibel zu erkaufen geneigt ‚find.
Der erſt Ahsft durch Die fuͤgſamen Prälaten bewirkte Uebertritt der
(mit Rom) ‚unieten griechifchen Kirche in Rußland zur herrſchenden
nicht unisten,. dem -Willen des Zaars unterworfenen zeigt in einem.
auffallenden Beifpiele, wie viel ein König vermag, wenn er ernſtlich
will und bie Erfolg verheißenden Mittel anzumenden nicht verfchmäht.
5) Das Kirchenvermägen betreffend hat der Staat unzwei⸗
feihaft das Hecht, dem etwa. unverhältnigmäßigen Anwuchs beffelben)
wodurch nicht. nur die nationaldlonomifchen Intereſſen benachtheiligt, fons.
dern auch. politifche Gefahren (weil Reichthaim zugleich Macht verleiht,
erzeugt: werben koͤnnen, die ‚gehörigen Schranken zu ſetzen, was zumal
durch die ſogenannten Amortifationsgefese geſchieht. Auch ver
ſteht es ſich von ſelbſt, daß das Kirchengut gleich dem weltlichen be⸗
ſte uert werde, weil ihm, ‚wie dieſem, der Staatsſchus zu. Theil, wird,
und überhaupt. bie Kirche als Gutsbefitzerin gleich allen anderen Bes
fisern dem Staate unterthan und zur Theilnahme an ben Staatsla⸗
fien verbunden iſt. Eine wichtigere und ſchwierigere Stage aber if:
ob ber Staat fih al® Obereigenthuͤmer des Kirchengutes betrach⸗
ten, und daher in Nothfaͤllen auf den Stamm deſſelben greifen oder
gar das geſammte Kirchenvermoͤgen zur Beſtreitung ber Staatsbeduͤrf⸗
niſſe einziehen koͤnne? — So viel iſt richtig, daß die Kirche, als mo⸗
raliſche oder myſtiſche Perſon, nur vermoͤge Staatsbewilligung
erwerben und beſitzen kann, und daß beim Aufhoͤren einer Kirche (wo⸗
fern nicht beſondere Rechtstitel vorliegen, vermoͤge welcher ihr
Vermoͤgen beſtimmten anderen, individuellen oder Geſammtperſoͤnlichkeiten
zufaͤlt), wie beim Erloͤſchen irgend einer anderen Stiftung, der Staat
in das jetzt herrenlos igewordene Vermögen als Erbe eintritt. Auch iſt
klar, daß, wenn der Beſchluß der Einziehung des Kirchenvermoͤgens
(oder eines Theiles deſſelben) von ſolchen politiſchen, d. h. an der
Staatsgewalt Theil habenden Stimmfuͤhrern ausgeht, welche zugleich
Mitglieder der betheiligten Kirche, ſonach ideale Miteigen⸗
thuͤmer, wenigſtens Mitnutznießer des Kirchenvermoͤgens ſind, der Be⸗
ſchluß keinem rechtlichen Bedenken unterliegt. Dieſe Stimmfuͤhrer naͤm⸗
ih, als zugleid, Mepräfentanten der idealen Kirchengemeinde, ‚mögen
vernünftiger Weiſe erwaͤgen, daß ohne den Staat die Kicche ale Ans
ſtalt keinen Boden mehr hat, Baß alfo die Erhaltung und Bekraͤfti⸗
gung des Staates mittelbar auch den Fortbeſtand der Kirche, fichert,
und. daß folcher Vortheil wohl auch eines. Opfers werth iſt. Sa, fie
mögen wohl: audy bie Betrachtung anftellen, daß die Kirche, weit eber
oder Natur Die) + je nachdem ;
See ——
G den, oder blos von den Inha⸗
der Regierumgsgewalty' und) eben —* 1 ——
der Machthaber auf! bie Beſchiafe won Eine
—— — nt 42 um BUELL
6) Abe und N f’
nr ————— — er fogenannten
——— naͤmlich beſteht im
Krcheʒ Kirchenrecht. 308
jches Staategenoffen, ſel es für allein, —— mit
feiner Kamille aind feinen Siaubencfreum
—5 uns Kl, daß bas —— ———
einer 4 a einer Hfentiigen —* oder aber ber —
See a ober Denn ai
einet des Widerruſo einer er ertheilten Ge
keine tößen Bedenken mehr entgegenſtehen. Es iſt nicht zu verke⸗
nem, »das Borhanbenſein gat zu vieler: Kitchen in emen
Stante nicht eben zu wuͤnſchen Mt, daB alſo bie Geſanmutheit, wenn
fie nicht jeder Schaar von atiſten ſofort eine Kirche, als anerkannte
—— Anſtalt, zu errichten gehati, —* vernänftig panda
heit darckus ein Geund erwaͤchſt 5* — angst
teen md wohl auch dieſelbe mit ähmtichen Rechten, wie
im Staate, auszuſtatten. Daß Re ſolches auch in unglei«
ek Maße thün, and dag'fie der Aufnahme auch Bedingungew
oder Befgräntun gen beigeben koͤnne, haben wir im Artikel Dul⸗
dung“ gezeigt. Hier blos noch die Bemerkung, daß bie, ſchon na
vtohotsgiihem Befeye, von Seite einer verftändigen und ihren
Willen durch verftändige Organe ausfprechenden Geſammtheit gar keine
Medkrfchreitunig "ber theils vom firengen Mechte, theils von WBlligkeit
und Humanitat für die Ausübung der In Frage flehenden —
—5 —— zu befuͤrchten iſt. Eine verſtaͤndige Geſammtheit naͤm⸗
(ich wi jedem Beſchluffe über:einen vorliegenden einzelnen Fas
bie Ku eime in’6 ine Aug faffen, woraus folder Beſchluß ꝓu oder
wohin er zuruͤckfuͤhrt, und jedes ſtimmende Micglied wird erkennen,
daß, was es Hartes, Unbilliges ober gar Ungerechtes gegen irgend eine
— tert auch nur kleine — Zahl von Mitbuͤrgern beſchibſſe, durch bie
—— ſoiches Berufes rachoitt end auch Ihm feibf die ‚sehe Wen
iung bereiten koͤnne
Aber freitich geftaltet die Sahıe ſich anders, wenn * die Wehr⸗
beit in einer — Ausſprechen eines: GSeſammtwillens vetfafſunzemaßig
—— gten oder Gemeinde fanatiſch geſinnt oderſanatiſchen
eift —— am ee ea * Urtheit iR
g gegen verfkänbigäees" 3
umb wieder anders, tvenn man das en reformandi —- und zivar felbfl
ohne Vorbehalt‘ der freien Hausandacht — gar als ein Tanbesherts
lichee, foiglich der Indivieten Petſon des. Regenten
heit aus eat x
des (oder auch
er
der“ ve Srantssefummthelt Mit, [2 — —
der — ——— ſo jer nach dem
Feffionseigenfep aft der Machthaber auf" die eſchtuſe won Eins
up war" +8 —— en —— ——
an De nn al A
Sircher. Kiekharvecht. 308
‚te ne 1 ai, at alt mit
u feinen unden. a oben
—* ad, daß. bab ——— —
ib jebet — mu a*
nicht Pi Pa beipflichtet;; - 555* it ODiiſes ——
koͤnnen dem von der Staats» Getammtheit: ——— —— NRechtr
der Seſtaktung! oder -der ſelbſteigenen Andchwung owed.:öffentlichen-
Eunitus atfoi ber: Aufnahme" ober'der feibfieigenen ——
einer — ‚060 einer einer öffentlichen Anftalt ober :aber der : Ridtaufe
Leheen ——— ar ohne aͤußere ober
Kerit dee Better ſich To —— hat, daß der ——
heit dardtis ein Grund ‚ fle'nun als e un;
Peumen "nd Er us dieſelbe mit ähnlichen Rechten, wie bie &6
Stuate, auszuſtatten. Daß fie auch in unglei⸗
"ade tun, ans daß fie- der er Aufnahme and) Bedingungew
obrt ——— beigeben koͤnne, haben wir tm Artikel Dul⸗
Uederſchreitung der theils vom ſtrengen Rechte, theils von Bulligkeit
und Humanitaͤt für die Ausuͤbung der in Frage ſtehenden Vefugniß
gezogenen —— zu befuͤrchten iſt. Eine verftändige Geſammtheit nam⸗
lich wich 'bA: ſedem Beſchlufſe über einen vorllegenden einzelnen Bas
die Marime in’6 Auge faffen;' tworaus ſolcher Beſchluß abfließe ober
wohn: er’ ——— und jedes ſtimmende Mitglied wird erkennen,
daß, maß e 6 Harted, Um Unbifligeß ober gar Ungerechtes gegen Ingend eine
— wenn auch nur kleine — Zahl von Mitbhrgerm ‚buch bis
Marime fotdyes: Befchtufies racheintend auch Ihm feTbf die Beide Pen
banbiang bereiten koͤnne.
Aber freilich geſtaltet die Sache ſich andere, wenn 8 die Mehr⸗
heit in einer det Kutfpreiem eines Gefammtwiliend verfofiungemdfig.
oder Gemeinde ſananſch ** ‚oder fanatifchen
Aechltichen Partei⸗
—
ohne Vorbehatt der freien? Hausandacht — gar als ein be Fri
res, foigllch der Inbiofiireken Petſon des. Regenten
a Brcheʒ Nirchemecht.
des, aufſtellt. miOcios oit reclo:llina eat cũam religio,“ lautet ·die
unfeliga Formal, mit welcher, in ben Beiten der. angeblich der Getolfe
fensfreiheit Huldigenden Reformation, das Leite gefhab;;- eine Formel,
modurch — nach ihnen: buchſtblichen und auch allzu häufig praktifch gel
tend gemadten Bedeutung — die Fürftenmacht eine. jedem. vernänfti-
gen Redyrsbegiffe: Hehn ſprechende Ausdehnung gewann... Nicht nur
die dußeren Handlungen und Unterlafjungen, die da auf. die Rechtes
orbnung oder das zeitliche Staatswohi ‚von Einfluß find, ſollten derge⸗
flalt dem Willen des Fuͤrſten gemäß eingerichtet, werden; fonbern auch
die innere, naturgemäß freie Lebensthätigkeit des Geiſtes und Ges
müthes, ja ſelbſt die unwillkuͤrlichen Auftände deſſelben, Gedanken,
Gefühle, ‚Glauben. und. Gewiſſen ſoliten unterthan fein der zufaͤlligen
Geſinnung, :ja- der augenblicklichen Laune des Herrſchers. Nicht nach
felbfteigener Innerer Ueberpeugung fondern aus ſtlaviſcher Unterwuͤrfig⸗
keit follte die. Sefammtheit des Volkes und jeder Einzelne in bemfelben
bald ein Giaubensbelenntniß-ablegen, hald wieder es abſchwoͤten, bald
in die Meſſe geben, ‚bald unter ſchwerer Sttafe fie meiden, bald Luther,
bald Calvin, bald das Concil von Trident zur Glaubensricheſchnur neh ⸗
men, Alles; fo wie «6 bes durch Geburt, Heicath, Erbvertrag, Heims
fall, ober was immer. für andere Titel zuc Beherrfch: eines Landes
gelangte Regent begehrte. Wahrlich tiefer ann die Religion, . tiefer
auch ber Menſch und Bürger nicht herabgewuͤrdiget werden, als duich
einen. —S dieſet Art; “und nirgends auffallender als ‚in ber
kirchlichen Sphäre zeigt es ſich, daß man durch eine ſtrenge Durchfuͤh⸗
rung des angeblich im monarchifchen Principe enthaltenen Sabes:
alle ‚Stantegewatt muß in der Perfon des Suyhen ver⸗
6 8)
Kiche; Kirchenrecht. 305
fpäter, bei etiwa veränderten Umftänden, auch gegen fie koͤnnte ans
gewenbet werben. Uebrigens befteht, wegen ber nicht zu verfennens
den Gefahr des Gewaltmißbrauchs, bier wie bort eine beingende Aufs
forberung, durch kuͤnſtliche Garantieen berfelben zu begegnen. Welches
Sinnen biefe fen? —
Bieles würde ſchon bewirkt werben durch Zefthalten an dem im
den Friedensinſtrumente aufgeftellten Grundſatze von ber bei
—— — eintretenden „itio in partos.“ Bei einer
Religionsangelegenheit nämlich iſt in ber Regel der Verdacht begründet,
daß nicht, rein vom Standpuncte des Staatsbärgers ober bes Theil⸗
habers an ber — Feiner beſtimmten Religion angehörigen — Staats⸗
gemalt, fondern vielmehr von jenem des Confeffionsgenoffen
ber abgeftimmt, ja, baß fie gar nur vom legten aus in Sprache
gebracht werde. Es tft alsdann wirklich eine gemeinfhaftliche,
der Entſcheidung des durch die Mehrheit fich ausfprechenden Ges
ſammtwillens rechtlich unterliegende, fondern eine den betreffenden
Meligionslörpern eigene oder particuldre Sache vorhanden, dhns
ih dem „jus singulorum‘“, worüber gleichfalls der Geſammtwille
nicht zu entfcheiden hat. In einer jeden gewalthabenden Verſammlung
von gemifchter Mei —— ſei es eine Landesgemeinde, ein
großer oder kleiner Rath, eine Staͤndeverſammlung u. f. w., ſollte das
. ber der Grundſatz gelten, daß in Religionsangelegenheiten bie Mehrheit
der Stimmen — es wäre denn auch die Mehrheit bes kleineren Theils
rin mit begriffen — Seine hie, Entſcheidungskraft habe, fondern
daß In ſolchen Fällen nur durch gütliche Vereinbarung die Sache könne
gefchlichtet werben. Wir Haben biefe Behauptung ſchon oben rüdfichts
uch des Kirhengutes aufgeſtellt, und fie erfcheint wohl nicht
minder begründet in Sachen bes felbft über Sein oder Nichtſein ber
Kicche die Entfcheibung anfpeechenben „Reformirungsrechtes.“
Ein anderes, auch gewoͤhnlicher vorkommendes Sicherungsmittel
beſteht darin, daß die Rechte einer aufzunehmenden oder bereits beſte⸗
henden Kirche nicht blos durch gemeines Geſet — als welches naͤm⸗
lich der Zuruͤcknahme durch eben jene Auctorität, die es erließ, natuͤr⸗
lich unterliegt — fondern duch Grundgeſetz, welchem auch bie coms
Rituirten Gewalten untertworfen find, oder auch durch förmlichen Bers
trag mit den betheiligten Religionstörpern, welche man
dergeſtalt als felbfiftändige Geſammtperſoͤnlichkeiten rechtes
verbindlich anerkennt, oder mit fremden Mächten feſtgeſetzt werben.
Viele Beifpiele von Beidem enthält die Befchichte. Häufig wurden, zu⸗
mal in Briebenef@läffen, bie Rechte ber verfchiedenen Kicchen in
ben abgetretenen oder überhaupt gegenfeitigen Ländern ausbrädiich ges
wahrt ober beftimmt, fonady den einheimifchen Ktechenrechten eine v (e
kerrechtliche Stüge Pünftiich verliehen. Daffelbe geſchah nicht felten
durch bie von einer fremden Macht eigens Abernommme Garantie
jener’ Rechte. Diefe Iehtbemerkten Mittel jedoch find von einer zwei⸗
beutigen © atur; auch gewähren fie der Ride Sein fei6fftändigee
befteg:
felbſt gefchloffen,. fo erhält zwar dieſe ein jegt unantaflbares Recht; aber
es wird baducch getoiffermaßen ein Staat im Staate gefhaffen, mas
gegen bie Principien des inneren Staatorechto anfiöft. Das
Serguetfie bleibt daher bie Aufnahme ber —— in de Con⸗
flitutionsurtunde und bie Bewahrung. berfelben durch eine- bag
Volt in Wahrheit vertretende ae Verfaffungsartikel
unterſtehen der Abänderung ober Abſchaffung duch die eonflituirs
ten Auctoritäten rechtlich nicht; nur ber conflituirenden, zu bes
ven Anzufen jedoch ſchon außerordentliche Umſtaͤnde noͤthig find, fteht
ſolche Aenderung zu (f. ben Artikel „Senitution‘), und biefelbe
wird fie. wohl nie verfügen ohne den triftigſien Grund.
- Fe a iz der Oranisgeale n
fügenden Reform iſt alfo- das aͤffentliche Recht ber Kiche.nies un]
* ein Anderes wäre au nicht gut. Im Laufe der- Zeiten dndern ſich
die —— bie allgemeinen und beſonderen Zuſtaͤnde, die Sc
BVBedürfniffe, Denk ⸗ umd Hanblungsmweifen ber Völker und Einzelnen
fo fehr, daß wie teefflich, mohlberedhnet- und den bamaligen Beitverhäite
niflen anpofiend eine vor Jahrhunderten getroffene Einrichtung senefen
ſei, diefelbe.jegt gleichwohl eine Veraͤnderung dringendſt fordern kar .
Kein pofitive® Recht, alfo and) jenes ber Kicche nicht, fell oder * J
unbedingt ſtahil oder durchaus jeder Reform für fmmer und ewig ent⸗
ruͤckt fein. kann Im. Safe ber Zeiten eine früher bie Mehrheit
der Nation und ihre edelften Claſſen umfaffende Kirche durch —* Auf⸗
fommen eines neuen Glaubens oder bilt: *
Kirche; Kichentet 507
eigneten Reformen oder Werbefferungen anzuorbnen, jur Abs
fhaffung von Mißbraͤuchen oder dem Gemeinweſen Nachtheil oder Bes
fahr dringenden Einrichtungen, Geſetzen und Anflalten. In wie weit
tommt ein ſolches Recht dem Staate zu?
Daß, zumal wenn von einer vermöge felbfiftändigen (etwa grunds
gefehlich ober vertragemäßig feftgefesten) Rechtes beftehenden Kirche bie
Rebe ft, der Staat in Sachen des Glaubens oder des Gewiſ⸗
fen 6 ſich gebieterifch einzumifchen durchaus keine Befugniß hat, bedarf
kaum eined Beweiſes. Das Recht einer Kicche, zu beftehen, fchließt
das Mecht in fih, fo zu beflehen, mie bad Glaubensbekennt⸗
niß der Kirche es fordert oder mit fi) bringt; und wohl Tann einer
etwa erft aufzunehmenden Kirche bie Bedingung geftellt wers
den, ſich in gewiſſen Dingen den Landesgeſetzen zu fügen, nicht
aber kann einer bereits aufgenommenen ober Längft mit vollem Rechte bes
ftehenden zugemuthet werden, ſich in Sachen des Glaubens, oder Ges
wiſſens den erft ſpaͤter erlaſſenen Landesgefegen zu unterwerfen. Solche
dem Glauben einer berechtigten Kirche zumiderlaufende Geſetze können
vechtlich gar nicht erlaffen werden, d. h. ihre verbindende Kraft Bann
fi) nimmer auf jene Kirche erſtrecken, deren Glauben oder Gewiſſen
dadurch In ihrer Freiheit gekränkt würden. Hieruͤber kann nicht mohl
ein Streit fein. Nur mag in Bezug auf. gerviffe Dinge ein Zweifel
erhoben werden, ob fie wirklich Glaubens⸗ oder Gewiſſensſachen feien
oder bloſe Disciplinarvorfchriften, welche nämlich unbefchabet
des Glaubens fo oder anders Iauten können, ober noch minder weſent⸗
liche Einrihtungen und Anftalten. In eine umftändliche oder in's
Einzelne gehende Unterfcheidung ber angebeuteten Gattungen kirch⸗
licher Dinge uns hier einzulaffen, würde zu weit führend fein; es
möge daher die Aufftellung der allgemeinen Regel, und etwa einiger
weniger Beiſpiele genügen. Ä
Diejenigen, welche das placitum regium für die Gültigkeit jeber
kirchlichen Verordnung, ja fchön für die bloſe Zulaͤſſigkeit ihrer Verkuͤn⸗
dung, als Erforderniß anſehen, müffen natürlich, wofern fie confequent
find, der Staatsgewalt auch das Recht einräumen, ſolchen bereits
verfündeten Verordnungen, wenn etwa fpäter erſt ihre Schaͤdlichkeit
erkannt wird, oder wenn fie, bei etwa veränderten Umftänden, erſt
ſpaͤter fchädlich werben, das placet wieder zu entziehen und daher ih:
een Widerruf zu verlangen. Wer aber das vorher einzuholende placitum
regium auch verwirft, wird gleichwohl anerkennen müffen, daß bie
Kirche kein Recht haben Tann, jenfeit des durch Ihre weſentlichen
Staubensartitel gezogenen Kreifes verbindliche Verordnungen zu erlaf-
fen, d. 5. Handlungen oder Unterlaffungen zu gebieten, oder Anftal-
ten zu gründen, welche — abgefehen von blos confeffionellen Intereffen,
mithin ſchon aus allgemeinen rechtlichen oder polizeilichen Ständen —
als dem Gemeinwohle widerftreitend erfcheinen, und dag der Staat
Alles, was dergeſtalt gemeinſchaͤblich oder gemeingefährtich ift, unterfagen
. ober hindern darf, ohne Unterfchleb, ob es kirchliche son Fituche Zwecke
308 ; Kirche; Kirchenrecht.
feien, melden es bienen fol. Ohnehin kann es nie eine Gewiſſens⸗
pflicht geben, dem Staatöwohle entgegenzutreten, und Feine ber Aner-
Eennung und des Schutzes würbige Kicche kann es mollen. Der Staat
alfo hat das Necht, jeweils zu erflären, daß gewiſſe kirchliche Satzun⸗
gen oder Anftalten überhaupt ober in befonderen Fe und in gewiſ⸗
fem Maße ihm nachtheilig und daher abzufchaffen oder abzuändern feien,
daß 3. B. bie allzu große Baht der kirchlichen Seiertage, als den Mür
Figgang befördernd und der Nationatwirtbfchaft ſchaͤdiich, oder daß ein
allzu ftrenges Faftenmandat, als aus Gefundheite- oder felbft Humani⸗
tätscheffichten verwerflich, oder daß der Prieftercötibar, als die Moralis
taͤt gefähtdend und eine Menge der fchlimmfien Folgen herbeifuͤh—
end u. f. w. von ihm als verbindliche Verordnung nicht koͤnne gedul⸗
det werben, daß er demmach die kitchliche Auctorität zuc Abſchaffung
oder Mobdifieirung. der betreffenden Vorfchriften auffordern und daß er
im Meigerungsfalle aus eigener Auctorität ihre“ Unverbindlichleit aus:
fprechen oder ihre Handhabung durch bie Kirchengewalt nicht dulden
werde. Eben fo kann er bie Abftellung gewiſſer der Sittlichkeit oder
dem XArbeitsfleife nachtheiliger, oder ben eraffen Aberglauben befördern-
der Geremonieen und Gebrdudye, wie das allzu häufige Wallfahren,
und dergleichen befchränfen, die Inſtitute der Bertelorben aufheben,
dem Moͤnchsthume Überhaupt durch Berminderung der Kloͤſterzahi einen
Damm entgegenfegen oder buch zwedmäßige Werordnungen eine ges
meinnügige Richtung geben u. f. ws; uͤberau jedoch wie bereits oben ber
merkt worden, ohne im jenes ſich einzumifchen, was reine Glaubend-
oder Gewiſſensſache, 3. B. ſacramentaliſch, Überhaupt mit anerkannten
Gonfeffionsartifein im Zuſammenhange it.
Uber auch hier wieber. nämlich bei ieder einzelnen Reform in Kir-
Kirche; Kirchenrecht. 309
terdruͤkung unter Prieftern und Laien, die Gewährung allgemeiner
Denk: und Lehrfreiheit, die Pflege der Wiffenfchaft Aberhaupt und bie
insbefonbere der Bildung tüchtiger, aufgekläcter und patriotifcher Seel
forger zugemenbete Sorgfalt. rei bleibe allerdings auch die Lehre ber
Kircht, und die Staatögewalt maße fich nicht an, in ſolches rein gels
ftige Gebiet einzugreifen mit profanen Machtſpruͤchen. Aber entgegen
werde auch der Kirche nicht geftattet, ihre Angehörigen, ob Priefter
ober Laien, abzuhalten von den Quellen einer freien Erfenntniß, von
dem Beſuche profaner Hörfäle und der Leſung profaner Schriften. Das
allgemein menſchliche und bürgerliche Mecht des Forſchens nach Wahr:
beit werde Niemandem verfümmert durdy Mißbrauch, fo wenig der kirch⸗
lichen als der meltlihen Macht. Hat die Staatsgewalt aufrichtig und
beharrlich diefe Richtung genommen ; alsdann kann fie — ohne Unters
ſchied, welcher Sonfeffion fie felbft, d. h. ihre Inhaber, angehören —
der von Innen fommenden und fortfchreitenden Verbeſſerung bes Kir⸗
henthums mis Juverficht entgegenfehen Der die Kirchengemeinde als⸗
dann durchwehende freie und Lichte Geift wird in Baͤlde bie Abfchafs
fung ber dem Staate nachtheiligen Mißbraͤuche zu bewirken wiſſen, ohne
weiteren Beiſtand ober gebieterifches Einfchreiten der bürgerlihen Ges
walt; und es wirb jedenfalls die Kirche geneigt fein, allen billigen For⸗
berungen, allen wahren Intereſſen des Staates von ihrer Seite thuns
lichſt zu entfprechen. Wo dagegen bie Richtung ber Staatsgemalt ſelbſt
auf Verfinfterung und Geiflesunterdrüdung geht, mo fie das lebens»
Eräftige Walten einer freien und aufgellärten Öffentlichen Meinung
ſcheut, wo fie, um das traurige Ziel einer gedankenlofen Unterwürfigs
Leit unter jegliches Machtgebot zu erreichen, zelotifhen Kirchenhäuptern
ihre eigene hülfteihe Hand zum Bunde wider freies Denken, Sin
nen und Empfinden reicht: da muß fie eben aud bie bittern Früchte
fhmeden, bie fo unfeliger Saat entfprießen ; fie muß bie durch fie
feibft erhöhte Prieſtermacht und die durch fie felbft gehegte Bigotterie
des Volkes auch wider fich gerichtet fehen, fobalb fie im Einzelnen
etwas zu beffern, oder des eigenen Intereſſes willen in einzelnen Räus
men, inmitten der allgemeinen Dunkelheit, ein Licht aufzufteden, zus
mal zwangsweiſe unternimmt.
Bei den voranftehenden Ausführungen iſt auf die befondere Erha⸗
benheit und Heiligkeit dee hriftlihen Religion und daher aud)
der zu bderfeiben Pflege errichteten Kirche Leine Rüdficht genommen
worden. Auch Eonnte diefes bei Aufftellung von blofen Recht 8: Grund:
fügen nicht wohl gefchehen, da einerfeits folche Säge eine allges
meine Gültigkeit anfprechen follen, und anderfeits bie Innere Vor⸗
trefflichkeit einer Religion und Kiche nur mit dem Glauben ober
bee individuellen Ueberzeugung und dem individuellen _
Gefühle erfaßt, keineswegs aber ale juriſtiſch ermwiefener ober
erweislich er Thatumſtand geltend gemacht werden kann. Die chriſt⸗
liche Kicche beſitzt keine Rechtsforderung, d. h. keinen rechtlich
gültigen Anſpruch auf Anerkennung als goͤttliche Stiftung ober
310 Kirche; Kirchenrecht. Kirchenverfaſſung, katholiſche.
als ausſchließende ober vorzugsweiſe Pflegerin der aͤchten Humanitaͤt und
einen Gottesverehrung ; fie kann ihre Anſpruͤche nur an bie glaͤubi⸗
gen Gemüther richten und bie gebührende Verehrung nur von
jenen erhalten, welche im Innern durchdrungen find von ihrer Schar
benheit und befeligeriden Weihe. Auch bedarf fie einer firengen
Rechtsforderung nicht. Sie hat ſich, trotz ber Ungunft der Weltherr⸗
ſcher, trog des mannigfaltigften Drudes und graufamer Verfolgung,
die Herefpaft über ben ebelften Thell des Menfchengefchledhtes errungen,
und wird fie — ohne auf ein Rech t zu pohen — am Sicherſten bes
haupten durch biefelben Mittel, wodurch fie fie errang.
Auf das Rechtsverhaͤlt niß ber chriſtlichen Kirche zum Staate
bat alfo das Weſen ober bie Beſchaffenheit der chriſtlichen Religion nur
in fo fern Einfluß, daß, bei ber unverfennbaren Lauterkeit ihrer
Moral und bei der Unmöglichteit, in ihren Glaubens» und Sit:
tenlehren irgend einen dem Rechtsſtaate nachthelligen oder gefahrbrin-
genden Puntt aufzufinden, bie Schuldigkeit ihrer Anerkennung von
Seiten jenes Staates um fo einleuchtender und die Widerrechtlichkeit
ihrer Unterbrüctung um fo ſchteiender iſt. Und da alle Haupteonfeſ⸗
fionen, in welche die Chriftenheit fich theilt, jenen Charakter der Vor:
trefflichkeit und Reinheit unter fid) gemein haben und nur in Nebendin=
gen von einander abweichen: fo kann auch eine vernünftige, von eng⸗
herziger confeſſioneller Befangenheit freie Staatsgewalt eines ch riſtli⸗
chen Volkes durchaus keinen Grund haben, eine oder bie andere der⸗
felben mit Ungunft zu behandeln ober Anerkennung und Schuß nicht
allen gleichmäßig zu verleihen. Auch kann ber Umftand, dag bie Macht
haber felbft, in der Eigenſchaft als Gläubige und als Laien, der geift-
Kirchenverfaffung, Patholifche. 311
tigeren Vorſtellungen von den Rechten ber Kirche und der Staaten feſt⸗
baltend, und dem friedlichen Mebeneinanderbeftehen aller chriftlichen
Gonfeffienen günfligr. Das entgegengefehte Syſtem, eine Frucht bes
finſterſten Deittelaltere, noch vor menig Jahren in Deutfchland ganz
verfchollen, wird zu nicht geringem Erſtaunen ber Verſtaͤndigen von
Vielen wieder erweckt, begünftige von eigenthümlichen Zeitrichtungen
und mächtigen Verbindungen. Nebſt Anderem follen liſtige Vorſpie⸗
gelungen jenem Zwecke dienen, zu melden gehört, die Gegner der Un⸗
wiffenfchaftlichkeit, Unkirchlichkeit, des Indifferentismus und Rationa-
lisnrus zu befchuldigen. Ja, man heut ſich fogar nicht, fie politifch
gefährlicher Tendenzen zu verdaͤchtigen*). Es fcheint zeitgemäß, bei
Darftellung der Latholifhen Kirchenverfaffung durch einiges Hinweiſen
auf die VBeweisführung vorzüglich die Grundloſigkeit dieſer Beſchul⸗
digungen herbortreten zu laffen, und mie die beften Freunde bes Chris
ſtenthums und der Kirche unter den Katholiken den Ultramontanismus,
wie für nicht chriftlih, fo auch für unkarholifch erklären müffen, wie
ihre Anfichten fo alt, als die chriftliche Kicche find, und nur auf wiſſen⸗
ſchaftlichen hiftorifchen Korfchungen ruhen.
1. Die Latholifche Seite dee zwar noch unfichtbar, aber unzerſtoͤr⸗
ih ſchon gegründeten wahrhaft allgemeinen Kirche naͤmlich, welche felbft
die Fortſchritte der legtverfloffenen Jahrhunderte in Erforſchung bes dch-
ten Geiſtes des Chriftenchums und feiner Gefchichte als Gemeingut ber
Gebildeten betrachtet, auch namentlich für bie Patholifche Kirche moͤg⸗
licht viele Theilnahme daran fordert und dem Müdfchritte zu bem,
was fie von den kirchlichen Vorſtellungen des Mittelalterd als wahr⸗
heitswidrig verlaffen hat, widerſtrebt, fo fehr fich aucd in unfern Tagen
Viele bemühen, das laͤngſt widerlegte Veraltete, kuͤnſtlich verhält, an-
maßungsvoll als ‚neue Wiſſenſchaft“ darzuftellen — jene Seite ober
Partei, fage ih, glaubt im Allgemeinen ben Gedanken fefthalten zu
muͤſſen, daß die Kirche von allen Katholiken nicht als eitel Menfchen:
werd, fondern ale auf göttlihen, daher im Wefentlichen unabänber-
lihen Grundlagen ruhenb zu betrachten ift. Sie erforfcht daher ſorg⸗
fältig, welche Theile ber Licchlichen Einrichtungen, und wie weit fie Ihr
als unabänderliche gelten müflen. Dafür gelten ihr ale jene, und nur
*) „Es warb eine Beitungscorrefponbeng organifirt und ben Affiliirten be-
„fonbers empfohlen, als argumentum ad hominem ben Sag aufzuftellen, daß
„ide Bei tung und Hemmung der kirchlichen Auctorität, To wie die Auf:
‚„dfung des Bandes des unbebingten Gehorfams gegen Biſchdfe und Papft bie
„Grundfeſten des Staates unteroraben müfle. Daß man in biefer Beztehung
„nirgende Läffig geweſen, liegt feit Jahren vor Aller Augen; bie Ausführung
„war Zenbenz aller, als ber Partei der Jeſuiten angehörig befannten Blaͤt⸗
„ter, — und daß jenes Hülfsmittel der Werbächtigung noch je&t nicht vergeflen
„iſt, beweit der Notbfchrei der neuen — Zeitung, in welcher alle, —
„weiche gegen jenes Treiben mit ber Wahrheit kaͤmpfen, als ber Revolution
‚‚dienend, furchtfamen und ummebelten Staatsmännern benuncict wurden.“
So eine bedeutende Stimme aus Anlaß ber Unterfuhung gegen Binterim.
Ag. Zeitg. 18838. N. 104, Beil. "
312 Kirchenverfaffung, katholiſche.
jene, welche vr die von ——— Se
Vernunft oder bes Herrn und Mi
gelegten Gefehe duch Gebote
begründen laffen. Die Gebote des Heren findet fie in ben er
Schriften, zu deren Auslegung und Ergänzung fie jedoch, getreu der
tatholiſchen Lehte von ber Tradition, ſich an bie übereinftimmenden
iffe der Lehrer der erften Jahrhunderte bindet. Was nach diefen
Grundfägen ſich als Unabaͤnderliches ergibt, das erſcheint ihr fogar als
Glaubenslehre und ſteht unter dem Scuße ber Getoiffensfreiheit,
menſchlichet Willkür nicht unterworfen. Sind je kirchliche Einrichtuns
gen entftanden, bie mit biefer Grundverfaffung ſich nicht vereinigen
taffen, fo koͤnnen fie nicht als vechtsbeftändig, fondern nur als factifch
beftehend angefehen werden. Im der Kirche hat aber natürlich das blos
faetiſch —— nicht unbedingt dieſelben Anſpruͤche auf Fortdauer,
wie eiwa im Staate. Wenigſtens fo lange die Mitglieder einer Kirche
göttliches Geſetz für die Verfaſſung derſeiben annehmen, koͤnnen fie
confequent baffelbe nicht als — — Willkür gänzlich und für
immer abgeſchafft (abrogict) fih den!
Im Einzelnen fodann ee "alle katholiſchen Parteien barin
überein, daß das kirchliche Vorſteheramt — worunter fie nicht nur Lehr:
amt und Verwaltung der Sacramente, fondern auch bie gefeggebende
und vollziehende Gewalt in ber Meligionsgefellfchaft verſtehen — goͤtt ⸗
Uchen Urfprungs ſei. Diefen Glaubensfag vorausgefegt, muß über bie
) — jenes Amtes und die Befugniß, daſſelbe zu verwalten, bie Aus-
van ber —— des Heren entſcheiden, in welchen die auf jenes
—— — machten der Apoſtel von den Katholiken gefunden
merben. Fuͤr die Auslegung der Schrift aber find nach Latholifcher
Lehre von der Tradition Ge inſichten der erften Jahrhunderte entfcheis
Kicchenverfaffung,, Tatholifche. 318
„dem Maße entisideln und verändern, mie durch Angriffe tiber bie
„Einheit fefteres Zufammenhalten Bedärfniß und bie in ihn nieberges
legte Lebenskraft hervorgerufen wird. Auf biefelbe Weiſe iſt in
„ben Anfängen bes Staatsiebens, in ben patriarchaliſchen Verhaͤltniſſen,
„Bes ganze monarchiſche Princip enthalten, ohne body ſchon das,
„was wie Koͤnigthum nennen, zu fein.” Berner $. 121 mit der Ueber
ſchrift: Inhalt des Primats: „Es ift alfo der Papft bie hoͤchſte
„Auctorität in der Kicche, und als folche hat er Außerlich keinen Rich⸗
„tee über fi) — mit anderen Worten: bie Perfon des Papftes, wie
„die der Könige, ift heilig und unverleglih. Ohne biefe Wahrheit
„kann keine Monarchie beftehen.” — Doch e8 genügt fchon, daß im
6. 122 aus jenem befruchteten Keim, ohne weiter das Recht ber Ges
feggebung, das Recht, die andern Kirchenoberen durch Strafen zur Er⸗
fuͤlung ihrer Pflicht anzuhalten, das Recht, in höchfter Inſtanz über
vorgebrachte Beſchwerden und Appellationen zu entſcheiden, unter den
Rechten des Primats entwicelt wird. Aber wenn in ben erften Jahr⸗
hunderten der Biſchof von Rom einen Verſuch machte, einen Keim
der geringſten Obergewalt über andere Bifchöfe zu entwideln, fo wurde
ihm von allen Seiten ablehnend entgegnet, folder. Keim fei feiner
Vollmacht fremd, ſolche Lebenskraft fei keineswegs in berfelben nieder
gelegt. So entſcheidend iſt bie für Katholiken verbindliche Tradition
gegen jene ulttamontane Deutung ber Vollmacht. Beweiſe werden zu
litt, ©) vortommen.
B) Sogar läßt fi) aud für Katholiken keineswegs ein geoffens :
bartes göttliche® Gefes darthun, nach welchem zwei Stufen ber Vor
ftehee zu allen Zeiten, daher auch gleich von Anfang und alfenthalden,
hätten errichtet werden müffen: presbyteri, d. i. Aeltefte, und episoopi, _
d. i. Auffeher, im heutigen Sinne dieſer Worte. Vielmehr wurden
die beiden Benennungen für das Vorfteheramt ber Apoftel und der von
biefen ernannten Genofien und Nachfolger Anfangs unleugbar als
gleichbedeutend gebraucht. Es eigneten fi zur Erhaltung der Ges
ſchaͤftsorbnung nur Männer von gereiftem Alter, Befonnenheit, Maͤ⸗
Higung und Würde. Um fo paffender mußte bie Beibehaltung ber in
ber Synagoge gewoͤhnlichen Benennung Aelteſte ben übergetretenen
Juden fcheinen, während von ben Griechen wohl bie anfpruchlofe Bes
nennung Aufſeher herrührte. Alles deutet Anfangs darauf, daß
nicht zwei Stufen im Vorfteheramte unterfchieden wurden, obgleich bie
Unterfheidung ſchon im Beginne bes zweiten Jahrhunderts entfchieben
und allgemein fich findet, daher fhon im erften Jahrhunderte fich vor⸗
bereitet haben mag*). Der Epiftopat im heutigen Sinne iſt menfchs
* 20, 17. 28. 2Zit. 1, 9.
1.8. ehe ber befimmteflen n Hieronymus nureines,
a lee ift al elbe. Und ehe buch Ein⸗
‚ des Geiſtes in der entſtanden
—— — ——— 8 des Paulus, ich des Lehrers Apollo,
bh des Kephas, wurden bie Kirchen durch gemeinfame Beſchlaͤſe ber Prieſter
Phil. 1, 1. — 1 Zim. 8,
233
314 Kicchenverfaffung, Batholifche. j
liche Einrichtung. Merkwuͤrdig iſt es, wie lange man. bie Anficht yon
der urſpruͤnglichen Identitaͤt des Presbyters und Epifcopus feſthielt. Der
H. Iſidorus (im 7. Jahrh.) nimmt die Hauptſielle darüber von
Hieronymus unbebenliih auf. Bernhard von Gonflanz (um
1088), ein eifeiger Vertheidiger Gtegor's VIL., beruft fid darüber auf
das neue Teſtament und Hieronymus, und fährt alfo fort: „Da
„man alfo lief’t, daß im Alterthum Presbyter und Eptfcopus baffelbe
„war, fo iſt auch kein Zweifel, daß fie biefelbe Gewalt, zu binden und
am loſen, und die übrige den Biſchoͤfen eigenthümliche Gemalt befaßen.
„Nachdem aber die Presbyter unter die Obergewalt der Bifchöfe geftelle
waren, fingen einige frühere Befugniffe an, den Erſtern entzogen zu
„fein, jene naͤmlich, deren Ausübung die Kirche den Biſchoͤfen allein
überteug.” Dee Moͤnch Gratlanus (um 1150) nimmt die Haupt:
ftellen von Hieronymus und Iſidorus unbedenklich in feine
Sammlung ber Kirchengefege auf, die bald allgemein angenommen
wurde. Der berühmte Kanonift, Abt Nicolaus dv. Palermo (um
1428), fagt: „Ehemals vegierten die Presbpter in Gemeinfchaft bie
„Kirche, und weihten Priefter.” Sogar bie päpftiche Partei auf dem
Concil von Trient behauptete, daß ber Epifkopat im heutigen Sinne
menfchliche Eincihtung fei. (Art. Curie S. 135.) Erſt feit der
Reformation fielen die Katholiken 'gewoͤhnlich — audy die englifchen
Epiftopalen — die Behauptung der urfprfnglich göttlichen Unterfchel-
dung zwiſchen Biſchof und Presbpter auf. Die Furcht, dem nahen Bi:
ſchof zu mißfallen, überwog*). So wieder Walter ($. 9). Wenn
„geleitet. Nachdem aber Ieder bie, welche er taufte, für feine Angehörigen
Kicchenverfaffung, katholiſche. 815
auch In mebreren Gemeinden ganz frühe Hauptvotſteher erfcheinen, in
einer bem heutigen Epiftopat ähnlichen Stellung, fo fehlt es doch gänz-
ih am Beweiſe, daB nicht perſoͤnliches Uebergewicht, fondern die Bes
deutung eines höhern Amtes fie ausgezeichnet habe; auf jeben Kal
aber, daB durch göttliches geoffenbartes Geſetz folche Stellung in der
ganzen Kirche nothwenbig geworden ſei. Daß die XAelteften Anfangs
auch Auffeher genannt worden, gibt Walter zu, aber nach ihm würde
biefee Sprachgebrauch nichts entfcheiden,, weil auch für die Apoftel beide
Benennungen vortommen, und doch ihr Amt gewiß weſentlich von
bem ber Presbyter verfchieden geweſen. So foll mittelft diefer letztern,
ganz grundlos vom Apoftelamte angenommenen Vorausfegung einer un-
ferer. Hauptbeweife den Gegnern dienen, und zugleid das fo beflimmte
Zeugniß der Alten, namentlid) des Hieronymus, als auf Irrthum
berubend (!), befeitigt werben.
C) Jede Gemeinde und ihre Vorfteher waren von jeder andern :
Gemeinde und deren Vorftehern im Wefentlichen unabhängig und ihnen “.
gleich geſtellt. Dafüe und befonbers gegen Unterwerfung ber übrigm
Apoftel und Kirchen unter Petrus und die Kirche von Rom, und gegen
monarchiſche Gewalt ber letzteren fpricht jedes Blatt der Gefchichte der :
erften Jahrhunderte. Bekanntlich wollen die Ulteamontanen bie Voll: :
macht zu folher Gewalt in ben Worten bes Deren finden: „Auf diefen
„Seifen werde ih) meine Kirche erbauen u. f. w., die merde ich die
„Schtäffel bes Himmelreichs geben; was du auf Erden binden
„wirſt, fol auch im Himmel gebunden fein; meide meine Schafe.”
Alteln biefee Auslegung widerſpricht Schrift und Zraditioen. Paulus:
„Ih bin um nichts geringer, als die vorzäglichften Apoftel. Ich wi:
„derftand ihm (dem Petrus) in's Angeficht, weil er tadelnswerth war.‘
Der alte, unter die Werke des heil. Ambrofius aufgenommene Com:
mentar zu obiger Stelle (Bat. 2, 11) bemerkt: „Wer anders konnte es
„wagen, dem Petrus, bem erften Apoftel, dem der Herr bie Schiüffel
„des Himmelreichs gab, zu widerftehen, als ein &leichgeftellter, der,
„auf feine Berufung vertrauend, ſich als jenem nicht nachitehend er
„kannte?“ Cyprianus zu jener Stelle bei Matthäus: „Dennoch
„gibt Chriflus alten Apoſteln nah feiner Auferfiehung die naͤm⸗
„che Gewalt und fpriht: wie mic) der Water gefendet, fo fende
‚ih euch u. ſ. w.“ Johannes 20, 21. 23. „Was Petrus war,” fährt
Eyprianus fort, „find wahrlich auch bie übrigen Apoftel gemefen ;
„fe befoßen gleiche Würde und gleihe Gewalt.” Augufti:
nus: „Damit ihre wiffet, daß die Kirche bie Schlüffel bes Himmel:
„reichs empfing, fo Höret, was der Here an einem anderen Drte zu
„alten feinen Apofteln fpricht: empfangt ben heiligen Geifl. Wenn
‘von XAlliaeo umb Andere vor ben A ber gangen Belt t und
gerieben gaben. 2 Bietet —*— * PH yudor —
n ee geſunden Gernun dichte und ben Ketzern zu
&coh, als ae EBahrheit verkaufte N sen zum
sı6 Sßaweefing, bitte,
‚ie Einem bie Cihuben exlaffen werdet u. ſ. w Gogar verſteht Au⸗
Sehe aka —— 5 — —A nid de
eg D riſtus
trus ſich unmittelbar vorher
Bm unter allen —A hervor.
Andern voranzuſtellen ſei, iſt ungewiß.“ An einem andern Orte ſo⸗
gar: „Petrus war der —* im Bekennen, nicht Im Range, im Glau⸗
„ben, nicht im Amte.“ Augufinus: „Weide (den Petrus und Pau⸗
Aut) zeichnete ber Herr auf gleiche Weiſe aus (ambos ditavit honore
nano). 9— —— in Tank Re von — 8 und Deck;
Pitt ci 2 ul in ich
Kirchenverfaſſung, katholiſche. 817
Hieronymus, indem er die untergeorbnete Stellung ber Diakonen
vertheidigt, fagt: „Wenn du Auctoritaͤt verlangſt, bie Kirche iſt größer,
„als Rom (deſſen Auctoritaͤt ihm entgegengehalten war). Wo immer
„ein Biſchof ſeinen Sitz haben mag, in Rom oder Eugubium, in
„Conſtantinopel oder Rhegium, in Alexandria ober Tanis“ (es werden
hier den drei erſten Staͤdten des Reichs unbedeutende gegenuͤbergeſtellt),
„ſein Gewicht, ſein Prieſterthum iſt daſſelbe. Dort Macht durch Reich⸗
„thum, bier Beſchraͤnktheit ducrch Armuth, macht den Biſchof nicht zum
„Hoͤhern oder Geringern. Alle ſind Nachfolger der Apoſtel. Aber du
„wendeſt ein: wie kommt es, daß in Rom auf das Zeugniß des Dia⸗
„conus der Prieſter ſeine Weihe empfaͤngt? — Warum haͤlſt du mir
„die Gewohnheit einer einzigen Stadt entgegen? Warum willſt du jene
„Wenigen, von welchen der Hochmuth ausgegangen iſt, gegen die Ge⸗
„ſetze der ganzen Kirche geltend machen?“
D) In der Vollmacht der Vorſteher fanden bie erſten Jahrhun⸗
derte keine unbeſchraͤnkte, von Beiſtimmung der Untergeordneten unab⸗
haͤngige Gewalt. Dafuͤr das Wort des Herrn: „Die Koͤnige der
„Voͤlker herrſchen uͤber ſie, und die Gewalt uͤber ſie ausuͤben, laſſen ſich
Agnaͤbige Herren nennen; aber fo ſoll es unter euch nicht fein,
„fondern ber Größte unter euch fei mie der Kleinfte, und ber Oberſte
„wie dee Diener ;” „wie auch des Menfhen Sohn nicht gelommen ft,
„fich bedienen zu laſſen, ſondern zu dienen.’ Luc. 22, 25 ff. Matth.
20, 25 ff. Dafür das Wort des Apoftels Petrus: „Weidet die euch
„amvertenute Deerbe Gottes, und führer die Auffiht — nicht als Ge:
„bleter, ſondern ein Vorbild der Heerde zu werden.“ 1. Petr. 5, 2 ff.
Dafür die Geſchichte der von den Apofteln veranftalteten Berathungen
mit den Aelteften und Laien. Apofteigefh. 1, 15 ff. 6, 2 ff. 15, 22.
Diefe Beweife müßten fchon allein genügen. : Doch enthält die Ges
ſchichte noch fo viele andere. (Man ſehe 3. B. den Art. Ballican.
Kirche. Bd. VII. ©. 224 ff.)
Der Proteftant braucht dieſes Alles zum Beweiſe, daß felbft die
Regierungsgewalt ber ganzen Gemeinde zuſtehe. Aber ganz fo weit zu
gehen, enthaͤlt fich ber Katholik, welcher ben Glaubensſatz nicht antar
ften will, daß jene Gewalt durch bie fraglichen Vollmachten des Herrn
den Apofteln für fih und ihre Nachfolger übertragen fe. Doch liegen
die Mefultate dee beiden Anfichten fich nicht fehr ferne.
E) Vor Allem kann auch der Katholik in jenen Vollmachten keine
Gewalt finden, das heiligfte Recht jedes Menfchen, feine Gewiſſen⸗
freiheit, zu beeinträchtigen. Was er ale von Ewigkeit her in feine Ver
nunft gelegte Offenbarung, und mas er als pofitive verehrt, flimmt
darin Aberein. Aus letzterer Duelle genügt es fchon, an folgende Stel⸗
len zu erinnem: „Prüfet Alles und das Gute behaltet.” — „Nicht
dag wir Herten ſeien über euern Glauben, fondern wir find Gehuͤlfen
eurer Freude, wenn ihr flehet im Glauben.” 2. Kor. 1,24. — „Als
mit Klugen rede ich; richtet ihre, was ich fage.” 1. Kor. 10, 16. —
nBlaubt nicht jeglichen Geiſte, fondern prüfet die Geiſter.“ 1. Joh. 4,1.
mit jenem Principe vereinbaren
feinem andern als: ‚ber Erſte
jr Beldusfrfäer spe apne Ausnahme. Auf biefen Scundlas
Abweichung des di
em tuht
— nun bie ganze eutſch⸗ katholiſchen Solms von
arm — ie wine es Benfbar —* zen heutige western
3* 2 4 z
Kirchenverfaffung,, katholiſche. 319
nee ernannt*). 2) Bald überliegen die Aelteflen einem aus ihrer
Mitte, als dem Erſten unter Amtögenoffen, zur Erhaltung ber Einheit
. and Ordnung bas Ganze zu überwachen und zu leiten. Yon jenen in
Alerandein iſt biefe® ausbrüdlich bezeugt **). Diefer Erſte wurde nun
vorzugsweiſe und zuletzt ausfchließlich Auffeher (episoopus) genannt;
doch behielten die XAelteften ihre Theilnahme. Er führte den Vorſitz,
und obne feine Zuſtimmung durfte feine Neuerung befchloffen werden ***),
Diefe Stellung führte bald darauf, ihn beſonders dazu einzumeihen,
unter größeren Feierlichkeiten, als ben gewöhnlichen Aelteflen. Die
geoße Zahl der Bifchöfe in mancher Gegend noch im Anfange bes 4.
Jahrhunderts beweiſ't, daß darunter blofe Öbergeiftliche einer Stadt
Eiche, ohne weiteres Gebiet, zu verfiehen find. Bald wurde dem fo
an die Spige Geſtellten allen durch bie übrigen Aelteſten die Befugniß
übertragen, angehende Geiftliche zu weihen, auch jedes neue Mitglied
des Vereins duch Confirmation zu flärken, ferner die Weihe der Kir
hen und Kirchengeräthfchaften, endlidy die ganze Kirchenregierung, fo
weit fie in Vollziehung der Spnobalbefchlüffe und Gewohnheitsrechte bes
fand. 3) Die Gemeinden in der Umgegend einer größern, volkreichen
Stadt waren, von biefer aus gegründet, Toͤchterkirchen im eigentlichen
Sinne, oder auch urfprünglic mit dee Stadt gu einer Gemeinde vers
einigt gewefen; und aus diefen oder andern Gründen entftand Abhäns
gigleit von dem Aufſeher ſolcher Stadtgemeinde und ber größere biſchoͤf⸗
liche Verwaltungskreis (Discefe ins heutigen Sinne)... Anfangs ift für
die Bezirke noch der Ausdrud Parochia uͤblich, ohne: Unterfcheidung
biſchoͤflichen und priefterlichen Wirkungskreifes, und noch im fünften Jahr⸗
hunderte findet man diefes Wort als gleichbedeutend mit Diöcefe ges
braucht. Abermals Beweis für die urfprängliche Identität bes Priefters
und Biſchofs. 4) Auch unter den Bilhöfen in dieſem neuen Sinne
landen jene dee Mutterkirchen in hoher Achtung, und, gewiffe Rechte
über die Toͤchterkirchen wurden ihnen eingeräumt; gewiß das Recht, den
Weihungen aller ihnen untergebenen Amtsgenoffen durch Auflegung ber
Hänbe vorzuſtehen. Die größere Erfahrung der Mutteranftalt flößte
den Ablömmlingen das Vertrauen ein, fi dahin zu wenden, um bie
Löfung vorkommender Zweifel ober die Mittheilung früherer in ähnlichen
Ballen erlaffener Gutachten zu erbitten. Bald warb angenommen, daß
wichtige Anorbnungen, die fich nicht auf den einzelnen bifchäflichen
Sprengel beſchraͤnkten, nicht ohne Berathung mit bem Biſchof der Mut⸗
terkirche gemacht werden durften. Diefes führte zu Kirchenverſammlun⸗
gen, die von eben dieſem Bifchof berufen, gewöhnlich in der Mutter⸗
X .6,1 ff. Tertullianus de cri al.
tian. Fe Fl 23. . prasseript. e. 41. Gra
**) Hieron. ep. 101.ndE ium. @iche auch Rote *) S. 313.
47) G. Note *) ©, 313. Canon. Apost. 31. 32. 34. Concil. Antioch. 341.
c. 24. 25. Die Belege des Folgenden gibt forgfam Hüllmann, Urfprünge
ber Kirchenverfaffung bes Mittelalters. Bonn b. Marcus, 1831. 8. Gieſe⸗
ler's Kirchengeſch Bd. I. $. 62. 66. 9. 119.
Ä
_ *
Kirchenverfaſſung, katholiſche.
und Leitung gehalten wurben. Schon unter
— —— ſcheint 32 Ce der Wifchöfe von Mutterkicchen
au jenen dee Toͤchterkirchen auf. dm hanptfläbtifhen Biſchof
\ Copkoopus metropolitanus) im Werhältniffe zu ben übrigen WBifchöfen
derfelben Provinz fibertengen worden zu fein, Über weiche jener allmätig
bie. Oberbehörde zu, bilden begann. Als Brand wird angegeben, baf
bie Haupeftadt ber Meittelpumet iſt, zu weichem alle durch Beichäfte hin⸗
gezogen werdn*). Die Verfammlungen ber Biſchoͤfe der Provinz
mußten jaͤhrlich zweimal unter .Worfig und Leitung bes Metropoliten ges
halten werden. Bu den Befugniffen diefer Verſammlung gehörte Bei⸗
legung von Streitigkeiten unter ben Biſchoͤſen und Erledigung von Ber
ſchwerden dee untergeordneten gegen fie. Aber der vorfigende
hauptſtadtiſche Viſhof —8 ee —— des ealſeruchen
Statthaiters gewiß hatte den bedeutendſten Einfuß. 6) In einem
Theile des roͤmiſch⸗ byzantiniſchen Reiche eigens um biefelbe Beit vorüber»
gehend noch eine Hy D Oberbehorde. wie nämlich mehrere roͤmb
fje Provinzen und deren Paiferliche —8 is police dioecesis
unter einem Oberflatthalter vereinigt waren, fo wurde bort ber haupt»
flädeifche Vifchof am Sire des Oberflarthalters Oberbehörhe ber übrigen
hauptftädeifchen WBifhöfe jener Provinzen. In biefer Eigenſchaft Fl
derfelbe Oberbiſchof (archiepisoopus), auch exarchus, eparchus,
Beduͤrfniß größerer Werfammiungen, weil größere —E&
im Stande waren, maͤchtigen, oft von bee weltlichen Gewalt un
ten. Slaubensgegnern zu wiberflehen, mag wohl dahin geführt haben.
Diefer Oberbiſchof hatte gegen die ihm unterftehenden. hauptſtaͤdtiſchen
Biſchoͤfe ungefähr diefelden Befugniffe, welche biefen gegen die Bifchöfe
Kirchenverfaffung , Tatholifche. 821
feinem Detropolitm und durch biefen feinem Epaschen untergeordnet.
Enblid das Concil von Chakedon (uns 461, das vierte allgemeine),
befhloß: „Dem Stuhle des alten Rome haben die Väter mit
„Recht, weil diefe Stadt des Reichs Hauptfladt war,
„Vorrechte ertheilt. Aus demfelben Grunde hat das Goncil von
„Gonftantinopel dem Stuhle des neuen Roms bie gleichen Vorrechte
„verliehen (aequalia privilegia tribuerunt), indem bie Wäter mit -
„Recht wollten, daß die Stadt, welche als Sig bes Herrſchers und bes
„Senats Ausgezeichnet ift und diefelben. Vorcechte, wie bie Herrſcherin
„Rom genießt, auch in kirchlichen Dingen nicht weniger, als dieſe er
„hoben umd ausgezeichnet werde, als die erfte nach dieſer. Daher fol
„der Bifchof von Gonftantinopel Metropolitanrechte über bie Eparchen
„von Thracien, Pontus und Kleinafien haben, doc diefen ihre Ober
„gewalt über die untergeordneten Metropoliten bleiben. Es fcheint,
daß ber Titel Patriach, der früher allen Biſchoͤfen von Mutterkirchen,
ja auch wohl überhaupt allen Bifchöfen gegeben wurde, von jeßt nur
für die fünf erften Biſchoͤfe vorbehalten, und in fo fern eine neue Kirchen:
würde eingeführt wurde, um jene drei Eparchen weniger zu kraͤnken.
Wir fagen: den fünf erften Bifchöfen, denn auch der Bifchof von Je:
enfelem erreichte auf diefem Eoncit das Biel feiner in langen Kaͤm⸗
pfen geltend gemachten, Anſpruͤche. Ihm trat dort der Eparch von Ans
tiochia einen Theil feiner Didcefe ab, Palaͤſtina nämlich, und er wurde
nun Yen Patriarchen beigezählt. Zwar gehört die Stellung der Epar⸗
hen ind Patriachen im angegebenen Sinne nicht mehr der Verfaffung
der katholiſchen Kirche an, feit der Lostrennung ber Orientalen, unb
ſeitdem das Patriarchat von Rom zu viel bedeutenderen und über bie
‚anze Siehe fich erſtreckenden Vorrechten ſich erweiterte. Der Titel
Exzbifchöf wird jest dem Metropoliten gegeben. Aber gerade über bie
Keime ſolcher Erweiterung verbreiten biefe gefchichtlichen Momente das
sichtigfte Lichte. Wer kann namentlid mit ben erwähnten Beſchluͤſſen
der erften allgemeinen Goncilien Anerkennung einer Herrſchergewalt
Roms Über die ganze Kirche vereinbar finden? Dagegen der erſte Platz
wurde, wie wir fehen, dem Biſchof von Rom, als es noch Hauptſtadt
ded Reiche war, eingeräumt, und blieb unbeftritten. 6) Offenbar war
Rom der Drt, von wo aus ſich die Verbreitung bes Evangeliums nad
alten Gegenden am Wirkſamſten fördern und das Band der Einheit im
ganzen Vereine am Leichteften erhalten ließ. Auch Petrus ſtellte füch
an die Spige jener Gemeinde und vollendete dort durch heidenmüthigen
Tod für feinen Slauben. Zwar kann auch von Katholilen bie im
der Schrift für Petrus bemerkliche Auszeichnung nur als Anbeutung
betrachtet werben, daß die Kicche zur Erhaltung der Einheit einen Mit
telpunct anerkennen müffe, und daher ift göttliche Anordnung nicht
ausgebehnter anzunehmen, namentlich nicht für Entfcheibung ber Frage,
wo der Sitz des erſten Biſchofs aufzufchlagen fei, und wer nad) Pe
trus dieſe Stelle bekleiden folle, da Petrus, als ihn ber Herr aus⸗
zeichnete, an Beine Particularkicche gebunden war. Daher fagt ber ars
Staats⸗ Lexikon. IX, 21
——— — —— — — —
322 urn
„um Haupte der ganzen Kirche bezeichnet wurde, an keine Particular-
„fteche gewieſen war, fo gibt es Keinen Grund, jenen Sitz an bie roͤ—
„mifche Kirche gebunden zu — Es "läßt ih daher — von
der ping he der Geſammtkirche die Beftimmung — ————
Biſchof die erſte Stelle bekleiden, und wo. derfelbe . * Sig haben
folle. 7) Als die böchfte Autorität Über die ganze Kirche kann der
Kathollt nur die Gefammtpriefterfhhaft erkennen. Nur ihre Ueberein-
fimmung in Glaubens! und gefeplichen Anordnungen — vorausge:
fest, daß es an der möthigen- Beiftimmung der Lalen nicht fehle —
erſcheint ihm als allgemein’ verbindliche Norm. In den von dem
Erife; Daher feit ber SEheilung. in —* —
ftehe; die Leltung des großen Bundes aller Partieularkirchen in, Seiner
Gefammtheit aber dem übereinftimmenden Zuſammenwirken aller Vor—
— unabanderlich anheimgeſtellt. Die Theilung in größere und Flei-
jere Bezirke und die Mebertragung vorzüglicher Rechte an die Vorftiper
Berfeiben Beides menſchliche Einrichtungen, Können ihm nicht fün guͤl⸗
tige völlige —— die jedem Priefter durch göttliche Miffion
gewordenen Rechte ehe gelten, fir das Heil der Gefammts
Biche nach Kraͤften beforat zu fein. —* ſolche Entſaaung laͤßt ſich
Kicchenverfaffung, Tatholiiche, 338
herleitet, find an alle Apoſtel und ihre Nachfolger auf gleiche. Weiſe
gerichtet ). Daraus, daß fo der Katholit als geoffenbarte göttliche
Wahrheit, d. h. Glaubenslehre (Dogma), annimmt, was die Ge
ſammtkirche dafür erkennt, folgt übrigens nicht, daß er Gewiſſensfrei⸗
heit verfhmähe. Denn ter der Kirche folhe untrügliche Auctoritaͤt
zuſchreibt, wird durch nichts Anderes, ale feine Ueberzeugung von ber
Richtigkeit der dafür gebrauchten Gründe geleitet. 8) So gewiß Ueber
einfimmung ber Geſammtkirche die Quelle und Grundlage ber Ent:
fheidung über Glaubensfrages und allgemeiner Gefeggebung für bie
ganze Kicche ift; fo gewiß fteht der Oberbehörde jeder Particularkicche,
dem WBifchofe, dem Erzbifchofe, das Recht zu, unter der für jede Kir⸗
hengewalt erfocderlihen Mitwirtung der Priefterfchaft und Laienge:
meinde feiner Diöcefe oder Provinz, den Verhaͤltniſſen angemefjene
eigenthümtiche Gefege zu geben, auch gefeglihen Anordnungen, die für
die ganze Kirche beilimmt find, feine Beiflimmung zu verfagen und
ihre Bollziehung abzulehnen, Autonomie. Die Gewalt des einzel:
nen Vorſtehers über feinen Bezirk und jene der Gefammtpriefterfchaft
über die ganze Kirche beruhen auf demfelben Grunde, den urfprüngli-
hen Vollmachten und beten richtiger Auslegung ; auch iſt fie duch un⸗
unterbrodhene Gewohnheit beftätige **). So befolgt bie orientalifche
katholiſche Kirche eine Geſetzgebung, von welcher bie occidentalifche in
vielen Theilen der Liturgie und Difciplin abweicht, 3. B. in Dinficht
der Kirchenfprache und des Coͤlibats. So werden die Biſchoͤfe in vies
len occidentalifchen Kirchen von den Monarchen ernannt, in andern von
den Domcapiteln gewählte." Zu dem ift es ausgemacht, daß die meiften
Geſetze, roelche jet in der ganzen Kirche gelten, urfprünglich von einzelnen
Particularkirchen herruͤhren und allmälig in den übrigen angenommen
wurden. So eine Reihe von Beſchluͤſſen der afiatifhen Synoden von
Ancyra, NeusCäfaren, Gangra, Antiochta , Laodicen, der Synode von
Sardica, afeitanifcher, gallifcher und fpanifcher Spnoden, bie wir im
allgemeinen Geſetzbuche der Kirche finden. Weberhaupt berechtigt bie
Amtsgewalt des Biſchofs denſelben in feiner Didcefe zur vollſtaͤndigen
Ausübung aller aus jenen göttlichen Vollmachten abgeleiteten Befug⸗
niffe. — 9) Dagegen die Obergewalt des Metropoliten oder Erz»
bifhofs (im heutigen Sinne dieſes Wortes) über die übrigen Bi⸗
ſchoͤfe feiner Provinz (feine Sufftagane genannt, meil fie Stimm
vecht auf ber Provinzialfpnobe haben) ift befchränkt auf einige einzelne
*) „ben fo wenig”, fagt Hug (Beitichrift des Erzbisthums Freiburg, J.
210), „konnte es gem v. Spittler unbekannt fein, daß die Unträglichkelt
„bed Papftes Bein Beftandtheit des Latholifchen Lehrbegriffes fei, daß fie nicht
„einmal Gregor VII. behauptet habe.’ S. die Stellen von Augufinus
und Ambeofub, oben bei litt. C. Rech berger a. u D. 5. 85. Sauter
.1. 8. 70 499.
P.Y Riegger, institt, jar. ecel. I. 254. „Pehem |. I. I. 202.
2 nehberger a. 0. D. I. 116. 158. 186. 188. Sauter I. 1, $. 76.
21”
324 Kigenserfffung, kotholſche.
Vortechte, welche ihnen von der Kicche mach menſchlichem Ermeffen und
mach den Zeitumftänden in größerem A — zuge⸗
fanden wurden, und von welchen gegenwaͤrtig, nebſt ben Ehrenrech-
ten, nur übrig iſt das Mecht, die Provinzialfpnode zu berufen und zu
leiten; dann das Recht, die nächite höhere Inftanz über den Suffen-
ganen zu bilden und ihr ordentlicher Richter zu fein, ausgenommen in
eigentlichen Strafſachen, welche einen anderen © jofe vorbehalten
find. In Deutjchland naͤmlich follen, zufolge des Frankfurter Concor-
dats, diefe Sachen durch ein Collegium entfchieden werben, welches
wenigſtens aus vier von der Provinzlalz oder Discefanfpnode zu waͤh⸗
lenden Mitgliedern befteht und im Namen des entſcheidet
Gudices delegati in partibus) *). 10) Bet der Frage: melde Ge⸗
walt in dem Primate über die ganze Kirche liege, etſcheinen zuerſt
gewiffe Rechte als unmittelbarer uß jener Glaubenslehte, daß, zur
Erhaltung der Einheit unter allen Didcefanvereinen der Erbe, Einer der
Vorfteher der Exfte fein müffe, fo weit man der Exfte fein kann unter
Gleichgeſtellten. Diefe Rechte werden natürlihe, weſentlich e
oder Altefte Rechte des Primats genannt. Als ſolche laffen ſich nedft
dem erften Range nur das Oberaufſichtorecht, die Directorialgerwalt und
das Recht elmer nicht ausfchließtichen Iniative oder Propofition ich⸗
nen, mit dem Umfange, der im Artikel „Eurie” beſtimmt iſt. Dort
find auch die zu dieſen natürlichen hinzugefommenen übrigen Primats«
achte or weiche ſammillch zum Rechtögrunde das Bugeftänd-
niß der jewtarkicchen haben, woraus ſich der Hauptgefihtspunet für
die Beurtheil der natürlichen ſowohl als der Binzugefommenen
Rechte von ergibt, der dort ebenfalls angebeutet ift. Bu ber let⸗
ten Claſſe wären noch zu zählen gewefen die hinzugelommenen Ehren:
rechte. So, daß eine Neihe von Titeln, welche fämmtlic bie in’s
neunte Jahrhundert‘ jedem Biſchofe gegeben wurden, zufeßt nur dem
orfton Bifchofe und feinem Stuhle vorbehalten find. namentlich sum-
Kirchenverfaffung,, katholiſche. 325
bie ganze Kirche iſt feit der Wiederherſtellung der Wiffenfchaften, als auf
Jerthum berußend, weggefallen *). Die Kirche hat fich hierüber auf ben
Goneilien des 15. Jahrhunderts durch Wort und That entfchieden aus⸗
geſprochen. Wohl aber hat bas Zugefländniß eines Theils der einft aus
jenem Irrthume abgeleiteten Worrechte aus anderen Gründen fortges
dauert, body weder in allen Particularkirchen, nody zu allen Zeiten in
gleichem Umfange. — 11) In den erflen. Jahrhunderten der Kirche
galt gemeinſchaftliche Beſchlußfaſſung von Seiten der Bifchöfe, ihrer
Geiſtlichkeit und der Laiengemeinde in Verfammlungen (Kirchen ver⸗
fammlungen) wohl mit Recht für die VBerfahrungsmeife, welche bet
Srundverfaflung am Volllommenften entfpräche. Das allgemeine Conci⸗
Um von Nicaͤa (c. 5) beſchloß, jährlich follte zweimal Provinzialfgn»
ode gehalten werden. Noch öfter hielt man urfprünglid Didcefan-
fonode- Später wurden beide Synoden jährlich einmal gehalten. Das
vierte allgemeine Concilium verordnet diefes für die erfte, und ſetzt es
für die zweite voraus (um 1215). Noch das letzte allgemeine Conci⸗
lium beſchloß, jaͤhrlich follte Didcefanfpnobe, und menigftens alle brei
Jahre Provinzialfpnode gehalten werden rg — Der Generalvicar bes
Erzbiſchofs von Freiburg fchrieb am 27. März 1833 an das Decanat
Vöringen: „Ueber bie Vorſtellung, betreffend die Einberufung einer
„Discefanfpnode,, koͤnnen wir die Verficherung geben, baß Se. erzbi⸗
„ſchoͤflichen Snaden unfer heiliger Detropolit (Bernhard Boll) jemals
„(jeweils?) geneigt waren, ihre Geiſtlichkeit ſobald möglich um fic zu
„verfammeln und fich gemeinfchaftlid) mit ihr über geeignete Gegen:
„ſtaͤnde zu berathen. Allein über die Zeit, wann bie Ausführung bies
„ſes Vorhabens möglid) und thunlich it, auszufprehen, fehen Hoch:
„diefelben als ein Ihnen zukoͤmmliches Vorreht an.” (S. Kanon.
Wächter 1834. No. 6.)
Wenn das Beduͤrfniß dazu vorhanden fehlen, wurden aus allen
Discefen einer Nation Stimmführer zufammenberufen,, National s auch
Meicheconcilien (concilia nationalia, auch oecumenica, im alten Sinne
dieſes Wortes), Später firebte man fogar nad) Verfammlungen von
Stimmführern aller Particularkicchen der ganzen Erbe, nad allges
meinen Kirchenverfammlungen. — Das Recht, ein allgemeines Con⸗
clium zu berufen und zu Leiten, befonderd den Berathungsgegen-
fland zu wählen, muß als Ausflug der natürlichen Primatsrechte dem
hoͤchſten Biſchofe zugefchrieben werden, in Bezug auf Meinere Verſamm⸗
lungen dem Erſten unter den Verfammelten, obgleich bie älteften Con⸗
cilien, welche man jest als allgemeine betrachtet, weder durch ben römis
fhen Biſchof berufen, noch erweislich Durch diefen geleitet wurden.
*) Daß fpäter auch die Forſchungen proteftantifcher Gelehrten viel beitrus
gen, im Ganzen die Ruͤckkehr bes Irrthums unmöglich zu machen, iſt bankbar
anzuertennen, obgleih Walter ($. 109) gegen Febronius als KBorwurf
erwähnt, feine Schrift fei aus den Werken ber Proteftanten sufammengelefen.
”*) C. 25. de accusat. — Concil. Trident, Sess. 24. c. 2. de reformat.
V. Espen, jus ooeles. univ. P. I. tit. 18, c. 1. P. TIL, tit- 10. c. 4..
326 Kirchenberfaſſung/ katholiſche.
Kt jeben Ball konnen alle jene Mechte nicht als —— it die
a! Biſchofe gelten. Da bie Pflt ch Kräften für das
er Kirche beforgt zu fein, diefen ni "ten obliegt, fo me
® ben Fällen, wenn fir diefe Pflicht zu erfüllen außer Stande fein
ober ſich meigern follten, wenigſtens jedem Priefter vermoͤge feiner kirch⸗
Kt iffion zufommen, In einem folhen Nothfalle zu handeln. Auch
der Staat vermöge feines oberſten Schuhrechtes —— dazu berechtigt
fein. So wurde das Concilium zu Pifa, um 1409, nachdem das
von Einzelnen ausgegangene Verlangen bie öffentliche Meinung altmd-
ig gervonnen, durch einen Theil der Carbindle zuſammenberufen *).
r 28 an N auf den — in auf —*
eſonderen Concillum hat an jeder Priefter, vermöge feiner goͤttli—
Gen Miffion.‘ Bei © ſen über Claubensfachen- forbert die Con⸗
feaueng fogar, diefe Mechte amöfchliehfich dem Priefter zuzuſchreiben,
daher höhrten Geil hen, auch Bifhöfen, Cardindten, welche die Prie-
fferweihe noch nicht erhalten Nee abzufpredjen. Ueber alle anderen
Begenftände die — je Geiſtlichteit, auch Laien, mitſtimmen zw laſſen,
indert nichts #*), _ Vielmehr muß man — eines unabanderlichen
incips (litt. D.) eigentlich fordern, daß dabei namentlich auch die
jalengemeinde vertteten ſei, wie fie e8 in den erften Jahrhunderten
war””*, Daß auf den meiften größeren Concilien nur Bifchöfe entſchei ⸗
dende Stimme fuͤhrten, laͤßt fich einzig mit bee Genehntigung der Kirche
rechtfertigen. Goncilienfchlüffe Uber andere Gegenftände ats den Gtau-
ben nannten die Alten cananes A ‚zum Unterfchtede vom Ger
fege bes En A A DE Kr * re
fo jedes Kix eſetz Über ſolche en] 7 jet aus weicher
Quelle, In Zelt kommt das Wort auch bei ———— von —
Bon den Befhlüffen allgemeiner Eoncilien behaupten mehrere Theo⸗
retiter, fie hätten hon von fih aus verbindliche Kraft für die
annıe Kirche, und felen in Glaubensrahen untrikalich. Zu einem ”
Kirchenverfaffung, katholiſche. 837
niemals ſolche Gewalt angemaßt. In Glaubensfachen behaupten fie
das feflhalten zu müflen, wag immer, allenthalben und von Allen uͤber⸗
liefert ift*). So fprechen fie aus, daß die Kraft ihrer Entſcheidung
nicht fowohl auf ihrem eigenen Urtheile und ihrer Gewalt, als auf der
der gefammten lehrenden Kirche ruht. In anderen Dingen
ft es bekannt, daß bie Beſchluͤſſe der allgemeinen Concilien von der
Annahme ber Particularficchen abhängen, welche fo vielen derfelben
nicht zu Theil wurde. Die von uns beftrittene Anficht geht davon
aus, daß ein allgemeines Concilium die ganze lehrende Kirche repraͤſen⸗
tive. Allein folches Tann mit Wahrheit nur bei jenen Belchläffen ge:
fagt’ erden, die im Sinne und nad dem Willen biefer Kirche gefaßt
find. Daher wird bie verbindliche Kraft der Beſchluͤſſe allgemeiner Con⸗
cifien einzig von ber Genehmigung diefer Sefammtlicche bedingt, fo bag
nichts Anderes zu dieſer Wirkung erforderlich iſt. Auch bie Kicchenväter
legen entfheibendes Gewicht nicht auf die Zahl der bei einem allgemei-
nen Concilium anmwefenden Stimmführer oder bie Korm ber Bufam-
menberufung und die Verhandlungsweiſe, wohl aber auf bie Annahme
der Beſchluͤſſe von Seiten der ganzen Kirche **). Das Exforberniß bie:
fer Annahme der Beſchluͤſſe ift im Leben fo anerkannt, daß es auch bie
Schule nicht leugnen kann. Nur ſetzen Manche beweislos voraus, ver⸗
bindfiche Kraft hätten die Beſchluͤſſe ſchon durch fih, unb die Annahme
berfelben fei blos dazu nöthig, damit Gewißheit daruͤber vorliege, bag
dem Conchium gehörige Berufung, Zufammenfegung und Verhandlungs⸗
weiſe nicht gefehlt habe. Allein mehreren, bie zu den allgemeineren ges
zahle werden, fehlte ausgemacht bald das eine, bald das andere dieſer
Erfordernifie. Soll die Annahme ihrer Beſchluͤſſe beweifen, daß nicht
gefchehen fei, was geſchah? Mit Recht hat man darauf aufmerffam
gemacht, daß bie Eurialiften ebenfalls behaupten, das allgemeine Con⸗
cilium, welches die Genehmigung einer gerifien dußern Behörde nicht
erhielt, fei in Slaubensſachen nicht untruͤglich. Blos darin weichen fie
ab, daß ihnen diefe aͤußere Behörde ber Papſt if, weip fie ihm, nicht
aber der Sefammtlicche, die hoͤchſte Gewalt zufäpreiben ***). Q.
*%) Quod apud omnes unum invenitur, non est erratum, sed tradi-
tum. Tertullian. de praescript c. 37. Quod universa tenet ecclesia,
nec a conciliis institutum, sed semper retentum est, non nisi au-
ctoritate apostolica traditum rectissime creditur. Augustinus contra Do-
natist. IV. 24. Hoc semper, neque quidguam praeterea — condiliorum
saorum decretis catholica perfecit ecclesia, nisi ul, quod prius a majori-
bus sola traditione susceperat,, hoc deinde posteris etiam scripturae chiro-
graphum oonsignaret. Vincent. Lerin. Commonitor. c. 32.
*) Ta non Nicaenos patres, sed et orbem terrarum condemnas, gni
sententiam illorum comprobavit.e. Chrysostom. Homil. 52. Selbſt Yapft
@elafius fagt: cuiusque Bynodi constitutum, quod universalis probavit
ine asSonaus, primaın prae caeteris sodem exzegui debere. Gratian.
c. 1. XXV. q. 1. Gben fo Papſt Gregor I. Id. c. 2 dist. 15.
*#%) Sauter 1. |. $. 101— 108. ©. no: „Kirchen recht, na⸗
türliches“, „Surie”, „Soncilien"”, „Runtien”, „Stifter“,
u. a. auf Kirchenverfaſſung bezuͤgliche befonbere Artikel.
328 Kirche, Kitchenverfaffung, evangeliſche.
Kirche, Kirhenverfaffung (evangelifhe). — I. Einlei—
tung. Die Batholifche Kirche hat fic nirgends und. auch nicht in dem
Goneit von Trient Liber den Begriff der Kirche ausgefprochen, aber fie
behauptet ſich in ihrer empirifchen Geftaltung zu einem äußerlichen Reiche
als die wahre Kirche, in welcher das, mas bie Kirche zu werden be
fimmt it, als Wirkliches und die That Chrifti als vollendet betrachtet
wird. Dieſe Weife der Anfhauung hat als Gegenfab die buch alle
Bekenntnißſchriften der Evangeliſchen hindurchgehende Auffaffung hervor
gerufen, nach welcher ber Kirche als dem duferlichen Reiche oder, was
daſſelbe tft, dem Papftthume die Kirche als innerliches Reich des Glau-
bens und der. Frömmigkeit ‚gegenUbergefegt wird. Es ift die Sache
dee theologifchen Wiffenfchaft, die Bedeutung diefes in der Negation bes
tatholiſchen Dogmas von der alleinſeligmachenden Kirche wurzeinden Be—
griffes einer unſichtbaren Kirche aufzuzeigen und die Mare Auffaſſung ſei—
nes Verhaͤltniſſes zu dem Leben zu vermitteln; aber geſagt muß es doch
hier werben, für bie Entiwidelung bes evangeliſchen Kirchenrechts hat
ex ehr bedeutende, nadhtheilige Folgen geäußert; denn, ungeachtet der
Begriff der Kicche mit Nothiwendigkeit ein Sichtbares- in ſich aufnimmt,
wiewohl der Zweck der Kirche nur durch eine fichtbare und in Sichtba-
rem fich fortbifbende Gemeinfchaft erreicht werden kann, wurde doch ber
dem Streite wegen bes Dogmas diefe, Seite und mit ihr der Boden
völlig vernachläffigt, in weichem das Recht allein fein Beſtehen hat.
Daraus, erklärt es ſich, weshalb die Bekenntniſſe gerade nach dieſet
Richtung hin einen fo duͤtftigen Stoff darbieten, und wie die Juriſten,
und leider auch die Theologen, als fie den Begriff, das Weſen und
die Verfaffung der fihtbaren Kirche fo zurüdgeftellt fahen, zu ben be
Fannten halts und ashaltlafen Nuffaftıınaon asfammen find. melche nach
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 329
voraus, bis es von dieſer als Träger dee Idee und darum in feinem
Rechte erkannt wird.
Indem wir verfuchen bie evangelifche Kirchenverfaſſung von dieſem
Standpuncte aus barzuftellen, mäffen wir zuvoͤrderſt über die Grund⸗
anfhauungen der evangeliſchen Bekenntnißſchriften, als bes unmittel-
baren Ausdrucks des Glaubens s und Rechtsbewußtſeins ber Kicche, uns
Har zu wegen fuchen.
U. Die Srundanfihten der Symbole über die Ver:
faffung ber Kirche. — Die Symbole faffen die Kirche als die Ge
meinſchaft dee Heiligen in Chriſto. Aber diefe Gemeinfchaft, diefes in⸗
nerliche Reich der Anbetung im Geifte und in bee Wahrheit, muß ſich in
einer dußerlihen Gemeinfchaft barftellen, da fie an ber reinen Predigt
bes göttlichen Wortes und der fchriftmäßigen Verwaltung der Sacra⸗
mente, nad, Ealvinifcher Auffaffung auch an ber rechten Kicchenzucht,
erfannt werden fol. (Augsb. Conf. X. VII, Apot. IV., Angl. Conf.
4. XIX., Belg. Conf. A. XXIX.) Die Träger dieſer $unctionen und
des mit dee Spendung des Abenbmahls zufammenhängenden Amtes der
Schluͤſſel find die Bifchöfe ober Pfarrer, welche, da ber Kern und Mit⸗
telpunct ihres Amtes nicht das Opfer, fonbern die Predigt iſt, nicht als
die priefterlichen Vermittler zwiſchen Gott und der Kirche, fondern als
die Diener des göttlichen Wortes betrachtet werben. (Augsb. Conf.
XXVII, I, Helv. Conf. XVIM., Angl. Gonf. XXII., Belg. Conf.
XXX., Böhm. Conf. IX., Conf. Totrap. o. 13.) Ueber den Umfang
der Kirchengewalt fprechen fi) die Symbole mehr nur von ber ne
gativen Seite aus, indem fie bie bifchöflihe Jurisdiction im Sinne
bes kanoniſchen Rechts verwerfen, und dem Grunbzuge des Katholicis-
mus, nad) welchem durch den heiligen Geiſt bie Kirchengewalt in dem
Klerus in ununterbrochener Kette ſich forterbt, die Berufung auf die
gleiche Berechtigung aller Kirchenglieder gegenhberfegen. (Schmalk. Ar
titel, A. XII. von dee Kirche.) Dabei tritt aber dody wieder die Exin-
nerung an das biſchoͤfliche Amt und deſſen Geſtaltung in urchriftlicher
Zeit hervor, und es werben bie Drdinationen ber von ber Kirche gewaͤhl⸗
ten Glieder des Lehramtes, die Aufrichtung chriftlicher Eeremonieen, die
Verwerfung falfcher Lehre und die Ausübung des chrifllihen Bannes
als Rechte der Biſchoͤfe bezeichnet. (Augsb. Conf. XVII. XXVIN.
Schmalk. Art. von der Gewalt der Biſchoͤfe). Mit den Biſchoͤfen aber
wird das Lehramt identiſch gefaßt, deſſen Thaͤtigkeit in dieſer Beziehung
theils aus evangeliſcher Anordnung, theils aus der wiſſenſchaftlichen Be⸗
faͤhigung, theils endlich, wie bei der Excommunication, aus dem unmit⸗
telbaren Zuſammenhange dieſer mit dem Sacrament des Abendmahls
und mit der Abſolution ſich erklaͤr. Im Uebrigen halten es die Be⸗
kenntniſſe fuͤr den Beruf des Regenten, der ſelbſt dem evangeliſchen
Principe ſich angeſchloſſen, daß er die aͤußere Ordnung der Kirche hand⸗
habe und ihre dadurch Freiheit ihrer Entwickelung bereite. (Apol. IX.
Schmalk. Art. Vom Papſtthume. I. Helv. Conf. XXX. Angl. Conf.
XXXVII., Schott. Conf. XXIV. Belg. Conf. XXXVI u. a.) Hier
als nothwendig an; ben Vie Ästraditen bie.
Wahl der Diener des göttlichen Wortes als ein Boche b Gemeinden
nf. XIXIV. Det. yI) *
IH. Die biſoriſchen Seſtalta age n. — Daß diefe Auffaffun⸗
gen der Bekenntniffe über die kirchliche Verfaſſung weber luͤckenlos feien,
noch eine tiefere Ahfehauung ausfchliefen, wollen auch wir fofort zus
geftehen ; yugleich/aber müffen wie hervorheben, daß in ihnen, wenn
aud) nur in ‚gegenftändticher Beſtimmtheit, nicht in_der Vermittelung
aum Begriffe, die innere Nothwendigteit einer Geftaltung anerkannt
[4
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 381
welche aus jeber der einzelnen Nichtungen beflimmte Theile ſich aneig-
net und zu einem Ganzen verbindet. Ein Gemeinfames aber müffen
wir fchon Hier ausdrücklich hervorheben, was für die Beurtheilung jeder
diefee Verfaffungen von unmittelbarer Bedeutung ift, die Verwerfung
des Unterfchiedes zwiſchen einer regierenden und gehorchenden Kirche
und bie Anerkennung bes Satzes, dag das kirchliche Bewußtſein in der
Gemeinde, nicht in dem Klerus ſich concentrire. Hieraus erflärt ſich
die überall anerkannte Zuläffigkeit einer Xheilnahme der Laien an bem
Megiment und die weitere charakteriſtiſche Erfcheinung, daß in allen
evangelifhen Kirchen eigentliche Eicchliche Gemeinden mit einer bald er-
weiterten, bald befchränkten Theilnahme an einzelnen Verfügungen der
Kirchengewalt beftehen, während nad dem kanoniſchen Rechte bekannt:
lich berechtigte Pfarrgemeinden in diefer Bedeutung gar nicht eriflicen.
A. Die Confiftorialverfaffung. — Abmeihend von den Re:
formationsverfuchen des 15. Jahrhunderts, welche dem verweltlichten
° Sottesreiche durch Heilung feiner dußerlihen Gebrechen wieder zu feinem
Rechte verhelfen zu tönnen glaubten, wandte ſich die Kirchenverbeſſe⸗
rung bes 16. Jahrhunderts unmittelbar an das Pfarramt und die Ge-
meinden. Hierdurch war ber Zufammenhang mit der Hierarchie geloͤſ't,
und der Entwickelung eines neuen kirchlichen Lebens aus ſich felbft Her:
aus der Boden bereitet; aber ob auf diefem das Leben werde Wurzel
ſchlagen und fid entfalten bürfen, hing zunädft von den weltlichen
Negenten ab, ba ber Wormfer Reichsſchluß von 1521 durch die Aech⸗
tung Luther's und feiner Anhaͤnger die neue Lehre und den auf ihre
Grundlage errichteten Gottesdienſt in die Reihe der bürgerlihen Wer:
brechen geftellt und dadurch die Unterdrüdung derſelben in bie Hände
jener gelegt hatte. In der Thassbefland auch ber Schug, welchen die
Landesherren ber Reformation ertheilten, in der erften Zeit faft überall
zunächft nur In der Suspenfion jener Verfügung und im flillen Ge:
waͤhrenlaſſen. Als jedoch die neue Lehre mit zwingender Gewalt ſich
weiter Bahn gebrochen hatte, wandten einzelne Reichsflände und Städte
ihe ihre Sorgfalt zu, Indem fie fih an die Spitze der Bewegung flells
ten und die Eirchlihen Verhättniffe auf den Grund der neuen Lehre
ſelbſtthaͤtig durch Weftellung tauglicher Seelforger, durch Einrichtung des
Gottesdienſtes, durch Uebernahme ber kirchlichen Güterverwaltung und
endlich durch Einführung einer Behörde ordneten, welche zur Aufſichts⸗
führung über Lehre und Wandel der Geiſtlichen beftimmt war (Super:
intendenten zuerſt in Kurſachſen 1528, aber gleichzeitig unter dem
Namen von Decanen oder Erzprieſtern auch im Derzogthume Preußen).
Ihr Beruf, den Widerftand ber Biſchoͤfe zu brechen und der Kirche zur
Ordnung und dadurch zur Freiheit zu verhelfen, Tag unmittelbar in der
oben angeführten Srundauffafiung, auf welche auch die diteften Kirchen:
ordnungen uͤberall ausdruͤcklich Bezug nehmen. Wo aber auch die welt:
liche Obrigkeit ordnend eingriff, wurde ihre Thaͤtigkeit immer nur ale
Vollzieherin deſſen betrachtet, was die neue Lehre von der ihr zugetha-
nen Obrigbeit fordere. Hieraus erklaͤrt fich Die unmittelbare Theilnahme
welche
Gewalt, als folder, betrachtet
Sefiättpunct if and) nicht verändert, fat
in den Tenbesteräihen Genfiloden ihren Eins
Beʒlehung iſt
jegangen, wo, durch provifocifhe Einrichtung einer
fachen vorbereitet, in Bemäßpeit eines Gutachtens
das Conſiſtorium zu Wittenberg im
diefe Einzichtung in ben mei⸗
- fpeint, da fie,
allgemeinen Titel
gegeben werben fol, daß fie .
meinfamen Sicchlichen Bewußtſeins erſcheint,
Princip der Verwaltung werde erhalten werden. Dagegen hat die dußere
Geftaltung der Confiftorien mehrfach gewechfelt, namentlich findet ſich
in der diteren. Zeit oft die Einrichtung, daß fie durch Zuziehung geiit-
Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 338
ſetzung, daß bei Verfügungen im Gebiete des inneren Bicchlichen Lebens
der Landeshere durch das Lehramt berathen werde, als eine den Grunde
anfichten dee Reformatoren entfprechende rechtfertigt: — Insbeſondere
hat die Geſeßgebung nie zu dem Wirkungskreife dee Confiltorien gehört,
ſondern uͤberall iſt diefe dem Landesheren felbft vorbehalten geblieben,
für welchen es dann feine andere Schranke gibt, als die, melde in ber
Bedeutung ber Reformation und in dem Gage gelegen ift, daß bie
Eehre keinem Zwange unterliege, fondern eben in dem freien Bewußt⸗
fein ber Gemeinde ſich entwideln muͤſſe. — Um biefe Säge durch ein
- dem Leben entlehntes Beiſpiel zu erläutern und zu belegen, entwerfen
wir (nad) Spangenberg in Lippert's Annalen des K⸗R. Band. IH.
S. 14 ff.) einen kurzen Abriß der noch jebt in urfprünglihem Um⸗
fange beftehenden Hannover’fchen Eonfiftorialverfaffung, der wir dann
ein Beifpiel einer anderen Geftaltung gegenüberfegen.e Wir befchräns
ten uns dabei zunaͤchſt auf das Confiflorium zu Hannover. Auch hier
wiederholt ſich der allgemeine Grundſatz, daß die kirchliche Geſetzgebung
von dem Landesheren, und zwar durch das Cabinetsminiſterium geübt,
und nur bei liturgifchen Angelegenheiten das Ganfiflorium zu
gezogen wird. Das Dispensrecht iſt nicht minder ein landesherrliches,
body darf das Eonfiltorium von dem Eheverbote während des Trauerjahres
und ber gefchloffenen Zeit, von dem Aufgebote und dem erforderlichen
‚Confirmationsalter dispenfiren und Haustrauung und ſtille Beerdigung
geftatten. Hiernaͤchſt ift dem Landesheren die Confirmation ber von
dem Conſiſtorio, beziehfungsmweife dem Cabinetsminifterio, vorgefchlagenen
Prediger und Superintendenten, die Beftätigung der von dem Confiftos
rio ausgefprochenen Remotionen und die Entfchließung in einzelnen Vers
waltungsangelegenheiten (Errichtung, Unton oder Dismembration der
Kichen« und Schulämter, Einführung neuer liturgifher Einrichtungen,
Verlegung und Abänderung ber Infpectionen, Anorbnung neuer Feier⸗
tage, Vornahme aller über 100 Thlr. ſich belaufenden Neubauten und
Reparaturen Lirchlicher Gebäude, Veräußerung oder Verleihung der Kir
hengüter nad Meierrecht, Verwilllgung beträchtlicher Ausgaben aus ben
Kirchendrarien) ausbrüädiid, vorbehalten. Alle anderen Regierungscechte,
insbefondere die Oberaufſicht Über Kirchen und Schulen und deren Guͤ⸗
tee und Rechte, fo wie die Disciplinaraufſicht über Geiſtliche und Schul⸗
lehrer find dem Gonfiftorto zu ſelbſtſtaͤndiger Ausübung uͤberlaſſen. Seine
Civigerichtsbarkeit befteht noch ganz in dem durch das Eikenifche Recht
beflinnmten Umfange, und erſtreckt ſich aus diefem Grunde auch nament-
lid) (mit den fchon Im gemeinen Mechte geordneten Ausnahmen) auf
die perfönlichen Angelegenheiten bee Geiftlihen und der ben olerus mi-
nor bildenden Schullehrer, Cantoren, Küfter und Organiften. Die dings
liche Jurisdiction umfaßt bie fich unmittelbar auf Lehre oder Religions⸗
&bung beziehenden Verhaͤltniſſe, die Streitigkeiten uͤber die aus kirchlichen
Geſellſchaftseinrichtungen entfpringenden Rechtsverhaͤltnifſe (Patronats⸗
rechte, Parochialgrenzen u. ſ. w.), die Realklagen gegen Kirchen, Pfar⸗
ein, Schulen und milde Stiftungen und die Eheſachen. Die Straf⸗
as Rirde, Kichenverfaffung, evangellſche.
gerichtebarkelt enblich erſtreckt ſich auf die Simonie und Amtövergegen
dee Geifttichen, während bürgerliche Verbrechen nur von den weltlichen
Gerichten geahndet werden. Zu felbfifländiger Anwendung find dem
—2 “die ker and * Kichenbuße, an die
ganz außer ‚die ai nicht mehe durchg prattiſch
iſt, und die Verweigerung des chriſtüchen Wegräbniffes übertragen ; bie
Vollziehung der gegen Geiſtliche erkannten Strafen der Verſehung, Sus ⸗
peufion oder emotion bedarf jebodh, wie wir bereit® bemerften, zus:
voͤrderſt dee Iandesherrlichen Beſtätigung bes Exkenntniffes.
Die neuere Befeggebung enangelifcher Länder hat diefe Verhaͤltniſſe der
Gonfiftorien nicht unberuͤhrt gelaffen, vielmehr ift in mandyen Ländern
durch bie "Aufhebung der kirchchen Gerichtsbarkeit und die Uebermeifung
der ihe früher unterworfenen Werhäitniffe an Die weltlichen Behoͤrden,
ferner duch Beſchraͤnkung auf das reingeiſtuiche Gebiet der Wirkungs ⸗
kreis derſelben vereingert worden. Ein denkwuͤrdiges Beiſpiel gewährt
in dieſer Beziehung bie Geſchichte der preußiſch en Kirchenverfaſſung,
welche, nachdem fle alle einzelne Phafen ber Eutwickelung durchſchrit⸗
ten, endlich in ber folgenden Weiſe ſich abgeſchloſſen hat, an der wir
(nad) Jacobfon, Geſchichte des preuj. ER. Bd. II. S. 210 ff.)
ein anfhaulidyes Bud einer neweren Gonfifisralverfaffung entfalten.
Der unmittelbaren Entfcliefung des Könige vorbehalten find:
1) der Gonfens bei Werabfolgung von Geſchenken und Legaten an aus:
ländifche Kitchen ſchlechthin am Inländifche, wenn die Bumendung mehr
als 1000 Zyie. beträgt, 2) bei jeder Annahme und Veränderung von
Stiftungen für veligköfe umd Schulzwecke, fo wie bei jeber ſtiftungewi⸗
drigen Verwendung, 8) bei Verleihung der, erften geiftlichen Stellen in
Sruen —444
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 833
und Dispenfationen, welche nicht dem Minifterium und den Regieruns
gen zuftehen. 4) Genehmigung , wenn ein evangelifcher Geiftlicher eine
religiöfe Handlung bei einem Katholiten verrichten fol. 5) Sorge für
Errichtung der Provinzials und Kreisſynoden, Aufſicht über dieſelben
und Prüfung der darin gefaßten Befchlüffe, welche aber nur mit Ge:
nehmigung des Miniſterii zu beflätigen find. 6) Die Prüfung der
evangelifhen Candidaten pro ıninisterio, das colloguium bei deren
Anftellung oder Beförderung, und bie Ordination bderfelben. 7) Er:
theilung eines Gutachtens vor der Beſtaͤtigung eines Geifllichen , weis
cher vor einem Privatpatrone von außerhalb Landes her vocirt wird.
8) Vorfchläge an's Minifterium bei Wiederbefegung einer Superinten-
dentur und Einführung des Superintendenten. 9) Auffiht über die
Amtes und moralifhe Führung ber Geiltlihen, dabei Veranlaſſung
außerordentlicher Vifitationen, Einleitung des Strafverfahrens in rein.
ticchlihen Angelegenheiten und dergleichen. Den Regierungen flieht da⸗
gegen zur Behandlung in der für bie Kirchenverwaltung und das
Schulweſen errichteten Abtheilung zu: 1) die Belegung fdämmtlicyer,
dem landesherrlichen Patronatsrechte unterworfenen geiftlichen und Schuls
lehrerſtellen, fo wie die Betätigung der von Privatpatronen und. Be:
meinden dazu erwählten Subjecte, 2) die Urlaubsertheilungen, 3) bie
Beobachtung der Amts⸗ und meoralifhen Führung der Geiſtlichen,
4) die Aufcechthaltung der Außeren Kirchenzucht und Ordnung, 5) die
Auffiht und Verwaltung fämmtlicher dußeren Kirchen s und Schulan⸗
gelegenheiten, alfo auch die Regulirung des Stolweſens, Zufammen-
ziehung und Vertheilung der Parochieen, wenn die Gemeinden und bie
Patrone darein willigen, und, unter gleicher Bedingung, Umpfarrung
einzelner Dörfer, 6) die Verwaltung und beraufficht über das ge:
fammte Kirchen⸗, Schuls und Stiftungsvermögen, 7) die Dispen-
. fation und Gonceffion zu Haustaufen, Daustrauungen, vom britten
Aufgebote und von den verfafjungsmäßigen Erforderniſſen ber Cons
firmation.
Minder ale bie Gonfiftorien tft ein anderes Element der Confiftos
tialverfoffung, die Superintendenten, in feiner urfprünglichen
Seftaltung berührt und verändert worden. Wir finden fie ſchon feit
der erfien Vifitation in Kurfachfen als Behörden für bie unmittelbare
Beauffichtigung der Lehre und des Wandels der Geiſtlichen; fpäter faſt
in allen evangelifhen Ländern mit einem im Ganzen fich gleichbleiben: -
den Wirkungskreife, als defien beide Hauptbeftandtheile die Aufſicht über
den kirchlichen Zuftand ihrer Didcefen und die Sorge für die Aufrecht:
erhaltung ber Gelege, für welche Thätigkeit überall die Kirchenvifita⸗
tionen das Mittel bilden, dann die Ausübung beftimmter Mechte der
vollziehenden Gewalt in unmittelbarer Unterordnung unter die Confi⸗
ſtorien ſich unterfheiden laſſen. Auch in biefer letzteren Beziehung bat
fi) die Verfaſſung im Einzelnen fehr verfchleben entwickelt, doch lafs
ſen fi) im Allgemeinen als Gegenflände, weiche ben Superintenden⸗
ten gewöhnlich befonders übertragen find, die Ordination und Einfüh-
336 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche.
rung ber Prediger, die Einweihung neuer Kirchen und bie Direction
der Prebigerwahl, wo die Gemeinden zu diefer bereditigt find, und Für-
forge für die Verwaltung bes Gottesbienfted bei eingetretenen Bacan-
zen bezeichnen. Oft gehört in biefen Kreis auch die Prüfung ber
Schullehrer, bie Erthellung der Erlaubniß zu predigen an Candidaten
und Studicende, die MRegulirung der Verhältniffe new angeftellter Geift-
licher zu dem Amtsvorgänger ober deſſen Erben, das Dispensrecht in
Faͤllen, in denen immer gegen Erlegung von Gebühren dispenfirt zu
werben pflegt, wie bei Haustaufen, Haustrauungen u. f. w. Selte⸗
ner dagegen ift den Guperintendenten ein unmittelbarer Antheil an ber
Ausübung der geiſtlichen Gerichtsbarkeit uͤberwieſen, und two fie auch
nad) dieſer Richtung thätig werden, befleht ihr Antheil im der Negel
nur In dem Verſuche gätlicher Wermittelung namentlich in Eheſachen
und bei Streitigkeiten zwiſchen ben Geiſtlichen und ihren Gemeinden.
Das Verhättniß der Superintendenten zu ben Gonfiftorien ift bald ein
unmittelbares, bald flehen zwiſchen beiden noch die Generalfuperinten-
denten, bie jedoch öfter nicht eine Zwiſcheninſtanz bilden, fondern als
die mit der befonberen höheren Aufficht über das kirchliche Leben beauf⸗
tragten Mitglieder der Gonfiftorien find. Endlich iſt in manchen Län-
dern das Verhätmiß fo geordnet, dag in Unterordnung unter die Su:
perintendenten beftimmten Geiftlihen unter dem Namen von Metropo:
litanen (wie in Kucheffen), Pröpften (mie in Medlenburg),
Decanen (mie im’ Großherzogtfume Heffen, Baden) die Aufficht
über beftimmte Pfarreien übertragen ifl.
Nachdem wir folchergeftalt den Organismus ber landesherrlichen
Kirchenbehoͤrden in Burzen Umriffen dargeftellt haben, müffen wir noch
auf die Form einen Blid wenden, in welcher die Theilnahme ber Ger
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 337
bei der Befegung der dem Iandesherrlichen Verleihungsrechte unterlie:
genden Pfarrämter keine Mitwirtung zugeftanden wird, fo beflimmt
auch die Älteren Kicchenordnungen eine ſolche fordern. Aus dieſem
Grunde erflärt es ſich, weshalb wir früher auch einer Organifation ber
Kirchengemeinden nur felten begegnen, wenn nicht bie fat überall vor⸗
Eommende Einrichtung, dag mit der unmittelbaren Verwaltung be6
Kirchenvermoͤgens einzelne Gemeinbeglieder unter dem Namen der Al-
tarleute, Juraten, Gefchworenen, Opfermänner u. f. m. beauftragt
find, oder die in ben dlteren Kirchenordnungen oft erwähnten, zur
Sortbildung ber Geiftlichen oder für die Ausübung der Cenſur beſtimm⸗
ten, noch neuerdings 5.8. in Medlenburg:Strelig (Verord. v.
14. Auguft 1839) unter diefem Namen eingeführten Synoden hierher
gezogen werben follen. Am Wenigften aber koͤnnen wir es gelten laf-
fen, baß bie oft vorkommende Theilnahme der Landftände an der kirch⸗
lichen @efeggebung bier aufgerechnet werde, denn diefe ift, mie unten
im Bufammenhange nachzuweiſen fein wird, nicht ein Merkmal der
Selbftftändigkeit der Kirche, fondern der Beweis, daß das Firchliche Le⸗
ben von feiner Richtung nad) der dee abgelenkt ſei. Erſt der neue-
ten Belt gebührt der Ruhm, ben feit der Keformation beftehenden Ver:
bältniffen eine dem Geifte der evangelifchen Kirche entfprechende Rich⸗
tung gegeben, oder body das Recht der Kirche anerkannt zu haben,
Hierher gehören die Beſtimmungen der neueren Verfaffungsurfunden,
welche bald im Allgemeinen, wie in Württemberg, die Anorbnun-
gen in. Betreff der inneren kirchlichen Angelegenheiten der verfaffungss
mäßigen Autonomie der Kirche vorbehalten (Verf.⸗Urk. 6. 71.), bald
ausbrädiih, wie in Kucheffen (Verfaff. Url. $. 134.), verfügen,
daß in Liturgifchen Sachen Feine Neuerung ohne Zuziehung einer Syn⸗
ode Start finden folle. Befondere Erwähnung verdienen in diefer Be⸗
ziehung die Beflimmungen des Sachſen-Altenburgiſchen Grund:
gefeßes, welche für die Ordnung der öffentlichen Gottesverehrung, und
für die Beſtimmungen in Beziehung auf den öffentlichen Lehrbegriff
und die allgemeine Kirchenverfaffung die Mitwirkung von Vertretern der
Kirche fordern ($. 134.). Freilich hat man auch hier nicht zu einer
vollfländigen Vertretung der Kirche fich zu erheben vermodht, denn bie
im $. 135 angeordnete Spnode befteht nur aus Gliedern des Lehrftan-
‚des, und es ift nicht ganz der richtige Geſichtspunct, wenn $. 137
beſtimmt ift, daß ein von ihr und den Landſtaͤnden beifällig begut-
achteter Geſetzentwurf von dem Landesherrn als bindendes Geſetz für
alle Mitglieder dev Kirche erlaffen werden könne. Aber dem gegenüber,
was anderwaͤrts gethan, ober richtiger nicht gethan worden ift, mag im⸗
merhin auch eine Beſtimmung folcher Art als Fortfchritt bezeichnet
werden. Eine vwollfiändig das Recht der Kirche wahrende Werfaffung
verlangt jedoch zuvörberft ihre Begründung von unten auf durch die
Organifation ber Gemeinden, auf welche dann die Vertretung der Kirche
ſelbſt geflügt ift, alfo Presbpterien und Spnoben. Diefe hat
man oft als ber reformirten Kirche eigenthuͤmlich betrachtet, ja es kann
Staats⸗Lexikon. IX. 22
338 Kirche, Kirchenverfaſſung, evangelifche.
behauptet werden, daß diefe Anfiht in dem Gefolge der dogmatiſchen
Streitigkeiten zwiſchen biefer und der lutheriſchen Kirche bie Ent
widelung in der letzteren nach bdiefer Richtung hin gehemmt habe»
Sie ift jedoch offenbar unrichtig, denn auf der einen Seite ift «6
gewiß, daß die Conſiſtorialverfaffung unter gleichem Werhätmiffe auch
in der ceformirten Kirche zum Beſtehen gelommen, mie z. B. in
Kusheffen, und auf der anderen Seite muß zugeftanden werben, daß
aud die lutheriſchen Belenntniffe jene Organe für die freie Aeuße-
rung des kirchlichen Bewußtſeins nicht ausfchliegen, da fie ja eine
Mitwirkung der Kirche zu beflimmten Verfügungen des Kirchentegis
ments ausdrädlic fordern. In der That treffen wie auch in ein-
zelnen lutheriſchen Landeskirchen neben der Gonfiftorialverfaffung mans
ches freie Element, wobei wir denn auf. die in Heffen ſchon feit
1539 beftehenden Presbpterien und berufen koͤnnten, welche noch in
der Presbpt.= Dxd. von 1659 als Repräfentanten der Gemein
den bezeichnet werben.
Dürfen wir hiernach nicht behaupten, daß die nach Luther’s
Anfichten verbefferte Kirche die ceine Confiftorialverfaffung, die refor⸗
mirte Kirche dagegen die Spnobalverfaffung zu ihrem Wefen babe,
fo müffen wir doch ſogleich zugeftehen, daf in der fegteren in Folge
der Verhaͤltniſſe, unter denen fie erwachſen, die Spnobal» und
Presbyterialverfaffung vorzugsweife entwidelt und erft in der neueren
Zeit im Geleite der Union (f. d. A.) zu einem Gemeingute der evan⸗
geliſchen Kirche geworden ſel. Bevor wir daher die neueren Geſtal⸗
tungen darlegen und ihres Grundes und bewußt werden koͤnnen, be
datf es einer Darftellung ‚der Entftehung jener, Verfaffung -felbft, für
sie, Kircpenoerfaffung, evangeliſche. soo
O6 Bernääden der Wi autfärleben, traten fie, als bie Ee⸗
Sud Me enden br Hatte a — in das m wie diefes
Gem: ertanı Gergl. Kirh⸗
fiſchen Gemeinden den jener Verfaffung int hatte u %
wommene, auch In ben reform Bebenntniſſen Immer als weſent ·
—— Drganifation nat 8a England in die Gemeinden der
ale ſchen und frangöftfchen Flüchtlinge verpflanzt, zum heil buch
dem € ger Theologen Bucerus, zum Theil durch den aus
Kr = a ‚gel une — — En 1
mene mordnung durchaus ai terialverfaffung baflrt
* Us in Foige der in Eng fand Fr die proteftandifhe Kira ⸗
— Berfolgungen nad) dem Tode Eduard's VI. (1558) vlele
lieder jerter Gemeinden flüchteten , wurde bie fo eben bezeichnete Ver⸗
faffung aut Er Eh Boden heimiſch. So finden wir ß in Hei⸗
deiberg und Srankfurt (1555) und insbefondere am, hen,
wo die Reformirten im Jaht 1568 zu Wefet, im Vereine mit niederläns
hen Abgeordneten, eine Gensralfpnobe hielten, deren Beſchluͤſſe die
jrumblage ber Kirchenverfaffung in Jaͤlich, Eleve, Berg und der
(haft Mark geworben find. Won .biefen Ländern fielen im Jahre
Ele ve und bie Grafichaft Mark an das reformicte
ülte) und Berg an Das Lutherifche, fpäter (1614) toieber Tatholifch ger
morbene Pfolz- Neuburg, und es findet fich nuumeht bie Erfcheinung,
daß auch die hutherifchen Kirchenordnungen jenes Element der
fi) aufnahmen (vergt. für die beiden erfteren u * Kirchen⸗ Ord.
340 Kiche, Kirchenverfaſſung, evangeliſche
nung von 1662, lutheriſche Kirchen · Ordnung von in, und fuͤt die bel⸗
den Iegteren bie Kirchen⸗ Otdnung von 1604 und 656, in der. weiter
unten ‚anzuführenden Ausgabe von rn. — Für bie Ent
widelung derfelben in den nieberländifchen zeformirten Gemeinden
wirkte nach der angeführten Synode von Wefel bie im Sabre 1571 ge=
haltene Generalfpnobe von Emden, deren Beifpiel auch auf die luthe—
riſche Kirche ber Niederlande von mafgebendem Einfluffe-gewefen iſt. Bu:
test haben wir noch einen Blick auf —— und Schottland
zu werfen. , Indem erften Lande wurde mit der Meformation auch die
Spnodals und Presb ;pterialvetfaffung unter dem unmittelbaren Beiftande
Ealvins, Farel — durch Vire in das Leben gerufen und von der
erften Generalfpnode,von Paris (1559) durch eine Reihe von Synodal⸗
beſchluͤſſen entwidelt, aus der das Fundamenaljtatut der —— 3 —
teformirten Kirche, die discipline des eglises reformees de France,
vorgegangen ift, Die IE arten Grundptinciplen * 11
in Deurfeland ihre Rüdwirkung, indem fie von den am Ende des 17.
und am Anfange des 18, Sahıpundes ausgewanderten Franjoſen bei:
behalten und dadurch in Länder verpflangt wurden, in denen fonft das
ticchliche Leben nach einer gang anderen — hin ſich entfaliet hatte.
Diefes iſt unter Anderem mit Hannover, BraunfhmweigundBüde:
burg ber Ball, deren teformicte Kirchen, durch gemeinfchaftliche Synoden
verbunden, im Ganzen bie „Discipline” als ihr fichtiches Grundgefes an
erkennen. — In Schottland endlich wurde die Presbpterialverfaffung
im Jahre 1560 unter befonderer Mitwirkung bes Refotmators Bes
Kor in einer im Wefentlihen auf die Genfer Verfaffung ge
Kichenordnung, bem fogenannten erſten Disciplinbuche, ac. =
Nach diefer allgemeinen Meberfidht bleibt uns nun mod die Pflicht, die
"Kirche, Kirchenverfaſſung, ebangeliſche. 841
ein aus dem Prediger und einer %ı von Aelteſten bes
Ras fiftorium hat, und daß fünf folder einden ben Bert
einer Spaode (als der Auffichtebehörde für bie Liturgie, ben Beligionsuns
— sind bie kirchliche Verwaltung) bilden, zu ber jede Gemeinde einen
Gelfllihen und einen Jelteſten (endet. Im ähnlicher Weiſe Haben die
Seinönden augsburgifäer Confeffion ihte Localconfiftorien, von benen
Fünf a der Arvonbiffement einer Infpection fich vereinigen. Zu den Ver⸗
fanintluugen derfelben: fendet jede Gemeinde einen Beiftlichen und Kin
Adteflen,, die wiederum aus ihrer Mitte einen ftändigen Infpector aus
den geiftlichen Döitgliedern erwählen. Endlich beftehen, als hoͤchſte Ber
waltungsftellen, zwei Generalconfiftorien, beten jedes aus einem weltlichen
—— Er an un —I jeder
—— "Bea oheitsrechten des
Gr Gerichtsbarkeit zu ihren
rg — ——— ladet fidy die hier in volllommener
Reinheit beftehende Presbpterialverfaffung nach —8 Stufen: 1) der
Kicchentath, oder das Presbyterium (Kirksession), 2) die Krelsſynode
(Presbytery), teldje ſich alle Monate einmal verfammelt, 3) bie jähes
Lid) zweimal zufamnientsotende Provinzlalfynobe (Synod), 4) die jährliche
gefeßgebende Generals ober Nationalfpnode (General-Assembly), weide
durch einen vom Könige ernannten Präfdenten birigiet wird und nur
durd) das tönigliche Veto befchränkt iſt (Bemberg, bie ſchottiſche Mar
tionallicche, Hamburg, 1828). — In den Niederlanden hat ſich bie
Derfafjung zu dem, verfchledenen Beiten verſchieden geſtaltet. Mach ben
Beftitellungen der oben ſchon erwähnten und anderen Synoden hatte jede
Genieinde ihe Preehyterlum (Kerkenraad), beſtehend aus den Predikasi-
ten,, Ouderlingen (Xelteften) unb Diaken. Ueber benfelben ftanb bie
Kreisfgnobe (Classical - Vererdeing), zu welcher innerhalb eines gewiſſen
Wegitkes jede Gemeinde einen Kerle und einen Geiftlichen aborbnete.
" Die höchfte dermaltende Behörde und Appellationsinftang bitbete, da bie
Raiiinalfpnobe feit der Dortrechter —8 1619 2 nice wieber zufammen»
trat, bie jährliche Provinzialſynode (allgemeen kerkelyke Vergadering),
aus der von den Glaflen jeder Provinz deputirten Ouderlingen und
Pred Die laufenden Gefcyäfte wurden von einer jedesmal bis
zur Sonode erwaͤhiten Deputation erledigt. Seit dem Jahre
‚1816 iR disc) das, die frühere Seibftftändigkeit vielfach mobifiisende
„Allgemeen ‚Reglement voor het Bestuur der Hervormde Kork in
ik der Nederländen’ die Verfaſſung dergeſtait geregelt, daß *
‚Gemeinde einen Kirchentath ober eiu Presbyterlum hat, das aus dem Pad-
dicanten umd gewählten Aelteften befteht und die Genfur der Gemeinde⸗
glieder und Auffiht\über den Gottesdienit und die Verwaltung des Kir
hengutes ausübt. Nach Detögebraud ift ben Diakonen die Gorge für
die Arten. befohlen. —— Die 3 Stufe in dem Drgantemus bildet
die Ciaffical + Kiechentegierung ( ical- Bestuur ), weiche. ducch einen
"Ausfhuß,von Moderatoren veriwaltet tmicd; diefe Lebteren ernegmf ber
König; mur ein Rate ift Mitglied, "Der Wirkungskreis der orbnunges
342 Kirche, Kichenverfaffung, evangelifche.
mäßig ſechsmal im Jahre zufammenttetenden Claſſenregierung ift bie Ins
fpeetion über die Gemeinden, Kirdyenvorftände und Prediger des Bezirks,
die Aufficht über die Wahl und Einführung der Prediger, die Entſchlieſ⸗
fung auf bie gegen kirchenraͤthliche Entſcheldungen eingelegten Appellatio-
nen, die Genfur über Prediger, Kirchenräthe und Candidaten. Daneben
gibt es aber namentlich für beftimmte oͤkonomiſche Angelegenheiten noch
eine jährliche Clafficalverfammlung von allen Predigern der Claffe und
einer Anzahl von Aelteften. Die fogenannten Bing -Vergaderinge, in
welche die Claſſen zerfallen, find durchaus unferen Prebigerconferenzen
zu vergleichen und dienen bem praktifhen Leben unmittelbar nur in fo
fern, al6 fie für die Amtsverwaltung während der Wacanzen forgen. Ueber
der Glaffenregierung fteht die dreimal im Jahre ſich verfammelnde Pro:
vinzlals Kichentegterung (Provincial- Kerkbestuur), die Behörde für die
kirchliche Auffiht und Verwaltung eines beftimmten Kreifes und letzte
Inſtanz für die bet der Claffe angebrachten Sachen. Sie kann zugleich
gegen Prediger, Candidaten unb Aeltefte nach geführter Unterfuchung bis
auf Abfegung etkennen. Auch ihre (11) Mitglieder werden aus den
Geifttichen der (11) Claſſen von dem Könige ernannt, und audy hier find
die nicht geiftlichen Glieber der Kirche nur duch einen Xelteften aus
einer jährlich wechſelnden Claſſe vertreten. Der Schlußftein der Ders
faſſung ift die jährlich im Haag ſich verfammelnde Synode, für welche
von jeder Provinzial Infpection ein geiftliches, von allen nad) einem be:
flimmten Turnus ein weitliches Mitglied abgeorbnet, vom Könige aber
der Präfident, Vicepräftdent und Secretär, fo wie mehrere Commiſſarien
ernannt werden, fobald der Chef des Mintfterialdepartements für den Cul⸗
tus entweder nicht det reformirten Confeffion angehört, oder fonft den
Sigungen beizumohnen verhindert iſt. Die Berathung der Synode
Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 848
keit umtergeorbnet war, und auch nach der neueren Verfaſſung vom Jahre
‚1814 don bem Staatsrarhe abhängig geblieben ift. Deshalb muß bie
Annahme, daß die Genfer Kicchenverfaffung die evangeliſche Obrigkeit von
jeber Mittoitfung ausfchliege, und daß eben hierin der Differengpumet
yoifchen Calviniften und Zwinglianern gelegen fei, fehon für die fruͤhere
als ein Irethum bezeichnet werden.
ben deutfchen Ländern, in benen die Spnobal+ und Presbys
4 affung ins Leben getreten War, nennen wir zuvötderſt Baden,
deifen feit der Union im Jahre 1821 folgendergeftalt geregelt
4." Die Grundlage der Verfaffung bilden freigermählte Rathe von Kir⸗
Genätteften ober Presbptern, als Organe und Mittel zur Verwaltung
- berfittlichen, religiöfen und Eichlihen Angelegenheiten der Gemeinden.
E — Stufe der Verfaſſung find die Specialfpnoden, welche in der
gel am Wohnotte des Drcans fid) verfammeln und ‚durch die ſaͤmmt⸗
Midjen Pfarrer des Bezirks ober ber Didcefe und durch eine ber Hälfte
ber —5 Mitglieder gleichtommende Deputation weltlicher lie:
ber ber Desiefskicchenvorfteher gebildet werden. Sie treten in je drei
ten zufammen, und werden in Gegenwart eines landesherrlichen Commiſ⸗
id gehalten. Die Generalfphobe repräfentict die geſammte Lanbes«
R amd wird durch freie Mahl dergeftalt gebildet, dag aus je len
er 28 Mahibezieke ein Geiſtlicher und je vieren ein weitliches Mit
hodhle wird, zu denen ein geiſtliches und weltliches Mitglied der Evans
gelifcyen Miniiterialkicchenbehörde, ein von dem Großherzog ernanntes
Mit ber theologiſchen Sacultät ju Heidelberg und ein ‚land
edangellfcher Eommitfat als Präfident binzutreten. Die Synode vers
ſammelt fich nach dem neueren Beftimmungen ordnungsmäfig in je fles
den Jahren (vergl. bie landeshertliche Genehmigung ber von der Generals
Tonode gemachten Anträge vom Jahre 1835, bei Rheinmald: Acta histor.
ecel, Bd.1. ©. 417). Ihren Wirfungskreis bezeichnet die Unionsurkunde
folge alt: „Sie hat a) über Erhaltung der Kirchenverfaſ⸗
fung, der barauf ruhenden Autonomie und wuͤrdigen Stellung ber Kitche
im Einklang mit der Unionsacte im Allgemeinen und Einzelnen zu wachen ;
‘b) über die allgemeine Befolgung der Kirhenorbnung zur ‚Erhaltung
* wlinfehensrberther Gfeichheit der Landegticche in Lehre, ‚Eultus, Discipun
und anderen ‚Eicchlichen Anſtalten gebeihliches Auffehen zu ‚tragen; c)
“auf das Amtsverhaften und Privatleben der Landesgeiſtlichkeit ein’ wach:
fames Auge zu tichten und im geeignetem Wege zu verhüten, daß durch
i Glieber derfelben ‚weder das innere Wohl, noch die ‚äußere Khre
‚der‘ "gefährdet und das Amt des Geiftlichen verläftert werde; ch nad
den im offenen Zeitraume gemachten Erfahrungen hat fie im reifliche
ig zu ziehen, wie die Kirchenverfaffung in’s Leben einge
welchen Zheilen fie etwa noch einer höheren Wolendung brbdıfeg
könne, ob und welche Modificationen in der Ricchenorbnung mothwens
ber räthlich feien ; ‚endlich ob und welche Winfche in Verwaltung und
bung Der allgemeinen und Localvermögen — die zwar ame Da
Raate qufſicht der ‚Kicche zuſteht, deren Art und Weſſe aber. b
344 Stche, Kirchenverfaſſung / ebangelifche.
ſondere organifche Gefeße, bie Verwaltungs und "Almofenorbnung, übe
beftimmt Er To wie ber 6 befonberen Witten» und Hülfe:
caffen zur gedelhllchen Berůckſichtigung kommen mögen,, wobei immer die
Rechnungen vor find; 5) feBeandem on rdneligum
aus ben Protocollen ber Beziekefpnoden enchobenen, zu Ihrer Bera
ausgefegten und ihr nebſt (Emmtlihen Ptotocollen Men, mitzutheifenden. 5
fe und Beat fo tie O bie —— Erfal und Wuͤnſche
ihrer Gfieder, bi — fifchen . Landes
betreffend, zu reden kam du und Anteäge zu prüfen; g)
über alles — —— — au faffen, oder, wo bie
Sache dazu noch nicht geeignet: m an? Vorſchlage zu Bade
und ent, B) über ine m as Aa dere duch bie Kandesherslichen Co
mifferien bie —
gane der Ve b Med bie
dem Minifterto des Innern
von 1809). — Von biefer as reußen und
der Kirhenorbnung für die Nheinprovinzen Ur eftphalen
5 — u 1 ee Da — — IR F
egierung bee Entwurf ei al wi we
wnodal- und Presbpterialordnung vereinigen follte. Die Ausführung
diefes, ungeachtet feiner Mängel (vergl. Schletermacer, über die flr
die proteftantifche Kirche des preußifchen Staates einzurichtende Synodal⸗
verfaffung. Berlin, 1817), zu jener Zeit von Vielen mit Theilnahme ver⸗
Kan &he Be — Ganzen nicht Se wohl aber it Fr ben, a
en Thei auf den d der dort entwi
haͤltniſſe eine Verfaſſuna aearuͤndet worden, welche, das Geaengeſchenk
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 345
preußiſchen Beſitzergreifung nie als Grundlage anerlannt worden (vergl.
von Oven, die Presbpterial= und Synobalverfaffung in Berg, Jülich,
Gleve und Mark. Eſſen, 1829).
Im Fahre 1835 wurde nad) längeren Verhandlungen zwifchen ber
Staatsregierung und ben für Weftpbalen, Sülih, Cleve und
Berg zufammenberufenen Provinzialfpnoden die neue Kirchenordnung
für die evangelifhen Gemeinden beider Gonfeffionen in der Provinz
Weftphalen und den Rheinprovinzen erlaffen, durch welche mit⸗
hin bie Presbpterialverfaffung zu einem Gemeingute auch anderer, früher
in abweichender Weiſe organifirten Gemeinden geworden iſt (Sneth>
Lage, die Alteren Presbpteriallichenorbnungen der Länder Juͤlich, Berg,
Steve und Mark, in Verbindung mit der neuen Kirdjenorbnung u. f. w.
Leipzig, 1887). In der That ift in ihr das Princip ber Selbſtſtaͤndigkeit
ber Kirche mit der Zheilnahme dere Staatögemwalt an dem kirchlichen Leben
in fo glüdlicher Weife vermittelt, daß fie unter allen Kirchenordnungen
neuerer Zeit fchlechthin als die vollenderfte betrachtet werden muß. Auch
hier find die Presbpterien der einzelnen Gemeinden der Grundflein, auf
welchem das Gebaͤude der Berfaffung ruht. Sie beftehen aus dem Pre:
biger, als Präfidenten, und einer Anzahl frei gewählter Aelteflen, Kirchen:
meifter und Diaconen. Neben ihnen ift aber eine größere Repräfentation
der Gemeinden bergeflalt angeorbnet, daß fie in Gemeinden unter 200
Seelen durch alle fimmfähige Gemeindeglieder, in hrößeren von einer
beftimmten progreffiven Anzahl derfelben bewirkt wird. Das Verhaͤltniß
zwifchen beiben regelt ſich dergeftalt, dag zu dem Wirkungskreife der Pres-
byterien gehören: 1) die Handhabung ber Kirchenzucht in der Gemeinde;
2) die Einleitung zur Predigermahl; 3) die Wahl ber unteren Kirchendiener,
die Theilnahme an der Wahl dee Schullehrer und Presbyter in Gemein:
ſchaft mit der größeren Repräfentation, fobald die Gemeinde über 200
Seelen zählt, während dagegen im entgegengefesten Kalle das Wahlrecht
durch die flimmfähigen Glieder dee Gemeinde felbft geübt wird; 4) die
Aufnahme ber von ihm und ber Gemeinde durch den Prediger geprüften
Confirmanden; 5) die Ertheilung der Zeugniffe an die aus ber Gemeinde
entlafienen Mitglieder; 6) Sig und Stimme in der Kreisfpnode (vergl.
unten) durch ben Prediger und einen von ihm deputirten Aelteſten; 7) die
Verwaltung des Kicchens, Pfarr:, Schuls und Armenvermögens. Außer:
dem liegt ben Aelteflen die Auffiche über religiöfes und fittliches Leben
und die Sorge für die gehörige Wahrnehmung des Gottesbienftes wäh:
rend der Pfarrvacanzen, den Kaftenmeiftern die unmittelbare Beauf⸗
fihtigung und Verwaltung des Kirchenvermögens, den Diaconen die Ar:
menpflege und Verwaltung des Armenfonds ber Gemeinde ob. Zu ben
Rechten der größeren Nepräfentation gehört dagegen zuvoͤrderſt: 1) die
Predigerwahl, ein Recht, welches ſich jedoch nad) ber Cab.⸗Ordre vom
25. September 1836 (bei Rheinmwald a.a. D. Bd. I. ©. 495) auf
die früher ſchon wahlberechtigten Gemeinden befchränke, während den
übrigen nur die im allgemeinen Landrecht den Gemeinden bei Patronats-
ficchen verwilligte Mitwirkung mit einiger Erweiterung zugeflanden fein
346 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche.
folt; 2) die Berathung und Beſchlußnahme über Veränderungen in der
Subftanz des Srundeigenthums der Gemeinden, über Erwerbung und
Beräußerung deffelben mit Einfluß der Vererbrechtungen und Eonceffio:
nen gegen Erbzins; 3) die Beſtimmung ber Gehalte und Gehaltszulagen
für die Kichenbeamten; 4) bie Beſchlußnahme über die Dedung der
tirchlichen Beduͤrfniſſe bei vorhandener Unzuiaͤnglichkeit des Kirchenver⸗
moͤgens, und die Umlage auf die Gemeindeglieder, welche dann durch die
Regierung vollſtreckt wird. Den Vorſitz führt auch Hier regelmäßig der
Pfarrer, bei den Kirchenviſitationen aber und in einzelnen Fällen der
Superintendent. — Ueber ber Gemeindevertretung fteht bie jährliche
Kreisfgnode, welche durch die Pfarrer des Kreifes und einen Xelteften
aus jeder Gemeinde gebildet und durch ein von ihr aus Geiftlichen auf
ſechs Jahre gewaͤhltes Directorium, den Superintendenten, Affeffor und
Scriba geleitet wird. Ihre Vefugniffe find: a) die Berathung der an
die Provinzialfgnode zu beingenden Anträge; b) die Aufficht über die
Pfarrer, Sttsptesbyterien, Candidaten, Schullehrer und Kirchendiener
des Kreifes; c) bie Handhabung der kirchlichen Dißciplin; d) die Aı
ſicht über die Verwaltung des Kirchen» und Armenvermögens ber
meinden bed Kreifes; e) die Verwaltung der Prebigerwittivencaffe bes
Kreifes und ber Synodalcaſſe; f) die Leitung ber Wahlangelegenheiten
der Pfarrer des Kreifes, fo wie die Ordination und Introduction berfelben ;
g) die Wahl des Directoril dee Synode und der Deputicten zur Provin⸗
zialfgnode- Die auffehende und vollziehende Behörde, das Organ ber
Synode, fo wie ber Löniglichen Kirchenbehörbe ift der Superintendent. —
Die Vertretung ſchließt ſich endlich in der Provinzialſynode ab, welche
aus dem Superintendenten der Provinz und aus den von jeber Kreisſyn⸗
ode gewählten geiftlichen und weltlichen Deputicten unter einer aus den
Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 347
di d Ar iten, dem Pı le
von Im un — KL N 3 m Posten 4
aus einigen frei ge⸗
und ben Ottsvor⸗
348 fihe, Miorhemverfaffung, ebangelſche.
®B r da ung Da
553353 —
ine Nude a; liſche
er. evan⸗
— ee at ri und Enke Gen als auf
die Berechtigung des —— RS er ſich für die lebe
tere des. im ber — amens eines
jus episcopale bediente, auf re jet. Zwiſchen
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licher Beiſiher aus Sale, ebildet toude, Au dieſes
bältniffe_ ertannte der oe eiede im
fie unter Garantie des Meic
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Uſcher Uni ie den Fall, daß ber Landecherr kuͤnfti—
ai ge Sein 1, oder 2 und Kan
‚Andi
dieſen — — ——— uuwen
ham Aahor umrer ha Endahanale naher
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche, 349
herrn auch als hm an und für ſich berechtigten: Inhaber der Kirchengewalt
über bie 9 leten, und umgekehrt, nur in fo weit befchränkt. betrachte,
daß er en duch geifttiche —— Berfeben zarte, befege
und bi in — Grenzen halte, welche durch
die N eit und di ——— überhaupt gezogen
ſind. Ein Beiſpiel gewährt ——— — J——
wenn fie beſtin ar die eubung der
Kircheng 98 ei — Kerr dem Lanz
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. Besheen me ße werke, ba 5 jedoch bel dem Uebertritte bejfetben zur
einer « als der ei —8 — die — g die⸗
—9— mit den en ſichetgeſteut en. mil | Pi
zu ber Iutherifchen Kirche die Kirchengewalt dien
a Ueberteitt
die Reformirten beibehalte, Nat) dem feit us Ediet von 1821 ber
| bie ©: ü Ba und sn
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— hm hen. Du One m
1818 ein unictes. — um
fifkorlum: —* it m
ni annover n teformirten au Cell, Gdt-
fingen, Hannover und unter. der. bereits ecwähnten
Spnode, für den hanndverifchen Antheil dem Gabinetsmini»
fterio ı 1c ungergeben iſt. rigen aber find thelis den Pro»
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bie Verord⸗
Seafang den Gonfecn ufhene Orc
—
*
I
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 353
im, wo es Beſtimmung der Verhaͤltn katholi und
5 Pfarreien und einzefner a foksmen —** |
fionen vom Amte, Penſionirungen, Entfegungen oder Ausfhliefungen .
vom geifllichen Amte; f) bei Eintheilung ber. Pfarsfprengel und
Vereinigun Bemeinden
g mehrerer
Pfarrei; g) bei Anordnungen außerordentlicher ——— —j ˖ù —
zu kirchlichen
behalt ber Competenz der Kreisregierungen in Anſehung ber abminiſtra⸗
tiven Beziehungen; k) in Faͤllen, wo ein Benehmen mit anderen
Gtaatöminifterien erforderlich ifl. Eine ſtreitige Berichtöbarkeit haben
. die Gonfiftorlen nicht, insbefondere nicht im —— weiche von dem
n0e
werben. Doch: wohnende
— —— dem
e vermittelnden Stellen zwi⸗
een und bilden bie
— beren durch 3* Inſtructionen (8. September 1800)
ber in andern Län»
Kirche wirb durch Synoden
Landeöthellen diefieit des Rheins
und durch ſaͤmmtliche
Candidaten, aber auch durch Laien dergeſtalt gebildet werden, daß jeder
Pfarrer ein. Mitglied feiner Gemeinde in — bringt, das Ober⸗
confiftortum aber die Hälfte der Gewaͤhlten als Mitzlieber ernennt.
Dieſe Synoden greifen aber doch in ben kirchlichen Organismus nicht
d. i. Fed Pfarrer des Decan etragen und Di
nr Wahlen der — — ea).
uirks, aus einem abpuorhnenben Geiſtlichen von jedem Decanate und
GStaats⸗ Lexikon. IX 28
854 Niche, Kirchenverfaffung, evangeliſche.
aus einem weltlichen Mitgliede von je ſechs Decanaten, welche der
Aonig aus den von ben CTonſiſtorien ausgewählten 16 Individuen er⸗
nennt. Die Drganifation ber Gemeinden iſt nur unvoliftändig georb-
met. Bereits im Jahre 1821 wurde ‘die Einführung der Presbpterien
mit einem fehe umfaffenden Wirkungskreife in Beziehung auf bie Kir-
chenzucht beabfihtige und im Jahre 1822 von den Eonfiftorien ange
orbnet. Der in vielfachen Protefiationen ausgefprochene Widerwille ber
Gemeinden veranlaßte jedody die Zuruͤcknahme des Entwurfes, weshalb
aus bort die Presbyterien beftehen, wo fie früher von den Gemeinden
bereit® gewählt waren. (Bergl. Nietbammer, öffentliche Nachricht
von der erſien Verſammlung der Generalſynoden der proteftantifchen
Rice in Baiern dieſſeits des Rheine. Suizbach, 1824.) Die ver-
eingelten reformicten (Bemeinden haben Presbpterien mit einer mehr
feibfiftändigen Wermögensuerwaltung. — In veränderter Form erſcheint
die Verfaffung jenfeit des. Mheins, wo unter ber franzoͤſiſchen Herr⸗
ſchaft die Articles organiques die Grundlage gebitbet hatten. Seit ber
union im Jahre 1818 ift das Verhaͤltniß folgendergeftalt geordnet: Das
Üichlihe Regiment wird durch die Decane und das Gonfiflorlum in
Unterordnung unter das Oberconſiſtorium gehandhabt. Daneben befteht
aber eine Vertretung ber Kirche in drei Abflufungen: In jeder Gemeinde
beſteht umter dem Vorſitze des Pfarrers ein freigemähltes Presbyterlum
als Behörde für die Verwaltung des Kirchengutes und die Beaufſichti-
guug bes fittlichen und eligidfen Zuſtandes dee Gemeinde, Das zweite
Su dee Mepeäfentation ift die jährliche Diöcefanfpnode, deren geborene
Mitglieder die Geiftlichen find, während bie weltlichen bucd das Con⸗
ſiſtorium auf-einen von jebem: Presbyterium erfolgten Dreivorfchlag er⸗
Kicche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 355
md 5 bi Entfheitung * —F Rellgionsfaͤue, Bud
——— —— —— — |
—— — bie Verwaltung ben Tender rien —— —
tragen, haben bie Gonfiforkn weder Reetige m nod) freiiiiiige
e Verbindung ber
td Dutch w Ertperntendenten und Gentoren 2 von denen
bit: Eeptedem in der Regel über zehn Bemeinden eine untergeschnete
% WE den Wandel und bie Amtsfährung der Prediger und
unb Aber bie Ktechenzuche führen, während den Erſteren das
de Canbidaten des Predigtanıtes, die Ordination, SInveflitue
und: Eiehkfeung bee Prebiger, die Einweihung neuer Vethdufer mb
bie —— find. (Vergl. die von ber k. k. —— — im
Enverſtaͤnduiſſe mit der Studtenhofeommilfion an die niederoͤſtetr. Mes
gierung dm 26. Sanmar 1830, an die Abrigen Laͤnderſtellen am 28.
Senmat 1881 erlaffene Inflenction bet Lippert, Annaten Des KR. Bo.
W. S. 191.) Die Drganifatton der Gemeinden b —— —
Tenahe⸗ an der (der politiſchen Landesſtelle in hoͤherer
Pe Guͤrerverwaltung, für welche jede Gemeinde einige Eeten
tet Die — iſt gegenwaͤrtig dergrſtalt geordnet, daß
die: Gemeinden drei Gandidaten dem Eonftſtorlo praͤſentiren und aus
biefen wählen, fobald gegen keinen eine Einwen folgt iſt. Khein⸗
wald, Meer XVII. 88.) — die Möglichkeit dee Synoden
— und beſtimmt, daß das in dem geeigneten
Falle von der —— die Genehmigung zu erbitten, dann aber
Rede ns er im At, In in —— — ——
aaten,
Aufl. Wien, 1827.) Eine fehr eigenthümtiche Verfafſung hat die evan-
36 Kicche in eiebenbärs en. Auch bier I} der oben angeführte
Srundfas aber die Verfaffung iſt confoltbieter und ents
halt will wiehe: ſa feele Bewegung. (WBergt. bie Notizen bei
RheinwWeaid. Sb. XXUE S. 81. 178.) Fir Ungarn endifdh befiche
ein. Generalinfpectoran in Peſth für die augkburgiſchen Gonfelfionsver-
wänbtin ; bie h [hen Jaben bagegen keint Gontroiftelle, fondern nur
er Obercon "Hit jedem ber vide MWegiefe. Eudüch fügen wir am
Saar Vieles Abſchnittes (nach Rbeinwaib im angef. Repert.)
Wh inlge Nachwriſungen über die gegenwaͤrtige Verfaffung ber evan⸗
—— in —— 2 — wie dieſe durch die Kirchenord⸗
9 R
* ſig — ale —** : Daffetbe —* feföftftän»
356 Kirche, Kirchenverfaſſung, evangeliſche.
Liturgie Sachen, und über Caſſation, Remotion und Guss
penfion der Prediger, während es in Adminifkativangelegenheiten von
dem Minifterium des Inneren, in pecuniären Sachen von dem dirigirenden
Senate abhängt, Alle Mitglieder der Conſiſtotien werden auf den
Vorſchlag der Confiftorien felbft (Petersburg umd Moskau) oder ber
Notabeln und der Geiftlichleit der Provinz duch; das Minifterium ber
ſtaͤtigt; die Präfidenten ernennt der Kaifer auf einen: dhnlihen compli>
cirten Vorfchlag, ‚eben ſo wie die Superintendenten, Die dem Lepteren
untergeordneten Pröpfte werden dagegen don den Predigern des Be—
stets gewählt. Für die Fortbildung der Geiftlihen beſtehen Spnoden
in den. Gonfiftorialfprengelnz von Zeit zu. Zeit follen jedoch auch Gene ⸗
salfpnoben von geiſtlichen und weltlichen Mitgliedern gehalten werden,
damit die Regierung zuverläffige und ausführliche Kenntniffe von den
Beduͤrfniſſen dee Kirche und den möglichen Mitteln der Abhülfe er»
halte. — Ein Wahirecht der Gemeinden beſteht nicht, wohl aber iſt
den Iegteren geflattet, innerhalb wiergehntägiger Friſt einen für fie err
nannten Geiftlihen zu tecuſiten. Endlich beftehen in den ſtaͤdtiſchen
Gemeinden für die Vermögensverwaltung befondere Kirchenvorfkinde, in
ben Landgemeinden fogenannte Bauerkirchenvormiinder, deren Beſtimmung
namentlich auch die fittliche Controle der Gemeinde ift. Die litthau⸗
iſchen reformitten Gemeinden haben ſchon feit dem 16. Jahrhunderte
eine Synodalv⸗ 19- Jaͤhrlich werden eime ober zwel Spnoden ger
halten; ein die Verwaltung leitender Ausfhuß iſt feit 1831. zugleich
tichterlihe Behörde für die Eheſachen. Die reformitten Gemeinden in
Riga, Mita, Petersburg und Moskau find den Gonfiftorien unterges
benz doc werden im ihren Angelegenheiten anftatt der (uthecifchen Geifts
len, rormisegeti unb. meiste: Beifker beigonen.
| Kirche, airchenverfaffen, evangeliſche. 87
einen Biſchof mit beſtimmten kirchlichen Functionen. Auch hier iſt bie
kirchliche Berwaltung und Geſetzgebung in ben Händen Iandesherdicher.
. Behörden, ohne eine andere Vertretung dee Gemeinden als bie, welche
in den im Jahre 1818 für die Theilnahme an der Vermoͤgensverwal⸗
tung und Mitforge für das Aeußerliche des Gottesdienſtes und ber Kir⸗
chenzucht errichteten Kirchenvorſtaͤnden fich Außer. Der Landesregierung
aber iſt der Landesbiſchof beigegeben, als correfponbirendes Mitglied und
fländiger Referent für ale Disciplinarfachen und die Beſetzung ber
geiſtlichen Aemter. Sein Wirkungskreis befteht nach dem Edict von
1818 im der obern Aufſicht auf die evangeliſche Geiſtlichkeit, fo wie
alle kirchliche Inſtitute, und in der Mitforge für die Erhaltung und .
zweitmäßige Verwaltung des kirchlichen Vermögens, Beziehungen, in
denen er theils felbfiftändig verfügt, theils an bie Landesregierung, als
bie ihm unmittelbar vorgefegte Behörde, berichtet. Diefes Legtere gefchieht
namentlich in folgenden Verhaͤltniſſen: 1) bei beabfichtigter Veränderung
der beftehenden Pfarrbezirke; 2) wegen Errihtung neuer Pfarreien;
9) bei Befegung erledigter Pfarreien, Decanatsfiellen und der Profeſ⸗
furen am theologifhen Seminar; A) bei außeorbentlichen Befoͤrderun⸗
gen oder fonftigen perfönlihen Auszeichnungen für folche- Beiftliche,
welche ſich durch ausgezeichnete Standesbildung und tadellofe Pflicht
treue berfelben wuͤrdig machen; 5) bei Penfionirung dienſtuntauglich
gewordener Geiſtlichen und der Anftelung und Beſoldung von beren.
Vicarien ; 6) bei Ausweifung unmwürbiger Canbidaten aus dem theologts
fhen Seminar und dem geiftlichen Stande; 7) bei Suspenfion unb
Dienftentfegung der Geiſtlichen wegen Dienfts ober Standesvergehun⸗
sen; 8) bei Zufammenberufung von Generals und Gpecialfpnoben ;
9) bei Veränderungen in der Liturgie und ber Einführung neuer all»
gemeiner Religionslehrbuͤcher. Nach der eingeführten Praris werden in
Betreff dieſer Gegenſtaͤnde auf Befehl des Landesheren eigene Commiſ⸗
Bonen nach vernonnmenem Gutachten des Biſchofs von ber Landesre⸗
sierung ernannt, und deren ebenfalls von dem Biſchofe begutachtete
Arbeiten von berfelben bem regierenden Herzoge zur weiteren Entſchlie⸗
ung vorgelegt. (Otto, Nafl. KR. ©. 38 ff.) |
Durch die Vergleihung dieſer Verhältniffe mit benen anderer evan
gelifcher Ränder ergibt fi, daß der bifchäfliche Wirkungskreis hier jenem
bee Beneralfuperintendenten faft ganz analog ift, während bie naufs
Pe Decane durchaus die Superintendenten anderer Länder repraͤ⸗
entiren. '
Viel mehr In den Lanonifhen Kormen hat ſich dagegen das
ſchoͤſtiche Amt in ber .anglicanifchen Kicche erhalten. Hier ift ber
nig das Oberhaupt der Kirche, welches, als Stellvertreter Bottes auf
Erden, in bem Eicchlichen Gebtete für feine Gewalt keine anderen
Schranken hat als das Wort Gottes, die Bewohnheiten und Gefehe
bes Reiches. ‘Seine Gewalt tft der päpftlichen ganz analog und ver»
breitet fich nach allen den Richtungen, in welchen bie letztere zur Zeit
Der Reformation ausflcahlte. In ihe alfo iſt begriffen Die gefehgebende
*
=
.
*
860 Kirche, Kicchenverfaflung, evangeliſche.
Franeof., 1611), dann bei Carpzov als entſchieden zur Grundlage
einer beinahe zu kanoniſchem Anfehen gelangten Darftellung des Kir
chenrechts gebraucht, endlich namentlich in ben angeblid von Fr. &
v. Mofer, in Wahrheit von bem fürftlich » veußifhen Regierungsrathe
Bretfchneider verfaßten vertrauten Briefen über das proteilantifche
geiftliche Recht (Srankfurt, 1761) und neuerdings wieder in der Schrift:
Ueber das bifchöfliche Recht In der evangelifchen Kicche in Deutfchland
(Berlin, 1828) vertheidige. In der That findet fie einen Außerlichen
Haltpunct in dem flehenden Sprachgebrauche der Reichs⸗ und Landess
gefege, welche den Umfang ber landesherrlichen Kirchengewalt mit dem
Namen eines jus episcopale bezeichnen. Aber weder über den Umfang
noch über den legten Grund biefes Mechtes ift man ſich genügend klar
geworden, ein Urtheil, welches auch bie erwähnte neueſte Vertheidigung
trifft, die zunaͤchſt nur durch den Erweis der Thatſache geführt wird,
daß das Epifkopalrecht durch die Reformation in die Hände ber Re:
genten gelommen und als ein von der Landeshoheit verfchiedenes Recht
betrachtet worden fei. Zuvoͤrderſt nun muß in diefem fogenannten Sys
ſtem das Vorhandenſein eines Grundirrthums anerkannt werden, wel⸗
cher darin gelegen iſt, daß der Grund und das Weſen der landesherr⸗
lichen Kirchengewalt durch die in dem kanoniſchen Rechte geregelte Ge⸗
walt der katholiſchen Biſchoͤfe erklaͤrt werden ſoll. Die Lebensordnung
der evangeliſchen Kirche beruht auf ſo ganz verſchiedenen Grundanſich⸗
ten, daß ſie da, wo es ihrem Kern und Mittelpuncte gilt, durchaus
nur aus ſich ſelbſt erklaͤrt ſein will. Aber weiter iſt noch dieſer Vor⸗
ſtellung entgegenzuhalten, daß aus der Suspenſion der biſchoͤflichen
Gewalt nicht die Devolution auf die Landesherren gefolgert werden
darf, und daß zu einer Uebertragung des Epiſkopalrechtes auf die Letz⸗
teren dee Kaiſer und die katholiſchen Reichsſtaͤnde niemals für berech⸗
tigt gehalten werden konnten. So laͤßt es denn gerade das, um was
es ſich zuletzt handelt, den Grund der Berechtigung ber Lanbesherren
voͤllig unerklaͤrt, und wenn auf der einen Seite zugeſtanden werden muß,
daß es ein Moment der Wahrheit in ſo fern in ſich traͤgt, als es das
Verſchiedenſein der landesherrlichen und kirchlichen Gewalt behauptet,
ſo iſt auf der anderen doch wieder anzuerkennen, daß die Begruͤndung
dieſes auf dem unmittelbaren Bewußtſein der Wahrheit ruhenden Sa⸗
tes nie mit feiner Huͤlfe gelingen wird. In der That iſt dadurch,
baß man dieſes Mangels inne gerworden, ein anderes Syſtem hervor»
gerufen worden, das wir, weil ed die Zerritorialgemalt als Quelle der
a nBewalt betrachtet, mit bem Namen des Territorialſyſtems bes
zeichnen. Ä
Von Spinoza abgefehen, deſſen ber chriftlihen Gemeinfchaft
entfrembeter Standpunct uns ein näheres Eingehen verbietet, finden
wir diefe Vorftelung tm Gefolge einer. eigenthümlichen philofophifchen
Auffaffung des Rechtes bei Hobbes, der, ausgehend von der Unums
ſchraͤnktheit der koͤniglichen Gewalt, auch das geiftlihe Regiment als
in diefem mit Nothmendigkeit . begriffen. betrachtet. Won dieſem Ges
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360 Kirche, Kirchenverfaſſung , evangeliſche.
Francof., 1611) dann bei Carpzon als entſchieden zur Grundlage
einer beinahe zu kanoniſchem Anfehen gelangten Darftellung des Kir
chenrechts gebraucht, endlich namentlich in den angeblid von Fr. C
v. Mofer, in Wahrheit von dem fuͤrſtlich- reußiſchen Regterungsrathe
Brerfhneider verfaßten vertrauten Briefen uͤber das proteftantifche
geiſtliche Recht (Frankfurt, 1761) und neuerdings. wieder in der Schrift:
Ueber das bifchöfliche Recht in ber evangeliſchen Kirche in Deutſchland
(Berlin, 1828) vertheidigt, In der That findet fie einen aͤußetlichen
Haltpunct in bem ſiehenden Sprachgebrauche ber Reichs- und Landes-
geſebe, welche den Umfang ber landesherrlichen Kirchengewalt mit dem
Namen eines jus episcopale bezeichnen. Aber weder. über den Umfang
noch Über den letzten Grund dieſes Rechtes ift man fich genügend ar
— ein Uttheil, welches auch bie erwaͤhnte neueſte Vertheidigung
teifft „. die nut durch dem Erweis ber Thatſache geführt Bahr
daß. das Epiſtopaltecht ducch die Reformation in die Hände der Ri
genten gekommen und als ein vonder Landeshoheit verſchiedenes Recht
- betrachtet worden ſei. Zuvoͤrderſt nun muß ‚in biefem fogenannten Sp:
ſtem das Vorhandenfein eines. Gtundirrthums anerkannt werden, wel ⸗
hen, datin gelegen iſt, daß der Grund und das Weſen der landesherr⸗
lichen Kirchengewalt durch die in dem kanoniſchen Rechte geregelte Ges
walt der kathollſchen Biſe erklaͤrt werden ſoll. Die Lebensordnung
der evangeliſchen Kirche beruht auf fo ganz verſchiedenen Grundanfichs
tem, daß ſie Da, wo es ihrem Kern und Mittelpunete gilt, durchaus
nue aus ſich ſeloſt erklaͤrt ſein will. Aber weiter iſt noch dieſer Vor⸗
ſtellung entgegenzuhalten/ baf aus ber Suspenfion der biſchoͤflichen
Gewalt nicht. bie-Devolutiom auf die Landeshetren gefolgert werden
darf, und daß u ‚einer, Urbertragung bes 3 Epiftopalcchtes auf die Letz⸗
ic Uran BL ns Ben
Kirche, Kirchenvetfafſung, evangelifche. 861
fichtspuncte aus ſtellt er das Anfehen ber heiligen Schrift auf das
Adgerkenntuiß des weltlichen ‚ und macht dieſen zum (Ber
fegncber Im Biaubonsgehistn,, fo bet ihm fi E Dann geherät been
> meilberee Mädhtnng begränbete Das Zerrftriaifoftem Hugo de Grow. I
nad) göttlichen: IB
Wille in dem Dienfchen ein einheitlicher fei, fo muͤſſe auch in dem
Staate nur Ein al
echte feibfl , nicht aus dem Begriffe und Weſen ber Kirche, ein Mer
fahren, durch weiches diefe Theorie in die Lage verfegt worden ift, fich
Pr Zerſtoͤrerin als kirchlichen Lebens bezeichnen laſſen zu mmäflen.
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me Büz Deutſchland eröffnet Thomafius (von dem Bechte
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feibe ft das Gollegialfpfkein, -meldes bie Kiche als: eine von
dem Staate verfhiebene, auf freie Willkaͤr gegränbete Geſellſchaft ber
trachtet. Im dieſer ruht alle Gewalt, als Collegialrecht (jas in sacra),
mur die Hoheitsrechte, jure eiren secra, zuſtehen. Die Grundzüge die⸗
fex Ant Anden wir fühon im Sabre 1688 tn einem —ã
862 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche.
Wittenberger Theologen (bei J. H. Böhmer, J. E. P. I. 31.85.49),
dann aber namentlich bei reformirten Schriftſtellern, insbefondere bei
dem Genfer Prediger Blondel in einer Schrift de jure plebis in
‚regimine eccles. (Paris,, 1648), und in den Scholien zu der oben an-
geführten Schrift des Hugo de Groot. Gpäter ift'e6 von Jäger,
aber nody umfaffender von dem beshalb zuweilen mit dem Namen bes
Erfinders geehrten Pfaff in ben „Orgines juris eccl.“ (1720) behan-
deit worden, unb ſeitdem hat es nicht allein unter ben Philofophen
und Theologen, fondern auch, wiewohl nicht in gleichem Maße, bei
den Juriſten oft als eine über allem Biwelfel erhabene Wahrheit gegol⸗
ten. Im feiner ganzen Nacktheit und Duͤrre liegt e6 unter Anderem i
dem, man weiß nicht warum, noch immer nicht vergefienen Kicch
von Wiefe, und in dem gar nicht ſehr philofophifchen, na⸗
türlichen Kiechenrechte⸗ eines bekannten Phitofophen vor. Einen Mer-
theibiger Hat es zulegt noch in Scheidler gefunden (in Pölig’
Zaprbücern 1885. V). Aber man follte von biefem Syſteme dedy um
dee Wahrheit willen ſich abthun; bemn wenn es auch gefagt werben
muß, daß die ihm unterliegende Anfiht von ber Gelbfiftänbigkeit ber
Tichlichen Lebensorbnung bie rechte fet, fo muß doch zugleich auch zur
gegeben werden, daß es ber Kirche ihren Lebensgeund entziehe, indem
«6 biefelbe aus der menſchlichen Wilikuͤt hervorgehen läßt, da fie doch
ihre göttliche Sendung hat, und daß es außerdem auch auf einer Noth-
tüge berube, indem ‚die behauptete Uebertragung ber Gewalt von
dem Staate auf bie Kirche noch niemals hat Lönnen erwiefen werden.
Die zerfahene Ratur des evangelifhen Kirchenrechts iſt durch dieſe
Auffaffung, bie freilich nicht Holtet, fondern mit einer analogen Ent-
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Rechte allmaͤlig koͤmmen werde
hingeben, wollen wir doch nicht
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366 Kirche; Kiehenverfaffängewängeifgpe Kirchenſtaat.
Presbpterien micht allein getham iſt, daß vielmeht der rechte chriſtliche
Stmr, die Wal es iſt, welche frei macht.
* Bullegt "wie noch die Frage nach dem Verhättniffe der Kirche
zu dem wicht in Ihr ſtehenden Landesherrn einer kurzen aͤgung zu
unterſtellen Eine tn der neueren Zeit hin und wieder gangbar gewor⸗
dene Auffaſſung ſchreibt / wie wir oben anführten, auch hier dem Lane
desheren das biihöfliche Recht zu. Aber abgefehen von den Einwuͤr⸗
fen, welchen diefelbe von der hiſtoriſchen Seite her unterliegt (vergl.
DU. „Biſch of“) iſt diefelbe mit dem Wefen ber Kirche völlig uns
vereinbar, denn dies menſchliche Ordnung, deren die Kirche bedarf, iſt
von ber Lehre micht 1 wenn fie nicht ein Auferliches und
darum bedeutungeloſes fein fol. Sie ſebt alſo da, wo fie in
ihrer Höchften Spige ausgeht, das Bekenntniß zu dieſer mit Mothe
wendigkelt voraus: Der katholiſche Landesherr alfo, der die ewangeli:
’ feinem Standpunete aus verdammt, kann
r die bewußte Vermittelung der
Staates iſt im feiner Perfon nicht mög:
üſſe ſollte daher die Kirche in die Reihe der
Corporatlonen treten und ihre Ordnung durch ihre eigenen frei gewaͤhl⸗
ten’ Mitglieder handhaben duͤrfen, das Recht des Staates abet auf die
befcheänke fein, ein Begriff, der
das 8 haͤt iſch anders entwickelt, wie im einzelnen deut:
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368 Kirchenftaat.
eine vergleichende Statifti der Bewegung der Bevölkerung von 1829—
1838 ergibt für diefe Stadt ein durcfchnittliches Werhältnig der Ger
burten zu den Todesfaͤllen wie 10: 26 oder monatlid etwa 389 Ges
burten und 711 Todesfaͤlle. Hauprfächlic iſt dieſes die Folge ber
mal’ aria ober aria cattiva, der befonder6 vom Juni bis Ende Aus
gufts hoͤchſt verderblichen Luft, die nad) der gewöhnlichen Meinung in
den benachbarten den und fumpfigen Gegenden, in ben fogenannten Das
remmen, ſich erzeugt. Diefe moͤrderiſche Luft, wodurch das weltbeherts
chende Rom zu einem langfamen Tode, zu einem gliederweiſen Abs
ſterben beftimmt ſcheint, dringt von Jahr zu Jahr immer tiefer in das
Innere der Stadt. Es fehle an Menfchen, um durch Urbarmachung
der Umgegend ihren Fortſchritten zu wehren; und daß es daran fehlt,
iR die Schuld der geiſtlichen Gorporationen und ber weltlichen Ariftos
®ratie, die ſich weit umher in den Beſitz alles Grundeigenthums gefegt
hat . Schon in der vordprifttichen Beit, fo wie im Mittelalter, trat
das Beſtreben der roͤmiſchen Ariſtoktatie ſichtbat hervor, durch Auskauf
der aͤrmeren Beſitzer immer größere Güter an ſich zu bringen. In der
neueren Zeit iſt diefes Im tweiteften Umfange gelungen. Wenig geneigt,
auf eigene Rechnung und durch größere Sorgfalt eine beffere Gultur
bes Bodens herbeizuführen, hielt fich vielmehr biefe Ariſtokratie an die
bequemfte Art der Benugung und verwandelte die Gegend ringe ums
her in Weideland, worauf fi wenige Hirten in wildem und hafbnos
madiſchem Leben umbertreiben. So wurde das Land zugleich dde, uns
gefund und entvoͤlkert, weil mit der abnehmenden Zahl der Grundeis
genthümer auch bie de übrigen Bewohner ſich verminderte. Und fo
ift es gelommen, daß in den vier naͤchſten Provinzen um Rom, auf
einem Flaͤchenraume von 1000 iralleniſchen Quabratmellen, bie Be
Kirchenftaat. | 869
Kirchenſtaate. Das weife päpftliche Decret blieb unvollzogen, und aud)
fpäter war. man forglos genug, nicht die geeigneten energifchen Maß⸗
. segeln gegen das tiefer einreißende Werberben zu ergreifen *).
Unter. bie Latholifche Bevoͤlkerung bes Kirchenflnates zerſtreut,
hauptſaͤchlich aber in einigen größeren Städten und nahe zur Hälfte im
Rom felbfl, leben eima 10,000 Juden, gegen bie ſich die Politik des
heiligen Stuhles meift duldfam bewieſen hat. Verhaͤltnißmaͤßig ziem⸗
lich ſtark iſt die ſtaͤdtiſche Bevoͤlkerung des Landes. Der Kirchen⸗
ſtaat hat 8 Staͤdte und 190 Marktflecken. Neunzehn Staͤdte haben
mehr als 10,000 Einwohner; naͤchſt Rom find Bologna, Peru:
gia und Ravenna, mit nahe 30,000 bis zu 70,000, am Stärkiten
bevölkert. Bei einer Gefammtpopulation von 2,471,600 im Jahre
1827 wurde, nach Abzug von etwas über 624,000 Kinder beiderlei
Geſchlechts, die Claſſe der Aderbau und Viehzucht Treibenden auf
1,176,000 geſchaͤtzt; bie der Induftriellen und Commerciellen auf etwa
692,000. Hierzu famen etwa 25,000, die freie Künfte und Profeſſio⸗
nen trieben; 21,500 Soldaten und Seeleute; und endlich bie fehr
zahlreiche Weltgeiftlichleit und Ordensgeiſtlichkeit beider Geſchlechter mit
mehr als 53,400 Individuen. Noch in der neueften Zeit fcheint ber
Clerus im Zunehmen; wenigſtens gilt diefes, nah Bowring’6 Ta⸗
beilen, für die Stadt Rom, wo im jahre 1825 die Geiſtlichkelt
4,938 Individuen zählte, im Jahre 1835 aber 5,273 **).
Die Berge bes Landes haben noch hier und da reihe Waldungen,
die aber nur wenig benußt werden. Sie liefern, ſchoͤnen Marmor; auch
zeigen fie Spuren von Metallen, aber von eigentlihem Bergbaue weiß
man nichts. Ein Theil des Bodens ift feuchtbar an Getreide aller
Art, feinem Obſte und Suͤdfruͤchten, Dliven, vielen und guten Wels
nen und Maulbeerbaͤumen. Aber der Landbau, ob Ihn gleich die Roͤ⸗
mer, wie ihre Vorfahren, noch immer jeder anderen Beſchaͤftigung vor«
ziehen, iſt vernachlaͤſſigt. Nur in den nächiten Umgebungen größerer
Drtfchaften wird bie Fruchtbarkeit des Landes fo benugt, wie fie es
verdient, und von künftlicher Bewaͤſſerung, die Im füdlicheren Klima
fo befonders nothwendig ift, weiß man wenig oder nichts. Bon bem
gefammten Areal ift nur etwa ein Drittheil angebaut. Den Werth
dieſes Culturlandes fhiägt Bowring, fo wie Serriſtori In feiner
neuen Statiſtik der italienifchen Staaten, auf etwas über 164 Millios
*) 3u . DE ’ER b die © Italien se. b.
Gamıpe, —S — a one Ki sur —— gl
tigue, T. 2. 1838, wo ber Werfafler zugleich feine Worfchläge für Beſei⸗
— de instte mie a zo
n er wird auf 1824 und bie ber Nonnenkid
auf 612 angegeben. — ſteigt der Iefuitenorden, thaͤtiger als Fehler,
wieber empor. Doc find Ihm ſowohl bie Weltgeiſtlichen, als bie Drbensgeift-
lichen, unter biefen befondess bie Dominicaner‘, nicht fehr freundlich gefinnt,
und die Jefuiten bei der Maffe bes Volkes nicht fehr beliebt, während ihnen bie
Weltieute aus den höheren Ständen befonders anhängen.
GStaats⸗Lexikon. IX.
. Kicchenfaat.
nen Scudi an*). Am Sorgfättigften wird Diivenbau, fodann Rinde
viehzuche und Schafzucht betrieben. Zum Zwecke der legteren bleibt
der größte Theil des Landes brach liegen und wird zu Biehweiden ber
nugt. Und weil meiſt fehr toeite Strecken zu einem Gute gehören,
findet man auf dem Lande Feine eigentlichen Dörfer, fondern bios eins
zelne Rittechöfe (Casali) zwiſchen Einoͤden **). Der Gewerbefleiß ſtehet
auf niederer Stufe und der Handel iſt nicht ſeht bedeutend. Der Werth
der jährlich eingeführten Waaren belduft ſich nach den Regiftern der,
Dogana auf 6,986,000, der Werth der Ausfuhren auf 5,088,000
Seudi. Bei legteren find indeß die Einnahmen aus dem Verkaufe
von Kunftfahen nicht in Anfchlag gebracht. Erſt feit einigen Jahren
ift in Rom einer Handelskammer, der erfien und einzigen im
Rande, die befondere Ueberwachung der commerciellen Angelegenheiten
Übertragen. Sodann ift dafelbft durch eine auf eine gewiſſe Reihe
von Jahren privitegiete Gefellfchaft eine Bank errichtet, die mit Pris
vatcapital Wechſelgeſchaͤfte treibt, fo wie gegen Pfänder von Gold,
Silber x. Darlehn vorſchießt. Auch befinden’ ſich Pfandhäufer in den
größeren Städten, von denen ber roͤmiſche Monti di Pieta, ber jaͤhr⸗
lich über 250,000. Scubi disponiet, das bedeutendfte iſt. Eine reihe
Quelle des Einkommens, befonders für Rom felbft, ift die große Baht
dee jährlich zuftchmenden Fremden aus allen Ländern Europas, wie fie
theils müßige Neugierde, thells höhere Motive dahin führen. Noch
jegt ift Rom, mo befonbers in veligiäfer Mufit und in Bildnerei das
Höchfte geleiftet wurde, die erfte Kunftfchule Europas und mit feinen
unermeßlichen Schägen der Vergangenheit ein weites Geld für die wifs
fenfchaftliche Forfchung: Aber die Römer, die früher mit der Weit: ihr
Kirchenſtaat. 371
betrieben. In der Stadt Rom gibt es jet gegen 50,000 Eigenthum ⸗
lofe. Das Beduͤrfniß ſelbſt hat zahlreiche Hilfsanftalten entfliehen lafs
fen; aber bie ungemeine Ausdehnung berfelben zeige nur und erhöht
fogar bie Größe des Uebels, ohne ihm abhelfen zu Lönnen. Die Sums
men, worüber bie Wohlthaͤtigkeitsanſtalten in Rom verfügen, uͤberſtel⸗
gen beträchtlich diejenigen, welche Paris zu ähnlihem Zwecke ver-
wendet. Der Stadt ftehen dafür 820,000 Scudi, theild aus froms
men Stiftungen, theil® aus ber Teforeria, zu Gebot. Davon koms
men 132,000 den breisehn Geſellſchaften zu Gute, welche von 1400
Maͤdchen, bie ſich jährlich in Rom verheirathen, nicht weniger ale
1000 ausfteuern. Auch der Papft laͤßt jährlih 30 — 40,000 Scubi
unter die Armen vertheilen. Die 22 Krankenhaͤuſer, von denen 11 Prie
vatanftalten,, faſſen 4,000 Perfonen. Faſt eine gleiche Anzahl kommt
in den Sindelhäufern unter, wo aber dad Verhaͤltniß ber Todesfälle
zu ben Aufnahmen aͤußerſt ftart und wie 72: 100 ift.
Wenn Rom nod immer eine Schule der geiftigen Bildung iſt,
fo ift es dieſes mehr doch für das Ausland, als für das Inland, und
aud in intellectueller Beziehung ſcheint endlich bie frühere Weicherrfches
sin der Welt zum Sühnopfer fallen zu müffen. Am meilten Regfams
kelt herrſcht noch in der Kunſt; aber auch auf dieſem Gebiete It die
Schoͤpfungẽkraft mehr und mehr verfiegt und zur blofen reproduciren⸗
dem Kunftfertigkeit, fo wie ber Kunftfinn zuc weſentlich paffiven Faͤ⸗
higkelt geworben, mit feinem Tacte und richtiger Unterſcheibungsgabe
das einmal Begebene in's Auge zu fafien. Noch weniger vorwärts
dringend iſt bie Literatur, die weſentlich nur auf Betrachtung der Ders
gangenheit gerichtet bleibt. Am Schlimmften fieht e8 mit der periodi⸗
ſchen Preffe aus. Won allen Städten Europas hat Rom verhältniße
mäßig bie wenigſten Beisihriften; es befige erſt feit 1834 eine Are
Mennigmagazin und hatte bis in die neuere Zeit nicht einmal ein um«
fafſendes Intelligenzblatt. Doch wird in den legten Jahren audy hier
meh gefefen als fonft, and wo man früher nur eine Beitung in den
fand, werben: jegt mehrere theils italleniſche, theils frans
aufgelegt. Der Volksunterriht im Kirchenſtaate iſt
Ale Nachtheile, die ſchon unter „Italien“ an dem
Schyulmwefen: diefes Landes gerügt wurden, finden
Grade. Sehr charakteriſtiſch iſt es für den
em Oberhauptes der. Sacholifchen Kirche, deſſen
en auch eine geiftige war, bag im
nieht, mehr als 110,000 Scudi, ettoa 7, der
Öffentlichen Unterricht, Künfe und Handel aus:
"bfeibt dieſes ein auffallendes Mißverhaͤltniß,
mſtalten mit befonderen Dotationen
Elementaruntereicht liegen Feine genaueren
allen in Rom 372 Elementarſchulen mit 482
bie Zahl der Schuͤler auf etwa 14,000 belau⸗
bemerki richtig, wer den Auftend der unteren
873 Kirchenftaat.
Volkoclaſſen im römifhen Gebiete kenne, muͤſſe mit Grund ſchließen,
daß es um das Schulweſen ſchlimmer fiehe, als in den anderen italie⸗
nifden Staaten. Fuͤr den Secunbärunterricht kennt man 21 Colles
gien, unter der Leitung geiſtlicher Gorporationen; berfelbe Unterricht für
das weibliche Geſchlecht iſt ausſchließend den Nonnen anvertraut. Die
7 Hochſchuien des Kirchenſtaates haben eine Frequenz von je 200 bie
660 Stubirenden; dieſe legtere auf der in der Mitte des 13. Jahrhun⸗
ders vom Papfte Innocenz IV. geflifteten Univerfität zu Rom.
Die Mehrheit der Studenten find Juriſten, wie an den meiften Hoch—
ſchulen Itallens. Unter diefen fieben Univerfitäten, von denen nicht weni:
ger als 4 erft im Jahre 1824 gegründet wurden, ftehen denjenigen von
Rom und Bologna ſeht beträchtliche Bibliotheken von je 700,000 und
200,000 Bänden zu Gebote.
Vielleicht noch in höherem Grade, als bie anderen Völkerfchaften
Itallens, find die Römer mit Geiſtesgaben ausgeftattet. Vor Allem ift
ihnen ein lebendiger Schoͤnheitsſinn angeboren. Das Gewoͤhnlichſie
gefchieht mit Grazie- Bekannt ift, daß da und dort auf dem Lande
in der Nähe von Rom ein ausgezeichneter Menſchenſchlag und hoͤchſt
maleriſche Trachten zu Haufe find. Doch hat man bemerkt, daß feit
etron dreißig Jahren, mit dem fteigenden Elende unter den arbeitenden
Gtaffen , diefe Nationaltrachten und felbft die koͤrperliche Schönheit und
der Frohſinn des Volkes, fo wie feine Liebe zur Heimath, mehr und
mehr verſchwinden. Selbft wenn man Sonntags die Strafen von
Rom durchgeht, wo ſich hauptſaͤchlich die Landleute verfammeln, glaubt
man unter einen Haufen von Bettlern gerathen zu fein. Das Ber
wußtfein feiner Sähigkeiten, der Stolz auf feine Vorfahren, die Ber
trachtung der gewaltigen Werke bes Geiſtes und der Kraft ſeinet Ah⸗
Kirchenſtaat. 373
hauptung ihrer religioͤſen Wuͤrde der roͤmiſchen Hierarchie ſtets die Beob⸗
achtung gewiſſer Formen der aͤußeren Sitte vorgeſchrieben hat; ſo iſt
dieſes ſelbſt bis in die Maſſe des Volkes hinein nicht ohne Einfluß ge⸗
blieben. Die Sittenlofigkeit beobachtet wenigſtens einige Zuruͤckhaltung;
während in Neapel das Cicisbeat offen und ohne Scheu auftritt, wird
es in Rom verhüllt getrieben, und fo mag man überhaupt eine dußer:
lich anftändige Selbftfacht als die Seele des römifchen Volkslebens
bezeichnen. In den Gefängniffen des Kirchenſtaates befand ſich im Des
cember 1832 die nicht fehr beträchtliche Zahl von 2,708 Individuen.
Zum großen Theile erklärt fich diefes aber aus ben unvolllommenen pos
lizeilichen Anftalten, und um fo meniger wird man barin einen Maßftab
ber fitflichen Cultur fuchen dürfen.
Dem Stande und ber politifchen Bedeutung nach verfällt bie Bes
voͤlkerung des Kicchenftaates in Clerus, Adel, Bürger und Bauern. Der
eigentlich regierende Stand iſt die Geiftlichleit und in dieſer die im
Kirchenſtaate mwohnenden Mitglieder des Gardinalcollegiums, an ihrer
Spige der Papft, als der aus ihrer Mitte ernannte Wahlfuͤrſt. Das
Gardinalseoliegium beftand 1838 aus 5 Garbinalbifchöfen, 41 Cardi⸗
nalprieftern und 9 Gardinaldiatonen *). Das jegt vegierende Oberhaupt
des Kicchenftaates ift Gregor XVI., Papſt feit dem 2. Februar 1831. Dies
fe8 Oberhaupt vereinigt zwar alle Majeftätsrechte in feiner Hand; allein
jebee Cardinal, und folglich auch dee Papft, muß gewiffe Säge bes
ſchwoͤren, die zum Theil auf die Staatsregierung Beziehung haben und
hiernad als ein Staatsgrundgeſetz betrachtet werden koͤnnen. Ohnehin
iegt es in der Natur der Sache, und die Erfahrung hat es beitätigt,
daß faft immer die Päpfte dem politifchen Corpsgeiſte des Wahlkoͤrpers,
woraus fie hervorgegangen, unterworfen blieben. Darum bat ihr Xi:
tel: „servus servorum “* zugleich eine politifche Bedeutung, und die
Verfaſſung iſt als eine geiftliche Ariſtokratie zu charakterificen , die nach
dem Geſetze bes Coͤlibats nicht durch Geburt, fondern duch Wahl und
Weihe, eine Art von Adoption, nad) Unten und Oben ſich ergänzt und
gliedert. Auch die Vertheilung dev politifchen Gewalten, wenn fie gleich
nicht ganz genau nad) den Abftufungen der geiftlihen Würden ſich bes
mißt, laͤßt fih im Wefentlichen einer Pyramide vergieihen, die mit
ihrer Baſis ftets aus dem Volke ſich erneuert und dann bis zu ihrer
Spige, ber dreifachen päpftlihen Krone, aus fich felbit heraus im bie
Höhe fleigt. Denn weit die mwichtigften hohen und nieberen Staats⸗
Amter find im unmittelbaren Befige der Cardindle oder ihrer kirchlichen
Vaſallen. Namentlich ftehen die Cardinaͤle, als Präfidenten, nicht blos
den hoͤchſten Lirchlichen , fondern eben ſowohl ben oberften Verwaltungs:
und Juftizbehörden vor. Die jüngften ummdlzenden Ereigniſſe find in⸗
deffen auch für den Kirchenftant nicht ganz fpurlos vorübergegangen,
und befonders iſt feit der Sranzofenherrfchaft eine etwas genauere Schei⸗
m. — — —
*) Genealog.⸗ſtatiſt. Almanach. Weimar, 1839. Im Laufe bes Jahres
1838 kamen noch vier weitere Ernennungen hinzu.
374 " Kirchenftaat.
dung bes Geiſtlichen und Weltlihen eingetreten. Wenigftens fieht man
jest nicht mehr die Cardinaͤle unter hochrothen Schirmen und auf tvei-
sen Maulthieren die Truppen muftern, nicht in Gold und Scharlach
dem Lottofpiele vorſtehen. Durch dieſe Veränderungen hat ber früher
zuruͤckgeſetzte roͤmiſche Adel wieder einige pofitifche Wichtigkeit erlangt.
Biele Mitglieder beffelben befteiden jegt höhere Staatsämter. Unter
dem roͤmiſchen Adel befinden ſich mehrere Hauptfamilien, in Folge ber
Fideicommiſſe, noch jegt im Beſitze des größten Theites ihrer Ländereien ;
aber viele andere Familien find ſehr herabgekommen, und hiernach ift
der Adel, zugleih mit dem von ihm fo fehr beeinträchtigen Bauern:
flande, in Armuth und Unwiſſenheit verfunten. Won bem alten, auf
feine Abftammung hoͤchſt eingebifbeten, eigentlichen Feudaladel datiren
viele Familien, wie die Drfint, Colonna und andere ihre Ent:
ſtehung aus einer viel früheren Zeit, als ber Abel ber anderen europe
hen Staaten. Neben biefem Feudaladel bitben bie verſchiedenen päpft:
lichen Familien, als das Erzeugnig des Nepotismus, eine zweite, fo
wie die Emporlömmlinge des Hanbelsreihthums eine dritte unb bie
zahlreichſte Claſſe, die ſich jedoch meift mit der zweiten Glaffe ver»
ſchmolzen hat.
Zum Zwecke der Verwaltung ift der Kirchenſtaat in Delegatio-
nen getheilt, bie, wenn ein Garbinal für bie Regierung der Provinz
abgeorbnet iſt, Legationen heißen. Außer der Provinz Rom hat jest
der Kirchenftaat 6 Legationen und 13 Delegationen. Jedem Legaten
oder Delegaten if ein vom Papfte ernannter Adminiſtrativconſell vor
vier weltlichen Mitglledern, doch mit blos berathender Stimme,
beigegeben. Unter dem Delegaten fiehen in Polizeis und Verwaltungs:
ſachen die Goverwatoren der einzelnen Bezirke, Jede Gemeinde hat
Kirchenftaat. Kirchenvermögen, Kirchengüter. 375
richten beftehen noch in fünf größeren Städten befondere Handelstri-
bunale, ein jebes duch 2 Kaufleute und 1 Rechtsgelehrten gebildet.
An der Spige des in drei Divifionen getheilten Mititärflaates
fteht ein Kriegsminiſterium von 3 Generalen, unter dem Präfidium
eines Prälaten. Die Gefammtzahl der päpfllichen Truppen beträgt
gegen 19,000 Bann, morunter etma 4,000 fremde Soͤldner, befon-
ders Schweizer. Eine päpftliche Kriegsmarine exiſtirt nicht mehr.
Sn ſehr trauriger Lage befinden fich die Finanzen des Stanteb.
Nach einer Durchſchnittsuͤberſicht der lezten Jahre betragen die Koften
ber Finanzverwaltung beinahe 4 der DBruttoeinnahme, fo daß ſich das
veine Staatseinkommen nicht höher als 7,080,000 Scudi beläuft. Die
wichtioften Queilen deſſelben find die Landſteuer (3,280,000 Scubi
drutto); Monopole, Mauth und Tare für Lebensmittel (4,120,000 &c.
brutto); Lotterie, im Wruttoertrage von 1,100,000, im Meinertrage
aber nur von 350,000 Scudi (!). Die Ausgaben fteigen auf 7,934,000,
und das jährliche Deficit auf 354,100 Scudi. Won den Ausgaben
kommen auf das Militär gegen 2 Millionen ; auf bie öffentliche Schuld
nicht weniger als 2,680,000. Diefe Staatsfhuld, die ſich auch unter
Der Regierung bes jetzigen Papſtes wieder ſehr betraͤchlich vergrößert hat,
wird auf mehr als 83 Miliionen Gulden angegeben. Im Durd;
ſchnitte kommt jährlich die Auflage von 3 Scudi auf jeden Kopf, Ivo:
bei die Gommunal: und Provinzialtaren nicht in Anfchlag gebracht find.
Unter ber eben bemerkten Eingabe befinden fi nicht die zum größten
Theile aus fremden Ländern fließenden reingeiftlihen Einkünfte des
Oberhauptes der Eucholifchen Kirche. Allein auch diefe Geldauelle, die
noch im verfloffenen Sahrhunderte etwa 3,500,000 Franken abwarf,
fol jegt nicht mehr als etwa 14 Million ertragen.
Auch an die Spige der Verwaltung der Finanzen, der Polizei,
‚fo wie der auswärtigen Angelegenheiten find regelmäßig Prälaten ge:
fell. Der Geiſt der päpfttichen Politik dem Auslande gegenüber, felbft
die aͤußeren Formen bes diplomatifchen Verkehrs, find noch biefelben,
wie. vor Jahrhunderten. Aber die Waffen, momit fie tämpfte, Bann
und Inberdict haben, vom Mofte der Zeit angefreffen, ihre Schärfe
verloren. Man ift in Rom Hug genug, ihre Stärke nicht Teiche mehr
auf bie Probe zu fleflen. Und wenn gleich die Blitze des Vaticans
noch nicht völlig zu Theaterblitzen geworden find, fondern unter be:
fonderen. Umftänden wohl noch zu zünden vermögen, fo wird doch
jet eine umfichtige Politik Leicht den Ableiter entdecken, um fie un:
ſchaͤblich zu machen. | ©.
Kirchenvermögen, Kirhengüter. — I. Erwerbsfaͤ—
higkeit der Kirche*). So lange die chriſtlichen Gemeinden als Er:
zeugniß fremdlaͤndiſcher Superflition dem Geſetze fiber die verbotenen Col:
legia anheim ftelen, waren fie von dem Rechte, auf dem Boden des ih:
nen feindlichen Staates Vermögen zu eriverben , ausgefchloffen. Doch
*) Helfert, von bem Kirchenvermoͤgen. 3. Aufl. Prag, 1834. 2 Wbe.
376 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter.
finden tie ſchon im dritten Jahrhunderte das firenge Gebot durch die
Beit, oft wohl auch ducch die anbrechende Ahnung eines -großen Sies
ges bes Chriſtenthumes über die alten Götter gemildert; denn das Ebdict
des Licinius vom Jahre 313 befiehlt bie Zuruͤckgabe der chriſtlichen Kir⸗
hen und anderer ben Gemeinden gehöriger Güter (Lactant. de
mort. persec, 48). Später wandte der dem Chriftentyume mehr und
mehr ſich erſchließende Sinn Conſtantin's des Großen der Kirche reiches
Sut, namentlich auch eingegogene Güter heidniſcher Tempel zu; und
feit im Jahre 321 ein Gefeg das früher einzelnen heidniſchen Tem⸗
peln durch Senatsbeſchluͤſſe und kaiſerliche Gonftitutionen ertheilte Pris
dilegium der Exbfähigkeit audy Sen chriſtlichen Kirchen ertheilt hatte,
tar die Quelle erfhhloffen, aus welcher über das nun dußerlidy ges
wordene Reich ber weltliche Segen in reichen Maße herabftrömte.
Bon biefer Zeit an ift der Satz, daß die Kichen und Licchlichen Inftis
tute als juriſtiſche Perfonen bes Vermoͤgenserwerbes fähig feien, ein
anerkannter, auch in die neueren Gefeggebungen aufgenommene Theil
bes Rechts. Preuß. A.8:M. Il. 11. 193. — Baier. Concord.
%. VIII B.:U. Tit. IV. 59 und Edtet über die aͤußeren Verhältniffe xc.
Gap. IL $. 28. 31.44. — Bad. Gef. v. 1. Mai 1807. 6.9. u. a.).
— FSreilich hat es zu aller Zeit nicht an Stimmen gefehlt, welche zum
Theil unter Berufung auf eine bekannte Stelle der Schrift die Auss
ſchließung ber Kirche, als des innerlihen Reiches des Glaubens, von
weltlichen Beſitzthume gefordert und jene Verfügung bes Rechts ald den
Anfang einer durch alle Jahrhunderte fid, Hindurchziehenden Depravation
ber Kirche bezeichnet haben. So fehr aber auch die Geſchlchte zur Ans
erennung ded Moments ber Wahrheit zwingt, welches in biefer und
ähnlichen Behauptungen gelegen iſt, und fo wenig geleugnet werden
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 377
fche Recht angeorbnet, indem es beftimmt, daß ber Erbe von den einer
frommen Anftalt binterlaffenen Legaten nicht bie fogenannte Falcidiſche
Quart abziehen bürfe, daß bei ſolchen Vermächtniffen bie Nachtheile des
Verzugs, alfo namentlich bie Pflicht ber Zinſenzahlung, von felbft eins
treten, fobald ber Exbe innerhalb fechsmonatlicher Friſt von der Teſta⸗
mentseröffnung an die Auszahlung nicht bewirkt bat, und dag enblich
der mit dem Legate befchwerte Erbe das Doppelte leiften muß, wenn er
das Vermaͤchtniß entweder ableugnet, oder ohne Grund es zur gericht
lichen Klage kommen läßt. : Das kanoniſche Recht hat hierzu die weite⸗
cn, auch in dem bürgerlichen Leben gnerkannten Vergünftigungen ge⸗
fügt, daß ein Vermaͤchtniß zum Bellen ber Kirche vor zwei oder Drei
Zeugen gültig errichtet, und die Vollziehung, fo bald nur die Summe
feſtſteht, ganz in den Willen eines Dritten geftellt werben kann, und
ein ferneres, durch die Praris eingeführtes Vorrecht ift, daß, ſobald
ein Zeftament nichtig wird, dennoch die der Kirche hinterlaffenen Legate
aufrecht erhalten werden. (Vergl. Walter K.⸗R. 8. Aufl. $. 247.)
Auf der anderen Seite ift es jedoch möglich, daß, wie das übers
fließende chriſtliche Bewußtſein des Staates bie Wermögenserwerbung
durch bie Kirche nicht nur geſchehen läßt, fonbern felbftchätig fördert,
fo die Ruͤckſicht auf das Wohl des Staates eine Beſchraͤnkung ber Kir⸗
he berbeiführe. Verfuͤgungen ſolcher Art, welche bald für den Erwerb
beftimmte Grenzen ziehen, bald ihn von der Erlaubniß bed Staates ab-
haͤngig machen, finden ſich fhon im 13. Sahrhunberte; wie denn 5.2.
Kaifer Heinrich von Conftantinopel im Jahre 1208 verbot, daß bie
Kirche durch Kauf, Schenkung oder Vermaͤchtniſſe ıc. Grundſtuͤcke an
fidy bringe (Raumer, Gefchichte ber Hohenftaufen. VI. 135.). Aehnli⸗
hen Beflimmungen begegnen wir 3. B. für England im Jahre 1205
von Heinrih III., 1279 und 1285 von Eduard I, 1392 von Ri⸗
chard IL, für Flandern im Jahre 1293 von dem Grafen Guido, für
Brabant im Jahre 1312 vom Herzoge Johann, 1451 von Philipp
dem Schönen; in Deutfchland in einigen Städteprivilegien im 14. Jahr:
hunderte (3. B. fhon im J. 1306 in Augsburg, welchem das Pris
vilegtum verliehen wurde, daß bie Grundftüde dev Profehleiftenden nicht
dem Kloſter zufallen, fondern binnen Jahresfriſt an andere Bürger ver:
äußert werden follten [vergl. Mofer, von der Reichsftädtifchen Regiments⸗
verfaffung. 1772. S. 241 ff. und Hahn de eo, quod justum est
circa bonorum immob, ad manus mortuas translatione , mit den
Anm. des Derausg. in Schmidt Thes. jur. eccl. V. 664)). Sie füb-
ten feit dem 16. Jahrhunderte im Allgemeinen den Namen Amortifa-
tionsgefeße, weil durch fie bie Veräußerung an die „„tobte Hand“ (ad
manum mortuam) geregelt wird, ein Name, ben die Kirche deshalb
führt, weil in Folge der Verdußerungsverbote ihr Gut für ben allge:
meinen Verkehr abflicht. Das Moment, aus dem fie hervorgegangen,
iſt die Forderung dev Kirche, jebe neue Erwerbung fleuerfrei benutzen
zu dürfen. Aber auch jest, mo das Privilegium der Immunität we⸗
nigftens für neusrworbenes Gut als Regel hinwegfaͤllt, haben fie doch
380 Kirchenvermögen, Rirchengüter.
dem Miniſterlum des Inneren und der Juſtiz dann einzuholen, wenn
—— —
Erwerbungen ‚geringere Betrage Entſchließun er
eren ——— Kiechenrecht verbi⸗ Mr etet
34 —* fe. — Im Großhergogehum Wet
N — ſthum eis
—— = ke,
y nach dem Geſet vom 7. Detober 1823, — Dagegen bedarf
es a Herzogthum —— ngen u. 8.35 ber Ver.
faffungsurtunde zu, Annahme von und Stiftungen Bei:
ner ner Lnbeberiden Genehmigung , und dr en
undftücken und verforbechich
Ber die, altenburgiſche —— daß die Kirchen
liegende Gruͤnde von bebeutendem umd- binglihe Gerechtig⸗
maͤcht *
‚ken wir noch der Geſtaltungen des franzoͤſi—
ce Bean. —— —— vom Jahre 1749 hatte, wie es in dem
berühmten Gutachten d Staatsrathes Portalis über bie —
organiques heißt, (bei Dekan ‚Euftusgefeßgebung. Bd. I.
371), beftimmt: que toute fondation,. quelgue favorable que
Kichenvermögen, Kirchengüter. 381
Gisung bed gefehgebenden Corps vom 2. Flor. A. d. durch bie Er⸗
wägung metiniste, daß zwar das Bouvernement von ber Maſſe bes
Kirchengutes Kenntniß zu nehmen und jeben exces oomdamnable
ne — berechtigt ee, daß es jedoch wünfchenswerth ſei: que
Vesprit de bienfaisance r&epare lea pertes, que. oes #lablissemens
ont faites pendant la revolution. — Die Aufzählung der auf bie
fer Grundlage erlafienen: Geſetze, welche darlegen, baß die Articles
ihre Wirkſamkeit in dieſer Beyiehung fhon früh. verloren haben, lies
ft Hermens a. 0. D. © ASnsbefondere beitimmte das
de imperial conoernant in & v. 80. December 1809.
Les fondations, donations ou legs faits aux eglises oathédrales,
seront —— ainsi que ceux faits aux séminaires, par Pe
veque dioodsain, sauf notre autorisation donnee en conseil d’s-
tat sur le rapport de notre ministre des oultes.
I. Die Vermsgensſubſtanz. Die Kirchenſachen (im Als
gemeinen res ecclesiasticae) werben nach dem katholiſchen Kirchenrechte
in geweihte und in kirchliche Sachen im engeren GSinne geſchie⸗
den. Die erſten dienen zum unmittelbaren Gebrauche beim Cultus
und empfangen ihre Beſtimmung durch eine ſatramentaliſche Hand⸗
Img, weiche bald eine Conſecration iſt, wie bei Kicchen, Altaͤren,
Keichen und Patenen, bald eine Segnung, wie bei ben Bottesädern,
Stoden, Meßparamenten u. f. w. Begenftänden folcher Art legt das
Kirchenrecht den Charakter der Heiligkeit bei,‘ in befien Gefolge fie
aus ben Verhaͤltniſſen des weltlichen Verkehrs Heraustreten. Die
fogenannten Bichlichen Sachen im engeren Sinne find dagegen dem
Kirchenzwecke in mittelbarer Weiſe bienfibar, indem fie zur Beſtreitung
der dußeren Bebürfniffe der Kirche beftimme find. Die Rüdficht auf
dieſen Zweck bat zu mancherlei Beſchraͤnkungen In Beziehung auf die
Veräußerung geführt, aber nur in biefer Beziehung unterfcheiden ſich
die eigentlichen Kicchengüter von jedem anderen weltlichen Beſizthum.
Nach der befonderen Beſtimmung laffen fi unter ben legteren wie⸗
derum das — (peculium ecclesiae), aus dem ber eigentliche
lrchliche Aufwand beflzitten wird, und bie Güter und Einkünfte unter
fheiden, bie inebeſondere zum Unterhalt ber für ben Dienft ber Kirche
bleibend angeſtellten Geiftlichen beſtimmt find. Diefe bilden dann in
Ibert Totalitaͤt das Beneficum , bie Pfruͤnde (vergl. d. A.). Einzelnen
ber zu ihnen gehörenden Rechte, insbefondere dem Zehntredhte, fchreibt
allerdings das Eanonifche Recht die fpirituelle Natur zu, vermöge deren
fie von dem weltlichen Verkehre ſchlechthin ausgefchloflen, bie Laien zum
Erwerbe „unfähig fein follen; doch ift, wie im dem Artilel Behnten
——— ſein wird, dieſe Auffaſſung nie zu allgemeiner Anerken⸗
Pr elommen. — Die evangelifche Kirche hat Beinen facramentalis
itus, buch weichen bie unmittelbaren Werkzeuge bes Gottess
ir geheiligt werben, wenn fchon auch fie fr die letzteren bie ges
bührende, durch die Ahndung bed Staates geficherte —— fordere
Dagegen bat fie jene Verfügungen des kanoniſchen Rechts Aber bie
382 Kirchenvermögen, Kirchenguͤter.
Veräußerung des Kirchenguts beibehalten. — Zu den kirchlichen Sachen
werden endlich oft als dritte Art bie Güter ſolcher Stiftun—
Schulen und
Verhättniffes zu dem Stante, In deffen Folge monde Mobifis
eationen im der Verwaltung herbeigeführt worden find, ift auf die ber
treffenden Artikel ſelbſt zu verweifen. -
1. ‚Subject des Eigenthums. Rechte des Staates
aufdas Kirhengut. ‚Die wenn das Eigenthum am dem
zuſtehe, iſt eine der im Gebiete des kirchlichen
Rechts, und ſchon vor es man darüber im Bivrifel,
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Deeföntichteit.
ften, hierher ‚gehörenden Befehle betrachten als das Subject,
beigelegt ‚wid, b die einzelnen kiechlichen Gemeinden (5
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a
ir
AR ON m nich Ale Atsanam
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 383
ftändig auf, fondern fie werben in diefer Beziehung duch bie ihnen
vorgefegten Geiſtlichen repraͤſentirt. Ein aͤhnliches Verhaͤltniß findet
auch in ber evangeliſchen Kirche Statt. Mehr als in der katholiſchen
Kirche bat man. inmitten diefer bie Idee eines: Staatseigenthums ber
Kirchenguͤter geltend zu machen verfucht, wie es benn zu allen Zeiten
das Unglüd der evangelifchen Kirche geweſen ift, fofort jede ſubje⸗
ctive Anficht als bie ausſchließlich berechtigte auf ſich anwenden lafien
zu müffen; aber das Leben hat body die Wahrheit faft überall treu bes
wahre: Der Sag, daß das Eigenthum der Kirchengüter ben Gemein:
den und feldftfiändigen Inſtituten zuftehe, ift ein Theil des gemeinen
Rechts geblieben. In gleicher Weiſe iſt jedoch aud bie Regel aner⸗
kannt, daß das Recht der Gemeinden von dem Kirchenoberen ausge⸗
uͤbt werde. Haben aber hierin die Ideen des kanoniſchen Rechts ihre
Herrſchaft behauptet, was durch die Geſchichte der Reformation ſelbſt
in der einfachſten Weiſe ſich erklaͤrt, ſo dringt doch wiederum auch hier
der Grundzug der evangeliſchen Kirchenverfaſſung hindurch, denn uͤberall
werden die Gemeinden fuͤr berechtigt gehalten, ihr Recht am Kirchen⸗
gute felbſtſtaͤndig zu vertreten. Daß ſie ein ſelbſtſtaͤndiges Ver⸗
waltungerecht unter Aufficht ber landesherrlichen Behörden üben koͤn⸗
nen, ift unbesweifelt und in ben neueren Geſetzgebungen thatfächlid ans
erkannt (vergl. unten und den Artikel ‚„„Kirchenverfaflung, evangelifche‘‘),
weiche oft, wie wir unten zu erwähnen haben werben „ audy ben Rech⸗
ten ber Latholifchen Kirchengemeinden einen’ weiteren Spielraum eröff
net haben. Der Behauptung endlich, daß das Eigenthbum an bem
Mrchengute nicht ber Eirchlichen, fondern ber Civilgemeinde zuſtehe,
krauchen wir wohl nicht erſt befonders als einer unhaltbaren zu geden⸗
ten. Unter anderen finden wir fie in dem Avis du conceil d’Etat vom
2-6 Piuv. a. XIII., meiches die Stage: si les communes sont devenucs
proprietaires des eglises et presbytöres, qui leur ont et€ abandonnes
en exdcution: de la loi du 18 germinals a, X entſcheidet: que les dits
dglises et presbyteres. doivent @tre considerdes comme proprietes com-
munales (Dermens a. a. D. Bd. I. ©. 315). Aber fchon früher
hatte in Frankreich die Theorie der Kirche das Eigenthum an ihnen
abgeſtritten (vergl. 3. B. die Ausführungen in 1'’Esprit ou les prin-
dpes du droit canonique. Avign., 1760). |
Viel mehr beſtritten it die Frage über das: Eigenthum an den
Gütern. erloſchen er geiftliher Stiftungen, denn nicht weniger ale
vier Anfichten. kreuzen ſich bier, von denen bie eine jene Güter fort
während als kiechliche betrachtet wifjen will, die andere den Ruͤckfall an
die Stifter ober deren Nachkommen verlangt, bie dritte das fogenannte
Miteigenthum des Staates: in Alleineigenthum übergehen laͤßt, während
bie vierte. wie bei erblofen' Gütern den Deimfall an den Staat als die
rechtliche Folge behauptet (vergl. die literariſchen Nachweiſungen bei
Kluͤber, Staatsrecht $. 533). Bei der Entfcheidung diefer, nament⸗
lich bei Gelegenheit der Aufhebung bes Jeſuitenordens vielfach) durch⸗
geftrittenen Frage iſt zuvoͤrderſt von der Anficht, welche ein Eigenthum
m
384 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter.
der Lanbesliche oder ber algemeinen Kirche behauptet, völlig zu abs
ſtrahiren, da biefe, wie Eihhorn mit Recht fagt, als juriſtiſches Uns
ding betrachtet werben muß. Deshalb wird, da auch die zuerſt von
Hugo be Groot de jure belli et pacis II. 3. 19. aufgeftellte, dann
3. B. von v. Stock, Ausführung einiger gemeinnägigen Materien (Halle
1784) ©. 22 vertheidigte Theorie des Diteigenthums weder geſchicht ⸗
lich, noch auch aus dem Weſen des Staates fich rechtfertigen laͤßt,
zunaͤchſt hier wieder zum Grunde zu legen ſein, was oben uͤber das
Eigenthumstecht der geiftlihen Inſtitute und Gemeinden geſagt worden
if. So wird denn alfo hier bie Regel gelten müffen, weiche auf das
Vermögen erloſchener Gorporationen überhaupt in Anwendung zu bins
ven iſt; die Güter erloſchener kirchlicher Juſtitute ſollen, fobald die
uͤkgabe an bie Erben des Stifters fundationsmäßig nicht vorbehalten ift,
unter die Verfügung des Staates, in welchem fie belegen find, kommen.
Diefe tft jedoch nicht eine unbeſchraͤnkte; denn bee befondere, bei ber
Stiftung zundchft beabfichtigte Zweck fol ja zugleich auch dem allger
meinen Zwecke ber Kirche dienen; deshalb befteht für den Staat bie
Verpfliptung, jene Güter nunmehr biefem zugumenden, besiehungss
weife bie Innovation dee Stiftung zu verorbnen. Diefen Grundfag
haben denn auch viele neuere Gefehgebungen anerkannt, indem fie bald
die Einziehung bes Vermögens eingegangener Kirchen und Stiftungen
zu einem allgemeinen Kirchenfonds ordnen, wie das naffauifche
die Bildung des Gentrallichenfonds betreffende Ediet vom 9. Dctos
ber 1827, die fahfen-meiningenfhe Werf.e Ur, $. 33, bald
im Algemeinen die Verwendung zu ähnlihen Zwecken vorfchreiben, wie
die Berfaffung von Kucheffen F. 138, von Altenburg $. 155. 161,
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 388
Staategut ober ber Saͤculariſation und des fogenannten Obereigen⸗
thums jm gedenken, in weichem ihre Berechtigung 6 zu werden
9* BR behalten für dieſe einen beſonderen Artikel vor; doch
unen mitt nicht ſchlleßen, ohne die Bemerkung, baf
das VNechtebewußtſein In’ ben neueren dent ſchen Geſetzgebungen
füpnend dee Kirche die Erhaltung ihres Gutes verduͤrgt hat (vergl.
baleriſche B.⸗U. Tit. IV. 6.9, 10, bad iſche B.-U. 6. 20. vergl.
mit dem angeführten Ediet von 1807 6. 9, wärtembergifhe B.-U.
6.77, 82, gtoßherz. Heffifche B.-U. 6. 43, 44, Tahfenscoburs
giſche B.⸗u. 5. 29, 30, fahfensweimarifhe B.:U $. 33,
surbertifhe V.⸗U. 43138, fahfensaltenburgifhe V.⸗U.
$. 185, konigl. ſachſ Eche B.-U. 6. 60).
- W. Die Verwaltung und Verwendung. 1) Geſchicht⸗
Lie Umriffe. Der Grundſatz, daß bie Verwaltung und Verwen⸗
bung bes Kirchengutes dem Wifchofe 3 ‚ tt durch die aͤlteſten Klr⸗
ber Subſtanz des Vermögens im Kernen erhalten werden fol. Die _
—— "ber Einkünfte, und zwar im Fall des Bedarfs au zu
Biſchoͤfen befohlen hatte; aber daß fchon früher es in vielem Kirchen
Beamtete ſolcher Art gegeben haben muͤſſe, zeigt uns die Faſſung des
- Kanone ſelbſt und iſt auch aus früheren Urkunden zu erweiſen. —
worden, daß den Dienern der Kirche und ben Armen, Muͤh⸗
felgen und Beladenen ein Anſpruch zuſtehe. Später finden wir eine
durch bie Obſervanz heilung aller Einkuͤnfte in brei
Gierus, ein beittes den Unterhalt ber ebäube und bie
Ari 1 Get yes) ven
—— o iſt es, 0 von Braga abre 563,
gebalten worden. In Ballen dagegen’ mar für die Armen, denen uns
mittelbar beizuftehen Biſchof und Glerus nach jener Geſtaltung für
verpflichtet gehalten wurden, ein befonderer Theil ausgeworfen, fo daß
mithin bie fte in vier Theile gefondert wurden (vergl. Gonch
von Orleans I. vom Jahre 511). Diefeibe Einrichtung wird ſchon im 6.
GStaats⸗ Lexikon. IX. 25
—E
Jahrhunderte für die sömifche Kirche als allheiliger Gebrauch erwähnt,
und ift (vergl. die Stelle aus einem Briefe Gregor’s\d. Gr. im Decre⸗
tum Gtatian’® e.30, C. XII, qu. 2) von dieſer aus namentlidy dadurch
verbreitet worden, daß ben in Rom. ordinicten Bifhöfen bie Einführung
in ihren Kirchen anbefohlen zu werben pflegte- Später, als die Pa-
rochialverhäftniffe mehr und mehr ſich confolibirten, wurde ber Grund:
faß, daß der Biſchof das Kirchengut dispenfire, zwar ‚fort und fort
anerkannt, aber das Mecht ber. einzelnen Kirche auf die Einkünfte des
von. ihr erworbenen Gutes trat mehr in ‚den Vordergrund, denn zus
naͤchſt folten..diefe zu ihrem Velten, und erft im Falle ber Ent:
behrlichkeit fir andere bedürftige Kirchen vertvandt werben (vergl. 3. B.
den Beſchlug der Spnode von Carpentras v. 527). Mit der Ent-
ſtehung der, Pfruͤnden ift diefe Scheidung vollendet; die Einkünfte aus
den ber einzelnen Kirche angehörenden Grundſtuͤcken, die Zehnten und
DOplationen, welche die Patochianen darbrachten, wurden ais einheits
liche Maſſe betrachtet, und als ſolche mit dem geiſtlichen Amte in
eine Verbindung gebracht, in der ſie in den Begriff des Beneficiums
uͤbergehen. Seit dieſer Zeit mußte das Dispenfationsrecht, wie dieſes
die älteren Quellen auffaſſen, in der Regel als aufgehoben ‚betrachtet
werden, Dem Bilchof ſtand fortan nur die. allgemeine Aufſicht über die
Verwaltung des Beneficiaten zu, waͤhrend es biefem uͤberlaſſen blieb,
nad feinem, Gewiſſen wohlzuthun und mitzutheilen, anftatt daß früher
für diefen Zweck ein. Theil der Kiccheneinkünfte ausfchließlich. beſtimmt
gewefen ‚war. Eben ſo ging mit dieſer Geftaltung oft auch. der befon:
dere Sonde für die Kirchenfabrike verloren, und es tritt an feine Stelle
die Beitragspflicht ‚des ‚Beneficinten und der Gemeinde, mo nicht ents
weder neue Stiftungen ber Kleche ein für biefen. Zweck beſtimmtes
Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 887
liche Sorge überließen. Nachdem wir folchergeftalt die geſchichtlichen
Geſtal kuͤrzlich erwogen, laſſen wir
2) bie Grundſatße des geltenden Rechte über bie
Vexwaltung her Kirchenguͤter folgen.
a) Katholiſche Rice. a) Gemeines Recht. Die Ber
be8 KRirchengutet, mit Ausnahme ber der unmittelbaren Ab⸗
miniftcation der Beneficiaten unterworfenen Pfrändgüter, iſt in bie
Hände des Biſchofs gelegt. Ueber das Stifte und Kioflergut üben
bagegen bie Verwaltung unter bifchöflicher Aufficht die Prälaten, welche
die Stelle des Eigenthuͤmers vertreten, und denen bie Geſctze ein nur
durch bie verbotene Veraͤußerung (vergl. unten) unb die nothwendige
Verwen zum ‚Bellen ber Kirche beſchraͤnktes Dispenſationerecht
8
(
fi ;_ 2) bie Verpachtung der Kischengrumdflüde ; 3) die SBeitreibung
er
und ung des Capitals, wo dieſes gefährdet iſt; 4) dee Quit⸗
auc fo weit, als die Verwendung in dan Mugen der letzteren erwieſen
„ jeden. kann. Gegen autoriſirte Geſchaͤfte hat bie Sicde ‚nur... die
2 %
BD
3 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter.
Mechtswohlthat ber Wiedereinfesung. Abfolut’ ausgenommen aber iſt
von den Befugniffen der Verwalter bie Verduperung ber Vermoͤgens⸗
ſubſtanz, uͤber welche Kirchliche und melttiche Geſebe fehr früh ſchon
mancheriei beſchraͤnkende Verfuͤgungen getroffen haben. Aus dieſen iſt
der allgemeine Grundſatz entwickelt, daß jede Verdußerung in weiteſten
Sinne (alfo nicht blos Verkauf, Tauſch oder Schenkung, fondern
auch die Einrdumung einer Speeialhppothet oder Servitut, die Ins
feudation, die Vererbpachtung bereits cultivister Grundflüde) eine ges
techte, gehörig comftatiete, von dem Kirchenoberen anerkannte Urſache
und die —— ber Berechtigten vorausſetze. In erſterer Wer
ziehung ren die Geſetze die Veräußerung, zuvoͤrderſt der beweglichen
ohne Ausnahme, dann der unbeweglichen alddann für ftatthaft, wenn
gültige. Schuden der Kirche bezahlt werden müffen, oder wenn «8 gilt,
in-allgemeiner Noth die chriſtliche Liebe zu erweiſen. Aber auch ber
Nusen ift als hinkängliches Motiv der Aftenation, wiewohl nicht ges
beitigtee Sachen, anerkannt: Die Prüfung biefer Gründe ift die
Sache des Kicchenoberen, det feine Zufimmung in einem förmlihen
Verdußerungsdserete ausfpricht, nachdem die Eintollligung der Bethei⸗
ligten, alſo insbefonbere bei der Veräußerung von Stiftsgut die des
Capitels, bei der Alienation des Vermögens von Patronatkirchen jene
des Patrons, erfolgt iſt ( ſ. d. Art. Patronatredht). Eine Vers
ordnung von Paul U. (c; un. Extr. comm. de rebus ecel, non
alien.) fpreibt zwar in allen wichtigeren Fällen die Einholung des
päpftlichen Gonfenfes bet fchweren Strafen vor, doch iſt fie in Deutfchs
land überhaupt nicht recipiet worden, und aud der von manden
Schriftſtellern aus dieſer Decretale abgeleitete, in Wahrheit aber viel
‚ältere Eid (vergl. Devoti institt. canon, I. 726 der Genter Ausg.
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 389
Gute das Eigenthum zuftehe, fo wird ihr Recht, die Verwaltung felbft
zu führen, nicht bezweifelt werben Finnen, mas aud neuere Geſetze
bald ausdruͤcklich, bald mittelbar anerfannt haben (vergl. bie Nachweis
fungen bei Droftes Hülshoff, Grundſaͤtze des germ. K.⸗R. I. 208).
Auf der anderen Geite bat der Staat aber auch den aus feinem Mas
jeſtaͤtsrechte unmittelbar abfliegenden Beruf, bie Verwaltung feiner
Dberaufficht zu unterwerfen, und bie Verwendung zu ben von ihm
anerkannten fliftungemäßigen. Zwecken zu controliren, ein Grundſatz
bem insbefondere auf bie Verwaltung des eigentlichen Kicchenfonde
in vielen Ländern umfaffende Anwendung ‚gegeben worden iſt. Hier»
bei ift der leitende Geſichtspunct in der Regel der geweſen, daß zunaͤchſt
der Pfarrgemeinde eine lebendigere Zhellnahme an ber Verwaltung ers
effart werden muͤſſe, ba diefe, mie wir oben ſchon nachgewieſen, ale
ubject des kirchlichen Eigenthums zu betraditen iſt. Diefem Zwecke
dienen z. B. m Wuͤrtemberg bie unter Leitung bes erſten Orts⸗
geifttichen und bes erſten Ortsvorſtehers geftellten, mit dem Gtadts
oder Gemeinderathe identiſchen Stiftungsräthe, beziehungsmweife die mit
ber Beſorgung ber currenten Geichäfte beauftragten Kirchenconvente,
als ftändige Ausſchuͤſſe derſelben; in Baden die Kirchenvorftände,
welche aus ben von den Kirchengemeinden gewählten Ditaliedern bes
fliehen und von bem Ortspfarrer und den erften meltlihen Vorgeſetzten
geleitet werden ; im Großherzogthum Heffen Collegien gleiches Namens,
weiche aus dem Pfarrer, dem Bürgermeifter, beziehungsweife dem Bei⸗
geordneten und einer Anzahl unftändiger Mitglieder beftehen; in Bai⸗
ern befondere, aus dem Pfarrer, einem Abgeordneten des Magiſtrats,
auf den Dörfern des Gemeindeausſchuſſes, und einer Anzahl befonders
gewählter Mitglieder beftehende Kicchenverwaltungen (vergl. Habers
ftumpf, die neue ‚Kicchenverwaltung nach dem Gefeg vom 1. Juli
1834. Sulzbach, 1838). Hiernaͤchſt iſt den weltlichen Behörden eine
Controle der Verwaltung, gewöhnlicher bie letztere felbft in zweiter Ins
ftanz, nur unter Mitauffiht des Biſchofs, übertragen (vergl. 6 37, 38
ber in den Staaten ber obercheinifchen Kirchenprovinz am 30. San.
1830 erlaffenen Verordnung, das Iandesherrliche Schugs und Auffichtes
recht Über bie katholiſche Kirche betr.); endlich ft die Genehmigung
von Verdußerungen der Subftanz von Seiten der weltlichen Behörden,
oft des Regenten felbft, neben ber Zuftimmung bes kirchlichen Oberen,
als abſolutes Erforderniß bezeichnet worden. Der befchräntte Raum
verbietet uns, in eine Darftellung der in den einzelnen Ländern feft
geftellten Verhaͤltniſſe hier einzugehen, weshalb wir uns begnügen
möffen, ſowohl ruͤckſichtiich der bezeichneten Puncte, ale in Beziehung
auf den buch das Territorialrecht nicht felten verengerten Wirkungs⸗
Preis der Verwalter des Kirchenvermögene, auf die von Andreas
Müller in dem Leriton des Kicchenrechtes unter dem Artikel Kir⸗
henvermögen“ über die Beflimmungen des Öfterreichifchen, preußts
ſchen, baterifchen, wuͤrtembergiſchen, fächfifhen, hannoͤveriſchen, badis
Then, großherzoglich heffifhen und weimariſchen Kirchenrechts, fo wie
390 Kirchenvermögen , Kirchengůter.
auf Lonamer’s Darſtellung der Mechtsverhättniffe der Biſchöfe in ber
oberrheinifchen Kirdenprovinz (Tübingen, 1840) zu verweifen. Min-
dee als das eigentliche Kirchengut iſt dagegen das Pfeündgut von bies
fen Gefegen berührt worden, deffen Verwaltung mit Vorbehalt der
Aufficht der weltlichen Behörden faſt überall den Beneficiaten ſelbſt
überlaffen geblieben ift (vergl, 5. B. dem $ 88" der angeführten Wer,
ordnung vom 30. San. 1830). — Eine hier"einfchlagende, fehr con:
teoverfe Frage, deren wie zuleht noch gedenken müffen, betrifft das
Recht des Staates, die Innovation, das iſt die Umwandlung
beftehender kirchlicher Stiftungen von dem Kirchenoberen zu fordern.
Durch die befonderen Verhaltniſſe kann bier eine Schranke gezogen fein ;
aber Im Allgemelnen wird das Recht des Staates nicht bejweifelt wer
den innen, daß er die klechlichen Inſtitute auf der wiſſenſchaftlichen
und fietlichen Höhe erhalte, Wir führen in diefer Bezlehung ein treff-
liches Wort Schleiermacher”s am, der in ben Eirchenrechtlichen Unter-
fuhungen (Berlin, 1829) fagt: Auch mas gewiſſe aus alter Zeit
hertuͤhrende firchliche Stiftungen betrifft, deren Zwecke der Zeit micht
mehr angehören und mit dem Geifte der een Erkennt:
ng, mit der erlangten firtlihen Einficht in Widerſpruch find, To
wird man wohl ‚Kaum forbern Bönnen, fortdauernd bei dem todten,
oder doch bereits abgeftorbenen Buchſtaben flehen zu bleiben; und
obwohl ſich ein biofes Einziehen von Seiten des Staates, fo baf
der Ertrag nur den Staatöbebürfniffen im engeren Sinne zufallen
fol, nicht rechtfertigen laͤßt, ſo wird doch gegen eine Verwandlung
und Umbildung oder — um uns fo auszubrüden — gegen eine Um—⸗
deutung der alten ober veralteten Stiftung, fo daß fie als eine er-
neunte, bem fortgeſchrittenen geifligen und fittlihen Standpunete und
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 391
liſche“ gelieferte Darftellung der Verfaſſung, welche zugleich über ben
ben Gonfiftorien tn Beziehung auf das Kirchengut eröffneten Mir:
kungskreis und die biesfallfigen Deodificationen einzelner neuer Ge⸗
feßgebungen, z. B. in Preußen, die nöthigen Mittheilungen gewährt.
V. Vorrechte der Kirhengüter. Bewogen durch die Rüd:
fiht auf die Beſtimmung des Kirchengutes, hat der Staat baffelbe
mit manchen allgemeinen Vorrechten ausgeſtattet. Hierher gehört zu⸗
vörberft 1) die Beſtimmung, daß gegen eine geiftlihe Anſtalt, welche
ihr entzogene Grundftüde oder Rechte zurüdforbert, nur eine vierzig:
jährige Verjährung ſchuͤtzen fol. Nach einer auch auf dus Abendland
und bie römifche Kirche ausgedehnten Verordnung Suftinian’s Sollte
fogar ein Zeitraum von 100 Sahren erforderlih fein (c. 23. Cod.
de sacros. eccl. I. 2); doch wurde biefe Aeußerung überfließen:
der Liberalität von dem Kaifer felbft in der bezeichneten Weife befchräntt
(Nov. 111. c. 1. 131. o. 6). $ür die römifche Kirche aber, auf
welche die Beſchraͤnkung fich nicht minder erftredtt hatte, war doch ſpaͤ⸗
ter, wiewohl von den Nechtsiehrern nicht unbefkritten, das Privilegium
wieder geltend gemacht worden. Unter Anderem wird es als fortwährend
praktiſch bezeichnet in einer Conſtitution Benedict's XIV. vom Jahre
1752 (Bull. magn. XVII. 287). Ueber die Verleihung bes Rechts
der bundertjährigen Verjährung an Klöfter vergl. Raumer a. a. O.
VI. 343. — Wichtiger ift 2) die Steuerfreiheit, bei deren Urfprung
und heutiger Geftaltung wir mit um fo größerem Rechte länger ver:
weilen, je mehe bie (im Art. „Steuerfreiheit‘ zu Iöfende) Frage
nach ber, Zulaͤſſigkeit dieſes angeblich von Gott ſelbſt geordneten Privis
legiums bie Wiffenfhaft wie das Leben befchäftigt hat und noch bes
ſchaͤftigt. Die erfte hierher gehörige Urkunde ift eine Conftitution Con⸗
ſtantin's d. Gr. vom Sahre 315 (c. 1. Theod. Cod. de annon. et
trib. XL 1), welche die Güter dee Kirche gleich jenen bes kaiſerlichen
Haufes audı von ben gewöhnlichen Steuern befreit. Diefes Privile⸗
gium bat ‘jedoch ſchon unter des Kaifers unmittelbaren Nachfolgern fich
nicht behauptet; vielmehr wird in fpäteren Gefegen immer die Kirche
al8 ber ordentlihen Grundfleuer unterworfen bezeichnet, und nur aus
nahmsweiſe murde einzelnen, bebürftigen ober beſonders begünftigten
Kirchen die Eremtion. zugeflanden. Befreit war dagegen bie Kirche
regelmäßig von den außerordentlihen und gemöhnlid auch von ben
meiften niedrigen Zaften, ben fogenannten muneribus sordidis. Ein
hierher gehoͤriges Gefeg des Kuifers Honorius vom Fahre 412 (c. 40.
Tiheod. Cod. de epp. et cler. XVI. 2) beftimmt in dieſer Beziehung,
dag zwar die Kirche frei fein ſolle, ſowohl von niedrigen Dienften, als
von dem Brüdens und Wegebaue (die beide früher auch als munera
sordida betrachtet wurden), von außerordentlidhen Abgaben und Steuer:
auffhlägen, von Vorſpann für kaiſerliche Transporte u. f. w.; ba-
gegen erkennt es bie Verpflichtung der Kirche zu Leiſtung der orbentz
lihen Steuern, der canonica illatio, ausdrüdlic an. Sn der fpäteren
kaiſerlichen Geſetzgebung iſt dieſer Gefichtspunct immer fefigehalten ;
392 Kirchenvermögen, Kischengüter.
doch iſt 3. B. die Verbindlichkeit zum Bruͤcken⸗ und Wegebaue von
Theodoſius IL, Valentinian II, und aud von Juftinian feſtgeſtellt. —
Im fräͤnkiſchen Reiche begegnen wir ähnlichen Begünftigungen. Daß
in ber früheren Beit die Kirche fteuerpflichtig gemwefen fei, folgt ſchon
daraus, daß fie nach roͤmiſchem Rechte lebte, mithin allen von Römern
zu leiftenden Abgaben unterlag. Später wurde einzelnen Kitchen von
ben Königen oft die Freiheit von auferordentlichen Steuern, den ſoge⸗
nannten angariae und parangariae, der Verpflichtung, ben reifenden
koͤniglichen Beamten freie Wohnung (mansiones), Zehrung (paratas)
und Vorfpann (parareda) zu geben, zuweilen auch von allen Abgaben
verliehen; doch ſcheint diefes Privilegium zuvoͤrderſt nur als indivi⸗
duelles gegolten und deshalb bei jedem Regentenwechſel der Erneuerung
bedurft zu haben. Grundſtuͤcke, melde der Regent der Kirche verlies
hen hatte, waren aber wohl von jeher von allen Steuern frei, und feit
Karl dem Großen galt e6 als feftftehender Grundſatz, daß jede Parodhlalkiche
ein beftimmtes Maß von Ländereien (mansus) abgabenftei befigen,
ober Kom Staate angewieſen erhalten folle, während dagegen die Vers
pflichtung zur Leiſtung des Binfes von dem durch Schenkung an bie
Kirche gefommenen zinsbaren Gute feſtſtand . Daneben war jedoch die
Kiche auch in Beziehung auf ihr fteuerfreies Gut dem Einlager des
Königs (jus gistii sive metatus) unterworfen, bie jaͤhrlich von Stif⸗
tern und Kiöftern dem Könige zu zahlenden dona gratuita wurden zu
einer gefeglichen Abgabe, und von den Krongätern leiftete bie Kirche
die gewöhnlichen Kriegs» und Reichsbdienſte — Thatfachen, ruͤckſichtlich
deren bier auf Hällmann’s Finanzgefchichte Bezug genommen wers
den Tann. Endlich erhielt ſich duch das ganze Mittelalter hindurch
der Gebrauch, daß die Könige in auferordentlihen Fällen das Kirchen:
SR =
Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 893
vielmehr frei in ihrem göttlichen Berufe waltend, nicht ber Welt die:
nen ‚und darum mit ihren Söhnen zur Hagar werden dürfe, fprachen
die Comdilien ben Baunfludy über bie Laien aus, welche das Kirchengut
mit Steuern belegen würden (Concil von Avignon, bei Manfi XXU);
und felbft die Forderung von Beiträgen zu dem beiligen Kriege murbe
einmal vertweigert, weil ein frommer König folche Räftungen nicht aus
dem Raub ber Kirche, dem Schweiße der Armen, fondern aus eiges
nen Mitteln, ober aus Feindesbeute beftreiten werde (Petr. Bles.
Ep. 112. 121; bei Hutter a.a. O. S. 407) War in biefer
Weiſe das Recht ber Fuͤrſten und Städte, das Kirchengut eigenmaͤch⸗
tig zu belaften, in Abrede geftellt, fo war doch auf der anderen, ben
nationalen Grundfägen gemäß, zugleih anerkannt, baß bie Kicdhe,
wo fie mithelfen folle, auch mitberathen und mitbemwilligen müfle. In
Diefee Beziehung erklärt die 3. Synode vom Lateran (1179), daß keine
Gewalt auf Erden berechtigt fei, die Kirche willkürlich zu befteuern,
und daß die Kirche nie zu Subfidien gezwungen werben könne, wenn
nicht die Biſchoͤfe und der Clerus felbft die Forderung als dem Drange
ber Umſtaͤnde angemefien, alfo als billig und nothwendig anerkennen
würden. Später feste die 4. Lateranifhe Synode (1215) an die
Stelle der Biſchoͤfe und des Clerus den Papft. Beifpiele folcher Ab⸗
gaben find bie Zehnten, welche al& Beifteuer zu ben Kreuzzügen in das
heilige Sand (Decimae Saladini, zuerft in Frankreich 1188) oder ge:
gen die Albigenfer, oder au in anderen Nothfällen von ber Kirche
auf Zeit zugeſtanden wurden (vergl. die reichhaltigen Notizen bei Tho-
massin vet. et nor. eccl, disc. III. 1. 43). &o finden wir denn,
als inzwifchen auch die Eaiferliche Geſetzgebung die Immunität beftätigt
hatte, und das bekannte Geſetz Friedrich's II. v. 10. Novbr. 1220:
Nulla communitas vel persona, publica vel privata, collectas sive
exactiones, angarias vel parangarias ecoclesiis aliisque piis locis,
aut ecclesiasticis personis imponat aut invadere ecclesiastica bona
praesumat. Quod si fecerint, et requisiti ab eoclesia vel imperio
emendare contempserint, triplum refundant et nihilominus banno
imperiali subjaceant (Pertz Mon. IV. 243), ſchon von Donorius III.
auf eine völlige Abgabenfreiheit der Kirche bezogen worden mar (vergl.
Raumer a. a. D. ©. 152), und nachdem Friedrich UI. von dem
Banne im Jahre 1230 fi) durch das feierliche Verfprechen gelöf’t Hatte,
dag fortan Niemand der Kirche Abgaben auflegen folle, wiewohl mit
Vorbehalt der Verpflichtungen, zu denen ihm beflimmte Kirchen fpes
ciell verbunden feien (Pertz IV. 273), in der Mitte des 13. Fahr:
hunderts das Princip des kirchlichen Bewilligungsrechtes ausgebildet,
während im Uebrigen die päpftliche Gefeggebung immer und immer
wieder auf die Immunität nicht nur der Kirche, ſondern auch des Pri⸗
vatgutes der Geiftlihen, von dem wir hier nicht zu handeln haben,
ale von Gott geordnetes Vorrecht ſich bezieht. Eine der mwichtigfien
ber hierher gehörigen Verordnungen iſt, nächft einer von Alerander IV.
nach Frankreich erlaffenen (c. I. de immun. in Vito 111. 23), die Des
394 alchentecndgett/ Mrhemgtiit
ctetale Clericis Taioos von Bonifaz VII. (v. 8 ib,), melde, zunaͤchſt
jegen die 79 Zuſtande gerichtet, alle Kaiſer, Könige oder Fuͤr⸗
Ba Herzöge, Grafen oder Batone, fo wie die fldtifchen Mägiftrate,
mit dem ipso jure eintretenden, nur in Rom tösbaren Banne, alle
Gemeinden mit dem Interdict belegt, die ohne päpfttihe Genehmigung
den Kirchen oder kirchtichen Perfonen, welche Steuern oder Subfidien
abforbern wuͤrden, aber auch bie Bifhöfe und Prälaten der Strafe des
Barnes unterwirft, ſobald fie dem freventlichen Ermeffen ſich zu fügen
magen follten, Später wurde jedoch dieſe Decretale von dem unter
frangöfiichem errufe ſtehenden Clemens V. twiberrufen, und die von
den Eoncillen von Lateran erlaffene Beſtimmung wieberhergeftelft (c.
un. h. t. in Clem.), während freifih nun zugleih, ais unmittelbare
Folge des über dem römifhen Stuhl hereingebrohenen Verderbniſſes,
bie Erſcheinung hervotttat, daß die Päpfte mit den Rönigen Über die
Vertheilung der von ber Kleche zu entrichtenden Summe fi verttugen,
wechalb Marin V. auf dem Gonftanzer Concil feierliche Zuſicherung
ertheilte, daß fortan jedes Fand tur mit Bewilligung ber einheimifchen
Prälaten belaſtet twerden fol. Auch in der fpäteren Zeit begegnen
wir unzähligen Verwilligungen, aus denen in Frankreich, nachdem fie
vom Zahre 1561 an zuerft auf Belt ertheilt wurden, endlich eine or⸗
dentllche Abgabe umter dem Namen der decimes du olerge geworden
ift, fo jeboh, daß neben iht die dous gratuits oder decimes extra-
ordinaires noch fortbeftanden (vergl. Recueil des ae ee |
edicts, contraots, reglements, lettres, arrestes et autres chosı
concernants le dlerge de France, ä Paris, 1626. 3. Voll IT. 14 f,). —
In Deutfhland, zu welchem mic jet übergehen, indem wit wegen
Kirchenvermögen, Kirchengüter. 395
des Staates alle Bürden allein, und die anderen entweder gar keine,
ober 1a n geringerem Verhaͤltniſſe, als es ihr Deutung der mit
en verpflichtet wuͤrben (otsgt, Betrachtung ber gel
z Görelden von Churtrier burg . . . wegen
cimatiomöftenern: in ben pfalzbalerifchen Ötaaten. Mambem, 1788).
| ——— war ftellich die Frage unter ben. Staatsrechtslehrern ſeht
ana fir. ob. die —— — —— ein (ee ba Sadule *
nigſtens⸗ den voransieße (wie denn z. a
en ber Decimation on on ” zu 10 Jahren witklich bie päpftliche Betolls
Hadpäfuen plug): Dod raiiieh De eißtigeee Anfiht —
de ee Ban A bes Lanbeöheren (vergl. Sattori,
a Th. 1. Abſchn. 1. S. 635 ff.), und gegenwärtig iſt bie
—— ge Überall durch die That verneinend entſchleden. — In der
neueren Sehe bat bie Sieneefreibei bes Kicchengutes in vielem Länbein
fee bedeutenden Mobificationen unterlegen. In Defterreich, wo
die Immunität durch Sofeph I, aufgehoben wurde, haben bie —* |
von ihrem Vermogen entliche und — Staa
8
feel, und o dafjetbe iſt für die Pfarrguͤter verorbnet A 775). Dod be:
filmmte ber $: 166, daß die Kicchengefellfchaften, welche, vernidge
befonberer iellegim ober VBerorbnungen, von gewiffen Laften in.
ehung ihrer liegenden Gründe frei find, dennoch dieſe Be⸗
* auch ruͤckſichtlich nachher erworbener Grundſtaͤc⸗ nicht anſpre⸗
chen duͤrfen, wofern dad Privilegium' oder die Verordnung dieſes nicht
ausbrikdkiich feſtſegßt. In Rheinpreußen gilt das Geſeß vom 3. Frim.
a. VII. 6. 105. 110, nah welchem bie etäblissements dont la de-
stination a pour oben Putilit6 generale, fe in naͤherer Beziehung -
auf unferen bie Kichen, die Öffentlichen Gapellen und
Kicchhöfe, bie nd bifchoͤfli alaͤſte, bie Semlnarien
und Pfarrhaͤuſer fammt ben daran und dazu gehätigen
Gärten geumbfteuerfrei find, während bagegen bie nicht uns — — —
oͤffentlichen Dienſte ober allgemeinen Nuten geiib
ber Kirche dieſe Eremtion nicht genießen. An rer ———
auch durch das Belek vom SO. Mai 1820 über bie Einttich
EX nichts gender: war worden. — Batesn IE *
ict Aber die dufßeren —— *
6. 8 ber B.u., a e ee
tet erklaͤrt, und alle ältere —— aufgehoben worden,
—— uͤl ler, Repertorium —— 1829) u. . Abgaben.“ —
In In Börtemberg ift nicht minder die Freiheit vn —8 feom-
men Anſtalten von koniglichen und allgemeinen La
hoben, und eben fo verordnet das babifäe Ss —8* "17.
\
BEE
896 Kirchenvermogen, Rirchenghter. Kicchenzaub.
1807 , daß die Kirche für kein von ihr erworbenes Vermögen eine Bes
frelung von der Steuerbarkeit erlange. Im gleicher Weiſe endlich hat
ſich das Verhaͤltniß im Großherzogt hum Heffen geftaltet (Gef.
v. 8. Juni 1821), während es in der V.⸗U. bes Kurfürftenthums
($. 149) Heißt: „Die Güter der Kirchen und Pfarreien, der Öffentlichen
Unterrichtsanftalten und der milden Stiftungen bleiben, fo lange fie
ſich in deren Eigenthume befinden, von Steuern befreit. Diefe Steuer
freiheit erſtreckt ſich jedoch nicht auf diejenigen Grundftüde, welche bis⸗
her ſchon fleuerpflichtig waren, ober nach ber Verkündigung der Vers
faffung von ihnen erworben worden”. Zuletzt gedenken mir noch der
den Kichen, Schulen und milden Stiftungen im Großherzogthume
Weimar duch die Steuerverfaffung vom 29. April 1821. und das
Seins vom 7. October 1823 gewährten Befreiung. Ueber ein weiteres
recht,
3) das Aſylrecht, find unter dieſem Art. die nöthigen hiſtoriſchen,
rechtlichen und politifchen Erwägungen angeftellt. Zur Wervolftäns
digung Finnen wir hier nachttagen, daß einzelne beutfche Geſetzgebun ⸗
gen ausbrüdiid gegen die Anmenbbarkeit biefes Rechtes ſich erklärt
haben, wie das preußifde &.:R. II. 11. 175, das k.⸗ſaͤch ſ.
Mandat vom 19. Behr 1827 und das "angeführte weimarifche Ges
feg vom Jahre 1823. In Defterreich ift daffelbe durch Gefeh vom
16. Sept. 1775 ſo eingeſchtaͤnkt, daß es feine Bedeutung völlig vers
toren hat. Im Kichenftaate aberift es, wie Andre. Müller im
Lexikon des Kirchenrechtes berichtet, im Jahre 1826 zwei dem Gapitel
der Petersliche und dem Inquifitionstribunal gehörigen Kichen auf’s
Neue verwiliget worden. Ar Re.
Kirhenraub
Kicchenraub. 397
gehörigen profanen Orte auch Kirchenbiebftahl fein, was nad) den
beftimmteften Duellenzeugniffen gänzlich unftatthaft iſt). Und in
diefee Behauptung flimmen bie bei Weitem meiften Strafrechtslehrer
mit nur unbebeutenden Abweichungen überein”).
Zwei Momente find es hauptſaͤchlich, von benen die Entſchei⸗
ding unſerer Streitfrage ausgehen müßte, und worüber hier einige
Andeutungen gegeben werden follen. Wann ift der Raub vollendet?
und welche Zwecke hat in der Regel der Raͤuber? Seine Abficht
ift ficher eine andere, ale buch Vergewaltigung von Perfonen frems.
des, bewegliches Gut fich zuzueignen. Alfo nicht vom Zufall, nicht
von- der biofen Möglichkeit eines Widerfiandes läßt der Räuber bie
Gewaltanwendung abhängen, fie iſt ihm nicht blofes Mittel ***) zur
Erreihung feines Vorhabens, fein Zweck ift vielmehr auf Gewalt
und Entwendbung zugleich gerichtet. Diefer Zwed fest nothivendig das
Bewußtſein voraus, daß man MWiderftand gewiß finden, und biefen
befeitigen müfle. Iſt nun dieſer Widerftand nur In bewohnten
Gebäuden vorauszufehen und denkbar, fo begreift man das Gegen:
theit von felbft bei Entwendungen aus Kichent). Demnach müßte
man nimmermehr von Kirchenraubtr), fondern nur ausſchließlich von
*) 9. 8.:D. Art. 171. „Stehlen von geweihten Dingen oder Stätten ift
ſchwerer, denn andere Diebfläle, und gefchicht inn breierlei.weiß: zum erften,
wenn einer etwas heyligs ober geweichts flielt an geweichten Stätten, zum ans
dern, wenn einer etwas geweichts an ungeweichten Stätten flielt, zum britten,
wenn einer ungeweichte Ding an geweichten Stätten ſtielt.“ Bergl. audh Caus,
XVII. quasst. 4. can. 21. $. 2.
) Srolman, Brunbfäge ber Griminalrechte:-Wiffenfchaft 5.193. Abegg,
Lehrbuch der Strafrechts⸗Wiſſenſchaft 5. 865. Martin, Lebrbuh $. 159.
Heffter, Lehrbuch 2. Aufl. 1840. $. 50%. Bauer, Lehrbuch $. 255,
**9) ©, dagegen Roß hirt, Lehrbuch bes Griminalrchhts $. 133. Rot. 1.
Freilih ganz und gar feiner früheren Meinung entgegengefeht, erklaͤrt fidh
8 berfelbe in f. Geſchichte und Syſtem bes beutfchen Strafrechts Th. II. ©.
+) Hiervon koͤnnte nur die Entwendung geweihter Dinge aus ungeweihten
@tätten ausgenommen werben, bie aber dennoch beftimmt Diebftahl genannt
wird, f. 9. &.:D. Art. 172. Ginen abweichenden Begriff , den aber die Gas
roline gar nicht Eennt, ſtellt überbied noch auf Car. Sebast. Berard. oommen-
tar. in jus ecclesiasticam universum, T. IV. p. 82., wo es heißt: „‚Eccle-
siastico jure sacrilegium etiam admittitur in personas Deo sacras, veluti
cum adversus episcopos, vel majores praelatos, sacerdotes, et omnes ia
eloro — injuria infertur caedendo, vulnerando, aut contumeliis
afßciendo,
.+}) Bann Martin a a. ©. Not.2 behauptet, daß bie Caroline Kirchen⸗
taub vom Kirchenbiebftahle abgefondert nenne, fo muß man erſt beweifen, baf
Art. 174. in den Worten: „in folchen Kirchenrauben und Diebftälen” eine Ber⸗
fhiebenheit der Begriffe andeute. Diefe bedingen aber weder der ganze Inhalt
des Artikels, noch die Ueberfegungen von Bobler und Remus. Den Beariff,
worauf ed ankommt, hebt Remus durch ancriegia, uae contentum religion
habent‘, hervor. J. Gobleri In C.C.C. et F Remi Nemes in Karul.,
vulgav. J. F. H. Abegg. Heidelberg, 1837. p. 198.
endichflapt * Dede und fobatd » thätlihe Gewalt ‚gegen: eine
ra ‚ober 3 ungen auf Leib und Leben gegen dieſelbe zufäl-
ũger Weiſe ommen, ein Zuſammentreffen aan Verbrechen anneh⸗
we gerade wie das oft fireng genommen bei bem Raubmorde ber
all iſt. J
— leuchtet die Wahrheit dieſes Begriffs durch die Rich:
tung hervor, wodurch ſich der Kicchendiebſtahl Als ein qualificirter
ermeit. Die Kalte und Gefliffenheit, womit ber Thäter jede Mahs
nung des Gemwiffens, jede Scheu und Ehrfurcht vor gemeihten Stär-
tem und Dingen unterbrüdt; die Tuͤke und Willkür, womit er Ge⸗
enſtaͤnde, melden vorzugsmelfe ber Stantsfchug zugefihert ſt, ‘als
iet feiner Habfucht fegt — das find im Allgemeinen bie Gründe,
weshalb alle gebildeten und mamentlich die dhrifktichen Völker den
fegyorfchlages sur le snorilöge angegriffen und widerlegt. Was war
der Zweck des Entwurfs? Die Religion follte in das Geſetzbuch auf:
Sicenraub. 39
buche abhängig zu made, Indeffen feltfamer noch war bie Art der
Begründung in. dem Entwucfe. Denn nur bann follte die vorges
nannte @tzafe daten, wenn bas Verbrechen Öffentlich, unb her
fondes aus Hof und Weradtung gegen bie Meligion verübt wor⸗
‚Mein nur Felge w Pre fredt bie auf offener
* + aufgeflellte. Scheuche, bie. Milenskcäftigen zeigt fie gu Hohn
peti Waprfheinlikh an die Jury zu Muchmafungen, zur
Eu zu Minfchränkungen des fehr ſtrengen @eleges, hätte «6
Beifel ‚, ihre Bufludt genommen, wovon die Geiminals
Ned ecta naar jo ai nis anltle mar ale
ine sam die Be un ee babe en —
enannt unb verworfen, und n legiumtges
fe, welches die Todesſirafe anbrohte und Yin decide annahm, wenn
Iemand ein Ciboriüm entwenhete, Im Frankreich gänzlich: aufgehoben **).
Feüherhin maren' die Gtrafen, namentlich nach dem Eatholifchen
- Kichenthume, fehr eng und in ihrer ganzen Ausdehnung anwend⸗
bar ***), Indeſſen in ben fen Gerichtehoͤfen, welche frühe
zeitig bie fchweren Straf emarfen, Teint es Praris
zu fein, bei einem in Kitden ober in heiligen Sachen vorgefalles
zu —— die bi ef Strafen‘ des weltlichen Diesfkahe —9—
gen}
— en war ee en Bein wi wir den Begriff u She
foflen, wie er im ben di uns in Haren Zügen ent
a a a en daß die Kirche die Ber
Rimmung babe, ihre Vakenner zu chriſtlichem Glauben und Leben
— und daͤdurch für das ci Sottesreich zu erziehen,
h kann ;für ums ihre Werechtigung, jedwedes ſuͤndliche Element ale
übten aus ſich ausju boder mit andern Morten das
Recht. der ut, feinem” Bweifei unterliegen. Diefes Redits
— Tele L Va len lage mat
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Handſchrift (in Waſſer⸗
vorgratlaniſchen
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Poͤnitentlalbuches.
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FETT
1249; AH= 3°,
ä I re:
Fr ji
HL la
toheden. Ein
en hindeutendes, gleich den vorhergehenden auch von Regino (am
des zweiten Buches) aufgenommenes Ftagment gibt über die
in weicher die i Buße duch Gebete und Meffen in
Jahre abgethan werden koͤnne, die nöthige —— Nach
Abbeten vom 120 Pfeimen ſo viel alt eim — u,
‚vom men ſo 18 ‚tägige
men und 5 Pı die Buße eines Tages auf,
„Beati immaculati* , oder ein
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zur Exde wirft und eben fo oft das —— und „Di-
mitte, Daher peccata men’ herfagt. Eine —* aber er fuͤt 12 Ta-
ge, 10 Meſſen für 4 Monate, 20 Meſſen für 3: Monaie, 80 Meſſen
für —— ſ. Kenn, au Sn — um —— in die
Bußwelſe ve aus m Regino nach einem wohl
dem 9. Jahrhunderte ang renden fraͤnkiſchen Concilienkanon die- fol:
an Srlinmunaen = — —— —— die kanoni⸗
—— AR, De ol ge-lang bie Kirche nicht: betse:
—* barfuͤßig und und im Wolle gefeidet, ohne Beinkleider einhergehen,
feine Waffen tagen, nur Brot und Salz und Waſſer geniefen und
jeglicher Semeinſchaft namentlicy ber gefchlechtlihen, ſich entſchla
An den Pforten der Kische erfleht er Vergebung 40 Tage und M
| Kirchenzucht. 408
nachdem Die Buße in biefer Befe Poliradt iſt, tritt er wieder In die
chriſtüche Gemelnſcha Dieſes ganze Syſtem ber Redemtio⸗
| dieben beurtbeilt won worden, und aud wir ers .
aſſelbe die ſchon am Eingange dieſes Artikels gemachte
}
I
3
24
zugeſtanden
—** das Bewußtſein der Kirche ſich nicht gegen den Gebrauch,
ſondern gegen den Mißbrauch deſſelben geaͤußert, und die Buͤßenden an
die eigene fittliche Beſſerung, als bie Hauptbedingung der Loͤſung,
gemahnt babe (vergl. fchon Fond —— aus d. J. 747. o. 27
ehrung willkuͤriich
——* und‘ Ungleichheit des Rechts entſtanden, welche zur: Ertoͤd⸗
tung. des Vertrauens im Wolke nicht minder beitrug, als bie Verwen⸗
dung ber Sündentaren zum Beſten ber Kirche, anflatt zur Erleichte⸗
zung und zum Troſte der Mühfeligen und Beladenen. Ducch alle diefe
Abirrungen war der Verfall der alten Bußdisciplin fchon im 11. und
12. Jahrhunderte entfchleden, und es tritt an ihre Stelle ern
Juſtitut des Ablaffes, den die Kicche aus dem reichen habe ihrer
Gnaden — (ſ. d. A.), theils die geheime Buße, welche nach dem Suͤn⸗
e von dem Prieſter im Beichtſtuhle aufgelegt wird. Ge⸗
wis if, daß im 13. Jahrhunderte in ben Sendgerichten die von welt:
lichen ‚Gerichten bereits geflraften, ober doch zur Unterſuchung gediehes
nen Verbrechen nicht mehr mit „öffentlicher Buße belegt wurden (vergl..
Benifa; VII. in o. 2. de except. in Vito. 2. 12. und bie auf
dieſe Sri je Bepehung nehmende Blofie zum Sachfenfpiegel L 2% und
da, a Bean GStrafrechte des Sachfenfpiegels, alle Verbrechen im welt⸗
lichen Berichte dann geruͤ gt werden mußten, wenn fie mit Beides. oder
Lebensſtrafe bedroht waren, fo blieb den Gendgerichten zuletzt nichts
übrig, als bie eigentlichen Werftöße gegen die kirchliche Ordnung und
die leichteren fleifchlichen Vergehen, welche ger ge adezu mit Setbbufen, As
ſtatt mit einer durch Geld ablösbaren Pönitenz, geſtraft zu werben
Hflegten (vergl. Alex. IU. in c. 3. X. de poen; V. 37, Ueber diefen
“0 Sirhenyudk.
ißbrauch Magten noch ber Carbinal d’Ailly auf der Eonftanzee Syn:
ode (bei v. A. Hardt Concil. Constantiens, I. 8. 421) und em
Jahrhundert fpÄter die Gravamina nationis German. v. J. 1522;
und noch im Jahre 1549 verbot Erzbiſchof Sebaſtian von Mainz ſei⸗
nen Suffeaganen: „Ne ungusm crimina subditorum per se aut suos
sabstitntos mulota peeuniaria punire praesumant, sed aliis debi-
tis et a jure constitutis poenis co&rceant (Statt. Synod. c. 77 im
Cod. Dipl. zu Falckengtein Antiqu. Nordgaviens. im Anhange
p. 106). — Almätig hat fid aber bie Ausübung ber geiftlichen Die:
eiptin auf ben Beichtfluht beſchraͤnkt, Sffentliche Bußen find ganz außer
Gebrauch gefommen, und auch die Ercommuntcation bat in fo fern
nd die Goncurrenz der
'dzlige zu einer Wereinba-
Kirchenzucht. | 405
GSeraftecht des Biſchoſs vom 3. Augufi 1829 dahin ausgeſprochen, daß
auch ‚gegen Lalen, welche durch bebarrliche Widerfeglichkeit gegen die
Vellziehung einer gejekmägigen Anoroniung, buch Dee, Fe
ernſie
behoͤebe ſelbſt wicht zur Beſſerung führen, angemefiene weitere kirchliche
Genfusen und ſelbſt bie Excommunication ausſprechen koͤnne. Dech
ſei Werken auf die beſonderen Verhaͤltnifſe dee Perſonen und anf bie,
dem Bann entſtehenden buͤrgerlichen Wirkungen kiuge unb
ſchonende Ruͤckſicht zu nehmen und bei gaͤnzlicher Ausſchließung aus
Gemeinſchaft dem landesherrlichen Bevollmaͤchtigten vor⸗
Mitthelluung zu machen. Man kann vielleicht dieſer Ver⸗
*3*
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der richtigen Grundlage und -auf einem Baren Bewußtſein von
Rechte der Kirche, gegem jede ſuͤndige hat in die Schranken
feiner unmittelbaren Bedeutung für das füttliche Leben,
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e Schuld, in deſſen Hände nad dem Grundzuge
en Kirchenverfafiung die Kirchenzucht gelegt iſt; zugleich
aber. nicht vergeffen werden: bie Richtung der Beit ferbit iR
in beren Folge das füttliche Urtheil, die abfolnte Verwerfung
Schlechten . nicht mehr in bem Leben des Staates wie der Kirch⸗
herrſcht, und durch die That fi) beurkundet. Wenn in biefer Bes
ziehung «von Stahl im der Philofophie des Rechts (II. 3. 283) ges
fagt wird: „Die jept herrfchende Aufichnung gegen das Sittenge⸗
richt, gegen alle Bucht über den Menſchen in feinem Privatleben,
bamit er Altes aus feibflerrungenem Werbienfte und ame eigenem
Ebxelmuthe vollbringe, kommt aus der ererbten fündieen Matur bes
| , einer Bergefienheit, bie der duarakterifiiiche "Bug
Beitalterd iR. Allerdings fol Alles vom Inneren, von free
(dliefung und der Liebe zum Guten felbft ausgehen; aber der Bo⸗
„arf welchem ſolche Entichliefung und Liebe allen if
fehle Orbuung und Zucht”, fo wird das in dieſen Worten ent«
große Moment ber Wahrheit auch vor benen nicht verkamnt
werben, deren religioͤſe und philofopbifche Uebergeugung ſich auf einen
anderen Stanbpunct geflelit bat. Im ber That, der Staat, welcher
der Kirche bier wicht foͤrdernd zu Hälfe kommt, entäußert fich eines
wefentlichen Cheiles feiner Beſtimmung, die. Kicche vergißt ſich ſabſt,
zegseT
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406 Kirchenzucht.
wenn fie der Suͤnde im Leben freien Raum laͤßt und mit ber
Hoffnung auf die Bekenntniffe im Beichtſtuhle und bie Uebernahme
der in dieſem auferlegten Bußwerke fih gettöfter. Aber die Grenze
muß gefunden werben, in der bie Kirche hier ſich zu halten hat,
meil dann zu unertraͤglicher Priefterherrfchaft nur Ein Schritt ift.
Afo einmal, nur bie offentundige Abweichung von dem Gebote der Re—
—* nur das öffentliche Aergerniß rüge und ahnde die Kirche in ihrem
en ‚te, waͤhrend fie den geheimen Sünder der Disciplin im
Beichtſtuhle überläft; und dann, nicht Öffentliche Büßungen, gegen
welche der Sinn aud der Beften im Wolke ſich erklärt, ſondern
die Ausſchließung Laffe fie in den der Schuld angemeffenen Graden
eintreten, wo bie Herzenshärtigkeit durch Ermahnung und Warnung
nicht uͤberwunden werben Tann. Endlich erkenne fie an, baf jede
Bucht nur da gefegnete Wirkung äußern wird, mo fie Als ber Aus-
‚ deu des fittlichen Bewußtſeins der Edleren im Volke erſcheint, daß
nur durch die febendige Theilnahme des Volkes ſelbſt das gemein-
fame fittliche Bewußtſeln wieder gefchaffen werden kann, deſſen Ver—
iuſt wir beffagen. Deshalb möge fie den Gemeinden ſelbſt eine Mit⸗
wirkung gewähren und ben Beſten aus diefen unter ber Leitung
des Pfarrers die Aufficht über fittliches und religioͤſes Verhalten uͤber⸗
tragen. Mird fie diefe Forderungen erfüllen, dann, es iſt nicht zu
zweifeln, aber auch nur dann wicd es gelingen, das ſittliche und
teligißfe Leben im Wolke zu heben und den vom den Organen der
Kirchengewalt ausgefprodhenen Genfuren wiederum Ehrfurcht zu verſchaf⸗
fen. Dann wird auch der Staat ihr feinen Beiſtand zu gewähren
nicht anftehen können, und «8 wird wiederum ein einhelliges Bufamz
menwirken nach dem einen, großen Biele ſichtbat werden, dem Reiche
Kirchenzucht. 407
fonoben umb Srtengerichte in der fulbaifchen Didcefe. Unter Be⸗
erichte und bie Bebeutung dieſer Ins
ſtitutien fuͤr bie — des ſittlichen Lebens ** dieſelbe
im. allen: Pfarreien bie Einführung von Pfarrſynoden und Sittenge⸗
richten, weiche nad) der beigefhgten; durch die Staatoregierung ges
nehmigten Inftruction aus dem Pfarrer, dem Gaplan und einer
entfprechenben auah! für das erſte Mal von dem Pfarrer, in ber Folge
von von in Gemeinſchaft mit der Synode gewählter Paien (foges
nannter Sischencenforen) beftehen follen. Diefeiben find rein kirchliche
Anſtalten unb ſollen bas chriſtliche Leben, religiös fittlichen Sinn und
Wandel durch ihre Aufficht und ihren Einfluß, bucch Belehren, Bits
ten, Ermahnen, Waren und Anzeigen und Anrufen bei geiftlichen
und‘. en Behörden fördern. Entfprechend der oben ausgeſpro⸗
chenen Forderung ziehen fie nur in ihren Kreis, was Öffentlich als
Mißklang das fittlihe Leben der Gemeinde der. Zur ——
von Strafen ſind ſie nicht ermächtigt, aber ihre Thaͤtigkeit hat im .
dem geifllichen Gorrectionscechte bes Biſchofs, an weichen reg
halbjaͤhrig, bei wichtigeren Anlaͤſſen fofort zw berichten iſt, ihre Uns
biefen G@eflaltungen wenden wir uns zu der evanges
liſchen Kirche. Bier var zumal begegnen wir einer Richtung, welche
Kicche bie Zuchtgewalt abfprechen zu muͤſſen fich felbfl "bbertebet,
ja das Wein der evangelifchen Kische im völlige Freiheit uiche
bes GSlaubens und —— — ſondern auch des aͤußerlichen Le
werden muͤſſe. Solche Aeußerungen 8*
namentlich in dee von der Staatsregierung Beabfichtig-
Einrichtung von Presbpterien ober Kirchenv ben entgegenges
(vergl. Le ehmus,. Entwurf einer Presbyterialverfaſſung. Nuͤrn⸗
‚1821: — Kaifer, über die Presbpterien überhaupt, und ihre Ein
führung in Balern insbefondere. Erlangen, 1822. — Fuchs, be
ber Kircchenvorflände oder Presbpterien — mit befonberer
Küdficht auf die psoteflantifche Kirche in Baiern. Nürnberg, 1822.—
Bogel, —— —— Daſelbſt, 1822. — Dertel, die *
der Herren Lehmus, Fuchs, Kaiſer u. ſ. w,
Schrift und Vernunft, Geſchichte und Recht gepruͤft. Dafeb, 1822)
unb es war nicht eine vereinzelte Anficht, wenn bei der erften Generalſynode
im Jahre 1823 der Ausſchuß der Synode zu Baiteuth erklaͤrte: Pre iR.
der peoteftantifchen Kirche, als einem Vereine felbfiftändiger M
zum gemeinfchaftlichen Gottesdienfte unter einem feſtbeſtimmten ee
—2 kann es weder ein Aufſichtsrecht uͤber Perfonen, noch ein Daraus
hergeleitetes Diseiplinarftrafbefugnig geben. ben Antheil, weis
chen Jeder an dem Äußeren Gottesdienſte nimmt, a er nur nehmen,
um dadurch feinen inneren Gottesdienſt zu befördern, feine eigene Res
—— wo möglich zu berichtigen und zu beleben. Thut er -
‘+ biefes. nicht, fo mn! er dieſes bei feinen Gewiſſen verantworten. Es If
nicht bie Sa | er Mitgenofien. Dean er die Weranflaltungen,
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Srbnung und Bucht haben zu Schulden kommen laffen, den melt-
lichen Kom der ae zur Handhabung ber —— zu
Hülfe rufen, 9: zen gegen bie Diener: ber Kirche ſteht derfelben
weiche bie Kicche.ihre® göttlichen Moments entkleidet , indem fie dieſelbe
lediglich aus dem Geſich einer aus freiem Willensact ereichteten
5* bettachtet. ie haben bier auf dieſe troſtloſe, nun zum
® von Vielen fehon uͤberwundene Anficht nicht noch einmal einzu⸗
geben; wohl aber müffen wir ausdruͤcklich bemerken, daß auch bie Bes
tenntniffchriften , und zwar nicht nut die reformicten, als beren chatak-
teriſtiſches Unterfcheibungszeichen diefes oft betrachtet wird , fondern auch
die tutherifhen das —— ausſprechen daß der Kirche gegent offen⸗
kundige und unbußfertige Sünder die geiſtlichen guchtmitiel zuſtehen
(Scmalt. Art. IX.), alſo der Bann, nicht die Buße im Sinne der
fpäteren Eathotifhen Kiche, gegen welche das evangelifce Bernuftfein
vom Anfange reagirt hat. Im der That beruht auch die Eincihtung
der Gonfiftorien aundchjt auf diefer € ‚Extenntniß, amd im alten ‚Ölteren
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410 aleinkinderſchulen.
und dadurch verhindert werben, ihren unerwachſenen Kindern bie er⸗
forderfiche Sorgfalt zu widmen. Die Kleinkinderſchulen follten foldyen
Eitern ein ficherer Port, ein Aſyl für ihre Kinder twährend ihrer Ab:
wefenheit von Haufe fein. Aber regelmäßig hat man nun biefe wohl⸗
thätigen Anftalten auch den Kindern folher Eltern geöffnet, welche
durch ihre Arbeiten verhindert find, die gehörige Aufficht über dieſelben
zu führen, wenn auch die Eltern ihre Arbeiten im Haufe felbft ver-
richten.
Die Kieinkinderſchulen beabfichtigen ihrer Natur nach keineswegs
eine birecte Unterflügung der Eitern in Bezug auf bie Erhaltung ihrer
Kinder, und koͤnnen nicht ald Armenanftalten der gewöhnlichen Art an⸗
gefehen werden. Die Aufnahme beſchraͤnkt ſich dAher regelmäßig nicht
auf bie Rinder armer Eltern, fonbern fie findet auch für ſchutdeduͤrf⸗
tige Kinder bemittelter Eitern Statt. Daß in fehr vielen Sällen hier⸗
durch bewirkt werden wird, was durch die gewöhnliche Armenpflege er⸗
reicht werben foll, iſt nur zufällige wohlthätige Folge ſolcher Anfalten.
Bon höherem Intereſſe erſcheinen ihre Leiftungen: I) für die Kin:
der ſeld ſt durch die fruͤhzeitige Angewoͤhnung zur Orbnung und Rein»
lichkeit; durch bie ungeftötte und Beinen nacıtheiligen Einflüflen unter
worfene Entwidelung und Ausbildung ihrer Törperlihen Kräfte; durch
die Entfernung von dem böfen Beiſpiele roher aͤlterer Geſchwiſter und
Spielgenoffenz; durch einen flilen freundlichen Anreiz zu Gehorſam,
fittlichen Vetragen und zu einer ihren Kräften angemeffenen Beſchaͤf⸗
tigung; durch die Bewahrung vor dem Zufalle der Gefahren, denen
dee Mangel an Aufficht bie Kinder fo leicht ausfegtz durch Bildung
zum gegenfeitigen Wohltwollen und zu einer vertrauenvollen Lieber gegen
aleinkinderſchulen. al
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ober, boch darum
Dies gefunde, ae ii pn nicht
einer
——— — —— S dh ——
umb foldhe, weiche wegen Schwaͤche oder Kraͤnklichkeit nicht ohne Bes
fahr über bie —2* gebracht werden duͤrfen, regelmaͤßig der Aufnahme
nicht faͤhlg find. Wenn bereits aufgenommene Kinder erkranken, ſo
bleiben Teiche Dit zu ihrer Wiederherſtellung · lediglich ber Pflege ihrer
menen: Audern, bei'welchen eine autkranfheit fich zeigt, in fo fern
die Beſtimmung des untsefuhenden gruree "dahin lautet. Begreifli
Belle find von der Aufnahme in Kleinkinderſchulen alle Kinder aus:
gefchloffen,, die an anfteddenden Hautkrankheiten leiden, und von benen
nicht :beftinumt nachgetwiefen werden Bann, daß fie bie Dienfchenblattern
gehabt Haben ober mit Erfolg vaccinirt worden find. Ueberall wirb
wohl — und mit Recht! — keine Ruͤckſicht barauf genommen, zu
weichen Glauben ſich die Eltern befennen, und ob die Kinder chellche
—— find. 2 Die Zeit bes Auszeit ber Air a Kleins
kinderſchulen wird dann eintreten,‘ wen fie die geſetzlichen nücen Bcraljahee
fen bat man —8 darauf Bedacht genommen, oder follte es
ihnen dann bafelbft ber mia Unterricht wie in ven Rädtifchen
Schulen ertheilt werben, unter Ueberwachung befielben Seitens ber
— und von ihr vorgenommener öffentlicher Pruͤfung dieſer
En in Steintinderfchulen zugelaffenen Kinder werben barin vor
er — — und a ann Io ci malt voßs
Berhdfichtigung ih zarten ohne 5*
chraͤnkung ihrer freien koͤrperlichen Bewegung. Man wird fich aber
413 Meinäinberfihuten.
lendern faſt nur ſpielend ga verfahren
zu gründen.
Die Kleinkinderſchulen werben für biejenige Beit des Tages geöff«
net fein müffen, für welche ihre wohlthaͤtige Wirfamtet beftimmt if;
alfo während ber Monate November bis Februar Morgens um 7
Ude, in ben Monaten März, Apcit, September und Detober Mor:
gens um 6 Uhr, und im den Monaten Mai dis Auguft Morgens um
Die Schule tird in den Sommermonaten länaftens um 7
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44 Sieinfinberfehulen,
Local, ber Gehalt des Lehrers, der Auffeherin und ihrer drei Gehäl⸗
finnen xc.
So viel uͤber Natur, Bedeutung und Einrichtung ber
Kleinkinderſchulen. Es iſt ſich dabei abfichtlich zunächft an eine beutfche
mittlerer Größe gehalten worden, melde ohne fehr anfehnlidhe
Unterftägungen body ſchon daran hat denken dürfen, ein eigenthuͤm⸗
liches Haus buch Ankauf fi zu verfhaffen, und (allerdings unter
der Obhut trefflich forgender Männer und Frauen) ausgezeichnet gedeiht.
Sie wird am Leichteften als Anhaltspunct bei ber tung ähnlicher
Anftalten dienen innen. Aber auch die Gefhidhte der Kleinkinder⸗
ſchulen bietet intereffante, für deren Gründung und Einrichtung eben-
falls Höchft wichtige Momente. Wie der menfchenfreundiiche Binzendorf
feine Fürforge ſchon den Kindern zumanbte, die noch unter dem Her
zen ber Mutter lagen, fo nahm Rouſſeau fi der Säuglinge an, bie
fremden Ammen übergeben waren, und trug fie zurüd auf der Mutter
Schooß. Um biefelbe Beit wurden in Holland an einigen Orten foge:
nannte Spielfhulen für die einen Kinder errichtetz der eble Pfarrer
Oberlin im Eiſaß und fpdter die großherzige Fuͤrſtin Pauline zu Lippe⸗
Detmold (1802) gründeten ähnliche Anftalten, in denen bie Kinder
der Eltern, die dem Broterwerb nachgehen mußten, Pflege und Unter-
richt in den Anfangskenntniffen fanden. Der Gedanke ſprach an, und
es wurden (feit 1824) in England, Deutfchland, Scankreih, Belgien,
der Schweiz, Ungam, Dänemark und Italien eigentliche Kleinkinder ⸗
ſchulen "eingeführt. Die Gründung von Kleinkinderſchulen in Maffe
und nad) würdigen Begriffen iſt eine Ehre, welde vorzugsweiſe den
Engländern gebührt. De. auch ‚ jenfeit des atlantiſchen Sceans, in
1 ii Bi
gleintinderſchulen. 415
Staus (dames —— Dieſer Ausſchuß ernennt dann noch
eine von, ihm zu beſtimmende Za bt Dom auffehenben Frauen —37
‚um jenes
hoͤchſt wuͤnſchenewerth fel, wenn für bie Kinder, bie nach. Vellendung
bes Tuch Jahens — | und ander
len — 1807 beabſichtigten der Localwohlthaͤtigkeitsverein und
die Privatgefellichaft freiwilliger Armenfreunde in Stuttgart, ein neues
Gebaͤude deſelbſt —— das zugleich die noͤthigen Räume ent:
. halten follte, um chule den unteren Theil der
Stadt darin aufzunehmen. — 78* nämlichen. Sabre errichtete eine An⸗
zahl von ‚rauen in Münden, die regierenbe und die verwittwete Koö⸗
nigin an ihrer Gpige, in ber Vorſtadt Au eine Kleintinderbewahren:
kalt, unb ein Ausſchuß von 0 Frauen machte ed.fich zur Pflicht, ab»
je
ficht uͤber fie u führen. Diefeb war bis bahn 6 die vierte Anftalt dies
nchen zu Beſtand und Biäthe gekommen, und
den angrenzenden Ortſchaften — und Gieſing waren aͤhu⸗
che Anſtaiten im Gange. — Zu Brescia endlich, wo 1057 eine'sola
d’asilo — * 170 Kinder aufgenommen, war mit Anfang
eine zweite geflifter worden, bie febr bald 70 Pfleglinge ber
Achalich anderwaͤrts. Der Friedenszuſtand, hoͤchſt üblicher Wohl⸗
thaͤtigkeltoſtan, bie guͤnſtige Lebenslage vieler Einzelnen und ba und
dort aus dem Mangel ſolcher Anflaiten auftauchendes furchtbares Uns
gluͤck waren der Errichtung derfelben guͤnſtig. Jedem politifchen Mei⸗
nungelampfe entnommen, von Oben und Unten gern gefehen und bes
fördert, pflüdten fe blos die Bluͤthe der geiſtig erregteren und mate⸗
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Stöften, 47
der Aemuth/ Keuſchheit und des. Gehocſams gegen die Dedens· oder
Kiofteroberen,
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bieten der Seelſorge, des Diffiensmefens, ‚bye Erziehung, Armen
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‚Bei der ungemein ausgedehnten Elnvirkung, welche das Kloſter⸗
‚oder, was hier daſſelhe iſt, das Mindhswefen mwährmd
Jahrtauſenben oder Wehe nur mancher Millionen
feines ‚unpnittelhauen ‚Angehdeigen, fonbern der
felsen malt neuerdings vergrößerte Eifer baräher wieber vorgebracht wer⸗
wornach die Einem diefer- Inflitutien unſchatbare Werbienfie wähe
ber Wergangenheit. beieneffen und in. ihe ein hauptfäclices Mit
dee Heles fs die Bufuufe erbliden,. die Mnbeven aber nicht
fine. amgeblichen. Wexbienfe maps »adex- minder ls überiääut oder
gang erdichtet halten, ſondern ImSbafonbere ein’ Möieberherfielen des
Monqhthums als durchaus, Schaden bringenb, darum vermerflich, wehl
im. Wefentlichen auch als ‘gar nicht mehe möglich anfehen — bei dies
ſer Sachlage, fagen wir, duͤrfte 6 ſewohl far Diſſenfchaft als prak⸗
der Religiofen ſeibſt, als auch der Gefammtheit, des Sta⸗es,
ya Menfchheit; 4); die Erörterung : ber Brage,. ob
ufhebung diefer Iaftitute berechtiger fel.
or 1. Befhintliher Ueberbijd bes. EntKehens und
ber, Ausbreitung bes Mönhswefene — Beben
fern des. Alterthums, den Griechen und den Römern der
lichen ‚Zeit, finden wir. feine Spur einer mit dem Möndchume
wandten Einrichtung. Dagegen bietet uns das greuelvolle Pin!
(ferden Art, „Bramanen“ im 2. Bte S. 6P1— 706, beſonders
Be in —— und Gyun damit veri audte
ſcheinui dar. Dieſe ihrem ganzen en ach. 6 ſehr
————— — mochte bei-Wielen in
‚sen jenen, duſtern, der. ganzen. Natur Hohn ſpeechenden,
wildeſte Raſerei qusartenden Fanatismus erwecden, welcher ui
Staat » &erikon. IX. Paar : |
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418 Aloͤſter.
bar bie u Selbſtvernich⸗
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daß der Wahn: durch {A on Wehe
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Wie dont * bas Ehei — — =
Möncsnefen; BR u Sm mn ums Be.
— en; —— len von Äh, gibt Aegndne
ii 6 ‚Stiftun. . Iahehundert
aber peak Bd — Tang t das Gpeiftenchum
einer nicht gu (cilbern
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ander ji
uchſten au morden und zur VERLORENEN in jener Epoche,
Klöfter. 419
waren, fo müßte man bie auf uns gelommenen Angaben von ber Ver:
mebrung ber Mönche und Nonnen gleich in den erften Decennien nad,
dem Auftreten bed Antonius, befonders aber unter feinem Schuͤler
Pachemins, wo nicht für eine reine Exbichtung, doch ‚jedenfalls für
eine Uber alles Maß hinausgehende Mebertreibung: halten. - Die Rilinfel
Tabenna, amf welcher Pachomius feinen Hauptſitz aufgefhlagen, fol
mehrmals (au Ofterfeſten) der Wereinigungspunct von ungefähr 50,000
Moͤnchen und Monnen geweſen fein. j
Alsbald aber breitete ſich das Moͤnchsweſen weiter und weiter aus.
Es fand, durch Athanaflus daſelbſt eingeführt, ungeachtet des Anfangs
erregten Ekels und Abfcheues, bald in der Stadt Rom ſelbſt Eingang
und Nachahmung (fchon im Jahre 341); überdies, theil® zuvor ſchon,
theils in der naͤchſten Bolgezeit, in Palaͤſtina, in Pontus und in
Gallien (zwifchen 328 und 370); bald aber aud in allen anderen
Theilen des römifhen Weltreichs — Der glei unmittelbar nach
feinem Tode (im 3. 379) als Deiliger verehrte Baſilius war es,
welcher die erften Geſetze und Regeln für die Kloͤſter verfaßte.
. Die Mehrzahl der Mönche, zumal in Aegypten, wo fie weitaus
am Zahlreichſten waren, befland aus Leuten aus den tiebrigften Stän-
den; aus armen Bayern, Dirten, verachteten Handwerkern und Skla⸗
ven. Sie hatten im Ganzen wenig zu entbehren, ja Viele von ihnen
mochten als Moͤnche, frei von Arbeit, noch ein bequemeres Leben füb:
sen, als ihr vorhergegangenes geweſen war*). Wer ſich ber immer
unerſchwinglicher werdenden Laſt der Auflagen, den mannigfachen Be⸗
druͤckungen, oder auch den Gefahren des Kriegsdienſtes gegen die das
Reich unausgeſetzt anfallenden Barbaren entziehen wollte, flüchtete ſich
in ein Kloſter; „ganze Legionen begruben ſich in dieſe heiligen Zufluchts⸗
oͤrter“ (Gibbon), zum augenſcheinlichen Nachtheile des Staats, deſſen
Vertheidigungsmittel an Mannſchaft und Geld dadurch ſehr bedeutend
62 wurden. Hier, in den Kloͤſtern, waren ſie nicht nur vor
ahrungs⸗ und andern derartigen Sorgen — obwohl zum unmittel⸗
baren Nachtheile des Gemeinweſens — geſichert, ſondern es umgab ſie
in dieſer Lage auch ein ſolcher Nimbus, daß z. B. Chryſoſtomus kein
Bedenken traͤgt, in einer‘ witzig fein ſollenden Vergleichung zwiſchen
einem Könige und einem Moͤnche geradezu vorauszuſetzen, ber Erſte
— ya Sarger belohnt und firenger beflzaft werden, als der
te?
Aber nicht allein durch foiche Lebensverhaͤltniſſe, ſondern auch durch
mannigfache andere Veranlaſſungen wurde die Zahl der Religiofen uns
gemein vermehrt. „Die bei dem Wolke beliebten Moͤnche,“ fchreibt der
große Geſchichtoforſcher Gibbon (History of the Decline und Fal
*) Der tier, ber ben ins tabelte, ab, da 16 Md in
—** een Ye, benn —— (G. ne? M&moires ae
slastiques tome XIV.)
5 Lib, IU.
27*
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2 I» rei
—— ee —* en Hieronpmus nicht en,
der profaine — germutter Gottes’ vet ·⸗
* diefes ihn ch — ſchaft ihrer Tochter dem
— — ee ln —
Kama, ci 6 Ba, inte fh ein
Theil der Binde, de © Strenge der Diseiplin insgehelm zu mildern **),
* BET ganz zu verlegen. erſt im Be fondern gleich
eim Beginne des —— finden wir "für diefen Satz.
Shen die 6. allgemeine Kicchenverfummlung (das fogenannte Quini-
sextum in’ Trollo) nöthig, den MWeibern zu unterſagen, die
Nacht in einem‘ und eben ſo den ——— ‚in einem
2, mie (Pieijenverfammbung veranlaße, die. Grihkang doppeiter
eritmun Stiher Air ande Befhiehte mu omsimenn Allen 16
Klöfter. 421
immer weiter zu treiben. Sie erlagen unter der drüdenden Lafl von
Kreuzen und Ketten; ... mit Verachtung warfen fie alle Kleidung von ſich,
und einige wilbe Heilige beiberlei Geſchlechts, deren nadte Körper von
nichts als ihren Haaren bebedit wurden, erregten bie Bewunderung
bee Welt! Sie gingen darauf aus, fich in jenen rohen und elenden
Zuſtand zu verfegen, in welchem ber Thiermenſch fi) kaum über feine
vierfüßigen Mitbruͤder erhebt: und es gab eine zahlreihe Secte von
Anadyoreten , die ihren Namen daher trug, daß ihre Angehörigen fich
nicht fchämten, mit der gemeinen Heerde in den Gefilden Mefopota-
miens zu Grafen (die Bosxol oder grafenden Moͤnche). Sie nahmen
oft von bem Lager irgend eines wilden Thieres Beſitz, dem fie ſich
gleichzuftellen fuchten ; fie begruben fich in irgend eine Höhle, die
Kunft oder Natur in dem Felſen gebildet hatte. Der .Anblid eines
Achten Anachoreten erweckte Abſcheu und Ekel; jede Empfindung, welche
den Menſchen zuwider ift, warb für wohlgefällig in. den Augen der
Gottheit gehalten. Selbſt die ‚‚englifche” Regel von Zabenna ver:
warf die heilfame Gewohnheit, den Körper mit Waſſer zu reinigen’ *).
— Manche erfannen ſich Acht fakirartige Bußuͤbungen, wie der heilige
Simeon, der 30 Jahre auf einer Säule zubrachte. Es ward für ver:
dienftlich gehalten, wenn der Moͤnch feine Verwandten — eine zaͤrt⸗
liche Schweften oder bejahrte Eitern — durch hartnädige Verweigerung
eines Wortes oder eined Blickes betruͤbte. (Der aͤgyptiſche Moͤnch
Dior erlaubte zwar feiner Schwefter, ihn zu fehen, hielt aber während
ber Dauer des Befuches feine Augen feft gefchloffen.)
Nicyt völlig in gleicher Weife wie im Driente, entwidelte fi, das
Moͤnchsweſen im Decidente.e Sind die Bewohner des Abenblandes
ohnehin am fi ſchon weniger leicht in gleihem Maße, wie bie Orien⸗
talen, zu fanatificen **), fo machte auch fchon das rauhere Klima manche
jener fonderbaren Bußuͤbungen unausführbar. Benebict von Nur:
Tia (geboren um das Jahr 480, geftorben 543) war es, ber im
Abendlande die erfien Regeln für das Kloſterweſen feſtſetzte. Sie er
Iangten hier fchnell allgemeine Geltung, und man traf bald in ganz
efteuropa Seinen anderen, als den Benedictinerorden. Venedict war
es auch, ber die förmliche Verpflichtung auf bie drei allgemeinen Klo:
95) GSibbon, im 37. Capitel ſeiner Geſchichte des Sinkens und Falles
des roͤmiſchen Reiches. — Die Schweſter bes Rufin, Silvania, welche zu Je⸗
ruſalem lebte, iſt in der Kloſtergeſchichte berühmt: 1) weil fie fünf Millionen
Zeilen in den Schriften ber Kirchenväter geleſen; 2) weit fich dieſe reine Seele
in einem Alter von 60 Jahren rühmen konnte, daß fie nie ihre Hände, ihr
Gefiht oder fonft irgend einen Theil ihres Leibes gewafdhen habe, ausgenom:
men die Kingerfpigen, um bie heilige Gommmunion zu empfangen.
**) Die ftärkere Eßbegierde der Gallier machte es ebenfalls unmoͤglich, es
ben Aegyptiern an GEnthaltfamkeit in der Nahrung gleichzuchun. Auch be;
klagte es Benedict, daß er feinen (occibentalifchen) Mönchen täglich eine roͤmi⸗
fhe hemina Mein zugugeftehen fich genöthigt gefehen habe,
Kloͤſter. 423
guſtinus diejenigen, welche behaupteten, die Ehe der Religioſen ſei
nicht eine Ehe, ſondern ein Ehebruch (de bono viduitatia Cap. 10).
„Dieſe unbeſonnene Behauptung,“ ſagt er, „kann großes Uebel ſtiften.
Indem man verlangt, daß dieſe Frauen in ihre Kloͤſter zuruͤckkehren,
macht man aus ihren Gatten wahre Ehebrecher, indem man fie er:
mädhtigt, während des Lebens ihres erſten Weibes eine zweite Ehe ein:
zugehen. Ich kann daher nicht beiftimmen, daß ſolche Verbindungen
feine Chem fein.‘
Dos Coneitium von Chalcedon verbietet mar denen, welche Pro:
feß gethan, das Eingehen der Ehe bei Stenfe ber Ercommunication;
doch Eonnte der Biſchof diefe Strafe erlaffen. Das Concil felbft er-
MAärt die: Ehe keineswegs als nichtig; es verfügt nicht, daß fich die
Gatten einander verlaffen müffen, fondern untertoirft nur den fchulbi:
gen Theil den kanoniſchen Strafen, von welchen überdies ber Biſchof
gleichfalls zu dispenſiren ermächtigt ift.
Erſt Gregor IX. war es, welcher zu Anfange des 13. Jahrhun⸗
derts verfügte, daR die Meligiofen aus dem Kloſter weder austreten,
noch daraus fortgefhidt werden koͤnnten. Obwohl dieſer Grundſatz
Anfangs lebhaft beſtritten ward, erlangte er doch in der Kolge unbe⸗
dingte Geltung, und es flimmten ſeitdem alle kanoniſchen Geſetze dem
Princip der Irrevocabilitaͤt der Kioftergelübbe bei.
4) In früherer Zeit verzichtete auch der Mönch oder die Nonne
nicht auf das Privatvermögen. Nachdem Kaifer Zuftinian, mie oben
bemerkt, im Jahre 532 den Austritt aus dem Kloſter verboten hatte,
verfügte er durch ein nachfolgende® Decret die Confiscation desjenigen
Vermögens bes Fluͤchtlings, welches zer zur Zeit dee Entweichung be⸗
feffen hatte, zu Gunſten bes beteffben Kloſters.
5) Was die eigenthuͤmliche Kleidertracht der Moͤnche be:
trifft, fo ward ein phantaſtiſcher Anzug zwar vielfach durch Schwaͤr⸗
merei, durch Eitelkeit ſich auszuzeichnen, und durch Aberglauben erſon⸗
nen, — nicht ſelten aber wechſelte er auch blos nach den befonderen
Verhaͤltniſſen des Himmelsſtriches und des einzelnen Landes. So ſah
man namentlich im Oriente die Moͤnche bald in das Schaffell bes
aͤgyptiſchen Bauern, bald in den griechiſchen Phitofophenmantel gehuͤllt.
In Aegypten mar ihnen ber Gebraud) der Keinwand, als eines wohl:
feiten einheimifchen Productes, erlaubt, während ihnen biefelbe in ben
Abendländern, als eine theuere auständifhe Waare, als Lurus ver:
boten warb.
6) Der unbedingte Gchorfam, melden Möndje und Nonnen
ihren Oberen zu leiften verpflichtet waren, wurde duch Strafen auf:
recht erhalten, die mit der Rohheit jener Zeiten im Einklange flanden.
„Die Handlungen des Möndys, feine Worte und felbft feine Gedanken
wurben durch eine unabänderliche Ordensvorſchrift, oder die Yaune feine®
Vorgefesten beſtimmt.“ Die geringfte Webertretung zog Schande und
Strafe nach fih. „Die in ben Abendlaͤndern weit verbreitete Regel bes
424 Kiöfter.
Columbanus beſtimmte 100 Geifelhiebe für ſehr unbebeutende Ver⸗
gehungen. Vor ben Zeiten Karl’6 bes Großen erlaubten fid die Achte,
ihre Mönche zu verſtuͤmmeln, oder ihnen die Augen ausſtechen zu laffen;
eine Strafe, die aber nod) lange nicht fo graufam war, als das fpätex
aufgelommene ſchreckliche Vade in pace — das unteritdiſche Befäng-
niß oder Grab, in das man fie oft einmauerte.” (Bibbon.)
Der Benedictinerordben verbreitete fi) ungemein. Die Moͤnche
erlangten einen ungeheueren Einfluß in allen Vorkommniffen des Lebens.
Mehr und mehr brachten fie auch das Exziehungswefen faft ausſchließ ⸗
lich in ihre Hände. Wie aber ihr Wirken in dieſer Beziehung war,
davon gibt die in jenen Zeiten allgemein herrſchende Rohheit und Un:
wiffenheit wahrlich kein ehrenvofe® Zeugniß. Sie gelangten überdies,
befonder® in Zolge des Aberglaubens und ber Geiftebefchränktheit, der
Vornehmen nicht minder als der Menge des Volkes, oft unter Be:
nugung der unntgealifheften und gehäffigften Mittel, zu enormen Meich-
thümern. Dadurch wurden um fo mehr Mißbraͤuche und Ausſchwei⸗
fungen aller Art begünftigt. Die Gittenlofigkeit feste fich ſehr frühe
in einem Saum glaublihen Maße in diefen Inſtituten fefl. (Näheres
datuͤber in ben folgenden Paragraphen dieſer Abhandlung.) Die Fürs
ſten und bie anderen weltlichen Großen, bie fo oft den ſchlauen Möns
hen zum Spielball dienen mußten, benußten ihrerfeits die Miöfter auch
mieber zu mandherlei nicht zu vechtfertigenben Zwecken. Es war etwas
Gewoͤhnliches, daß die Hertſcher ihre befiegten Gegner, oder die Bor:
nehmen, überhaupt ihre Verwandten (befonders die Nachgeborenen ihres
Gefcjtechtes). kurzweg in die Convente ſteckten. ‚(Man erinnere ſich in
erfter Beziehung nur des Verfahrens Pipi— d Karl
De& Großen.) uukerd bie Hsreich
Klöfter. 425
müffe *). Diefe Anflalten mußten von Anfang an Bereinigungsorte
der unwiſſendſten Menfchen, Hauptfitze jeglicher Beſchraͤnktheit und des
allergraſſeſten Aberglaubens merben ; : Vereinigungen von Leuten, tie
man fie von gleicher Unwiſſenheit ſchwerlich auf andere Weiſe hätte
zufanımei tönnen.
Zuletzt entſtand ber furchtbare Jeſuitenorden (f. den Artikel ‚Ie
fuiten‘‘).
Das Licht der Aufklärung, welches fich nach ber Erfindung ber
Buchdruckerei wieder mehr und mehr zu verbreiten begann, Tonnte un»
möglich dem Kloſterweſen Mugen bringen. Der erfte Schlag warb aber
durch die Seformation und in Folge berfelben wider jenes Inſtitut
geführt. Die weltlichen Herrſcher fanden es um fo zuträglicher, die
Grundſaͤtze der neuen Lehre hierüber anzunehmen, je größer die von den
Kıöftern angehäuften Reichthuͤmer waren. Eine Menge Convente
der verfchiedenfien Orden wurden in den proteflantifhen Ländern auf:
gehoben. Indeſſen läßt es fidy doch nicht verdennen, daß deren Ber:
mögen faft fämmtlich den Alteren oder (meiſtens) neu gegründeten
Bildungsanflalten als Dotation zugewiefen, Weniges nur uns
mittelbar zu Staatszwecken verwendet ward.
In den fämmtlihen katholiſchen Ländern befanden inbefien die
Kiöfter, obwohl bald vielfady mit ſehr geſunkenem Anfehen, ungehindert
fort, bis Kaiſer Joſeph, kuͤhn voranfchreitend mit dem Geifte der
Zeit, verfchiedene Orden in den äfterreichifchen Staaten ganz aufhob,
andere weſentlich befchränkte und insbefonbere viele hundert Convente
fäcularificte. Ä Ä
Viel entfchiebener aber trat bie franzoͤſiſche Revolution auf. Schon
im Februar 1790 decretiree bie Nationalverfammiung: „Das conflitu:
tionefle Geſetz des Königreichs erkennt keinerlei Kloftergelübde an: bie
religiöfen Orden und Songregationen find und bleiben daher in Frank⸗
reich aufgehoben, ohne jemals wieder eingeführt werden zu innen.” —
Die Kloftergüter wurden zu Rationalgütern erklärt, den Angehörigen
diefee Inſtitute aber lebenslängliche Penſionen ausgefest, doch bei dem
bald eingetretenen allgemeinen Geldmangel nur felten wirklich entrichtet.
Dem Beifpiele Frankreichs ahmte man in der Folge (obwohl nicht
mit gleicher Ausdehnung und Strenge) in vielen anderen Ländern nad;
fo 3. 8. in-Oberitalien; unter dem Miniſterium Montgelas in Baiern;
unter König Joſeph's Regierung und fpäter unter ben Cortes in Spa⸗
nien ; 1810 in Preußen ; dann in Rußland, wenigſtens bezüglich ber
kathollſchen Kloͤſte. Doch wurden nur in Baiern dieſe Sinftitute
ſaͤmmtlich mit einem Schlage wirklich aufgehoben.
*) Selbſt das Kioftergebäube ſollte nicht bas Eigentfum ber Anftait fein,
fonbern es follte biefer nur eine Art RNutungsrecht zuftehen, fo lange der
wahre Gigenthümer,, nämlich der päpftllihe Stuhl, nicht anders barüber
verfüge! (Wenn man heute irgendwo auf Staatskoſten Mendicantenkloͤſter wie:
derherſtellt, bärfte auch biefer Unſtand gu beachten fein.)
öfter. 427
- den, unwirthlichen und wenig oder gar nicht bewohnten Gegenden, und
fobann vor Allem die Erhaltung geiftiger Cultur, insbefondere bie
Aufbewaleung dee Ciaffiter bes alten Griechenlands und Roms —
BVerbienfte, bie allerdings als in hohem Grade wichtig und preiswür-
dig anerkannt werden müjfen, wenn biefe Anfprüche ſich vor einer
fritifhen Prüfung, zumal in der gewöhnlid angenommenen Ausdeh⸗
nung, als ber Wahrheit gemäß erproben.
a) Die angeblihen Verdienfte der Mönche um Ur—⸗
barmahung des Bodens. Begreiflicher Weile waren die Mönche
nicht in allen Ländern im alle, den Boden erſt urbar machen zu
müffen. Als das Moͤnchthum in Aegypten auflam, mar das dortige
Land, unter der civilifirten Herrſchaft der Römer ftehend und von
feinem auswärtigen Keinde angegriffen, fortwährend in einem culti⸗
vieten Zuſtande. So auch in anderen Gegenden, und zwar des Oe⸗
cidents nicht minder als bes Orients.
Hauptfächlich foll man nun den Mönchen ben Anbau des Bodens
in Deutfhland in ben erfien Jahrhunderten nad) ber Voͤlkerwan⸗
derung zu verdanken haben, und dieſes ift ſonach der Punct, den mir
hier unterſuchen muͤſſen.
Wir koͤnnen abſehen davon, daß ſelbſt Tacitus ſchon Deutſchland
als ein fruchtbares, mit Fluren, nutzbaren Waldungen, großen um:
zaͤunten Höfen und Ackerfelbern bedecktes Land ſchildert. — Die Cultur,
welche in allen von den Roͤmern beſeſſenen Gegenden beſtanden hatte,
zumal am Rheine, dem Lech, dem Inn und der Donau, vermochte
gewiß nie gaͤnzlich vernichtet zu werden; die fremden Eroberer nahmen viel⸗
mehr, wie wie aus mannigfachen Zügen wiſſen, gar Vieles von den Sit:
ten und Einrichtungen der Befiegten an; und mo bie alten römifchen Colo⸗
nialftädte, ungeachtet einzelner momentaner Zerſtoͤrungen, fortbeflanden
(Coͤln, Trier, Mainz, Speier, Straßburg, Augsburg, Regensburg, Satz:
burg und zahllofe andere), da Läßt fi wohl gewiß nicht annehmen, dag
ber Boden des ganzen Landes unurbar und zu einer Wildni geworden,
und in biefem Zuftande, bis zum Emporlommen ber Kloͤſter, fo ge
blieben fei. Auch iſt es wirklich hiſtoriſch erwieſen, daß der beſſere Bo⸗
denanbau zuerſt in der Umgegend der Staͤdte Statt fand (ſ. Nic.
Vogt's rheinl. Geſchichte J. 437, und Sophronizon von Pau⸗
(us, VII. Bb. 3. Heft. ©. 22 u. 23).
As nun das Moͤnchthum Eingang im Herzen von Deutfchland
fuchte und fand, trafen feine erften Einwanderer felbft dort ſchon glän-
zende Hofhaltungen der heidnifchen Fürften diefer Gaue, große Her-
z0g6pfalgen, auch Städte, Flecken und Dörfert).
„Set erſt erfolgten alimälig die meiften und wichtigſten Stif:
tungen dee Kiöfter, und zwar weit feltener in ben milden, als gerade
*) Nähere Nachweiſungen, befonders in Beziehung auf Batern, in dem Auf:
fage des geiftreichen Ritters von. Lang: „Maren bie Kiöfter Wohlthäter
Deutfchlande 3” im 7. Bande, 3. Heft bes Sophronizon, Seite 3 und 4,
Kloͤſter. 429
. Allein bei der Frage: ob das Moͤnchsweſen ber Cultivirung bes
Bodens Nusen brachte, kann der Umſtand überhaupt am Weniaften
entfcheiden, ob etwa ba ober dort ein paar Morgen Landes wirklich
durch Kloſterbewohner angebaut wurben ober nicht. Es kommt vielmehr
zunaͤchſt darauf an, welche Wirkung bie Eriftenz eines Kloſters auf
den Bodenanbau feiner Umgebung im Ganzen hervorbrachte. Und
hier findet dann ber unbefangene Beobachter ein ſolches Ergebniß, daß
er unbedingt antworten muß: jene Wirkung mar eine im hoͤchſten
Grabe ſchaͤdliche und verberbliche !
Wo einmal ein ſolches Kiofter beftand, mußte ringsum alles freie
Privateigenthum verfchwinden. Schon Karl der Große wirft dem
Aebten (in einem GCapitulare vom Jahre 811) vor: fie fucten Ge
fegenheit an ben armen Dann zu kommen, ber ihnen fein Eigenthum
nicht freiwillig überlaffen wolle, indem fie ihm fo lange die fchwerften
Orden (fonah mit Ausfchluß ber ohnehin bier nichts bewelfenden neueren,
und eben fo der Ronnenklöfter).
A) Benedictinerkloͤſter: 1) Limburg, die glänzendfte und reichfte
Abtei in unferem Lande, war das Refibensfhlod eines Kaiſers (Conrad's II.)
geweſen und von biefem den Mönchen überlafien worden; — 2) Hornbad,
einft ein gräfliches Jagdſchloß, das ber heilige Pirmin zum Gefchente zu er:
halten wußte, indem er bie raubere und wirklich uncultivirte Gegend von Pirs
mafens, wo er ſich Anfangs niedergelaffen, wieder verließ; — 3) St. Lam :
brecht, eine reich botirte Stiftung des rheinfränkifchen Herzogs Dtto; —
4) Remigiberg, eine eben foldhe, mit mehreren Dörfern ausgeftattete Stif:
tung , welche der heilige Remigius von König Glodwig zu erhalten wußte; —
5) Klingenmünfter, Stiftung bes Könige Dagobertz — 6) St. Gers
man, ein ehemaliger heibnifcher Tempel, 4 Stunde von ber bedeutenden Stadt
Speier, in defien Beſig die Mönche zu kommen wußten; — 7) Difibodens
berg, foll zwar in einer Wirbniß, aber, wie doch beigefügt wird, „in der
Nähe des ſchon in der Römerzeit beftandenen Obernheim auf der einen, unb
des alten Ortes Boos auf der anderen Geite” erbaut worben fein.
B) Giftercienfer: 1) Eußersthal (Uterina vallis) war zuvor, ehe das
Kiofter entftand, eine bewohnte Gegend, denn man fand ſchon damals bier
eine Kicchez auch warb bas Klofter gleich in ber erften Zeit durch den Biſchof
von &peier mit einem Gute beſchenkt; 2) Diterberg, bas Kıofter, war zus
vor eine Burg, welche der ſchwaͤbiſche Graf Siegfried den Mönchen fchenkte;
— 3) Werſchweiler, urfprünglid ein altes Schoß fammt Kirche, ein
Geſchenk der Grafen von Saarwenden. (Auch das Giftercienfer s Ronnentlofter
Rofenthal war bie Stiftung eines Grafen Eberhard.)
C) Praͤmonſtratenſer: 1) Klofter zu Kaiferslautern, eine Stiftung
Kaifer Friedrich's des Rothbarts; — 2) MünftersDreifen, eben fo eines
Herzogs Ratharins. 0
) Wilhelmifer: 1) Sräfinthal, eine Stiftung der Graͤfin Giifabeth
von Bliescaſtel, 4 Stunde von dem Städtchen Bliescaſtel ſelbſt entfernt.
E) Augufliner-Chorherren: 1) Kiofter zu Frankenthal, eine Stiftung
Edenbert’s von Dalbergz — 2) Hert (Hörbt), eine foldhe des Hermann von
epielberg — 3) Höningen, bitto eines Grafen Emich von Leiningen, nahe
bei feinem Schloſſez — 4) Kiofter zu Landau, ebenfalls von einem Grafen
Emich von Leiningen geftiftet. —
Wir haben dieſer Ueberficht nur die Bemerkung beizufügen, daß wir kein
einziges —* Aheinbaiern beſtandenen Kloͤſter dieſer aͤlteren Orden über:
gangen .—
438 Kiöfter.
in den volkreichſten unb gewerbfamften Gegenden, ganz vernunftmäßig
dem vorgeftedten Zwecke gemäß, von folden Puncten aus bie chrifls
liche Religion deſto ſchnellet und wirkſamer auszubreiten. .. Nachdem ich
Urfprung und Stiftung von mehr als 200 folder Kiöfter, allein im
heutigen Königreich Balera (naͤmlich dem rechts des Rheines gelege:
nen Haupttheile deſſelben) hei jedem beſonders, in Unterſuchung genoms
men; fo muß ich geftehen, daß mir nicht ein einziges vorge
tommen, von welchem fi, mit Grund und Wahrheit behaupten ließe,
es fei von ihm bie erſte Cultur des Bodens, worauf es geflanden, herz
vorgegangen.” (v. Lang.) '
Dee naͤmliche Werfaffer bemerkt nun fehr richtig, daß zur Urbar⸗
machung des Bodens nicht mitgewirkt haben Binnen: 1) die Nonnen-
öfter, 2) bie ihren Statuten nad befiglofen WBettelmönde, und
3) überhaupt alle in neuerer Zeit, zumal vom 13. — 16. Jahrhun⸗
dert erſt entftandenen Orden. Es bleiben fonady nur noch einige Be—
nedictiner⸗, Praͤmonſtratenſer⸗, Eiſtercienſer⸗ oder Augufliner: Kiöfter,
die möglicher Weiſe den Boben, auf dem fie erbaut wurden, vielleicht
urbar gemacht haben koͤnnten. Alein die vorhandenen Urkunden
weifen im Gegentheile nach, daß biefe Convente faft ohne Ausnahme
in bevoͤlkerten / längft angebauten Gegenden, befonders in Haupt: und
Nefidenzfäbten errichtet wurben, oder daß bie Mönche ſeibſt landes⸗
hercliche und fonftige adellche Schlöſſer in Eigenthum zu erlangen wuß⸗
ten, und fobann diefe Schlöffer in Köfter ummwanbelten. Ueberall zei⸗
gen bie noch vorhandenen Documente, zumal bie Stiftungsurkunden,
daß die Mönche zu ihrer Anfiedelung empfingen „nicht terras novel-
landas vel cultivandas, fondern cultas cum incultis, agros,
mancipia, prata, pascua, sylvas” x. ıc. Die Zahl folder noch
vorhandenen Urkunden aus alen Gauen unferes Waterlandes geht in
das unendliche *)!
Kloͤſter. 429
. Allein bei der Frage: ob das Moͤnchsweſen ber Cultivirung des
Bodens Rusen brachte, kann der Umſtand überhaupt am Weniaften
entfcheiden, ob etwa da ober dort ein paar Morgen Landes wirklich
durch Kloſterbewohner angebaut wurden ober nicht. Es kommt vielmehr
zunaͤchſt darauf an, welche Wirkung bie Eriftenz eines Kloſters auf
den Bodenanbau feiner Umgebung im Ganzen bervorbrachte. Und
hier findet dann der unbefangene Beobachter ein foldyes Ergebniß, daß
ee unbedingt antworten muß: jene Wirkung war eine im höchften
Grade fchädliche und verberbliche !
Mo einmal ein foldyes Kiofter beftand, mußte ringsum alles freie
Privateigenthum verfchwinden. Schon Karl ber Große wirft den
Aebten (in einem Gapitulare vom Jahre 811) vor: fie fuchten Ge
fegenheit an den armen Mann zu kommen, bee ihnen fein Eigenthum
nicht freiwillig überlaffen wolle, indem fie ihm fo lange die fchwerften
— —
Orden (ſonach mit Ausſchluß ber ohnehin Hier nichts bewetſenden neueren,
und eben fo der Ronnenklöfter).
A) Benedictinerkloͤſter: 1) Limburg, die glängendfte und reichſte
Abtei in unferem Lande, war das Refdenufälch eines Kaiſers (Conrad's II.)
gemwefen und von diefem den Mönchen überlaffen worden; — 2) Hornbad,
einft ein gräfliches Iagbfchloß, das der heilige Pirmin zum Geſchenke zu ers
halten wußte, indem er die rauhere und wirklich uncultivirte d von Pirs
mafens, wo er fich Anfangs niedergelaflen, wieder verließ; — 3) St. Lam :
brecht, eine reich botirte Stiftung bes rheinfränkifhen Herzogs Dito; —
4) Remigiberg, eine eben folche, mit mehreren Dörfern ausgeftattete Stif:
tung , weiche der heilige Remigius von König Glodiwig zu erhalten wußte; —
5) Klingenmünfter, Gtiftung des Könige Dagoberts — 6) Gt. Ger⸗
man, ein ehemaliger heibnifcher Tempel, 4 Stunbe von ber bedeutenden Stadt
Speer , in deffen Beſig die Mönche zu kommen wußtens — 7) Difibodens
berg, foll zwar in einer Wildniß, aber, wie boch beigefügt wird, „in der
Nähe des fchon in der Römerzeit beftandenen Obernheim auf der einen, und
des alten Ortes Boos auf der anderen Seite“ erbaut worben fein.
B) Liftercienfer: 1) Eußersthal (Uterina vallis) war zuvor, ehe das
Klofter entfland, eine bewohnte Gegend, denn man fand ſchon damals bier
eine Kirchez auch warb das Klofter glei in ber erften Zeit durch den Biſchof
von Speier mit einem Gute beſchenkt; 2) Dtterberg, das Kıiofter, war zus
vor eine Burg, welche der ſchwaͤbiſche Graf Giegfried ben Mönchen ſchenkte;
— 3) Werſchweiler, urfpetnglich ein altes Schloß fammt Kirche, ein
Gefchen ber Grafen von Saarwenden. (Auch das Giftercienfer s Ronnenklofter
Rofenthal war die Stiftung eines Brafen Eberhard.)
C) Praͤmonſtratenſer: 1) Kiofter zu Kaiſerslautern, eine Stiftung
Kaiſer Friedrich’s det Rothbarts; — 2) Münfter-Dreifen, eben fo eines
Ratharius.
vens) Wilbhelmiter: 1) Graͤfinthal, eine Stiftung der Bräfln Cuſabeth
von KBtlescaftel,, 4 Stunde von dem Städtchen Bliestcaſſel feibft entfernt.
E) Augufliner-Chorherren: 1) Klofter zu Frankenthal, eine Gtiftung
Edenbert’s von Dalberg; — 2) Bert (Hörbt), eine folche des Dermann von
©pielbergs — 3) Hoͤningen, bitto eines Grafen Emich von Peiningen, nahe
‚ bei feinem Schloffes — 4) Klofter zu Landbau, ebenfalls von einem Grafen
Emich von eningen geftiftet. —
Wir haben biefer Ueberficht nur bie Bemerkung beizufügen, daß wir kein
einziges en Rheinbaiern beftandbenen Kloͤſter diefer älteren Orden über:
430 Köfter.
Kriegitaften und Büge zumutheten, bis er endlich nicht mehr anders
inne, als fein Weftgthum zu übergeben oder zu verlaufen. (Occasio-
nem quaerant super illum pauperem, quomodo eum condemnare
possint, et illum semper in hostem faciunt ire, usque dam pau-
per factus, nolens volens suum proprium tradat aut vendat.) —
dv. Lang führt eine ganze Reihe von Beiſpielen an, daß Einzelne fo:
wohl, als ganze Ortfhaften ihe freies Eigenthum ben Kloͤſtern abs
traten, um baffelde bann als deren Zins⸗ und Lehnsleute“, oder als
Pächter, oder Knechte zu bauen. — Ja, nicht zufrieden damit, das
Grunbeigenthum auf ſolche Weiſe zu erlangen, wußten fie fehr häufig
es fo weit zu bringen, daß fogar auch die Menfhen, welche dieſe Ge:
genden bewohnten, ihnen leibeigen wurden. Man weiß viele Bei:
fpiele, daß ie hochabeliche Frauen (ex utriusque parentibus libera
et satis nobilis, — liberrimae conditionis etc. etc.) ſich und ihre
Nachkommen biefem oder jenem Kiofter leibeigen erklaͤrten.
Daß aber durch ſolche Verhaͤltniſſe die Cultur des Bodens nicht
gefördert, — daß fie vielmehr da, mo fie ſchon vorangefchritten war,
nicht nur gehemmt, fonbern weit zurüdgemorfen ward, iſt wohl
jedem vernünftigen Beobachter Mar. Die Cultur des Bodens erheifcht
freie Menfhen und freies Eigenthum dieſer Menden. Wer
immer ausſchileßlich zum Nugen von Anderen arbeiten muß, wird in
der Regel ſtets wenig und ſchlecht arbeiten. Der einzelne Möndı
felbft aber war nicht einmal Eigenthämer, abgefehen davon, bag er
bei feinem Duͤnkel — feinem Stande nad) weit erhaben zu fein über
die anderen Leute — es gewiß mit feltenen Ausnahmen verfchmähte,
gleich einem gemeinen Bauer zu arbeiten. (Selbſt ſchon die rohen
Watdbrüder ernährten fich lieber von bem Almofen, das ihnen bas
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zu Stande brachte, auf, Entwicelung der Eultur der Menfchheit einen
wefentlid) bemerlharen wohlthaͤtigen Einfluß gedußert habe? — Ge:
wiß wird kein ‚mit- der Eulturgefchichte mahrhaft vertrauten Mann diefe
Frage ‚bejahend beantworten m!
Allein , wird, man, einwenden, wenn ſich die Mönche auch nicht
verloren fein, ‚wenn die Mönde uns dieſelbe nicht in. Abſchriften auf ⸗
bewahrt hätten. — W
Klöfter. 438
un rer hetruͤhrte, * den Bieten von bern vom ben
ver un gaicdtg, 8* gerucihaft.. —
arabe Maflede flomnkta an) den seien. Ceiaben der
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‚une ‚enafeene zu ‚Grund Di Einigung Di war eher
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fonderen Tendenzz denn und Schreiben fordert
der Heilige. Ken einen 55 einmal ; A
nothwendige Bedingung. man nue nad) Seömmigkeit-ficehte,
‚oder, vielmehr, nach dem mas man dafur hielt „ward gerade die gel⸗
flige „fucc \ das; Streben
« der, nom Rateini
Ela. dl Du 38
—— Be, in meer m DS
e mi m Zeit, in welcher im der Een
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von „der, Vogeliveibe | en 18 der Abt — in dem —
ten Stifte St. Gallen mis; feinem ı 5 Eapit ne gleich
Sem u Ren Sa Saba: one
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"bendi a tn — 1
297: testis rn ‚Abbas,
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434 Kiöfter,
soribere nesoiens. —
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bie beſonderen en wen: N
Große (Capittil. de 788) über !hre sermonus Inotli
ta discendi und ihre Hnkar Ineradim, and An
(Gspitul. de 802) Aber ihre Aufgededten Torniosti
et ——— die man sine horrore nicht
höherer Bildantz .
gen ohne Baht. ) Sqhiiderungen —*
von Tours (des illgen aufgenonmienen Exz-
biſchofs) und anderm ge gewth unwertverflicher 233
atenthalben die grellſten Zuͤge von Neid, Ehebtuch, Woliuſt, Math:
ſucht, Veteigereim der verſchiedenſten Art, Freßſucht und Trunkruheit,
Stumpfſinn und Hinteruſt Peahlecti umd Zankſucht Habfucht ud
Verſchwendung, ———8 jeder Form, Giftmiſcherei "Memmeid
Kloͤſter. 435
Bedenken zu id
4 "Den 6 ſtellen wir die iealleniſa Freiſtaaten. Die
& wintnall mit az von
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— nufanmenpalke era Vielen wien Gonopaten 1c van Denen
nähere Nachrichten auf uns —— find, “ir nun auch nit ein eim ‚iaer, .
Sedaric nidht in Mrfunden, bald —— pi, über „‚Wetfall‘ der
Bucht und Srdnung gar fehr geetagt wolrbe. ft erfichtlich, daf man in .
den Kıöfteen weit —* wegen Aufzeichnung ale, als der ehwa voll»
Ken gell uten Werke, ober wegen, geiftiger Gultur beforgt war.
on gef en — —— — oder * —— anlage findet u ne
—38 —— jogen fteht dagegen: aue u
—* * Ein alte ———— —— — —————
ganz beſonders aber nie * — Bein AH Fi * Bars ober Hundert
— ray — — — et ee al trie
um, en gehabt. —34 je fen Züge ges
‚ duch en uch —— Streitigkeiten iS den Religiofen
28*
436 Kloͤſter.
gegenwärtige Generation,” ſchreibt Sim on de de Sismondi (Ge
ſchichte der italieniſchen Republiken des Mittelalters), „verdankt den
italienifchen Freiſtaaten das Erbtheil des claffifchen Alterthums.“ Hier,
in diefen Freiſtaaten, lebte ein Geift, der den Werth jener alten Schrif⸗
ten beffer zu würdigen, beſſer zu füäten, wußte, als jemals der in
den Kiöftern haufende Bigottiömus. Verhältniffe » die freie Ber
wegung des Volkes in diefen te brachten es mit ſich, daß
man ‚höhere Geiftesbildung, Unterricht überhaupt, unterftügte und be:
förderte. — Der ausgedehnte Handel aber nad allen Gegenden ber
damals bekannten Welt (de6 Drients wie des Decidents) bedingte und
führte herbei auch einen geiftigen Verkehr.
2) Die freien höheren Schulen, ausgebildet als Univerfitäten,
reihen ſich würdig hier an. Sie führten erſt recht wieder in das
Leben ein jene claſſiſchen Schriften des Alterthums, die, wären fie
aud) wirklich in den Kloͤſtern ausſchließlich zu finden geweſen, bort doch
nur vergraben gelegen haben würden. Kaum waren bie Pandekten
wieder aufgefunden, im Jahre 1137, fo wurde auch alfobald, fo zu
fagen, die ganze damalige Welt von Bolognas Lehrftühlen aus mit
ihrem Inhalte befannt und vertraut gemacht (f. Giann. hist. lib. IX.,
cap. 21), und durch deren fchnell weit ſich verbreitende Geltung ein
Rede qußand befördert, ber zuc Entwidelung der Cultur vor Allem
nöthig. ift,
3) Auch die übrigen Gebildeten der verſchiedenen Stände,
Laien und MWeltgeiftlihe, trugen gewiß nicht felten zur Erhaltung der
igen Schaͤtze bes Alterthums bei, und gluͤcklicher Weife verſchwan⸗
den folche Leute felbft in jenen dunfefen Zeiten nie ganz aus ben Län:
dern Mitteleuropas, Man denke nur an Gregor von Tours und Fre
Kiöfter. 487
für die Kunft *), blieb Conſtantinopel auch für die Wiffenfhaften
ein Hauptafplort. , Der rege Verkehr zwifchen diefer Stadt und dem
Zbenblande beſonders von den » Beiten dee Kreuzzuͤge an und nament:
ih mit Itallen, gewährte dem Oecidente fortwährend ‚Geiegenpei
* —— — mit, Byzanz. (Dadurch wird auch
tlich Bar, wie es kam, daß — obrechl,,in den Kioſtern bie grie⸗
weſen
ch iſche Space ohnehin faft nirgends cultivirt ward, — dennoch von
den griechiſchen Autoren jm Grunde weniger verloren ging, als
von ben eömifchen. So befigen wir z. B. bie drei Haupthiftoriker
der Erſten — den Herobot, Thukydides und Zenophon — vollftändig,
während die beiden ausgezeichnetften GSefchichtfchreiber der Lebten —
Taeitus und Livius — nur hoͤchſt unvollfiändig auf uns gelommen
find.) - Wie ſehr ſich aber bie geiflige Eultur bis zum völligen Unter:
gange des oftebenifihen Reiches, in Conflantinopel forterhielt, zeigte bes
ſonders bie gruͤndlich gebildeter sten, bie ſich alsdann in
yielen Ländern pas namentlich in Itallen, verbreiteten. (Wir
Co karis .) Domals, als,
Gonftantinopel im die Hände: der dee Then, ‚fiet.-(1468), war aber bie
Buhdruderei bereits erfunden —
5) Die Araber und Iuden ig Eyanien, Erſtere theils auch
in Sübitalien, —* ebenfalls manche Glaſſiker aufbewahrt. Bei
dem wiffenfchaftlichen Streben fo vieler Angehörigen biefer beiden Na-
tionen, zumal ihren mitunter ausgegeidhneten Leiſiungen in dem Ge:
biete der. Mathematik, Ar — Geographie, Heilkunde u. ſ. w.,
kann thmen der Werth — 25 — Schriften des Alterthums
nicht lange entgangen ſein. Die Kenber insbeſondere ſchaͤtzten diefelben
fo ſehr, daß fie viele davon in ihre Mationalfprache uͤberſetzten.
Selbſt den Ariſtoteles lernten die Kloöͤſter zuerſt In einer arabifchen
Ueberfegung, nie in der Urfprache, kennen. (Die vor etwa 10 Jah⸗
ren von den Weiten in Indien entdedite Neberſehung des Ariſtoteles in
die Hindus Sprache ſcheint gleichfalls eine arabifche Uebertragung zur
Grundlage zu haben.) . |
6) Endlich hat uns aud) der Zufall mandhe a — Schri —8
halten; ſowehl außerhalb als innerhalb ber Kl rde
doch fon im fruͤheſter ‚Zeit Ariſtoteles ſelbſt nur durch gr "glückliches
Ungefäht unter ber Erde erhalten, wo ihn Apellikon von Teos ent:
Ein Ungefähr ſoll (wenigſtens nach der einen DVerfion) des.
afinion Pandekten gerettet haben; ein Ungefähr hat jedenfalls ben
Gajus erhalten, den. die Mönde ausgekratzt hatten, um die Briefe
*) „In Gonſtantinopel, fagt Winkelmann in ſeiner Geſchicht⸗ der
Kunſt des ——— Pr 3 € — und bort allein, waren Werte ber.
Kunſt 83 —74 Bernichtung in Griechenland und Rom noch ver:
ſchont (NB — * — ſtehen) —R Dort fand” ꝛc. 15.
den Papft gecihteten Weiche; ir Asfrife
cero’6 de Orktore uub der i Quinctilian’s ju les
tantreic (folgt auch
finden ſei.“ (&, Murat. Antig.
Das Kiofter Fontedrault befap einſt
aber es verkaufte ihm als altes Pergament an einen Gewuͤrzkraͤmet,
und biefer an einen Schneider, welcher Meine Ballons daraus machte,
(&. Fabrieii Biblioth. Lat, 297.)
Es ift anzunehmen, daß in Eorvey ein volffkändiger Tacitus
vorhanden geweſen, daß aber eim Thell davon ungluͤcklicher Weife auf
bei der Auffindung noch brauchbares Pergament gefchrieben war und
darum vernichtet hurde. Auf ähnliche Meife fol zu Fulda ein doll:
ftändiges Eremplar des Wrogus Pompejus zu Gründe, gegangen fein.
Ktöfker. [7
„wie oben n J 3. «br jun
zn ——— gofunden Yan im “
seflehen bin) > ER tt
nur den —— Ken. ds.
—
Bi! des: Alterthums beimißt „in FE
— Erle m, nd ine Eiſſiker le uns gang
oder / thellweiſe verloren gehen kͤnnen. Man zählte * 45: ——
eek) "m nun jom
Eee wen ar
ein ; —— after nl Ber ten) ned
—— nur‘) ee j Eee
4,500,000 Wo dieſe ju finden?
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"einzige eines kleinſten)
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de etben. Be
Sue ach — — — — ae x
v r Schlaf d
—E ne he jene Hann Main ofen e ne,
0 Kloͤſter.
— würden ohne Kloͤſter Leiſtungen, wie die feinigen, nie entſtan⸗
— nicht genug, daß man den Kiöftern, als folhen, die Erhal⸗
tung bes claſſiſchen Alterthums durchaus nicht gu verbahlen hat, muß
man ihnen im Gegentheile noch fogar den (hoͤchſt bedeutenden) theil-
weifen Verlu ſt deffelben zum Vorwurfe machen.
1) Sie fahen in jenen Schriften faft durchgehends nichts Anderes
ale heid niſche, darum verwerflide Wücher, und gewiß maren
die Moͤnche bie Erſten, welche, auf den (ohne Grund als unhiſtoriſch
‚ ausgegebenen) Befehl des Papftes Gregor (des -fogenannten Großen):
ndie Werke des Cicero, des Livius und des Tacitus allerwärts zu ver⸗
brennen“, — diefe zuerſt und am Eifcigften zu folhen Auto da Fe's
zuſammenſuchten, wie nicht minder fie es waren, melde, als der
Sinn für die Geiſteswerke der alten Hellenen und Römer unter den
freien. Ständen twieber zu erwachen begann, biefe durch — nady Wort:
laut und Inhalt. barbarifche — Möncapgebuctionen zu verbrängen
fuchten, welche endlich die ganze Literatur herabwuͤrdigten und finken mach⸗
ten, indem fie faſt überall nichts Anderes als Fromme Gchaufpiele,
epifche Gedichte von Heiligen und dergleichen fabriciten, und ganı
ernſtiich darauf ausgingen, durch ſolches Beug den Homer ıc. überflüfs
fig ” machen ‚und zu werde:
Noch weit mehr wurden, aber nie Monche — ſtatt Erhalter —
— ———— eines ſehr großen Theiles der Claſſiker da durch,
daß fie, als nach Eroberung JFegyptens durch die Saracenen das aud
Papprusflauben verfeitigte Papier im Abendlande nicht mehr zu befoms
men war, vielfach die alten, auf. Pergament, verfertigten ——
———
Kiöfter. 441
m. Pergamente wegosfchabt und Platt bern das Büchlein Tobias
3 geſchrichen ſand! (S. Fuhrmann IV. 634.) |
— ‚aller dieſer fo. ſprechenden Thatſachen ſollen wir
* 2222 vaheen, als. — Erpatter
dee Aiterthumedt;
3 DasRahtheilige anblerberbiice des Rioker:
2* überhaupt — Diefen Degenſtand müflen wir nad zwei
betrachten: ' a). hinfichtlich ber Weligiofen
—5 nd ber Gefammchet det des ©tantes, ber ganıen
vi ENTER ber ober
e en aufgenoms
j werden, muͤſſen fie die bekannten brei Gelkbbe Leiften, ale das
der erg ae ber Beuschheit unb bet. Gehorſams, und zwar
unbedingt auf kie Dauer des ganjer Scheus, ohne Worbehalt, wie ohne
alle Ausſicht auf bie Mögtihteit der Aufiöfung diefer Oetäbbe, oder
eehre die Gluͤcks⸗
‚gu. machen; nicht jedes ebiere
Materialiemus zu ertoͤdten; —
bee Menſch auf alles und
; daß er nichts von der
fich keiner, auch noch fo unfchulbi-
gen Annehmlichkeit des Lebens zu erfreiten habe; baf er vielmehr (mas
namentlich von den Bettel⸗, vielfach aber auch y Arie Möndyen
Gelabde der Armuth, in biefeme-Eiätne gemommen, iſt ber Menfch
auf bem BBrge, ya Bibiere — And PA
fahren :jenen Grundfos is ihrer Geſammtheit angenommen, fü wuͤrben
wir heute nichts ‚Anderes als Wilde fein, und par Milde im aller
erbaͤrmlichſten Buflande:
Ein :mhhäigeb: Bebet.der Vernunft ieie dee Moral iſt es —
üb. 6 Ausſchweifungen zu enthalten. Aber dieſer
Zweck wird volkomnien erreicht durch Beobachtung ber Verpflichtungen
bes Jnſtitutes See. Ehe, fo tie alle civiliſirten Voͤlker daſſeibe derma⸗
im beſthen.Eine Enthaltſamkeit, die daruͤber hinausgeht, oder mit
einem: Bome; die Werpfligtung zum Coͤlibate, rs und bleibt in
alle Ewigkeit naturwidrig, Kerner und es bleibt eben fo
immer. ein- augenfcheinticher Widerſpruch, daß, während als förmliches
Dog ma ber: Bathaliichen Kixche fefiflcht, daß die Ehe fogar ein Ga;
am leiſten. —
von ben ir * — en
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Ton gefagt, Aryl — *
Richten, muß blinden
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| Su fo Yange woßE mei fer, um fo ehe als die meiften Eintreten
—* die Verſtandesreife bes Alters noch nicht erlangt hatten. Und
— —
wieder eine fortdauernde Quelle vo — für ibn werben t
dte werben, nachbens-feine ganze Erziehung barauf gerich⸗
I naar, Ye nar —— Stufe vor bereiten? -Büfte ik ger
wärtigen, nach feinem Austeitte faſt überall miteqeer und surügen
flogen zu werben?
“ Scham, — und A Ihm une ſolchen Ben
—5 — glei g zuruͤck, de zu thun, elerbinge d
rbert; bes
— ihm in Ber Regel inc ht Em, — ee —*
anrathen kann, in welchem Entſchluſſe ihn zu beſtaͤrken kein Freund
mehr zu ſeiner Seite ſteht.
So nur zwiſchen zwei Abgruͤnde geſtellt, betrkeeies den, der ihm
noch am Meiſten verdect, wenn auch vielleicht laͤngſt nicht mehr mit
Roſen verdeckt iſt. Er laͤßt ſich förmlich aufnehmen In ben Orden.
Über jetzt enthält fih Tag für Tag mehr das G e feines Uns
gluͤcks vor feinen Augen. Er ſieht fich mit einem Leute zu⸗
fammengetworfen von bem verfchiedenartigften Charakteren, der verfchies
denartigften Bildung, ja, bie gewöhnlich fogar einet ſolchen gaͤnzlich
ermangeln. Statt, wie er gehofft hatte, hier alle. Leidenfchaften vers
ſchwunden zu finden, entbedit er eine nad) ber andern, zwar als einis
germaßen den allgemeinen Blicken entzogenes, aber eben barum nur
bee furchtbarer wuͤthendes, das ganze Leben. verberbenbes verſtecktes
Gift. Dazu bie, jede freie Bewegung bemmenden und laͤhmenden
Borfcheiften über alle Vorkommniſſe; biefe in's Kleinlichſte gehende Ein»
theilung und Abtheilung des Lebens. und der Zeit; biefe —* beobach⸗
tete peinliche Behutſamkeit und Bedachtſamkeit, verbunden mit dem
Mechanſſchen der ja ebenfalls ſtundenweiſe vesgefiebenen —2* *),
und bem ‚geforderten Gkavenfinne ‘gegen Gott und
Obern, als beffem fichtbaren Vertreter. — Muß da ih das niebers
ſchwetternde Gefuͤhl, daß der ganze J bentzweæ unrettbar verfehle
— 9 Die Geſgaft und ohne Vergnügen ſchlichen bie leeren Stunden des
Mb langfam bapin; und kaum modte ein Zag vergeben, an dem er ſich
nicht i über den langfamen Lauf der Sonne befhwerte. —
Gaff van — ib. X. cap. 1) befchreibt aus eigener Grfahrung bas ben
ii Wie den Körper ebene Bf Gefühl, von iR ber wand im Bewußts
“ * ir Cent — * * —5 — Feen
— tuetur.“ — der , die legte Zuflucht Ungi
iR ungeadhtet der Iceren Gtunben, , s
Kiöfter. 445
fei, dei, in a * *) Le —* e 2 —9 Grant
l et, en e Ben en ‚ wie fi
bean —28— —* Beitalters · und Saudes durch —*8
ren bie
borgen gehaltenen mg m A Ausftoeifungen aller Art,
— * ſuchten? daß alle Laſter der Welt in Ktöftern zahlreiche
Geſetze geſchehen laſſen und gut heißen konnten; aber man fchaudert
noch mehr beim Hinblicke auf bie zahllefen Berführungen (die in
unferen Augen bie —— Verbrechen ſind), zu denen jene
Getattung Veranlaflung gab
b ferner, wenn ve finnios bigotte Mutter ihr noch nicht Ä
einmal —— Kind dem Klioſter gelobt, ober wenn ein unnatürs
licher Vater, deſſen Leidenfchaft , feinen Sohn enterben zu wollen,
das weltliche Geſetz doch Schrauben: feht, Diefen nun, unter offener
ober verbediter Gewaltanwendung, in ba® Kloſter ſteckt, und ihm da⸗
mit nicht nur fein gefammtes Vermoͤgen, fondern feine Freiheit, feine
ganze — entreißt, fein ganzes Sein mit einem Schlage vernichtet I
Die —— des Klhoſterweſens für den Staat.
bie drei Beläbbe, fo wie fie verſtanden und angewendet
werben, ftehen mit ben Einrichtungen und Beſtrebungen eines vernunft⸗
gemäß organifirten Staates im Widerfpruche. Die Kloͤſter verlangen
von ihren Angehörigen bie Werzichtleiftung auf ihe Vermögen und
die Verpflichtung, deſſen niemals zu erwerben; ber Staat aber muß
fireben, daß allenthalben freies Eigenthum beſtehe, und muß darauf
halten, ‚daß Jeder feiner Angehörigen deffen erwerben kueme er darf
*) Zu Jeruſalem gründete man im 6. Jadt hunderte ein eigenes Spital
— Stan are
nn
I a Ha 06
4 2. verhindern:
t, be Ehütoftakeie,
we Ehe, wu ri
derartigen Gorporacien/ den Ebnveiden im
wohnen, ſonach auch fire die aͤrgſten Mißbeduche jener ihrer Gewalt
‚gar außer dem Bereiche ſich befinden, innerhalb deſſen ex ‚fie zur Ver:
; J 7 5835*
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lichen Sinne als Darems dienten, andere aber als Dexter, im welche
die Adelichen bie ihren Söhnen. vor fürmlicher Berheirathung ‚gekauften
wie mamentüch im Mortmgefzmende
Klöfter. 449
ſonach eben fo au die Wirkung. Was momentan vielleicht eine
Wohlthat gewefen fein mag, wird nun aber für das ganze Leben zur
peinigenden Dual. Um ben blos möglihen Unannehmlichkei⸗
ten des Lebens zu entgehen, muß man für alle Zukunft fämmtlicher
Annehmlichkeiten beffelben von vorn herein entfagen. Das Heil⸗
mittel, gleich viel, ob vom Standpuncte des Einzelnen oder der Ges
ſammtheit aus betrachtet, ift unendlich Ärger, als das Uebel je werden
tönnte; der gewiſſe Nachtheil überwiegt weitaus ben blos etwa mög»
lichen Vortheil. |
Sage man nur nicht, daß duch einzelne Befhränkungen in
bem Kiofterwefen alle Uebel deſſelben befeitigt werden könnten. Die
Urſache ber argen Erfcheinungen ift nirgends anders, als in ber
Grundlage des Inſtitutes ſelbſt aufzufuhen.. Die Wirkung wird
immer diefelbe fein, fo lange die Urfache bleibt: Darum haben alle
verfuchten Reformationen der Kioftereinrichtungen nie etwas gefruchtet ;
ungeachtet aller unternommenen ‚‚Verbeflerungen hörten mir immer
wieder (und zwar bezüglich aller Kiöfter, von denen wir nähere Kennt⸗
niß befigen) über „Werfal” der Bucht, Ordnung und Sitte, über Las
fer und Ausfhwelfungen aller Art Eagen. Wir find aber wohl bes
rechtigt, die Erfcheinungen, welche bei jeder einzelnen dieſer Anftalten
hervortraten, als natürliche Folge ber ihnen ſaͤmmtlich gemeinfamen
Srundlage zw betrachten. — Nicht einzelne Abänderungen und
Beſchraͤnkungen, fondern vielmehr diefe ganze Grundlage müßte
darum aufgegeben, auf bie drei Geluͤbde müßte verzichtet, eine lebens⸗
längliche Fortſetzung derfelben dürfte gar nicht gefordert werben; — mit
einem Worte, bie Kiöfter müßten aufhören, nad) den bisherigen Bes
griffen Kıdfter zu fein, wenn die verderblichen Folgen derjelben nicht
mehr zum Vorſcheine kommen, weſentlich mwohlthätig wirkende moͤg⸗
Lich werden follten.
6. 4. Das Recht des Staates, die Klöfter aufzuhe⸗
ben. — Sobald man erkannt hat, daß die Kloͤſter nicht nur eine den
Fundamentalzwecken des vernunftgemäß organifirten Staates offenbar
widerftrebende ,„ fondern felbft eine unverkennbar naturmidrige
Grundlage befisen, kann diefer, der Staat, nun und nimmermehr vers
pflichtet fein, folche gemeinſchaͤdliche Inſtitute fortbeftehen zu laſſen;
er bat das Recht, fie aufzuheben, und die Pflihten, welche ihm
gegen die Geſammiheit feiner Angehörigen obiiegen, gebieten ihm
fogar, diefes zu thun. Nur über Nebenpuncte, über die Art des
Verfahrens, über bie bereits begründeten rechtlichen Anſpruͤche an diefe
Anftalten, zumal von Seiten ihrer Angehörigen zc., koͤnnen wefentliche
Bedenken und Anftände fich erheben.
Vorerſt iſt es billig, dag, fo weit es ohne Verlegung bes Haupt⸗
zweckes gefchehen kann, mit möglichfter Schonung, zumal gegen die eins
zeinen Religiofen, bei der Klofteraufhebung verfahren werde. Man foll
fie nicht vorfäglich dem Eiende, dem Bohn und Spotte Preis geben,
Staats⸗Lexikon. IX. 29
450 we Kioſter.
enn
ihr eibſteruches Bochaitan ward unter dem Schleme ber Geſete,
wenn auch entſchieden üble: Befege, begründen, '
Dataus folgt aber auch; feiner ber wohtbegeänbete —
€
8
A
&
als Lehrer ober dergleichen — werd
Willjg. angenommen wiid.
u Zn Bekeigen teten Wi Refigtofen ii
end yurhd.
inb_ Pflichten der "Geantebkiäger
—8 ibendmmen - Tel; Kenn fie wollen ,
nicht gu -verchetichen. muß mindeflens die äußere Werpfliche
tung hiertu, ſo bie Die: fermiben - Mlofteroberen "zw Leiftende Bes
hoefam unbebinge aufföchi.. Det Staat muß Di Ehe des Erieligios
fen nicht nue — ſonbern vorkommenden —2 and Wuchbridtich
befäjägen, und cm Alertvenigften darf. er dulden, baß bie ahſurde Fic⸗
tion vom moralifchen Tode des Minds und der Nonne, monad) fie
nicht erben koͤnnen 2c, fortdauere.
Was, nun die Klofterg ter anbelangt, fo müffen dieſelben eine
veränderte Beftimmung erhalten, nachdem die Inftitute, denen fie zus
gewendet waren, zu rriftiren aufhoͤrten. Es läßt ſich nun nicht wohl
tehtfertigen,. wenn ber Staat. biefes Vermögen kurſweg unbedingt an
ſich reißt Allerdings, erſcheint es als herzenlofes Gut, am welches
ex, nach ben „allgemein gültigen, Grunbfägen den alleinigen Anſpruch
1
J
Kloͤſter. Klüber. ist
ur, Abtweihung, von derjenigen Regel nöthigen, bie wir fonft, als der
Bingei en, u möchten. ale wir db
en gar nicht an, auszufprechen, rast
find, daß das Kiofterwefen auf bie Dauer nirgendemehr befichen
— nchthum hat iO Länoß Abereht, und dns Einfihen en Mittel
werden im Stande fein, ihm feine verlorene Starke und Macht, fe;
. men ehemaligen Einfluß, wie feinen Blanz je auf’6 Neue zu Benf
fen. mar fahen wir feit einem Decennium in einem Ötaate, in.
Baiern, gegen hundert Kloͤſter wieder a Im nämliden
Beittaume aber. find in Spanien, Portugal, Pofen, Polen, Rıißland
und in anderen. Eitaaten Sierzig 5 bie 6 fünfsigmet mb: mehr (4 BB,’
So ER —8
kant vom Unfange bed genannten, fi den al Verhättniffen
—S lie anf —— min,
sieben wollen ven, han ee 1
\ eiebr. Rp) 3
Klüber (Sohann Ludwig) ivar. gehpren am 10. Navember 1762.
in Thann bei Fulda. Nach, beenbigsen tehtsraiffenjchaftlichen Studien
auf, den Univerfitäten zu Erlangen, und Seipzig. von 1780 bi6
RE ———— er am Aa J. en ah
echte. It in diefe Zeit fein erſtes ten ale er.
Außer zwei Differtationen. „de Arimannia “, gab er einen „Werfuh
über, die Geſchichte ber Gerichtsiehen” In Drud, und begann, ebenfal
1785,. feine kleine juriftifche Bibliothek”, weiche bis 1794 in 26°
Städen eufcien., 1786 wurde Mühen auferorbentliher und 1787.
ordentlicher Profeffor ber Rechte in Erlangen. Auf dem $rankfurter.
Kaiferwahlz und, Krönungsconvente von 1790 diente er, drei Monate,
Tonga en — dem eat von —e Bad
reuth, zu Bexichterſtattungen und lel
braunſchweigiſchen e bei den ——— über 'die Be:
ferliche Wahleapitularion. - Pütter in Göttingen hatte ihn kurz vorher
der hanndverifhen Megierung zu -feinem. Nachfolger —
1792 fuͤgte Kiüber zu feinen ſchon ——* alaberaffchen
noch bie eines Magifters der Philofopple. Mit Ansbach und Bayreuth
1791. unter preußifhen Scepter gelommen, ward er 1795 verpflichtet, N:
mit dem Staats - und Cabinetsminiſter von Hardenberg 2 "
des Bafeler Congteffes und. bem bevorfichenden ee, .
beizumohnen, dann aber in dem Berliner Gabinetöminiflerium den
heimencath dv. Ste zu erfegen; wovon er fpäter, bei der zilfchent I
beiben Cabinetsminiftern eingetretenen Mißfiimmung, dem von ihm
" felbft gleich, Umfangs erklärten Wunſche gemäß, freigelafien ward. Gleiche
falls 1795 Hatte Ktüber’s Beförderung "zum — preußifchen Hof⸗
rathe Statt gefünden. Den ihm angebotenen Eintritt in das Landes⸗
minifterium zu Ansbach lehnte er ab. Bu Berlin mußt ee im Fruͤh⸗
fe went
er
nicht tommehitiite er Ga Bil (1805), befhrieh, „Baden
he ” (1807%, 9.4. 1 „bie atte zu, Mannheim“
isn ge — GL 5 Pr aha uns
* —* der — ER *
cp ) und, Me a RN
fer In nd , Kane a ift und fen Enter 1
——— meter Bin echiett Kifiber 1805 an Di
Münden, Datniftadt und Biebetih, 1816 nad; Berlin un!
"WE Uelaub Ati fetter 181 und 1815 dem Mienet &
boch dern dahin gefommenen or
ai Bet ie Sefe * und Umgang Kal ben
—— u Ri befptec ine
kam wer ji — ic ti dem
Stoß für 9 —* artgelegten
—— wurde er zu dem Ent
ibfängen 15 Wien Songteffeß zu fammenzubi
die ig An, daß ſchwetlich ein Privatmarın.
viele und A ot ;e Mittheilungen dern Publicum vorzut
gen im € le, und woht fein Hof je eine gedrudte Samı
der len decanftalten moerde, zumal da keiner, der, Wie of
ausgenomt ie Befise fo vieler Wefunden fei, als. et- a:
die
fand bie 1 td eines dentwürdi eitabfchnitted
tige und aimmfüng: „Acten Wr jener, © Muri in den
— 18; 1815”, toovon mod, im den * Ib
lung bie Wi drel 9 (1815) ‚erfhienen. ber’ ö.
fehriften ‚forgfäil As die Sammlung mit denn —
Bande —— vi er die Verſicherung nme fie nicht 5
* —ce— —2 — 5
ww: Wethenbingen über pomiſch· ſachſiſche
derſprehen werten”), : Won dm beiden wit —
MRS
2.
ae Bm Su *
55
454 Klüber.
„Aste final du congres de Vienne“ und ber beutfchen Bundesacte
veranftaltete er einen befonderen Abdrud (2. Auflage, 1818), ber for
wohl durch kritiſche Berichtigung des Tertes, als durch eigene Bugaben
vor dem in den Acten“ befindlichen Abdrucke ſich auszeichnet und durch
Nahroeifung der Verhandlungen über die einzelnen Beſtimmungen ber
Bundesacte für die Entſtehungsgeſchichte berfelben wichtig iſt. In der
Meberficht der diplomatiſchen Verhandlungen des Wiener Songeeffes “
(8 Abtheilungen, 1816), gab er eine Gefdyichte des Ganges ber Vers
handlungen und mehrere Abhandlungen und Berichte über einzelne, bie
beutfchen Ungelegenheiten betreffende Gegenftände. Durch feine vielfät-
tigen Erfahrungen und als Augenzeuge ber Eutſtehung des neuen Foͤ—
derativſyſtems war Kluͤber vor Anderen berufen, das Bundesſtaatsrecht
foftematifch darzuftellen, wie es fein „Öffentliches Recht des beutfchen
Bundes und ber Bundesſtaaten“ (1817) gethan hat. War bisher
ſchon Kluͤber, der Publiciſt, immer mit Verehrung genannt tworben, fo
bildete diefe neue Arbeit wahrhaft den Focus feiner verdienſtlichen Be—
frebungen. Es galt, die Geſchichte mit der Vernunft zu vermitteln, und
Fürften » wie Voiksrecht auf die eine, nothwendige Baſis der Gegen»
feige und Gerechtigkeit zu bringen. Kluͤber Iöf’te diefe Aufgabe mit
jahrung des geſchichtlich Begrändeten (alfo auch mit Wahrung deſ⸗
fen, was durch bie Freiheitskriege von 1813 bis 1815 auf dem Felde
des deutſchen Staatsrechtes in Trieb und Blüche gefegt worden tar),
mit Pietaͤt und mit Freiſinn. Gute Anordnung, gründliche Eroͤrte⸗
tung und große Gelehrfamkeit ftanden ihm dabei fördernd zur Seite.
An dieſes Werk ſchloß fih Kluͤber's „Quellenfammlung für das öffent»
liche Recht des deutfchen Bundes” (3. Auflage, 1830), während er zus
gleich das europäifche Voͤlkerrecht in feinem „Droit des gens moderne
de l’Europe“ (2 Bde. 1819, deutſch 1821) bearbeitete *).
Schon vor dem Wiener Congreſſe war Klüber von ruffifcher Seite
veranlaft worden, bem Kaifer Alexander eine hiſtoriſche und politifche Dar: «
Klüber. | 455
als Jurisconsulte de l’Empereur zum Dienfte, bereit fein und zugleich
eine Dflansfänte für angehende Diplomaten 28 ruͤnden ſollte. Der Ans
en:
freigebigen
———— *67 —3— ſeiner cka⸗
ager ‚and Freund, feine Anträge muͤnblich zu Berlin
und fchriftii nad —— erneuert. Auf beide Anträge glaubte
Klüber feine Erklärung ver zu müflen, bis er Entlaffung von
feinem Gouverän werbe ann ben ‚Belt und Muͤhe koſtete
ee, diefe zu 'erlangen,-. befonders da. ibm bie Sinanzminifterftelle von
dem Buoßberzoge angetragen warb, bie er aber unter ben bamaligen ”
Berbälsmifen abı abzulehnen fich 03 glaubte, Endlich mit Merkma⸗
len der Fertdauer bes gnaͤbigſten Wohlwollens entlaſſen und von dem
Fuͤrſten Harbenberg, dem er ſolches gemeldet, nach ‚Berlin eingeladen,
begab er ſich dahin. Erwaͤgend, daß Preußen ältere achte u an ihn
babe, verſtand er fi, nach einer Unterhanblung von ſechs Wochen
über bie ihm au une 6 Stellung ‚. zur. einfiweiligen Annahme der zwie⸗
—— daß er einſtweilen die Verhandlungen über ben zu ordnen»
den Rechtszuſtand der preußifchen Standesherren in den Provinzen Wells
phalen und am Rhein, bafelbft mit ihnen und mit ben dortigen ſechs
Eöniglichen Regierungen als Immediatcommiſſaͤr führen fole. Drei
aber (in. welchen er auch dem Gtaatscanzler auf den Congreß zu
Aachen fo mußte) und geoße Mühe koſtete diefe eben fo wichtige als
verwickelte Angelegenheit, uͤber deren Beendigung ihm perfönlic zu Ber⸗
lin allſeitige Zufriedenheit bezeugt ward. Da bie von Klüber gewuͤnſchte
Stellung außerhalb Berlins noch einem Verzuge ausgefitt 1 war, fo ers
hielt er, nach vierzehnmonatlichem Aufenthalte daſelbſt, ben Auftrag,
als koͤniglicher Bevollmäctigtrr die Auselnanderfegung des aufgelöf’ten
Gr ogthums Frankfurt und deſſen Departements Fulda zu Frank⸗
furt J. bewirken zu helfen.
hrend dieſer ſchwierigen Verhandlungen (1822) kam bie in
Grunbfägen unveränderte zweite Auflage von Ktäber’s ‚öffentlichem
echte des deutfchen Bundes und ber Bundesftanten ” in’ Yublicum.
„Kaum erſchienen“, fagt Kluͤber felbft davon in ber Vorrede zur. drit⸗
ten Auflage beffelben (&. VII. — X., vom 13. April 1831 datict),
„ward biefe zweite Auflage ein Gegenſtand eiftiger politiicher
rung: bed und feines Verfaſſers. Dipfomatifhe und andere Bes
eichte- und Denunclationen, zum heil von knechtiſchen Wohldienern,
manche von ihnen fonfl dem Verfaſſer zu Dank ‚ wurden
insgeheim wider beide gerichtet. — Offene Find directe —* erfolgten,
zuerſt von dem naſſauiſchen Minifter, Freihetrn von Narſchall,
wiewohl ohne unmittelbaren Erfolg, mit einer foͤrmlichen —
FIRE 1 »
{ A . Hl
ri ia WITH
Rider, 451
faſſer des ffentlichen Rechtes beſtanden. Sie wurden Amfig beachtet,
verbreitet, bearbeitet, abgeutthtitt. Vor ber Verurtheilung dem Ans
geklagten fie zu eröffnen, ihm mit Vertheidigung und Rechtfertigung
ordnumgsmäßtg zu Hören, ward nicht für bienlich erachtet. Es Härte
—9 ag Refultate führen koͤnnen re de sur
nung, auf entfchiebene Ungeneigtheit zu Aufopferung einer
Befodung von 5000 Thalern, vorgebeugt worden. — Trotz der Härte
des mard bartn ielchweht das angeblich Ver⸗
ſhutdete mr der Werkehrtheit ber pubiieiftifchen Urtheifskraft des
Verdammten zur Laſt gelegt. „,,,Mer ihn Kenne,” watd gefapt,
vu kögebe einen Zweifel darüber erlauben, daß er darin (in de
Darſiel feines Spftems) nach befter MWiffenfchaft und Ueberzeu⸗
gung zu Werke gegangen fetz““ aber bie Nichtkenner müßten baciy
(in der. Mangelhaftigkeit feiner publiciftifchen Einſicht) eine böfe Abs
fiht „,au erkennen glanben.”” — ZWweierlei ſcheint hier,
voransgefeßt, völig Mar: ein auffüllenber Mangel. det Vernunfter⸗
kenntniß bei dem Werfaffer — entweder bes Wefcheibes, ober des Buches;
dann, daß ben Leßten die geheime Polizei wenigftens nicht verdäde .
tigt habe: Und doc gebührt auch dem Verſtandesſchwachen und
dem Verdächtigen die Nechtswohlthat ber Wertheidigung! Moher benm
ſoiche Verfahrungeweiſe und eim fo fchonungstofes Urtheit? — Mes
nige Wochen nach Eiſche inung dee ziositen Auflage hatten gwel Aus
gen ſich gefchloffen; ber Stantscanzier, Fürſt Hardenberg, 33 Jahre
lang, bei vielfacher amtlichet und gefelfiger Beruͤhrung mit dem Ver⸗
fafter, fein Gönner und Freund, war gegen das Ende des Con
ges von. Verona geftorben, zu Genua am 26 November 1822.
‚ von anderer Denk⸗ und Handlungẽwelſe, waren die Schran⸗
Aufen, vielleicht v ff
anderen Mrfachen ein yußiichkifijee Lobfählag folder
fein j jener Bett auch
ehuna feldeh © unterwerfen, Bat er, unter
fijern Wocatefegung ap nice nicht Srcöägenenrim wiche, ohne
den geringſten Bergug ‚um Dienftentlafftitg, die, auf tehderhnlte
Ba —* a Sl kinakı amaudgefegt als Privatmnanı
ſer te 1" tmann
in Frautfurt u. DR. Rah ne Be rk 1 lanan Die
delt und Muͤhewaltung für das otium era: Ahrakete geftimmt, lehnee
458 Klüber,
ex mehrere Anträge, in und außer Deutſchland, einen zu einem ber
iften S— dankbat ab. Ein anfehnliches. Vermögen und
der. einfache ‚Genuß deſſelben machten Kluͤbern doppelt unabhängig.
Immer noch ſammelte und. arbeitete er; immer noch, nad) ‚allen Sei:
ten hin, war er dienſtfertig mit ſeiner reichen Kenntniß und mit. feinem
Rathe. So hatte er, noch activ,
Bundes” in 2 Bänden (1816—1817) im, Drud ——— und
dazwiſchen mit dem unge und der. ————— erwandt ⸗
ſchaft der europäiſchen Sptachen- u. ſ. w. (18:
zur Erbauung und Behandlung ruſfiſcher Stubenoͤfen (1819) und der
neueſten — bes lathouſchen Kirchenweſens in den koͤnigl. preu⸗
Kb Staaten (1822), literärifch ſich befchäftii Seit feiner Ruͤck⸗
Behr in den, Privatſtand ſchtieb Klüber: „, Brom in Deutſch⸗
land nad feinem jehigen Buftande” (1829); „Abhandlungen und Be—
obachtungen für Gefdichtsfunde, t8= und Rechtswiſſenſchaften,
2 Bbe. (1830—1834) *) ;_befonderes Auffehem machte feine Schrift :
‚Die Selbftftändigkeit, bes Richteramtes und die Umabhängigkeit feiner
ürtheile im Re ” (1832), worin et den Grundſatz einer
toͤnigl. preußifchen Verordnung von 1823, melde dad Recht der Ent:
ſcheidung aller. Streitfragen über dem, Sinn, die Anwendbarkeit und
Gültigkeit von Staatsverträgen dem Nichteramte entzog und dem Mir
niſterium ber auswärtigen Angelegenheiten zueignete, mit Freimuͤthig⸗
keit peüfte- 1833 erſchien Küber’s „Hortfesung der Quellenſammlung
zu dem Öffentlichen Rechte des. deutfchen Bundes”; 1834 das „gene:
alogifhe Stantshandbuh,” 66. Jahıg., 2. Abth.;_ 1835 feine prag-
matifdhe Geſchichte der nationalen und politifhen Wiedergeburt Gries
henlands bis zu dem Megierungsantritte des Könige Dtto”. Aus
Ktüber’s Kiterdrifhem Nachlaffe ‚gab fein vieljähriger Freund, ber Dr.
ein „Staatsarchiv. des deutfchen ,
), mit. einer Anweiſung |
Kluͤber. 459
te8 Doctorbiplom und ber akademiſche Senat einen fhriftlichen Gluͤck⸗
wunfd. Die Widmung bes Diploms lautete: „Juris publici inter
nostrates facile prinoipi, Almae nostrae decori quondam atque
ornamento, Viro summis laudibus venerando.“ Ä
Der Wunſch der Facultaͤt: der verdienftvolle Greis möge in kraͤf⸗
tigem, fortwährend Früchte tragendem Alter feiner gelungenen Stres
bungen Lohn noch lange im Weberfluffe genießen, ging nicht in dem
von der Wunfchfpenderin beabfichtigten Maße in Erfüllung. Klüber’s
perfönliche große Ruhe und Gelaſſenheit, feine Amdnität (Liebenswuͤr⸗
digkeit) Im Umgange, feine freundliche Wereitwilligkeit , wiſſenſchaftlich
zu rathen, fein mit den Jahren und Erfahrungen immer mehr aus:
gebifdeter und fefter geworbener conflitutioneller Freiheitsſinn und feine
ganz fefte Hoffnung auf politifches Beſſerwerden“), hätten wohl ein
noch längeres Leben vermitteln follen ober koͤnnen. Doc, nad, kurzer
Krankheit, farb Küber am 16. Zebruar 1839 fruͤhmorgens um 1
Uhr, im hoͤchſten Grade ruhig und fanft, in Sranffurt a. M.
Nur eine Stimme der Anerkennung begleitete in ben öffentlichen
Blättern (abgefehen von deren fonftiger politifcher Faͤrbung) die Todes⸗
nachricht Kluͤber's. „Immer lichter werben,” klagte die Frankfurter
Dberpoflamtszeitung , „die Reiben ber Männer von altem Schrot und
Korn, ber Gelehrten von raſtloſem Fleiß, der Staatsmänner, bie mit-
gelebt und mitgewirkt haben in der großen Weltkriſis, deren- Ausgang
noch heute Bein fterbliches Auge erfpäht. — Johann Lubwig Ktüber ift
geftorben, deſſen Wahlfprudy war: Vitam impendere vero! a, bie
erfannte Wahrheit galt ihm als bes Lebens hoͤchſter Preis; ihr blieb
er teen bis zum Moment, ber ihn fheiden ſah. Wie viel Wiſſen,
wie viel Geiſt, wie viel vedliches Wollen, gebt mit ihm aus ber
Welt!” — Die „Allgemeine Zeitung,” indem fie biefe achtungsvollen
und achtbaren Klagen in ihren Spalten wiedergab, feste hinzu, daß
„fie in dem Verſtorbenen eine lange Reihe von Jahren hindurch einen
ihrer allergefchägteften Mitarbeiter und Gönner verehrten dürfte.” Aehn⸗
lich ber „Deutfche Courier.” Auch lieferte derfelbe eine anfprechenbe
Parallele, „Klüber und Boͤrne“ überfchrieben, trotz der Gegenfäße in
Beiden, zu Beider Ehre. Won Kiüber hieß es dba: „Zu den Züßen
bes Meiſters faßen wir Männer des jüngeren Gefchlechtes und lernten
aus feinen Werken, wie die Gefchichte des Öffentlichen Rechtes Schild
und Schiem ift der gefeglichen Sreiheit und der ftantlichen Ordnung;
buch feine tiefe Gelehrſamkeit, feinen klaren Geift wurden wir bes
lehrt, daß auch auf Hiftorifhem Wege Freiſinn und Humanitaͤt breite
Straße finden, gefichert durch die unabmeisliche Forderung des Rechts:
zuſtandes, geftärkt duch bie Kraft heimifcher Inſtitutionen. Kluͤber
zeigte und, wie bie Gegenwart aus ber Vergangenheit ſich entmwidelt,
*) um bie Beit, ba bie öffentlichen Berhaͤltniſſe von Deutfchland ſich truͤb⸗
ten (1832 ober fpäter) ‚ ren KHMäber —— an Ik Darm:
ftabt: Durate et rebug vogmet servate secundis!
°
460 rüber.
Damit wle daraus lernen konnten, der Zukunft die Band zu Kteten,
mit Kenntniß und Einſicht. — Kihber hatte ein ae Stůck Weit⸗
geſchichte mitgeledt, Hatte es aufgefaht fd verzelchnet Im Maren Gin,
und ſchien in feiner einfachen Weiſe, im feiner edeln Gemuͤthoruhe die
geheimen Anfeindungen, beiten er ausgefeht war, ald ganz natürliche
Ereigniffe des Lebens zu betrachten, als einen Abfchnite feiner Specials
hiſtorle / nur — für die Mujeſtunden ſeinet Sreutibe. — Klüber,
vol freundlichen Eenſtes, 'whltthellend und bitehrens ein MWeltmann
nad) dem alten Style, Bed voll guter Ideen der vermittelnden Reu⸗
zeit. — Müber, dudh dem Sreniden vertrauensvott entgegenkommend,
öffnete Jedem, der bataus fihöpfen toolkte, den reichen Schatz feiner
Erfaheungeh und feiner Senntuiſſe. — Kiüber Fhßlte wohlverdiente
Selsftbefritötgung ‚in der algianeinen Verehrung feiiet Bäbkemoffen. —
Kluͤber's Wirkfamkeit war minder firahlend, uber jet und
deutfcher. — Mäber war ein Weiſer, wie die Alte ihm Dargefleile.” —
„Klüber, der und mohltwollende Märn,” fo fasten bie
Auterarifchen und Exitifchen Blaͤtter der (Hamburger) Bötfenhalle” von
dem Dahingegangenen, „wat doch, als Mitgtieb des babiſchen Mini⸗
ſteriums / fehr gegen Martin, ben in freiem Sinne damals zu Heldel ⸗
berg wirkenden Profeffor. ber, unter veränderten Besktntffen, ur}
Ktüber aus der Holle bed Hammers in bie bes Amboßes über, umd,
mie er damals mit „Kraft gewaltet hafte, fo Mat er es jeht mit
Würde. — Wiſſenſchaftlich Inmitten ber Parteien ſtehend, wuͤrdtgte
ihn jede nach feinem Verdienſte, und fo ſeht er fi der liberalen
terefien, namentlich der Sache ber Preßftelheit, mit Hand und Mund
günftig zeigte, fo theite body auch dieſelbe Hand und derſelbe Mund,
hiſtorifch gliedernd und ohne die Meinfte Untrene an jenen Angeffternen,
nammtlich feines finkenden Lebens, Mefponfa über Succeffionsfras
gen und andere pofitive Dinge an durchlauchtige Häufer mit.”
In diefem Mofait Berfhiedenet Urtheile über Kubet liegt
ein Gefammt-Urtheit, tielches gerade bubürch, daß e# von verfehles
Klüber. Klugheit. König. 461
zu Hof⸗ und Prjvatgunft zu gelangen. Er bat aber auch bie eine
unb die andere, wenn fie nicht auf anderen Megen erlangt ward, ober
zu erlangen war, nie zu fchägen gewußt, überzeugt, baß ber Achte Pu⸗
blietft ſtrenger Waͤhrheltsliebe, mit reinem Wohlwollen und feſter
® ft nicht weniger ausgeruͤſtet fein müffe, als mit einem
Schat von Erfahrung und Kenntniffen.” Und am Schluffe feiner
Ecsähtung vom Rüdtritte aus koͤnigl. preußiſchen Staatsdienfte und
der Berantaffung dazu, bie von Ihm mitgethellt worden war, als Bei⸗
ER „zur Geſchichte der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts, unferer
Zeit, feines Wuchs und feiner felbft” (vergl. oben), hatte er jene noch
mehr lachenden und vecheigenden Farben des Jahres 1817 in ein Grau
er Reftgnation überfegt. „Es gibt ernfte Augenblide, in wels
hen dr Menſch ſtarkmuͤthig fich erheben muß über die gemöhnlichen
Rüdfihten des Lebens. Dem ungehört Verurtheilten koſtete es, unter
den gegebenen Umftänden, nicht die minbefte Webermindung, einem
Amte, Titel und Gehalte ruͤhmlich zu entfagen, die er unrähmlich nur
hätte behalten tinnm. Ruhig, in feinem gefränkten Recht, durch bas
Berouftfein ber Schuldlofigkeit, fchled er von dem Staate und befien
Durnſte: darum nicht minder dankbar fhr alles Gute, was ihm batin,
befonders durch bie Gnade des aliverehrten Monarchen, zu Theil ges
worden war.” '
So ber Schluß der Vorrede zur dritten Auflage von Klüber’s
„Deffentlihem Rechte.” Es mar fein tehtes Wort In der Vorhalle zu
dieſem ehrwuͤrdigen Tempel, welcher feinen Erbauer auf lange übers
leben wird. Die vierte Auflage ſollte nicht mehr aus feinen Händen
bervorgeden.
ber's Schriften in beutfiher, Tateinifher und franzoͤſiſcher
Sprache (devem, mit und ohne feinen Namen, über fiebenzig erfchies
nen fein mögen) find berjelehnet in Meufel’s „gelehrtem Deutſch⸗
land ‚” insbefonbere deſſen 14. und 18. Bunde (das gelehrte Deutſch⸗
fand im 19. Jahrhundert, 2. und 6. Band, 1810 und 1821) und
im „neuen Itto⸗ bee Deutſchen,“ 15. Jahrgang, 1837, 1. Theil.
Meimar 1839, As „geroiß” hatte Hofrath Berlp In dem oben ers
wähnten Artikel der „Oberpoſtamtszeitung“ Bezeichnet, daß Klüber noch
—— hinterlaſſen, was den Nachkommen manche dunkle
rtie der Zeitgeſchichte aufhellen dürfte, und Kluͤber ſelbſt verkuͤndet
uns in feiner mehrerwaͤhnten Vorrede zur dritten Auflage feines „Def
fentlihen Rechte” *) eine ausführlihere, ſchon feit 1825 brudfers
tige Darftellung feines Dienſtruͤcktrittss. Moͤge uns diefe, fo wie jenes,
nicht vorenichalten bleiben ! Karl Buchner.
Klugheit, f. Staatsklugheit.
König, f. Titulatur.
*) Xuch im der Worrebe zum neunten Bande feiner Acten bes Wiener
— (1885) G. IX. mit der ausdrädlichen Bezeichnung als „Rechte
8“.
AOR_Kopffkener) Derſonaiſteuer ; Claſſenſteuer.
Kopfſteuer; Perſonalſteuerz Claffenſteuer. — Dar
Name der Kopfſteuer hat einen,üblen Klang. Ex fuͤhrt einigermaßen
die Idee der Keibeigenfhaft, menigftens bie einer perfönlihen
Zributpflitigbeit mit fi, "welche der Würde bes. perfönlih
freien Mannes und Staatsbürgers widerfpricht, „ihn nämlich einem
anmaßlich auch über bie, Zeiber ber, Unterthanen ſich erſtteckenden
Sahenreht ober TR EN der Staatsgewalt unters
wirft, und eine Art von Loskauf ober periobifher Anerkennung. deffel
ben, von "Seite der Pflichtigen fordert. Auch fehen wir in_der That
gar häufig — in der Vergangenheit und auch noch In der Gegenivart
— dieſe Steuer ganz eigens ben etwa im Kriege beftegtem oder unter-
jochten Volkerſchaften oder im Schooße berfelben Nation ben. niedriges
ven, oder niebergebrücten Volksclaſſen aufgelegt, tie 3. B. die von den
Chriften in, der Tuͤtkei, bie von den Juden in verſchiedenen chrift-
then Staaten, bie von den Bauern ‚und, gemeinen Bürgern in
Rupland u, ſAw, ehngeforberte. Kopfiteuer,. ober auch bie ehevor.
bier und dort beftandenen Hageſtolzen⸗, Keber=, Caftraten=, Hutenz
u. f. i, Steuern. Zu folder im dem angeführten Principe, ber
duch ‚die Gewalt auferlegten perfänlihen Tributpflicht
tiegenden Gehäffigkeit der Kopfiteuer gefellt fih dann noch. bie
— von. ben meiften ‚Schriftftellern behauptete und. von, der ‚öffent
lichen Meinung faft durchgängig angenommene — Verwerflich⸗
Leit derſelben auch ais mirklihe Steuer, d. h. als eine von
Kopffteiter 5: Derfonalftener; Glaffenftener. 468
0
nahme gründet. Unſere Anfict darüber Haben wir bereits in dem
Artikel „Abgaben’ aufgeftellt umd berufen uns bier darauf. Wels
her von beiden Hauptanfichten jedoch man beipflichte: fo iſt jeden
falls Kar, daß die Kopfiteuer, wenn fle die einzige oder amd nur
weit weniger eintragen, als et irgend einem — dem eimen ober
Tu een re Bert Dil entfpredgenden — Steuerfgfteme .
von ſeinen Angehörigen zu erheben berechtigt md im Stande märe.
Ale
Ihr
Hin
23° =
: Ei
F Inıjar
——
Ei
an
finompiede. und Ar jet
Theilaa 53 den Wopithat
das Maß Diefer Tpeltnahme, wenn nice ausfchließend und
106, fo doch ya größeren Theile und in der Regel nach dem
des Veflächums amd Einkommens; und es ziberfreet bemadı
|
uHiE
E33 13
Sind, gelegt fo geht baburd dem armen, etwa mit vielen Kinde
gefegnsten Samitienhaupte, verglichen mit dem veichen Gölibatär oben
Kinderlofen, eine m. Be chwerde zu, -und_ treten noch andere
heilloſe —E B. in Bezag auf Gewerbegehuͤlfen und
Dienſtboten, auf Producenten und Confumenten u. ſ. w., ein, und
ar Sopkkamss; Pefpmalfteners. Glafienfteuer,
wird gat⸗ oft · die — *⸗ —B de Me
Maztın * — gaı :
2}
Einkommen zur Grundlage * an
beſtehende und nur. mäßige
werden will. Unter: den. nom
ig au ſteuern, Sie
1. die Pers
unfhäghen, wohl aber „em won Staate, für ‚deren Schug 28 wer
chenden Yufmanı —sutiprehende Beſteuerung jedes einzelnen Hanne
106. laͤſe alſo om Sandpunete bes ſtrengen Rechtes han, wohl A
— lee Humanitat und edlere Politik die Busieffung
der ganz Armen federn mögen, ober. vielmehr derſelben Bakkumgse
unfäblgßeit ——— — es waqhe. Del einen die⸗
eg — det- Em ‘ ren Biete ww
am⸗n 8 2.7
dieſe gar leicht — örffelken. im, uPerfonatftones”
aufzubehen. fein,
&3 verliesen übrigend ae "Dislamationen gegen die Kopfſteuer
ſchon dadurch alle Bedeutung, daß man, trofn derſelben verfchiebene
$ “ HARERE
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yi Nik lies H ANNE
J — heben ji:
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Mit ynn⸗we en 008 een viodh- tohen Buflande ber: Fb
hät, ar We ci Frbenss und
a le ee, Ba we don in. ſche Alten
auch die — — Ale
dudurch io, br man
miehrere Ärtnere Perfonen , yufankaten
und ben Mädten Dagegemeßtete ! er
die: Rinde des. Siowaius Apdkinarie, AMandet ale,
als wäre de Cecateus -b. din Häite- et Tue au
noch in ben Zeiten einte bireite vbufeinten
DIE Kopffteaer an, gem die. Auf bie nieberen de pi
tegte, als eine immerhin willfommene Quelle einer erhöhten oͤffent-
tihen Einnahme ohne Belaͤſtigung der Privifegirten | Stände, So
laſtet in Ruland heit zu Tage noch auf den Bauern und den
gemeinen GStädtebürgern eime ſchwere Kopfſteuer, von welchet der
Adel, die Geiftlicjkeit, die Soldaten und die Kaufleute Heirat eh
Sie würde für die aͤrmeren Familien ganz unertraͤgtich fein, wenn
nicht die Gemeinden, an melde die Geſammtforderung für di
ihnen wingehörige Seelenzahl ergeht, aus eigener Anctorieät eine
annaͤhernd nach dem Wermidgen fich tichtende MWertheilung der je:
forderten Steuerfunme träfen und dadurd die Natur diefer Steuer
Ba — —8* 2 den ae Län:
aud) ih Dänemark, in S
Kopfiteuer. Koran. | | 467
meinen Lehhr⸗ uub Handbuͤchern don Finanzwiſſenſchaft und Steuer⸗
weſen enthalten, deren Namen cheils allgemein bekannt, theils in
den dewiutin aber finanzielle Gegenftände von ww angefäbet
otte
in —— Genasj6 e der mubamedanifhen Lehre
hands KH — um Mubhameb
, tät
wichtiges hNeriſchen Bolzen fei ‚und
daß ſich ech vente mindeſtens 150 Millionen Menfhen zu fer
ner Lehre belanen. Jene nähere Aenntniß gebricht uns aber. Freunde
Wahrheit und — abweichen. Es fehlt uns faſt jede an fich
‚glaubteirbige rue, und ſalbſt die beſten arabiſchen Blographen, wie
| Mbelfn - Ahbulfeda, de Vita et Rebus gestis
Mohammedis; Jatine :verfit wtv.- Jolı. -Gagniei. 'Oxon,, 1723), ver
mögen , wie auuch ſchon Bibbon benerkt Hat, Leinen einzigen Gewaͤhrs⸗
mann aus bdem erſten Jahrhunderte der —ã—— ſonach keinen ein⸗
stgen mit jenemn Religiondftfter se lebenden Schriftfieller ans
Der · hifloriſchen Genißheit “ enthehrenb, liegt für uns fs »
nach auch die Unmöglichkeit vor, 6 Abſichten, fein öffent
tches Auftreten mb —— vollkommen zu erkennen
und nr whrbigen. Wir mäflen :uns daher vielfach mit bloſen Ver⸗
mungen nd Wabriheinlihkeiten begnügen, um une
die wirklich feruergetretinen Erfcheinungen nur einigermaßen Mar u
man.
Hnverhennbwe: enthehrte Mihameb Jeder höheren geiſtigen · Bildung.
Allein biefer Umfand feher —— den Augen feiner arabiſchen Landes
teste: darun nſcht herab, weill Aue Im gleichen, ober fetöft u Im in
durchbringender Sthäsfe vrfaffenden Verſtand
* von Eebencklugheit and Menſchenkennutniß/ verbunden (Was. fo
ıften —— * finder): it einer bilderreichen, fe: erhabenen und,
——— Pantafie.
7 Milfiineb ſacumte von ben Koreiſchiten ab „ben Schadern und
Güte (nmiaidtiy den den Mriefleon) der mon ıben. Arabern
feit: unbeitiiigen : als: heilig Raabe: :
Umſtand,
zumal in mit ıimsmcheriel eigentchuͤmllchen: Sehens taſeien
(von dem: fechhen Werluſte —— anſangend), mag fen beis
te æligioͤſen em Dingen eine weit mehr
cos Gr Aufmerkfautcit uibemete. : . < g0*
468 Korat.
Sn ee — mußte ee — ber —— Senna
Tee, — alsbald den Aberglauben, uͤberhaupt den unfinnigen Cultus,
dem feine Landsleute huldigten, als maturtoidrig und vernünftiger Me
fen gany unwuͤrdig erkennen. Haft allenthalben In Arabien herefchte
ein graſſes Heibenthumz und weun ſich auch einzelne Juden und Chris
ften fanden, fo flanden fie durchgehende, zumal Lehtete mit ihrer Dei:
Tigenanbetung, beinahe auf gleich niedriger Stüfe, wie jene, Der Zus
ftand der ganzen Nation war darum eim bekfagensmerther; das Wolf
der Araber war nicht, was es fein konnte.
Für einen Mann voll Fähigkeit und im Gefühle hoher That ⸗
Braft mußte es darum lockend erfcheinen, als Meformator aufzu⸗
treten. Vermuthlich beabfichtigte Muhamed Anfangs nichts weiter, als
Wiederherſtellung der alten reineren Lehre, ohne nur zu ahnen, dag
er der Stifter einer neuen Meligion werden duͤrfte — eben fo wie
(freitich unter ſehr verſchiedenen Verhäteniffen) fpäter der fächfifche Re—
formator, Aber auf biefer Bahn vermag man, Ak nue der erfle
Spritt gethan, nicht Aurgiweg am jeder beliebigen Stelle Halt zu
maden. — Muhamed ſuchte befonders den beiden Lehrfägen: „Es gibt
nur Einen Gott,” und „die Seele des Menfchen ift: unfterblich,” ats
Grundlage des ganzen Religionsweſens, allgemeine Geltung zu ver:
ſchaffen. Aber diefes Biel war, micht ganz leicht zw erreichen. Es ber
durfte des Anfcheines einer. befonderen göttlichen Miſſion, um bie
zehiloſen angebeteten Gögen und überhaupt die Maffe des herefchenden
Abergiaubens zu ſtuͤrzen, um auf den Tehmmern des alten Gebäudes
ein neues, befferes aufzuführen.
So nahm denn Muhamed die Role des von Gott ummittelbar In—
Koran, 469
bee Allmacht und Vorſehung Gottes hergeleitete fataliflifche Lehre einer
sehenben unbedingten Vorherbeſtimmung verbreitete
unter feinen Anhängern, und bie an wie
Sache barrenden Freuden bes
| Para»
hervor. So ers
Beit eine über einen fehe großen
fi ausbehnende Verbreitung —
AR ulebegpiegt in.dem Koran.
. 2% Dir Koran im Allgemeinen. — De Koran, Al
Koran, bad I AAgentlih die Vorleſung (ober Schrift, yoapı), wohl
auch al Yerten, «at 26 a Kitah (das Bud, die Bibel) unb
al Dhike (die Erinnerung) genannt, if in m ernbifher Sprache verfaßt:
?
Er
3*
*
3
:
$
ed vorſang, herabgefendet Haben. —*
— er, nicht als 1* vollendetes Ganzes, ſondern nur ſtückweiſe,
— Sura — 8 nach der anderen, von dem Erzengel bem Pro⸗
Def. bee Koran in arabifcher Sprache verfaßt ei, hebt Mus
hamed bazımm, noch befonders hervor, weil hierdurch einem Jeden im
Volke (nämlich in demjenigen Volke, unter. welchem er geboren war
umd lebte) bie Offenbarung zugänglich unb verſtaͤndlich gemacht ſei.
Pan!
jeder. Gelegenheit auf, —— Veh, auch. nur eine einzige Abs _
theitung in ‚gleicher Weiſe —— u’ „Du Eannf getroſt Tagen,”
fl timme ſich zurufen (Sura 17), „daß, wenn ſich bie
52* vr ——
RR, f u —*
alten Offabarangen uud ex -eslidrt dad Geſet und *
a0 Wollen ‚fie Jaber Sagen: eb.iik. Muhameb’s Werk, fo
auntungte : Vefertiget denn eine Sura, bie jo trefflich wie bie ſeinigen
470 Koran,
find, und rufet, außer Gott, zu Hälfe, wen Ihe wollt... Ein Erkennte
niß, das für fie zu hoch war, haben fie des Betruges befchuldigt.”
Der Koran (ein Bud etwa von ber Hälfte des Umfanges
ber Bibel) enehäft im Ganzen 114 Suren ober Capitel, mande von
bedeutender Länge, die meiften aber ohne große Ausdehnung, fo dag
viele, beſonders bie legten, nur ein paar Zeilen umfaſſen. Sie haben
fonderbare, für uns großentheils unverfländliche Ueberſchriften. Hdufig
find die legteren von einem in bem Gapitel vorkommenden Schlagwort
oder Bilde bergenommen, 4. B. das „Eifen,” die „Schlachtordnung,“
der „Sieg,” „Raf (ein Berg, ober au in. Beziehung auf einen
Buchſtaben) zc. Das weitlaͤufigſte und jedenfalls eines der wichtigſten
Gapitel ift das zweite, aus einem unbefannten Grunde (feiner Auss
dehnung wegen, wie Einige vermuthen) „bie Kuh” genannt; es ent=
hält die Hauptlehren des Muhamedanismus.
Die einzelnen Suren ſtehen unter ſich in gar keinem Zufammens
hange. Meiftens tragen fie unverfenndare Spuren an fi, baß ihre
Abfaffung durch diefe oder jene aͤußere Weranlaffung hervorgerufen iſt;
die Offenbarungen richten ſich meiftens nach den Werhältnifien, in
denen ſich Muhameb gerade befand ; manche find offenbar durch Staats⸗
Uugheit (wenn wir es fo nennen dürfen), andere durch die Bedraͤng⸗
niffe des Augenblickes, ober felbft vielleicht buch eine gewiffe, im In⸗
neren ber Bruſt ihres Verfaſſers brauſende Leidenſchaft diciirt. In
alten hertſcht eine zwar geringe Bildung, aber hohe Naturpoefie, mit⸗
unter eine glänzende Phantäfie beürkundende Sprache; oft blumen-
reich, oft vol Lebenserfahrung, und eben fo voll inniger Begeiſterung
für Religiofität, Wahrheitimd Recht. "Dagegen ermiden aber die fat
Koran. 471
enthält insbeſondere Vorfchriften des Civil- und des GStrafgefeges, ber
Geſundheittpollzei und felbft ber Yolitit, und muß demmach in diefen
verfdlebenen Beziehimgen gewuͤrdigt werden.
6.8 Die Blaubensichren bes Korans.— a) Einheit
Gottes. Es gibt nur einen: Bott, einen einigen, allmächtigen,
allweiſes aübgumberzigen , allwiſſenden. Mit Nachdruck verwirft Mu⸗
hammeb die Lehre der Chriften von der Trinitaͤt, indem er fie befchulbigt,
drei Qeter anzubeten. Chriſtus iſt ihm ein hochehrwuͤrdiger Pro:
„bes, aher nicht Gottes Sohn, nicht Gott ſelbſt. Eben fo tadelt er
bie Araber, melde pon Töchtern Gottes reden. „Allem richtigen
Erkenntuiſſe zuwider bat man Gott Söhne und Toͤchter angedichtet.
Gott werde allein. geprieſen! Und Alles ſei von ihm entfernt, was fie
ihm beilegen wollen, dem erhabenen Gotte! Er ift ber Schöpfer ber
- Himmel und dag Erde. Wie ſollte er einen Sohn haben, ba er Feine
Gattin Hat? - Klee Dinge hat er erfhaffen, und alle Dinge kennt
we. Das I uer Gott! Es iſt fonft kein Gott, als er, er, ber
Dinge. Diener ihm alfo, denn er ſorgt für Allse..
® ie
Kein Geſicht kann ihn fehen, er aber ducchichaut jedes Geſicht. Der
Unerforſchläche iß er, der Meile if er“ (Koran, 6. Sura). —
Mehamed werwirft unser allen Verhaͤltniſſen jede Bösen: und Men⸗
ſchen⸗, Sterns und andere Verehrung finulicher Gegenſtaͤnde, aus dem
Brunde: Astas,, was fidi hebt, muß fintens was geboren wird; muß
ſterben; alles Zerflöchare muß vergehen und umlommen. — In des
Meltaſts Urheher nershit eu mit Begeiſterung ein unendliches und ewi⸗
ges Weſen, ohne Geſtalt ober Wohnung, ohne Abnahme ober Gleich⸗
heit, 8 unferen gehsimftien Gedanken; ein Weſen, das fein
Daſein ans ber Nothwendigkeit feiner eigenen Matur, unb alle mora⸗
liſche und Intellectuelle Vollkommenheit aus ſich ſelbſt hat *). .
b) Unſterblichkeit. — Mit giähender Wegeifterung fpricht ſich |
Muhame für die — von feinen Mirbürgern faſt durchgehend® geleug⸗
nete — Auftftehung nach dem Tode aus. Dit Drohungen himmili⸗
* Strafen, mit Verheifung himmlifcher Belohnungen ſucht er
biefee ſeiner "Lehre allgemeine Geltung zu verfchaffen. Auch ſtrebt er
w oft wiederholten Malen die Behauptung: daß dieſes naturgemäß un⸗
oͤglich fei, — durch Beiſpiele natätlichet Erſcheinungen zu widerlegen.
So, wie es Gott möglich war, Euch zuerſt aus Staub zu fchaffen,
dann aus Samen, — und ohne feinen Willen kann Hein Weib ge
ſchwaͤngert werben, noch gebären, — fo wird es Ihm auch gemiß
‚möglich ſein, Eueren Staub wleder zufammenzufügen und Euch zu neuem
ten zu erwecken. „Die tobte Exde, die wie durch dem Bkegen wie⸗
einem ſtarken X Enthu mirn⸗ bemerktt Gibbon:
„en —— Deiſt un bee a nufae Botbsglaubensbelenntniß un:
—* un; ci Slaubenbelenatniß, vielleicht für unſere gegenwaͤrtigen Kräfte
\
470 Koran.
find, und rufet, außer Gott, zu Hülfe, wen Ihr wollt... Ein Erkennt
niß, das für fie zu hoch war, haben fie bes Betruges befchulbigt.”
Der Koran (ein Buch etwa von ber Hälfte des Umfanges
ber Bibel) enthält im Ganzen 114 Suren oder Capitel, mande von
bedeutender Länge, die melften aber ohne große Ausdehnung, fo daß
viele, beſonders bie legten, nur ein paar Zeilen umfaffen. Sie haben
fonderbare, für uns großentheils unverftändliche Ueberſchriften. Hdufig
find die legteren von einem in bem Gapitel vorfommenden Schlagwort
ober Bilde hergenommen, 4. B. das „Eifen,” die „Schlachtordnung,“
dee „Sieg,“ „Raf' (ein Berg, ober auch in Beziehung auf einen
Buchſtaben) ıc. Das weitldufigfte und jedenfalls eines der wichtigften
Capitel ift das zweite, aus einem unbefannten Grunde (feiner Aus«
behnung wegen, wie Einige vermuthen) „bie Kuh” genannt; «6 ent
hält die Hauptlehren des Muhamedanismus.
Die einzelnen Suren ftehen unter ſich in gar keinem Zuſammen—⸗
hange. WMeiftens tragen fie unverfenndare Spuren an fi, daß ihre
Abfaffung durch diefe oder jene Äußere Veranlaffung hervorgerufen it ;
die DOffenbarungen richten ſich meiftens nad den Werhältniffen, in
denen fi Muhamed gerade befand ; manche find offenbar durch Staats-
Uugheit (wenn wir es fo nennen dürfen), andere durch bie Bedraͤng⸗
niffe des Augenblices, oder ſelbſt vielleicht durch eine gewiffe, im Ins
neren ber Bruſt ihres Verfaſſers braufende Leidenfchaft diciirt. In
alten herrſcht eine zwar geringe Bildung, aber hohe Naturpoefie, mits
unter eine glänzende Phantäfte beurkundende Sprache; oft biumens
reich, oft voll Lebenserfahrung, und eben fo voll inniger Begeifterung
für Retigiofität, Wahrheit und Recht, Dagegen ermüben aber bie faft
Koran. 471
enthält instefondene Vorſchriften des Civils und des Strafgeſetzes, der
Geſundheittpollzei und felbft der Politik, und muß demnach in biefen
verfiebenen Beziehungen gewuͤrdigt werden.
& 8 Die Blaubensicehren bes Korans.— a) Einheit
Gottes, Es gibt nur einen. Bott, einen einigen, allmächtigen,
—*8 allbarmherzigen, allwiſſenden. Mit Nachdruck verwirft Mu⸗
hameb bie Lehre der Chriften von der Trinitaͤt, indem er fie befchulbigt,
Drei Goatter anzubeten. Chriſtus iſt ibm ein hochehrwuͤrdiger Pro⸗
phet, aher nicht Gottes Sohn, nicht Gott ſelbſt. Eben fo tadelt er
bie Araber, weiche pon Töchtern Gottes reden. „Allem richtigen
Erkenntniſſe zuwider hat man Gott Söhne und Toͤchter angedichtet.
Gott werde allein. gepziefen! Und Altes fei von ihm entfernt, was fie
ihm beilegen wellen, dem erhabenen Gotte! Er ift ber Schöpfer ber
- Himmel unb der Erde. Wie ſollte er einen Sohn haben, ba er keine
Sattin hat? : Mile Dinge hat er erfchaffen, und alle Dinge kennt
ar. Das i$ Bur Bor! Es iſt fonft Fein Gott, ale er, ex, ber
Schöpfer elle. Dinge. ‚Dienet ‘ihm alfo, benn er fargt für Rum.
Kein Geſicht kann ihn fehen, er aber durchſchaut jebes Geftcht.
Unerforſchläche iß er, der Weile iſt er“ (Koran, 6. Sur). —
Muhamed nerwirfs unter alien Perhaͤliniſſen iede Goͤhen⸗ und Men⸗
ſchen⸗, Stern⸗ und andere Verehrung finulicher Gegenſtaͤnde, aus dem
Bunde: Alles, was fid; hebt, muß ſinken; was geboren wird, muß
ſterben; alles Zerflöchbare muß vergehen und umlommen. — In des
Mleltais Urheher verehrt er mit Wegeifterung ein unenbliches und ewi⸗
ges Weſen, ohne Geſtalt oder Wohnung, ohne Abnahme oder Gleich⸗
Heit, gegenwärtig unferen geheimſten Gedanken; ein Weſen, bas fein
Daſein ans der Nothwendigkeit feiner eigenen Matur, und alle mora:
liſche und Intellectuelle Vollkommenheit aus fich ſelbſt hat *). .
b) Unſterblichkeit. — Mit glähender Begeiſterung ſpricht ſich
Muhame für die — von feinen Mitböngern faft durchgehende geleug⸗
—* —Auxẽerſtehung nach’ dem Tode aus. Mit Drohungen himmü⸗
er Strafen mit Verheifun himmliſcher Belohnungen fucht er
\ eſer ſeiner "Behre allgemeine —2 zu verſchaffen. Auch ſteebt er
zu oft wiederholten Malen die Behauptang: bar un naturgemäß un:
moͤglich fet, — buch Beifpiele natürlichet Erſcheinungen zu widerlegen.
So, tie es Gott möglich war, Euch zuerft aus Staub zu fchaffen,
dann aus Samen, — und ohne feinen Willen kann Bein Weib ge-
ſchwan —— noch gebaͤren, — fo wird es Ihm auch gewiß
mögtie fein, Eueren Stanb wieder zufammenzufügen und Euch zu neuem
Sben gu erwecken. „Die todte Erbe, die wie durch der Wegen wie⸗
a
m ſtarken X — dbenerkt Gibbon:
„Ei ‚an vera Deit un 8 [ih tms Boltsglaubensbelenntniß ua
* er 3 cin Binubensbekuntniß, — hr unſert —— Kiäfte
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Koran. 473
Ungläubigen. Ganz befonberen Werth lege er aber auf Mofes, von
welchem er bie in der Wibel erzählten Wunderthaten (jeboch mit mans
Barlantn) wieder erzählt, — fobann auf Chriftus Er
erwähnt beffetden vlelmals umb fpricht ſtets mit der hoͤchſten Adıtung
von ihm. Er HE ihm geboren von einer Iungfrau (19. Sura), welche
auch eigens „Dach “ betitelt iſt; — eben fo hat die 3. Sura bie
Ueberfcheift „das GBefchlecht Aniram” (mie der Water Martens geheißen
haben ( Am Kreuze iſt er nicht geflorben, denn feine Seinde ‚has
ben ihn weber getödter —* an's Kreuz geheftet, ſondern es warb ihrer
NRache ein —— Men ſch übergeben, ber (aͤußerliche) Aehnlichkeit
mit beſaß“ (4. Sura) — As Sohn Gottes, ober als Gott
edler Jefus nicht anerkannt. „Chriſtus iſt nicht fo hoffaͤrtig,
er ſich weigern ſollte, ein Knecht Gottes zu ſein; die Engel
Ka 3* auch wet, bie doch Sort am Naͤchſten ſtehen“ (ebenbafelbft).
„CEhriſtus iſt weiter nichte als em Geſandter; vor ihm find anbere
Geſandte bergegangen, und feine Mutter war ein gewöhnliche Weib“⸗
(Sur 5). — Schon ale neugeborenes Kind fagte aber Chriſtus:
„Wahrhaftig, ich bin ein Knecht Gottes. Der Herr bat mie das
Evangelium gegeben und mich zum Propheten beflelle.” ... „Dielen iſt nun
der Koran Wort der Wahrheit
Jeſus — füher '
eigentliche Natur ni lg Fu Fuͤr Bott paßt es ſich wicht, einen
Sohn geieage iu hab en. Hinweg mit biefem Irrthume!... Die Chriften
ber hersige habe einen Sohn gegeugt. Das iſt ja ein uns
geheuereß —— Kein Wunder waͤre es, wenn die Himmel zer⸗
—— die Erde ſich oͤffnete und bie Berge einſtuͤrzten Aber bie.
‚ daß Bott einen Sohn gezeugt haben fol. Es iſt eine
Unwkebigteit, von dem Erbarmer foldyed zu lehren. Niemand tft
weder im Hineeael noch auf Exben, der anders zu bem Allbarmhetzigen
treten koͤnnte, denn als fein Knecht” x. (Sura 19
Ehriſtus verkündete den Juden: „Ich bin im der That Gottes
Geſandter an Euch, der das Seftätigen fol, was vor mir fchon, in
dem Geſetze, das ihr befiget, gefagt worden; und aufßerbem bring’
16 Cub, cine fhhice Berfäah: von einem Geſandten, der nach
„Die fruͤheren Propheten haben auch die Befehle Gottes verkuͤndigt,
..und —— * ber Geſandte Gottes und das Gieget ber
Drophetn” (Sura 33
Dubamed ah viele Wunder und Mirakel, weihe bie
+
ben.” Über auch: „Ihe bleibe ungläubig bei ben größten Wundern,
die Gott alltäglich (nämlich in der Natur) wewichtet; ungeachtet der
Wunder wollte man den altın Propheten. doch ebenfalls kein Vertrauen
fhenten. — Auf den "perfönlich gemachten Einwand: ob Gert
-
RM
wohl einen bloſen Menſchen zu feinem Geſandten erkoren ‚habe... .aı
wortet Mubamed, (im Namen Gottes. fprechend): „‚Exöffne ihnen My
daß wir ihnen. einen Engel,vom Himmel zum Gefandten herabgefchiett
Haben, würden, ‚wenn, bie,Engel auf ber Erde fo. herumgingen, . wie
die gemeinen Leute, die Aunter- einander ihren. irdifchen. Beruf abwarten,”
— Nicht minder toeif’t er ſtets die Anmuthung ber, Enthuͤllung ober
Borderfagung kommender, Dinge damit zurü, daß dieſes bei , Gott
ſtehe, ober sin Geheimnig Gottes fel,. das ‚er nicht enthällen Lönne,
—
ie müuͤſſen hler noch "einiger Rehrfäge des Korans ‘gedenken, die
zwar nicht eigentliche Dogmen enthalten, tiber Muhamed's Anſichten
von ber Welt und ber Gottheit aber einige weitere Aufklärung geben.
Die Schöpfung der. Melt in 6 Lagen, die Geſchichte des Apfel-
biffes,, des Moah, bes Mofes erzählt Muhameb im A inen im
auches abgekürzt, Anderes mit einigen Abweichungen.
Sinne ber, Bibel, M
Vieles im: Weltall: hat Gott zum Mugen; und zum Dienſie der
Menſchen geihaffen: „Die Nacht und dem Tag hält er zu Euerem
Dienft an, und Sonne, Mond. und. Sterne werben durch feinen. Wen.
fehl gezwungen , Euch umſonſt zu dienen, (Er ift es, der die Sonne
und den Mond zwingt, ihten Lauf zu Euerem Glüde- zw nehmen,
Koran. | 475
fineiben, um von dem teberfluffe, mit welchem Gott entfernte Län
der gefeguet bat, —— des Handels Vortheile zu gewinnen. Un⸗
e bat er über der Erde in bie Höhe geführt, damit
Jedem Menſchen bat Gott, einen Schuttengel beigegeben.
‚Dee Menſch hat feinen Engel, bes entiweber vor ihm hergeht, oder
ihm —— der ihn beſchuͤten fol, auf ben Befehl Gottes“
(Sura
Als Gott den Adam erſchaffen, befahl er den Engeln bes Him⸗
mels, ihn zu verehren. Sie thaten's; nur Eblls nicht, der Teufel;
denn er, bee aus Feuer Geſchaffene, duͤnkte fich beſſer, als der aus
Erbe gebitbete Menſch. Wegen biefer Seffaßet verftieß ihn Bott aus
dem Parabiefe. Eblis aber bat um Aufſchub ber Strafe bis sum
Tage ber Auf 9; und als Gott ihm dieſes gewährt Hatte,
tief ee aus: Du mid, mein Ber, einmal zum Guten vers
borben BOB. fü will Q
reizend vorftellen,
ſchaffenen Knechte will ich mich nicht wagen” Diefes senehmigte Bett,
und fo gefchieht es.
Das Weisgeriät. — Ein furchtbares Erdbeben wird ihm vors
angehen. „Die Mutter wich Ihres Saͤuglings vergeffen, und das
trächtige Thier wird feine Jungen wegwerfen. Die Meufchen werden wie
betrunken erfcheinen. ... Der Himmel wird wie gefhmolzenes Erz fein und
die Berge werben fein wie Wolle, die vom Winde umsbergetrieben wird.
. Auf. ben. erflen — der Poſaune wird Alles, was im Him⸗
mel und auf Erden iſt, bis auf Wenige, die Bott ausnehmen, wich,
wie entfeelt niederſtuͤtzen. Auf ben zweiten Schall werden alle Todten
auferfichen und Ihr Schickſal veisarken. Und die Erde wird leuchten
von dem Lichte ihres Herrn, und das — wird aufgeſchlagen werden,
und die Propheten und bie Märtyrer werben als Zeugen herzugefuhrt
werden, und bann wird das mwahrhaftige Urtheil, welches Seinen jus
viel thun wird, über Alle gefällt werden” (Sura 22, 70, 39).
Dos Paradies. — Die Schilderungen bes Parabiefes find ganz
nad ber ⸗und Vorſtellungsweiſe der an und in Wuͤſten woh⸗
nenben, an und Schatten Mongel leidenden, fleiſchliche Ges
nüfle fuͤn das haltenden Araber entworfen. Es if ein herrlicher
Barten, von Bahn d d wol Bühlender Gchasten, b
Bewohner ohne Dähe, Sof je Arbeit fein: m; von an
*) Wir widderhoten: ein! Ent eu-Yom Siem wrtis, nat m
53 82 —* foudern auch um mol a We
Bade yerofchenbe Opramnetie =
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ob auch Nichtbekenner des Korans bie himm⸗
Frage:
ufhe Seligkeit erlangen Binnen, finden wir in biefem Buche einen
Urber die
Widerſpruch. So heißt es In ber 2. Sura ansbrüdtih: „Es werden
Insbefondere follen alle diejenigen einen herrlihen Lohn“ erhalten,
welche in einem Religlonskriege mitgejogen find.
ER
HRG Hill:
Koran. 477
Boͤſes. Wärbe wohl Jemand umter Euch bas faule Fleiſch feines tobten
Bruders eſſen wollen? Gewiß, die Haut ſchauert Euch dador!
und erbarmend. D
Menſchen, Euch von einem: Manne und von einem
Weide eefhaffen, und hernach Euch zu Voͤlkern unb einzelnen Be
fefchaften ‚ bamit ihr einander zur Liebe kennen moͤch⸗
tet. Wahrheit, der Wuͤrdigſte unter MM bei ders
möäflen bie eingegangenen — —. nie —8
ihre Verlegung fein möchte — gewifienbaft gehalten werden.
es findet ſich nirgendwo die abfchenlihe Lehre, daß man Ketzern
nicht ſn ſei, Wort zu halten.) „Und ſollte ein Bögendiener
Schut bei Die ſuchen, fo verfage ihm benfelben nicht, damit er
Gelegenheit habe, das Wort Gottes zu hoͤren; und wenn ex ſich
von ber Wahrheit ber Religion nicht Überzeugen lift, fo gib ihm
ein ficheres Geleite nach feiner Heimath bin." (Gum: 9. — &8 2
viele Züge bekannt, Die gewifienbaft die Muhamedaner biefe Vor⸗
för un ten Beten In am allen Ländern und. unter allen. Verhaͤlt⸗
erfüllten.)
Die itteniehre bes ande vielfach ähnlich, obſchon nicht
gleich ber deiftlichen, bat umverlennbar die ſocialen Zuftände in
Arabim (und in vielen eroberten Rändern) entfchieben verbefiert. Ihr
bat man es gw verdanken, baß der Kindermord von Geitn armer
Eltern —* ward (Sura 6); daß die zu verkaufende Sklavin
von ihren Kindern nicht. getrennt / nicht hinweggeriſſen werden darf;
eben ſo, daß unter jenen Voͤlkern, ——8 bie Polygamie unendlich
tief feſtgewurzelt war und blieb, der Zuſtand ber Frauen body we⸗
nisflens vergleicheweiſe um etwas gemildert, und. insbefonbere berem
Scheidung) von. Seiten des Mannes, einigermaßen er
—— So in verſchiedenen anderen Beyiefungen,
nicht ſeht ausführlich, — durchgehende ab
einfach. Manches Hat fi erſt eek allmälig durch Uebun ung autgeplbet.
Golgenbeb find bie Brundzäge:
Verehrung Allahe (Better), noͤthigenfalls mit Eins
: b) es fünfmaliges: Gebet. — Von den einzelnen Mochen⸗
tagen wird nicht der Sonns, ſondern ber Freitag g —
ſen ſteht es den Glaͤubigen frei, bie Zeit vor und —* bem Go
teöbienfte mit ihrer gewöhnlichen Arbeit zugubeingen. Der Koran er
mahnt ſogar ausdruͤcklich ic) ba: „Wenn bie —— Andacht ges
endigt if, fo ſezt Euere Geſchaͤfte des Werkehrs fort, bewerbt
Euch dabei um den Segen Gottes“ 2c. ( Sura 62) Nur zwei Feſte
verlangen gaͤnzliches Enthalten von der Arbeit: große und der
kleine Bairam. — Dir Cultus in der Pole Pt einfach im
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Koran. 478
benben Wefen) mb biejenigen Pfeile, durch deren Gebrauch zukuͤnf⸗
tige Dinge entdeltt werden ſollen, find ein Greurl und ein Werk des
Satans. . . Durch ben — und die Spiele ſoht, der Teufel Haß
und Seisbfägeft . unter zu fllften” ıc. (ua 6
67. Er Ah — 2. koͤnnen hier nur einige Puncte davon
b
Mahamed brachte die Erbfolge auf billigere und vernuͤnftigere
Grundſaͤtze, als die bis dahin unter den Arabern geltenden. Während
früher in gewiſſen Faͤllen nur der geienet als geſetzlicher Erbe galt,
ſollte nun ein anberer buͤrgerlicher Stand ferner Kehren mehr um fein
Exbthel Ichigem (4. Sura). Auch die Form ber Teſtamente warb
geetgelt.-
Noch wichtiger find bie Ehegeſetze. — Die Polygamie konnte
Muhamed, ale zu tief in ben Begriffen und Sitten feiner Landsleute
begründet, nicht abſchaffen; er wollte es auch um fo weniger, ba er
in fpäterer Zeit felbft allzu ſehr nach fleifchlichen Genuͤſſen firebte. Deffen-
ungeashtet verdankt man ihm wenigſtens eine vergleichsweiſe Verbeſſe⸗
rung des Zuſtandes ber Weiber. Er beſchraͤnkte die Zahl ber recht:
mäßigen Battinnen auf hoͤchſtens vier, wobei er jeboch dem Anhaͤn⸗
ger feiner Lehre, uͤbereinſtimmend mit den Beiſpielen des alten Teſta⸗
ments, nebenbei geſtattete, ſich Sklavinnen, „die fein Eigenchum ges
worden,” zu halten, und zwar fo viel, ats er deren, wolle, ſelbſt ver
heirathete SHavinnen nicht ausgenommen, da fie ja ebenfalls fen
Eigenthum geworben (Sura 4)1 Verboten iſt, eine Gögendienerin zu
u; en (S. übrigens die näheren Andeutungen im Artikel „Ehe“,
„Eheſcheldung,“ im 4. Bande des Staatslexikons.)
5.8. Strafgeſetz. — Die altteſtamentlichen Begriffe find hier
tm Ganzen vorherrſchend: Auge um Auge, Bein um Wein. Auch bie
furchtbare Blutrache findet ‚fich bier wieder. Der nächte Anvermandte
iſt der ‚natürliche und gefegliche Blutraͤcher des Erfchlagenen. ‚Doch
darf er in der Mache nicht imeichtoeifen, und fein anderes Blut vers
gießen, Als das des Mörder.” Dieben follen bie beiden Haͤnde ab:
gehauen
. Mubanred macht übrigens feinen Gläubigen begreifli, daß für
fie gar keine —** — das mofeifche Geſet (Bahn tm
Bahr x.) zum Bollguge bringen zu mäffen. Er empfiehlt ihnen
angelegentlich nung und Vergebung der erdul⸗
deten Undiiden. „Die Race muß der Beleidigung angemefien fein.
Ber ſich noch erbuldeter Beleidigung raͤcht, kann mit Re nicht
geflraft werden. er indeſſen die Ungerechtigkeit vergibt und ſich
verföhnet, der ‘hat Belohnung von Bott zu erwarten” (Sura 42).
6:9. Politiſche Vorfchriften. — Hieruber, insbeſondere über
die. Verhaͤlentſfe zu den „Unglaͤubigen,“ findet man vorzugsweiſe viele
Widerſpruͤche im — Einerfetes wied gelehrt: „Zwingt Niemanden
zur wahren Religion.“ Sodann: „Sereitet The die wahre Religlon
wider diejenigen, welche gegen. Eu) zu den Wuffen ‚greifen; begehet
20) 1. 16.
5.10,
mubamebanifhen
‚feeten berfelben. —
bei vielen im gr
‚zum Vortheile
‚gern beider ‚Lehren ent] .
dienft und auf
Koran. , 481:
einbringende, überall db
a KT
hamebever ia jedem wiſſenſe —— be Di
Uigionsworfipeiften echliden wollen, fo folgen ge
iemer Gpehften , welche bie des Panetenfoftems
als beteriſch es ergibt daraus fo v
der Koran. vorſchreibt, als das Andere aus ber Bibel
etweiſen laͤſt *). Wir müffen nun
wir RB
füge einrr binnchen Stabuitaͤt im Kocan nirgends ausgefprochen fine
den, ſoudern
wielmehe giemlich Die_entgegengefi .
WB in dee 3. Sure: (Der Menſq Ya ou die.
eg — Min: 3
e
CF find; faffetfie Beat, und über Euch dasin,
prechende that ſaͤchlich e Beweiſ *
daß N Ss — jede A Gig Pu] J
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und unmöglich macht. ei ein —
fommten chichte weicher
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ge enthielt, als heute; eine veichere, als nach Ente :
being wab Ausbeutung aller amerilaniichen Minen, — mit einem ,
Worte: eine. Periode, während welcher bie pprendifche fel ver⸗
nunftgemmäß feier 'unb gültiger war, als jemals zuvor oder in der
Die Lehre des Fatallomus iſt bereits jest ſchon ‚unter den
Muhamedanem im Allgemeinen gewaltig erſchaͤitert, auch von.
der Selaverei latt ſich wohl befeitigen , Indem ja
de mn dh Mo sngamie aut en um DR —E—
onogamie u am
Sinnen sn) Biden In abmdene ber, TE
"Verlegung des Schidiihen, die
FR A woden X *
"Otaath „Eıyiton, IX. Er? \
*
484 KXorngefege, Kornhandel u. f. w.
einen Iohnenden Preiß bedingt." Wo der Abſat beſchraͤnkt und ber
Preis gedrädt if, muß auch bie Production und bie Ausbildung des
landwirthſchaftlichen Gewerhes Noch leiden. Die Freiheit der Setreide ⸗
ausfuhe, welche ben Abfas ber im Snlande nicht begehrten Worräche
moͤglich macht und dem flets neue Märkte ſuchenden Getreibehändier
in’s Leben ruft, iſt daher eine wefentliche Bedingung der Bluͤthe und
der Erweiterung der.Intändifchen Landwirthſchaft. Die natürliche Folge
des Wohlſtandes der Landbau treibenden Elaſſe iſt eine große Nach⸗
frage nach Producten der tehnifchen Gewerbe; bie freie Getreide⸗
ausfuhr ift alfo mehr ein Sörberungsmittel, als ein Hinderniß ihrer
Entwidelung; viele Gapitalien ferner, welche im Landbaue erworben
werden, gehen in Die technifdhen Gewerbe über. Die freie Ausfuhr,
weit entfernt, das Inland der Gefahr von Hungersnoͤthen Preis zu
geben, ſichert vielmehr nicht blos in guten Jahren bie Befriedigung
dee inländifhen Nahrungsbedärfniffe, ſondern ſchuͤzt namentlid in
ſchlechteren Jahten gegen Mangel, weil alsdann die in guten Jahren
für's Ausland befiimmten Vorräthe zu Dedung des Ausfall verwen.
det werben Binnen, während bei Ausfuprbefchränkungen regelmäßig nur
der ordentliche Bedarf des Inlandes hervorgebracht wird, bei eintreten»
dem Ausfille an dem Jahrsertrage alfo fogleih Mangel eintreten muß.
Die freie Ausfuhr ſchuͤtt endlich gegen bie für Producenten und Käus
fer hoͤchſt ſchaͤblichen farten Preisſchwankungen, weldye bei beſchraͤnk ·
ter Ausfuhr ‚häufig entſtehen muͤſſen, weil ſchon ein kieiner Ueberſchuß
im Jahrsertrage bie Preife unverhättnigmäßig druͤckt, ein kleiner Auss
fall aber, der nicht durch die fonft zur Ausfuhr beflimmten Vorraͤthe
gedeckt werden kann, die Preife unverhältnigmäßig fleigert.
Es folgt Hieraus, daß Ausfuprbefhräntungen, anflatt
gegen Mangel und Theuerung zu [hägen, bie Hungers
und Theurungsjahre vermehren.
Wenn aber auch GetreidesAusfuhrverbote als verwerflich ers
Korngefege, Kornhandel u. f. w. 485
u. f. w. in ben Befegen über ben Kornhandel bie Beſtimmung getroffen,
dag ber Ausfuhrzoll mit dem Steigen oder Fallen ber inlaͤndiſchen
Getreidepreiſe fleigt ober faͤlt, fo, daß er bei einem getsiffen nieberen
Stande der Preife ganz aufhört und bei einem fehr hohen Stande
berfelben feiner Wirkung nach bis zu gänzlicher Beſchraͤnkung der Aus:
fuhr ſich fleigert. Allein diefe Methode hat ben großen Nachtheil, daß
das Schwanken der, Ausfuhrabgaben ben Getreidehandel in hohem
Grade erfchwert, die auswärtigen Käufer auf andere Märkte treibt,
zur wöchentlichen Berechnung bee Duchfchnittspreife des Ges
treides im Inlande nöthigt (fol nicht das Geſetz durch kuͤnſtliche
Dreife umgangen werden), und dadurch den Behörden eine nicht ger
ringe Geſchaͤftslaſt aufbürbet.
Ausfuhrverbote und Ausfuhrzölle erſchweren endlich die Einfuhr und
die Durchfuhr von Getreide ; weil die Gefahr entfteht, dag ein im Aus⸗
Lande aufgelauftes und eingeführtes Getreide, wenn es ſich im Inlande
nicht mit Vortheil verlaufen laͤßt, entweder gar nicht oder bei hoben
Zoͤllen nur mit Nachtheil wieder ausgeführt werden Eann.
Die Staaten des deutſchen Zollvereins haben mit Recht jede Aus»
fuhrabgabe aufgehoben, mit Ausnahme des kornreichen Baierns, das
ber englifchen Einrichtung folgt.
Il. Sol ber Staat bie Einfuhr von Getreide freigeben ober
befchränten ? Ä
Während eine Beſchraͤnkung der Ausfuhr im Intereſſe der inlän:
difchen Getreibefäufer gefordert worden iſt, fo hat man auf der ande
ven Seite eine Beſchraͤnkung der Getreibeeinfuhr im Intereſſe des in⸗
Ländifchen Landbaues namentlich dann für nöthig erachtet, wenn Bo⸗
den und Klima benfelben erfchwert; wenn man, um den Bedarf an
Unterhaltsmitteln für bie Bevoͤlkerung zu bedien, in Folge der Ver:
mebrung der letzteren zum Anbaue von immer weniger ergiebigen
Grundftüden feine Zuflucht nehmen muß; wenn endlich bie auf bem
inländifchen Aderbaue ruhende Laft der Abgaben die Concurrenz mit
dem Auslande unmöglid macht.
Man iſt hierbei von ber Vorausfegung ausgegangen, baß bie
politifhe Unabhängigkeit eines Staates weſentlich dadurch bedingt ſei,
daß der Bedarf an den unentbehrlichen Lebensmitteln vollſtaͤndig durch
die Production im eigenen Lande gebedt werde; man hat auf bie
furchtbare Gefahr aufmerfam gemacht, der man fi im Falle eines
Krieges einem Feinde gegenüber ausfegen würde, welcher in ber Lage
wäre, die Zufuhr von Getreide zu verhindern. Diefe Andeutung ver:
fehlt ihre Wirkung bei vielen vorfidtigen und furchtſamen Naturen
nit. Wo aber hat man je die Erfahrung gemacht, daß bie Bevoͤl⸗
kerung eines ganzen Landes, wie bie einer belagerten Stadt, durch den
Zeind ausgehungert worden wäre! Wenn auch die eigene Production
nicht das Bebuͤrfniß vollſtaͤndig deckt, macht nicht dasjenige, was von
Außen berbeigefchafft werben muß, doch immer einen verhältnigmäßig
ur Meinen Theil des geſammten Bedarfs aus? Wenn biefer Theil
a84 Korigefehe, Kornhandel uf. w.
einen lohnenden bedingt. Wo ber fördnet und d
Preis gedrüdt — die Penn um 9 Ausbildung
des Wohlſtandes der Landbau enden Elaſſe ifk eine große Radh
frage nach Productem der tehnifchen Gewerbe; bie freie Getreider
ausfuhr ift alfo mehr. ein’ Förberungsmittel, als ein Hinderniß ihrer
Entwidelung ; viele Gapitalten ferner, melde im Landbaue erworben
werben, gehen in die techniſchen Gewerbe über. Die freie Ausfuhr,
weit. entfernt, das: Inland der Gefahr von — Preis zu
al
Korngefege, Kornhandel u. f. w. 485
u. f. w. in den Gefegen über den Kornhandel die Beflimmung getroffen,
dag der Ausfuhrzoll mit dem Gteigen ober Fallen ber Intänbifchen
Setreibepreife fleigt ober faͤllt, ſo, daß er bei einem gemwiffen niederen
Stande ber Preife ganz aufhört und bei einem fehr hoben Stande
berfelben ſeiner Wirkung nach bis zu gänzlicher Beſchraͤnkung ber Aus;
“fuhr ſich fleigert. Allein diefe Methode hat den großen Nachtheil, daß
das Schwanken ber, Ausfuhrabgaben den Getreivehandel in hohem
Stade erfhwert, die auswärtigen Käufer auf andere Märkte treibt,
zur wöchentlihen Berechnung dee Duchfchnittspreife des Ges
treides im Inlande nöthige (fol nicht das Geſetz durch kuͤnſtliche
Dreife umgangen werden), und dadurch ben Behoͤrden eine nicht ges
ringe Gefchäftstaft aufbürbet.
Ausfuhrverbote und Ausfuhrzoͤlle erſchweren endlich die Einfuhr und
die Durchfuhr von Getreide ; weil die Gefahr entſteht, dag ein im Aus»
Lande aufgelauftes und eingeführte® Getreide, wenn es ſich im Inlande
nicht mit Vortheil verlaufen läßt, entweder gar nicht oder bei hohen
Zoͤllen nur mit Nachtheil wieder ausgeführt werben kann.
Die Staaten des deutfchen Zollvereins haben mit Recht jede Aus»
fuhrabgabe aufgehoben, mit Ausnahme des kornreichen Baierns, das
der englifchen Einrichtung folgt.
Il. Sol der Staat die Einfuhr von Getreide freigeben ober
befchränten ? | '
Während eine Beſchraͤnkung der Ausfuhr im Intereſſe der Inlän:
difchen Getreidekaͤufer gefordert worden ift, fo hat man auf der ande-
ten Seite eine Beſchraͤnkung der Getreideeinfuhr im Intereſſe des ins
Iändifhen Landbaues namentlich dann für nöthig erachtet, wenn Bo:
den und Klima benfelben erfchwert; wenn man, um ben Bedarf an
Unterhaltsmitteln für die Bevoͤlkerung zu decken, in Folge der Ver:
mebrung der le&teren zum Anbaue von immer weniger ergiebigen
Grundſtuͤcken feine Zuflucht nehmen muß; wenn endlich die auf dem
inländifhen Aderbaue ruhende Laft ber Abgaben die Concurrenz mit
dem Auslande unmöglich macht.
Man iſt Hierbei von der Vorausfegung ausgegangen, baß bie
politifche Unabhängigkeit eines Staates wefentlih dadurch bedingt fei,
daß der Bedarf an den unentbebrlichen Lebensmitteln volftändig durch
die Production im eigenen Lande gebedt werde; man bat auf bie
fucchebare Gefahr aufmerffam gemacht, der man fih im Halle eines
Krieges einem Feinde gegenüber ausfegen würde, welcher in der Lage
wäre, die Zufuhr von Getreide zu verhindern. Diefe Anbeutung ver:
fehlt ihre Wirkung bei vielen vorfichtigen und furcdhtfamen Naturen
nicht. Wo aber bat man je die Erfahrung gemacht, daß die Bevoͤl⸗
terung eines ganzen Landes, wie die einer belagerten Stadt, durch den
Zeind ausgehungert worden wäre! Wenn auch die eigene Production
nicht das Beduͤrfniß vollfländig deckt, macht nicht dasjenige, mas von
Außen hberbeigefchafft werben muß, doch immer einen verhältnigmäßig
nur kleinen Theil des gefammten Bedarfs aus? Wenn biefer Theil
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| Korngefeße, Kornhandel u. ſ. w. 487
höher der inlaͤndiſche Preis geftiegen, daß fie dagegen erſchwert, d. 5.
der Zoll ir würbe, R mehr vw —* er 8* kin
Abgabe fcheint a empfehlenswerth zu fein, wei
bems Getreidehandel größere Sicherheit verleiht; weil Preis⸗
> | vorbeugt, ie nothwenbig in hohem Maße nen
Pun gegang
werben; weil enblid ein fefler Zol der Natur einer Ausgleichungs⸗
abgabe am Angemeflenften if. England, Frankteich u. f. w. haben
eine wechſelnde Abgabe vorgezogen; im beutfchen Zollvereine wirb eine
feſte Esine Abgabe von 17 Kr. pr. Cent. erhoben. Allein das kornreiche
Baiern macht auch hier eine Ausnahme und erhebt einen wechſelnden
Zoll.
IL Soll der Staat völlige Freiheit des Getreidehandels im
Innern des Landes ? R
Wenn man von ber Zweckmaͤßigkeit ber freien Auss und Eins
fuhr bes Getreides überzeugt iſt, fo ergibt ſich bie Forderung des
freiem Handels im Imnern von ſelbſt. Wie ber Aus. und Einfuhr:
handel Ueberfluß und Mangel in verfchiedenen Ländern ausgleidht und
ſchaͤdlichen Preisihwankungen am Beiten vorbeugt, fo bat auch ber
GSetreidehandel im Innern eine fehr mwohlthätige Wirkung. Der Ges
treidehändier erleichtert dem Lanbmanne ben Abfab feiner Probucte
und erfpart ihm Zeit und Koftenz er gleicht Ueberfluß und DRangel
in verfchiebenen Jahreszeiten, im verfchiebenen Gegenden und Jahren
aus, träge bierducch zu größerer Gieichförmigtei der Preiſe bei und
nüst bamit fowohl ben Producenten als Confumenten. Er fleigert
zwar am Orte und zur Zeit des Ueberflufies den Preis des Getreides
duch feine Nachfrage, aber er verhindert au am Orte und zur Zeit
bes Mangels ein drüdendes Steigen ‚der Preife; er theilt den Drud
ſchlechter Jahre auf große Kreife aus und macht ihn dadurch weniger
fuͤhlbar; er fammelt im Intereſſe des forglihen Publicums von dem
Ueberfluffe guter Jahre Vorräthe ‚für ſchlechte Jahre auf und erlaͤßt
zu rechter Zeit durch Steigerung ber Preife eine wirkfame Aufforderung
zur Sparſamkeit an baflelbe. u
Der Getreidehandel mit biefen mwohlthätigen Wirkungen kann ſich
aber nur dann bilden, wenn ber Staat alled Eingreifens in benfelben
fi enthält, auf alle Zwangsmaßregeln, wie Preisregulirung u. f. w.,
verzichtet, und auch bie Ausfuhr in's Ausland volllommen feeigibt.
Die Stimme des Volks bat zwar vielfach bie Getreideſpeculan⸗
ten als Kornwucherer bezeichnet, von ber Anficht ausgehend, daß fie
ſchaͤndlicher Weife die Sffentliche. Roth zu Befriedigung ihrer Habſucht
benugen, ja, daß fie, fo-viel an ihnen fei, jene Noth feibft fleigern,
um ihrem Elgennutze zw froͤhnen. Mag auch immer ber Eine ober
der Andere biefer Hänbler von moralifhem Gtanbpuncte aus Vorwurf
verdienen, fie erfcheinen nichts deſto weniger, wenn man die Wirkungen
ihren Thaͤtigkeit betrachtet, als äffentliche Wohlthaͤter.
488 Korngeſetze, Komhanbel.w L. w.
Man fördere den. Getreidehandel und vermehrte daburch bie
Zahl der Concurrenten; man befreie die Einfuhr von unnöthigen
Feſſeln und fege die Inländer der fremden CToncurrenz aus — und
die Befuͤrchtung einer monopoliftifchen SPreisfteigerung ift eine Chi⸗
märel Welche ungeheure Getreibemaffen muͤſſen die Ro
befigen und zurüdhalten, um ben Preis in einigen Länbern bes
liebig beflimmen zu Linnen? Welcher Gefahr von Verluſten ‚würs
. fe fih durdy Lange Auffpeiherung großer Maſſen ſelbſt aus⸗
ſe
Die Errichtung von Getreidemaͤrkten und die Erleich⸗
terung des Beſuchs derſelben durch Entfernung aller Zwangemaß⸗
regeln, Verhuͤtung von Uebervortheilungen und durch Abſchaffung
laͤſtiger Abgaben dient theils zur uͤberfichtlichen Kenntniß ber vor»
handenen Vorraͤthe, theils zur. Herflellung angemeffener und mög
lichſt gleichförmiger Preife. Ein Zwang ehe die Producenten, ihren
Getreideuͤberfluß nur auf oͤffentlichem Markte zu verlaufen, laͤßt
fi) nicht rechtfertigen.
IV. Sol der Staat Getreidemagazine errichten?
Wenn fih in den öffentlichen Käften duch den Ertrag ber Do
mänen, des Zehenten u. f. mw. große Getreidevorräche ſammeln,
fo ift hierin der Regierung ein natürlihes Mittel an bie Hand
gegeben, um für Jahre des Mangel Vorſorge zu treffen. Es
fragt ſich aber, ob fie au, wenn jene Hälfsquellen ſich nicht dars
bieten, Vorrathsgebaͤude errichten und unterhalten, und Getreide
auflaufen und bereit halten fol?
Es Laffen fi hiergegen gemwichtige Gründe geltend machen.
Der Ankauf und die Unterhaltung der Vorrathsgebaͤude ift mit
großen Koſten verbunden; eben fo verurfaht der Auflauf unb das
Bereithalten des Getreides einen großen Aufwand, wenn ber Vor⸗
rath binreihen fol, um auch nur auf kurze Zeit eine größere Ber
voͤlkerung zu nähren. Bu jenem Aufwande gefellen fi nocd bie
Koften der Beauffihtigung und bie Werlufte, bie tro& derſelben
duch Mäufefraß ıc. und noch mehr duch die Betrügereien ber Vers
walter dem Staate zugehen. |
Außerdem erhöht die Sorgfalt des Staats, obgleich fie nie bie
Vorſicht der Privaten erfegen kann, die Sorglofigkeit der Letzteren
und zerftört, mas ein vorzäglicher Nachtheil ift, die Getreideſpe⸗
eulationen der größeren Landwirthe und Händler, meil, wenn bee
Staat dur feine Vorraͤthe den Preis der Fruͤchte beherrſcht, Ges
treidefpeculationen ein höchft gemagtes Spiel find. Sie verhindert.
namentli die Einfuhr des Getreides von fremden Ländern und les
gitimirt gleichſam die Anfprüche ber ärmeren Claflen auf Verforgung
mit mohlfeilem Brote duch den Staat, Anfprüde, die, einmal ges
weckt, leicht zu großen Exceſſen führen. Enthält fi) der Staat des
Einſchreitens, fo laͤßt fi erwarten, daB das eigene Intereſſe bie
größeren Landwirte und Speculanten zum Bereithalten von Vor⸗
Korngefebe, | Kornhandel u. f. w. 489
räthen antreibt, daß eine größere Zahl von SPrivatperfonen fih für
den Nothfall mit Vorraͤthen verficht, und daß die Preife der Früchte,
indem fie zu' rechter Zeit in die Höhe gehen, das Publicum zu
ſparſamer Genfumtion zwingen, wodurch am hellen bem Mangel
vorgebeugt wird. Ueberdles verfchwinbet, je forgfältiger der Landbau
beteieben wird‘, je mehr Mannigfaltigleit in dem Anbaue von Fruͤch⸗
ten eintritt, je mehr namentlich dee Anbau ber Kartoffeln fich vers
breitet, je mehr endlich durch erleichterte Communication und durch
Abfhaffung aller Ein: und Ausfuhrbeſchraͤnkungen — eine fchleunige
und wohlfeile Herbeiſchaffung von Srüchten möglich wird, die Ges
fahr von Bungersnöthen und XTheuerung immer mehr.
Aus diefen Gründen erfcheint allerdings eine Anlage von öffent
lichen Getreibemagazinen weder dringend, noch mwünfchenewerth.
Bern der Staat in großen Städten unb in getreibearmen,
aber volkreichen Gegenden, 3. B. in Bergwerks⸗ und Fabrildiſtricten,
nicht unthätig bleiben will, fo halte fich feine Kürforge ſtreng in
den Grenzen der armenpolizeilihen Thaͤtigkeitz nie aber
fuhe er buch fein Eingreifen ben allgemeinen Bes
treidepreis zu bebherrfchen. .
V. Soll der Staat die Brotpreiſe polizeilich reguliren?
Wenn auch der Grundſatz, daß ber Staat. bes Einwirkens auf
die Getreidepreife ſich enthalten fol, immer mehr anerkannt wich,
fo bat man doch bis in die neuefle Zeit ziemlich allgemein für
nöthig gehalten, bie Brotpreife nad bem jebesmaligen Preife bes
Getreides polizeitich zu regulicen.
Daß eine folche Regnlicung überall da zum Bebürfniffe werben
Tann, wo die Verkäufer ein Monopol befigen, 3. B. in Folge von
Zunftbefhränkungen, ift Leicht einzufehen; ſchwer aber, wo ſolche
Umftände nicht vorliegen. Der Preis des Brotes flelt fi, wie
der jeder anderen" Waare nad) den Probuctionskoften und Concurs
tenzverhäftniffen feſt; und es iſt nicht abzufehen, wie bier, wo jeber
Käufer ein hinreichend competentes Urtheil über die Waare bat, bei
freiee Concurrenz ein Nachtheil für das Publicum follte entfliehen
Lönnen. Der Nachtheil ift vielmehr ficher nur bei der Regulirung
ber Preife auf Seite bes letzteren. Denn der Bäder wird ſich nie
eine Brottape gefallen laſſen, bei welcher er Verluſt erleidet; WR
jedem Steigen des Getreide⸗ und Holzpreifes u. f. w. wird er auf
Erhöhung derfelben dringen. Viel weniger dagegen iſt zu erwarten,
daß eine polizeiliche Erniedrigung bee Taxe ber Verminderung ber
Probuctionskoften fogleihh auf dem Fuße folge. Der Bäder alfo
wird nie mit Verluſt verkaufen, .aber der Käufer wird häufig in der
Lage fein, einen höheren Preis für das Brot bezahlen zu muͤſſen,
als bei freier Concurrenz ohne Taxe der Fall gewefen wäre.
Es Liegt daher im Intereſſe des Publicums, baß der Staat
auf jede Megulitung ber Brotpreiſe verzichtet, und fich auf eine
Bekanntmachung der Preife, wie fie fi auf dem Wege ber freien
410 Korngefege, Kornhandel u. ſ. w.
ſcurren gebüdet haben, beſchraͤnkt wedmaͤßig iſt bie Cimichtung,
Men Eid Een 545* Ag
Brotes abgebrochen wird das gewöhnliche Gewicht beiber
halten, umb der Preis 5 Bene bi
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darch das Das Gekc in Garden —— .r
VI. Maßregeli der © bei einer wir
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® leich der Staat alle Waaßregeln getroffen hat, das
Baden + —ã—— — Gewerbes en für
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Was fol der Staat in folden außerorbentlihen um
tun? Wenn es auch ſchwer iſt, für ſolche Fälle allgemeine Wege:
aufzuftellen, weil bier die befonderen Umſtaͤnde gebieten; fo laffen ih
dei) einlae Berheitungemaßenge a eier Mach mie *
lusfuhrverbote ſchaden auch ot ’ ie
nügen; weil fie das Geſpenſt des Hungers in der Phantaſie
zen Volkes aufjagen, die Nachfrage vermehren und bas Ehe ve
tingern, und die Preife ſteigern, anſtatt fie niederzuhalten.
Zwang zum Verkaufe der überfläffigen Votraͤthe der Privaten
für vegultste Preife verfehlt ben Zwect, weil ber größte Theil jener Vor
Korngefege u. ſ. w. — Krieg u. f. m. 491
von ben höheren Kreifen ber Gefellfchaft ausgehend, kann von unendlich)
‚ wohlthätigen Bolgen fein.
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% »
Nach den vorangeſchickten Betrachtungen Läßt fich bie Antwort auf
die Frage: Was der Staat zu Abwendung von Mangel und Theuerung
thun habe? in wenigen Worten zuſammenfafſen.
Er ſchuͤte, foͤrdere und erleichtere durch alle von einer gefunden
Wirthſchaftspolitik angerathene Maßregeln ben Ackerbau und den Vers
kehr (f. namentlich den Art. „Aderbau‘); fleuere durch eine zweckmaͤßige
emenpflege ber aͤußerſten Noch (f. Art. Armenweſen“); tim Uebrigen
aber gewährte er volllommene Freiheit des Getreide—
bandels und enthalte fi alles Einmwirkens auf die Ges
treibepretfe. Wenn-die Geſetzgehung im Laufe der Zeit von dem
natürlichen Wege abgegangen iſt, fo Eehre fie, wenn aud mit Auf⸗
opferungen, allmälig wieder auf denfelben zurüd.
Die zahlreiche Literatur äber biefen Gegenftand f. m. bei Rau,
Volkswirthſchaftspolitik, 1839, &. 184 ff.; Über die Korngefebe von
England, Frankreich u. f. w. ebendaf. ©. 1985 Über englifhe Ver⸗
bältnifie ferner: Macculloch's Bufäge su Adam Smith’s Wealth
of nations , Londen, 1838, ©. 510 fj.;s Zorrens, On the external
corn-trade, Lond., 1829, neue Ausgabe. Dr. W. Schuͤz.
Kosziusko, ſ. Polen.
Krankenhaͤuſer, ſ. Wohlthaͤtigkeitsanſtalten.
Krieg, Privat⸗ und oͤffentlicher Krieg, Bürger:
krieg; Kriegsrecht, natürlihes und pofitived; Kriegs:
manier; Kriegsraiſon; Kriegsgefangene,;, Kriegs:
kunſt. — Für einen Rechtliebenden, für einen Fühlenden gibt es keine
wiberwärtigere, Leine fehmerzlichere Vorftellung, als die bes Kriege.
So ift wenigſtens ber erfle oder unmittelbare Eindruck, welchen dieſe
Vorftelung des von den Waffen, von ber phpfifchen Bewalt, feine Ent⸗
fheidung begehrenden Rechts auf uns madıt. Das Princip des Rechts⸗
geſetzes ift die Harmonie bee Wechfelmistung unter den Menſchen.
Es ſtellt die Regeln einer friedlichen Ausgleihung bee altfeitigen
Anfprüche und Intereffen auf, bat feine Quelle lediglich in der Vers
nunft, bern Weſenheit mit Eeinem Wiberſpruche ſich verträgt, und
deren Streben baher nothwendig dahin geht, jeben Widerfpruch zu ver
meiben oder wieder aufzuheben. Daß die Intereſſen fich widerſtrei⸗
ten, ift natürtich und unvermeidlich; denn fie wurzeln in unferer finn:
lihen Natur umd in den auf bderfelben beruhenden egoiftifchen Trieben.
Aber gerade zur Schlichtung folches Widerſtreits, zur Erhaltung des
Friebens unter allen in Wechfelwirkung ſich Beſindlichen, ſtellt bie
Allen gemeine Bernuuft bie Megel des Rechts auf, beruhend auf ber
Idee einer Allen zu gewährenden gleihen und moͤglichſt aus:
gebehnten (naͤmlich blos durch das Recht des Andern befchräntten)
Sphäre des aͤußern Freiheitsgebrauches. So oft alfo Zwei mit eins
ander im. St reite begriffen find, fo befindet ſich Einer oder ber Andere,
3 Arieg; Rep a.
* mitunter auch Weide, Im Unrecht, und bie Werkunft gebletet”
über ba6, was Jedem wirklich gebührt oder was Im —— a*
wirklich ee f, gu verfiändigen, ober ben — etwa
eich He . 5. in veblicher im
echtes 5 .
endglichen Entfheibungsmitteln des Rechts nun iſt keines
der Rechtsidee vereinbar, als der Kampf ober bie phoſiſche En
weil das Weſen oder ber Begriff bes erflen ber vollkommene Begen-
ſatz der vom Recht geforderten Harmonie, und feine Werhätung gerade
ber Zweck oder bie —28 des Rechtögefehes iſt, und weil bie swelte
blos nah phyufifhen ober mehanifchen Geſeten, bie mit ben
moralifchen und Recht 8-Gefeken durchaus nichts gemein haben, wickt,
und nicht nur gleichmäßig für's Unrecht wie für’s Recht kann in
Thaͤtigkeit geſetzt ‚ fondeen noch dorzugſsweiſe zur Durch⸗
führung des Un rechts geeignet wie geneigt iſt.
Gieichwohl bleibt in den Fällen, two entweder ber Eine einen offen»
bar ungerechten Angriff auf den Andern macht, oder einem er
echte bes Andern beharrlich widerſtrebt, ober wo überhaupt ber
lichen Schlichtung bes Streites unuͤberſteigliche Hinderniſſe fich entg
fegen (ſei es durch die Weigerung des Einen, bie dahin führenden *
der Vergleichsverhandlung, des Compromiſſes auf Schledsrichter, ober
auch des Looſes u. ſ. w. zu betreten, ſei es durch aͤußere Umfänte),
kein anderes Mittel ber Rechtsbehauptung abet ale die — im Po
Faͤllen von dem Rechtsgeſet ſelbſt erlaubte — Anwendung ber p
fifhen Gewalt, alfo Zwang oder Kampf. Pit andern 1
ten: der zur Behauptung oder Vertheibigung oder Wiederherſtellung des
von Andern verachteten oder angegriffenen ober verlegten Rechts angewen⸗
bete Zwang paßt in die Rechtsfotm, d. h. in ein vernünftiges
Rehrtsfvflem und iſt alfo' erlaube.‘
Der Zuftend einer folhen mit Gewalt gefchehenden
ober Duchführung von Anfprühen ober Interefien nun iſt der Krieg
im weiten Sinne biefes Wortes. Im engeren Sinne gehört ehört — daß
die Gewaltthaͤtigkeiten nicht beſchraͤnkt auf beſtimmte
wie Arreſtſchlag, z. B. Embargo auf Schiffe, der —
tiges Nehmen oder Zuruͤcknehmen einer den ſtand der For⸗
berung ober bee Schabloshaltung ausmachenden Sache, oder Repreſ⸗
falten, was irgend für einer Art, felen, fondern ohne ſolche Beſchraͤn⸗
kung und gegenfeitig Statt finden. Ein folcher Krieg kann hiernach ſchon
im Naturſtande Statt finden, zwifchen Einzelnen oder Familien ober
Stämmen , nicht minder in ſchlecht geregelten oder m Anarchie
gefallenen Staaten zwifchen den Angehörigen berfelben umter ſich ober
‚ mit Fremden (wohin die mittelalterlichen Fehden, bie umter ber der
haft des Fauſtrecht s geführten Privatkaͤmpfe, gehören); aber
ber we, v— von welchem wir hier ganz eigens zus reden haben, IE wur
Krieg; Kriegsrecht u. |. w. 493 -
ber öffentliche, d. h. der von oder zwiihen Staaten ober Böl«
Bern geführte. Es fete mämikt, biefer eigentüle ober ber
eine — KSereinbarung wenigſtens bes einen, ber ng
Bürgerfizieg, welcher jedoch, wie [chen aus feiner Benennung heruone
feibft aber ‚ine Bermbrfuiß oder eine Spaltung ausgebrochen iſt, weiche .
ihn zeitlich zerriß und gewiſſermaßen aus einem Mol oder einem
Staat vorübergehend zwei ober mehrere machte. Der einheimifche -
oder Buͤrgerkrieg iſt denmach eine Krankheit bes emeinwelene, wos .
gegen bee dußere Krieg mit dem. normalen Innern Buftaub bes Staates
gar weh! sufammen beftebt.
Grundfäge für bie Kriegsführung gelten ——
gens ai im Buͤrgerkriege, in fo fern er als folcher anerkannt toish,
alfo nicht etwa als . Privatfehde, oder au als Rebellion, ’
ef I, ‚ wo bet
Staates biefelbe mit fich bringt, den
Kriegsgefegen ; wogegen bie Mebellien ,. fo lange fie nicht durch bes; i
deutende Erfolge fich zum Duͤrgerkrieg emporfchwingt, der Straf⸗
Leit de6 3 fie beleidigten Staates anheimfaͤllt.
1. — en find mancherlei rechtliche Anlaͤfſe hedenkbar, |
; der einen ober ber andern Partei oder.
ſich, wenn alle eglichen ittel. ber Abwehr fruchtio® blieben, u. DE:
Schirm ober ter des unterbrüädten Rechts ober
Derfaffun ung in Waffen were * —
Gebot, des Citantsoberhaupts gehorchend, gegen ben erflen gu.
gebe sieht, Im ‚weichen Fol dann freilich ber aͤnßerlich erfcheinende
**8* des Kampfes, ob er nämlich als wirklicher Buͤrgerkrieg oder
Aufeuhe ober Bebefion zu achten, von der Staͤrke ber Aufge⸗
aber von ihren Erfolgen
in ——* Bürgerkriegen, die nämlich als ſolche anerkannt
des allgemeinen Krie ggerents theitbaft find, wird
face eine größere Bush der Otreitenden, alſo audy
ablung des Feindes ergeben; und felbfl nach dem
49% Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w.
Reqchtegeſehe wird bieſes, einigermaßen, zu entfchuls
digen fen. &6 wie Bamilienzerwürfniffe gar oft bitterer und heftiger
find, als bie Gtreitigkeiten zwiſchen Fremben: alfo entbrennt natur
gm jemäß auch der Born ber wider einander Pämpfenden Mitbürger ober
itsparteien mächtiger, als der zwiſchen den Streitern verfchlebener
Fre Und da im Bürgerkrieg gewöhnlich bie Fahne, welcher der
Einzelne folgt, von ihm felbft gewählt ward, er alfo auch als
perfönlicher oder freiwilliger Thellnehmer am Kampfe ere
ſcheint, fo ift gegen ihn auch ein Mehreres und Harteres erlaubt, als
gegen den entweder ganz willenlofen SoldEnecht einer feindlichen
Macht oder doch nur ans Pflicht, d. h. aus Seporfam gegen feine
sechtmäßige Staatsgewalt, in's Feid rüdenden Krieger.
Nach diefen Vorbemerkungen gehen wir über zue Aufftellung der
für den eigenttihen, d. h. Öffentlichen und äußeren Krieg vernunfts
rechtlich anzuerkennenden Gefege. Aber gibt es wohl derſelben? Kann
in der Hige des Kampfes, in dem Sturm der heftigſt aufgeregten Leis
denſchaften bie Idee eines vernünftigen Rechtes ſich noch geltend mas
hen? IM nicht, wenn einmal die Entſcheibung von Anſpruͤchen der
Spige des Schwertes anvertraut, Überhaupt der phpfifhen Gewalt .
übergeben worden, die Vernunft bereits außer Hereihaft gefegt und
ein Sreibrief erworben zu jeder gebenkbaren Verlegung? — Allerdings
iſt bei einmal entbranntem Kriege ſchwer oder unmöglich, eine beftimmte
Grenze zu fegen der in beffen Begriff liegenden Befugniß zur Ver⸗
legung des Gegners. Denn, ob auch der urfpränglide Grund oder
Gegenftand des Streites ein geringfügiger fei: durch die Fortſetung des
Widerftandes auf einer und bie deshalb nothwendig zu fleigernde Ans
geiffsgemwatt auf der andern Seite, überhaupt durch die eben mittelft des
SH
A
il
F
h
r
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N
H
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leg ale Beiderfeits gerecht, d.h. beiberfelts mit, gutem
lauben beö Mechts unternommen, oder als ven ber Makel ber.
erfeinenden Ungerechtigkeit frei, geachtet werden, fo lange nice
ein ganz enfdentes materielles add ürherung des einen
oder bed andern Theiles zu Zage liegt, oder ſo lange nicht eine Vers
tegung ‚der ald xechtlich allgemein, anerkannten Formen ber Kritgbe
führung Statt findet, .
2) Unter dlefen⸗Fermen iſt die erſte and unbefvitteufle die, daß
Im * Bora gegen wu —
as egriffene fol wiffen, warum man "
überzteht, damit .er, twenm eu Die Gerschtigkeit der Korberung erfennt,
befetsbige, r [ ‚ve Weit fidy
0)
5) Insbefondere foll man fidy derjenigen Handlungen enthalten,
welche nady ihrer Natur geeignet find, die Wiederherftellung des
Friedens, worauf der Zweck jedes redlichen Kriegführenden gerichtet
fein muß, gu erfehweren oder unmöglich zu machen. Hiecher gehören
zumal Verrath und Treubeuch. Die Kriegführenden ftehen, ungeachtet
alter Erbitterung, gleichwohl noch in Medtsverhältmig zu einander
und eilig ch Ausföhnung zu ficeben, weniaftens
Krieg; Kriegsrecht u. f. w. 497
obrt Fr Be wi —— al6 bios Far
erkzenge verluflig des kei t6 geworben — jind. In
—— die Fe bes kriegfuͤhrenden Staates,
ob: ndmlidh der Mepubtif oder der Deüporie fi) nähernb, wenigfiens
vernumnftredtlich, einen weſentlichen Unterſchied. Wo ober in fo
fern der Kieg ale dem Gefammtwihen der Nation
entfloffen erſcheint, ba treten alfe Bürger, in ber Eigenfchaft als Ele⸗
mente jenes Geſammtwillens, gewiſſermaßen felbft perfönlich in ein
feindliches Verhaͤltniß gegen ben bekriegten Staat; wogegen bie Unters
thanen eines autokratiſch ben Krieg befchließenden Herrn dafür
nicht ‚verantwortlich fein koͤnnen. Eben fo kann insbefondere bei ber
bewaffneten Made unterfchleben werben zwifchen ben blos aus
merläßlicher Buͤrgerpflicht ober auch aus Knechtspflicht bie
Waffen Tragenden und ben aus felbfteigenem freien Entſchluß im
bie GBetretenen; mobei jeboch, fo vote bei dem Verfaſ⸗
fungsunterfhlede, gar viele Abfiufungen ber größeren ober
geringeren Verantwortlichkeit vorkommend ober gebemkbar find.
Die ber bier amgebeuteten Grundſaͤte find nicht minber
pofitiven ald natärlihen Rechtes. Aus ihrer theils ausdruͤck⸗
lichen, thells ſtilſchweigenden Anerkennung find jene Kriegsgefege
geftaffen, welche — aͤhnlich den unter ben Privaten durch theils aus⸗
brüdliche®, theils ſtillſchweigendes Uebereintommmiß feflgefesten Duell⸗
Regeln — umter ben divilifieten, ja zum Theil auch unter ben un-
civilifirten Rationen gelten; und ſonach als wirkliches Kriegsrecht
— and Sriegsmanier genannt — betrachtet werden. Nur wird
von mehreren ſolcher Vorfchriften auch eine AUsnahme unter dem
Titel bee Kriegsraiſon flatulet, welche nämlich in außerordent»
lihen Lagen ober Umfländen, wo es fid) etwa um Abwenbung ber
adußerſten Gefahren, um Selbſterhaltung ober Untergang, handelt, ets
was Anderes und Mebreres erlauben ſoll, als das nur gemöhns
liche Lagen und Umflände vorausfegende gemeine Kriegörecht. Ders
geftalt gilt 5. B. das Anzuͤnden von Dörfern oder Städten, ja bie
Verwuͤſtung ganzer Begenden für zuldffig, wenn etwa nur dadurch
ein gefchlagenes Heer gegen ben nachſetzenden Sieger gerettet ober ein
verberbenber Feindeseinfall abgewendet werden kann. Dergeftalt bat
man ſelbſt die Niebermebelung von Befangenen, mindeflens die Weis
gerung: des Parbons, für gerechtfertigt erklärt, wenn bie Schonung
etwa dem eigenen Deere ben Untergang durch Hunger ober durch Auf⸗
ſtand der allzu zahlreichen Befangenen droht u. f. w. Wahr iſt's, bag
Säle dieſer Art vortommen, wie 3. B. Sherebbin Barbaroffa
fi Kaiſer Karl's V. vielleicht hätte erwehren können, wenn er, wie
man ihm rieth, bie 10,000 Gefangenen, die er in Zunis verwahrte,
und bie fobaun durch ben in feinem Ruͤcken erhobenen Aufftand ihm
Verderben brachten, vor bem Entfheibungslampfe geſchlachtet hätte.
Gleichwohl entſetzt ſich die Menſchlichkeit vor folchen Breueln, und hat
bie Geſchichte ihr verdammendes Ustheil ausgefprocdhen über die Ver⸗
©taats : Lerflon. IX. 52
498 Sieg; Sriegbredht u. ſ. w.
brennung ber ſtaͤdteerfuͤllten 44 durch des allechrifttichen Königs
Felherrn, Fi die Fra A der Myriaden Gefangenen durch
Zamerlan, als. er vor Delhi gegen das feindliche Heer im. bie
gätade vüdte, und Ah ähnliche Unthaten mehr in alter und neuer
“Dem voranftehenden, blos ſummariſch aufgeftellten Kriegsregein
Kin wir noch einige weitere Ausführungen unb Erläuterungen bei:
Bu 1. Die Unterfheidung des gerechten vom ungerehhten Kriege
iſt ⸗ — die Säle des ganz unverhült auftretenden Unrechts ausgenom:
men 7 mehr mu eoreifh a als praktifch, umgekehrt aber bie An:
nahme, daß im ber Megel ber Krieg ein beiberfeits geredhter
fei, nur auf die jweiftifche Erſcheinung ſich bepiehend, nicht aber auf
die wirkliche Natur oder vechtliche Beſchaffenheit ber beiberfeitigen
Anfprüce. Im legter Beziehung wärbe fi’ — wenn ein fie
ges gerichtliches Erkenntniß darüber Statt finden koͤnnte — gar oft viel:
mehr ergeben, daß der Krieg ein beiberfeits ungeredhter fe.
Der Strenge ber Grunbfäge nach kann eigentlich, nur bee Defenfio»
krieg als gerecht anerlannt werden, im bem Sinne wäh daß bie
Ergreifung der Waffen nur alsdann vernunftrechtlic erlaubt ifl, wenn
auf andere Weile bie Abwendung eines Unrechts oder die Wie⸗
derherftellung des gekraͤnkten Rechts nicht bewirkt werden kaun.
In fo fen alfo vom Amede bes Krieges, d. h. von ber rechtlichen
Natur folches Zweckes, die Benennung Dffenfid» oder Defenfiv:
krieg entnommen wird, fo iſt dee Dffenfivkrieg mothwendig ein
ungerechter, weil auf Beleidigung oder Mechtöveriegung gerichteten,
und nur ber Defenfivkrieg, mofern bie formellen Sedingun ⸗
gen feiner Zulaͤſſigkeit vorhanden find, ein gerechter. Es werden
jebod im praktiſchen Bölkerrechte bie beiden Benennungen in ganz an ⸗
derem Sinne gebraucht, nämlich als Bezeichnung der 'allermächiteir
Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 499
Kriegserklaͤrung für eine Bedingung des gerechten Kriege; daher bie
Unterfheibung zwiſchen justum bellum und tumultus. Im Mittels
alter und gegen die Neuzeit fchärften die Brunbfäge der Ehevalerie
die Beobachtung jenes vernunftzechtlichen Geſetes ein, und ben Ueber:
treter traf Schande. Gleichwohl lehren mehrere Schriftſteller, die Kriegs⸗
erklaͤrung fe unnoͤthig zum gerechten Kriege, und auch bie Praxis iſt,
zumal in bee neueften Zeit, ziemlich lax darin geworden. Wenigſtens
glaubte man, genug zu thun, wenn man das Kriegsmanifeſt gleich
zeitig mit beng wirklichen Angriff erließ, oder es bemfelben in einiger
Friſt nachfandte. Den Grund jedoch, aus welchem die Rechtsnoth⸗
wendigkeit der Kriegsankuͤndigung zu behaupten iſt, haben wir ſchon
oben angefuͤhrt.
Durch dieſe Kriegsankuͤndigung allein indeſſen wird das vernuͤnf⸗
tige Recht noch keineswegs befriedigt. Es verlangt vielmehr dieſes,
daß vor Faſſung des Kriegsbeſchluſſes alle gelinderen Mittel, wodurch
man hoffen kann, zur Wahrung oder Wiederherſtellung ſeines Rechtes
zu gelangen, ergriffen werden. Hierher gehoͤren zuvoͤrderſt die diplo⸗
matiſchen Unterhandlungen mit dem Gegner und die mit ben Be⸗
weisſtuͤcken verſehene Darlegung ber Rechtsbegruͤndung ber beſtrittenen
oder gekraͤnkten Anſpruͤche. In Faͤllen von geringerem Belange koͤnnen
fodann Retorſionen ober Repreffalien zum Ziele führen (f. d.
Artikel); und jedenfalls fordert — zwar nicht das pofitive, wohl aber
das vernünftige — Recht, dag vor Ergreifung der Waffen dem Geg⸗
ner der Antrag gemacht werde, ben Streit buch den Ausſpruch eines
durch beiberfeltiges freies Gompromis zu ernennenden Sciedsge:
richt s entfcheiden zu laſſen. In Sachen bes eigenen Rechts oder des
eigenen Intereſſes iſt man kein zuverläffiger Richter; eine natürliche
egoiſtiſche Befangenheit trübt das Urtheil; und wer ben aufridhtigen
Willen dat, nicht mehr, als was recht iſt, gegen ben Andern zu
behaupten oder vom Andern zu fordern, der muß geneigt fein, ſich
dem Urtheile Dritter, fo fern fie verfländig und unpartelifch find,
zu unterwerfen. Mit Vernunft kann der Rechtliebende unmöglid,
die Entfheidung eines Mechtöftreites duch das Schwert jener durch
den Ausfpruch eins Schiebsgerihts vorziehen. Wer alfo bie
“ legte Entſcheidungsart (wofern naͤmlich nicht gegen bie gu Schiedsrich⸗
tera vorgefchlagenen Perfonen begründete Einwendungen zu erheben
find) ablehnt, der fegt fi) dem Vorwurf entweder ber Unreblichkeit
ober ber Unvernunft aus.
Bu 3. Diefe Regel iſt zwar theoretiſch richtig, jedoch praktiſch
von beſtrittener Anwendung. Wohl wird anerkannt werben, daß, wenn
etwa ber Angreifer ben beftlimmten Gegenftand feiner Forderung, z. B.
eing Seflung ‚oder ben angefprochenen Grenzbiftrict u. f. w., mit Wars
fengewalt in Befig genommen und fi darin befeſtigt hat, ein wei⸗
teres Eindringen in's Herz des feindlichen Landes ober die Eroberung
ganzer Provinzen ober gar der völlige Umſturz bee feindlichen Regierung
eine Ueberſchreitung der Rechtslinie fein würde, Ben aber jmer Ber
500 Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w-
fisnafıme Miberfland entgegemgefeht wird, und ber Angreifer Dadurch
neue Beſchaͤdigung erlitten und koſtbares Meufchenichen B
fo wird dadurch eine weitere Erfagforderung fe ji
Rade begründet. Der urfprüngliche Gegenſtand des Krieges hoͤrt
dann auf, der Maßſtab des Kriegscechts zu fein, und es kann auf
ſolchem Wege ehne Uekerfhreitung ber juriſtiſch erfennbaren Echran-
ken der Krügewanier zus einer Anfangs unbedeutenden Fehde leicht
ein Vertilgungäkrieg werden. Eben fo iſt die Unterfbeidung zwiſchen
dem dem Zweck des Krieges dienlihen umd nichtdienlichen Mitteln oder
dem Feinde zuzufügenden Ueteln ſchwankend und Zweifeln Raum ge
bend. Es ift bier naͤmlich nur von ſolchen Uebeln die Frage, melde
der feindlihen Regierung oder Volksgeſammtheit wehe thun;
und da kann nicht leicht von einem gefagt werden, daß es für den
Zweck des Krieges unnüp fe. Diefer Zweck if kein anderer, als
Wiederberftelung des Friedens mittelft phoſiſcher oder pſochologiſcher
Nöchigung des Feindes zur VBefciedigung und Gicherfiellung unferes
Rechts, oder überhaupt zmamgsmeife Behauptung oder Erringung
deffen, was uns gebührt. Cine ſolche Noͤthigung liegt aber in jedem
Uebel oder im der Furcht davor, und merthuole Gegenflände was
immer für einer Art Eönnen als Pfand oder als Entfdäbigungs:
mittel wenigftens für Anfprüce, die einen Werthanſchlag zulaffen,
dienen. Hiernach kann 3. B. aud die Wegnahme von Kunfwer:
Een oder anderen mit ber Kriegführung in ganz umd gar keiaer direc⸗
ten Berbindung flehenden Sachen gerechtfertigt oder für zuiäffig er
tannıt werden, theild als pfschelogifhe Nöthigung des Zeindes zum
Frieden, theils als Ergreifung eines Entſchaͤdigungs- oder Compen-
fationsgegenftanbes.
Zu 4. Dagegm ift da6 Verbot der gegen die Humanität
ober überhaupt gegen die Moral fireitenden Mittel allgemein aner:
Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 501
Begriffe von Verrath und Treubruch nicht enthalten die Kriegsliften,
wodurdh man fich den Weg zum Siege bahnt oder den uns bedrohen:
den Feind in's Verderben lodt. Er weiß es, dag Lift wie Gewalt
gegen ihn werde gebraucht werden, und mag ſich davor hüten. Auch
ſteht ihm Beides gleichfalls frei. Vor Treubruch dagegen kann er fich
nicht hüten, und wo das Zutrauen getöbtet ift, da bleibt, um ſich
für die Zukunft zu fihern, kein Mittel übrig, als bie gänzliche Ver⸗
nichtung des Feindes.
3u 6. In den alten Zeiten machte man hier nur wenig Unter
fhied. So weit die Gewalt des Kriegers reichte, fo weit, glaubte
man, gehe auch fein Recht. Das „jus in viribus habent‘‘ war —
mit Ausnahme etwa ber (meiſt religiäfen) Gebräuche in Anfehung ber
Kriegsankündung oder auch ber während des Kriegs gefchloflenen Vers
ttäge — faft die Summe bes praktifchen Kriegsrechts. Gegen bie
ganze feindliche Nation und jebes einzelne lieb berfelben hielt man
jede Gewaltthat für erlaubt. Nicht nur bie wehrhafte Mannfchaft,
fondern auch Greiſe, Frauen und Kinder wurden nicht felten gefchlachtet,
meite Provinzen mit Feuer und Schwert verwüftet, ganze Voͤlker in
bie Knechtſchaft gefchleppt, oder wohl audy auf einen fernen Boden
verpflanzt, alle Dabe der Einzelnen, wie das Gefammtgut ber Nation,
fo weit den Sieger darnach gelüftete, dem echte der Beute oder der
Eroberung unterworfen, überhaupt eine Rechtlofigkeit über bie
Belriegten und Befiegten verhängt. Heut zu Tage führen nur bar»
barifhe Volker den Krieg noch in ſolcher Weife. Die cioilifirten
Nationen anerkennen (beobachten jedoch freilich nicht immer) die Rechts⸗,
wie die Ehrenpflicht einer das Maß der zuzufügenden Uebel auf jenes
der Nothwendigkeit befchräntenden und aud am Feinde noch das
Menfhenrecht ehrenden Kriegführung; und es ift dieſes die Frucht
theils der in Folge der verbreiteten Aufklaͤrung überall in's klarere Be⸗
wußtfein getretenen Idee eines auch im Kriege noch fortbauernden
Voͤlkerrechtes, theils noch ein Erbſtuͤck aus ben Beiten der .Ches
valerie, d. h. noch ein Ueberbleibſel des in dem fchöneren Tagen bes
Ritterwefens beftandenen edlen Geiſtes beffelben, wornady Großmuth,
Menſchlichkeit und Treue als hoͤchſte Zierde und Ehrenpflicht des Achten
Ritters galten.
Aber die Srundfäge der Chevalerie, da fie mehr aus Gefühlen
als aus deutlich erkannten Vernunftprincipien ſtammen, koͤnnen uns
nicht genügen. Wir fordern ein auf Haren Recht 6begriffen ru⸗
hendes Kriegsgefeg. Unter den Artikeln eines folchen num iſt der oben
unter Ziff. 6 aufgeflelte Grundfag einer der michtigften unb folgen»
reichften. Auch wird ihm in ber Praris wenigftens theilweis gehuldigt,
indem die Kriegsgewalt oder der perfönliche Angriff fi nicht gegen
friedliche Bürger oder gegen wehrioſe Greife, rauen und Kinder,
auch nicht einmal gegen ihr Befitthum (einige unten zu bemerkende
Ausnahmen abgerechnet) richtet, ſondern nur gegen bie bewaffnete
oder fämpfende, fei es angreifende ſei es Widerſtand leiftende Mann⸗
»
4
502 Krieg; Kriegsrecht u. f. w.
fhaft. Auch im Heere ſelbſt unterfcheider man bie wirklich zum Kanspfe
berufenen von den zu friedlichen Dienſten (3. B. als Zelbärzte, Feib⸗
prediger u. f. w.) verwendeten Individuen. Die Schonung ber nicht
zum Deere gehörigen Bürger und Einwohner jedoch hört auf, wenn
diefelben oder in fo fern fie ſelbſtthaͤtigen Antheil am Kriege nehmen,
fet es als regelmaͤßig aufgebotene Landwehr oder Landflurm, ſei es —
und in diefem Kalle wird die Behandlung noch firengee — als ganz
freiroillig den Kaͤmpfenden ſich beigefellend oder auf andere Art dem
in’6 Land gefallenen Heere Telbfithätig Abbruch thuend.
Die Hauptrichtung des Kriegführens geht ſonach gegen die ben
Krieg verfchuldende Staatsgewalt oder gegen bie durch biefelbe
repräfentirte Geſammtheit, mit Ausfchluffe der Einzelnen , außer im
fo fern fie in der Eigenfchaft als lieder jener Gefammtheit auftreten
und handeln. Die öffentliche Gewalt und ihre Rechte, das öffentliche
oder Staatsgut , ſei es beweglich ober unbeweglich, bie Gebietäherrlich«
keit und die Domäne, öffentliche Vorräthe aller Art, zumal von Waf⸗
fen und anderem Kriegsbebarfe, ſodann die öffentlichen Gaffen u- ſ. w.
unterliegen daher dem Mechte der Eroberung und der Beute, während
das Privateigenthbum, fo wie die Perfönlichkeitsrechte ber Privaten im
ber Regel (mithin ungerechnet bie regellofen Erceffe einzelner Golbaten
oder Kriegsſchaaren und deren Haͤupter) unangetaftet bleiben, ober body
nur des Kriege: Bedarfs (nicht eben des Kriegs⸗Zwecks) willen
in's Mitleiden gezogen werden.
In einem Punct iſt die Praris felbft noch milder, als das
vernünftige Rechtögefeg verlangt. Gegen die Staatshäupter naͤm⸗
lich, von deren Entfdyluffe doch eigentlic, der Krieg ausging, oder berm
Handlungen dem Gegner den Rechtsgrund (ober wenigſtens den Bor:
wand) zur Ergreifung der Maffen darboten, gegen die monarchi⸗
ſchen Häupter zumal, wird gemöhnlid mit weit mehr Schonung und
Ruͤckſicht verfahren, als gegen die blofen Diener ihres Willens ober
gegen die aus Unterthanenpflicht ihrem Kriegebefehle Gehorchenden.
Diefe in mehrfacher Beziehung loͤbliche, obſchon nicht eben rechtsnoth⸗
wendige Sitte ift theils gleichfalls ein Erbftüäd aus den Zeiten ber
Chevalerie und des Lehenweſens, theils aber und ganz vorzüglich eine
Folge des in der neuen und neueflen Zeit ungemein gefteigerten Be:
griffe vom monarchiſchen Principe oder von der — nicht nur für
das eigene Volk, fondern für die ganze Welt, alfo aud für ben
Feind beftehenden — perfönlihen Heiligkeit der Monarchen. In
alten Zeiten wußte man nichts von ſolchem die Gefahren des Kriegs
für den Urheber deffelben verringernden Privilegium. Die Könige,
wenn fie einen Krieg unternahmen, hatten auch alle Gefahren und
Wechſelfaͤlle deffelben für ihre eigene Perfon, und zwar ganz vor»
zuͤglich, gu beftehen. Sie fpielten dabei nicht nur um ihr Land oder
um ihre Krone, fonbern felbft um ihre perfönliche Freiheit und um
ihr Leben. Dan weiß, wie hart zumal bie (freilich republicanifchen)
Römer die feindlichen Könige (man benfe nur an Perfeus und
Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 508°
» an Jugurtba) behandelten. Aber auch von Königen gegen Könige
kommen gar viele Beifpiele fehr firenger perfänlicher Feindſeligkeit und
Rache vor; und in unferen Tagen haben wir von Seite ber neufraͤn⸗
Eifchen Republicaner und felbft noch von Seite bes Eaiferlichen Erben
ber Revolution die — allerdings vom Kriegsentſchluſſe abfchredtende und
zur Eingehung auch bes härtejlen Friedens geneigt machende — ſcho⸗
nungsfofe Gftenge gegen die Häupter der Wölker ſich erneuen fehen.
Die weitaus vorherrfhende — aus fehr leicht erflärbarer Uebereinſtim⸗
mung ber monarchiſchen Kriegehäupter gefloffene — Praris blieb in-
befien bie der wechfelfeitigen zarten und ehrerbietigen Ruͤckſicht für die
Perſon dee Monarchen und ihrer Familienglieder. Auch im Kriege
noch dauern die duch Verwandtſchafts⸗ und Schwaͤgerſchaftsverhaͤlt⸗
niffe meift noch verftärkten Bande der perfönlichen Achtung und often»
fiblen Freundſchaft ſort. Man fucht, fo viel möglich, die Schrecken
und Dramgfale des Krieges aus der Nähe des bekriegten Kürften und
feiner Refidenz entfernt zu halten, man reſpectirt feine Schlöffer, übers
haupt fein und feiner Familie Privarbefigthum, ja, man enthält ſich,
wenn er perföndich mit zu Felbe zieht, des Schießens gegen ihn ober
das ihn beberbergende Gezelt. Geraͤth ex in Gefangenſchaft, fo wird
ihm die ſchonendſte und achtungsvolfte Behandlung zu Theil, und
bie harten Bedingungen, bie man ihm etwa abpreßt, beziehen ſich im⸗
mer nur auf das Land, und fo wenig als möglich auf feine Perfon.
Nur in Anfehung Kaiſer Napoleon’s, weldyer freilich im Purpur
nicht geboren, auch wegen felbfleigen verübter Härten gehaßt war, fand
ein anderes Verfahren Statt, worüber einft die Geſchichte ihre Richter:
amt verwalten wirb.
In Bezug auf die allgemeine Verantwortlichkeit ober Mitverant⸗
wortlichkeit der einzelnen Bürger und Einwohner für den
von der Staatsgewalt unternommenen Krieg ift — wenigſtens vers
nunftrechtlih, 0b auch in der Praris minder anerlannt — zu unters
fheiden zwifchen ben Berfaſſungen der Eriegführenden Gtaaten.
Die Unterthanen eines Despotenreiches find unfhulbig, weil völ⸗
lig theilnahmies, an dem Kriegsbefchlufie des Herrn; ihnen baflr
wehe zu thun, wäre offenbar ungerecht, und außerdem aud wenig
wirkſam, weil der Despot — falls er nicht perfönlich gutmüthig IE —
die Beiden des Volkes nicht weiter mitempfinbet, als ihm dadurch etwa
an Kriegemitteln oder Einkünften eink ſaͤchliche Beſchaͤdigung zugeht,
An einer Republik dagegen oder in einer derfelben ſich annaͤhern⸗
den, überhaupt in einer dem Geſammtwillen bie Herrſchaft ober
mindeftens bie Mitherrſchaft verleihenden Verfaſſung erfcheinen die an
ſolcher Herrfchaft näher oder entfernter Theilnehmenden oder auch Alle,
in fo fern fie als dem Kriegsbefchluffe zuftimmend zu betrachten find,
auch als mitverantwortlich für defien Folgen, gemwiffermaßen als per:
ſoͤnliche Mitfhuldner der dadurch dem Gegner erwachſenden Forderung.
Es barf ſich daher biefer, nach bem — freilich juriftifch ſchwer zu be
fimmenden und mehr nur idealen — Maße jener Theilnahme umd
504 rieg;- Rriegerecht u. few.
Mitſchuld, 8 —— Auch mag et es umıfo
eher thun, da hier die —— Einjelnen auch ber Grfommt-
heit, welcher ſie als lebe — ‚angehören, fuͤhlbat iſt, und da⸗
wm ‚ein wirkſaͤmes Motiv | felbe wird, vom Kampfe ahbzulaſſen
und ſich — — Vom Standpuncte des Vernunft-
rechts alſo ift allerdings die Mechtslage eines freiem Wolkes gegenüber
— eine ungünftigere, als bie eines Volks von: Knechten; aber
dagegen ift auch feine Kraft der Vertheidigung größer, nachhaltiger,
ne und die Gefahr, in ungerechte ober verberbliche
iege geftürzt zu werden, eben weil es nur die feibfigewollten führt,
fie Saite weit geringer
18 den bisher ausgeführten Grundfägen fließen allernaͤchſt bie
nachſtehenden befonderen, — —— poſitiven ober conventionellen
Boitetrechte anerkannten
—. Rechte der: —— in Anfehung der
feindtichen Perfonen.
Der wirttide Kampf, * in der Regel auch nur bdiefer,
führt natuͤrlich das Recht mit ſich, die feindlichen Streiter zu Eier
Solche Extödtung 'indeffen —— nicht eben als Ab ſicht —
wenn ber Angreffer ſich ohne Kampf in den Beſitz der von * -_
gefprohenen Sachen ober Rechte fegen kann, fo verlangt er nicht, zu
tödten, und darf es auch nicht — fondern blos ala Notwehr gegen
bie unferen Waffen kampffertig entgegentretenden und dergeflalt uns
felbft mit dem Tode bebrohenden Feinde. Diefe, nis dem Verfolgen
unferes. (wie wir glauben gerechten) Kriegezwecks ihren bewaffneten
Widerftand — verfallen dadurch dem von uns jept aus-
suhbenden Präventions- und Vertheidigungsrechte. Wir nehmen, indem
Krieg; Kriegsrecht u. f. w. 505
ſchraͤnkung. &o hält man mit Recht für unerlaubt, jebe meuchel⸗
mörderifche Tödtung, eben fo die duch Vergiftung (3. B. der
Brunnen oder der Nahrungsmittel m. f. w.) bewirkte. Dan hält für
unguläffig. den Gebrauch der Kettentugeln und Stangenkugeln, bes ges
hackten Bleies, ber Glasſtuͤcke, Nägel u. dgl., anflatt ber Kugeln (die
Gongreve’fchen Raketen u. a. ſchreckliche Mittel bagegen find erlaubt),
fodann auch da8 Sehen eines Preifes auf den Kopf (beflimmter
oder unbeftimmter) feindlicher Perfonen u. m. %.
Das Recht der Toͤdtung geht fo weit. als ber uns felbft be:
drohende Wibderfland; daher findet es auch gegen blofe Bürger und
Einwohner Statt, in fo fer fie, obfchon nicht zur orbentlichen bewaff⸗
neten Macht gehörig, fich im Wege bed Angriffs oder ber Vertheidi⸗
gung GBewaltthätigkeiten gegen den Feind erlauben. Ehedeffen galt in
biefer Beziehung ein fehr ſtrenges, felbft die Toͤdtung zur Strafe
für den geleifteten Widerfiand oder für gethanen Angriff erlaubendes
Kriegsrecht. Heut zu Tage iſt es, wenigftens in Bezug auf Landwehr
und Landſturm, weſentlich gemilbert worden. Uebrigens wird das Recht
anerkannt, offenbare Werlegungen des Kriegs s oder Voͤlkerrechts, z. B.
die Erfchlagung von Wehrlofen, bie rein raͤuberiſchen ober mordbren⸗
nerifchen Unthaten, auch das Ausfpähen, den Bruch ber Sapitulationen
oder des gegebenen Ehrenworts, bie Waffen nicht wieber zu ergreifen
u. dgl., an den Uebertretern felbft mit dem Tode zu rächen.
Ueber die Eriegsgefangenen Zeinde fleht uns das Recht ber
Bewahrung zu. Damit ift aber die Pflicht, fie human zu behandeln,
und insbefondere den Lebensunterhalt ihnen zu reichen (vorbehaltlich
der Erfasforderung an bie Gefangenen felbft oder an den Staat, wel-
chen fie angehören) verbunden. Durch Entlaffung — gewoͤhnlich gegen
bas Verſprechen, die Waffen nidyt mehr wider ung zu führen — ober
durch theilmeife oder allgemeine Auswechſelung ber Gefangenen entledigt
man fich foldyer Pfliht. Auch bie Gelßeln, wo man beren empfängt
ober nimmt, koͤnnen behanbelt werben wie Kriegsgefangene.
IL Rechte der Kriegführenden in Anfehung ber
feindlihen Baden.
Hier muß zuvoͤrderſt unterfchieben werden zwiſchen Sachen, welche
bee Geſammt heit angehören ober in dem Befige berfelben fid bes
finden, und jenen, die Privatgut find. Die erſten, wenn unfer
Anſpruch eigens auf fie gerichtet iſt (ohne Unterfchied,. ob unbewegliches
oder bemegliche® Gut), oder wenn wir fie als Erſatzgegenſtaͤnde für
bie uns etwa entriſſenen Sachen ober Rechte, ober überhaupt als ſtell⸗
vertretende Befriedigungsmittel unferee Anfprüche auserſehen, koͤnnen
unbedenklich ergriffen und auch mit der Abſicht, fie als Eigenthum zu
behalten, in Befig genommen werden. Nicht minder Einnen die Ge⸗
genflände, deren unfer Heer zur Verpflegung bedarf, oder bie ihm
oder dem Feinde zur Kriegführung dienen koͤnnen, ale Waffen und
Kriegsvorraͤthe aller Art, demfelben weggenommen und zu unferem Ges
brauche verwendest werben. Und endlich kann bie WBefigergreifung übers
Krieg; Kriegsrecht u. f. m. 507
eigenen oder in Freundes Lande des Gehorfams des Volkes gewiß ift,
und daher ohne Bedenken die ſchwerſten Opfer ihm auflegt. Indeffen
erlaubt das vernünftige und auch das pofitive Kriegsrecht je nach Um:
ftänden — mithin ausnahmsweife — allerdings einigen Angriff auf das
feindliche Privatgut. Zuvoͤrderſt wird dieſes Statt finden überall, we
die Bevölkerung durch felbfteigene Theilnahme am Kampfe das einfal:
Imde Heer beleibiget und zur Rache gereist bat. - Sodann gefkattet
wenigftens die Kriegsraifon, bag das Heer, weſſen es zur Selbft-
erhaltung oder zur Eräftigeren Fortfuͤhrung des Kampfes bedarf — an
Nahrungsmitteln, Kleidungsftüden, auch Frohnen u. f. m. — in fo
weit das befehte Land es ohme allzu große Belaſtung zu leiften im
Stande Ift, von demfelben fordere. Nur darf durch folche Forderun⸗
gen der Begriff des Privateigenthums nicht aufgehoben und auch bie
perfönliche Erhaltung ber Bürger nicht gefährdet werden; und in ge:
woͤhnlichen Lagen fol das Heer feinen Bedarf von Haus aus mit
ſich führen oder aus eigenen Mitteln beſtreiten. ebenfalls follen nicht
die einzelnen Soldaten ober bie untergeordneten Häuptlinge durch will:
kuͤrliche Erpreſſungen die Eigenthumsrechte verlegen, fondern bie Lei:
ſtungen von bem Heerfuͤhrer felbft oder feinen bazu eigens Bevollmaͤch⸗
tigten eingefordert, nach Thunlichkeit geregelt und auf ben wirklichen
Bedarf befchränkt werden. Im Wege ber Repreffalien iſt jedody
auch ein Mehreres geflattetzs und das conventionelle Mecht er
laubt fogar (hier jedoch im Widerfpruche mit dem vernünftigen
Rechte) 5. B. bie Plünderung einer erflürmten Stadt, bie Kriegs:
eaifon aber die Verwuͤſtung und Verbrennung von Privatgut, ja von
ganzen Ländern und Ortfchaften zum Zwecke ber Wertheidigung ober
Selbfterhaltung.
Bon dem Grundfage, daß das Privateigentbum vom Krieger zu
achten ſei, maht das Seekriegsrecht eine merkwürdige Aus⸗
nahme. Es erlaubt nämlid die Wegnahme auch der Privatfchiffe
und des darauf verfährten Privatgutes, fei es durch Kriegsfchiffe, fei
es durch von Privaten umter Öffentlicher Auctorität ausgerüftete Kaper.
Zur Rechtfertigung biefee Ausnahme wird angeführt, daß die Kaperei,
da fie dm Handel bes feindlichen Staates zu Grunde richtet, ein
noch mehr dee Geſammtheit felbft, als nur den Privaten zuge:
dachtes Uebel if, und weldyes eben deshalb als ein zum Frieden nöthi-
gendes oder mitbeflimmendes wirkſam fein kann. Uebrigens geht auch
hier (vorbehaltlich der fpäteren Entfcheibung des Prifengerichts über
die Rechtmäßigkeit der Wegnahme) das gekaperte Gut gieichfalis, wie
die zu Lande gemadyte Beute, nach conventionellem echte binnen 24
Stunden in’s volle Eigenthum bed Kapers über, was für bie Fälle
von wichtiger rechtlicher Wirkung ift, wo das erbeutete ober gefaperte
But dem Erbeuteten durch die eigene oder eine befreundete Kriegsmacht
oder durch eimen von ber Gegenſeite auctoriſirten Kaper wieder abge:
nommen wird. Geſchah inbefien bie Wiedererbeutung durch die öffent
liche Kriegemacht felbft, fo wird gewöhnlich dem beraubten wahren Eis
508 "Krieg; Kriegsrecht u. f w.
genthämer die Sache wieder zuruͤckgeſtellt, wenn auch etwas mehr als
24 Stunden vor der Wiedererbeutung verfloffen waren.
So viele Milderung in neueren Zeiten, durch die verbreitetere
Anerkennung des vernünftigen ober natürlichen Rechtes und durch bie
in Folge der Eivilifation eimgetretene Sänftigung der Sitten, in bie
Kriegemanier gekommen iſt: fo bleibt dennoch bie Summe ber faft
unausmweichlich im Geleite des Krieges über die Voͤlker hereinbrechenden
Uebel fo groß, und die Schreckensſcenen, die er mit fi führt, find fo
zahlreich und mannigfaltig, daß das menfchlich fühlende Gemuͤth da⸗
vor zuruͤckſchaudert, und die Vernunft es als eine unabweisliche Auf:
gabe erkennt, nad Mitteln oder Anftalten zu ſtreben, wodurch der
Krieg für immer koͤnne verhuͤtet, d. h. bie Streitigkeiten unter ben
Völkern auf eine friedliche und zugleich dem Mechte gemaͤße Weife moͤch⸗
ten entſchieben werden. Die Erfülung des Wunfdes nad einem all
gemeinen und ewigen $rieben iſt jedoch kaum zu erwarten, und wenn
fie ja Statt fände, fo würde es wahrſcheinlich auf Unkoſten noch hö:
herer Güter geſchehen, als diejenigen find, beren Verluſt der Krieg
uns ausfeßt. Der Preis bafür oder das Mittel feiner Herftellung
möchte nämlich bie Errichtung eines Weltreiches — fei e6 unter der
Herrſchaft eines einzigen Hauptes, ober einiger weniger Häupter —
fein, folglich der Untergang aller Kreiheit der Völker wie der Ein-
zelnen, und damit der Untergang aller morallſchen Kraft, ſonach aller
Würde wie alles höheren Wohles der Menfchheit. Schon dadurch,
daß er ſolches Außerfte Unheil verhuͤtet, erſcheint der Krieg als uner
meßlich wohlthaͤtig. Er fegt nämlich voraus und erhält die Selbft:
ſtaͤndigkeit ber einzelnen Nationen, und naͤhrt in ihnen die Kraft und
den Muth, die fie ſolcher Selbftftändigkeit werth macht. Und ttog
Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. — Kriegsſchaden u. ſ. w. 509
die letzte Spur vertilgt werden. Aber nur theilweiſe und kuͤrzere, von
nicht allzu großer Verwuͤſtung begleitete Unterbrechungen des in Schlum⸗
mer einwiegenden Friedensſtandes, fo entſchieden die rechtliche Vernunft
fie verwirft, Haben, nad dem Zeugniffe der Geſchichte, hoͤchſt ſegens⸗
reich gewirkt, und faft jeder ſolcher Kriegsperiode, wie faft jebem Ges
witter,, folge eine Periode der fruchtbarften Kraftentfaltung, des leben»
digften Aufſchwunges nad).
Jedenfalls ijt der Kriegemuth die unentbehrlichfte Schugmwehr
für Sreiheit und Recht, und die Kriegstunft das Product wie das
Bollwerk der Civilifation. Allerdings find es nur allzu oft gemeine
und ſchlechte Motive, welche die Kriege entzünden; Raubfuht und
Herrſchgier, überhaupt egoiftifche Intereſſen und rechtsverachtende Lei:
denfchaft. Eben darum aber, damit naͤmlich nicht die ganze Menfch:
heit die Beute einiger gemwaltthätiger und vermeſſener Häupter ober
Horben werbe, foll der Kriegsmuth unter den Völkern erhalten unb
die Kriegskunſt gepflege werben. Die Verſuche ber Herrſchſucht koͤnnen
nur fcheitern an der Kriegsntfchloffenheit der Nationen, und das be-
glüdende Reich der Civiliſation kann gegen die wilden Wogen ber
Barbarei nur gefchiemt werben durch bie ber geiftigen UWeberlegen-
beit den Steg verbürgende Kriegstunft. Diefe Kriegskunſt nun,
überall bezeichnend für den Charakter ber Völker und Zeiten, hat in der
neuen und neueften Zeit den höchften Auffhwung genommen. Sie hat
ſich durch Aneignung der Schäge faft aller anderen Wiſſenſchaften und
Künfte unermeßlich bereichert, und ift dergeftatt — obſchon freilich nur
allzu oft audy zu ſchlechten und Heillofen Zwecken mißbraucht — ber
Hort der Civilifation geworden. Gegen bie einheimifhe Despo-
tie zwar bietet fie — zumal in ihrer verhängnißvollen Verbindung mit
dem Spfteme der ſtehenden Deere — keine Schutzwehr dar; viel-
mehr hat fie derfelben ſich Häufig dienſtbar erwiefen: aber nah Außen
entfaltet fie gegen jede uns etwa bedrohende rohe phnfifche Uebermacht
ihre der Intelligenz angehörige uͤberlegene Stärke. Kein hun⸗
nifher, kein mongolifcher Eroberer wird mehr — Dank unferer Krieges
kunſt — mit feinen Roffen die Saaten der europdifhen Länder zertres
ten; und felbft bee moskowitiſche Koloß wird nur m dem Maße
furchtbar werden, als er felbft ſich der Derrfchaft der Civiliſation un⸗
terwirft. Rotted.
Kriegspflidt, f. Qeecbam und Gonfcription.
Kriegsfhaden, Kriegslaften, Vertheilung und
Audgleihung derfelben. — Wie find durch den beifpiellos
langen Frieden, welchen wir dee Furcht der Großmaͤchte vor allen
Voltsbewegungen verdanken, faft in Vergeſſenheit der ungeheueren
Kriegsleiden eingewiegt worben, welche vor biefer Friebensperiode eine
gleich lange Zeit, nämlich ein ganzes Vierteljahrhundert hindurch, über
ben meiſten Ländern Europas, vor allen über unferem unglüdlichen
Deutſchland, gelegen find, und welchen wir damals — außer unfrucht-
baren Seufzern und Klagen oder an den Himmel gerichteten Wuͤn⸗
510 Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w.
ſchen — wegen Mangels an weiſer, geſetlicher Fuͤtkehr faſt nichts zur
Abwehr oder Heilung entgegenzuſetzen vermochten. Wer ſich jedoch
noch jener Zeiten des Jammers und ber Noth erinnert, oder wer über:
haupt feinen Geiſtesblick über bie nädfte Gegenwart hinaus in Ver⸗
gangenhelt und Zukunft richtet, der erkennt das dringende Beduͤrfniß
und bie am bie Staatögewalt zw flellende unabweislihe Forderung
einer ber Wiederkehr fo namenlofer Uebel, deren Drud durch das Ber
fühl des dabel erlittenen Unrechtes ober ber der Staatsgewalt zur
kaſt zu legenden ſchweren Verſaͤumniß noch um Vieles empfind⸗
licher ward, fo weit menſchenmoͤglich vorbeugenden, gefeglihen
oder wenigftens abminifirativen Norm für thunlichſte Ver⸗
eingerung und fodann für eine dem Rechte, ber Klugheit und der
Humanität wenigftens annähernd entſprechende Vertheilung oder
Aus gleich un g derſelben.
Von völliger Verhuͤtung ber Kriegsuͤbel kann natuͤtlich keine
Rede fein, und eben fo wenig von einer die theoretiſchen Anforberun-
gen völlig befriedigenden Regulirung biefer fo unermeßlich
wichtigen, aber auch gleich ſchwierigen Angelegenheit der Völker und der
Einzelnen. Doch läge ſich Einiges, ja fehr Wieles thun, wenn man
mit reblihem Willen, klarem Werftande und beharrüchem Eifer an’6
Werk geht; und e6 muß biefes geſchehen ſchon im Frieden, der da
eine ruhige Ueberlegung umd umfichtige Vorbereitung erlaubt, während
bei bereits ausgedrochenem Kriege das Kampfſpiel felbft und das Ber
düsfniß ‘des Heeres ale Sorgen im Anfprudy nehmen und das Ger
raͤuſch der Waffen wie der. Drang ber vielgeflaltigen Noth von gefeg
geberifchen Arbeiten abhält und, mas dann erſt nahher, nach wies
derhergeftelltem Frieden ‚- zur Steuer der Gerechtigkeit oder zur Aus-
Diehoſchaden, Krichelaſtes wm. SIL
weder ihren Bebarf mit fich, Aber waren vom Lebenewitteln
umb afiberen Nothwendigkeiten fs "fie ſchon Bochiaein augelsgt.
Die: Bond hatte dann blo6 das. noch Berbeizufgpaffen.
Die Sranpofen im Revöluskenöbriege, als fie mit ihren umermeßs
Igetn Herten in's Gelb rücten mb im Gturmfdeitte von leg zu
durch Die neue gegwungen,
und anderem Webarf unmittelbar aus bem Ländern zw ziehen,
wocin fie geitlich fich aufhlelten, ober die fie in abwechſelnder Richtung
durchzogen; und von num an ruhte Dis furchtbare Rriegsiaft erbrüdend
anf den Schultern der wehrlofen Bevoͤlkerungen, und wurden fo egot«
Ditante Forderungen an biefelben geftellt, daß man fie für gang
unerſchwinglich warde geachtet haben. Die Uägeren Heerfährer
* erkennend, daß bei einiger, durch bie 0,7
au.
H
h
er
f
d. 9. fich aus dem Lande zu entfernen.
* Aber. die Brunbfäge, wornach foldhe Regulung , d.-h. Beiteels
bung umb Bepartition der waren feine
Grmdfäge des Bodens oder Habhaftwerdens,
"Des. die —— — — hr a ——
allgemein« Lal en
Ve Schuitera —— namlich — Baͤrgerclaſſe wäl«
md; und endlich traten nice ſelten an bie Stelle
x
|
|
3
512 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w.
legentlich erlaubten fie ſich auch, neben dem durch bie Behörden In Vou⸗
zug gefegten Requifitionen, rein gemaltthätige Erpreſſungen
und machten dergeftalt das Maß des Leidens ber Wölker voll. Dfts
mals ſchritt auch bie oberfie Staatsgewalt — gefehgebend ober
in abminifteativem Wege — zum Zwecke einer befferen Regul irung
der Kriegsleiſtungen ein, oder unternahm es, wenn nach einer
verfloffenen Kriegsperiode oder nach hergeftelltem Frieden bie unverhält-
nißmaͤßigen Erlittenheiten einzelner Provinzen, Difkeicte oder Bemein-
den zur Sprache kamen, bie allzu grellen Ungleichheiten oder Ueber⸗
laftungen, welche vorgefallen, duch nadhträglihe Ausgleihun:
gen zu theilen. Diefes Alles jedoch geſchah meiſtens principlos oder
nach falſchen Principien und machte darum gewöhnlich das Uebel noch
ger.
Wir wolen, um den Gtandpunct zur richtigen Beurtheilung
beffen, was in dieſer hochwichtigen Sache, allernaͤchſt in Deutſchland,
bis zue neueſten Zeit geſchah oder als Recht galt, zu gewinnen, zus
voͤrderſt die Grundfäge feſtzuſtellen ſuchen, von welchen bier aus⸗
gegangen werden muß, wenn vor Allem das heilige Recht feine
Befriedigung, und fodann au die Ruͤkſichten der Klugheit
die gebührende Beachtung erhalten ſollen.
Grundfäge für Vertheilung und Ausgleihung der
Kriegslafen.
I. Die Rrlegelaften, in fo fern fie duch den Willen ber
Staatsgemwalt oder unter Auctocität ihrer eigenen, militaͤriſchen
oder bürgerlichen, Wefehishaber den Bürgern aufgelegt werden, müffen,
fo viel möglich, nach dem Principe der Gleichheit (d. h. Verhält:
nigmäßigkeit, naͤmlich nad dem Verhättniffe des Vermögens ober ber
Kriegsfhaden, Kriegslaften u. f. w. 513
einer richtigen Berechnung und baher auch einer wahrhaft gleichheit:
lichen Vertheilung der übrigen aufgehoben. Won ber einzigen, derge⸗
ftalt ausgenommenen Laſt naͤmlich (3. B. von der Cinquarticung mit
Verpflegung) innen Zaufende von Bürgern fo hart bedrüdt werben
oder worden fein, daß fie_ihnen allein und befinitiv aufzubürden oder
ihnen gar noch dazu die Theilnahme an ben der Repartition unter-
worfenen zuzumuthen, ein fhreiendes Unrecht ifl. Es darf auch bie
gleichheitliche Repartition fi nicht auf die Angehärigen derjenigen
Claſſe oder Claffen, welche von beflimmten Gattungen der Laſten
bei ihrer unmittelbaren Auflage in der Megel vorzugsweife oder auds
fchließend getroffen werden (z. B. der Hausbefiger bei der Einguar:
tirung, der Vichbefiger bei den Fuhrfrohnen u. f. m.), auch nicht auf
die Bewohner der dem Kriegsdrange jemweild meift ausgefegten
Provinzen oder Bezirke befchränken: fondern fie muß eine fo
wie über alle Gattungen der Laften, fo audh über alle Clafe
fen der Stantsangehdrigen und über alle Theile des
Staatsgebietes fi) ausdehnende fein. Jede blos partielle Mes
partition oder Ausgleihung — in fo fern nicht, je nach Umftänden,
eine oder die andere Luft aus befonderen Gründen zu einer bloſen
Locals oder Bezirkslaſt zu erklären iſt — flreitet gegen das
Princip und kann nad) Umfländen anftatt der Heilung der Ungleich⸗
heiten, die fie bezweckt, noch eine Vermehrung derfe:ben bewirken.
II. Dagegen erſtreckt fid die Anwendbarkeit unferes Grundſatzes
auf die vom Feinde aufgelegten Laften nit. Der Staat oder
die Staatsgemwalt hat diefelben niht zu verantworten; fie hat
ſolche Auflage nicht gewollt und nicht befohlen; vielmehr hat fie, was
in. ihren Kräften fand, angewendet, um fie zu verhuͤten oder abzus
wenden. Wir fegen nämlih einen von ihre mit Recht und aus
Nothwendigfeit untermommenen Krieg voraus (und von folder
Vorautfegung muß natürlich jede Gefeggebung ausgehen, da das Ges
gentheil juriftifch niemals zu beweifen ift), wornach elſo Der Feind ale
ungerechter Angreifer, die Staaisgewalt aber als Schutzmacht erſcheint,
und daher die Erpreffungen des Feindes als cin von denen, welche fie
treffen, als reines Unglüd zu tragende® oder zu verſchmerzendes
Uebel zu betrachten find. Wir fegen nämlich noch weiter voraus (oder
müffen e8 thun, meil der juriftifche Gegenbeweis nid: moͤglich üt),
daß die Staatsgemwalt alles ihr Mögliche gethan hat, um jene Crpreſ⸗
fungen abzuwenden; fo mie fie — nad einer Äähnlidyen Vorausfegung
oder Annahme — alles, ihr Moͤgliche thut, um andere Uebel, insbefons
dere alle Werlegungen, welche von einheimiſchen Feinden des
Rechts Eönnten begangen werden, zu verhindern, eben deshalb aber
nicht ſchuldig iſt, die gleichwohl vorfommenden Befhädigungen, welche
duch Diebſtahl, Raub und andere Verbrechen dem Staatsangchörigen
zugehen, zu verantworten, und daher zu erfegen, ober auf die Ge⸗
fammtheit zu übernehmen. Dieſer wichtige und folgenreite Grund:
fag indeffen findet vielfahen Widerfprud, und fordert deshalb
Staats Leriton. IX. 33
MO > Beigiphehen, arichleten
u en rung un wel ——— — en
83 eilung entgegemgufegen berm Der ſich
noch 33 ae des Sanımers und der Fr —— VER *
haupt feinen Geiſteeblick über die naͤchſte Gegenwart hinaus, in. Ber:
gangenheit und Zukunft richtet, dee erkennt das dringende, Weblisfnif
und die an bie Ctantsgemalt zu ſtellende unabmweisliche Forberung
einer ber Wiederkehr fo namenlofer Uebel, deren Drud durch bas Ger
fühl des dabei eriittenmn Unrechte s ober der ber Stantsgeiwalt zur
kaſt zu legenben fümweren Berfäumniß noch um Vieles empfind-
Ucher ward, fo weit mmfcenmöglih vorbeugenden, gefeslihen
oder wenigftens abminifrativen Norm für thunlichfte Vers
. tingerung und ſodann für eine dem echte, der Klugheit und der
EnRH wenigftens aumäherab entſprechende Vert heil uag ober
usgleihung derſelben.
Emm völliger Vergütung ber Kriegehbel kann natärtidh Seine
Wede fein, und ehem fo wenig von einer die theoretifchen Anferberun>
gen völlig befriedigenden Megulicung biefer fo 5*
wichtigen, aber auch gleich ſchwierigen Angelegenheit der Voͤlker
Einzelnen. Doch läßt ſich Einiges, ja — * thun, wenn man
zit veblichen Willen, Mlarem Verflandg und beharzlicem Eifre an'6
Werk geht; und es muß dieſes gefchehen ſchon im Frie den, der eis
dürfnif 'des ale Sorgen in Anı nehmen und dei Ge
rãuſch dee Waffen wie-ber, Drang ber vielgeflaltigen Noth vom gefeh
geberiſchen it und, was dann erſt naher, mad wies
Kriege
laſten bei Weitem nicht fo ſchwer und ig, ale. fie 16 Im Beige
der mit beifpteltofer Anfivengung und mit fo großen Herren,
den Rreuzzügen Europa Beine gefehen, geführten Kriege der ange!
Som 9 Nation gegen die Qoalitiomen der europäifchen Monarchen ger .
werden find. Kriege Schaden zwar ober Kriegs -Verwäflungen
und Bewaltehaten mandherlei Art fanden wohl vom jeher Gtaik,
wo immerhin ber Kriegetlauf bie besfhiebenen Here ober
führte, und zwar ehedeſſen oft in größerem Mafe und in barbariſche⸗
ven Gormen, als in der — Zeit die feines Krieg Politkk.
* 7 Aber die Kine Eaßen, d . ade den Bmncl-
nern bes Reirgefipauplates durch Di lichen oder: miliskrifihen
Kuctositdten und unter dem au der Begrefqulbigtsiten
aufselegten Leiſtungen, waren ehevor unendlich geringer. Die Gene
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 515
wenn eine Provinz ober ein Bezirk ganz ober theilmeife in fchnell auf
einander folgendem Wechſel bald vom Feinde, bald vom Sreunde bes
fegt wäre? ober wenn unfer Heer abſichtlich den Feind tief in's Band
Iodte, um ihn allda, begünftige durch die Vortheile der Stellung, befto
ficherer zu ſchlagen und zu verderben ? oder wenn während des Krieges
der Freund ſich in Feind ummandelte? oder wenn das ganze Staates
gebiet vom Feinde erobert, und etwa gar eine andere Regierung einges
fegt würde 3?
Wie antworten hierauf:
Bu 1. Die Staatsgewalt ober bie Staatsgefammtheit ift nicht
verantwortlich für die von ihre nicht gewollten Folgen eines von
ihe rechts⸗ und pflichtgemäß gefaßten Befchluffes. Sie hat nur ihre
eigenen Handlungen, nicht aber jene des Feindes oder bie
Wirkungen des Zufalis zu vertreten. Wäre fie auch für bie legten
beiden verantwortlich: fo läge eine ganz entfegliche Laft auf ihr. Als
dann naͤmlich ginge nicht nur alle vom Feinde verühte Kriegeverheerung,
Raub, Brand, Plünderung u. f. mw. auf ihre Rechnung, fonbern auch
bee Tod der in der Schlacht Kallenden oder fonft unter dem Mord⸗
ſchwerte eines barbarifchen Feindes Blutenden, und alle und jede per
ſoͤnliche Mißhandlung unferer Bürger oder Etaatsangehörigen. Als⸗
dann laͤge neben folder Blutſchuld auch die Entſchaͤdigungspflicht
gegen Alle, bie buch den Tod ihrer Väter, Gatten, Söhne oder
Sreunde ihren Lebensunterhatt oder ihr Lebensgluͤck verloren, dem
Staate ob, und er machte bankerott ſchon unter dem zehnten heile
folhee unermeßlihen Schuld. Dan mill dieſes freilich nicht, und
nimmt die ben Perfonen zugehenden Verletzungen aus von der ans
geblihen Erſatzpflicht; aber eben dadurch gibt man den Rechtsboden
der ganzen Forderung auf, meil kein Grund zu erfinnen fit, aus
welchem der Staat wohl für die fachlichen, nicht aber für bie per⸗
ſoͤnlich en Beſchaͤdigungen, die der Feind unferen Angehörigen zus
fügt, tenent fein follte. Außerdem tft nicht wahr, daß ber Staat
jedesmal den Krieg gewollt hat. Es kann ja aud ein feindlicher
Angriff gefhehen ohne alle Reizung von unferer Seite, alfo ein von
uns durchaus unabwendbarer Krieg über uns hereinbrechen, in wel⸗
chem Falle unfere Gegenwehr nur die Verhütung noch größeren Uns
heils bezweckt oder die thunlichſt baldige Befreiung der in Feindesge⸗
walt fhmachtenden Provinz, und wo ‚mithin dee Staat, weit entfernt,
an den Leiden derſelben Schuld zu tragen, vielmehr rein als ihr
Wohlthaͤter Handelt. Sa, es hat (in der Idee oder nach einer, wie
oben bemerkt, nothiwendigen Worausfegung) jeder (nicht etwa offen»
bar ungerechte) Krieg die Mechtseigenfchaft eines folchen, blos defen⸗
fiven und baber die Staatsgewalt durchaus nicht für die Folgen vers
antwortlic machenden Krieges. Was alfo derfelbe für Unfälle, Leiden
oder Verluſte, durch den Feind uns zugefügt, mit ſich führt, das iſt
von ben dadurch Betroffenen als reines Unglüd zu betrachter
denmach zu verſchmerzen. gg*
516 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w.
.. 3u 2. Es iſt nicht wahr, daß ber Staat eine allgemeine
Affecuranzanftalt in dem Sinne iſt, daß alle Gefahren wad
Verlufte gemeinfam getragen werden müßten. Wohl follen fie,
mad dem Inhalte des Staatsvertrages, thunlichſt abg ew en det wer
den buch gemeinfame Bemühung ober auf gemeinfame Koften in's
Leben gerufene Anftalten: nicht aber fleht darum Einer dem Anderen
gegenfeitig gut für jeden, trog jener Fuͤtkehr gleichwohl eintretenden
Verluſt. Eine ſolche gegenfeitige Garantie iſt die Sache befonderer
— vom Staate allerdings zu begünftigendee und zu beſchuͤtzender,
noͤthigenfalls felhfteigene zu gründender — Vereine zwiſchen ben
Senoffen berfeiben Gefahren, nicht aber des allgemeinen
Staatsvereines, deſſen Mitglieder nämlidy in allzu viel und allzu
ſeht verf&iedenen Lagen und Lebensverhättniffen ſtehen, als daß, ohne
voͤliges Aufgeben alles Eigenthums⸗ und Beſitzrechtes, mithin auch
alles Sporns zum Erwerbe und aller vernünftigen Staatsordnung,
eine folhe Gemeinſchaft alles und jedes, auch durch blofen Zufall
ober durch widerrechtliche Handlungen Dritter oder durch felbfteigenes
Verſchulden verurfachten Verluſtes koͤnnte ſtatuirt werden. So md«
gen bie Hauseigenthümer unter fid) gegen den Brand, die Uferbewoh⸗
ner gegen die Stromesgemwalt, die Aderbauer gegen Hagelſchaden u. ſ. w.
befondere Aſſecuranzgefellſchaften bilden: aber jenfeits der Genoffen-
ſchaft berfelben Gefahr reicht die Verbindung nicht; die Staat6ges
fammtheit, als ſolche, verfichert gegen dergleichen Gefahren nicht.
So auch bei der feindlichen Kriegsgefahr. Die zunächſt davon
bedrohten Gemeinden oder Bezirke mögen durch verabredete (vom
den Behörden in alle Wege zu begünftigende und umfichtig zu regu⸗
livende) Xheilung oder gemeinfchaftliche Zragung der über. die Ger
Kriegöfchaden, Kriegölaften u. ſ. w. 517
der Vortheile nicht darbietet, noc, darbieten Bann, gleichwohl die Ge:
meinfchaft der Nachtheile aufbringen wollen, wäre nicht nur unbils
Lig, fondern felbft ungerecht. Es hat auch die lex rhodia de
jactu bier büchaus Feine Anwendbarkeit; nicht nur weil civilrechtliche
Säge unentfcheidend für ſtaatsrechtliche Verhaͤltniſſe find, fondern zus
mal darum, weil die über ber einen Provinz gelegene Feindesgewalt
fein Mettungsrmittel für die andern ift, und bie Opfer, melde jene
hat bringen müffen, nicht folcher Rettung willen und nicht auf unfer
Verlangen, fondern lediglich auf fremdes Machtgebot gebracht worden
find. Nur wenn eigens zur Erleichterung und Rettung bes Schiffes
ein Theil der Güter über Bord geworfen wird, nicht aber wenn ohne
unfern Willen eine Woge bie etwa auf dem Verdecke befindlichen
Waaren wegſpuͤlt, findet der al der lex rhodia Statt. Die Ans
rufung derfelben ift alfo völlig unpaffend. |
3u 3. Daß die Ausführung unferes Grundſatzes mancherlet
Berwidelungen, Schwierigfeiten, auh Härten nad fi
ziehe, muß anerfannt werden. Doc auch der Grundfag unferer Geg⸗
ner hat nicht geringere in feinem Gefolge. Jedenfalls wird bie theo-
retifche Wahrheit eines Principe nicht umgeftogen durch einige Schwie⸗
rigkeiten ber Ausführung. Für die Nichtigkeit des unfrigen werden
wie gleich unten noch einige pofitive Bewelfe geben. Was aber bie
dumwider erhobenen Bedenken betrifft, fo find die angebeuteten Faͤlle
oder Beſchaͤdigungsarten theild von der Art, daß fle inter den Begriff
der von unferer eigenen Staategewalt aufgelegten Kriegsbefchmwerden ge:
hören , mithin den Rechtsanſpruch auf Erſatz geben; andere begründen
wenigftens einen Anſpruch der Billigkeit; noch andere eignen ſich zur
gleichmäßigen Vertheilung oder gegenfeitigen Verficherung unter ben
Bewohnern ber von Feindesgewalt unterdrüdten Provinzen oder Be⸗
zirke oder Ortfchaften; und für alle endlich kann und fol — ohne
Yufgeben unfere® Grundfages — die von ber Politik wie von der Hu⸗
manität geforderte Erleichterung oder Entſchaͤdigung auf mehrfache
Meife Statt finden. Fuͤr's Erſte nämlich bleiben die vom Zeinde bes
fegten Provinzen zeitlih von unferen Kriegslaften und auch Kriege:
fteuern (die otdentlihen Steuern hebt in der Regel der Feind ein)
frei; und fodbann mag nad) der Wiebereroberung oder nach wieberhers
geftelltem Frieden den vom Feinde übermäßig befchädigten Bezirken
entweder burch meiteren Steuererlaß oder auch durch pofitive Beiſteuer
oder Unterftügungsgelder aus den Mitteln der Gefammthelt geholfen
werden. In der Wirkung kommt folhe Aushälfe der für unfere
eigenen Kriegslaften anzuorbnenden Ausgleihung nahe; aber das
Princip bleibt verfchieden und hiernach auch Titel und Maß der
Gewährung. Immerhin ift fie nicht eigentliche Rechtsſchuldig—
keit, fondern freimillige, ob auch durch Billigkeit und Hu⸗
manität gebotene und von weiſer Staatswirthfhaft angera⸗
thene - Maßregel, welche eben darum und wegen der unendlichen Ver:
ſchiedenheit der Verhaͤltnifſe und Faͤlle Eeiner fo beffimmten und
sıs Kriegäfcpaben, Kriegslaften u. ſ. w
allgemeingältigen Regel unterworfen werden kann, wie bie
eigentliche Ausgleihung. Uebrigens findet das Princip ber freiwil⸗
ligen Vergütung ober Unterflügung mitunter aud in Anfehung der
durch das eigene ober befreundete Heer unmittelbar oder mittelbar vers
anlaßten — doch nicht eigentlich von der Staatsgewalt gewollten
oder verordneten — Beſchaͤdigungen Statt; wie 3.8. eine buch Mas
todeurs oder buch ein im Aufldfung befindliches Corps gepluͤnderte
ober eine duch Muthwillen oder Bosheit indifeiplinister Soldaten ans
gezündete Stadt, oder eine durch die in Foige etwa ber Kriegsfroh⸗
nen ausgebrochene Rinderpeſt verarmte Gegend u. f. w. dergleichen
Hülfeleiftung zu erwarten haben. Auch bei den vom eigenen Heere aus»
gegangenen Beſchaͤdigungen alfo unterfcheldet man die duch rehtmäßis
en Befehl angeordneten von ben durch Zufall oder Unglüd oder durch
josheit Einzelner verurfachten, und wendet den Grundfag der Aus»
gleihung nur auf die erften an. Die vom Feind ausgegangenen
nun gehören alte der zweiten Claffe an.
Diernach erfcheint unfer Grumdfag, welcher bie vom Feind aufge
legten Laften — mindeftens in der Regel — von der förmlichen Aus
gleihung ausfhlieft, gerechtfertigt. Der Rechtsgrund, aus mels
em wir folhe Ausgleihung für die vom eigenen oder Freundesheere
geforberten Leiftungen in Anfpruc nehmen, paßt nicht auf bie feinds
lichen Erpreffungen. Es find Feine StaatssRaften, d. h. keine von
der Staatögewalt befohlenen und daher aus Bürgerpflicht zu erfüllenden
Leiftungen; und doch iſt's nur diefe Eigenfchaft, wegen melder
wie die Ausgleihung ber eigenen Kriegslaften fordern. Wir menden
naͤmlich auf dieſelben blos das allgemeine, d. h. für alle eigent«
lichen Staatslaften gültige Sefes der Ausgleihung an, weil zwiſchen
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 519
und Laften ftehen aber noch mehrere und hochwichtige politifche
Betrachtungen entgegen. Zuvoͤrderſt ift es ganz unmöglich,
diefe Ausgleihung auf diefelbe Weiſe oder auf bemfelben Wege
zu bewerkfleligen, den wir gleich unten als den einzig richtigen barflels
len werden, nämlich auf dem Wege ber unmittelbaren Bezah⸗
lung alles Geforderten mit Geld oder Staatspapieren (Bons). Es
bleibt für fie blos der — vielfach verwerflihe — Weg einer nad >
folgenden Liquidation und Repartition übrig, welcher beinebens in
Bezug auf die hier befprochenen Laften nod weit unzuverlaͤſſiger iſt,
als bei den vom eigenen Staate geforderten Leiftungen. Wer will die
feindiichen Forderungen controliren? Wer foll die Leiftungen befcheints
gen? Wie follen Verfätfhungen oder Erſchleichungen von Empfang«
feinen und Unterfchleife aller Art verhütet werden? Thuͤr und Thor
für die ungebührlichften Erfagforderungen find hier eröffnet, während
taufenderlei wirkliche Erxlittenheiten ohne urtundlihen Beleg und daher
des Anfpruches auf Erſatz verluflig bleiben. Sodann aber würde ein
die Ausgleihung ſolcher Seinbesforderungen verheißendes Gefeg ben
willlommenften Zitel oder Vorwand geben, foldhe Forderungen in’s
Unermeglihe zu fleigern. Die Unerfhwinglichkeit der Leiftuns
gen (in fo fern fie einen Geldanfchlag zulaffen) könnte dem Begeh⸗
ven des Zeindes nicht länger entgegengehalten werden. „Ihr leiſtet
ja — alfo würde er mit Grund den Provinzbewohnern erwiedern —
„Ihr leiftet ja, wenn Ihr uns gebt, fo viel Ihr habt oder irgend aufs
bringen Pönnt, nur einen Borfhuß, den Euch Eure Mitbürger, die
Bewohner ber übrigen Provinzen, wieder zurüderftatten werden. Kür
Euch allein freilich waͤre die Leiftung zu ſchwer, aber für Euren ganzen
Staat ift fie nur eine Kleinigkeit.” — Dergeftalt würde duch ein
foiches Geſetz, welches gewiffermaßen dem Zeinde eine Anweifung
auf das Vermögen unferes Staates und allee Staatsangehärigen ers
theilte, d. 5. alle von ihm zu machenden Forderungen aus Staatsmits
tein zu bezahlen verhieße, fchon die Lleinfte von ihm befegte Pros
vinz wie zu einer Ader gemacht, aus welcher, wenn er fie Träftig
(hlägt, das Herzblut des Staates herausſtroͤmen kann. Es kommt
dazu, daß die gefegliche Zuficherung einer nachfolgenden, aus den Mit⸗
tein der Staatsgefammtheit zu leiftenden Entfchäbigung (mittelft Ges
genrehnung und Ausgleihung) ben Eifer der vom Feinde bes
festen Landestheile, fich der übermäßigen Sorberungen zu erwehren,
lähmen würde. Dan würbe ohne vielen Widerſtand, ja, ohne viele Ges
genvorftellung oder Klage, auch die ſchwerſten Gontributionen entrichten, bie
unerfättlichften Zumuthungen befriedigen, Alles in der Ausficht auf den
verheifenen Erſatz, und eben dadurch den Feind zu noch weiter geſtei⸗
gerten Forderungen ermuntern. Hätten dagegen die Provinzbewohner
jene Ausfiht nicht: fo wuͤrde mit dee Höhe der Forderungen auch
ihre Aufregung, ihre Entrüftung fleigen, und darin ein meiterer Sporn
liegen zu tapferen Verſuchen der Selbſtbefreiung. In zweifacher Bes
520 Kriegsſchaden, Kriegslaften nem
alehung alfo ftreitet die Verheißung der fuͤr bie vom Feb aufgelegtrn
Laften zu leiftenden Vergütung aud) gegen bie Politik.
Zwiſchen den beiden ſich entgegenftehenden Anfichten wird cuch
eine dritte, gewiſſermaßen vermittelnde, geltend gemacht, bie
ndmlih, daß zwar die vom Feind wie die vom Freund aufgelegten
Laften und zugefügten Beſchaͤdigungen auszugleichen fein, doch nur
die nady dem unter den civilifirten Nationen anerfannten Krieges
rechte, d. h. nad) der ehrlihen Kriegsmanier, aufgelegten, nicht
aber bie gegen ſolches Recht, mithin blos aus factifher Gewaltthat
ober Brutalität über die Bewohner des Kriegsſchauplatzes verhängten.
Die legten feien, als reine Zufälle oder unabmendbares Ungläd, ledig:
lich von den dadurch Betroffenen zu verfchmerzen, der Staat koͤnne
dafür nicht verantwortlidy fein. Gegen diefe Lehre jedoch ftreitet ſchon
allernaͤchſt die Betrachtung, daß, was bie rechtliche Kriegsmanier
— neben welcher indeffen auch die härtere Kriegsraifon befteht —
erlaube oder nicht erlaube, durchaus nicht fo ausgemacht ift, dag man
darüber — aud nur in abstraoto, gefhmeige daher in concreto —
ein juriſtiſch ſicheres Urtheil fällen koͤnnte. Und dann bezieht ſich ber
Begriff der Kriegsmanier blos auf das Verhalten einer kriegfuͤh⸗
renden Macht gegen bie befriegte, nicht aber auf jenes gegen
ihre eigenen Unterthanen. Es ift daher aus ihr duchaus fein
Kriterium der zur Entfcpädigungsforderung fi eignenden ober nicht
eignenden Kriegstaften , die vom Freund oder Verbündeten ausgehen,
zu entnehmen. Die Regeln für das hier Zuläffige oder Nichtzuldffige
find mehr aus dem innern Staatsreht als aus dem Völ-
kerrechte zu fchöpfen. Und was die vom Feind herruͤhrenden Er—
duldunaen betrifft, fo befteht — falls wirklich der friegführende Staat
feinen Bürgern verantwortlich iſt für alle aus feinem Krigsbeſchluſſe
fliegenden Folgen — zwifchen den wider die Kriegsmanier und
« ben nad der Kriegsmanier aufgelegten Laften für ihn ein
Kriegäfchaden, Kriegslaften u: f. w. 521
tion ift nur der erfte der Idee entfprechend oder zu ihrer wenigs
ftens annähernden Verwirklichung führend, der zweite bagegen —
zumal wenn die Peräquation erft nach Verfluß einer laͤngern Zelt uns
ternommen werden wollte — zur Imederreihung durchaus ungeeignet
und abfolut verwerflich. Auch dieſer Gap erfordert eine etwas
ausführlichere Begründung.
Eine zwiſchen den Bürgern unter einander felbft zu bewerkſtelli⸗
gende, den Leiftungen erft im einiger Zeit nachfolgende Ausgleichung,
namentlich eine nicht blos unter den Mitgliedern einer einzelnen Ge⸗
meinde oder Bezirfsgenoffenfchaft, fondern unter fämmtlichen Provinzen
oder der gefammten Bevölkerung des Staates gefchehende fest voraus,
wofern fie ihrer Idee entfprechen fol:
1) Daß alle Kriegsleiftungen und (zur Ausgleichung oder Er
fagleiftung ſich eignenden) Kriegsſchaͤden, welche in der betreffenden Pe⸗
riode auf mas immer für einem Theile des Staatsgebietes Statt fanden
und von was immer für einzelnen Staatsangehörigen oder Gemeinden
oder Bezirkögenoffenfchaften getragen wurden, conftatirt feien und
einer zuverläffigen Berehnung ober Liquidation unterworfen
werden. Diefe Liquidation, da ihr vernünftiges, d. h. vom Rechtsgeſetz
geforderter Zweck alleriegt nur auf die Gleichſtellung der dem Staate
angehörigen Perfonen (alfo nicht blos ber Bezirke oder Pro⸗
vinzen) gebt, müßte ſonach mit allen Einzelnen — in fo fem
die Leifltungen von ihnen unmittelbar eingefordert wurden — fammt
und fonders vorgenommen, nebenbei jedoch auch die an die Gemein:
den ober Bezirke, als moralifhe Perfonen ober juriftifche
Sefammtperfönlichkeiten, ergangenen Forderungen in eine eigene Mech:
nungsrubrik eingetragen werden. Da jedoch ber Krieg ene Staats,
nicht eine Gemelndeangelegenheit ift: fo follten in foiche befon-
dere Rechnung nur die von ber Gemeinde ale Inhaberin eines
Steuercapitals (ndämlid des Gemeindeguts) eingeforderten Leis
flungen fommen, nicht aber die, zwar nad) Gemeinden oder Bezirken
— etwa nad der Volkszahl — urfpränglih im Großen repartirten,
doch aber im Grunde oder nad, der Intention der Staatsgewalt nur
von den Einzelnen geforderten und ber Gemeinde daher blos
zur Subrepartition unter ihre Angehörigen zugewiefenen. :
2) Daß nicht nur mit allen Perfonen, melde Laſten getra-
gen, folche Liquidation angeftellt werde, fondern dag auch nicht eine
einzige Gattung oder Rubrik der Laften von der Berechnung
ausgefchlofen bleibe. Sobald auh nur eine Rubrik fehlt, fo ift die
ganze Rechnung falſch. Wollte man z. B. die Quartirslaſt ober bie
Verpflegung der Einquartirten oder die Fuhrfrohnen ober irgend eine
ondere Gattung der Kriegsleiftungen ohne Anfag laffen; fo märe un-
vermeidlich, daß Dancer, ber vielleicht gerade in dieſer Gattung über
die Gebühr mitgenommen, dagegen mit anderen Laften mehr verfchont
worden, zur Herausbezahlung an jene verfällt würde, welche im Gan⸗
zen viel weniger als er erlitten, \ eben in jenem Rubriken, welche
522 Keiegefpaben, Kriegslaften u. f. w.
in die Rechnung aufgenommen find, ein Mehreres geleiftet hätte.
Ohne eine Unermeßlichkeit von Mühe und Arbeit, ohne
allgegenwaͤrtige und Eoffpielige Aufſicht und Controle iſt aber eine zus
verläffige Conſtatirung aller vielnamigen Leiſtungen ganz unmöglich,
und jedes hier oder dort begangene Verfäumnig oder unterlaufene Ges
brechen ftößt die Nichtigkeit des ganzen Galculs um.
3) Aus den für die einzelnen Gemeinden eines Bezitks gefertig«
ten Berechnungen müffen dann duch; Summirung ber für jede liquis
bieten Beträge Bezirksrehnungen, aus fämmtlihen Bezitksrech⸗
nungen eine Provinz eine Gefammtfumme der Eklittenheiten folder
Provinz, und endlid aus ben Leiftungsfummen aller Provinzen
eine die vom ganzen Staat getragene Kriegslaft barftellende To⸗
talfumme gezogen werden. Wergleiht man dann dieſe Summe
mit jener des gefammten directen Steuercapitals aller Provinzen zus
fammengenommen, fo ergibt fih der 3. B. auf jedes 100 fl. Steuer»
capital bei der anzuorbnenden Peräquation fallende Betrag, und zus
gleidy bie Ueberſicht deffen, was die einzelnen Provinzen, Bezirke und
Gemeinden mehr ober weniger geleiftet oder erlitten haben, als das
ihnen nad; ihrem Steuercapital zuzuſchteibende Betreffniß ausmacht.
Das directe Steuercapital allein naͤmlich eignet ſich — da ja
auch die Leiftung gewoͤhnlich nach diefem Gapital repattitt wird —
zu einer auf klarer Berehnung ruhenden Peräquation. Der Bes
trag der indireeten Steuern oder auch bie Summe der Bevoͤlke⸗
rung u. a. Daten innen, wenn die Peräquation wirklich bie zwi⸗
fhen den Perfonen, welche geleiftet Haben, herzuftellende Aus«
gleihung zum Zwecke hat, und wenn man Willkuͤtlichkeit und endlofe
Verwirrung. vermeiden will, hier unmögli mit in die Berehnung ges
;ögen twerben. Na, Mafftab ft_follte man
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 523
mäßheit dee allgemeinen Liquidation noch zur Laft fallenden Betrag
entrichte, und aus welcher fodann jede zu hart mitgenommene Provinz
(oder Bezirk oder Gemeinde) den ihr gebührenden Erſatz zu empfan>
en babe.
® 5 Da es fi) alsdann häufig ergeben wird, daß 3. B. in einer
Provinz, welche nach dem Gefammtrefultat bee mit ihr gepflogenen Lis
quidation aus der Gentralcafje eine Entfhädigungsfumme megen zu
großer Erlittenheit zu empfangen hat, gleichwohl einzelne Bezirke oder
Gemeinden ſich befinden, welche, in Vergleihung mit ber Gefammtlaft =
bes Staates und nah dem Maßſtabe ihres befondern Steuercapitals,
noch zu wenig geleiftet haben, und daß umgekehrt in einer anderen
Provinz, welche, weil im Ganzen zu menig belaftet gewefen, einen ent=
fprechenden Beitrag in jene Gentralcaffe zu‘ entrichten hat, gleichwohl
einzelne Bezirke oder Gemeinden find, welche zu viel getragen haben:
fo müffen, um bie Peräquation zu vervollſtaͤndigen, zuvoͤrderſt jene
Bezirke, welche nad Maßgabe der allgemeinen Liquidation zu wenig
geleiftet haben, ſolches Betreffniß in bie Provinzialeaffe entrichten, und
fodann aus dieſer die Entfhädigungsanfprüde aller andern Bezirke
befriedigt werden. Die aus folhen Entfhädigungsfummen ſich bils
denden Bezirksentſchaͤdigungscaſſen muͤſſen ſodann baffelbe Abrechs
nungsgefchäft mit den dem Bezirk angebörigen Gemeinden, unb
diefe Gemeinden endlich — was eine Hauptfahe, d. h. ein we⸗
ſentliches Erforderniß iſt — auf gleiche Weife mit den ihnen ans
gehörigen Einzelnen pflegen, weil eine wahre Außgleihung, fo
wie das firenge Recht fie fordert, erft durch eine bis zu den Einzel⸗
nen herabfleigende Rechnung und Gegenrehnung zu Stande gebracht
werden Bann.
Es ift Leicht einzufehen, daß eine ſolche nachfolgende Peräquation,
wie forgfältig und gemwiffenhaft immer fie gemacht werde, eine Menge
von Ungerechtigkeiten ganz mmvermeidlich nad) fich ziehen muß, ja daß
die Ungleichheiten, die man mittelft der fo mühfamen und Eoftfpieligen .
Operation heilen will, ſogar noch vermehrt werben können durch fie.
Wird aber gar die Liquidation nicht auf alle Leiftungen oder nicht
auf alle Theile des Staates ausgedehnt, ober babei nicht bis auf bie
Einzelnen herabgefliegen, fondern etwa nur bis auf die Bezirke
oder Gemeinden: fo bäuft fi das Unrecht, bie Willkür und bie
Verwirrung auf ganz maßlofe Weiſe.
Das Hauptgebrechen einer jeden folcyen Peräquation befteht darin,
daß dabei nothwendig eine Verwechſelung der Perfonen, welche zu
viel oder zu wenig getragen haben, mit ben Gteuercapitalien
oder Steuerfiöden eintritt, wodurch allein ſchon das ganze Geſchaͤft
zu emem vehtlihen Unding oder zu einer blofen Chimäre
wird. Es if nicht möglih, wenn man aud wirklich alle Einzels
nen zur Liquidation auffordert, Alle aufzufinden, welche hätten leiften
follen und entweder zu viel oder zu wenig ober gar nicht geleiftet
haben, Zur Befriedigung bes ſtrengen Rechts wäre noͤthig, daß Je⸗
o22 ¶ Siogfhaben, rigeafen uf w
in die Rechnung aufgenommen find, ein Mehreres _ hätte.
Ohne eine Unermeßlichkeit von Mühe und Arbeit, ohne
allgegenmwärtige ffpielige Aufſicht und Controle iſt aber. eine zus
verläffige. Conſtaticung aller. vielnamigen Leiftungen ganz unmoͤglich,
und jedes hier oder dort begangene Verſaͤumniß oder unterlaufene Ges
brechen ſtoͤßt die Michtigkelt des ganzen Caleuls um.
3) Aus den für die einzelnen Gemeinden eines Bezirks gefertige
ten: Berechnungen müffen dann durch Summirung ‚der für jede liqui⸗
dirten Beträge Bezirksrech nungen, aus fämmtlihen Bezitksrech-⸗
nungen "einer Provinz eine Gefammtfumme der. Exlittenheiten ſoicher
Provinz, und endlich, aus den Leiffungsfummen aller. Provinzen
eine die vom ganzen Staat getragene Kriegslaft barftellende For
talfumme gezogen werben. Vergleicht man. dann diefe Summe
mit, jener · des gefammten directen Steuercapitals aller Provinzen zus
-fammengenommeh, fo ergibt ſich der z. B. auf jedes 100 fl. Steuer»
capital bei der anzuorbnenden Peräquation fallende Betrag, umd zus
gleich die Ueberſicht deſſen, was die einzelnen Provinzen, Bezirke und
‚Gemeinden mehr ober weniger geleiftet oder erlitten haben, als das
ihnen nach ihren Stewercapital zuzufchreibende Betreffniß ausmacht.
Das direete Steuercapital allein naͤmlich eignet fih — da ja
aud) die Leiftung gewöhnlich nach diefem Capital tepattitt wird. —
gu seiner auf klarer Berehnung ruhenden Peräquation. Der Ber
trag der-indireeten Steuern oder auch die Summe der Benslke-
zung u. a, Daten Finnen, wenn die Peräguation wirklich die zwi⸗
fhen den Perfonen, welche geleiftet haben, herzuftellende Aus«
gleihung zum Zwecke hat, und wenn man Willkuͤrlichkeit und enblofe
Verwirrung vermelden will, hier unmöglich mit In die Berechnung ge»
san machen Madı imstcm Mnbltahe Fanik Lille manm aban ainn
Kriegsfhaden, Kriegelaften u. f. w. 523
mäßheit der allgemeinen Liquidation noch zur Laft fallenden Betrag
entrichte, und aus welcher fobann jede zu hart mitgenommene Provinz
(oder Bezirk oder Gemeinde) den ihr gebühtenden Erſatz zu empfan»
en habe.
® 6) Da es ſich alsdann häufig ergeben wird, daß z. B. In einer
Provinz, welche nach dem Sefammtrefultat der mit ihr gepflogenen Li⸗
quidation aus ber Gentralcafje eine Entfhädigungsfumme megen zu
großer Erlittenheit zu empfangen hat, gleichwohl einzelne Bezirke ober
Gemeinden fidy befinden, welche, In Vergleihung mit der Gefammtlaft »
des Staates und nad dem Mafftabe ihres befondern Steuercapitals,
noh zu wenig geleiftet haben, und daß umgekehrt in einer anderen '
Peovinz, welche, weil im Ganzen zu menig belaftet gewefen, einen ent»
fprechenden Beitrag in jene Gentralcaffe zu“ entrichten bat, gleichwohl
einzelne Bezirke oder Gemeinden find, welche zu viel getragen haben:
fo müffen, um die Peräquation zu vervollftändigen, zuvoͤrderſt jene
Bezirke, welche nach Maßgabe der allgemeinen Liquidation zu wenig
geleiftet haben, ſolches Betreffniß in bie Provinzialcaffe entrichten, und
fodann aus biefer die Entfhädigungsanfprüdhe aller andern Bezirke
befriedigt werden. Die aus folhen Entfhäbigungsfummen ſich bils
denden Bezirksentſchaͤdigungscaſſen muͤſſen ſodann daſſelbe Abrechs
nungsgeſchaͤft mit den dem Bezirk angehoͤrige Gemeinden, und
dieſe Gemeinden endlich — was eine Hauptſache, d. h. ein we⸗
ſentliches Erforderniß iſt — auf gleiche Weiſe mit den ihnen an⸗
gehörigen Einzelnen pflegen, weil eine wahre Ausgleichung, fo
wie das firenge Recht fie fordert, erſt durch eine bi6 zu den Einzel»
nen berabfteigende Rechnung und Gegentechnung zu Stande gebracht
werden ann.
Es ift leicht einzufehen, daß eine folche nachfolgende Perdquation,
wie forgfältig und gewiſſenhaft immer fie gemacht werde, eine Menge
von Ungerechtigkeiten ganz mvermeidlic nach fi) ziehen muß, ja daß
die Ungleihheiten, die man mittelft der fo mühfamen und Eoftfpieligen
Operation heilen will, fogae noch vermehrt werben können durch fie.
Wird aber gar die Liquidation nicht auf alle Leitungen oder nicht
auf alle Theile des Staates ausgedehnt, ober dabei nicht bis auf bie
Einzelnen herabgefliegen, fondern etwa nur bis auf die Bezirke
odee Gemeinden: fo häuft ſich das Unrecht, bie Willkür und die
Verwirrung auf ganz maßlofe Weiſe.
Das Hauptgebrechen einer jeden ſolchen Peräquation befteht darin,
bag dabei nothwendig eine Vermechfelung der Perfonen, melde zu
viel oder au wenig getragen haben, mit den Steuercapitalien
odee Steuerftöden eintritt, woburd allein Thon das ganze Gefchäft
zu einem vehtlihen Unding oder zu einer blofen Chimäre
wird. Es iſt nicht möglih, wenn man auch wirklich alle Einzels
nen zur Liquidation auffordert, Alle aufzufinden, welche hätten leiſten
follen und entweder zu viel ober zu wenig oder gar nicht geleiftet
haben, Zur Vefriebigung des frengen Rechts wäre nöthig, daß Je⸗
524 Kriegsfpaben, Kriegslaſten u. f. w.
dem für alle einzelnen Zeitpuncte — wenigſtens für febes
Steuerjahr — die Rechnung darüber gemacht würde, was er
nad feinem jedesmaligen (fählihen und perfönlihen) Steuer:
enpitale zw leiften ſchuldig geweſen, und daß diejenigen, zwi⸗
fen denen bie Peräquation vorgenommen wird, genau biefels
ben: Perfonen (oder ihre wirklichen Rechtsnachfolger) feien,
tie diejenigen, welche während bes Krieges geleiftet haben oder hätten
leiſten follen. Diefes gefchieht aber niht, und kann nicht ges
ſchehen, fondern man berechnet bloß, was bie zur Zeit ber Perd:
uation in ben einzelnen Gemeinden befindlichen Buͤrger oder
teuerpflichtigen, ober vielmehr was die zu eben biefer Zeit in
ihrem Beſitz befindlihen Steuerftöde (als Häufer, Grundftüde,
Gewerbsrechte) den ganzen Lauf des Krieges hindurch erlitten oder gez
tragen haben, und was hiernach (die Perfonen mit den Steuerfiöden
duch eine abenteuerliche Rechtsdichtung ibentificirt) einem Jeden als
Guthaben oder als Schuldigkeit In Anfab zu bringen fei. Ja, gewoͤhn⸗
lich wird nicht einmal in eine ſolche Individuelle Liquidation binabge:
fliegen, fondern bloß im Ganzen berednet, was die einzelnen Gemein:
den (als Gefammtperfönlidkeiten und ald Summen von
Einzelnen) getragen haben, wornady ihnen alddann — in Gemäßheit
bes allgemeinen Liquidationsergebniſſes — entweder eine Entſchaͤ—
bigungsfumme zugefchieden, ober eine Schuldigkeit zur Laſt gefchrieben,
die meitere Vertheilung (oder auch Nichtvertheilung) der erſten unter
ihre Angehörigen oder die Einhebung ber legten von benfelben ihnen
lediglich überlaffen, und Beides etwa nad) den für den Gemeindehaus:
hatt überhaupt beflehenden Vorſchriften bewerkſtelliget wird.
Geſchah von Seite bes Staates bie urfprüngliche Aufforderung
Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. w. 525
herab: fo wird ber Zweck gleichwohl nicht erreicht, weil bie Iden⸗
tität der leiſtenden mit den abrrchnenden Perfonen fehlt.
Bon ben Bürgern, welche Kriegelaften getragen haben, ſei es
nach Maßgabe ihres birecten Steuercapitalß, fei e8 wegen: bes Beſitzes
von Sachen, deren das Heer beburfte (wie 5. B. bei ben Fuhrfrohnen
und Maturalienliefeeungen), fei es durch zufälige Beſchaͤdigungen,
find, wenn die Zeit der Perdquation herangefommen, ſehr viele gar
niht mehr vorhanden. Sie find entweder geftorben, oder in ans
dere Gemeinden gezogen, ober haben, was bie Menlitätenbefiger betrifft,
ihre Häufer und Gründe, wegen deren Beſitz fie belaftet wurden, ver:
Außert. Auch die Gründe der Verftorbenen find großentheil® an fremde
Beſitzer übergegangen, und nun werden die Legten behandelt, als wären
fie es gewefen, welchen bie Kriegsleiftungen aufgelegt worden, unb
ale wären daher fie es, mit welchen die Abrechnung zu pflegen if.
Bar oft alfo wird gefhehen, baß der ehevorige Eigenthuͤmer, welchen
die übermäßigen Kriegslaften erdruͤckt, welchen fie genoͤthigt haben, fein
verfchuldete® Gut um einen Spottpreis an bie Gläubiger abzutreten,
jest bei der Peräquation gleichwohl — weil jegt nicht mehr Beſitzer
des zu. hart mitgenommenen Gutes — keinen Erfag erhält, ia, daß
er vielleicht, wenn er etwa in einer andern, vom Kriege verfchont ges
biiebenen. Gemarkung ein Meines Befigthum wieder erworben hat, gar
noch herauszahlen muß zur Entfchädigung Anderer, weiche unendlich
weniger ald er gelitten, während ber Käufer feines ehevorigen Gutes
die Entfchädigungsanfprüche. mit überlam und nun, obfhon er im
Kriege gar nichts erlitten und obſchon er das Gut um ben wohlfeilſten
Preis erkauft hat, jet gleihwohl noch einen angeblichen Schaden erſatz
erhält. Durch folche überall ſchon in Eurzer Friſt eintretende Beſitz⸗
veränderungen und andere Umftände wird die Verwirklichung einer wahren
Peräquation, fo wie fie der Rechtsidee entfprähe, durchaus unmoͤg⸗
lich, und es wird, wenn man gleichwohl eine folche Peräquation unter:
nimmt, an die Stelle der Ausgleihung ber den Perfonen zuftehenden
mechfelfeitigen Forderungen und Schulbigkeiten eine phantaftifche Gleich»
ftelung der Grunde oder Steuerſtoͤcke gefest, und es werden fomit
die Sachen, melde doch nichts gelitten, d. h. welche von ben ihren
Beſitzern ihretwillen aufgelegten Beſchwerden nichts empfunden haben,
auf abenteuerliche Weife verwecfele mit den Perfonen, denen allein
ber Anſpruch auf Perdquation zuftand, unb in Anfehung derer allein
diefelbe eine rechtliche Bedeutung hat. .
Außer dieſem jede nachfolgende wahre Peräquation factifch uns
moͤglich machenden und uͤberall unvermeidlihen Perſonenwechſel
iſt noch ein rechtliches Hinderniß derſelben darin zu erkennen, daß —
wofern wenigſtens nicht ſchon vor dem Kriege ein die kuͤnftige Per⸗
aͤquationsoperation genau und beſtimmt regelndes Geſetz erlaſſen
ward — ſie nur durch ein mit ruͤkwirkender Kraft zu verſehendes
Geſetz oder Dictat zu bewerkſtelligen iſt. Ein ſolches in die Eigen⸗
thumsrechte tief eingreifendes, Glaͤubiger und Schulbner nach
willkuͤrlich aufgeſtellten (d. h. dem bloſen Ermeſſen ber Autorität
—
Arien Elaffen 5* =
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 527
der unentgeltlihen Leiſtung nit, und fein Recht geht nicht
weiter als fein Bebürfnig. Durch unmittelbare Bezahlung (überhaupt
Verguͤtung) oder auch durch Gutfchreibung, d. h. durch rechtögültige
Zufage der Eünftigen Bezahlung, gleicht er nun augenbiidlik ben zur
Leiſtung Aufgeforderten mit allen andern Buͤrgern aus; denn bie Be⸗
zahlung (fei es die unverzügliche, fei es bie erſt fpäter gefchehende)
wird aus den Mitteln der Gefammtheit geleiftet, woran der folchers
geftalt Entfhädigte ja auch einen Theil hat, folglih auch zu jener
Bezahlung feinen Antheil beiträgt.
Durch folhe Bezahlung (oder Butfchreibung) der Kriegsleiftungen
gefchieht etwas von der nahfolgenden Perägquation oder gegen⸗
feltigen Abrechnung unter den Bürgern felbft wefentlih und durch⸗
aus Verfhiedbenes. Die legte, wenn fie nicht ſtreng allſeitig
und über alle Leiftungen ſich erſtreckend if, widerfpricht ihrem eigenen
Begriffe; und eben fo verliert fie allen Rechtsboden, fobald — was
unvermeiblih ſchon in ber Eürzeften Friſt gefchieht — irgend ein
Perſonen wechſel eintritt, und daher bei dem Abrechnungs= ober
Gegenrchnungsgefchäft anftatt der wahren Schuldner und Gläubiger
großentheil6 oder größtentheils nur gedichtete, d. h. durch reine Fic⸗
tion erfchaffene, zu finden find. Bei ber erften wird entweder durch
die wirkliche Berablung bie geforderte Ausgleihung fofort bewerkſtelligt,
oder es wird — wenn (duch Gutfchreiben oder durch Ausflellung
von Schutdfcheinen oder Bons) die Sefammtheit fid zur zukünftigen
Zahlung verpflichtet — menigftens die Identität der beiden Per:
ſoͤnlichkeiternn (naͤmlich der zur Forderung berechtigten und der zur
Bahlung verpflichteten) fortwährend erhalten. Denn wer den Schuld⸗
brief urfprünglich erhielt, wird volgültig vepräfentirt durch feinen allge
meinen ober befondern Rechtenachfolger, an welchen bie Urkunde gelangte,
und die unfterblihe Gefammtheit oder der Staat, ale Ausiteller ders
felben, bleibt fortwährend diefelbe Perfon. Auch die fpätefte Zahlung
der Schuld gefchieht nie anders, als aus den Mitteln jener Geſammtheit
und alfo nöthigenfalld aus den von ihren Mitgliedern nach dem Ges
fege dee gefellfhaftlihen Gleichheit erhobenen Beiträgen. Dabei iſt
ed auch nicht unbedingt nothwendig, dag ausnahmlos alle und alle
Kriegsleiſtungen bezahlt, b. h. mittelft der Bezahlung ausgeglichen
werden. Man kann nad Umfländen auch einige Gattungen berfelben
davon ausſchließen, ohne dem Principe zu nahe zu treten, wenigſtens
ohne es aufzuheben. Denn jede einzelne Gattung ber Kriegslaften
bitdet hier für fich ein eigenes von allen andern unabhängiges Aus⸗
gleihungsobject, weil nämlich die Vergütung bier nicht von beftimm>
ten Perfonen, melde vielleicht wegen einer andern Gattung der
Leiſtungen eine Gegenrechnung zu n hen hätten, fondern von der
Geſammt heit, in welcher Alle begriffen find, geleiftet wird. Diefe
Staatögefammtheit kann, ohne Unrecht zu thun, je nad Umſtaͤnden
wohl fagen: „Dieſe und jene Gattung der Reiftungen werde id) aus
meinen Mitteln bezahlen oder als Schuld übernehmen, die übrigen
r
’
.
u 0 _o —_—- > ns
.
528 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. 0,
(weil ich an denſelben etwa mehr die Natur bloſer Lo cal⸗ oder Bes
zirkslaſſten erkenne, oder well ih — was zumal bei gang kleinen
Staaten ber Fall fen kann. — die Gleichheit buch eine gleihgeitig
ober ber Reihe nah an Alle ergebende Forderung berguftellen.
vermag, ober auch, weil ich mid, ber Verhältniffe wegen auf eine
blos annähernde Werwirkiihung bes Principe befchränfen muß)
nicht.” — Bei bee nachfolgenden Peräguation unter den
Leiftenden felbft dagegen wird buch bie Ausnahme auch nur einer
einzigen Gattung ber Laften das Princip völlig zernichtet, nie
nur befchräntt, weil fobann anftatt einer wenigftens annaͤhern den
Gleichheit nothwendig eine noch größere Ungleichheit entfleht.
3u 2. Über wie ift es möglidy, daß die Gefammtheit oder
‚der Staat bie Bezahlung fämmtlicher Kriegslaften übernehme? Wird
er nicht erbrärft werden durch fo ganz enorme Schuld? ober wird er
nicht durch das Gewicht folder Verguͤtungslaſt außer Stand geſetzt
werben, ben Krieg: mit. derjenigen Energie, mit demjenigen Aufiwande
von Kräften zu führen, bie ihm einen glüdlichen Erfolg verbärgen? -
Wir antworten barauf: Der Staat muß jedenfalls die Geſammtlaſt
aller Kriegslaſten und Beſchaͤdigungen tragen; denn. mas die Einzelnen
exleiben und tragen, das trägt er ja au. Die einzelnen Perfonen,
Gemeinden und Bezirke find ja Theile feiner felbft; ihre Verarmung
oder ihr Ruin wird von ibm mitempfunden; und der Unterfchieb
zwifhen Nichtübernahme oder Uebernahme ber Kaften zur Selbſtbezah⸗
lung aus Gefammtmitteln befleht im Grunde blos darin, daß im erflen
Sale die Laflen nur auf einzelnen Gliedern ruhen und im
zweiten Salle auf dem ganzen Körper des Staates. Nun IfE aber
fonnentlar, daß bei einer gleichmäßigen Vertheilung der Laſt auf alle.
des Tragens fähige Glieder des Leibes, alfo bei der Anftrengung ber
Geſammtkraft deſſelben, ein fchmereres Gewicht mag gehoben und
fortgebracht werden, als ducch die Kraft blos einzelner Glieder, und
daß alfo faft widerfinnig iſt, zu behaupten, der Staat in feiner
Geſammtheit vermöge nicht zu leiften ober zu tragen, mas man
unbedentlih einzelnen feiner Theile (als Provinzen oder Bes
zirten oder Einwohnerclaffen) für ſich allein zu tragen und zu leiften
zumutbet. Nur die unmittelbare Leiftung von — entweder
augenblicklich nothwendigen, oder durch das Herbeifchaffen aus der Ferne
Eoftfpieliger werdenden — Dingen und Dienften muß von Seite der
Bewohner des Kriegöfhauplages gefchehen; die Vergütung der
Leiftung aber mittelft Zahlung, und mofern diefe für den Augenblid
alzu laͤſtig wäre, mittelft Schuldverfchreibung, demnach mittelſt theils
weifer Ueberweifung auf die Schultern der Nachkommenſchaft (als der
Erbin des durch den Krieg zu erhaltenden Gemeinweſens) gefchieht
weit Teichter buch die Geſammt heit, als blos durch einzelne Theile
bes Staates.
Um injwifchen bie für die in der Megel fehr großen Kriegslaften
erforderliche Zahlung möglichft ſchnell und vollſtaͤndig leiften zu koͤnnen,
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 529
wird es nöthig fein, zu ſolchem Zwecke ſogleich beim Ausbruche des
Krieges eine außerordentlihe Steuer (und zwar am Bellen eine
allgemeine Vermoͤgens⸗ und Einkommensſteuer) in dem ganzen
Staate auszufchreiben, bei der Erhebung derfelben jedoch auch Die
den Einzelnen .und Gemeinden für ihre Naturalleiftungen und Dienfte
ausgeftellten Butfchreibungen (Bons) an Zahlungsflatt anzunehmen.
Hierdurch erhalten dieſe Gutfchreidungen einen ihrem Nennwerth ent⸗
fprehenden Curs und verrichten in ihrem Hin= und Herlauf (einmal
als Bezahlung der Leiftungen und das andere Dal als Steuerentrichtung)
einen doppelten und fortwährend fich ernenernden Dienft,. fo daß ihr
Gefammtbetrag nicht allzu groß zu fein braucht, um ihrem Endzwede
zu genügen. ,
Da die Bezahlung der Kriegsleiftungen blos den Zweck hat, bie
rechtliche Gleichheit in Tragung der Staatslaflen zu verwirklichen,
nicht aber ben unmittelbar Leiftenden einen Gewinn auf Unkoften
der Gefammtheit zu verfchaffen, fo muß die Zaration der eingefors
derten Sachen und Dienfte folder Idee gemäß regulict werden und
darf alfo nicht zu hoch, alfo namentlich nit nach den auf dem
Kriegstheater naturgemäß in die Höhe gehenden Preifen — fondern
nur nad) den ordentlihen Durchfchnittspreifen, oder nad) anderen ſorg⸗
fältig zu ermägenden Verhältniffen — beftimmt fein. Ohne folde
Ermäßigung würde das Geld der übrigen Provinzen leicht allzu fehr
dem Kriegstheater zuſtroͤmen und in den entfernteren Provinzen eine
Geldnoth entftehen. Weil aber in Folge folcher niederen Zaration die
Leiftung immer noch eine Laſt (oder wenigftens Entziehung eines fonft
etwa zu machenden Gewinnes) für die unmittelbar Leiſtenden bleibt,
fo muß bei deren Auflegung gleichfalls auf die thunlichſt gleich⸗
mäßige Vertheilung unter die unmittelbar betheiligten und leiflungs-
fähigen Bezirke, Gemeinden und Einmohnerclaffen Bedacht genommen,
auh etwa den Bezirken oder Gemeinden überlaffen werden, ſolche
Naturalleiftungen auf eine von ihnen feldft gewählte Art zu beftreiten
und unter ihre Angehörigen zu repartiren.
Zu einer folden, lediglich den unmittelbar betheiligten Ortſchaften
oder Bezirken zu überlaffenden Repartition unter ihre Angehörigen eignen
ſich zumal diejenigen Leiftungen, welche von Seite ber Leiltenden feine
oder nur ſehr geringe pecunidre Opfer in Anfpruch gehmen,
fondern etwa, wie 3. B. die Einquartirung (verfieht IB ohne
Berpflegung), blos eine vorübergehende Unbequemlichkeit vers
urfachen, oder — wie 3. B. Handfrohnen oder Wacheſtehen —
6106 perfönliche Befchwerden (ob auch mit Beits und Kraft:, fo doch
nicht mit fächlihem Aufwande verknüpfte) find. Leiſtungen diefer Art
(in fo fern fie nicht in befonders großem Maße — nad) Umfang ober
Dauer — Statt finden) koͤnnen — wenn die VBertheilungsnorm
eine gerechte oder der Dienft ein NReihedienft (doc verfteht fich
ein nad) Belieben auch duch Stellvertreter zu leiftender) ift —
felbft unentgeltlich eingefordert werden. Ihre Bezahlung durch
Staats : Lerilon. IX. 54
530 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w.
die Staattgeſammtheit wuͤrde dem Kriegeſchauplate eigen pofitiven
Vortheit auf Unkoſten der entfernteren Provinzen zumenden, was nicht
bilfig wäre. Denn obfchon den arbeitenden Glaffen die Zeit auch von
Seldwerth ft, fo fehlt ihnen doch oft — zumal im Kriege — die
Gelegenheit zur Lohnarbeit, und fie mögen, wenn fie den ſtellvertretenden
Dienft anftatt der Reicheren gegen Bezahlung übernehmen, darin eine
willkommene Quelle de Erwerbs finden. Die mohlhabenderen Elaſſen
dagegen koͤnnen wohl das ihnen durch die Leiftungen der befagten Art
zugehende, nicht übergeoße Ungemach in der Erwägung verfhmerzen,
daß beffelben Uebernahme zur Entfernthaltung größerer Uebel noch:
wendig, ber Zweck jener Reiftungen auch wirklich, wenigſtens großen ⸗
theils, ein mit auf locale Intereſſen, namentlich auf Abwendung
unmittelbar localer Gefahren ober Leiden gehender ift.
Der letzterwaͤhnte Umſtand würde auch die Beſtreitung folder
Xeiftungen aus Local- Mitteln, namentid aus allgemeinen,
d. b. auf fämmtliche Bewohner nach Maßgabe ihres Vermögens zu
legenden, Gemeinde» oder Bezirksfleuern rechtfertigen, wie
3. B. die etwa gegen herumftreifende Marodeurs zu errichtenden
Sicherheits wachen, ober die zum Schutze beflimmter Orte gegen
Teindesüberfal in der Frohne zu verrichtenden Schanzarbeiten
uf. mw. billig aus folhen Mitteln bezahle werden. Ueberhaupt aber
wird es zur Verhütung der grelleren ͤngleichheiten in der Belaſtung
der Einzelnen nöthig oder raͤthlich fein, alle nicht alſogleich auf Rech⸗
nung der Staatscaffe zu bezahlenden oder ben keiſtenden gut zu ſchrei-
benden Leiftungen nicht unmittelbar von den Einzelnen einzufordern,
fondern von den Gemeinden oder Bezirken, welchen fodann ob»
liegt, die ihnen dergeſtalt als Gefammtfduldigkeit zugemwiefenen Laften
auf ihre Angehörigen thunlichſt gleichmäßig zu vertheilen, mas dann
J, bergeftalt gefchehen follte, daß die
fism) aus ben Germei
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 531
ſpruͤngliche Repartition oder Beftreitung nach gleichheitlihen Principien
geſchah, fondern zum Vortheil der Gemeinde⸗ oder Bezirks»
caffen, oder zur Zilgung ber von biefen Behufs ber Laſtenbeſtreitung
contrahleten Schulden.
Zur confequenten, dem Zwecke und der Idee entfprechenden Durch⸗
führung der bisher aufgeftellten allgemeinen Grundfäge gehören noch
manche fpecielle Rüdfichtenahmen und darauf ſich beziehende Vorfchriften.
An das Detail derfelben einzugehen, erlaubt ung bie Oekonomie diefes
Buches nicht. Es werden übrigens bei dem ſchwierigen Gefchäfte der
Kriegslaftenvertheilung,, wie genau und forgfältig man alle Verhaͤltniſſe
zu regeln ſich bemühe, immer noch gar viele Ungleichheiten, Härten
und TBifhrlichkeiten übrig bleiben; aber diefes darf ung nicht abhal:
ten, nach der wenigftens annähernden Erreichung des von dem Rechtes
gefeg wie von der Politit und bier gefesten Zieles mit treuem Eifer
zu ftreben, zumal aber vor ben allzu craffen Abweichungen, melde in
der bisherigen Praris fo häufig vorfamen, in der Zukunft uns zu hüten.
Mir wollen nur auf einige der naͤchſt liegenden und auffallendften
diefer Abweichungen einm Blick werfen.
Bon dem beliebten Spftem einer nadhfolgenden, zum Zwed
der Hellung der während bes Krieges vorgefommenen Prägravirungen
vorzunehmenden Peraͤquation der Keiegslaften und von feiner un»
bedingten Verwerflichkeit haben wir ſchon oben ausführlich ges
ſprochen. Wir wenden uns zu ben gewöhnlihen Belaftungs»
und RepartitionsgsMethoden während des Laufes bes
Krieges.
Die allgemeinfte und — theil® megen ihres reellen Gewichtes,
theils wegen ber fie faft unvermeidlich begleitenden perfönlichen Plage⸗
reien — drüdendfte, oder doc gehäffigfie dieſer Laften iſt die der
Einquartirung mit Verpflegung. Ehedem Lam bdiefelbe nur
ausnahmsmeife vor. Die — ohnehin weit Heineren ald die heutigen —
Heere lagerten während bes wirklichen Feldzuges meift unter Gezelten,
und ihre Verpflegung, auch menn fie in Gantonnirungen verlegt wurden,
gefhah — wie bereits oben bemerkt worden — aus ben vom Staate
an paffenden Orten angelegten Magazinen oder dem Deere nachge⸗
führten Borräthen. In den Revolutionskriegen erft warb — allerdings
zur Erleichterung des Kriegführene, aber zum Ruin der friedlichen
Bevoͤlkerungen — das Syſtem vorherefchend, die — bis in's Ungeheure
verftärkten — Heere auf Unkoften der Länder, mo fie eben bucchziehen
oder haufen, zu verköftigen. Nicht nur in Seindesland, auch in dem
eigenen oder befreundeten, ja in diefem meift fchonungslofer, weil
ſicherer, fordern die jegt nicht mehr lagernden, fondern in den Orts
[haften Dad und Fach nehmenden Truppen ihre Verpflegung von
den Einwohnern, und diefe, um der mit ber regellofen, rein militäcifchen
Selbfleinquartirung verbundenen Gefahren fi zu entledigen, unters
werfen ſich willig oder müffen ſich unterwerfen den von den Municipals
au ctoritäten oder auch den höheren Civilbehoͤrden ausgehenden Vorfchriften
| 34 *
532 Rıriiäcen, iegꝛ:ũes Li =.
über tie Croæxag zub Meyzrzitis x
——— = mern
fdulbete, en, um kie Zinfen für den ‘©: Aukiger sufigtreiien, ci
um ten Tummerlitften Eebensunterhalt zu keficeken, Lie beilerem Tre:
bes Haufes zu vermiethen und ſich felbt auf ken grringfien und engüüca
Raum su beſchtaͤnken genoͤchizt war, wurde gleihzch! nach dem mwcha:
baren Raume bes ganıen Haufes oder nach ter Gräfe ber auf tem
Haufe liegenden Steuer mit Einquartirung und dazu auch nch
mit der Verpflegung ber Einquattirten belegt, während ber reihe
Miethmann In den befleren Theilm des Haufes frei von biefer er:
trüdenden Laft blieb. Der Eigenthümer wurde daducdy nicht nur ge-
jmungen, einen anſehnlichen Theil feines Haufes, anftatt daraus durch
Vermiethung eine ihm hoͤchſt wohlthaͤtige Einnahme zu beziehen, fort:
während für die Einquarticung in Bereitſchaft zu halten, mithin dem
Verluſt des Miethsinfes dafuͤr zu erbulden, ſondern daneben erft noch
alte feine übrigen Miethzinfe, und oft noch duruͤber hinaus den ganzen
mühfamen Erwerb feiner Hänbearbeit oder die Früchte, ja das Capital,
ma etwa noch fonfigen Bamigne ur Deepfiegung be der ihm
um 2
Kriegöfchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 533
langen, allernaͤchſt gegen biejenigen geht, welche Raum bafür be:
ſitzen und entbehren koͤnnen, ſolches nicht minder auf die Miethbe:
wohner als auf die Eigenthämer Anwendung leidet. Der Eigenthü-
mer beſitzt nur den für fich felbft vorbehaltenen, ber Miethmann
den für fi gemietheten Raum. Beide find in der Regel — wenn
ffe nämlich zu einiger Selbſtbeſchraͤnkung ſich entfchliegen oder genoͤ⸗
thiget werden — gleihmäßig im Stande, von folhem Raume
zeitlich einen Theil für die Einquartirung abzugeben; und in der Re
gel oder durchſchnittlich ſteht auch die Größe jenes vorbehaltenen ober
gemietheten Wohnungsraumes im WVerhättniffe zu dem Vermögen
des EigenthHämers und des Miethmannes. Leiflungsfähigkeit und
natürliche Leiftungsfchuldigkeit find mithin bei dem Einen wie bei dem
Andern vorhanden, und auch ohne Unterfhied, ob man ſolche Leiftung
unentgeltlic, verlange (was bei nur kurz dauernder Einguars
tirung ohne großes Bedenken gefchehen mag), oder eine Vergütung
dafür gebe. Nur ift im erflen alle das dem Hauseigenthuͤmer durch
ausfchließende Belaſtung zugehende Unrecht weit fchreiender als im
zweiten. In Bezug auf die Duartirlaft für fi allein fol alfo
das Gefeg eine Gleichheit ausfprehen zwifhen Dauseigen-
thbämer und Miethbewohner.
2) In Bezug auf bie Verpflegung ber Einquartisten ver
langt das Recht noch ein weit Mehreres. Diefe Laft befteht nicht
nur in einer vorübergehenden Bequemlichkeitsbeſchraͤnkung
des Quartirtraͤgers, fondern in einer pofitiven und dem Maße nach
unbegrenzten Beſteuerung. Für die Beſteuerung aber, zumal für
die Kriegsbefteuerung,, ift der alleinig rechtliche Maßſtab dns Wer»
mögen der Staatsangehdrigen. Es muß alfo die Verpflegungs⸗
Laſt thunlichſt gleichmäßig, d. h. verhältnifmäßig unter alle Staats»
bürger — mwofern von befreundeten Truppen — oder auf alle
Orts⸗, Bezirks- oder Provinzbewohner — in fo fern von
feindliher inquartirung die Rede iſt — vertheilt werden. Es
kann diefe® aber nur dadurch gefhhehen, dag man entweder ben Ein»
zelnen, welchen man bie Verpflegung auflegt, dafür die billige
Verguͤtung aus ben Mitteln ber betreffenden Gefammtheiten leiftet,
oder daß man — was weit zwedimäßiger waͤre — die Verpflegung uns
mittelbar auf öffentlihe Koften (etwa durch Zafelgelder für bie
Dfficiere und durch gemeinfchaftlihe Speifung für die Gemeinm) an-
ordnet. Bei der Repartition der hierfür nöthigen Gelbbeträge auf bie
einzelnen Gontribuenten koͤnnte man weit leichter und genauer allen
Abftufungen des Vermögens oder Einkommens folgen, als bei der zu:
zumelfenden Naturalverpflegung möglich ift; und auch die zu Verpfle⸗
genden würden bergeftalt in Anfehung ihrer Beduͤrfnißbefriedigung
eines gleiheren Maßes und einer behaglicheren Stellung ſich erfreuen,
als an den Privattifhen der zum Theil noch wohlhabenden, zum
Theil aber von Armuth und Kummer niebergedrüdkten Bürger.
* Kriegefchaden, rei
“Die, Bezahlung, von welcher bj en wird, muß, wenn
fie. an bie ——— —— g dem —
——— Ken b. — a —
Ich — Koften weni
Bis; ben ine (mithin nicht blos. in einer Meinen Sheinven
gütung beftehenb) fein; fonit wird dem auch nur ein, fhein«
F:; Genüge gethan. Geſchieht fie — etwa für gemeinfdaftliche
Speifung — an die Sefammeperföntihkeit der Gemeinde, fo
kann eher einige Ermäßigung Statt finden, weil ber Verluſt ſich dann
gleihmäßig auf, alle Steuerpflichtigen, — und bie Quatuttrager
der. perfönlichen. Umannehmlichkeiten, ja oft wirklichen Quälereien, die
mit der Maturallaft verbunden find, bergeftalt überhoben werben,
Eine andere Hauptlaft bes Keieget find die $rob men, zumal
die Fuhr · Frohnen, weil biefe bei * mbewegungen tegelmaͤßig
eingefordert werben, waͤhrend bie Han — — nur aus beſonderen
Antdffen, wie bet Schanzatbeiten u. dergl., vorkommen. Bei
dieſen Frohnen nun gu bisher gröfitentheil® bie Uebung, daß man
eben die Bieh⸗ — agenbefiter des Drtes ober der Umgegend,
nach Maßgabe des Vebiiefniffes, chiechthin u feiftung ar ohne
NRücficht zu mehmen weder auf ihr eigenes Beduͤrfnig (j. B. zur Bes
ftellung ihrer Aecket) oder auf den ihnen (etwa- als Hnfuheleuten)
dadurch entzogenen Verdlenſt, noch auf die vom ihnen — je nach ber
Entfernung ober der Dauer der Frohnleiflung — dabei aufzumendenden
Untoften, noch uͤberall auf die nach Umſtaͤnden damit verbundene Ges
fahe noch weiterer Berhädigung oder gat perfönlicher Mißhandiung.
Ia, man ging fo weit, den Grundbeſidern (in ber Regel jedoch mur
den gemeinen Bauern) vorzufchreiber, wie viel Vieh, je mady bem
Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 535
weitem Ausführung, auf die früher aufgeftellten Mechtsanfidhten uns
berufend. \
Ein ganz Gleiches findet Statt in Anfehung ber vielnamigen
MNaturallieferungen oder auh Beldceontributionen, welde
gar häufig den unglüdlichen Bewohnern der vom Freunde oder vom
Seinde kriegeriſch befegten Provinzen aufgelegt werden. So wie ein
Truppencorps in ein Land oder in eine DOrtfchaft einrüdt, fo hat;
nach der in ben Revolutionsfriegen vorherrfchend gewordenen Praris,
das Privateigenthum feine rehtlihe Bedeutung ver»
loren. Weſſen immer das Heer bedarf oder zun bedürfen erklärt, das
muß ihm auf Verlangen von den Bewohnern bes im Bereiche feiner
phnfifchen Gewalt liegenden Landes herbeigefchafft werden, Brotfrucht
und Pferdefuͤtterung, Lagergeräthfchaften, Betten und andere Gafers
nen» und Lazarethbebürfniffe, Kleidungsſtuͤcke und Schuhe, Holz zur
Feuerung und zu Schanzen ober anderen: militärifchen Zwechen u. f. w.,
kurz Alles und Alles muß auf das Gebot des Kriegsbefehlhabere ges
liefert, und zwar unentgeltlic, geliefert werden. Alfo gefchieht es
nit nur, wo der Feind hauſ't, fondern oftmal® auch mo ber
Freund. Die Revolutionskriegsjahre und auch jene des fogenannten .
heiligen Krieges werden auch in Bezug auf berartige Bedruͤckungen in
der Erinnerung noch mehr als eines Gefchlechtes fortleben. Erſt in
der legten Periode wurden Uebereintömmniffe zwifhen den Verbündeten
über die Vergütung folcher Leiftungen gefchloffen. Aber der Inhalt,
wenigflens der Vollzug, entſprach der Rechtsforderung nicht. Die
Staaten rechnetm gegen einander ab, aber den Privaten, welde
geleiftet hatten, kam von der Vergütung nichts oder nur menig zu.
Einiges zwar flog — freilich fpät genug — in die Gemeindecaf»
fen; ber Erfag an die Einzelnen jedoch wurde fchon durch den in
der Iwifchenzeit eingetretenen Perſonenwechſel unmoͤglich gemacht,
oder auch der Betrag durch die Unkoften der langwierigen Perdqua: -
ttonsoperationen verfchlungen. Im Syſteme ſelbſt wurde nichts
geändert. Dermöge defjelben nämlich muß Jeder hergeben, mas er
bat, fobald der Soldat es braucht oder verlangt. Ja, er muß feilbft
geben, was er nicht hat, fondern erſt für fein Geld ſich anfchaffen
kann; und in Bezug auf Vergütung oder wenigftens gleichheitliche
Vertheilung der Laſt unter die zunaͤchſt oder die entfernter Betheiligten
bangt er theild von willlürtichen Anordnungen ber Behörden,
theils von erft fünftig zu erlaffenden, mithin dem Inhalte nach
ungemwiffen und, weil ſodann ruͤckwirkend, jedenfalld ungerehten
Gefegen ab.
Gleichwohl wäre gar nicht ſchwer, folhem Unmwefen zu
feuern. Die Naturalleiftung , bier alfo bie Lieferung der geforbers
ten Gegenſtaͤnde, gefchehe ziwar unmittelbar von Jenen, welche fie bes
figen, und nad) bem Maßſtabe foldyes Beſitzes, überhaupt von Jenen,
von welchen fie am Schnelfften und Sicherften zu erhalten find. Aber
bie augenblidlihe Bezahlung ober Gutſchreibung auf Rechnung
536 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. w.
der Geſammtheit (ie nach den Faͤllen jener der Gemeinde, oder
des Bezirks oder des ganzen Staates) ſtelle die (durch die unmittelbare
Beitreibung von den Beſitzenden) factiſch geſtoͤtte rechtliche Gleichheit
wieder her; und was fofort zu bezahlen det gegenwaͤrtigen Gefammt:
heit zu ſchwer fiele, das werde wenigſtens ale Schuld anerkannt,
und gehe als foldhe auf die Nachkommenſchaft über. Gilt einmal bie:
fee Grundfag, fo wird man bei den Requifitionen behutfamer und
fparfamer verfahren. Wer nur zu nehmen, aber nicht zu vergüten
braucht, der fordert eben nad) Willkür und Laune, mitunter felbft aus
Muthwillen oder Uebermuth. Wer aber über das Geforderte Redy-
nung ftellen, und wer es vergüten muß, der befchränkt die For⸗
derung auf das Nothwendige und auf das den Kräften Ent-
fprehende. Der Feind zwar fügt ſich natürlich nicht unter diefes
Sefeg; mir haben hier aber ganz vorzugsmeife die vom eigenen
Staat edder die vom befreundeten Heere ausgehenden Requifitionen
im Auge. Jedoch aud auf die vom Feinde gemachten findet unfer
Grundſatz in fo fern Anwendung, als dadurch die unmittelbare
Repartition, und fodann auch die Vergütung aus den Mitteln
der dabei (näher oder entfernter) betheiligten Gefammt heiten eine
vernunftrechtliche Norm erhalten.
Die Anwendung der bisher ausgeführten Grundfäge aud auf
alle anderen, wie und mo immer noch vorfommenden oder gedents
baren Kriegslaften und Beſchaͤdigungen ergibt fi von ſelbſi. Es
fragt ſich jegt bios noch: ob oder in wie fern es wirklich Sache der
Gefeggebung fein koͤnne, die zur Verwirklichung der von uns ge:
forderten cechtlichen Gleichheit in Zragung ber Kriegslaſten nothwen-
digen, materiellen und formellen Beftimmungen ſchon zum Vorhin⸗
—8
Kriegsſchaden, Ariegelaſten u. ſ. w. 537
ligten oder deren Repraͤſentanten Statt finden folle, eben ſo, daß
die Leitung ſolcher Repartition durch dieſe oder jene Behoͤrden
und unter dieſen oder jenen Formen zu geſchehen habe, und welche
Wege des Recurſes etwa den geſetzwidrig Bedruͤckten offen ſtehen
ſollen. Sodann kann und ſoll die forgfaͤltige Conſtatirung oder
Evidenzhaltung aller vorkommenden Kriegslaſten und Kriegsſcha⸗
den (und hier ohne Unterſchied zwiſchen den vom Feinde oder vom
Freunde herruͤhrenden), mithin auch die Form derſelben und die Con⸗
trole für deren Richtigkeit vorgeſchrieben und angeordnet, und zumal
auch ſchon zum Vorhinein beflimmt werden, welhen Behörden
ber Vollzug der auf diefe Dinge ſich beziehenden Gefege und Verord⸗
nungen zuftehen und mie weit fich ihre Competenz darüber erſtrecken
fole. Dagegen wird der Regierung (oder, je nad) der Verfaffung,
dee Regierung und Volksrepraͤſentation) überlaffen bleiben müffen, bei
wirklich eintretenden Fällen die dem Bedürfniffe ber jeweiligen Um:
ftände gemäßen fpecielleren Verordnungen, Inftructionen
und Entfcheidungen zu erlaffen, namentlih auch ben Betrag und
die Erhebungsmweife der (nad) bem Principe oder Befleuerungs:
funbamente allerdings geſetzlich feftzuftellenden) Kriegsfteuer zu bes
fimmen, einzelne Gattungen von Kriegsiaften oder Beſchaͤdigun⸗
gen (unter Verantwortlichkeit der anorbnenden Behörden) von ber Be:
zahlung aus Staatsmitteln auszunehmen und etwa (In Gemäßheit
der im Allgemeinen bafür aufgeftellten gefeslihen Normen)
für Locals oder Bezirkslaften zu erklären, überhaupt Alles zu
thun unb anzuorbnen, was fehon zum Vorhinein duch ganz be>
ffimmtes Gefeg zu entfcheiden nicht. möglich oder nicht rathfam wäre.
Even fo wird, mas Insbefondere die vom Feinde verurfachten Kriegs:
erlittenheiten betrifft, nur durch die Regierung (oder Regierung und
Stände) jeweils, nach Beſchaffenheit der in concreto vorkommen⸗
den Umftände, zu beflimmen fein, ob und welche Vergütung oder Uns
terftägung nach Recht, Billigkeit und Politik den betheiligten Bezirken,
Gemeinden oder Einzelnen dafür zu leiften Pflicht oder auch thunlich
und räthlich ſei.
Die befriedigende oder auch nur annähernd vollftändige Ausfüh-
rung ber in dieſem Artikel behandelten Gegenftände würbe ein Bud
erheifhen. Wir mußten ung jedoch, nach dem Zwecke und dem beſchraͤnk⸗
ten Umfange bes Staatslerilons auf eine fummarifche Anbeutung be:
ſchraͤnken, welche freilich noch mandyerlei Einwendungen oder Gegen:
betrahtungen Raum, doch auch, mie wir hoffen, bem unbefangenen
Nachdenken einen nicht unfruchtbaren Stoff geben wird u"
otted.
*) Bergl. die Verhandlungen der babifchen Stänbeverfammlung über bie
Kriegskoftedausgleihung,, insbefondere die Protocolle ber I. Kammer von 1822
2ter und Ster Band; fobann jene ber zweiten Kammer von 1831 über bie
Motion des Abgeorbneten Der?, die Ausgleichung der Kricgsiaften betreffend;
endlich die Abhandlung bed Werfaflers des gegemwärtigen Artikels: „Ein
N Kriegeoerfofung — Kauf.
Kriegsverfaffung, f. Heerwefen.
Kriegsverfaffung des deutfhen Bundes, f. Con⸗
tingent, Heerbann.
Krondmter, f. Hofämter
Kronanwalt, f. Staatsanwalt.
Krone, f. Infignien.
Kuhpoden, ſ. Boden und Vaccination.
Kuntellehen, f. Lehen.
Kunft, im Zufammenhange mit Staat und Politit.
— Aus dem Boden des Rechts und der Sitte, wie fie im Staate
und feiner gefetigen Drbnung ſich ausprägen, dringen Wiſſenſchaft
und Kunft zum Lichte hervor, bie beiden Zweige eines Stammes,
ſich gegenfeitig beſchattend, naͤhrend und befruchtend. Die Wiſſenſchaft
reitet vom Beſonderen zum Allgemeinen; fie iſt die Aueignung
und fitende Auseinanderlegung des geiſtigen Stoffes. Die Kunft
dagegen macht das Beſondere zum Xräger des Allgemeinen; fie iſt
defjen Indioidualifirung und Beſeelung. Das Leben erzeugt das
Leben, und alles Wiffen, das vom Leben ſtammt, fol wieder ein
Lebendiges, alfo Individuelles, werden. Darum hat jede Wiffen-
ſchaft ihre Kunſt. Die Phitofophie, als die Wiffenfchaft von den
legten Gründen alles Dafeins, ift die Lehre von ber Gottheit felbft
und ihrer Offenbarung durch die Welt; und fo dürfen mir bie
befonderen Weiſen ber lebendigen Anerkennung und WWerehrung
der Gottheit, den religisfen Gultus, als die Kunſt der Philofoppie
bezeichnen. Die fortfchreitende Emtwidelung ber Philofophie wird alfo
ſtets beſtimmend für die befonderen Formen bes religiäfen Lebens
bleiben; aber fie wird diefe niemals aufheben und entbehrlidh machen,
‘
Kunſt. 539
bleiben: fo ſchafft auch eine politifch vereinigte Dienfchenmenge mit
dunkeln Trieben, wie bie Bienen an ihrem Sellengewebe, fort und
fort an dem Gehäufe ihres Staates, waͤhrend nur biejenigen bie
rechten Staaͤtskuͤnſtler find, die das Ganze geiflig erfaßt haben und
feiner Idee gemäß wirkſam in baffelbe eingreifen.
An diefem allgemeinen Sinne ift Überhaupt die Kunft eine
fortlaufende Verkoͤrperung der Wiffenfhaft, dem allgemeinen,
ftet6 fich vermittelnden und erneuenden Gegenfage menſchlicher Thaͤtig⸗
keiten gemäß, ber in ben Worten Können und Wiffen aus
gefprochen iſt. Allein meiſt befchränke man den Begriff derfelben
nur auf eine engere Sphäre und denkt dabei vorzugsmweife an die
fogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte. Sie gliedern ſich nach den Stoffen,
worin fie zur Erſcheinung kommen. Diefe find: Wort und Zon
(Poefie und Mebekunft, Vocals und Inſtrumentalmuſik); Umriß
und Farbe (Zeichentunft und Dialerei); Ieblofe und lebende Körper
(Baukunſt und Seuiptur, Zanzkunft, Mimik und Schauſpielkunſt).
Seder diefee Stoffe Hat der menfchlihen Einwirkung gegenüber feine
eigenthümliche Dingebung und feine befondere Sproͤdigkeit. Darum
find nur die Küänfte die Kunfl, wie nur die Religionen bie Religion
find; und darum bat jede einzelne Kunft ihre befondere Stärke und
Schwäche, ihre eigenthHümliche Ausdehnung und Grenze. Die Willkür
Tann bdiefe Grenzen überfpringen, wie bie Willkuͤr der Politik bie
Naturgrenzen des Voͤlkerlebens; aber dort, wie hier, wirb fie nur
Mißgeſtalten erzeugen. Zwar iſt der Menſch eine Eleine Welt in ber
großen, ein zuſammengeſetzter Ausbrud bes allgemeinen Naturs und
Geiftesiebene. Wo er alfo unmittelbar fi felbft zum Gegenftande
der Kunft macht, wie im Schauſpiele und in ber Oper, kann er zugleich
in Wort und Ton, in malerifher Mimik und bemegter Plaſtik, eine
lebendige Verbindung ſehr verfchiedener Lünftlerifcher Leiftungen zu
Stande bringen. Aber wenn er gleichzeitig in ber flüchtigen Kunſt
des Mimen, in bramatifcher und muſikaliſcher Darftelung Mehrerlei
leiſtet, fo Laffen ihn die Unvollkommenheiten des Individuums nicht
das Hoͤch ſte erreihen, was andere Künite, eine jede in ihrer eigen:
thümlichen Sphäre, zu erreichen vermögen.
In der Berührung des Geiſtes mit der Sinnenwelt erwacht der
fhlummernde Kunſttrieb zur kuͤnſtleriſchen Begeifterung, die erſt concret
werden, einen beflimmten Gegenitand erfaffen muß, um fchöpferifch
zu fein. „Was ift ba viel zu befinicen,” fagte Goethe zu Eder»
mann, „lebendiges Gefühl der Zuftände und Kähigkeit, es auszu⸗
drüden, macht ben Posten. Und was von ber Poefie, gilt von aller
Kunft. Aber damit iſt viel in wenig Worten gefordert: die Luft und
Kraft des Künfklers; die ihe gemäße Wahl bes Gegenſtandes; die
ausdauernde und immer wieber erwachende Neigung zu diefem Gegen»
ftande, bis er fih einer vollendetm Ausbildung hingegeben hat.
Darum find bie Achten Kunſtwerke fo felten, meil fo felten all’ ihre
Bedingungen zufammentreffen, und darum gibt e8 auch in der Kunft
Br Sriegeoerfoffung — Kun.
Kriegöverfaffung, f. Heerwefen.
Kriegöverfaffung des beutfhen Bundes, f. Con:
tingent, Gerchann
Krondmter, f. Hofämter.
Kronanwalt, f. Staatsanwalt.
Krone, f. Infignien,
Kuhpoden, ſ. Poden und Vaccination.
Kunkellehen, f. Leben.
Kunft, im Bufammenhange mit Staat und Politit.
— Aus dem Boden bes Rechts und ber Sitte, mie fie im Staate
und feiner gefelligen Orbnung ſich ausprägen, dringen Wiſſenſchaft
und Kunft zum Lichte hervor, die beiben Zweige eines Stammes,
ſich gegenfeitig befchattend, nährend und beftuchtend. Die Wiſſenſchaft
reitet vom Beſonderen zum Allgemeinen; fie iſt die Aneignung
und ſichtende Auseinanderlegung des_geiftigen Stoffes. Die Kunft
dagegen macht das Befondere zum Traͤger des Allgemeinen; fie ift
deffen Indioidualifitung und Beſeelung. Das Leben erzeugt das
Leben, und alles Wiſſen, das vom Leben ſtammt, ſoll wieder ein
Lebendiges, alfo Individuelles, werden. Darum hat jede Wiſſen ⸗
haft ihre Kunſt. Die Philofophie, als die Wiffenfhaft von den
legten Gründen alles Dafeins, ift die Lehre von ber Gottheit felbft
und ihrer Offenbarung durch bie Welt; und fo dürfen mir die
befonderen Weifen ber lebendigen Anerfennung und WWerehrung
der Gottheit, den religidfen Cultus, als die Kunft der Philofophie
bezeichnen. Die fortfchreitende Entwickelung ber Philofophie wird alfo
ſtets beftimmend für bie befonderen Formen bes religiöfen Lebens
bleiben; aber fie wird dieſe niemals aufheben und entbehrlich machen,
Kunſt. 530
bleiben: ſo ſchafft auch eine politiſch vereinigte Menſchenmenge mit
dunkeln Trieben, wie die Bienen an ihrem —— fort und
fort an dem Gehaͤuſe ihres Staates, waͤhrend nur diejenigen die
rechten Staatskuͤnſtler find, die das Ganze geiſtig erfaßt haben und
feiner Idee gemäß wirkſam in baflelbe eingeeifen.
An diefem allgemeinen Sinne ift überhaupt die Kunſt eine
fortlaufende Verkoͤrperung ber Wiffenfhaft, dem allgemeinen,
ſtets ficy vermittelnden und erneuenden Gegenfage menfchlicher Thaͤtig⸗
beiten gemäß, ber in ben Worten Können und Wiffen aus
gefprochen iſt. Allein meiſt beſchraͤnkkt man ben Begriff berfelben
nur auf eine engere Sphäre und denkt dabei vorzugsmeife an bie
fogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte. Sie gliedern fi nach den Stoffen,
worin fie zur Erſcheinung kommen. Diefe find: Wort und Zon
(Poefie und Redekunſt, Vocal⸗ und Inſtrumentalmuſik); Umriß
und Farbe Geichenkunſt und Dialerei); lebloſe und lebende Körper
(Baukunſt und Seulptur, Zanztunft, Mimik und Schauſpielkunſt).
Feder diefer Stoffe hat ber menſchlichen Einwirkung gegenüber feine
eigenthümliche Dingebung und feine befondere Sprödigkeit. Darum
find nur die Künfte die Kunſt, wie nur die Religionen bie Religion
find; und darum bat jede einzelne Kunft ihre befondere Stärke und
Schwaͤche, ihre eigenthümliche Ausdehnung und Grenze. Die Willkür
kann diefe Grenzen überfpringen, wie die Willkür der Politik die
Naturgrenzen des Voͤlkerlebens; aber dort, wie bier, wird fie nur
Mißgeſtalten erzeugen. Zwar ift ber Menfch eine Beine Welt in ber
großen, ein zufammengefegter Ausbrud des allgemeinen Naturs und
Geiſteslebens. Wo er alfo unmittelbar fich felbft zum Gegenftande
der Kunft macht, wie im Schaufpiele und in ber Oper, kann er zugleich
in Wort und Ton, in malerifher Mimik und bewegter Plaflif, eine
lebendige Verbindung fehr verfchiedener kuͤnſtleriſcher Leiftungen zu
Stande bringen. Aber wenn er gleichzeitig in ber flüchtigen Kunſt
bes Mimen, in dramatifcher und mufialifcher Darftelung Mehrertei
leiftet, fo laffen ihn die Unvollommenbeiten des Individuums nicht
das Höcyfte erreichen, was andere Künite, eine jede in ihrer eigen»
thümlichen Sphäre, zu erreichen vermögen.
In der Berührung des Geiftes mit der Sinnenwelt erwacht ber
fhlummernde Kunſttrieb zur kuͤnſtleriſchen Begeifterung, die erſt concret
werben, einen beſtimmten Gegenitand erfaffen muß, um fchöpferifch
zu fein. „Was iſt da viel zw befiniren,” fügte Goethe zu Eder»
mann, „lebendiges Gefühl der Zuftände und Fähigkeit, es auszu⸗
drüden, macht ben Poeten. Und mas von ber Poefie, gilt von aller
Kunft. Aber damit ift viel in wenig Worten gefordert: die Luft und
Kraft des Künfllers; die ihr gemäße Wahl des Gegenflandes; die
ausdauernde und immer wieder erwachende Neigung zu diefem Gegen»
flande, bis ee fi einer vollendeten Ausbildung hingegeben hat.
Darum find die aͤchten Kunſtwerke fo felten, weil fo felten all’ ihre
Bedingungen zufammentreffen, und darum gibt e8 auch in der Kunft
540 Kunſt.
ſo viel Mißheirath und Convenienzheirath, weil der Eigenſinn von dem
nicht laſſen mag, was er einmal ergriffen hat, oder weil das kuͤnſtleriſch
Begonnene handwerksmaͤßig fortgetrieben wird. Die Kunſt hat, mie
die Liebe, Ihre glüdlihen Momente ber Beugung, in welchen ſich
der Geift ſchaffend Im-einen Theil der Sinnenwelt bineindrängt, um
ihn zum Traͤger und zugleich zum Leiter feiner Kraft zu machen.
Nur fo meit die geiftigen und fittlichen Kräfte, die der Kuͤnſtler in
feine Schöpfung ausgeftrömt hat, belebend wirken, wird diefe Schöpfung
als ein Werk der Kunft erkannt und empfunden. Der Genug, und
darum bie Wirkung ber Kunft, bleibt alfo durch die Empfänglichkeit
ber Genießenden bedingt, und biefe if eine verſchiedene, nicht blos nad
der Individualitaͤt, fondern aud nad) der Nationalität und nad) den
Bildungsſtufen ganzer Perioden des Menfchen« und Voͤlkerledens.
Sind doc, kaum ſechzig Jahre verfloffen, als man fo ausſchließend in
die griechiſche Architektur und bie Betrachtung ihrer Proportionen ſich
verfenkt hatte, dag man nicht einmal wagte, die großartigen Gchöp:
fungen der gothifhen Baukunſt für Kunſtwerke gelten zu laſſen; dag
noch ein Sulzer in feiner „allgemeinen Theorie ber bildenden Künfte”
die Meinung dußern konnte, daß am Straßburger Münfter „wenig
Geſundes“ fei. Plato hatte vorzugeweife das Schöne die ſchoͤpfe⸗
riſche Kraft genannt, bie wieder Begeifterung erwecke, ſo wie ber Magnet
dem Eifen bie Kraft der Anziehung mittheile; Ariftoteles fand
befanntlic das Weſen der Poefie in der ſchoͤnen (geifligen) Nach⸗
ahmung der Natur. Uber nice blos die unmittelbare Darftellung
des Schönen, Erhabenen oder auch nur des Bedeutenden if der aus:
fliegende Gegenftand der Poefie, oder der anderen Künfte; fonbern
nicht weniger die des umgekehrt Schönen und des Lädjerlichen, als des
Kunſt. 541
geiſtigen und ſittlichen Kraͤfte, vielmehr eine Belebung und Erhoͤ⸗
hung derſelben fordern. Dies iſt eben ſo wahr im Beſonderen, als
von der Kunſt ganzer Nationen und Perioden, die wir — wie groß
uͤbrigens die techniſche Fertigkeit in der Ausfuͤhrung des Einzelnen ſei —
auf eine niedrigere Stufe ſtellen, wenn ſich die kuͤnſtleriſche Schoͤpfungs⸗
kraft an eine verhaͤltnißmaͤßig groͤßere Menge des Gehaltloſen und
Armſeligen vergeudet.
Nach dem Allen bleibt es die allgemeinſte Aufgabe der Kunſt,
in einer die Eigenthuͤmlichkeit ihres Gegenſtandes erfaſſenden, alſo in
charakteriſtiſcher und ſinnlich durch und durch wahrnehmbarer
Darſtellung, ein geiſtig Bedeutendes in eine concrete Anſchauung zus
fammenzudrängen. In biefem Sinne nannte Zied die Dichtung
eine Verdichtung, und biefe lakoniſche Bezeichnung felbft ift ein
ächter Dichterſpruch, eine Beleuchtung der Poefie durch Poeſie.
Goethe ruft dem Dichter zu, er folle das Befonbere ergreifen,
und fei es nur ein Gefundes, fo werde er darin ein Allgemeines
darftellen. Auch dies iſt treffend und mahr, wenn nur eben ber
Dichter als Dichter das DBefondere ergreift. Iſt doch nie die blofe
Nahahmung eines Gegenflandes ein Kunftwert! Sa der eigentliche
Nahahmungstrieb ſcheint den höheren Kunfktrieb fogar auszufchließen.
Unter den Thieren iſt der Affe nicht einmal mit dem inftincemäßigen
Kunfttriebe anderer Thierarten ausgeflattet, und unter den Völkern
bat der nahahmungsfüchtige Neger, felbft in Mitte der Civiliſation
und unter Werken der Kunft, kaum noch einigen Kunftfinn offenbart.
Senes Bild eines nieberländifchen Malers, eine wollene Matrofenmüse,
woran mer Luft hatte alle Faͤden zählen tonnte, war immer nur ein
Kunft-Städ, ein Wort, das hödyft finnig auf ein zum Kunft: Werke
noch Sehlendes hinweiſ'ſt. Aud) wird Niemand die genaue Nachbildung
eines Steines, Thieres u. dgl., wie fie etwa einem naturhiftorifchen
Bude zur Erklärung feines Textes beigegeben ift, für ein Kunſtwerk
ertlären. Um es dazu zu vervollftändigen, muß zur treuen
Darftellung eines Befonderen noch ber Ausbrud eines allgemein Bes
deutenden binzulommen. Dies ift nicht in dee Sinnenmelt zu finden,
fondern einzig in dee Geiſteswelt, in der bie endlos theilbare und ges
theilte Materie verbindenden Idee. Die Natur hat in Tönen, Farben
und Geſtalten nur bie Lettern zum Geifteswerke hingeſtreut. So wenig
der auf's Gerathewohl unternommene Abdruck derfelben, wie fcharf und
genau er fel, ein Buch erzeugt, eben fo wenig bringt bie blofe Nach»
ahmung von Naturgegenftänden ein Kunftwert hervor. Wohl hat in
der Welt der Erfcheinungen jedes Einzelne auch feine befondere Bedeu⸗
tung, fo wie jeder Buchflabe im Alphabet ein für fich geltendes Etwas
ift. Gleichwohl iſt die Verbindung der Buchſtaben zur Darflellung
eines Gedankens nicht blos ein Nebeneinander berfelben, fondern zu⸗
gleich der Ausdrud eines ganz Anderen und Meuen. Unb in dems
felben Sinne bilft die Kunft das fortfchreitende Wert der Schöpfung
vollenden, indem fie, fondernd und verbindend, in die Welt der Ers
UT
648 Kunſt.
äußert, elne reichere Mannichfaltigkeit von Denkmalen erzeugt *).
Sculptur und Malerei haben ſich fo wenig, als Architektur, über das
Mittelmägige erhoben. Die bunt angeftrichenen Bildfäulen der Chinefen
find meift von ziemlich roher Arbeit, und in der Malerei wiſſen fie nichts
von der Perfpective, verſiehen fich jedoch auf eine fehr lebhafte und
dauerhafte Farbengebung. Nur in der Gartenkunft, wozu bie oft
romantiſch wunderbare Natur des Landes die nächte Anregung gab,
haben fie wohl das Ausgezeichnetfte geleiftet und der englifchen die
größten, bei Weiten nicht erreichten Vorbilder geliefert. Diefe plaſtiſch⸗
maieriſche Gartenkunft fließt ſich innig an die gegebene Natur an.
Sie ift nur eine nachheifende Verſchoͤnerung derfelben auf ſehr weite
Räume hinaus, wie denn. Bgrrom unter Anderem von einem kaiſer⸗
lichen Garten erzähfe, yon mindeftens zehn engliſchen Meilen im Um:
fange. Berge, und Thäler, Fluͤſſe und Bäche, . Wälder und Fluten
find hier auf eine die Sinne vielfach anſprechende Weife und nad) einem
umfaffenden ‚Plane in Werbinbung gefegt. Selbſt die malerifche Con:
traßirung, der Laubfarhen nad) dem Wechſel der Jahreszeiten ift in den
Gruppen der Haine beruͤckſichtigt. Aber audy. zahlreiche Wohnhdufer
neben ben Luſthaͤuſern, ja ganze Detſchaften und fruchtbare Fluren, find
in dieſe weit umfallenden Combinationen aufgenommen. Faſſen wir
num Biele großen pianmaͤßigen Verbindungen des Schönen und Nög:
tichen ims Auge, ſo draͤngt ſich eine Frage auf, die im höheren Sinne
eine \aatömiffenichafttiche ift :-0b überhaupt das
ver
ee eine gel der
Manu g banken
Kunſt. 543
In den ganz rohen Anfängen der Gefellfchaft, wie bei vielen
Völkern Polyneſiens und Afrikas, ift mehr ein blofes Neben»
einander, als ein ſociales Zufammenfeln und Zuſammenwirken. Nur
die gemeinfame äußere Noth mag momentan zu Unternehmungen in
größerer Gemeinſchaft verbinden ; ift aber ihr Druck vorüber, fo ftäuben
die Maffen aus einander. Selbſt das Band der Familie hätt nicht
zahlreichere Glieder zufammen, und nur einzeln oder paarweife fucht
man den naͤchſten Bedürfniffen zu genügen. Wo noch ſolche Vereins
zelung bericht, ift e8 auch nur der Einzelne, ber fich felbft zum Gegen:
ftande der rohen Anfänge feiner Kunft macht. Die Kärbeftoffe, die der
Wilde da und dort auffindet, dst er feiner Haut ein, und was er
ſich fonft Gefälliges und Reizendes aneignen mag, die farbigen Federn
der Vögel, bunte Steine und Mufcheln, fhimmernde Metalle, dienen
ihm zum Schmude. Aber kaum denkt er noch daran, felbft die rohen
Spmbole feiner Gottheiten auszupugen und zu verzieren. Auf höheren
Etufen ber Entwidelung kommt ein gebilbeterer Kunftfinn felbit im
Puge, in den Kleidern und Trachten, zum Vorſcheine; wenn dieſe theils
hervorhebend und theils verhällend, theils contrafttrend und theils ver⸗
fchmelzend, die in der Geftalt des Menfchen ausgefprochene Idee zugleich
plaftifh und malerifh zur Anſchauung bringen. Aber die Pusfucht
des Wilden iſt erſt eine einfeitige Luft am Gontraftitenden, alfo an
der Vereinzelung ; fie ift weſentlich darauf gerichtet, feinen Körper oder
befondere Glieder deſſelben au 8 zuzeichnen ; fo daß oft ſogar fein Schmud,
wie etwa das Gehänge in Lippen, Nafe und Ohren, nette und grelle
Difformitäten erzeugt. Wie er die [hreienden Farben und Formen
liebt, fo tft auch feine Sprache, die mehr Empfindungen als Gedanken
ausdrüdt, noch eine ſchreiende. Sein Gefang, nur ein gefleigerter
Ausdruck diefer Empfindungen, ift nicht viel mehr, als eine unzufams
menhängende Weihe von Naturlauten; fein Tanz eine ungeorbnete
Folge von Sprüngen. Die Gefühle find noch nidht vom Gedanken
beherrfcht und verknüpft; nichts ift darin harmoniſch gegliedert und
rhythmiſch abgemeffen ; es ift noch keine Mannichfaltigkeit in der Einheit,
fo menig in ber Geſellſchaft, als auf dem noch fehr engen Gebiete der
Kunft. Hoͤchſtens tritt im Gefange eine Vorftellung und Empfindung
bervor, doc ohne fie in ihrer Entwidelung und ihren Abftufungen
darzuftellen. Auch dies iſt nichts Anderes, als ein verlängerter Schrei
der Empfindung, melde darum in Ihrem Ausbrude monoton wird,
wie es namentlich die meiften afritanifchen Volslieder find. Auf etwas
höherer Stufe erfcheinen die Indianer Nordamerikas. Ihre Sprache
hat ſchon einen größeren Reichthum an Vorſtellungen; aber auch hier
ift die Melt des Geiſtes von der Sinnenmwelt noch menig abgegliebert,
und berfelbe Ausdrud, der die Auferen Erfcheinungen bezeichnet,
dient zugleich der Bezeichnung ber geiftigen Zuftände und Thätigkeiten.
Daraus entfteht eine oft großartige, oft ruͤhrend naive mündliche
Hieroglyphenſprache, deren Bilder fich bei dieſen Völkern, mären fie
wie die alten Aegypter anfäffig getvorden, gleichfalls in Stein und Farbe
550 Kunft.
Perfonen find, fogar göttlich verehrt; fo daf das blofe Anhören einer
Geſchichte aus diefen Werken Vergebung ber Sünden erwirbt. Die
gleiche Verwebung von Mythologie und Geſchichte findet ſich in den
18 Puranas, den mythiſchen Volkslegenden. Auch die Erfindung des
Dramas wird einem goͤttlich begeifterten Wefen, Bharata, zugefchrie:
ben. Darum waren bie Schaufpieler in Indien geachtet, und bas
Schaufpiel bildete ſtets einen wefentlihen Theil der religiöfen Feſte.
Es kam jedoch vom 14. oder 15. Jahrhunderte an In Verfall, und ge:
genwärtig findet ſich nur nod auf den Märkten ein Puppenfpiel her⸗
umziehender Gaultier. Im Drama, das fo romantifch ift, mie das
Land felbft, häufen ſich bie Wunder neben den Ereigniſſen des ges
woͤhnlichen Lebens, und gerade biefe Werfhmelzung des Gewoͤhnlichen
mit dem Wunderbaren, bas den Ausdruck kindlicher Naivetät erhält,
gibt ber indifchen Poeſie ihren eigenthuͤmlich miyſtiſchen Charakter.
As handelnde Perfonen treten Götter und Göttinnen, Helden und
Heldinnen neben Kaufleuten, Dienern, Spigbuben ıc. auf; und eigen:
thuͤmlich iſt, aber aus den ſcharf begrenzten gefelligen Verhaͤltniſſen
erflärbar, daß nicht blos die provingiellen, fondern auch bie ftändifden
Unterſchiede durch verſchiedene Dialekte hervorgehoben merden. Der
Dialog iſt gewoͤhnlich Profa, doch find häufig Iprifche Ergüffe im regel⸗
mäßigen Rhythmen und mit Anwendung aller indiſchen Versarten ein:
geſtreut. Nur die Einheit der Handlung wird beachtet; aber weder
durch Ort und Zeit, noch durch eine beftimmte Zahl von Acten, benn
es gibt Stüde von drei, fieben bis zu zehn Aufzügen, läßt ber Flug
der Phantafie fi hemmen. Die indifchen Volkslieder und Volkeweiſen
athmen eine tiefe Innigkeit. Dan bat darum ihre Aehnlichkeit mit
denen „der Deuiſchen hervorgehoben; doch herefcht darin überwiegend
die Phantafle und bas Gefühl vor, während fid im deutfchen Wolsliede
zugleich die mehe nad) Außen gewenbete Thatkcaft und ein dramatiſch
bewegteres Beben offenbart. Uederhaupt zeichnet fich die indifche Poefie,
Kunft. 551
nung aller Theile zum unverrädbaren Ganzen in finnlicher Anfchau:
ung zu offenbaren. Wie fih nun altes Seite in regelmäßigen’
Kruftallifationen geftaltet, fo folgt auch die Architektur dieſem Nas
turgefege; und wie bie leblofe Natur die Traͤgerin ber organifchen iſt,
fo wird auch das von Künftlechand errichtete Gotteshaus eine
Stätte für die Abbilder des Lebendigen, fo daß bald alle Künfte
fi vereinigen, um es zu fhmüde und zu befeelen. Darum ers
fheint überall die religtöfe Baukunſt ale eine Mutter und Pflegerin
der übrigen Künfte Keine Nation hat riefenbaftere Bauwerke ale
bie Hindu's. Bei Ellora in Dekhan, auf den Infeln Salfette, Ele⸗
phante und Geylon, felbft nördlich des Himalaya, find Gebirge vom
härteften Granit zu Xempelgrotten minirt, auf Säulen ruhend, von
weit größerem Umfange, als bie altägnptifhen. Diefe Zempel, mit
den dazu gehörigen Gebäuden für die Bramanen und bie Gchaaren
der Pilger, behnen ſich oft eine Stunde und mehr in Länge und
Breite aus. Die mähtigem Hallen, ſowohl über als unter ber
Erde, find entweder in Felfenhöhlen, ober von Außen in ben gan:
zen Felfen gehauen. Es iſt dies nur eine Umbildung ber bor:
liegenden Steinmaflen, und fo tritt auch hierin noch jene uns
mittelbare Anziehungskraft der Natur entfchieben hervor, welche
die Baukunſt noch nicht zu jener höheren Freiheit fich erheben laͤßt,
die fih erſt die einzelnen Werkftüde fchafft, um dieſe nad
Willen und Plan zum Ganzen zu fügen. In diefer Architektur ber
Hindu’s, die nur im Großen Symmetrie und ben Stempel einer
feierlichen Würde hat, zeigt fi eine vorherrfhende Neigung zur
Dpramidenform, zum einfahen Bilde des Feſten und auf fi Ru:
henden ; dagegen iſt die Kunft ber Gewölbe wenig bekannt und nicht
fehe entwickelt. Tauſende von Figuren, in unüberfehbarer Menge,
mannichfache Sconen aus den mythiſchen Didytungen barftellenb, find
in die Wände der Tempelhallen ausgebauen; body auch zu freien, fos
wohl Eoloffalen als kleineren Bildwerken hat fidy die Sculptur erhoben.
Ueberali begegnet man jebody vielfachen Verftößen gegen die Anatomie,
und um fo weniger Eonnte bie Sculptur zur Naturwahrheit gelangen,
als es ihe nad) dem Geifte der Prieftecherrfchaft nicht um charakteri⸗
ftifche Darftellung des Individuellen, fondern um blos fombolifche ber
aligemeinen Naturs und Gelftesträfte gelten konnte. Daher jene zahl:
loſe Menge von viellöpfigen und vielarmigen Ungeheuern und Mißge⸗
ftalten, wogegen Goethe fein Afthetifches Anathema gefchleubert hat.
Am Meiteflen unter den afiatifchen Nationen fliehen bie Hindu's in ber
Malerei zurüd, ob fie gleih im Portrait mit Gluͤck fi verſucht
haben. Auch fcheint bie Entftehung dieſer Kunft im keine fehr ferne
Beit zu reihen. Es gilt jeboch allgemein bei den Völkern des Alter:
thums, daß die Malerei als jüngere Schweſter der anderen Künfte
erfcheint. Dies beruht wohl nicht bhos auf dem von A. W. Schle⸗
gel angeführten Außerlihen runde, weil'man bie Abbildung des Koͤr⸗
perlihen auf der Fläche Länger fiir unmöglich gehalten; fondern mit
552 Kunſt.
darauf, wiil bie Malerei, vorzu zoweiſe ſubjectiv, zumeiſt der Veran⸗
ſchaulichung befonderer Geelenftimmungen dient, während im Alter:
thume da6 Befondere überhaupt noch meit mehr, als in ber
muern Beit, im kirchlichen und politifen Gemeinweſen aufge
fie iſt.
Saffen wir nun im Ganzen den Geift und bie Wirkungen indi—
ſcher Kunft in’s Auge, fo If leicht zu bemerken, daß befonders Poefie
und Architektur ein maͤchtiges Bindemittel für die Nation und zu⸗
gleih für die Bramanen, die intellectuellen Urheber der Kunſtwerke,
ein Mittel bauernder Herrfchaft geworden find. Hat doch die Poefie
fort und fort die göttliche Abflammung und bie unantaflbare Macht
der Prieſterkaſte gefeiert! Und wenn Millionen aus ber Maffe des
Volkes an ber Errichtung ber dem Gultus gewidmeten Bauten Antheil
genommen, haben fie um fo lieber auch bas Werk ihrer Hände in ges
meinfchaftlichem Cultus genießen wollen und um fo leichter bie Ge:
wohnheit diefes Genuffes, fo tie die gewohnte Unterwerfung unter ihre
Priefter,, von Geſchlecht zu Geſchlecht verpflanzt. Aehnliches gilt nice
minder von anderen Perioden und Nationen: die Reformation wäre
früher eingetreten, hätte nicht das Mittelalter mit feinen gothiſchen
Domen, dem Geiſte, der es beherrſchte, eine Veſte erbaut. Und wohl
allgemein läßt ſich behaupten, daß ein Volt, das nicht die Kraft zur
Ausführung von Bauten fühlt, die eine Lange Reihe von Jahren er:
fordern, in ſich ſelbſt keine Buͤrgſchaft für die Dauer feiner politifhen
und veligiöfen Zuftände hat; fo dag wohl die leichtere und flädhtigere
Bauart der jetzigen Zeit mit ein Zeichen iſt, daß wir uns auf einer
raſch zu überfchreitenden Webergangsftufe befinden.
GSleich den Hindu's haben die Aegypter die nationale Urfpräng-
lichkelt ihrer Kunft behauptet. Legt man auch Fein befonderes Gericht
auf bie von Blumenbac bemerkte Aehnlichkeit der indifchen und
altägpptifchen Sähädelbildung ‚, fo mwürde ſich doch die Aehnichkeit der
Kunſt. 553
(haft aus wenigen, aber fcharf gefchtedenen Glaffen errichtet, bie ſich
in gemefjenee Ordnung pyramidiſch über einander thuͤrmen, bie fie in
der Prieſterkaſte ihre Spige erreichen. Und diefe Neigung zur pyrami⸗
dalifchen Form und zur Anwendung großer Werkftüde fcheint faft bei
allen Völkern zum Vorſcheine zu kommen, wo nod bie Geſellſchaft
ſelbſt in größere Maſſen gegliedert und von einem Prieſterſtande übers
ragt if. Sie zeigt ſich auch in den Bauwerken der alten Merila:
ner, und mag felbft in den gigantifchen Mauern und Bauten ber
Delasger , des Urvolkes von Griechenland, zu erkennen fein, in jenen
Werken befonderer Art, bie in Hellas pelasgifche, in Italien
cyklopiſche heißen. Zu den Tempeln ber Aegppter mit ihren uns
überfehbaren Gäulengängen führen oft lange Reihen koloſſaler
Sphunres hohe Obelisken ober thurmartige Pylonen erheben ſich am
Eingange. Alles Gemäuer ift mit Hierogipphen und Sculptur ver
ziert, ohne den Eindrud der allgemeinen Umriffe des Gebäudes zu
verbeddien. Aber wenn da und bort die Werke der Sculptur freier und
tühner bervortreten, wie denn Winkelmann namentlich bie mei⸗
fterhaften Xhierabbilbungen rühmt, fo finden wir doch überall jene
Goͤtter mit XThierköpfen wieder und eine Menge von ungeftalten, oft
graͤßlichen Zufammenfegungen. Sodann zeigt fich eine gewiſſe Einfoͤr⸗
migleit in der Meproduction menſchlicher Geſtalten, weil noch bie
Sculptur ber Aegypter, eine verfteinerte Dogmenlehre ihrer Priefter,
bie ſtereotype Verfinnlihung einer für alle Zeiten fertigen Symbolik
des Goͤttlichen if. Nur in einzelnen Erzeugniſſen nähert ſich bie
Sculptur der fhönen Wahrheit griehifher Kunft und dies mehr —
wie, auch die chriftliche Malerei der erften Jahrhunderte — im Aus:
drucke des Kopfes, als in der richtigen Gliederung belebter und beweg⸗
ter Beftalt. In Aegypten, wie in Indien, blieb die Malerei am Wei:
teften zurück, die ein blofes Anftreihen ohne Kenntniß ber Schattirung
war und hoͤchſtens durch Glanz und Friſche der Farben fich auszeich⸗
nete. Im Ganzen iſt der Charakter aͤgyptiſcher Kunft ein ftrenger
und feldft düfterer Ernſt. Kannten glei die Aegypter Muſik und
Zanz, und wiſſen wir von Zeiten, wo Millionen in ausgelaffener
Sröhlichkeit beifammen warens fo fehienen damit nur einzelne grelle
Schlaglichter buch den myſtiſchen Iſisſchleier zu fallen, womit bie
Prieſterkaſte alles Volksleben überfchattet hielt.
Bon ben meilten anderen Nationen bes alten Afiens und Afrikas
find nur bürftige Weberlieferungen über Staat und Kunft zu uns her⸗
übergebrungen. Wenn uns das hundertthorige Babylon als ein
großes Viereck, als die erſte regelmägige Stadt befchrieben wird, über
beffen mächtige Mauern nur der fogenannte Palafl bee Semiramis
mit feinen hängenden Gärten und die Pyramide ober der Tempel bes
Belus hervorragten; fo mögen wir in biefer gleichen Beſchraͤnkung
Aller, gegenüber der Erhöhung von Einzelnen, ein Sinnbild bespos
tiſcher Gewaltherrſchaft erfennen. Die altperfifhen Städte waren
mehr Sige der Pracht als der Kunſt. Den Juden hatte ihre Reli:
660 Kunit.
Perſonen find, fogar göttlich verehrt; fo daß bas blofe Anhören einer
SGeſchichte aus diefen Werken Vergebung ber Sünden erwirbt, Die
gleiche Verwebung von Mythologie und Gefchichte findet ſich in den
18 Puranas, den mythiſchen Volkslegenden. Auch die Erfindung: bes
Dramas wird einem göttlich begeifterten Wefen, Bharata, zugeſchrie⸗
Darum waren bie Schaufpieler in Indien geachtet, und bas
—* bildete ſtets einen weſentlichen Theil ber religioſen Feſte.
Es kam jedoch vom 14. oder 15. Jahrhunderte an in Verfall, und ge⸗
genwärtig findet fi nur nod auf den Märkten ein Puppenfpiel her
umziebender Gaukler. Im Drama, das fo romantiſch ift, wie bas
Land ſelbſt, häufen fid die Wunder neben ben Treig des ges
t ber: indiſchen Por ihren —— — — Charakter.
handelnde Perſonen treten Götter und Goͤttinnen, Helden unb
Heldinnen neben Kaufleuten, Dienern, Spitzbuben ꝛtc. auf; und eigen:
thuͤmlich ift, aber aus ben fcharf begrenzten gefelligen Verhaͤltniſſen
erklaͤrbar, daß nicht blos bie provinziellen, ſondern audy die ftänbifchen
Unterfchiede durch verfchiebene Dialekte hervorgehoben werden. Der
Dialog if gewöhnlich Profa, doch find Häufig Iprifche Erguͤſſe in regels
mäßigen Rhythmen und mit Anwendung aller indifchen Versarten ein:
geſtreut. Nur die Einheit der Handlung wird beachtet; aber weber
dur Oct und Zeit, noch durch eime beftimmte Zahl von Acten, denn
es gibt Stüde von drei, fieben bis zu zehn Aufzügen, laͤßt der Flug
ber Phantafi e ſich hemmen. Die indiſchen Volkslieder und Volkeweiſen
athmen eine tiefe Innigkeit. Man hat darum ihre Aehnlichkeit mit
denen, der Deutſchen hervorgehoben; doch herrſcht darin uͤberwiegend
die Phantaſie und das Gefuͤhl vor, während ſich im deutſchen Volksliede
zugleich die mehr nach Außen gewendete Thatkraft und ein dramatiſch
bewegteres Leben offenbart. Ueberhaupt zeichnet fich die inbifche Poefie,
bie eine merkwürdige und herrliche Sprache zum Medium bat; bie uns
tee dem Einfluffe einer reichen Natur auch im Reichthume ber Erſfin⸗
dungen ber griechifchen nicht nachfleht und biefer oft felbft in ben
fhönen Formen nahe kommt, durch einen befonders gigantifähen
Styl der Phantafie aus, neben einem Zartgefühl für Liebe und
Schönheit ber Frauen, das fih dem Schoͤnſten aus der roman⸗
tifhen Poefie ber chriſtlichen Jahrhunderte zur Seite flieht *).
Die gleiche fchöpferifche Hülle - einer dichterifh kuͤhnen Einbil⸗
dungskraft offenbart. fich in den gigantifhen Baumerken ber Hindu's.
Bei allen Nationen war - die Religion die‘ Erzeugerin der höheren
Baukunſt. Sobald erft der Glaube die Welt als das Gebäude
und bie Werkſtaͤtte eines ſchaffenden Weltgeiftee erkannte, bat er
die Kunſt aufgerufen, die Idee des Echabenen und ber feften Ord⸗
*) Zu vergl: Fr. Schlegel's Philoſophie ber Geſchichte We. I.
S. 162 ff.
Kunft. 555
Sklaven gegenüber, welcher bie gemeinen, mechanifchen Beſchaͤftigungen
zugewiefen waren; für den Freien eine Gymnaſtik des Geiftes, die ihn
ganz und voll herausbülbete; demokratiſche Verfaſſungen, von einem
Semeingeifte befeelt, der jeden Einzelnen als lebend thätige® Glicd mit
dem Ganzen innigft verfchmolz, ber das Beſte aller individuellen Lei-
Aungen dem Öffentlihen Leben wibmete; endlich ein Kampf auf
Leben und Tod mit dem mädhtigften Weiche der Welt und das Voll:
gefühl ber Stärke, das ber Sieg verleiht — alle biefe geifligen und
leiblichen Elemente baben fich vielfach durchdringen und verfchmelzen
müffen, um bem Genius ber griechifhen Kunft die Fackel zu
zünden.
Gleich den meiften afiatifhen Nationen hatten bie Griechen eine
Lange und dunkle Periode der Prieſterherrſchaft. Ihre Mythologie trug
damals ein ausfchliegend gigantifches Gepräge und den Charakter bes
Ernſten und Streng, wie es auf ähnlicher Entwidelungsfiufe bei
den meiften anderen Culturvoͤlkern der Sal war, bei Indern, Aegyp⸗
tern und bei den nordifchen germanifchen Nationen. Diefen Charakter
finden wir noch in dee Goͤtterlehre Hefiod's; er reicht felbft in bie
Dichteriwerle eines Pindar und Aeſchylos hinein. Die bildenden Künfte
aber, bie fpäter bei ben Griechen nachahmende Künfte hießen, waren
in ber erſten Zeit noch fireng an bie religiöfen Weberlieferungen gebun:
den, fo daß bie Bilder der Dauptgottheiten nach feſtſtehenden Typen
geformt werden mußten. Hiernach fland noch die Kunſt auf ber Stufe
bes Handwerks und war erblich in beſtimmten Ständen und Familien
(Dädaliden), wie auch noch die Wiſſenſchaft eine gefchlofiene Schui:
und Familienweisheit war (Asklepiaden u. a.). In manden griechi⸗
fhen Städten, in Sikyon , Kreta, Argos, Athen bildeten ſich früher
ſchon zunftartige Kunftgenofienfchaften, die unter priefterlichem Einfluffe
ftanden. Aber der Uebermacht dunkler Gewalten gegenüber, bie in ben
Drieftern ihre Vertreter hatten, machte fiy mehr und mehr die Men:
ſchenkraft geltend, zunddft in den Thaten einzelner hervorragender
Männer und Familien. Die Helden traten an bie Stelle der Peiefter,
die fortan den Staat weniger beherrſchten, als ihm dienten; und bie
Deriobe des Prieftertbums ging almälig in das heroifche Zeitalter
über. Politiſch -bilbete fi nun bie Ariſtokratie eines heroiſchen Adels,
die mit ber Herefchaft ber Könige in monarchiſche Spigen auslief.
Zugleich ging in der Mythologie, darum auch auf: dem Gebiete ber
Poeſie und unmittelbar der bildenden Künfte, eine wichtige Veraͤnde⸗
rung vor. Indem man bie Heroen feierte und unter die Götter ver⸗
fegte, wurbe bie Goͤtterwelt finnlich faßlicher und menfchlich heiterer.
Die epiſche Dichtkunſt brachte fie zuerft, in Verbindung mit ber Volke:
gefhichte, zur Anfhauung; und fo wurden und blieben Homer’s
Sefänge die Grundlage aller ſpaͤteren griechifchen Kunſt. Wenn gleich
die griechifche Mythologie die ganze leblofe Natur befeelt und durch»
- göttert hat, fo mar doch gerade die höhere Goͤtterwelt nichts Anderes
als eine Mepräfentantin ber verfchiedenen menfchlichen Kräfte, eine
556 Kunſt.
Mich anſchauliche Aualyfis ber menſchlichen Natur In ihrer idealen
nung. at Götter und Göttinnen eigenthuͤmlich höher
begabte Menfchen blieben, fo mußte die Kunſt vorzugeweife auf bie
Darftellung des rein Menfchlichen gelenkt werden und frei bleiben von
jenem Uebermafe fpmbolifcher Deißgeftalten und heterogener Zufammen:
fegungen, wie fie bet aſiatiſchen Nationen und bei Aegypten fo häufig
vorfamen. Endlich Sam felbft die Maſſe bes Volkes zum Seibſtge ⸗
fühle ihrer Kräfte: die Könige wurden verjagt und bemokratifche ober
ariſtokratiſch · demokratiſche Staaten gegründet. War bie Kunft ſchon
früher Staats» Sache, fo wurde fie fortan in al” ihren Zweigen zur
eigentlichen Bolt: Sade, und eine weitere und freiere Bahn wurde
iht geſchaffen. So enbigte mit der Wertreibung ber Könige die lange
erfte Periode ber Kunft und es trat die ihres wunderbar fchnellen
Aufbluͤhens ein, befonders von Beendigung ber Perferkriege an bis auf
Perikies, der freilich kein Bedenken trug, felbft das Geld der Bun-
deögenoffen Athens auf Prachtbauten und Kunſtwerke zu verwenden.
In diefe Zeit der griechiichen Freiſtaaten bis zur macedonifchen Unter-
druͤckung drängt fich eine bichtere enge von ausgezeichneten Feld:
herren, Staatsmännern und Rebnern, von großen Denkern, Dichtern
und Kuͤnſtlern, als in Jahrtaufende unfteier Nationen. Endlich bes
ginnt mit Aleranber dem Großen bie legte Periode ber griechi⸗
fen Kunft, wo ſich biefe in weitere Kreife verbreitete und in einigen
Tpäter reifenden Zweigen vollendete *); auch ſich lange auf ihrer Höhe
erhielt, während dod ſchon die kuͤnſtleriſche Schöpfungskraft, zugleich
mit ber politifchen Kraft, mehr und mehr verfiegte.
Ueberbliden wir nun die Entividelung der einzelnen Künfte und
ihren Bufammenhang mit dem Politifchen, fo fehen wir ſchon im
Homer die Vollendung der epiſchen Poefie. Seine Gefänge, an ben
Volkofeſten von Kitharöden, Rhapſoden genannt, vorgetragen, wur⸗
den bald die Grumdlage alles Jugendunterrichts und, wie Überhaupt die
Kunſt. 557
Gelehrten*). Diefe Schaufpiele entftanden aus ben Danffeften, worin
man befonder6 nach ber Weinlefe den Sreudengeber feierte ; fo wie aus
den Wettkämpfen der Poefie an den großen gemeinfamen Feſten der
Stiehen**). Der begleitende und richtende Chor war der Mepräfen-
tant des Volks und die Veranfhaulichung des Volkslebens, auf deſſen
nur leicht bewegtem Grunde ſich das Schickſal Einzelner dramatifch
entwidelte. Der erhabene Aeſchylos war ber Erſte, der handelnde
Perſonen mit vorgefchriebenen Rollen aufftellte. Neben der Tragoͤdie
bildete fich die alte Volkskomoͤdie aus, welche, bie kuͤhnſten mythologi⸗
chen Dichtungen nicht ausfchliegend, in der böchften Sreiheit, in ber
ſchaͤrfſten und greliften Auffaffung alles Verkehrte und Laͤcherliche zus
rüdfpiegelte, was in der Volksgemeinde zum Vorſcheine kam. Die
Mufit, in weiterer Bedeutung alle Mufenkünfte umfaffend, war doch
vorzugsmeife auch ben Griechen, mie den Neueren, neben der inſtru⸗
mentalen Tonkunſt die in Töne. verſchmelzende, Im Belange fich
darftellende Poeſie. Und wie ale Bildung von der Posfie- ausging,
fo mußte diefe vor Allem auf. die. Mufit hinfuͤhren. Diefe wurde
alfo mit des Gymnaſtik die. Grundlage aller ‚Erziehung: -und von
fo... großer. politifcher Bedeutung, daß wohl Nlaton, mit beſonderer
Beziehung auf Damon, dem beruͤhmteſten Muſiklehrer zur Zeit.
des Perikles, behaupten durfte, die Muſik beffelben- Sinne nicht ab⸗
geändert werden, ohne bie Verfoffung des Staats felbit zu ändern.
Uber wie bej den Dellmen ein? allgegenmwärtige Poeſie alles: Leben
durchdrungen ‚hatte; wie felbft.;die Philafophie auf der alten: Grund⸗
lage ber Dichtkunſt ruhen blieb, mit ihter ſymboliſchen Sage und
Sprache fich befreundete und meift in ſchoͤner, klarer und leben⸗
diger Form ſich entwickelte: fo wollte das Ohr des Griechen, an
rhythmiſches Maß und Wohlklang gewöhnt, dieſen auch in ber
oͤffentlichen Rede nicht vermiſſen, und ſeldſt die Verhandlungen uͤber
Angelegenheiten des Gemeinweſens ſollten dem Volke nicht blos
ein Geſchaͤft, ſondern zugleich ein Genuß ſein. Als ſich nun an
der Hand der Poeſie und Philoſophie, ſpaͤter freilich auch unter
dem Einfluſſe der Sophiſtik, die Rhetorik zur beſondern Kunſt und
zur maͤchtigen Waffe der Politik ausbildete, wurde ſie gleichfalls
zur Muſik gezaͤhlt und als Gymnaſtik des denkenden Geiſtes in
die Erziehung aufgenommen. Dieſe Rhetorik gruͤndete ſich mehr
und mehr auf. alle Staatswiſſenſchaften, fo daß fie ſeit Perikles
Zeit gleichbedentend, mit: Staatékunſt war ***),
Die Baukunſt der, Griechen . war nicht mehr in, dem Grabe,
wie bei Indern und Aegypten, nur auf. Bearbeitung und Auf:
thuͤrmung ungeheurer Maflen gerichte. Wie in.. ihrer Porfie, fo
— — un
*) Schloſſer a a. O. J. 2. S. 18 ff. W. Müller, Homeriſche
Borſchule ꝛc. 2. Aufl. Leipzig. Brockhaus, 1836.
*r) Vergl. jedoch Schloffer a. a. O. S. 102 fi.
“rn, Schloffer a. a. O. ©, 257.
558 Kunfl.
haben fie in ihrer Architektur mue einzelne Werke in riefenhaften
„Maßen gefdjaffen, wie dem Dianentempel zu Epheſos, der, 428
Fuß lang: und halb fo breit, durch 125 jonifhe Säulen: von 160
Fuß Höhe getragen und geſchmuͤckt war. Dagegen iſt die griechlſche
Baukunft - mehe barmonifd gliedernd, mannidjfaltigere Formen in
Ihönem Ebenmaße verbindend, darum geiftuoller und lebendiger.
Es iſt nicht mehr die rohere pyramidaliſche Form, bie dem Ra-
turgefete der Schwere uͤberlaſſene aufgehaͤufte Steinmaſſe, ſondern
der aus: Pyramiden zuſammengeſette laͤngiiche Würfel, der dem
ſchoͤnen griechlſchen Tempel zu: Grunde legt, in deſſen Hauptfacade
ſich das Dieieck mit dem aus zwei Drelecken zufammengefehten
Vierecke verbindet. Und wenn ſich die Griechen in ihren Säulen
auf: drei Hauptgattungen beſchraͤnkten, auf die ſchwere doriſche, bie
fhlante jenifthe ‚und die prochtvoue Eotinthifdhe, fo mag jede biefer
Gattungen ihre "befondere Heimath :'gehabt und dem ‚Charakter bes
Velksſtamuies wo fie entftanden, entfprechen haben, während ſich
die - dreifache Kunft ber verfchiedenen:; Stämme zugleich in Arten
unb Unterarten‘ gemiſcht und: verbunden. hat. Die unbebeutenden
Wohnhaͤuſer der Griechen, im Vergleiche:. mit ihren herrlichen oͤffent ⸗
lichen Gebaͤuden, -Deisten wieder -Darauf- hin, wie ſehr die Einzeinen
im Ganzen lebten, wie innig fie mit dem Staate verſchmolzen
waren. Erſt zur Zeit des Verfalls, als Demoſthenes löbte,
haben ſich einzelne Buͤrger Haͤuſer erbaut, die mit den ‚öffentlichen
Gebaͤuden Athens verglichen werden konnten*). Wohl tritt jener
Gegenfag zoifchen Privatwohnungen und öffentlichen: Prachrgebduden
auch bei Aegyptern, Inbern"und anderen afiatifhen Nationen here
vor; aber mas hier die Uebermacht einer Kafte, ober der bößpotifche
Wille von. Einpeinen der Wollsmaffe abgezwungen hat, iſt bet den
Griechen die Wirkung eines Gemeingeiftes, ber gerade in der vel⸗
ten Freiheit der Gedanken und Empfindungen wurzelt. Die Ans
Kunſt. 559
ten Meifter Kunſtwerke erhalten haben; ob nicht gerabe bie ausge:
zeichnetfien, wie die Gruppe der .Miobe, nur geiſtvolle Gopieen ber
Urbilder find; auch die Gruppe des Laokoon und ber farnefifche
Stier find, nah Plintus, in Italien gearbeitet worden. Dom All⸗
gemeinen zum Beſonderen fchreitend,. hatte die griechifche Plaſtik, nach⸗
dem fie exſt die Feſſeln des prieflerlichen Zwanges abgeflxeift, zundchft
und zumeiſt die Darftellung folcher Eigenfchaften zum Gegenftanbe, bie
das ganze Dafein und Leben des Menfchen durchdringen, und darum
in der ganzen Geflalt und Haltung, nicht blos vorzugsweife in den
Gefichtszügen, ſich abprägen. So hatten fich denn Hohelt und Würde,
ruhige Weisheit. und finnlihe Hingebung, Kraft und Anmuth in den
erften Werken ber griechifchen Bildner verkörpert. Phidias, der Mei⸗
ftee des Hohen und Großartigen, fein Zeitgenoſſe Polyklet, ber
Meifter. in den Proportionen und in der. Schönheit jugendlicher Bil⸗
dung, brachten in diefer Richtung :bie Kunft zur Vollendung, nachdem
fhon vor ihnen über hundert Künfkter genannt. werden und gefchaffen
hatten. Die Sculptur zu: immer. größerer Freiheit führend, hatte .
Praxiteles zuerſt nad) allen "Seiten. hin ‚vollendete Statuen ausge:
führt. Dann fügte die Kunft zum Ausbrude ber Schönheit den ber
LZeidenfchaft, welcher ewig wahr, mei. er fih immer wiederholt, doch den
Moment einer befonberen Erregung feſthaͤlt und wiedergibt. . So
wird die Gruppe der Niobe dem Praxiteles oder mit noch mehr
Wahrſcheinlichkeit dem faſt hundert Jahre nach ihm lebenden Sko⸗
pas zugeſchrieben. Endlich und zuletzt trat die Kunſt in bie Sphäre
des Indivßduellen ein, indem fie im Portrait aus Stein und Erz den
charakteriſtiſchen Unterſchied des Einzelnen vom Einzelnen, das eigen:
thuͤmlich Geiſtige und Seeliſche nachbilbete. Als der Erſte für dieſe
Stufe ber Entwidelung gilt &pfipp os, der in Alerander' 8 Marmor:
bild ein. Meiſterwerk ſchuf. Die Sculptur liebt bie mehr ale lebens:
geoßen Darfellungen, und Schlegel bemerkt richtig, bag hier, wo es
auf Hervorhebung ber Form ankomme, in den größeren Dimenfionen
der ſicherſte Prüfftein für das rechte Cbenmaß und bie verhältnißmäßige
Durchgliederung liege. Doch muß das Auge das Ganze erfaflen und
in eimem Ueberblide fefthalten können, ohne genöthigt zu fein, nur
in ber Bstrachtung von Einzelnem ſich zu zerftceuen. Daher achteten
die Griechen .forgfältig auf den Stanbpunct, von bem aus ihre Kunſt⸗
werte ben Befchauenden in’s Auge fielen. Nah und nad. flieg ihre
Plaſtik, mit dee größeren technifchen Fertigkeit in ber: Behandlung bes
Stoffs,.zu Immer Bleineren Dimenfionen herab. Dieſes iſt in höherenr
Grade der: Malerei . geftattet, die mit ihren Farben, Lichtern und
Schatten das an Feine Maffe gebundene Seelenieben abfpiegelt. Wo
aber der Geiſt eben durch den Körper zum Geiſte fpricht, mie in ber
aud dem Zaftfinne ſich darflellenden Sculptur, ba foll das Kunſtwerk
der natürlichen Größe feines Gegenftandes nicht allzu ferne ſtehen.
Das allzu Kleine wird hier leicht zum Kleinlichen, und die Miniatur:
plaftit kann wohl noch einen gefälligen, aber kaum mehr einen erheben-
seo ‚Kunft.
den und begeifleenden Eindruck machen. Auch fallen jene Bleineren
Arbeiten ber Seulptur, die Gemmen, Paſten x., wenn gleidy in ber
Ausführung oft zum Moßendetften griechiſcher Meiſter gehörend, faſt
durchweg ſchon in die. Periode der abfleigenden Kunft. tie überhaupt
die Griechen mit ſicherem Naturtacte flets das einfachfte Wittel zum
Zwecke zu ergreifen mußten; fo haben fie auch das Natürliche in
der Kunft erfaßt und biernach jede befondere Kunft in ihrer eigen-
thümlihen Sphäre zu halten gewußt. Namentlich haben fie. im der
Geulptur, wo es um bem reinen Ausbrud der Geftalt gilt, im Gegen⸗
fage mit Chineſen und anderen aſiatiſchen Nationen, auf bie nur
fiörende Sarbengebung verzichtet. : Nur ihre Bötterjünglinge und Jungs
frauen, Bacchus, Apoll, Hermes, Venus, die Grazien, haben fie uns
betleider bargeftellt; dagegen alle diejenigen befieidet, wo «8 Alter
und Würde zu.fordern fchienen, einen Beus;: Neptun, Aesculap, eine
Pallas, Diana, Juno u. A.“) .Auqh hierin bat fie jener richtige
Sinn für bie. Natur geleitet, die mur.bie Blüche nackt erfcheinen läßt,
während fie das reife Fieiſch ber Fruct in die Schale -einhält.
- Bon ber Mulerei:.der Sriechen, bie einen ganz ähnlichen Bil:
dungsgang tie bie Plaſtik nahm, mamentlid) von den Werken ber ber
ruͤhmteſten Deifter, ..Dolpgnotse, Beuris, Parchafios,
Apelles, if wenig: oder nichts..auf die Nachwelt gelommen. Gpds
ter jedoch auf. dem. Boden Italiens verpflangt, find die beſonders im
Rom, Hereulanum und Pompeji aufgefundenen Gemaͤlde ein Zeugnif,
wie bie Hellenen auch darin alle früheren Nationen überragten. Das
im Detober 1830- zu Pompeji entbeckte Moſaikgemaͤlde, Alerander’s
Sieg gegen die Perfer, nannte Goethe ein Wunder der Kunfk, ein
Höhenmaß für: die Vortrefflichkeit griechiſcher Malerei. Doc iſt das
Bild ohne alle Ferne, ‚mit bloſer Andeutung eines Hintergrunde, und
bei allem lebendigen Ausdrude in den Figuren ſcheint es an :einer ger
naueren Abftufung der Farben nach den Gefehen ber. Zuftperfpective
Kunſt. 561
an jenen großen gemeinſamen Feſten der Griechen hervor. Dieſe wa⸗
ren das wichtigſte, ja faſt das einzige Band, das ſie zugleich politiſch
verknuͤpfte, ein leichtes Gewinde von Blumen, ſtatt der eiſernen Zwangs⸗
kette des Despotismus. Rechneten doch die Griechen nach Olympia⸗
den ihre Zeit, und hatten doch die Volksfeſte, ſelbſt waͤhrend der Greuel
des peloponneſiſchen Buͤrgerkriegs, alle Staͤmme friedlich vereinigt!
Auch alle bildenden Kuͤnſte traten vor die Augen des Volks in das
oͤffentliche Leben hinaus, und ſchon im Entſtehen begleitete die allge⸗
meine Theilnahme jedes werdende Kunſtwerk. So war das Volk ſelbſt
ein Mitſchoͤpfer dieſer neuen und ſchoͤneren Welt, die ſich aus ſeinem
Schooße gebat. Und wie es in ſeinen politiſchen Angelegenheiten Ge⸗
ſetzgeber war, wie aus ſeiner Mitte die richtenden Gewalten hervorgin⸗
gen; ſo war es zugleich Geſetzgeber und Richter im Gebiete der Kunſt.
Freilich fehlte es auch dort nicht an Splitterrichtern und Afterrichtern,
und der lautere Geſchmack war nicht uͤber die ganze Maſſe gleichmaͤßig
vertheilt. Aber doch konnte die Naturgabe des feineren Kunſtſinns,
wo ſie nur irgend ſich fand, im freien Genuſſe der umringenden Mei⸗
ſterwerke, im ungehemmten Umlaufe und Austauſche der Gedanken
und Gefuͤhle ſich entwickeln, ohne an das Monopol einer beſonderen
ſtandesmaͤßigen Cultur gebunden zu ſein. So war denn alle Poeſie
der Griechen im eigentlichſten Sinne Volks⸗Poeſie, was fie in unſerer
Zeit nur zum Meinften Theile iſt; und alle Kunft, in der fortdauernd
allgemeinen Wechfelmirtung bes Erzeugens und Empfangene, mar
Sache des Volks. Nur weit fie diefes war, konnte fie werden, was
fie geworden; und well es jetzt anders ift, ftehen die griechifchen Vorbil:
der In den meiften Verzweigungen der Kunft als unerreihte Mufter
de. Aber wenigftens meif’t ihre Gefchichte auf die Bedingungen hin,
die auh im Politifchen erſt gewonnen fein müffen, um der Kunft
ein meites und reicheres Selb zu erobern. Und fo mögen mir denn
mit aus diefer Urfache uns freuen, wenn mir felbft feine Griechen
fein koͤnnen, daß es einmal Griechen gegeben hat*).
In ihrer Reife wurde die griechiſche Kunſt durch Aleranber
nad) Aegypten und Syrien, an die Ufer des Nils und Euphrate, vers
pflanzt, wie fie ſich ſchon früher, meift ducch friebliche Eroberung und
zugleich mit der griechiſchen Sprache und Nationalität, in Kleinaften
und in Italien angefiedelt hatte. Unabhängig davon und früher als
in Hellas, hatte jedoch in Stalien das Bundesvolk der Etrusker
eine Kunft entwidelt, weiche, obaleich nicht bie Höhe der griechifchen
erreichend, boch eine reiche Mannichfaltigkeit fchöner Formen offenbatte.
Auch beweif’t ſchon bie Fertigkeit, welche bie Etrusker von rohen Ans
fingen aus in der Behandiung des Marmors erlangten, was durch
Generationen hindurch eine Kolge von Meiftern und Schülern, eine
ununterbrochene und von keiner Willkuͤr zerriffene Kette der Fortbildung
vorausfegt, daß die Kunfl aus dem Volksleben ſelbſt entfprungen und
*) Herber’s Ideen zur Philoſ. der Geſch. der Menſchh. III, &. 192.
©taats Leriton. IX. 36
| .
562 Kunſt.
vom Staate getragen und geſchirmt war. Wie in Griechenland hatte
ſich bei den Etruskern die Religion in den Staat verwebt, ohne daß ihn
“eine Prieſterkaſte despotiſch beherrſchte. Zugleich mußte die Gliederung
bes etruskiſchen Staatenbundes ben Wetteifer wecken und aus innerer
Kraft in Dandel, Kunft und Wiſſenſchaft mehr eine organifche Entfals
tung, als einen blos mechanifchen Fortſchritt erzeugen. Aber im Nor⸗
den fort und fort von rohen Völkern beftürmt, auf der andern Seite
von den Römern bedrängt und enblid überwunden, konnte ſich doch
die Kunft Etruriens, diefer zweiten Pflanzftätte ber europäifchen Cul⸗
tur, wie e8 Herder genannt, nit zur freien, beiteren und fiege®-
frohen Lebensanſchauung ber griechifchen erheben. Der Charakter ders
felben blieb ernft und ſtreng, mie bei ihren Ueberwindern, beren erfte
Lehrer die Etrusker geworden find.
Die weithiftorifhe Aufgabe ber Römer war es, das morſch
getoordene Gebäude ber alten Welt zu zerbrechen und auf weitem Felde
mit dem Schwerte die Suchen zu ziehen, in die fich der zerftreute
Samen früherer Jahrhunderte barg, um endlich zu neuen Saaten zu
reifen. Was die unermüdlichfle Ausdauer, ber kalt erwägende Vers
ftand, der einfchneidende und zergliedernde Scharfſinn in der Unter
werfung, Anordnung und fihtenden Auseinanderlegung aller Verhaͤlt⸗
niffe des äußeren Lebens erreichen konnte, dieſes Alles haben die
Nömer zu Stande gebracht. So haben fie ein Rechtsgebaͤude errich
tet, das mit feinem taufendfachen Fachwerke dennod, das Erzeugnif
einer eifernen Conſequenz war; ob e8 gleich, in einzelnen Theilen ver»
fhüttet, für ſpaͤtere Nationen ein Labyrinth mit zahliofen Schlupf
winteln geworden iſt, woraus es fchiwierig wurde, wieder den Aus:
gang in das friſche Leben zu finden. Aber bie heiter fchaffende Kunſt
ift den Römern lange fremd geblieben und nie ganz heimiſch bei ihnen
geworden. Selbſt in ihrer Politik und Geſetzgebung, wo fie nie jenen
raſchen Eingebungen wie die Griechen folgten, bemerken wir einen
durchweg feften, aber zugleich bedäcdhtig fortfchreitenden Bang; wähs
end die Geſetzgebung eines Solon und Lykurg, glei, einem in Bes
geifterung empfangenen Werke der Kunſt, als ein Ganzes mit einem Mal
in’s Dafeln tritt. Wie der Charakter des Volkes, fo war ber roͤmi⸗
ſche Götterdienft ſelbſt in fpäterer Zeit einfacher, rauher und ernfter,
minder entfaltet und weniger reich al& der griechiſche. In feiner flols
zen Genuͤgſamkeit bat ber Mömer fich felbft in feiner ewigen Stadt
vergättert und feiner eigenen Kraft Altäre errichtet. Sein hoͤchſter Bes
ruf war der Krieg, fein hoͤchſtes Biel der Eriegerifche Ruhm; feine
hoͤchſte Poefie der Genuß des Gieges und des Ruhmes im Triumphe;
fein tiebftes Schaufpiel das Bild bes Krieges im Circus, wo unter
dem Beifalle bes Volkes der kaͤmpfende Gladiator mit Würde und
Anftand fiel und flarb. Darum hatten bie Römer früher eine Ges
ſchichtſchreibung ale Dichtkunſt, bie fid) bauptfächlich erſt als fpät ges
teifte Zierpflanze um den Stuhl der Imperatoren fchlang und in ihren
beften Erzeugniffen nur ein ſchwacher Nachklang der griechiſchen blieb.
Kunſt. 5603
Nur in ihrer Baukunſt, ihren Amphitheatern, Triumphboͤgen, Baͤdern
und Denkſaͤulen, wo ſie ihre Prachtliebe zeigen und die Macht der
Weltuͤberwinder zur Schau ſtellen konnten, waren ſie groß und eigen⸗
thuͤmlich. Ihre Sculptur aber blieb ſelbſt zur Zeit ihrer hoͤchſten
Bluͤthe unter den Antoniern eine Nachahmerin der griechiſchen, und
Sklaven oder Freigelaſſene aus Hellas oder Kleinaſien waren ihre
Bildhauer oder Maler, oder doch die Lehrer ihrer Kuͤnſtler. Sowohl
Roͤnter als Griechen hatten alſo Staat und Kunſt auf die Sklaverei
gegründet; dieſe aber, um fi) von deggunit beherrfchen, jene, um
fie fi dienen zu laffen.
Eine neue Zeit hat ſich aus dem Schooße bes Chriftenthums ge⸗
boren. Aber Sahrhunderte hindurch dauerten bie Schöpfungstage der
cheiftlichen Voͤlkerwelt, und ehe fich aus den wilden Waffern ein feſter
Boden für die Künfte hervorhob, Puchten fie Shug und Schirm
unter dem Schwerte ber Araber. Aus bem Grunde einer herrlichen
Sprache, die Herder ber griechifchen zunaͤchſt geftellt, entmidelte die
Poeſie der Araber, in dem Maße, wie ihre politifche Bedeutung flieg,
einen wachſenden Reihtfum. Nur bis zur geiftigften Bluͤthe, zum
Drama, hatte fie ſich nicht entfalten innen. Die Baukunſt der
Araber bildete ſich nad) der byzantinifhen, die inzmifchen aus den Bes
duͤrfniſſen des cheiftlichen Gottesdienſtes entfprungen war, jebody mit
größerer Mannichfaltigkeit der Formen und mit reiherem Schmude in
den Verzierungen. Beſonders hinterließ fie in Spanien ihre Denkt:
R 7 wo vor Allem die Alhambra bei Sranada hervorragt, und mo
Jahrhundert ihrer Pracht von der Mitte des 8. Jahrhunderts bes
ginnt. Aber das Schwert der Chriften und Osmanen fällte zugleich
den grünenden Baum, und nach fchneller Bluͤthe und raſchem Verfalle
trat im weiten Umkreiſe mobamedanifcher Völker die Erftarrung noch
früher im Gebiete der Kunft, als im politifchen Leben em. Nur bie
Poefie hatte ſchon frühe und vor Mohamed in Perfien eine
begünftigende Heimath gefunden. Noch jest find Hier die Dichter mit
großer Achtung behandelt und alle Stände, mit Ausnahme der unters
fin, mit ihren Werken wohlverteaut. Ueppiger, fanfter und fröh>
licher, als die arabifhe Dichtkunſt, Hat die perſiſche doch ſtets mit
biefee in naher Verbindung geftanden. Unter den Tuͤrken dagegen bat
fie erſt fpärer, zur Zeit des Wachſsthums und auf dem @ipfel ber
osmanifhen Macht, einige üppige und biüthenreiche Zweige getrieben.
Wie überhaupt den Drientalen eine befondere Prachtliebe eigen ift, fo
ſcheint diefe auch in Muſik und Gefang hervorzutreten. Die in unfes
tee neueren Oper fo vorherrfchende Verzierung des Gefanges findet
man als vollsthümlih in den Nationalliedern ber Tuͤrken und in
denen ber vielfach orientalifirten Meugriehen, alfo, baß Im tuͤrkiſchen
und neugriechiſchen Volksliede, im befonderen Gegenfage mit dem deut⸗
fhen, der Zact oft völlig verwifcht if. Außer den Arabern haben
bie islamitiſchen Völker in der Architektur nichts Großes geleiftet, wenn
auch hier und da Prachtvolles, wie in Bochara, Samartand und einis
564 \ LKunſt.
gen anderen Städten des Orients. In Seulptur und Malerel hat
ihnen der Koran felbft, wie ben Juden das moſaiſche Gefeg, den Weg
verſperrt. Mohamed hatte gedroht, daß die Maler im kuͤnftigen
Leben für die Seelen ihrer Bilder einzuftehen hätten. Ein Blumen
ſtrauß, ein buntgefiederter Wogel, eine artige Arabeske ift darum Altes,
wohin das Talent des türkifchen Malers reicht; und wenn ſich in neues
ter Beit die Perfee mit mehr Eifer auf die Malerei werfen, fo iſt⸗ die ⸗
ſes für die funnitifhen Tuͤrke Grund mehr, ihre ſchiltiſchen Geg⸗
ner als Keger zu haſſen. X%ı nt der Türke Fein Schaufpiel, und
mas man zum Erſatze deffelben findet, iſt etwa ein chineſiſches Schat⸗
tenfpiel mit lasciven Worftellungen, oder hoͤchſtens ein Poſſenſpiel,
wie es bei Feſtlichkeiten im Harem die Sklavinnen vor dem Sultan
aufführen.
Das griechiſche Kaiferreich in feinem langen Verfalle konnte nur
die überlieferten Schäge der claſſiſchen Dichtkunſt feſthalten und bes
wahren. Um fcyöpferifch zu fein, muß ſich bie Poefie entweder von
einer reihen Vergangenheit gehoben fühlen, die noch mit lebendiger
Wirkung in bie Gegenwart hineinceicht, oder fie muß in Mitte der
ſchwellenden Keime eines neuen Voͤlkeriebens den Glauben an eine Zus
kunft im Herzen tragen. Aber im Geruche der Verwefung, bie ein
fittenfofee Hof mit Glanz und Pracht vergebens zu verſtecken ſuchte,
mußte fie ermatten und erfliden. Darum hat im byzantinifchen
Reiche die Poefie, fo weit fie noch durch das betäubende Gezaͤnke der
hriftlichen Theologen durchdringen fonnte, nur Scheinbilder des Lebe ch
nur ſchwache Nahahmungen Älterer Mufter erzeugt. Aber an ben
Ufern des mittellänbifhen Meeres, im ſchoͤnen Garten der Provence,
folte fie eine neue Heimath finden. So führt une nun bee Bildungs»
gang der Künfte in die abendlaͤndiſch- hriftlichen Staaten. Für diefe
fchließt ſich die Betrachtung am Natuͤtlichſten an die drei großen Ver⸗
Kunfl. 565
den Troubabours mar reine Naturpoefie, ein ernfthaftes Spiel mit Wors
ten, Zönen und Gefühlen, wie e8 auc die Kinder mit ihrem Spiele
ernftlih meinen. Schon im 11. und 12. Jahrhunderte hatte dieſe
Poeſie zugleich mit der provencalifhen Sprache ihre fchönfte Entwicke⸗
lung erreicht, da fi) das Gaftilianifche, Nordfranzöfifhe und Stalienis
ſche erſt zu bilden anfingen. Sie erhielt fi, bis im Anfange des 13.
Jahrhunderts der unfelige Kreuzzug gegen die Albigenfer die zarte
Blüthe zertrat und das Schickſal der Provence enger mit dem bes noͤrd⸗
lihen Frankceichs verfnüpfte. Im neuen Fruͤhlinge des eueopäifchen
Voͤlkerlebens waren diefe Troubabours die Nachtigallen: fie fangen rtur,
fo lange fie liebten, und ihe Geſang verflummte, als der Ernſt bes
Lebens das heitere Spiel ſtoͤrte.
Dom Bufen des mittelländifhen Meeres aus hatte fich bdiefe
Poeſie durch die wandernden provencalifhen Sänger auf der einen
Seite über einen Theil von Norditalien, auf dee anderen über Cata⸗
lonien und Arragon verbreitet. In Stalien, wo viel in provencalis
fher Sprache gedichtet wurde, herifchte fie bis in's 13. Jahrhun⸗
dert. Nur im poetifhen Süden, in Sicilien, entwickelte ſich frühe,
zum Theil unter der Pflege Kaifer Friedrich's II. (1198—1212), eine
eigenthuͤmlich italieniſche Dichtlunft. Ihre Quelle verfiegte jedoch mit
Ende des 13. Jahrhunderts, und an ihrer Stelle erhoben fih nun in
Bologna, bauptfächlidh aber in Florenz und anderen Städten Zoscas
nas, bie eigentlichen Begründer der national=italienifhen Poefie, waͤh⸗
rend die anderen Länder Europas kaum noch einen Dichter aufzumels
fen hatten. Wenn darin von Anfang an, dem Geifte bes Ghriftens
thums gemäß, der romantifche Charakter der neueren Dichtkunſt
überroiegend hervortritt, der nicht blos am ſinnlich Anſchaulichen fich
genuͤgen läßt, fondern im irdiſch Großen und Reizenden zugleich die
übericbifhe Sehnſucht befriedigen will, fo ift die Erfcheinung eines
Dante (geb. 1265), der ohne Vorgänger und Nachfolger war, um
fo merkwuͤrdiger. Erreichte er doch in der plaftifhen Zeichnung feiner
Geftalten die größten griechifchen Meiſter, während ihm eine roman»
tifhe Phantafie den vollen Reichthum ihrer Farben reichte und ihn die
Scholaſtik feiner Zeit mit ihren fchärfiten Verſtandeswaffen, mit al’
ihren Formen, Diflinctionen und Spisfindigkeiten ausgerüftet hatte.
Seine göttliche Komödie, von einer politifch feften, ghibellinifch ſtren⸗
gen Gefinnung erzeugt und getragen, war bie lebendigſte Abfpiegelung
des großen Kampfes der geiftlihen und weltlichen Gewalt; und mie
Dante zugleich, dee Schöpfer der neueren italieniſchen Sprache ges
worden iſt, fo hatte ihn auch Stalien geehrt, faft wie Griechenland
feinen Homer, und für die Erklaͤrung feines Werkes eigene Lehrftühle
errichtet. Dante hatte einige bedeutende poetifcye Zeitgenoffen. Nach ihm
entridelte befonders Petrarca, duch feine Iprifche Poefie, die volle
Schönheit und Darmonie der Sprache, und hatte ein Heer von Nach⸗
folgen. Reich war das 15. Jahrhundert an Dichtern und Dichterins
nen; das 16. begann mit dem „göttlichen Arioft, und noch einmal
u GT
ſtrahlte die alte Romantik mit Taffo im vollen Glanze auf. Aber
bereits vor Arioſt, im 15. Jahrhunderte, hatte der Geſchmack an der
Ironie in ben Ritterepopden begonnen, und diefe verneinende Richtung
führte auf andere, abwärts gehende Wege. Schon in ber 2. Hälfte
des 16. Jahrhunderts begann der Verfall, und vom 17. an bi in die
neuere Zeit kam nur wenig Volmwichtiges zum Vorſchein. Won der
reichen, wohlklingenden Sprache , von der leichten ſinnlichen Erregbar⸗
keit des Staliener6 und feiner lebhaften Phantafie unterftügt, unter
der befonderen Pflege mehrerer Höfe, entwickelte ſich aud frühe bei
Männern und Frauen das Talent der leichten poetifhen Improvifas
tion; zuerſt durch die provencaliſche Poefle, dann in latelnifcher und
italienifcher Sprache. Diefes Talent, das ſich hauptſaͤchlich in Toscana
und Venedig, namentlich in Siena und Verona, fortgepflanzt, ift ben
Statienern, naͤchſt ihnen den Spanien, noch jest vor anderen euros
päifhen Nationen eigen*).
An Spanien blühte ſchon zur Zeit der Troubadours bie catas
loniſche Mundart, und am Früheften hatte fi) bier der limoſiniſchen
Dichtkunſt eine eigene, national » romantiſche gegenübergeftellt. Das
politifche Uebergewicht Caſtiliens machte dann bie caftilianifche Sprache
und Poefie zur herefchenden. Diefe Sprache, mit Ihrer flolgen Pracht
und Würde, ihren Affonanzen und mwohlflingenden Reimen, war vor
Allem für den Dichter ein Element, worin er, was feinen Geiſt be—
wegte, voll und rein ausathmen konnte. Darum wurde bier Alles
zur Poefie, und kaum ift eine andere Nation reicher an dichterifchen Er—
zeugniffen und ärmer an Werken der geiftlichen und weltlichen Beredt⸗
famkeit. Das Aufbtühen der ſpaniſchen Dichtkunſt beginnt, faſt gleich⸗
zeitig mit der italienifhen und nach bem Ende der provencalifchen, in
der Mitte des 14. Jahrhunderts. Sie hebt mit einer Fülle von Ros
manzen, mit lyriſch⸗ epiſchen, kindlich poetifhen Erzählungen von rit⸗
Kunſt. 567
Mittelalters gefuͤhrt hatte; ſo trat in Spanien der Vollender der ſpa⸗
niſchen Proſa, der unvergleichliche Cervantes (geb. 1562) als ein
zue Vergangenheit redender Prophet der Zukunft auf, um über das
Mitterthum lachend den Stab zu brechen. Mit der politifchen Bebeus
tung Spaniens ſank dann auch ſeine Poefie, und mit der Herrſchaft
bes feanzöfifchen Regentenſtammes begann die Despotie bes franzäfis
fhen Geihmads. — Portugal, das ſchon feit dem 12. Jahrhun⸗
derte ein eigenes Königreich bildete, hatte fich, der Verbreitung bes
Caſtilianiſchen gegenüber, feine befondere Volks⸗ und Schriftfpradhe ers
halten. Auch die portugiefiihe Poefie, voll Glanz und Gefühl, vol
Mürde, Geift und dramatiſchem Leben, erreichte ihren Gipfel mit und
durch die Heldenzeit der Portugiefen: Camoens Luifiada erfchien
1572 In ihrer erften Auflage.
In Frankreich Hatten ſich der Iprifchen Poefie der ZTroubadours
die bauptfäkhlih aus der Normandie ausgegangenen Trouveres, mit
ihrer mehr epifhen Dichtlunft, erſt zur Seite geftellt und fpäter jene
verdrängt; indem ſich der Morden Über den Süden, die nordfrangds
fifhe über die provencalifhe Sprache das Uebergewicht erfämpfte.
Doch mit dem märmeren füdlihen Elemente noch gemifcht und zus
gleich von den Kreuzzuͤgen her mit morgenländifhen Sagen und Phans
tofieen erfuͤllt, war die galante Ritterlichkeit, die gern ſich brüftende
Tapferkeit und fröhliche Geſchwaͤtzigkeit ber Franzoſen in einer Menge
von contes et fabliaux, von NRitterromanen und Ritterepopden zum
Vorfchein gekommen. Frankreich wurde für die übrigen Nationen ein
Spiegel der Chevalerie, weil es die Blume derfelben erzeugt hatte.
Aber wo biefe am Fruͤheſten ſich entfaltet, follte fie am Erſten verbluͤ⸗
ben. rüber als Cervantes in Spanien, bielt Rabelais mit feinem
fatyrifchen Romane, in ber erflen Hälfte des 16. Jahrhunderts, dem
fcheinbar Großen feines Volks und feiner Zeit den verkleinernden Spies
gel vor. Dann flüchhteten ſich die Ideale für eine Zeit lang in bie
Schäferromane, nad dem Vorbilde der fpanifchen. Inzwiſchen hatte
fi) die Monarchie am Erſten in Frankreich auf Koften der Vafallen
befeftigt und den ganzen Staat in einem centralificenden Mittelpunct,
in das nord frangäfifhe Paris, zufammengedrängt. Wie e6 kein dfs
fentliches Volksleben mehr gab, nicht einmal in offenen Partels
kaͤmpfen, und alles Höhere in ber Gefellfchaft unmittelbar an den
Thron ſich anſchloß, fo trat diefelbe Spaltung in ber Poefie hervor.
Die fogenannte höhere Dichtkunſt trat in den Dienft der Monarchen.
Weit fie. damit ganz und gar vom Volkéboden ſich losgeriffen, fuchte
fie in der Vergangenheit, unter Griechen und Römern, ihre Dufter
und kam im Gegenfag gegen bie frühere Romantik in eine unmahre,
franzoͤſiſch⸗ antikiſirende Richtung hinein. Dieſes tritt ſchon in Cor⸗
neille (geb. 1606) hervor, wenn auch feine Charaktere noch energi⸗
ſcher gehalten find, und in kuͤhnerer Sprache noch bie Leidenſchaft mit
dem conventionellen Anflande ring. In Racine (geb. 1639), ber:
mit feiner geglätteten Sprache mehr für das feine Ohr des Hofmannes,
568 Kunfl.
als für Gelſt und Herz ber Nation geſchrieben, hat biefes
tionee ſchon überwunden. Er ſcheint in feinen Dramen ben
menſchlicher Leidenfchaft aur noch zu öffnen, um daraus ein 4
tes Kunſtfeuerwerk hervorſteigen und am Schluſſe den Namen Lost
XIV. im Brillantfeuer leuchten zu laſſen. Schon an ſich war dit
eine Vericrung ber Poefie, wenn man fie gleich als eine glängenh,
Einfeitigkeit gelten laſſen mag. Auf der anderen Geite blieb be;
Volke, dem mit feiner unverfieglichen Lebenstuft bie engften Kreife da.
Wirkens und Genießens zugeroiefen waren, kaum etwas Anderes, ah
das Leichte Lieb, die durch und durch frauzoͤſiſche Chanſon. Dok:
mug man auh Moliere, wenn er gleich bem Hofe nahe fand,
da er gerade aus jenen engeren Kreiſen des gewöhnlichen Lebens feine
ſtets wahren und ergöglihen Charakterſchilderungen nahm, als eigent-
chen Volkedichter von immer geltendem Werthe bezeichnen. Vol:
taire dagegen und bie ihm gleichſtrebenden poetifchen Zeitgenoffen
trugen mit herkoͤmmlichem Anftande die am Hofe gefepmiebeten Feſſeln
eines abſolutiſtiſchen Geſchmacks. Aber fie haben wenigftens ſchon in den
Feſſeln des Kerkermeifters gefpottet und ben endlichen Beginn des gro
Sen Dramas der Revolution mit Ziſchen vorausverkuͤndet. Diefe
beſchraͤnkende Abgemeffenheit ber früheren fcangöfiichen Poefie, die ihre
Hippokrene nur in flache Gefäße ſchoͤpfen durfte, mußte freilich) auch ö
ihre Klarheit bedingen, fo da Voltaire ganz allgemein fagen fonnte, :
„was nicht Mar iſt, iſt nicht franzoͤſiſch.“
Die Stimme iſt der unmittelbarfte Ausdruck der Stimmung.
Die Mufit, die Kunfte Sprache der Seele, des Gemuͤths oder des zu
Muthe Seins, ift bie thythmiſch fid, gliedernde Empfindung, die
in ber Melodie ihren zeitlichen Zortgang, in ber Harmonie den
Ausbrud ihres Umfanges hat. Sie ift in ihrer allfeitigen Ent»
widelung eine Acht chriſtůche Kunſt. Iſt doch ſelbſt die Idee der chriſt⸗
lichen Liebe die eines hatmoniſchen Zuſammenklanges der Empfindungen,
wie der chriftliche Glaube die Erhebung ber Seeie aus dem Zeitlichen
' Siepenfigie; ned Ger or der Große. ſchen ine 6. Jchchunberte
die alten griechiſchen Tonarten vermehrt, dene von Arezzo im
11. die Rotenfchrift vorbereitet, indem er die alte Rummerfchrift mit
den Linienfpfleme nach den Grundſaͤten, bie heute noch gelten, vers
band, und fi im 13. Jahrhunderte in Stalin die Menſurqlmuſik
verbreitet hatte. Im 14. und 16. Jahrhunderte vermehrten und’ vers
vollommmeten fich in italien bie Inftrumente. Das 15. und 16.,
weiches letztere ausgezeichnete Touſetzer (Paleſtrina u. U.) und Saͤn⸗
ger erzeugte, war bie Zeit des einfach großen Kirchengeſanges, neben
einer Reihe von Nationalgeſaͤngen, Belonders in Rom und Neapel,
dann burch ganz Stallen, wurde "bie Tonkunſt enthuſiaſtiſch getrieben.
Fur den — ermaͤchtigte ein —— Breve (eh zu Ga
ftrationen ad honorem Dei, Wie fig aber mit ber Reformation, bes
ſonders ſeit dem 17. Jahrhunderte, ber Staat von ber Kirche: mehr
und mehr ablöf'te, und bie ganze Politik eine durch und durch weltliche ,
Richtung. nahm ;. fo fchieb ſich auch die weltliche von ber Kirchenmuſik
mb gewann balb das Uebergewicht. Während des breißigiährigen
Kriege, im Jahre 1624, fah Venedig bie erſte Oper, und bie Theaters
muſik verbreitete fich ſchnell ſchon im bes. erften Hälfte des 17. Jahre
hunderts. Sie verwandelte aber audy mehr und mehr bie frühere
Einfachheit und Innigkeit in Länftlihen Schmud und finnlichen
Ohrenkitzel und riß die Kirchenmuſik in biefeibe Richtung hinein. Nur
in einzelnen Grfcheinungen, wie im 18. Jahrhundert in Pergoleſi's
„Stabat mater‘, trat noch bie frühere großartige Einfachheit und Ins
nigteit hervor. Aehnlich war ber Bildungegang in ben anderen roma⸗
nifhen Staaten. In Fran kreich hatte zwar fhon Pipin bie Or⸗
gel eingeführt, aber neben dem munteren, mitunter leichtfertigen und
auf der Oberfläche fpielenden Waubenülle, fo wie der eleganter und reis
zenden Tammuſik, konnte die wahre Kirchenmuſik und ber große Ges
— **— nie recht heimiſch werden. Der ‚ehe lebhafte - Streit der beis
den Parteien Blind und Piccini in Paris, zu Ende bes 18.
Jahrhunderts, deutet anf eine ziemlich ähnliche Spaltung in der Mus
fit, wir fie in der Poefie und im Stante bemerkbar: wurde. Hoͤchſt
wichtig find. bie Leiſtungen der Niederlaͤnder in der Geſchichte ber Ton⸗
kunſt. Die Erfindung des Contrapunctes wurde (dhon lange vor ber
muſikaliſch⸗ artiflifhen Erhebung deu Italiener durch fie vorbereitet;
bie erften Spuren deffelben befinden fi) in ben Schriften des gelehrten
Moͤnchs Hucbald aus Flandern, im 10. Jahrhunderte, alfo fogar noch
vor der Vervolllommnung der muſikaliſchen Schrift durch Anwendung
der Linien, im Sinne bes Guido d'Arezzo — denn auch Hucbald hat
biefelben ſchon vorgefchlagen, jedoch nicht in ber zweckmaͤßigen Anwen⸗
dung derſelben, wie jener. — Es iſt on J bie we ber.
muftfsliigen Schrift erſt recht fühlbne w als man auf die Idee
53. unbeeren: ſimultanen Stimmen — —— juzu⸗
Hurbald iſt der Erſte, dee von einem Zutreten mehrerer
mine zu einer Hauptſtimme ſpricht. Laͤngſt vor dem Glanze der
*
570 \ Kunſt.
Itallener hatten bie Niederländer zwei beſondere Schulen aufzuweiſen, an
der Spige der älteren Dufay (14. Jahrhundert; ausgebildeter Contra=
punct), an ber der neueren Ockenheim (15. Jahrhundert ; techniſch⸗
tünftliher Contrapunet).. In dee 2. Hälfte des 15., bis in bie 1.
bes 16. Jahrhunderts waren fie fo bedeutend geworden, daß nicht
allein Rom immer noch feine beften Mufiter ihnen verbankte, fondern
auch deren Ruhm über ganz Europa ſich verbreitete, und es iſt ſicher,
daß die nachfolgende berühmte italienifhe Schule, deren Haupt Par
leftrina (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) iſt, Alles den Niederlaͤn⸗
dern verdankt. (Sudimel, einer der zarteften, tiefften, genialften
Niederländer, war Paleſtrina's Lehrer.) Und fo blieb auch die Kunft in
Stalien fo lange rein und hehe, als fie, ihres hohen fremden Vor⸗
bildes eingedenk, nicht ſich zum überwiegend Materiellen erniedrigte.
Hier muß vor Allem bemerkt werden, daß es den Italienern ftets fehr
hoch angerechnet wird, der Melodie eine Reform gegeben zu haben;
damit HE aber wenig für die Kunſt gewonnen worden, wenn man be:
trachtet, daß dadurch das Sinnliche jetzt in der Kunft vorzuherr⸗
fhen anfing, der Grund des Werfalls ber Italiener, wie aller na⸗
tionalen Tonkunſt. Zwar aud die Niederländer mußten fallen, aber
doch aus ganz anderer, ber Beiftescultur viel würbigerer Urſache: fie
ſuchten aus der Tonkunſt eine Kunft des Verflandes zu machen, culs
tivitten fie zulegt nur noch als Wiffenfchaft. Eine Verbindung jener
melodifchen Reformen ber Staliener mit bem Geiftigen der alten Schule
bildet in der jängften Zeit Beethoven. — Faflen wir noch befon»
ders die Verbindung von Muſik und Poefie im eigentlichen Volksilede
in’6 Auge, fo finden wir bei den fühlichen romaniſchen Nationen, wo der
Kunft. 571
meifen ber Portugiefen druͤcken fi Wahrheit und Anmuth aus; in
denen der Spanier die tiefere Gluth ber Leibenſchaft und — wie in
ihrer Dichtkunſt — ein bramatifch bewegteö Leben, wofür allein fchon
das merkwürdige Lieb „Contrabandista‘“ als vollguͤltiges Zeugniß bies
nen mag.”
Wenn das Chriſtenthum in feinem erften Dauptfige, im byzau⸗
tiniſchen Katferreiche, die Poefie nicht wieder beleben Tonnte, fo hatte.
es doch urfprüngliche Schoͤpfungskraft genug, um nicht blos für Die
Mufit, fondern zugleich für Architektur und Malerei neue Fundamente
zu legen. Die Beduͤrfniſſe des neuen Cultus, bie Verſammlung der
Gemeinde im Gotteshaufe, dann auch die Erfindung der Orgel mach⸗
ten höhere Wölbungen , ausgebehntere, gefchloffene Räume nöthig und
gaben, befonbers feit Conftantin, der Baukunſt eine andere Wendung.
Es bildete ſich der byzantinifche oder vorgothifcdye Kirchenftyl, als deffen
ältefte® großartiges Denkmal die Sophienkirche in Conftantinopel in
der Mitte des 6. Jahrhunderts fi erhob. Die St. Marcuskirche in
Venedig fcheint eine Nachahmung berfelben. Neben ihr erhoben ſich
in Stalin, befonders im nördlichen Theile, herrliche Werke des bys
zantinifyen Runbbogenftyls, fo wie fpdter der gorbifhen Baukunſt.
Doc, wurde biefe Iegtere in Italien nicht recht einheimifh, denn man
Lehrte in diefem Lande, wo bie Monumente des Alterthums ber Nach⸗
bildung fo nahe lagen, leichter wieder zu diefen zurüd. Beſonders
aber gefchah dieſes, als im 14. und mehr noh im 15. Jahrhunderte
der Eifer für die Kenntniß der altclaffifchen Sprachen und Zuftände
lebhafter erwachte. Jetzt baute man nad) den Vorſchriften des neube>
arbeiteten Vitruv, fo daß fich befonders im 16. Jahrhunderte mieder
der antike griechifch = roͤmiſche Styl verbreitete, duch Bruneleschi,
Michelozzo Michelozzi und befonders Bramante, der den
fpäter häufig abgeänderten Riß zur Petersliche in Rom entwarf.
Selbſt diefes größte Monument des Katholicismus, gleihfam als Bolls
werd auf ber Grenze der Reformation errichtet, zeigt alfo ben Weber:
gang zu den heibdnifch-antiquarifchen Formen. In der Mitte des 16.
Jahrhunderts ließ Mich. Angelo Buonarotti, ein verhängnißs
voller Geiſt in der Architektur, wie in ber Bildnerei und Malerei,
feine kuͤhne Phantafie walten. Indem er das Außerordentliche als das
Höcfte geltend zu machen fuchte, trieb er feine zahlreichen minder
genialen Nachfolger auf Irrwege, die fie von ber reineren Auffaffung
bes Antiken ablenkten. Man gerieth in eine Menge feltfamer unb
ſpielender Verzierungen. Wenn bann Palladio und Anbere die
alten Denkmäler forgfältiger wieder unterfuchten, fo geſchah biefes nur
aus einer Zelt, wo ſchon die Kunft von ihrer Reinheit und inneren
Größe verloren hatte. Zwar wurde der antik⸗ italleniſche Styl in den
Wohnhäufern mit Einficht angewendet und von Stalien aus überall
hin verbreitet. Aber in bee höheren Baukunſt, ba fich Jeder fein bes
fonderes Spftem über bie antike Architektur bildete, emtfland eine
Anarchie der Meinungen und des Geſchmacke. Diefe novantide Vers
Bnkrpenienie vumeiß von den
Befulten, In’6 Große getrieben ;
wer, :usnbweitete ſich bald über die ans
2: Gpanten geſchah dieſes, wo fi
feäher, in der Berbfrung mit.ber mawtijden „anttehun, ein eigener
der ‚sinfettigem. Hessfipaft eines finnlihen Do
dem Ehriflenthume in batte, fehlen zwar diefes bie
Rosreifung von allem Irdiſchen zu
jegt weieher Da6 MWerhot bes mofaifäen
Hofn 0m Gottes aufjuftellen, geltend zu
der ‚Lehre: bob. Shi
jung. ver Frauen fand in Mara
5* * das Sa —— Liebe. rd
Heilige Sehriſt ſecibſt, fo wie zehleeiche Ueberlieferungen
enden, vieran. man bie Geſchichte der Bortpflansung des Chriſten⸗
thums Enüpfte, wurde dee Kunſt eine'Denge lebendiger Geftalten, von
geführt, werauf bes Abglang des Göttlihen ruhte.- So tung den
fm im bogamtinifäyen Beiche ber Bilderdienſt gegen: bie
Budecgur ·
inerel einen Sleg davon; body vorerſt keinen volflänbigen, ba mehl
‚eslägiäfe Gemälde erlaubt wurden, aber Statuen verboten biigben.
Darin liege: mit ein Grund für die ſpaͤtere Entwidelung und die lang»
fameren Fortſchritte der Seulptur, der fich, vorzüglich von Anfang: des
13. Jahrhunderts an, im Bufammenhange mit der Ausbildung der
Lunſt. 573
gleichguͤltige Geſtalt, und fie laſſen kalt, ober zerftären den Eindruck,
wenn wir fie in Stein gemeifelt, in Erz gebildet fehen. Darum mar
die Malerei eine Acht chriſtliche Kunft und wuͤrde ſich mit dem Chris
ſtenthume gehoben haben, hätte fie ſich auch nicht im Evangeliften
Lucas ihren befonderen Schutzpatron gefchaffen. Im Anfange ihrer
hriftlichen Wiedergeburt war ſie fo ausfchließlid auf die Abfpiegelung
des Seelenlebens gerichtet, wie ſich diefes befonders im Gefichte aus⸗
prägt, daß fie noch In Feiner Weiſe das Individuelle ber Geſtalt wies
bergab ; daß ihr die Beigabe eines verfümmerten und armfellgen, nad
ihren chriſtlichen Ideen faſt verworfenen Körpers nur ein nothwendi⸗
ges Uebel ſchien. Dagegen tritt fchon in dem erften mufivifchen Abs
bildungen des Hellands ein ideales Streben und ein phpfiognomifch
Charakteriftifches hervor. Diefer chriſtlich griechifche Styl, der bis in's
13. und 14. Jahrhundert reicht, verpflanzte fi) aus dem byzantini⸗
[hen Reiche zuerft nach Stalien, wo fon im 8. Jahrhunderte Glass
malerei, Mofait und Emaillemalerei betrieben, auch mit einer Art
Zeimfarbe (a tempera) gemalt wurde. Um das Jahr 1200 gründes
ten griechiſche Meifter in Venedig eine Malerſchule. Der Auffhmwung
der Malerei aber, worin bie Staliener, wie in der Sculptur bie Gries
chen, das Hoͤchſte erreichten, ging gegen die Mitte bes 135. Jahrhun⸗
derts von Zlorenz aus. Raſch fchritt fie ihrer Vollendung entgegen,
als fi die von dem Deutfhen Ban Eyk (1410) erfundene Del
malerei in der Mitte des 15. Jahrhunderts verbreitete, und im 15-
und 16. Jahrhunderte die Grundfäge der früher unbeachteten Luftpers
fpective in Anwendung kamen. Wie die Mufit, ja in noch höherem
Maße als diefe, wurde in Stalien bie Malerei zur eigentlichen Na»
tionalfahe. Im Wetteifer einer florentinifhen, roͤmiſchen, venetianis
fhen und lombarbifhen Schule, denen ſich zahlreiche Nebenfchulen,
namentlich eine neapolitanifche und römifche, zur Seite flellten, wurde
das Mannichfaltigſte geleifteet im Ausdrude eines tieffinnigen Ernſtes
und kuͤhner Kraft, wie in dem des edel Schönen und einfach From⸗
men, in glänzender Pracht, mie in barmonifcher,, lieblicher und finnis
ger Verſchmelzung ber Farben. Als Raphael (geb. 1483) malte,
war die Begeiſterung für das irdiſch Schöne lebhafter erwacht, ohne
daß der fromme Glaube fchon verflogen war. Heidenthum und Chris
ftenthum hatten fi) innig durchdrungen. Noch längere Zeit hielt ſich die
Kunft auf einer reineren Höhe; aber vom Ende des 16. Jahrhun⸗
derts an Im mehr und mehr ermattenden Kampfe mit den Manieriſten
oder den ſtlaviſchen Nachahmern einer gemeinen Natur. on Stalien
aus hatte ſich die Malerei nach Spanien übergefiehelt, aber ſich in
mehreren großen Kuͤnſtlern, in dem freien und kraͤftigen Naturmaler
Velasquez, in Murillos und Anderen eine felbiiftändige Haltung
bewahrt. Enger ſchloß ſich die franzöfifche Malerei in ihren Meiſtern,
Pouffin (1594) und in dem ausgezeichnetfin Landfchaftsmaler
Claude Lorrain (1600) an Stalien an. Gie erreichte überhaupt im
Anfange des 17. Jahrhunderts mit le Sueur (geb. 1617), Ch. le
574° Kunſt.
Brun (geb. 1619) und Anderen ihre Bluͤthe. Die Meiſten die ſer
Künftter waren ſchon gebildet, che Louis XIV. den Thron beftieg,
der indeſſen die hervorragenden Taiente wenigftens anerfannte und bes
ſchaͤftigte, und dadurch den Werfall verzögerte, der unter feinem Nach⸗
folger ſchneller hereinbrach. Ausgezeichnet war man in Frankreich Im
der Glass, Emailles und Miniaturmulerei, fodann in Tapetenwebe⸗
rei, wie denn bier überhaupt die Kunſt hauptfaͤchlich auf den Schmud
ausging und weniger von Innen nad) Außen ſchuf, als der Oberfläche
des äußeren Lebens gefällig ſich anpaßte.
Aus den Stürmen der Völkerwanderung; aus ber Vereinigung
kleinerer Stämme zu größeren ſtreitenden Maſſen; aus dem Kampfe
mit dem roͤmiſchen Weitreiche; aus der Berührung mit roͤmiſcher Cui ⸗
tur und mit dem Chriftenthume entftand für die germanifchen 8:
terfhhaften ein neues Leben. Die poetifchen Ueberlieferungen aus fruͤ⸗
herer Zeit, die Götterfagen und Stammesfagen, bie, aus engeren
Verhättniffen. entfprungen, nur beſchraͤnktere Geſichtskreiſe in’6 Auge
faffen konnten, mußten ſich unter der zubrängenden Maffe des Neuen
verwifchen oder völlig verſchwinden. Der wefentlich veränderte Gehalt
der germanifchen Voikegeſchichte erzeugte eine neue Volkspoeſie, neben
welcher eine gelehrte Poefie, zum Xheil in lateinifher Sprache, ober
doch im befonderen Hinblide auf alterthuͤmliche Ueberlieferungen und
Mufter, bis in die neuere Zeit fortlief. Karl der Große, der her-
vorragendfte Held diefer Gerichte im 8. und Anfange des 9. Jahr:
hunderts, wurde der Mittelpunct eines außgebreiteten Sagenkreiſes.
Er feibft hatte in weitem Umfange die Völker um ſich vereinigt, und
wenn fein Reich, woraus ſich drei große Nationen abgliederten, aus
einander fiel; fo fehlen er doch auf die Poefie die Idee und das Bebürfs
niß der Einheit vererbt zu haben. Aus weiten Räumen und fern aus ein⸗
Kunfl. 57 5
Prieftee hoben fi bie Städte Das wachſende Gelbfigefühl des
Bürgers, die über weitere Kreife ſich ausbreitende Bildung vermittels
ten den Uebergang von ber ritterlichen zur bürgerlichen Poefie bes mehr
häuslichen Lebens, die ſich zum. Meiftergefange zunftmäßig organifirte
und fi mit al’ ihren Mängeln und ihrem Reichthume vorzüglich in
Hans Sachs offenbarte. Bon der Mitte bes 14. bis zu Ende bes
16. Jahrhunderts reicht dieſe Periode über die erften Erſchuͤtterungen
der Reformation hinaus. Von Anfang an hatte die bürgerliche Dicht:
tunft viel komiſche und ſatyriſche Laune entfaltet und in oft burlesßen
Parodleen das anmaßlich Hervortretende in ber Geſellſchaft gegeißelt.
Die meift nur gutmüthige Ironie fleigerte fi im Kampfe der Par:
teien zum vernichtenden Zorne. Ulrih von Hutten, der Volke:
dichter aus dem Mitterftande, der ſchon dadurch eine veränderte Stels
lung des Adels bezeichnete, fang feine politifch = religioͤſen Freiheitsge⸗
fänge; und Luther flimmte mit feinem: „Eine vefte Burg ift unfer
Gott“ das Siegeslied der Reformation an. Schon frühe war die
Dichtkunſt und die Luft des bichterifchen Schaffens aus ben geſchloſſe⸗
nen Zünften der Meifterfänger aud in bie unteren Volksclaſſen nie:
dergeftiegen. Beſonders von Ende des 14. bis 16. Jahrhunderte
hatte die poetifche Naturkraft, in der unmittelbarften Berührung mit
einem unruhig bewegten Leben, eine Menge der herrlichſten Volkslieder
hervorgetrieben. Aber in den Kämpfen des 17. Jahrhunderts ver⸗
jtummte der Meiftergefang und vermilderte das Volkslied *),, Schon
im bdreißigjährigen Kriege trat mit bee fchlefifchen Dichterſchule (M.
Opiz, geft. 1639), die nach claffifhen Muftern fang, wieder die gelehrte
Poeſie in den Vordergrund. Die ganze politifche Schwerfälligkeit bes
deutfchen Reichskoͤrpers, mie ihn der dreißigjährige Krieg zerſtuͤckt, der
mweftphätifche Friede geflickt hatte; das breite geiftliche Sormenmefen,
das nicht von ber Stelle kam, prägte ſich zu Ende des 17. und im
Anfange des 18. Jahrhunderts auch in jenem Canzleiſtyl der beutfchen
Poeſie aus, der uns jest fo feltfam und frembdartig erfcheint. Bei
diefer Lage war es faft als Gewinn zu achten, daß das politifche
Uebergewicht Frankreich die europdifche Seuche der poetifchen Gallo⸗
mante nach Deutfchland verbreitete. Dadurch wurde das Uebel wenig-
ften® auf die Außerfie Oberfläche getrieben; und weil es über eine
ſchwerfaͤllige Nachahmung der unvolltommenen Nachahmer der Alten
nicht hinaus konnte, fo kehrte man in nothmendiger Reaction um fo
eher wieder zur Natur und Unmittelbarkeit zurüd.
Der flandinavifhe Norden, wo bie Skalden bie erſten
Bildner ber Sprache und Poefie waren, trat mit ber Reformation aus:
feiner früheren Abgefchloffenheit mehr hervor, und fortan hatte feine
Dichtkunſt mie ber deutfchen weſentlich gleiche Schickſale. In Hols
land hatte biefe im 17. Jahrhundert, zur Zeit der politifchen Größe
Gervinus,
BL. 2 ©. 236 fr Geſchichte der poet. Nationalliteratur ber Deutſchen
nn
376 Sanfl. ,
der vereinigten Niederlande, ein reicheres Leben entfaltet. Auf ben
britiſchen Infeln mar die Romantik bee Heibenzeit durch bie bes
Chriftenthums, die Gefänge Oſſian's durch bie Balladen und Roman⸗
zen der wandernden Minſtrels verdrängt morden; unter wunberlid
wechſelnden Schickſalen, welche die helmiſchen Grundfloffe mit dem
Roͤmerthüme durchmiſchten und durchdrangen, mit ben Elementen des
rein germaniſchen Nordens und mit denen des romaniſchen Voͤlker⸗
lebens. Aus Süden, Norden und Oſten mußten die Flammen auf einem
Herde zufammenfdlagen, um in Shakes peare ben größten bichterifchen
Genius zu entzünden. Er erfheint ‚auf der Schwebe der alten und
neuen Zeit, zu Ende des 16. Jahrhunderts, als die romantifhe Be:
geifterung des Mittelalters noch nicht verflogen war, und fi die heller
umfaffende, zugleich fcharffinniger eimdringende und allfeitiger ver-
knupfende moderne Lebensanfidht zu bilden anfing. Nachdem fih
Großbritannien vom europäifchen Feſtlande politiſch abgegliedert, prägte
die Poefie mehr und mehr ihren eigenthuͤmlich nationalen Charakter
aus. Wie fhon fruͤhe Verfaffung und Gefeg, von den höheren und
weiteren Kreifen an bis zum Leben in bee Gemeinde und Familie, die
freiefte und mannichfaltigfte Entwidelung der Individualitaͤten
geftattet und gefördert hatte; fo zeichnet ſich die englifche Dichtkunſt
vorzüglich durch ein reiches individualiſittes Leben aus, fo wie duch
große humoriftifhe Kraft in der Darftelung des Widerſpiels eines
eigenthuͤmlich Befonderen mit dem allgemein Bedeutenden ober für ber
deutend Geltenden. Diefer Charakter geht durch die ganze britifche
Poeſie, wenn gleih Shakespeare’ wunderbar reihe und geiſtig
durch und durch belebte Welt von Geftalten nur einmal geſchaffen
werden konnte. So ‘ft England, als die romantiſchen Ideen mehr
und mehr in den Hintergrund traten, bie Wiege bes eigentlichen Fa⸗
wilienromans geroorden, mit feinen feinen und genauen Schilderungen
—*
Kunſt. 577
An der Muſik hatten ſich ſchon die Deutſchen des früheren
Mittelalters durch ihre Geſchicklichkeit im Spiel der Blasinſtrumente
ausgezeichnet, wie die Italiener in dem der Saiteninſtrumente. Der
Unterricht darin und der Geſang gehörten zum Schulunterrichte des
Mittelalters. Als die innerlichfte der Künftle war bie Tonkunſt am
MWenigften an ben Verlauf der aͤußeren Begebenheiten geknuͤpft. Sie
hat in ungehemmtem Bildungsgange erft im 18. Jahrhunderte, befons
ders von Defterreih aus, duch Gluck und Mozart, den Shake⸗
fpeare der Tonkunſt, buch Haydn und Beethoven, ihre Glanz⸗
periode erreiht. Doch bat auh in Deutſchland die ſchaͤrfere Schei:
dung des Weltlichen und Kirchlichen, das Auflommen der Opernmufit
und ihre wachſendes Webergewicht über die Kirchenmuſik, fo wie die
Nachahmung anderer Nationen, befonders der Italiener, ihren Einfluß
nicht verfehlt; fo daß in ber neueren Zeit, neben großartigen Tondich⸗
tungen, zugleih Manier, Ueberladbung und Ueberzierung weithin herr:
fhend geworden find. Im Allgemeinen hat die deutfche Zonkunft vor:
zuͤglich in umfaffenden und tiefen Harmonieen einen eigenthüm:
lichen Charakter entfaltet. Diefes geſchah hauptſaͤchlich in ber neueren
Zeit. Namentlich wußte man beim Volksliede biß zum 15. Jahrhun⸗
derte noch nichts von Harmonie*). Diefes im Gefang lebende und
(ebenbig ſich fortpflanzende Volkslied der Deutfchen zeichnet fich bei
aller Mannichfaltigkeit in Dichtung und Melodie durch einfache Naturs
wahrheit aus, durch tiefe Innigkeit in Schmerz und Luft. Im füd:
lichen Deutfchland tritt darin eine größere Meichheit des Gefühle her:
vor; gegen Norden, befonders den Rhein abwaͤrts, ein vielfachen be-
wegtes Leben, ein größerer Reichthum der Motive. Im Allgemeinen
fagtıe& mit ber größten Unmittelbarkeit für Auge und Ohr und nad
alten Richtungen mehr das allgemein und immer Poetiſche im Leben
auf, als gerade befonders feltene Zuflände und dadurch erhöhte
Gemütheflimmungen. Es bat darum vielleicht weniger dramatifche
Kraft, obgleidy nicht geringere dramatifcye Lebendigkeit, als ber Volke:
gefang der Engländer, Schotten und MWallifer mit feinem großen
Reichthume von befonders Eriegerifhen Liedern und Balladen. Am
Volksliede der Niederländer herrſcht, wie in ihrer Malerei, eine
gewiffe Naiverdt des häuslichen Lebens; waͤhrend ber Charakter des
ftandinavifchen überwiegend ernft ift, und bei ben Normän-
nern, in eigenthümlid aufs und abfleigenden Melodieen, ſich zugleid)
eine ganz befondere Art der Compofition gewahren läßt.
Wie nad Italien, fo hatte fich die byzantiniſche Baukunſt bald
auch in das eng mir ihm verbundene Deutfchland verbreitet. Die mei-
ſten und ſchoͤnſten Baumerke der Deutſchen nach byzantiniſchem Style
fallen in die Zeiten Kaiſer Heinrich's II. und der Hohenſtaufen. Un—
geiert duch bie Denkmale einer lang emtfchwundenen Vergangenheit,
konnte fih die Architektur auf deutfhem Boden in freiefter Eigen:
*) Kretſchmer, Deutfche Volkslieder. Berlin, 1838. (Rorwort.)
Gtaats⸗Lexikon. IX. 37
878 Kufl.
thuͤmlichkeit geſtalten. Auf der Grundlage des chrifllich⸗ byzantiniſchen
gewann das nationale Element, ſchon vom 13. Jahrhunderte am, bie
Dberhand und ſchuf die Wunder der gothlfchen oder altbeutfchen Baus
Zunft, die fi) nach Norditalten, Frankteich, Großbritannien und bem
Morden Europas vergweigte. ' Diefe deutſche Kunſt trat damals for
gleich mit feft beſtimmtem Charakter auf; aber noch waren bie Ge—
bäude einfach und ohne viel Zierde. Schon während ber legten Hälfte
des 13. Jahrhunderts, wie am Freiburger Münfter, am Vorbaue des
Straßburger Münfters und am Coͤlner Dome, begann jebody die rei:
here Ausſchmuͤkung, ohne noch durch die Mannichfaltigkeit der Wer:
glerungen ber Idee des Ganzen Eintrag zu thun. Sehr bald, vom
Anfange ihrer Entmidelung bis zum Beginne des 14. Jahrhunderts,
hatte die gothiſche Baukunſt ihre Vollendung erreicht. ‚In dieſer Zeit
der ſchoͤnſten Biuͤthe trat jene Fülle der Phantafie hervor, von einer
Idee getragen und beherrfcht, mie mir fie an den gothifhen Domen,
diefen ro mant iſch en Dichtungen in Stein, beroundern und anflau
nen. Die früheren Halbkreife verwandelten ſich in Spigbogen , worin
ſich das Streben nad) oben rein und entſchieden ausſprach; die du:
len wurden zu Saͤulenbuͤndeln, zur Wielheit in der Einheit, und jeder
kleinſte Theil der Gebäude zeigte ſich wieder als ein Bild des Gan-
zen. Vom Worteshaufe ausgehend, wurde der gothifhe Styl auf an⸗
dere Gebaͤude angewendet; wie denn überhaupt noch bie Kirche zus
gleich das weltliche Leben beherrſchte, während ſich in den neuem
Kichenbauten, bie uns fo häufig an gewöhnliche Gefehfcaftshdufer,
an Fabrikgebaͤude u. dgl. erinnern, gerade das umgekehrte Werhäienif
kund zu thun ſcheint. In den erflen Zeiten bes germantfden Chris
ſtenthums hatten die Ueberlieferungen bee Baukunſt, wie alle Wiſſen⸗
(haften und Känfte, in ben Kiöftern eine noch kuͤmmerllche Zufiucht
efunden. Zur Erreihung höherer Vollendung mußten fie aus den
Kunfl. 870 °
a og auf Werfchweigung ber Kunſtgeheimnifſe zu vereiden. Fort⸗
an loͤſ'te ſich um biefelbe Zeit, als wahrfcheintich auch in England und
anderen Staaten die eigentlihen Bquvereine verſchwanden, ber allge:
meine: Berband der deutſchen Baukuͤnſtlier mehr und mehr auf. Die
mündliche Tradition der Grundfäge der Kunft ging verloren. Die
gemeinfame Wirkſamkeit verſchwand. Jeder Baumeiſter arbeitete nad)
ſeinen beſonderen Ideen und Einfaͤllen, und da man den Urſprung der
fruͤheren Formen nicht mehr ergruͤnden konnte, ſo beſchraͤnkten fich die
ſpaͤteren Steinmetzen, indem fie aͤngſtlich nur nach vorliegenden Fuß⸗
maßen arbeiteten, auf geiſtloſe Nachahmung. So kam die gothiſche
Baukunſt in Verfall und verſchwand voͤllig, da ſeit Anfang des
16. Jahrhunderts die Luſt am antiken Bauſtyle erwachte und von
es dann auch von Frankreich aus, mehr und mehr herrfchend
wurde *). '
Schon In der Mitte des 12. Jahrhunderts blühte in Cöln bie
ättefte deutfhe Malerſchule, ausgezeichnet durch religisfe Innigkeit
und glänzende Farbenpracht. Sie verzmeigte fich nad) Oberdeutſch⸗
land, wo bie altbeutfche Malerei zu Ende bes 16. und im Anfange
des 16. Jahrhunderts, alfo im Beginne der Reformation und gleich⸗
zeitig mit der italienifchen Malerei, duch Albrecht Dürer, Kranach
u. A. eime hohe Stufe erreichte; und in Nieberdeutfchland, wo feit
bem 14. und 15. Jahrhunderte die nieberlänbifche Schule entitand und
ſich ſpaͤter in eine hollaͤndiſche und flamändifche theilte. Der letzteren
verdankt die Delmalerei, durch 3. van Ey, ihren Urfprung, Sie
zeichnete fi) durch glänzende Farbengebung und Größe ber Compo»
fittonen, durch ſtarken, aber natürlichen Ausdruck, durch eine eigenthuͤm⸗
lich nationale Schoͤnheit aus. Als ihr groͤßter Meiſter erſcheint
Rubens zu Ende des 16. Jahrhunderts. Die hollaͤndiſche Schule
brachte es in der treuen Abbildung der Zuſtaͤnde und Erſcheinungen
des wirklichen und gewoͤhnlichen Lebens, die mitunter in Kleinliches
und VBebentungsiofes auslief, zur Vollendung. Lucas van Ley⸗
den, geb. 1497, iſt ihr Stifter; Rembrand ihre größter Meiſter im
Colorit. Als die oberbeutfche Malerei fhon im Sinken war, im Ans
fange des 18. Jahrhunderts und nach ziemlich langem Verfalle, hatte
fi) die Malerei der Niederländer noch einmal für kurze Zeit fomohl
in den nördlichen als füblihen Provinzen erhoben.
Bon Conftantinopel aus hatte ſich einige Aufklärung, wenn gleich
nur in ſchwachen Anfängen, unter bie flavifchen Nationen verbreitet.
Wie fih fhon im 11. und 12. Jahrhundert unter den Ruffen gute
Geſchichtſchreiber und Redner fanden, fo hatten zugleich byzantinifche
Malerei und Baukunſt, welche Iegtere fi mit den von aſiatiſchen
Völkern entlehnten Formen vermifchte, hier und da Eingang gefunden.
Aber die Einfälle aſiatiſcher Horden verdunkelten wieder das kaum
ausgebrocyene Licht, obwohl fie es nicht voͤllig verloͤſchen Eonnten, und
”) Stieglis a. aD.
87*
580 Kunft.
erſt nad) dem Verlaufe vieler Jahrhunderte follte Rußland almälg in '
dem Kreis eucopäifcher Voͤlkerbildung eintreten. Nur in den Gegen
den, wo Deutſche herrſchten, oder die mit Deutfchland in näherer Ber
ruͤhtung ftanden, an den Ufern der Oſtſee und in Polen, hier befon:
ders in der alten Koͤnigsſtadt Krakau, hatten deutfche Künfte und
hauptſaͤchtich gothiſche Baukunſt ſich anſiedeln koͤnnen. In Rußland
waren bis auf Peter den Großen faft nur Geifttiche Schriftfteller
und Dichter; und darum bie Poefie eine kaftenartig befhränfte. As
dann in etwas weiterem Umfange die Luft des poetifhen Schaffens in
den höheren Claſſen der Geſeliſchaft erwachte, hatte ſchon die europaͤiſcht
Herrfchaft des franzoͤſiſchen Geſchmacks begonnen. Nicht viel ander
war 6 in Polen, wo bis auf die neuere Zeit das Lateiniſche Die poli-
tiſche, wie die gelehrte Sprache war. Darum konnte die Poefie auf
dem ſlaviſchen Staatengebiete hauptfählihb nur im einfachen Voiksliede
mit nationaler Eigenthümlichkeit zum Vorſcheine kommen. Der ruffifhe
Volksgeſang hat, wie bei den meiften nody rohen Nationen, entweder
den Charakter einer drücenden Melancholie oder ausfchweifenden Luftig:
8 Bei dem der Polen findet fic ein größerer Reichthum der Mo:
tive; ihr ernfte® Volkslied iſt feltener melancholiſch, als ſtuͤrmiſch und
leidenſchaftlich hinreißend.
Im Bildungsgange der chriſtl ropaͤiſchen Kunſt bis zum An:
fange der feanzöfifhen Revolution erſcheint vorerft bie Hertſchaſt Karl's
des Großen ale eine entfheidende Epode. Doc konnte damals erſt
der Boden urbar und für fpätere Eczeugniſſe empfänglih gemacht
werden. Denn es fehlte noch an gebildeten Kuͤnſtlern, und
Wiffenfhaft und Kunft waren nody Fremdlinge, welde, aus dem
sömifhen Reihe eingetwandert, nur im neuen Kaiferpalafte eine gaftliche
Aufnahme und etwa hinter den Mauern der Kiöfter eine ſtille Zuflucht
fanden. Darin hielten fie ſich während der Stürme, die das Gebäude
3 bes ©
Kunſt. 581
ſpaltes zwiſchen Staat und Kirche bedurfte, daß erſt der Kampf der
Gegenfäge die ſchlummernden Kräfte wecken und ſpannen, und bie
teligiöfe Stimmung der Zeit zum vollen Gefühl ihrer Ziefe und
Stärke beingen Eonnte. Wenn ſich die Baukunft fhon früher vollens
dete, fo erfchienen dagegen Poefie und Malerei auf einer beſonders
hohen Stufe, als das Mittelalter zu Ende ging ; als die Vegeifterung
für das Heidniſch⸗Antike erwachte; als bie Reformation eine neue
Weit der Gedanken und Meinungen fhuf; als fi der Staat von
der Kirche, das Weltliche von dem Geiftlihen zu größerer Selbftftäns
digkeit abglieberte. Haft gleichzeitig in allen Staaten der Mitte und
des Weſtens läßt ſich diefes legte glänzende Dervortreten der Künfte
gewahren, die als untergehende Sonne noch einmal mit ihren ſchoͤnſten
Strahlen das Mittelalter verklären, ehe es in die Schatten ber Ver⸗
gangenheit zuruͤckſinkt. Allein eben fo gleichmäßig leuchtete damals
durch Poefie und Kunft eine Ironie duch, die ſich gegen Form und
Inhalt einer Zeit richtete, welche, früher voll Lebenskraft und jugends
licher Vegeifterung, jegt im Abſterben war. In der ganzen chriftlichen
Zeit vor bee Reformation hatten ſich Poefie und Muſik, Architektur,
Sculptur und Malerei nur verbunden, um im gemeinfchaftlichen
Dienfte der Kirche den Tempel Gottes zu ſchmuͤcken Es ift bebeu«
tend, daß hauptſaͤchlich von der Reformation an dem weltlichen
Schauſpiele und der Oper neue Tempel erbaut wurden, morin bie
vereinigten Künfte, während fie die Kirchen öde liefen, fortan
ihren wetteifernden Cultus feierten. Aber aus dem Dienfte der Kiche
traten fie in die Dienſtbarkeit der Höfe. Wohl Hatten fie ſchon früher
an ben Höfen von meiftens Fleineren Fürften eine freundliche Zuflucht
gefunden. Aber fie waren nicht unmwiberruflih an wenige Orte und
fürftliche Häufer geknüpft, da ihnen der Gemeingeift der Städte, der
Wetteifer der Regenten, die religiöfe Richtung der ganzen Zeit, bie’
den Glauben durch die Kunft und diefe durch den Glauben zu ver
herelichen ſtrebte, eine geräumige Heimath offen ließ. Als aber größere
Monardieen und unbefchränkt herrſchende Monarchen ſich gebildet; als
die Macht und die oͤkonomiſchen Mittel für die Lünftlerifche Verherr⸗
lichung des Lebens nur in den Händen weniger Machthaber zufams
menfielen, hertſchten diefe, wenn fie nur wollten, bald eben fo unbes
ſchraͤnkt auf dem Gebiete der Kunft, wie auf dem der Politik. Dies
fen Willen hatte Louis XIV., und fo murde Paris zugleich die
Hauptfladt der europdifhen Politit und Kunft, welche legtere, unter
einer launenhaft despotifchen Gewalt aller freithätigen Kraft beraubt,
immer tiefer verfiel.
Schon vor der franzoͤſiſchen Revolution begann indeß die Reaction
gegen die franzöfifche Gefchmacksherrſchaft. Neue Theorien bes Schoͤ—
nen kamen zum Vorſcheine, vorzüglich in Deutſchland mit Leſſing
und Winkelmann, die für Poefie und bildende Künfte, im Ge:
genfag gegen Werfchrobenheit und Berkänftelung, wieder auf das
Studium des wahrhaft Antiten und Naturgemäßen zurüdführten.
> Aunſt.
Dem folgte eine Menge von Kunſtlehren, von allgemeinen ober beſon
deren Geſchichten der Kunſt, und bis auf die neueſte Zeit ein langer
und breiter, bald tieferer, bald ſeichterer Strom aͤſthetiſcher Kritik.
Vergleichen wir biefe Erſcheinungen mit ber Entwidelung des antiken
Lebens, fo ſcheinen fie auf den erſten Blick nicht gerabe etwas Gutes
u verfünden. Bei den Völkern bes Alterthums kamen bie Theorieen
* ſchoͤnen Kunſt erſt dann in Aufnahme, als fi dieſe ſelbſt ſchon
zu erſchoͤpfen anfingen. Von den großen dramatiſchen Dichtern der
SGriechen ſcheint nur Sophokles, indem er feine Schoͤpfungen neben
denen bes Aeſchylos und Euripides vergleichend in's Auge faßt,
feine Kunft mit klarem Bewußtfein buchdrungen zu haben. Ariſto⸗
phanes gab nur zerflreute, wenn auch vielfach beachtenswerthe Be⸗
merkungen. Selbſt Platon lief nur einzelne Streiflichter in das Ges
biet des Schönen fallen; und ber überall eindringende Scharffinn eines
Arifkoteles ſtellte mit einiger Vollſtaͤndigkeit nur eine Theorie der
Tragödie auf. Um biefe Zeit. erhielt fich wenigftens bie Kunſt ber
Griechen noch auf ihrer früheren Höhe, wenn fie gleich nicht mehr zu
weiteren Stufen vorfchritt- Als aber, von Ende bes 2. Jahrhunderts
nah Chriftus, Plotin, Philoſtratus und Longinus ale Be
gründer einer neuen Aefthetit auftraten, die den Gedanken über bie
Form erhob, fiel diefe gerade mit dem fichtbaren Abfterben der Kuͤnſte
zufammen *). Ueberhaupt laͤßt ſich bemerken, daß bei den Nationen
bes Alterchums fo Philofophen ale Sophiften gleichfam als die Ana;
tomen des Volkslebens erfcheinen, und erſt forfchend und zergliedernd
in dieſes eindringen, wenn ber fchaffende Geiſt ſchon entwidhen iſt.
Allein diefe Nationen führten mehr, als bie neueren Völker, em in
ſich gefchloffenes Leben, das ſich mit dunkel inflinetmäßigem Natur:
triebe aus einer nationalen Wurzel entfaltet. So lange noch
„die Säfte friifh waren und ſtets von Neuem trieben, gab man fich
wenig mit ihrer philofophifhen Würdigung ab, bie mit voller Breite
erſt im Greiſenalter hervortrat, das fo gern betrachtend auf ber Wer
gangenhelt weilt, weil es nicht mehr die Kraft hat, fi) eine Zukunft
zu fchaffen. Durch die neuere Zeit Iduft aber von Anfang ber Ge:
genfag einer überlieferten fremden Cultur mit dem urfprünglidy ger»
manifhen Volksthume; während fih auf dem allumfaffenden Boden
des Chriftenthums eine Reihe verfchtebener Nationen als vielfach vers
bunden und verfchlungen ertennen mußte. So war man benn frühe
zur umfaffenden und prüfend vergleichenden Betrachtung des in der
Einheit verbundenen Mannichfaltigen aufgefordert; und fo konnte bie
Philoſophie dee Schulen neben ber Eräftigen Entfaltung des Lebens
beftehen, wie Died namentlich in, bee fcholaftifch » romantifchen Periode
des Mittelalters ber Fall war. Und weil hiernach Speculation und
Reflerion in den neueren Bildungsgang fort und fort verwebt find,
nn
Geſchichte der Theorie ber Kunft bei ben Alten von Dr. E. Müller,
2 a0. esta, 1834 u, 1835. r
fo werden neu entftehende Philofophieen und philoſophiſche Syſteme
eben fowohl den Beginn eines Eräftigeren Lebens ankündigen koͤn⸗
nen, als fie im Alterthum das Ende beffelben bezeichneten.
Dies gilt auch von der umfaffenden und tiefer eingreifenden Phi⸗
tofophie ber Künfte, die von Ende des 18. Jahrhunderts an zum
Vorfcheine am, da fie zugleich von tüchtigeren kuͤnſtleriſchen Produc⸗
tionen’ begleitet oder gefolgt war. Namentlich in Deutfhland, to die
Doefie im Gegenfage zu dem feanzöfifhen Geſchmacke an bie Mufter
der Griechen ober Briten gewiefen, oder an bie Herrlichkeiten alts
germanifcher Zeit erinnert und in mandherlei Richtungen hin und her
gezeret wurde, lernte fie body endlich wieder eine eigene Bahn verfolgen.
Schon Leffing, Klopſtock und Herder waren mit lange uner⸗
hoͤrter Seibftftändigkeit aufgetreten, und wenn ſich noch Wieland
den Franzoſen enger anſchloß, that er es doc mit größerer Freiheit,
als man früher gewagt hätte. Mit Goethe aber, ber im ſchaͤrfſten
Gontrafte gegen ben bisherigen Geſchmack die Poefie zur unmittelbarflen
Naturwahrheit zurüdführte, wurde in Deutfchland die Mevolution ber
Dichtkunſt ſchon vor der politifchen in Frankreich vollendet. Mit und
neben Goethe entfland durch Schiller, Jean Paul, durch bie
romantifch » altbeutfhe Schule Tieck's und dee Schlegel unb fo viele
Andere ein Dichterkreis und eine Periode der Dichtlunft, wie fie
Deutfchland niemals glänzender gehabt hatte. Auch in Frankreich
ließen fich ſchon vor der Revolution einige leichtere Anfänge des fpäteren
Streites einer claffifhen und vomantifchen Poefie bemerken; und in
Stalien hatte Alfieri, freilich noch mit ſteifer ariftotelifcher Regel
mäßigtelt, feine ernften und männlidhen Toͤne der Weichheit und
Weichlichkeit Metaſtaſio's entgegengefest. Kür Architektur und
Sculptur hatte das tiefere. Eindringen in den Geiſt des Antiken wenig⸗
ſtens die Anfichten geldäutert, während für die Malerei mit Bien in
Frankreich, mit Raphael Mengs in Deutfchland zugleich in Theorie
und Praris die Dämmerung einer neuen Periode anbradı.
Diefe Periode felbft Lam für Staat, Wiſſenſchaft und Kunſt mit
bee franzöfifhen Ummälzung. Wie nun biefes große Weltereigniß
alle eucopdifchen Nationen in ein Schickſal verfchlungen hat, fo finden
wie auch im ihrer neueſten Kunftgefchichte weſentlich diefelben Momente
ber Entwidelung. In Frankreich hatten fich zuerft die Maſſen erhoben,
unb fo war hier zuerft eine neue, politifch = revolutiondre Volkspoeſie
entflanden. In diefem Volksgeſange, der in feiner eigenthümlichen
Weiſe fo fehr gegen alles Srühere abſtach, ſprach ſich entweder die höhere
Begeifterung der Kreiheit aus, die Todesverachtung, bie flolze Hoffnung
und Zuverfiht des Sieges, wie in ber Marfeillee Hymne; oder bie
zerſtoͤende Wuth gegen das Beſtehende, der biutbärflige Hohn ber
Vernichtung, wie im „Ga ira“, ber Carmagnole und Anderem. Unter
ähnlichen Verhaͤltniſſen hatten die Spanier ihr Tragala, die Polen
im Jahre 1831 ihre Kampfestieber und politifchen Spottlieder. Es ift
merkwürdig, aber aus ber Zeit ber Aufregung und dem Verſchwinden
des Einzelnen in den Maffen zu erklären, dag bie Verfaffer folder
Lieder, welche von Millionen gefungen wurden, welche Schlachten ges
winnen und das Schickſal der Staaten entfcheiden halfen, nicht felten
unbefannt geblieben find. Auch Deutfchland hatte im Jahre 1813
und 1814 feine Zeit der politifhen Erhebung, und in den Gebichten
eines Koͤrner und Schentendorf, eines Rüdert, Arndt u. A.
in Ernſt und Spott eine Poefie der Freiheit, der patriotifhen Hoffe
I, des Haffes gegen die Unterbrüdung. In Frankteich, wo feit
der Deflanration wieder der Kampf der alten mit dev neuen Gefellfchaft
—8 begann, dichtete vor Alen Beranger feine aͤcht nationalen,
wefentlich politiſchen Lieder. Sie find zum Theil eigentliche Volkslieder
geworden, und, von Zaufenden gefungen, find fie eben fo an innerem
politifhen Werthe als an focialer Wirkfamkeit gewiß das Bedeutendfte,
mas bie neuere franzoͤſiſche Poefie erzeugt hat. Aehnlices‘ gilt in
Deutſchland von den patriotifhen Gefängen Uhland’6, Auers:
perg's u. X. während der verfchiedenen politifhen Krifen der neueften
Beit. In Italien feierten Gefarotti, Pinbemonte, Foscolo
in männlichen Klängen die Hoffnungen bes Vaterlandes. Unter den
Polen reihte ſich befonders Mieskiemwicz durch feine Gedichte vol
Schmerz Über ben Untergang und voll Glauben an bie Wiedergeburt
feines Vaterlandes, den größten Dichtern des Jahrhunderts an. Wenn
alfo Goethe bie Politit für Leinen paffenden Gegenftand des Dichters
gelten laffen mag, wenn er von Uhland fagt, daß der Politiker den
Dichter aufzehren werde, und vom Engländer Thomfon, daß er ein
ſehr gutes Gedicht über die Jahreszeiten, ein fehr ſchlechtes über die
Freiheit gefchriehen habe *); fo wird man feiner Bemerkung in bem
vollen Umfange, wie er a ſcheint, —— beipflichten
5 8
Kunft. 585
eine aͤußerſte Spitze getrieben; aber aud in allen andern Ländern
Europas hatte die ſchmerzlich empfundene Verlegung der Volksthuͤm⸗
lichkeit ein beutlicheres Bewußtfein derfelben und ein gefteigerte6 Nationals
gefühl erzeugt. Alle Poefie ſollte jegt nad Form und Inhalt einen
dolksthuͤmlichen Charakter zur Schau tragen, und wo nicht ſchon früher
die Feſſeln des franzoͤſiſchen Geſchmacks abgeworfen waren, begann
doch jegt dee lebhafte und erfolgreiche Kampf für die nationale Emans
cipation dee Dichtkunſt. Diefes zeigte fi vom Süden unferes Welts
theils bis in den ffandinavifhen Norden und felbft auf dem flavifchen
Staatengebiete, in der Entitehung ruffifcher und polnifher National
poefieen; ja es zeigte ſich hier am Augenfälligften, wo man noch am
Wenigften felöftfländig aufzutreten gewagt hatte. Bei biefem Beſtreben,
alle poetifhen Erzeugniffe aus nationalen Mittelpuncten hervorgehen
zu laffen, wurde die Dichtkunſt darauf hingeführt, die Vergangenheit
der Völker mehr in's Auge zu faffen und aus tiefer liegenden hiſtoriſchen
Wurzeln ihre Blüthen zu treiben. Und wie ſich die Nationen in den
neueren Volkskriegen wieder als Gefammtheiten hatten begreifen lernen,
fo trat namentlich der Roman aus dem engeren Kreiſe des Familien
lebens heraus, um ſich in den hiſtoriſchen oder nationalen zu verwandeln.
Es bedurfte in Großbritannien nur der Anregung duch W. Scott,
um bdiefen hiftorifchen Roman durch ganz Europa die Runde machen
zu laffen. Wenn aber die Vermifhung aller Nationen durch die neue
militärifche Völkerwanderung bes 19. Jahrhunderts mit bazu beigetragen
hat, um jede Nation, in der Berührung unb im Gegenfage mit bem
Fremden und Sremdartigen, ihre Vefonderheit tebhafter empfinden und
ſchaͤrfet erfaffen zu laſſen, fo mußte doch zugleich aus der Gemeinſchaft⸗
üchkeit des Leidens und Handelns ein gtoͤßcres Intereſſe von Volk an
Volk entfiehen, fo wie die Luft, fich vergleihend einander zur Geite
zu fielen. In dem Maße, als ſich nach bergeftelltem Frieden der
materielle Verkehr erweiterte, ja vieleicht nod) in größerem Umfange,
hat fi darum auch der geiftige Verkehr ausgedehnt. Vor Allem ift
in der neueften Zeit ein poetifcher Weltverkehr entftanden, wornach
alles irgend Bedeutende, was eine Nation erzeugt, alsbald auf das
Sprachgebiet jedes anderen Volkes verpflanzt wird, und bies um fo
eher, je eigenthuͤmlich nationaler ſolche dichterifche Erzeugniffe find *).
Am Entfiebenften hatte Frankreich mit feiner Vergangenheit
gebrochen und fo viel mit der Gegenwart zu fhaffen, daß hier ber
hiſtoriſche Roman, nach dem Walter Scott'ſchen Mufter, am Wenigften
einheimifh wurde. Die Oppofition gegen das, was vom früher in
die Gegenwart hemmend eingriff, fo weit fie nicht unmittelbar politiſch
wurde, wie in Beranger”s Liedern, zeigte ſich im Bereliche der
Dichtkunſt in dem Iebhafteren GStreite der als kecke Meuerer auftretens
den Romantiter mit den Giaffitern der ältfranzoͤſiſchen Schule. Aber
noch eine viel umfaffendere Oppofition, gegen den ganzen Buftand ber
*) Siehe den Artikel Ein heit.“
586 Kunſt.
Geſellſchaft gerichtet, ſollte in zahlreichen Dichtern bes 19. Jahrhunderts
eine Vertretung finden. Die franzöfiihe Revolution und ihr ganzes
Gefolge von Ereigniffen hatte fo hochgefpannte Hoffnungen gemwedt
und fo viele Erwartungen getäufht, daß in den noch fortbauernden
Wehen ber focialen Wiedergeburt eine Porfie entftand, die man Poefie
der Verzweiflung getauft hat. Ihre Lühnften Workämpfer waren in
England Byron und Shelley; in Deutfchland gab ber Geiſt der
Verneinung einem Boͤrne und Heine die ſtachlichte Ruthe im bie
Hand; in Frankreich hat er den neueren foclalen Roman erzeugt.
Diefe franzoͤſiſche Romantik, fo lange fie im Genuffe der Faͤulniß zu
ſchwelgen ſchien und ohne Hoffnung der Auferftehung nur die Krank
heiten der Gefelfchaft bis zum Ekei ausmalte, hat mande widerliche
Ungeftalt zu Tage gebracht. Es laͤßt ſich jedoch bemerken, daß fie ſich
im der neueren Zeit mehr pofitiven Gehalt anzueignen ſtrebt; daß fie
in bee Darftellung der Gegenwart eine Zukunft durchblicken läßt; daß
ſich darin namentlid "die Träume der neueren Socialiften, welche doch
mitunter eine prophetifche Bedeutung haben, in mancherlei Geftalten
verkörpern. In dee deutſchen Literatur hatte ſich beſonders das foges
nannte junge Deutſchland mit ähnlihen Schitdereien befaßt. Man
hat kurzer Hand den Spiegel zerfhlagen, aus dem unfere Zeit freilich
nur im Zerrbilde, aber auch in der Verzerrung erfennbar, hervorfah.
Allein wenigſtens kann man nicht hindern, daß Alles, was die Gegen»
mart_ bewegt, bie Mipftimmungen und Leidenfchaften der Geſeliſchaft,
die Wahrheiten und Vorurtheile, die Sitten und Unfitten ber Zeit,
in dee Poefie eine Stätte finden; und daß ſich unter der dichterifchen
Hülle im Roman und in der Novelle abfpiegelt, was die Cenfur dem
politiſchen Schriftſteller nicht geftatten würde, in feiner Bloͤſe zu zeigen.
Die revofutionäten Nationallieder der neueften Zeit führten noths
Kunſt. 587
digere Sammlungen von Volksliebern und. Volksweiſen wohl begonnen,
x aber leiber nicht fortgeſezt wurden *). Ein fcharfer Beobachter des
neueften Volkslebens **) hebt es als eine merkwuͤrdige Eigenheit her⸗
vor, daß die Muſik, die fchönfte und erhebenbfte aller Künfte, fo wenig
bei ten Voͤlkern betrieben werde. Im Sinne einer fchon dem
KröPs zugefchriebenen Aeußerung: „Willſt du Sklaven, fo gib ihnen
Muſik“, meint er geradezu behaupten zu bürfen, daß gefühlvolle, ſenſi⸗
tive Individuen und Nationen, wo die Tonkunſt hauptſaͤchlich einheimifch,
nicht für bie Freiheit geboren fein. Darum made jegt die Muſik
in Frankteich weit feltener, als fonft, einen Theil der männlichen Er»
ziehung aus. Sie werde überhaupt weniger in England als in Frank⸗
reich, bier weniger als in Deutfhland, bier meniger als in Stalien,
am Wenigſten aber in Nord» Amerika getrieben, wo man noch von
feinem Staatsmanne oder fonft einem Manne von ausgezeichneter
Stellung gehört, daß er ſich mit the befaßt habe. Den Grund hiervon
ſucht er theils in dem für muſikaliſche Fertigkeit erforderlichen Zeit:
aufwande, wie ihn der haushaͤlteriſche Norbameritaner wohl den Frauen,
aber nicht den Männern geflatte; theils in deſſen Behutſamkeit gegen
jebe Aufwallung oder fentimentale Aufweichung des Gefühls, wohn
die Mufit, indem fie allmältg weicher ſtimme, leicht hinfuͤhre. Diefe
Bemerkung ift indeß in ihrer Allgemeinheit nicht richtig. Wahr ift
nur, daß eine ſolche Weichlichkeit der vorhertſchende Charakter ber
neueften Mufit if. Aber wie ihrem Bebiete das ganze Neid, ber
im Zone barfielbaren Empfindungen angehört, fo muß fie nicht blos
eine deprimirende, fonbern auch eıne Eräftig belebende und erhebenbe
Wirkung dufern Sinnen. Gedenke man doch an die Weiſen felbfl
vieler neueren Schlachtlieder, Jagdlieder u. f. w., wie fie al& ber Aus»
drud einer bewegten flarten Natur zugleich im Sänger und Hörer
die Nerven fpannen und bie Thatkraft ſteiger. Die Behauptung,
daß bie Mevolution in Frankreich der allgemeineren Culture der Muſik
Eintrag gethan, möchte ſich eben fo wenig rechtfertigen laſfſen. ie
bürfte etwa nur für die überhaupt tonlofer, mitunter auch tactlofer
geworbenen hoͤchſten Stände ber Geſellſchaft gelten. Selbſt bie nad)
allen Richtungen Hin zerflörende Revolution ift wenigſtens für bie
Muſik gar bald erhaltend geworden. So hatte ſich nach Zerftörung
der früheren Concertanſtalten ſchon im Schreckensjahre 1793 das Con»
fervatoice gebildet, für ausübende Muſik wohl noch jest das bebeutendfte
Inſtiteu in Europa. Auch fcheint gerade in neuerer Zeit und unter
den unteren Claſſen, namentlidy unter ben Handwerkern in Paris,
der den Franzoſen früher fo ganz fremde männliche Chorgefang unter
deutſcher Anleitung Eingang zu Anden.
Im einer Zeit, die überall bin fo viel mit Niederreißen zu thun
und noch Beinen ficheren Glauben an ihre Zukunft gewonnen bat, wo
So: „Baumſtark's Bolktgeſaͤnge.“ Darmftabt. Yabft, 1836.
a Dr Befafe im Rear beiden Hemifphären.”
W |
im Schwanken der Meinungen und Intereſſen felbft, der Boden noch
wankt, auf dem das Gebäude der Geſellſchaft ruhen fol, hatte am
Wenigften die Baukunſt großartige Werke von entſchiedenem Charakter
zu Stande bringen koͤnnen. Wie ſich jegt auf jedem befonberen
Sprachgebiete die Poefie aller Zeiten und Wölker anzufieden file, fo
laͤßt ſich in der Architektur ein Nebeneinander der verſchiedenſten Bau⸗
fiyle, ein Aufgreifen bald des einen, bald bes anderen bemerken.
Nur darin läßt ſich in der neueften Zeit ein Fortſchritt nicht verkennen,
daß bie Eigenthümlichkeit jedes befonderen Styles ſchaͤrfer aufgefaßt
wird; daß bie feltfamen und unnatärlihen Miſchungen berfelben minder
häufig geworden find. Ein frommer Sinn öehertſcht nicht mehr mit
der früheren Ausfchließlichkeit alles Leben, und in doppelter Bedeutung
gibt es weniger veligisfe Erbauung. Das Weltlihe ift in feine Rechte
eingetreten und greift anmaßlic oft über feine Sphäre hinaus. Ale
find vor Allem bedacht, fo bequem es gehen mag, ſich in biefem zeit:
lichen Proviforium einzurichten. Darum wurde fon oft bemerkt, daß
wir Beine Kirchen mehr und nod weniger Kirchthuͤtme zu bauen wiſſen,
während Handelsbörfen und Fabriken, freilidh auch Gafernen und
weitſchichtige Sanzleigebäude, zum Beſten gedeihen. Ueberhaupt werden
die großen Werke der veligisfen Baukunſt nur da entfliehen, wo ein
Glaube und ein Geift größere Maffen durchdringt, wie in Griechen,
land und im Mittelalter; ober wo die noch geiſtig todte Maffe einem
einzigen Willen zu unbebingtem Gehorfam unterworfen ift. So iſt
die Iſaakskicche in Petersburg der Ausflug eines unbefchränkten Paifer-
lichen Willens, die großartigſte Schöpfung der religiöfen Baukunſt in
der neueften Zeit; ein gleich großartiges Werk biefer Art wird in
Moskau unternommen. Im übrigen Europa find bie alten Bande
der Geſellſchaft ſchon morſch geworden, oder völlig zerriffen. Und wie
bei einer Feuersbrunſt die Meiften nur ſich felbft und ihre Habe auf
Kuf. 589
ein Staat, ober doc VBeherrfcherinnen eines. Staates. Sie hatten
mit Mauern, Wall und Graben ihre Grenzen zu ſchuͤtzen. est haben
die Staatögebiete fich ausgedehnt; die Keftungen find den erweiterten
Grenzen zugerüdt und zahlreiche Städte, welche die Beflimmung vers
toren, Feſtungen zu fein, haben ſich aus der Beklemmung dee MWälle
und Mauern befreit. Sonft hatten ſich feftgefchloffene und privilegirte
Gorporationen auf dem eng gemeſſenen Stabtgebiete in meift hoben
Häufern, In zufammenhängenden Häuferreihen und engen Straßen
zu Schug und Trutz an einander gedrängt. Jetzt Lebt man bie mehr
in Länge und Breite fi dehnenden Wohnungen, die getrennten
Häufer, die breiten Straßen; und weil bie Privilegien ber Städte
meift verfchwunden find, haben fich gewerbliche Anlagen bderfelben Art
auch in den Dorffchaften verbreitet, fo dag Stadt und Land, wie fie
politifch gleicher fliehen, auch in der Lebensweife und im äußeren Anfehen
fi) nähern. — Entſchiedener als in der Baukunſt ift der Auffhwung
in dee Sculptur feit Anfang dieſes Jahrhunderts. Schon haben
mehrere europäifche Nationen mit Canova und Thorwaldſen, mit
Danneder, Raub, Tiek, Schwanthaler, mit Ohmacht,
David, Zoyatier und Anderen eine nicht geringe Zahl ausgezeich-
neter Meifter aufzumeifen. Im Anfange ihrer Wiedergeburt nahm die
Sculptur, bie Ueberlieferungen und Dioden des 18. Jahrhunderts von
ſich werfend, befonders in Frankreich und Italien, eine ſtreng antiki⸗
firende Richtung. Seibft Napoleon wurde noch von Canova
nackt dargeſtellt. Erſt fpäter wagte man es wieder, ſich an bie volle
Erſcheinung in der Gegenwart zu halten; fo dag man nun einen
Napoleon mit Hut und Ueberrod auf dem Vendoͤmeplatze ſieht, einen
Blüher, Scharnhorft und Bülow in preugifhen Uniformen
vor dee Hauptwahe zu Berlin ”).
Ein noch reichere® Leben hat fih in der Malerei entfaltet.
Namentlidy gilt dies von Deutfchland und Frankreich. Doc hat aud)
Stalien daran Theil, durch Gamuccini, Sraffi, Benvenuti,
befonders Agricola von Urbino u. f. w. England hatte in Th. Law⸗
rence einen der vorzüglichften Portraitmaler, in Flarman einen
der genialften Skizziften; es befigt in D. Willie einen der trefflichiten
Genremaler und fonft noh in Davis, Haidon, Wilfon u. 2%.
eine nicht unbeträchtliche Zahl tüchtiger Kuͤnſtler. Wie die franzöfifche
Revolution centralifirt und im verfchiedener Beziehung antilifirt hat,
fo bat auh David, der Schöpfer der neueren franzöfifhen Malerei,
biefe antike Richtung eingefchlagen und zugleich alle Kuͤnſtler m feiner
Schule herrſchend vereinigt. Seit dem Aufhoͤren dieſer David’fchen
Dictatur haben die Franzoſen nur ein Gewirre wiberflzeitender Manieren
und feine eigentlihe Malerſchule mehr, fondern nur einzelne hervor»
ragende Meiſter und wechfelnde Gruppen von Nahahmern, bie ſich
— — —
+) Bergl. auch: „Verhaͤltniß der Kuͤnſte zur politiſchen Entwickelung ber
neueſten Zeit.“ Deutſche Bierteliahrsfchrift, Juli — Sepi. 1839.
590 Kunſt.
um dieſe bilden. Wenn Delacroix und Decamp mehr das Lehm
in feinen augmbli@tih feappanten Erſcheinungen barflellen, faßt es
Ingres, der fi durch gebiegene Zeichnung und Abel ber Formen
auszeichnet, meift in fpmbolifdy poetifher Weife auf, während Dela: :
voche, als naturaliſtiſcher Geſchichtsmaler, eine Art Juſtemllien bildet.
Der modernen und befonders ber franzoͤſiſchen Glaubensleerheit gegen» ·
über, hatte ſich in Deutfchland ſchon duch Tieck umd die Schlegel
eine Batholifitend scomantifche Poefie gebildet und eine Zeit lang fogar
eine geroiffe Heerfchaft behauptet. Wie nun meiſtens die Poefle den
bildenden Kümften den Weg zeigt, fo hatten bie jungen beutfchen
Künftter in Rom, darunter Cornelius, gleichfalls eine Fatholificend-
altdeutſche Richtung eingeſchlagen, etwa bis zum Jahre 1820 hin,
alfo in derfelben Zeit, wo in ben politifhen Beſttebungen dee deutſchen
Jugend verwandte Tendenzen zum Vorſcheine kamen. Nach Deutfch⸗
land zuruͤckgekehrt, gründete Cornelius zuerft in Düffeldorf eine
Schule, die er dann nach Mündyen verpflanzte und bier ermeiterte.
Diefe Schule, ſchon in ihren erften Verſuchen auf groge Mäume und
die Behandlung ernfter und grofartiger Gegenftände hingewleſen, bildete
hauptfädlich bie Frescomalerei. aus und entwidelte eine Tendenz zum
Hochpoetiſchen und kraͤftig Einfahen. Sie bearbeitete die Mythologie,
Sriftliche Symbol, die Heldenfagen und großen vaterländifhen Ge
ſchichten des Mittelalters. Indem fie aber, wie bie ditere chriſtliche
Malerei, hauptſaͤchlich nur ben Ausdrud des Gedankens in feinem
Hauptzügen fuchte, konnte fie ſich weniger mit dem Studium einzelne
Naturerfheinungen befaffen, wie dies hauptſaͤchlich für die Ausbildung
der Delmalerei und ben vollen Ausdrud der Naturwahcheit im Reij
dee Farben» und Lichtwirkung erforderlich ift. Darum haben ſelbſi
Kınft. - 591
Heldenfages ging weniger von der freien Ausführung eines Gedankens
aus, als von einer treuen Nachahmung ber Erfcheinungen, wodurch fie
über ihre Werke den Reiz einer genauen und liebevollen Naturbeobadhtung
verbreitete, aber die Begeiftigung diefer Erſcheinungen durch bie Idee
nicht felten allzu ſehr in den Hintergrund rüdte.. Darum hat bie
Düffeldorfee Schule, mehr noch als in der ernft hiftorifhen Malerei,
in der Landfhaft und im Genre Vorzügliches geleiftet. Nach Jahr⸗
hunderten fcheint alfo der Geiſt der niederländifhen und oberdeutfchen
Malerei nahe in benfelben Gegenden, wo er früher heimifch war, wieder
auferflanden zu fein. Die größten Meifter der Düffeldorfer Schule
find Zeffing, mit feiner Huffitenpredigt und manchen anderen, ber
neueren Gefchichte und Poefie hauptſaͤchlich entlehnten Stoffen, und
Bendemann, der Schöpfer bes berühmten Bildes „Jeſaias auf den
Trümmern von Serufalem.” Leffing ift eben fo ausgezeichneter Lands
ſchaftsmaler, und in feinen Lanbdfchaften, wie in feinen hiſtoriſchen Vils
dern, teitt ein durchaus deutſcher Charakter hervor. Schirmer und
Ahenbad find berühmte Landfchafter und jener befonder6 ausge⸗
zeichnet. Auch Sohn mit feiner plaftifhen Malerei und namentlich
feinen reizenden Darftellungen des weiblich Nadten; Hübner, der
mit feinem Hiob Großes verſprach; Steinbrüd mit feinem fchönen
Senovevenbilde und Andere treten bedeutend hervor. UWeberhaupt fcheint
der Reichthum ber Zalente in der Düffeldorfer Schule, obgleich diefe
in einzelnen Schöpfungen von ber Münchener überragt werben mag,
am Größten zu fein; fo daß fi auch in der Malerei ein ähnliches
Verhaͤltniß, wie früher in ber Volkspoeſie zeigt. Die Düffeldorfer
Schule zähle Manchen in ihrer Mitte, wie Kähler und Andere, die
fit) von einem handwerksmaͤßigen Berufe zu tüchtigen Künftlern empor:
gearbeitet Haben. Sie bat Überhaupt, auch In der Wahl ihrer Stoffe
und ber Art ihrer Leiftungen, einen mehr. demokratiſchen Charakter ;
wie fie denn, menn gleich von oben begünftigt, body mehr aus dem
Volksleben, woraus fie hervorgewachſen, ihre Nahrung zieht und weni⸗
ger ausfchließlich, als die Muͤnchener, von einem monarchiſchen Willen
Pflege und Richtung empfängt. Den beiden Hauptfigen ber neueften
beutfhen Malerei zur Seite, baben fi) in Berlin, Dresden und
Frankfurt, welches Iegtere zu einem artiftifchen Mittelpuncte fehr geeigs
net fcheint, mit mehr oder weniger Gluͤck befondere Schulen aufge⸗
than. Auch in Wien zeigt ſich ein vegfameres kuͤnſtleriſches Streben.
Ueberhaupt iſt in den größeren Städten, namentlid bes ſuͤdweſtlichen
Deutſchlands, eine auffallende Zunahme der Künftler bemerkbar, die
mit ihrem frifcheren und feineren Leben zwifchen ber dumpfen Maſſe
und bee conventionellen Hoheit der höheren Claſſen ein heilfames Ele⸗
ment bilden.
Im Hinblide auf den allgemeinen Charakter der bdeutfchen und
franzöfifhen Malerei, hat man ſchon oft die Bemerkung wiederholt,
daß in jener die Ruhe ber Betrachtung und bie ſchmuckloſe Innigkeit
bes Gefühle vorwalte; im bdiefer die nach Außen gerichtete Thätigkeit
592 Kunſt.
und eine fo überwiegende Rüdficht auf das Aeußerliche, daß das Be
mußtfein des Anftändigen und Gefälligen felbft den hoͤchſten Ausdruf
der Leldenfchaft behercſche und eben barum ſchwaͤche, weil es al
Affectation die Lüge mit der Wahrheit vermiſche. Schon in Davib
and feiner Schule hat man dieſes Hafdyen nad, theatraliſchen Effecten
erkannt. Man muß ſich indeß hüten, von einem deutſch nationalen
Standpuncte aus den barin ausgefprodenen Vorwurf allzu weit zu
treiben. Bei dem Franjzoſen prägt fi aud) das, mas ihn nur leide
berührt, ſcharf und lebhaft auf der Oberfläche aus, und fo mag, was
"dem Deutfdyen unnatürlidy ſcheint, bei ihm nicht felten national und
natuͤtlich fein. Mac der ganzen Richtung des Lebens in Frankreich
iſt es begreiflich, daß fidy die neuere Malerei mit der Ausbeutung der
chriſtlichen Religionsgeſchichte nicht befonders befaffen mochte; und daß
fie, wo fie e6 verſucht, nichts fehr Bedeutendes geleiftet hat. Aber
auch in ber beutfchen Malerei, felbft der Mündyener Schule, Hat ſich
jenes veligiöfe Element, das eine Zeit lang allgemein herrfchend zu
werden ſchien, neben Anderem nur als ein Beſonderes behaupten Ein
nen. Man hat diejenigen, die es hauptfädlih in fid) aufgenommen
und gepflegt, wohl hier und da als Nazarener bezeichnet. Den
Meiftern unter biefen, einem Dpverbed und Bendemann, muß
man indeß nahrähmen, daß fie nicht blos die fromme Einfalt zu ma
len verſtehen, fondern im geiftvollen Ausdrude religiöfer Stims
mungen, dem Charakter der neueren Zeit gemäß, bie eifrig gefuchte
Verbindung von Wiffen und Glauben barzuftellen ſuchen. Su all
gemein läßt fid übrigens für Frankreich wie für Deutfchland behaup⸗
ten, baß die Genremalerei, dieſes Volkslied der Malerei, nicht blos nad
der Zahl ihrer Wilder, ſondern auch nach der geiftteiheren Auffaffung,
ein Uebergewicht über bie hiftorifche erlangt hat. Dieſe hiſtoriſchen
Bilder laſſen meiſtens nicht nur die betrachtende Menge Ealt, fondern
Kunft. 5393
Malerei, ben man als biftorifche, oder noch fhärfer ald nationale
Genremalerei begeichuen mag, mehr und mehr Beifall finden; nämlich
die Darftellung von Scenen, worin das Volk ſelbſt in feiner nationa-
len Eigenthuͤmlichkeit als gefchichtliche und GSeſchichte erzeugende Per
fon in einzelnen Repräfentantn aufteit. Auch in dieſer Richtung
haben fidy ſchon die Sranzofen in ihren zahlreichen Kriegebildern, Ju⸗
liusfcenen u. dgl. mit Gluͤck verſucht. In Deutſchland dagegen, wo
man mehr auf das innere Leben gewiefen war, bat fi) die Malerei
befonder® angelegen fein laffen, die in deutſcher und fremder Poefie
gegebenen Stoffe zu bearbeiten. Beſonders gefchab dieſes in München
auf Veranlaffung des Königs; fodann von Leffing mit Uhland’s
Koͤnigspaar, Buͤrger's Lenore von Rewreuther und Retzſch in
ihren Randzeichnungen und Skizzen und von vielen Anderen. Diefes
Streben tft fehr zu achten, wenn nur die Künftier hauptſaͤchlich ſolche
Stoffe wählen, bie aud der Geiſt des Volks in fi aufgenommen
bat, und wenn fie in nicht allzu fluͤchtiger Arbeit fich felbft erſt vom
Geiſte der Dichter durchdringen lafien. Es fcheint jedoch gerade in
unferer Zeit eine befondere Vorliebe für die flüchtige Skizze zu herr:
ſchen. Entſpricht fie doch mit ihrer haftigen Eile, bie eine drängende
Fülle von Gedanken binwirft und ihrer Beinen fich vollenden und Leben
gewinnen läßt, dem Charakter diefer Zeit, welche, noch von den Klip⸗
pen ber Revolutionen gebrochen, erſt in Millionen Tropfen aus einans
der ftäube, ehe fie wieder in Einheit fih zu faffen und in ihrer Kunft
zugleid Himmel und Erde abzufpiegeln vermag.
Wie viel Löbliches man übrigens der neueren Kunft, zumal der
Malerei, nahrähmen mag , fie leibet noch an den Gebrehen, woran
auch der Staat und die Geſellſchaft leiden, an dem Mangel eines
öffentlihen und an ber Zeriffenheit de6 modernen Lebens, an bem
Zwiefpalte der Volksbildung und gelehrten Bildung. Sie hat nicht
jene Unmittelbarkeit, wie in den fchönen Zeiten des Alterthums; und
- indem fie fo viele ihrer Gegenſtaͤnde aus fernen Zeiten und Nationen
aufgreift und in allen Zungen zu reden verfucht, fpricht fie feibft noch
eine fremde, ben Meiften kaum verfländlihe Sprache. Aber bie
Kunft bedarf nicht blos einer Heimath, fondern eines Vaterlandes und
der Liebe zum Vaterlande; fie muß, um höhere Stufen ber Vollen⸗
dung zu erreichen, von einem Gemeingeifte gehoben und getragen wer:
den und mit flets fichtlihem Einfluffe auf defien Läuterung und Ent: .
widelung zurüdwirten. Damit mag nicht gerade behauptet fein, daß
fie nur unter beflimmten Verfaffungsformen gebiehen fei und habe
gebeihen Finnen. Wir fahen in Athen mit der wachſenden Herrſchaft
bee Demokratie zugleich bie Künfte zur hoͤchſten Bluͤthe ſich entfalten
und fie ausarten mit ber Ausartung der Volksherrſchaft zur Poͤbel⸗
herrſchaft. Wir fahen Mren Zlor während bes Mittelalters fo im
Schooße freier Städte, wie an manchen Fürftenhöfen, und fie fpdter
ver fcüppein und fi verzerrn im Glanze mächtiger Monarchieen.
Bom Standpuncte einer nur ruͤckwaͤrts bildenden Befchichte wich alfo
Gtants sEeriton. IX, 88
LI vu Kunfl.
die häufig wiederkehrende Frage nach bem Vorzuge
deren Verfaffungsform für die Sörberung ber Kunf
laffen. Wohl aber lehrt bie Geſchichte 5 für
Butunft, daß der beflimmmte Gehalt jeder befonderen Zeit
ter Formen des öffentlichen Lebens bedarf, und daß die Künfte nur ge '
deihen, wo bie politifchen und focialen Werhättniffe eine gewiſſe Gte
tigfeit erlangt und den Glauben an ihre Dauer erzeugt haben, weil
der Friede duch die Befriedigung der Rationen gefichert er⸗
int. So iſt es jegt nicht, wo bem Beduͤrfniſſe und der Forderung
fem Sinne ift es freilich eben fo wahr als nothwendig, daß noch be
Politik und die politifchen Parteilämpfe der Ausbildung der Käufe
hemmend im Wege ftehen.
Noch von einer anderen Geite treten ſolche Hinderniſſe entgegen.
Wir find auf dem Gebiete der materiellen Cultur im Beginne eine
hoͤchſt merkwürdigen Periode, der Periode einer raſch fortfchreitenden
Unterwerfung der verflandeslofen Naturkräfte unter ben Seiſt dei
Menfhen, alfo bes Erſatzes der Menfhenkräfte duch Mafhinm
kraͤfte. Damit bildet ſich eine ganz meue Theilung ber Arbeit zwiſchen
Menſchen und dußerer Natur. Indem biefer letzieren mehr und mei
die bios mechaniſchen Thaͤtigkeiten anheimfallen, wie fie in
Sriechen⸗
land den Skiaven jugemisfen waren, werben einmal bie Mafchinen die
Sklaverei erfegen innen und eben ſowohl eine allgemeinere Tpeilmahme
an ben’ Angelegenheiten des Gemeinwefens, ald ein allgemein regfameı
res Kunſileben möglich machen. Aber nody find wie ef an ben
Künften diefer neuen Welt des 19. Jahrhunderts —— Und
en *
Kurnſt. 505
auch einmal in ihrer flüchtigen Betrachtung zu verweilen und feinen
Tribut ihr
zu zellen.
Wie ungänflig aber bie politiſchen und focialen Werhditnifie bc
jet find, fo war doch ber Anſtoß der Revolution gewaltig genug, um
die Kunft aus ihrer ſchlaͤfrig herkdmmlichen Weiſe aufjumeden und
uͤberallhin neue Kräfte in Thaͤtigkeit zu fegen. Hiernach hat fich die
Maffe der Lünftierifchen Production und bie bes Lünftlerifhen Be⸗
voͤlkerung, befonders in den legten Sriedensjahren, fehr beträchtlich ver⸗
mehrt. So befanden fi, auf der Kunftausftelung in Paris im Jahre
1827 nur 1820, im 3. 1833 aber 3318 Gegenſtaͤnde. Auf bie
wachſende Menge ber Künftler in den deutſchen Gtädten wurde
fhon oben aufmerffam gemacht. Paris hatte im 3. 1832: 1623
Mater, Lithographen, Zeichner; 161 Bildhauer ; 810 Graveurs; 480
Architekten; 316 Componiften und bekannte Lehrer der Muſik, fo wie
etwa 1626 ausübende Tonkuͤnſtler. Muſik und Malerei, die freieren,
raſcher producirenden und einer größeren Menge zugänglichen Künfte,
find alfo weit am Staͤrkſten vertreten. Ueberhaupt fehen wir jegt bie
Kunft, wie die Induſtrie, weniger ausfchliegend auf einzelne Clafſen
der Geſellſchaft, als vielmehr auf die Maſſen fpeculiven; was fehr be:
greiflich, da fich ſowohl Bildung als Vermögen im weiteren Kreiſen
ausbreiten. So wird nun freilich, zur Befriedigung der Gelüfle des
Augenblicks, viel leichte Waare in Umlauf gefest; aber am Ende lernt
doch eine zahleeichere Menge auch das dauernd Werthvolle unterfcheiben.
Diefe Popularifirung der Kunft wird theils qualitativ, theils quantis
tativ durch größere Vermannichfaltigung und, Vervielfachung kuͤnſtleri⸗
ſcher keiſtungen gefördert. Dahin gehört die NWieberentdedung und
fortfchreitende Vervollklommnung dee Blasmalerei, befonders in Balern
feit 1836; die Wiederaufnahme und Werbeflerung der ſchon am Ende
bes Mittelalters mit fo viel Liebe betriebenen Holzſchneidekunſt im
England, Frankreich und Deutfchland; die Vervielfältigung der Werke
der Sculptur in kleineren und ſehr wohlfeilen Gppsabgäflenz beſon⸗
ders aber bie Erfindung bes Steindrucks und des Stahlfſtichs. Sehr
bedeutend ſchlleßen fi) daran einige ganz neue Erfindungen an: bie
des Abdrucks von Delgemälden duch Liepmann in Berlin und bas
Daguerrestup*). In welchem Umfangs das Eine ober Anbere ſich
kuͤnftig bewähren mag, fo wirkt boch von allen Seiten ber gar Vieles
zuſammen, um felbft die Kunft gu demokratiſtren und bie ariſtokratiſche
Geſchmacksherrſchaft einzeiner Stände zu vernichten. Auch laͤßt
gerade in biefen neueſten Erfindungen wieder die weitere Geltend⸗
machung eines allgemeinen Bildungägefeges erkennen, wornach fich bie
überwiegend geiflige von der überwiegend materiellen Production, bie
ſchoͤpferiſch kuͤnſtieriſche von der nur reproducirenden handwerksmaͤßigen
— — — ———————
Etwas zweifelhafter in ihrem Beſtande und Werthe ſcheint die von
Golas in Per is bene Topirmaſ Werte der Seulptur in
jeder Orbße und am verälenden Arm on Mt,
sen läßt.
Die zahlreich entftandenen Kunftvereine, wie fie der Affociationd:
geift der neueren Zeit befonder6 in Deutfdland hervorgerufen, find zu:
glei) ein weiteres Zeichen und ein foͤrderliches Mittel für eine fort:
füpreitende Popularifirung dee Künfte. Indem fie über die politifchen
Grengen der einzelnen Staaten und felbft des geſammten deutſchen
Gtaatenbundes hinaus vielfache Verbindungen und freundlichen Ber
kehr von Stadt su Stadt vermitteln; auch wohl an gemeinſchaftlichen
Feſten größere Zufammenkünfte aus verfhiedenen Theilen des Water
andes veranlaffen, haben fie noch eine mehr unmittelbare politifde
VBedeutung. Dat doch vor Kurzem ber verbindende Gultus der Kunſt
felbft das in ber deutſchen Kunſtgeſchichte fo hervorragende Straß⸗
burg wieber in einen Verein mit deutſchen Städten geführt, und muß
er doch mit dahin wirken, bie alten nationalen Gpmpathieen nicht
vollig verſchwinden zu laffen. Auch in Frankreich haben ſich in vielen
Provinzialftädten ſoiche Wereine gebildet weiche öffentliche Ausſtellun ·
gen veranftalten, während ſich feüher. Alles der Art in Paris centras
Ufiet Darin liegt mit en Beweis, daß ſich in den Departes
me d 2 ber Hau gsmübss
Kunſt. 597
rung und ohne forgfältiges Naturſtudium in eine Weile bes Schaffens
einlebt, bie am Ende doch nur eine herfömmlihe Manier ift, ob
man fie gleich als Hochpoetifhen Styl bezeichnen mag. So bleibe
benn ſehr wahr und treffend, was Uhland in einem feiner neueflen
Gedichte fagt, vom Fuͤrſtenhofe,
ſte kraͤnzt,
„Bo Prunkſaal und Alkove
„Bon Sötterbilbern plänat s
„Sin Baum, der n
„Bolsboben fi) genährt,
„Rein! einer der nach oben
„Sogar die Wurzeln kehrt.”
Befuͤrchtet man auf der andern Seite, bag bie Ausdehnung ber
Bereine nur eine Abhängigkeit mit der andern vertaufchen und bie
Kunft unter die Gewalt der Maffen beugen werbe, fo fcheint eine
ſolche Beſorgniß durchaus eitel; ſeldſt davon abgefehen, daß die Vers
breitung ber Vereine mit derjenigen ber Bildung und des kuͤnſtleri⸗
chen Intereſſes ſtets im Werhältniffe ſtehen wird. Freilich ſoll bie
Kunft fo wenig die Schmeichlerin der Menge, als ber Höfe werben;
aber fie fol mitbildend das Volk erheben, und um biefeß zu vermögen,
um ihm bie Hand bieten zu können, muß fie ihm nahe bleiben. Iſt
doch auch der Künftier fo innig mit feinem Molke verwachſen, baß er
felbit erkaͤlten und erflarren, unb am Kleinſten erfcheinen muß, ba er
fi am Groͤßten dünkt, wenn er, von ber warmen Quelle des Lebens
losgeriſſen, in kalte und einfame Höhe fich verfleigt.
och in vielen anderen Beziehungen fucht die Kunſt einen volks⸗
thuͤmlichen Boden, und das Volk eine populäre Kunſt zu gewinnen.
Beſonders in Deutfchland zeigt ſich jetzt eine weit verbreitete Neigung,
die bedeutenderen Männer der Nation in Dentmälern zu ehren. Die
Anregung dazu geht häufiger als früher aus einem Nationalwunſche
hervor, und wenn fich die Monumente fonft nur für Fuͤrſten, Staats»
männer und Selbherren erhoben, für die Monarchie und ihre unmittel:
barften Diener; fo erheben fie fich jetzt aud für die Männer bes
Volks, für Dichter, Kuͤnſtler, wiffenfchaftliche Forſcher und Erfinder.
Noch von größerer Bedeutung möchten fie werben, wenn man fidh
weniger auf blofe Abbil der der Sefeierten befchränten, fonbern zus
gleich kuͤnſtieriſche Sinnbilder fchaffen wollte, welche die befondere
Art ihrer Wirkſamkeit und ihres Einfluffes zur Anſchauung brädyten*).
An bie Einweihung folcher Denkmäler knuͤpfen fich oft befondere Volks⸗
fefte, die Poefie und Muſik zu verfchönern fireben. Auch davon uns
abhängig iſt wieder etwas mehr Luft für gemeinfame Feſte erwacht.
Konnte fie gleih in Mitte einer weit verbreiteten Mißſtimmung noch
nicht ſehr heimiſch werben, fo ſucht man boch zeitiweife diefe von ſich
abzuſchuͤtteln. So hat Coͤln felbft während der neweften Zerwuͤrfniſſe
”) ——— adentunge⸗ in dieſer Beziehung gibt ein Auffag im
—
508 Kunft. Kurfuͤrſten.
ſein heiteres Faſchlugsfeſt begangen, und ber In biefer Stade gegrkubin
Garnevalsverein hat bereit® Hunderte von eigens gebichteten umb com
onirten Liedern, humoriſtiſche Erzeugniſſe, welche — wie fen
Goethe bemerkte — einen ganz befonberen Zweig in ber deutfchen
Literatur bilden. Wenn bie Kunftvereine hauptfächlich die Muſik und
Malerei dem Volke näher ruͤcken, fo hat fidy die neuere deutſche Poeſie
ſchon früher in völliger Unabhängigkeit von ben Thronen entwickelt.
Auch die größten Dichter ber Nation hatten fich ſelbſt ſchon Bahn ges
beochen, ehe fie den Weg nad) Weimar fanden. Was gar bie jüng-
ften Dichter betrifft, fo bat man bemerkt, daß bie Zahl berjenigen,
bie mit Titeln oder Aemtern begnabigt find und mittelbar ober unmit⸗
telbar im Solbe der Machthaber ftehen, jest geringer als jemals if.
Freilich gibt ſich der Serviliemus felbfk ohne Pränumeration zum Ne
ſten und lobt ben Käfig, worin er gefangen fikt.
Die Geſetzgebung neueſter Zeit Hat mit dem fogenannten literariſches
zugleich das artiftifche Eigenthum ficher zu ſtellen gefucht. In Deutfd-
land bat der in dieſer Abſicht erlaffene Bundesbeſchluß vom 9. es.
1837 eine Reihe befonderer Lanbeögefege zur Folge gehabt, woven
wehrere , wie das preußifche Sefes vom 22. Dec. beffelben Jahres, durch
fhärfere Faſſung und nähere Beflimmung des Verbots einer Wachbäls
dung ber Kunftwerke auf mechaniſchem Wege, in bie Sache näher ein
gegangen find. Solche indirecte Begünftigungen find immerhin ans
erkennen, während man gegen jede Erziehungskunſt der Kunſt, bie auf
allzu pofitive Weife von oben herab betrieben werben fol, hoͤchſt ges
rechte Bedenken haben mag. Da fi) gerade jegt die Mittel einer
mechaniſchen Vervielfältigung bee Kunftwerke fo fehr vermehren, ſo
mug man jene fihernden Maßregein gegen Mißbrauch und Beein⸗
teächtigung um fo mehr als zeitgemäß gelten laſſen. Sie find wie ber
Pfahl, den man zu befferem Halte neben die Rebe fledt, Nur fol
man von ſolch aͤußerlicher Stuͤte noch Eeinen guten Herbſt erwar⸗
ten, ber vielmehr nach wie vor von dem in nerſten Lebensſafte, von
Boden und Sonne abhängen wird. Am Wenigften foll man ihn zwi⸗
ſchen Winter und Fruͤhjahr erwarten, dba noch bie rauhen Stürme
wehen. Ueber biefe Periode find wir noch nicht hinüber, mögen mir
nun das Leben und Treiben im Staate und in ber Gefelfchaft, ober
in der Kunft in’s Auge faflen. Und fo wird diefe eine höhere Wollen:
dung nicht eher erreichen, bis die Aufgabe unferer gährenden Zeit, bie
Herrfchaft der Gerechtigkeit und" Freiheit in ber natienalen Einheit,
ſiegreich geloͤſ't iſt; bis dann auch wieder die Kunſt eine große Vergan⸗
genheit hinter fi, eine freundliche Gegenwart um fi, eine fonnige
Ausficht in die Zukunft vor fich bat. .
Kurfürften. — Soldene Bulle Kaiferwahl. Wahl:
capitulation. — Der Grundſatz, wornach die Volksgemeinde als die
alleinige Quelle aller öffentlichen Gewalt und alles öffentlichen Mechtes
betrachtet wird, findet fih in den früheften Zeiten unter den germanl:
hen Völkern in der unmittelbarften, volftändigften Anwendung. Dem
Lurfurſten. 309
es urtheilte biefe Gemeinde eben ſowohl als Richter über Anklagen, wie
fie als Befepgeber gemein verbindende Vorfchriften erließ und Beſtallun⸗
gen zu denjenigen Aemtern verlieh, deren fle als Organe ihrer Zweck⸗
thaͤtigkeit bedurfte, und welche hauptfählic in Leitung der Verſamm⸗
ungen, in Vollziehung der gefaßten Beſchluͤſſe, in Anführung bes
Heerbannes beftanden. Die Ermennungen zu diefen Aemtern gefchahen
naͤmlich durch Wahl der Volksgemeinde, wobei jeboh an eine Wahl
nach heutiger Weile, indem jeder einzelne Stimmberechtigte feine
Stimme gibt, die Stimmen gezählt werden, unb der ſonach gefundene
Mille der Mehrheit den Beſchluß bilder, nicht gedacht werben barf.
Vielmehr beruhten die Belchläffe der Volksverſammlungen auf Einhel:
Ugkeit der Stimmen, die ſich insbefondere bei Wahlen dadurch ergab,
daß ein bekannter, in der Gemeinde geehrter und geachteter Mann zu
dem Amte in Vorſchlag gebracht, und biefer Vorſchlag mit allgemeinen
Beifaljauchgen aufgenommen ward. Der durch Öftere Kriege erzeugte
Drang ber Umflände erheifchte und berief vor Alten den Tuͤchtigſten
und Erfahrenſten an bie Spige des Heerbannes, und wer, mit Faͤhig⸗
Zeit begabt, einmal zu diefer Stelle gelangt war, der konnte durch im⸗
mer glänzendere Entfaltung feiner Kräfte, durch glüdliche Kührung feis
nes Amtes, ſich in dem Vertrauen feines Volkes befefligen und nicht
nur lebenslänglid, bei. feinem Amte behaupten, ſondern auch bewirken,
daß es einem feiner Nachkommen übertragen wurde, bie fid) unter ſei⸗
ner Auffiche und Leitung , als in einer Schule, dazu am Beſten vorbe:
zeiten konnten. Um fo eher konnte diefes gefchehen, als in jenen Zei⸗
ten hoher Sitteneinfalt, mehr als in den fpäteren, das Spruͤchwort
feine Geltung bewährt haben mag, welches die Nachkommen als bie
Erben der Tugenden ihrer Väter bezeichnet. Die von einer Reihe treff-
licher Vorfahren bekleideten Aemter und Würden verbreiteten fobann
über ganze Kamilien einen Blanz, ber die Mitglieder derfelben vor allen
Anbern in den Augen des Volkes als befähigt zu biefen Aemtern erfcheinen
ließ. Doc, aing dieſes nicht leicht in ſolche Verblendung über, daß bie
Verdienſte der Väter felbft in ben trägen und ausgearteten Enkeln ge
achtet, und diefen, zum Verderben des Gemeinweſens, bie Reitung ber
öffentlichen Angelegenheiten anvertraut wurde. Der einfache und
praktiſche Stan des Volkes Tonnte, trot feiner Achtung für das An-
denken rubmwuͤrdiger Ahnen, nicht umhin, bei dee Wahl feiner Fuͤh⸗
rer auf wahre Fähigkeit und Würdigkeit zu ſehen, und ſolche, wenn
fie den Nachkommen berühmter Vorfahren mangelte, auch da anzuer⸗
* ‚ wo fie aus dem Hintergrunde einer dunkeln Vergangenheit
tete.
Nach der Theilung bes Frankenreichs durch ben Vertrag von
Verdun 848 traten Deutſchlands Voͤlker zum erſten Dale, zu einem be:
fonderen Reiche vereinigt, in dev Geſchichte auf und Aberfamen in der Per:
fon eines Nachkommens Karl's bes Großen die Würde und Herrſchaft
„eines Könige ganz fo, wie fie ſich im Frankenreiche gebildet hatte, daher
namentlich mit bem gewöhnlich gewordenen Mebergange auf die Nachkommen
o —*
bes Inhabers, fo wie mit der Sitte, daß die etwa nothwendig game
dene Wahl eines Königs hauptſaͤchlich von den Großen ausging. Us
wie dieſe, und insbefonbere die Nationalherzöge, regelmäßig der YBah '
ober body Beiſtimmung des Volks ihre Würde verdankten und in ala
Öffentlichen Angelegenheiten defien Stimme zu beachten gewohnt tarın,
fo achteten fie auch darauf bei der Wahl eines allen beutfchen Volken
gemeinfamen Könige, weiche Wahl urfprünglich unter freiem Himmel
von ihnen zu gefhehen pflegte, wobei die verfammelten Voͤlker bem,
was ihre Führer in Uebereinftimmung mit ihren Wünfchen vollbradt
hatten, Beifall zujauchzten. Nachdem in Folge der Unterwerfung de
deutſchen Völker unter bie fraͤnkiſche Herrſchaft diefe Herzöge zu. dem
feänkifhen Koͤnigen in das Verhättnig von Dienfimannen und Lehm: \
traͤgern —S waren, fo dauerte natürlich dieſes Verhaͤltniß nah :
ber Trennung Deutfchlands vom fränkifchen Reihe fort und bee !
fligte ſich immer mehr, und es gingen an fie aud) diejenigen Aemtn ;
über, womit bie fraͤnkiſchen Könige theils zur Hälfe in Ausuͤbung dr
Herrſchermacht, theils zur Erhöhung des fie umgebenden Glanzes, bie ı
Angefehenften ihres Gefolges beliehen. Dabei wußten die nunmehrign :
Vafailen des Könige, vermöge ihrer Eigenfhaft als Nationalherzöge, '
eine Regierungsgewalt über die zum Herzogthume gehörigen Länder
geltend zu machen, welche fie, in Unterordnung unter bie Keichsgemalt,
ausübten, fo wie ihnen ihre Eigenfhaft als Reihsbeamten Anla gab,
ein Miteegierungsreht in Beziehung auf Reichsangelegenheiten zu be
haupten. Gie wurden daher vorzugsweife bei allen wichtigen Reichsan⸗
gelegenheiten zu Rathe gezogen und Beſchluͤſſe nur mit ihrer Zuj
mung gefaßt. Eben fo waren fie es denn auch, melde vorzugsweife
den König wählten ober den ducch die allgemeine Stimme ald unwuͤr⸗
dig Bezeichneten des Thrones entfegten. Die völlige ‚Einfeung bes
Auigd erinchs: ab 4 MRohL ha rule ah ham Proicot
Surfürften. 0
welche bie Herzöge bem gewählten Könige, zum Zeichen ihrer wirkuchen
Untergebung, und daß fie zu ihm in das Verhaͤltniß von Dienfimannen
getveten feien, bei öffentlicher, feierlicher Hofhaltung zu leiften pflegten.
In dieſer Hinficht dienten diefe Aemter als fpmbolifche Zeichen der
Unterwerfung dee Herzöge unter das Anfehen des Könige; und ba bie
Herzöge als Repräfentanten ihrer Voͤlkerſchaften erfhienen, und biefe
dem Vorgange und Velfpiele jener nachzufoigen gewohnt waren, fo
dienten jene Aemter zugleich als fpmbolifche Zeichen der Unterwerfung
aller deutſchen Wölker unter das Anfehen des gewählten Könige. 3
Dtto I, Herzog von Sachſen, zum Könige ber Deutſchen gewählt
wurde, [7 waren es bie Herzöge von Lothringen, Franken, Schwaben
mb Baiern, die ihm als Kämmerer, Trucfeg, Schenk und Marfhalt
te Dienfle barboten, wie denn auch ohne Zweifel feine Wahl vor
Aal durch diefe gefchehen war, da e6 ganz in ber Natur der Sache
lag, daß gerade diejenigen, bie den König im Namen bes Völker ges
waͤhlt hatten, biefen mit dem Beiſpiele der Unterwerfung unter deſſen
Anfehen vorangingen und fi vor Allen als beffen Dienfimannen bes
wieſen. Die Galbung und Krönung geſchah durch den Erzbiſchof vom
Mainz, jedoch mit Widerſpruch derer von Trier und Cötn.
Mit der Exblichkeit der herzögtihen Würde war nicht ſogleich auch
das Erfigeburtsrecht verbunden. Es begab ſich daher nicht felten, baf
das herzogliche Amt mit den darumter begriffenen Landen an bie meh:
zeren Nachkommen eines Inhabers vererbt wurde, lettere fomit in Bet
nere Theile zerfielen. Während ſich hierdurch die Anfangs eine Zahl
ber Meichsvafallen beträchtlich vermehrte, ſank bagegen das Befigthum
und damit zugleich bie Macht und das Anfehen derfelben fo ſehr herab,
daß fi) ihnen viele Grafen und Dynaſten ober freie Grundeigenthüs
mer an bie Seite flellen konnten. Wie nun biefe von jeher bie erſten
Glieder der Volksgemeinde ausmadhten, die ben Herzog wählten und in
Öffentlichen Angelegenheiten eine entſcheidende Stimme führten, fo war
«6 natürlich, daß fie auch im Verhaͤltniſſe zum Weiche ihre Freihelt
und das Recht ber Theilnahme an öffentlichen Angelegenheiten geltend
au machen, ſonach fid) den Herzoͤgen anzuſchließen ſuchten, deren Vor⸗
— ihre Gleichen und von ihnen aus ihrer Mitte gewaͤhlt worden
Hinter ihnen konnten bie mit bedeutenden Pfruͤnben ausge
Hatteten Kicchenfürften um fo weniger zurüdbleiben, als dieſen jeden
falls in ben die Kirche betreffenden Reichsangelegenheiten eine entſchel⸗
dende Stimme fogar vorzugewelfe gebührte, welche ſich, bei dem inni⸗
gen Zufammenhange der kirchlichen und weltlichen Sachen und bei der
größeren Wichtigkeit, die den erfleren beigemeffen wire, von ſelbſt u
auf bie legteren erſtrecken mußte. Alte diefe wurden als bie erften und
angefehenften Glieder des deeichs betrachtet, tweldhe durch Ausbreitung
de6 Lehenweſens in Deutfhland, gieich ben Herzigen, am die fie ſich
enfcloffen, veemöge ihre Länderbefthes in das Werhäfeniß von Reiche»
vafallen traten und einen befonderen Stand ausmadıten, der das ur
fpränglic, allen freien Grunbeigenthämern zuſtehende Recht der Stimm ⸗
s
geidhah Durch bie Angefebenften,
beachten Wahl, als Somdbel di
(1152) von demjenigen Fuͤrſten, die ihm hiernaͤchſt ſymboluſch die Pflich-
ten dimftmannfcdaftlicher Untergebenheit ermwiefen, nämlich ven bem
Pfalzgrafen bei Rhein, der ihm beim: feierlichen Mahle ala Truchſeß
vom Herzoge von Sachſen, der ihm als Marſchall, vom Markgrafen
von Brandenburg, der ihn als Kämmerer bediente, endlidy vom
nurfürſten. o08
fein, inbern wämlich biefe urfpränglich bem cömifhen Volke zukam,
danıı'von allen Geiſtlichen autging, zuletzt aber in ein ausſchließendes
Borrecht weniger Kirchenfürften fid, verwandelte. Herner mag jener
Webergang befördert worden fein durch bie Verſuche ber Päpfte, die Er⸗
nennung ber beutfchen Könige als ein Recht des heiligen Stuhles gels
tend zu machen, insbefonbere durch die zur Abwehr diefee Anmaßung
und zu Eräftiger Behauptung ihres Wahlrechtes unter ben die Vorwahl
ausübenden Zürften bervorgerufene engere und feftere Vereinigung.
Nachdem Dapft Leo IH. dem Könige der Kranken, Karl dem
Grofen, weicher nad) Befiegung bes Lombarben Herr Italiens geworben
und als foldyer feinen Einzug in Rom gehalten, in der Peterskirche
eine Krone auf's Haupt gefegt und ihn vor verfammeltem Volke und
unter bem Beifalle deſſelben zum Kaifer bes weſtroͤmiſchen Reichs aus
‚ gerufen batte, erhielt ſich dieſe Würbe bei feinen Nachfolgern übe
taufend Jahre hindurch, und zwar feit Otto I. bei demjenigen Zweige,
ben bei ber Theilung des Frankenreichs Deutſchland zugefallen war.
Durch Gewohnheit befeftigte fi) alimälig die Meinung, daß ein beutfcher
König ganz von ſelbſt ein Recht auf die Wärbe eines roͤmiſchen Kaiſers
babe, berfeiben jedoch erſt dann wirklich theilhaftig fei, wenn er ſym⸗
boliſch durch einen Römerzug fi in den WBefig ber Herrſchaft über
Itallen geſetzt und 'nady dem Beiſpiele Karl's des Großen vom Papfte
die Krönung erhalten batte. Dierauf gründeten die Päpfte bie Be:
bauptung, daß bie Emennung bes Könige und römifchen Kaiſers dem
paͤpſtlichen Stuhle zukomme, indem der Papft bie weſtroͤmiſche Krone
den griechifchen Kaifer genommen und dem Könige ber Franken ver;
liehen, fpäterhin aber Papſt Gregor V. (996) die Wahl des Königs
fieben Erzfuͤrſten übertragen habe, jedoch mit Vorbehalt der jebesmaligen
Genehmigung derfelben, fo wie des Rechtes, bie über biefelbe entſtehen⸗
ben Streitigkeiten als Schiedsrichter zu ſchlichten. Diefe Anmaßung
wurde fogar durch Katfer Albrecht I. in einer von ihm unterzeichneten
Urkunde ausdruͤcklich anerkannt *), wogegen ſich derſelben bie die Mor:
wahl ausübenden Fuͤrſten als unbefugtem Eingriff in ihre Rechte aus
allen Kraͤften widerſetzten und hiervon zuerft Anlaß nahmen, in eine
engere Verbindung unter einander zw treten.
As nad) dem Tode Heinrich's VI. (1197) die Partei ber
Hohenftaufen den Herzog Philipp von Schwaben, bie ber Welfen
aber, an beren Spitze der Erzbiſchof von Coͤln fland, und wozu ber
Erzbiſchof von Trier, der Herzog von Sachſen, uͤberhaupt die Mehrheit
ber herkoͤmmlich die Vorwahl ausübenden Kürften gehörte, den Sohn
Helnrich's des Löwen, Otto IV., zum König wählte, fo nahm hiervon
Dopk Innocenz III. Anlaß, fein vermeintliche Recht, als Schieds⸗
richter einzufchseiten, geltemb zu machen, und er fprach zu Bunften
Dreto’s IV., weil biefer von ber Mehrheit ber Wahlberechtigten ge
„) Cap: 1, dem (2. 9) — Boß, Gchidfale der deutſchen Reicht ver⸗
604 Kurfüchten.
wählt worden. Da ſich deſſenungeachtet — —— ſo wu
nöthig erachtet, daß er durch die zut Vorwahl Werechdige
von Neuem gewaͤhlt werde. Diefer Vorgang trug natrtich unit dep:
bei, den Uebergang der bisherigen Vorwahl in ein ausfäjließenbes Dh;
recht zu begründen.
Die Vorwahl beruhte von Anbeginn nicht auf einem Pre
Recht, vielmehr entfpeang ſie aus ber einem Jeden zuſtehenden Befuzaf,
einen Vorſchiag zu machen, ganz nad) ber Weile, tsie ſchon in in
fräheften Zeiten bei Berathungen in den beutfchen Volksverfammiung ;
gewöhnlich war. Da indeg, zumal bei Völkern auf nieberer Gultw
Hufe, Vorſchlaͤge Über wichtige Dinge durch das Anſehn derer, m
denen fie berühren, ein beſonderes Gewicht erhalten und fi da.
Beifall der Menge empfehlen, fo uͤberließ man natürlich die ſelben rt |
den angefehemeren Mitgliebern der Reicheverſammlung. Su diefen p |
hörten von jeher bie drei cheiniſchen Expbifyöfe, al Cangler ber ki
verfchiedenen Reidje, woräber ns die Herrfchaft de6 deutfchen König |
erfiredte, als: Germanien, Achen umd Italien, ferner diejenigen web '
lichen duͤrſten, die fid) ben Symdolen bienftmannfdaftliher Unterwwerfum
gegen bie Perfon des gewählten Mönigs unterzogen, unb beten, gieih
den urfprünglichen Hauptvoͤlkern Deutfchlands, bie fie vepräfemtirten,
vier an ber Zahl waren. Nachdem dieſe Fuͤrſten bereits eine befonder |
ariſtokratiſche Koͤrperſchaft zu bilden begonnen, fuchten manche an Länder
befig und politiſchem Anfehn ihnen Gleiche, weiche jedoch bie Bedeutung
jener früher überfehen und darum nicht Bedacht genommen haben
mochten, gleich Anfangs eine Stelle unter ihnen einzunchmen, fi noch
nachträglich an fie anzufchließen, wie die Herzöge von Deflerreih, von
Brabant, die Landgrafen von Thüringen, fobann unter ben Beiftlichen,
die Erzbiſchoͤfe von Magdeburg, Bremen und Salzburg. Diefem Bes
mühen wiberfegten ſich jedoch die durch das Herfommen bereits beflimmten
Wahlfürften, und es wurde, zur Beſeitigung bes hierüber
Streites, auf einem zu Frankfurt :a. M. im Jahre 1208 gehaltehen
Kurfürften.. 605
dem Recht der Koͤnigewahl fland Anfangs bem e von Balern zu,
wurbe aber in ber Folge dem mit Deutfchland I en@verband ges
kommenen Derzoge, fpäter Könige von Böhmen, verliehen. Eben fo
befand ſich Anfangs der Herzog von Schwaben im Beſitz des Erz
kaͤmmereramtes und ber Theilnahme an ber Rönigewahl, bis Conrad II.
ihm Beides entzog und feinen Schwager, ben Markgrafen Albrecht den
Bären von Brandenburg, damit begabte. Diefe weltlichen Fuͤrſten
durften jedoch nur dann bei der Wahl eines beutfchen Könige eine
Stimme führen, wenn fie von Geburt und nad) ihrer Abflammung
von Vater, Mutter und Oheim her Deutſche waren *). Denn bie
Wahl eines Könige wurde als die wichtigſte und eigenfte Nationalſache
betrachtet, woran man in einer Zeit, da ber Menſch mehr durch Gefühl
und Glauben, als durch Verſtand und Begriffe geleitet und zum Dans
bein beſtimmt wurde, nur denjenigen eine entfcheidende Theilnahme zu⸗
zugeſtehen ſich bewogen fand, beren Leben mit dem Leben der Nation .
ducch jene die Gefühle der Liebe und Anhänglichkeit in der menfchlichen
Bruft am Fruͤheſten, Staͤrkſten und Nachhaltigften anregenden Verhättniffe
verſchmolzen war.
Da nad) der Thellung bes fränkifchen Reiche das neu entflandene
beutfche immerhin als eine Abtheilung jenes, unb die Franken fort
während als das Hauptvolk betrachtet wurden, fo fcheint Anfangs die
Meinung befanden zu baben, daß nur ein Franke von Geburt zum
König gerwähle werden koͤnne, bis der Drang der Noth und die drohende
Gefahr einer Auftöfung, nicht ohne Widerfiteben von Seiten ber
Franken, bie Erhebung eines Sachſen bewirkte und dadurch jene Mei⸗
sung auf immer geflürzt wurde. Mit derfelben hing die weitere zus
fammen, daß die Wahl des Könige auf fränkifcher Erde geſchehen muͤſſe,
daher Achen, die alte Dauptitadt des Reiche, fo wie die Länder am
Rhein, Insbefondere die Städte Worms, Mainz, Frankfurt ıc. es waren,
wo die Fuͤrſten und Voͤlkerſchaften zue Wahl eines Königs zufammens
kamen **). Herlommen und Gewohnheit erhoben allmaͤlig Frankfurt
ur alleinigen Wahlſtadt, während Achen noch für den Ort galt, wo
die Krönung vorzimehmen war; bis auch diefe Handlung für immer
nach Frankfurt verlegt wurde. Dabei gefhah Anfangs die Wahl nicht
im Inneren der Stadt zwifchen engen Mauern, fondern außerhalb auf
freiem Felde. Diefes beruhte ohne Zweifel darauf, daß die Königswahl
als Sache der Nation betrachtet wurde, welche vor deren Augen und
unter Beiflimmung derfelben vollbracht werden muͤſſe. Als aber vers
Anderte Lebensweife es mit ſich brachte, alle öffentlichen Geſchaͤfte in
engen Räumen zu behandeln, welche ben Zutritt einer größeren
Menfhenmenge ausſchloſſen, fo war dieſes eine Daupturfache der Vers
wandlung der Königswahl aus einer Sache der Nation in ein Vorrecht
einer Heineren Anzahl von Reichsſtaͤnden; denn auch die Sonderung
Dhlenfhläger, Erläuterung ber goibenen Bulle. ©. 110. _
- ra 0. a. O. en. ”
8
Sewägtt
dem Volke dargeſtellt werben fein mußte, ehe
Die zur Vorwahl berufenen Fürften führten Anfang:
meinfamen Namen, woburdy fie fih als Corporation von
Ständen des Keichs unterfchieden, fonbern jeder
Amte, womit er in Beziehung auf ein Territorium ⸗
Herzog, Markgraf, Pfalggraf, Erzbiſchof, fo wie nad
Dienfiverhätmiife, dem er fi) gegen die Perfon des
pflegte, wie Erlanger, Erztruchfeß, Erzmarfhail,
nachdem bei diefen Fuͤrſien, in Behaut Kecht
zw waͤhlen, gegen fremde Eingri in
Beſtreben
in
ni
- natüsli von demjenigen Verhältniſſe entliehen, welches allen vollfommen
gemeinſchaftlich war, und auf weichem, als ihr bedeutfamfte® Jutereſſe
umfaflend, bie unter ihnen beftchende engere Vereinigung vor Alem
beeubte, nämlich bie Wahl des Könige. Cie nannten ſich daher
Wahl⸗ oder Kurfürften und festen diefe Benennung ihren äbrigen
als die ausgezeichnetfte vor. Mur der König von Böhmen achtete
feinen Rönigstitel Höher und nannte ſich daher flet nad) dieſem.
Von num an flcebten die Kurfücften planmäfig domady, ihre
Kurfürften. 07
Auf dieſer — und in der durch dieſelbe weſentlich beſtimmten
Richtung hatte ſich bie deutſche Reicheverfaſſung entwickelt und aus⸗
As beſonderes Vorrecht der Karfuͤrſten neben dem der Rönigewaßl
iſt frühe anerkannt, daß der König Verguͤnſtigungen und Privilegien
an einzelne Perfonen ober Körperfchaften, namentlich auch ben,
aur mit Buflimmung fämmtlicher —— ai gültig verleihen Eonnte,
weiche Zuſtimmung bei jedem einzelnen nadhgefucht werden mußte unb
mittelft fogenannter Willebriefe ertheilt wurde. Der Umfland, daß
der — von Rheinfranken, deſſen Stelle in der Folge der —
bei ennahın, unter den fränkifchen Königen das Amt eines
ofrichters bekleidet hatt fcheint «6 gerden zu fein, woraus die Kurs
en für fich eine Gerichtsbarkeit über die Perfon des Königs ſelbſt
berleiteten, welche ie —** von ber Pfalz in ihrem Namen ause
zuüben habe, und welche, obgleich meiſt von ben Königen twiberfprochen,
doch fogar in bem von Karl EV. ſelbſt entworfenen unbasfehe,
Frhr Bulle genannt (im Cap. V, 6. 8.), auorheliche dtigung
unter
Parteiungen ben Rurfürflen, hervorgerufen theils durch
die unter mehreren Linien eines. Daufes fid) ergebenden Streitigkeiten
über ben Beſit ber Kurtwürbe, theils durch zwiefpaltige Rönigswahlen,
ſtanden Anfangs der Sicherheit ihrer ariſtokratiſ n entgegen.
—— vu: Beit des Todes Seincih si — je jede ah
urg und Wittenberg au An N
und beide fanden unter ben Abrigen Fr Se und Freunde,
Dir ‚Eine —— unter dieſen in zwei Partelen zur Folge hatte»
fich fogleich bei der naͤchſten Koͤnigswahl, indem ein Theil,
ai "Di und Oadfeniictenbenn, be den — Friedrich von Deſterreich
, während ein anderer, Ma er, Böhmen, Brandenburg
Ber Gacsfeniauenbun. dem —* eu von Baiern feine Stimme
gab. Da die Stimmennsehrheit unter ben Wählern noch nicht als
bindende Norm anerkannt war, fo behauptete jeber ber Gewaͤhlten fein
Recht auf ben Ehren, wodurch es zu einem biutigen Kriege zwiſchen
Beiden und ihren Anhängern kam, der die Kräfte bes deutichen Reichs
— und die Keime feinee Auflöfung in Trieb — Der da⸗
mals zu Avignon reſidirende Papft benuste dieſen Zuſtand der Dinge,
fein vorgebliches Recht, über Wahlſtreitigkeiten zu entſcheiden, geltend
a ee iß der verderblichen Folgen
ihres Zwieſpaltes und chluſſe ad, dergleichen für die
Zukunft vorzubeugen. Zu dem Ende ſchloſſen fie im Juli 1338 im
erften Kurverein zu Renfe und ſetzten babei vor Allem feſt: daß von
nun an bei KRönigewahlen bie Stimmenmehrheit entſcheiden, fomit
nur berjemige als rechtmäßig gewählter König betrachtet werben A
dem die meiften Stimmen der Wählenden zugefalen fein. Dieſes
wurde hiernaͤchſt auch auf einem in eben ofen Sabıe zu Frankfurt
gehaltenen Reichttage befkätige umb es uͤberdies für einen revelhaften
“os Kurfürften.
in Die Rechte des Kaifers, der Kurfuͤrſten und übrigen Stände
it, wenn Jemand zu behaupten wage, daß die Baiferliche Wuͤrde
und Macht auf der Uebertragung des Papftes berube, unb daß ohme
päpfttiche Beſtaͤtigung die Wahl eined Könige und Kaiſers keine Bül:
Die Anfprüche einiger altfärftlichen Häufer und einiger der hoͤchſten
geiftlichen Würdenteäger auf die 83 der Kurfuͤrſten waren noch
nicht völlig zut Ruhe gebracht. Es kamen dazu Rivalitaͤten unter den
Kurfuͤrſten felbft über Rang und gewiſſe beſondere Berechtigungen
er vor den übrigen. Altes Hetkommen gab naͤmlich den brei
Seil einen Rang vor den Weitlichen, welchen dieſe nicht ſtreitig
machten. Defto Iebhafter ſtritten jene unter fi über Vorrang und
Gleichheit. Bis gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts pflegte man
dem Kurfürften von Mainz gewiffe formelle Vorzüge zuzugeſtehen,
als: bei Wahlen feine Stimme zuerft zu geben, bei feierlichen Gele
genheiten dem Kaifer zur rechten Seite zu gehen oder zu figen x.
Eeft von jener Zeit an, da der Geſchmack an Formalitäten immer mehr
einriß, ſcheinen bie beiden andern geiftlichen Kurfürften beſonders auf:
merkſam auf diefe Vorzuͤge ihres geiftlichen Collegen geworden zus fein
und, geftügt auf hiſtoriſche Momente, machten fie nunmehr in dieſer
— eine Srapeit für A geltend, $
tiefe manchert ideefj v fi der ficheren Haltung der
Surfürfttichen. Ariſtokratie entgegenftelten, fanden endlich ihre Defekte
gung in dem duch Karl IV. zu Stande gebrachten Reichsgrumdgefete,
goldene Bulle. Hierin wurden die Zahl der Kurfürften, ihre politifdyen
Rechte und ihr NRangverhältnig unter einander genau beflimmt, ihre
altherkoͤmmlichen fpmbolifchen Dienfte gegen die Perfon des Königs aber,
mit Verkennung der urfpränglichen Bedeutung berfelben, in blofe, zur
Vermehrung. des duferen Glanzes der Eaiferlichen Würde gereichende
st ebers
Kurfuͤrſten. 60p
der Vorrang und Vorſit vor den weltlichen zugeſtanden, und ihr Rang
unter fich hinfichtlich der Piäge, bie fie in Gegenwart des Kaiſers ein⸗
zunehmen hatten, dahin fefigefegt, daß Trier dem Kaifer ſtets gegen-
über, von Mainz und Gbln aber derjenige dem Kaiſer zur Rechten
figen folle, in deſſen Diöces ober Erzcancelariat berfelbe fich befindet.
Der zwiſchen Mainz und Coͤln obmwaltende Streit über die Krönung
fond fpäter gelegenheitlich der Wahl Leopold's I, (1657) feine Bes
feitigung burch Vergleich dahin: daß derjenige bie Krönung verrichten
ſolle, in deſſen Diöces fie geſchah, font aber abmechfelnd der eine und
bee andere. .
2) Unter den weltlichen Kurfürften wurde dem König von Böhmen,
der feither die legte Stelle eingenommen, rüdfichtlidy ber koͤniglichen
Würde, befonders aber weil der Kaifer felbft erblicher Inhaber derſelben
war, ber erſte Rang eingeräumt. Nach ihm folgte Pfalz, fobann
Sachſen, deffen Kur Wittenberg zugetheilt warb; endlid Brandenburg.
Hinfihtlih der Sige wurde beftimmt, daß Böhmen und Pfalz bie
ihrigen auf der rechten, Sachſen und Brandenburg auf der linken
Seite des Kaifers neben einander einzunehmen hätten. Späterhin,
im Anfange des SOjährigen Krieges, wurde befanntlid ber Kurfuͤrſt
Zriedrih V. von der Pfalz, wegen Annahme ber böhmifchen Krone,
in die Acht erfidet,, und auf einem im Sabre 1622 von Ferdinand I.
nad Regensburg ausgefchriebenen Kurfürftentage die der Pfalz zu⸗
fiebende Kur an Baiern übertragen, im meftphälifchen Frieden jedoch
Pfalz, unter Beibehaltung der an Baiern verliehenen Kur, wiederher⸗
geſtellt und für bafjelbe eine neue Kur gefchäffen, fo daß deren nunmehr
acht waren. '
3) Dem Pfalzgrafen bei Rhein (mit welchem feit dem weftphälis
ſchen Frieden Baiern abwechfelte), fo vie dem Herzoge von Sachſen
wurde das bergebrachte Reichsvicariat während der Thronerledigung be:
ftätigt, und zwar dem Erfteren in den cheinifchen, fchwäbifchen, überhaupt
den Ländern des fränkifchen Rechts, Letzterem aber in den bes fächfifchen
Rechts. Jahrhunderte ſpaͤter, nämlih am 9. Juni 1750, vereinigten
fi) beide Vicariatshoͤfe befonders unter einander über die genaueren
Grenzen ihrer Vicariatsbezirke. Die Reichsvicare wurden für ermächtigt
erklaͤrt, Recht zu fprechen, die erledigten geiftlichen Stellen zu befegen,
die Reichögefälle und Einkünfte zu. erheben, Lehnseide zu empfangen,
welche legteren aber dem nachherigen Könige nochmals geleiftet werben
mußten (mit Ausfchluß der Zürftens und Fahnenlehen, womit nur der
Kaifer ſelbſt beiehnen konnte). Der Pfalzgraf bei Rhein insbeſondere
wurde für ermächtigt erklaͤrt, über Beſchwerden gegen dia Perfon des
Kaiſers ſelbſt an defien Hoflager Gericht zu halten *).
4) Dem Kurfuͤrſten von Mainz wurde zur Pflicht gemacht,
binnen Monatsfrift nach erfolgter Thronerledigung die übrigen Kurs
*) Hütter, .Entwi n gReiche
8. — tter hiſtor ckelung der Seaativerſ des deutſchen Reich
Staats⸗ Lerxikon. IX. 39
sı0 Kurfücften.
fürften durch Borfäafter und Briefe zur Wahl In ge eehifah,
Frankfurt a. M., einzuladen, worauf alle entweder Selb ſiperſen
oder durch Botfchafter, mit Vollmachten in —— Form vn
ſehen, zu erſcheinen verpflichtet waren. Die Buͤrger der Eee
follten durch feierlichen Eid Gicherheit Leiften, daß Bein Kucflirft nach
deſſen Gefolge während feines Aufenthalts daſelbſt gefährdet werbe.
Die Kurfürften oder ihre Botſchafter follten vor Vornahme der Wahl
ſchwoͤren, den König und Kaifer nach befter Einfiht und Neberzragung
zu wählen. Auch follte ſich jeder verbindlich machen, denjenigen, ber
die meiften Stimmen erhielt, als rechtmaͤßiges Oberhaupt anzuerkennen.
Die Stimmen follten im Gonclave bei verfchloffenen Thuͤren abgegeben
werden, und die Wahl ſich nach abſoluter Mehrheit unter den Erfhier
nenen, fo viel .oder wenig biefer waren, entſchelden. Auch vu die
Stimme zählen, die fi ein Kurfuͤrſt felbft gab. Bei dem Wahlar |
follte der Kurfürft von Mainz die Umfrage und den Aufcuf ber ein
zelnen Stimmen vornehmen. Trier follte zuerft feine Stimme geben,
nah ihm Gin, fobann folten die weltlichen Kurfuͤrſten nach ihrem
Range folgen. Mainz follte zuletzt von ſaͤmmtlichen Kurfürften um
feine Stimme befcagt werben.
5) Ueber die den Kurfürften nad Herkommen gegen bie Perfen
des gewählten Kaiſers obliegenden Dienfteiftungen beflimmt bie goldene
Bulle Folgendes: Die geiſtlichen Kurfürften follten vor Allen bei
öffentlicher Tafel das Gebet verrichten. Nachdem ihnen fodann der
Kaifer die auf einem vor ihm fehenden Tiſche llegenden Teicheſiegel
zugeftelit, fol derjenige, in deſſen Erzcancelariat ber Hof gehalten wird,
das große Siegel um den Hals hängen und es während ber Tafel
tragen. Thells während des Mahles, theils nach bemfelben follten die
meltfichen Kurfürften zu Pferb fich nähern, jeder mit den Gegenftänden
in Händen, bie den ihm obliegenden Dienftverrihtungen entſprachen,
obann abfteigen, und es follte hiermächft der König von Bi
Kurfürften. 611
Verrichtungen angewendet. Jene befaßen ihre Aemter ebenfülls als
Zehen, die auf ihre mäÄnnlihen Nachkommen forterbten, ohne jedoch
auf einem beflimmten Lande zu haften. Jedem Erzbeamten fland ein
nad ihm benannter Erbbeamter zur Seite und es bezeichnet die goldene
Bulle als Reichserbmarſchall den Grafen von Pappenheim, als Reichserb>
tämmerer den Grafen von Falkenſtein, als Reichserbtruchfeß ben Grafen
von Nortemberg, als Meichserbfchenken den Grafen von Limburg.
6) Die Lurfürftlichen Würden und Wahlſtimmen wurden für
unzertrennlich verbunden mit den Landen, worauf fie ruhten, und diefe
Lande für untheilbar erfidrt. Der Umfang der Kurlande wurde nach
dem Befitzſtande zur Zeit der Errichtung der goldenen Bulle normirt. Die
weltlichen Kuren follten auf die Nachlommen ihrer Inhaber nad
Erſtgeburtsrecht forterben, und zwar fo, da, wenn der Erftgeborene
ohne Leibeserben fterbe, deſſen naͤchſter Bruder und der erfigeborne Leibes⸗
erbe diefed zur Nachfolge berechtigt fein folle *). Die durch Ausfterben
kurfuͤrſtlicher Familien erledigten Kuren follten dem Kaifer zur Wieder⸗
befegung heimfallen, mit Ausnahme Böhmens, deſſen Stände in biefem
Falle das althergebrachte Recht ausüben, einen König zu waͤhlen.
7) Als Vorrechte der Kurfürften im Vechaͤltniſſe zu den übrigen
Reichsſtaͤnden wurden Überdies noch folgende bezeichnet: fie hatten den
Vorrang vor den letzteren. Es konnte weder einer ihrer Unterthanen
in erſter Inftanz vor ein kaiſerliches oder anderes Bericht ale das ihres
eigenen Kandes gezogen (privilegium de non evocando), noch von dem
Ausfpruch ihrer Berichte an ein Eaiferliches Gericht appellict werden
‘ (privilegium de non appellando). Die Kurfürften wurden mit der
Perfon des Kaifers fo eng verbunden erklaͤrt, daß Beleidigungen und
Verſchwoͤrungen gegen fie wie gegen diefen allgemein für Majeſtaͤts⸗
beleidigung und Hochverrath galten, darauf die Strafen Anwendung
finden follten, bie das roͤmiſche Recht in der mit Blut gefchriebenen
Const. 3. Cod. (9, 3.) androht. — Als Regalien wurden ben Kurs
fürflen zugeftanden alle in ihren Landen befindlichen Gold⸗, Silber s,
Binns, Kupfer:, Blei: und Eifenbergwerke, das Recht, Münzen zu
fhlagen, Juden zu balten, beftehende Zölle beizubehalten **), welches
Alles urfprünglich nur dem Kaifer zulam.
An Folge der fortfchreitenden Civiliſation entwidelte fi immer
mehr die neuere Ordnung und Einrichtung der Staaten, deren Ber
waltung eine große Anzahl von Beamten erfordert, ausgezeichnet duch
befondere. Sähigkeiten und Kenntniffe. Indem dabei die reichere Ent»
faltung ber induftriellen Kräfte und ber fi) verfeinemde Geſchmack
allgemein bie Genuͤſſe und Bedürfniffe des Lebens fleigerten, fo ers
heifchte der der oberhauptlichen Würde eines großen Reiche für ans
gemeſſen erachtete Glanz einen bedeutenberen Aufwand, ber fich ins:
befondere in einer zahlreichen Umgebung von Dienern dußerte, welche,
*) Dhlenfhläger S. 179.
») Dhlenfhläger ©. 187. 99
612 Kurfürften.
vornehmen Standes und feinerer Bildung, die biefen @igenfchaftm
entfprechenden Formen auf eine Weiſe darzuſtellen wußte, daß babıra
die Würde des Herrſchers in den Augen der hauptſaͤchlich nach dem
Schein urtheilenden Menge gehoben wurde. Die angefeheneren Reiche
fände, vorzüglich, die Kurfürſten, die ſich als Gleiche des Kaifers ade
teten und in ihren Landen eine ähnliche Würde und Regentengerseit
zu behaupten fuchten, konnten natürlich Seine Neigung fühlen, den
Functionen jener Beamten und diefer Hofbiener ſich zu umterziehen,
und eben fo menig konnte es dem Kalfer erwuͤnſcht fein, fid, von Die
nern umgeben zu fehen, bie in felbftftändiger Würde ſtrahiten, nicht
aber zur Erhöhung der feinigen dienen wollten. Es waren daher dir
Kaiſer genoͤthigt, andere Perfonen für ihre Umgebung zu wählen, bie
entweber zum abelidhen Stande gehörten oder von ihnen dazu erhoben
worden, und bie fie dabei mit einem ihren Beduͤrfniſſen und ihrer Be
ſtimmung entſprechenden Einkommen ausftatten mußten. Hierin bärfte
wohl der Anlaß zu dem unter Karl IV. zuerft aufgelommenen Brief:
adel zu fuchen fein, womit vor Allem die begabt wurden, die entweder
ihre Fähigkeiten und Kenntniffe als Staatsbeamte oder jene zur Wer
herrlichung der kaiſerlichen Umgebung gerelchenden Eigenfchaften bewaͤhrt
hatten. Dieſe Verhaͤltniſſe, derbunden mit manchen anderen Umſtaͤnden
hatten für bie Kurfuͤrſten eine beſondere Beſchraͤnkung in der Wahl
des Kaiſers zur Folge. Früher nämlich konnten biefeiben aus bem
Stande der Fürften und Grafen des Reichs zum Kalfer wählen, mer
ihnen beliebte, und der Gewählte pflegte fein bisheriges Reicheland
feinem naͤchſten Stammverwandten zu überlaffen, twogegen ihm, zur
Unterhaltung feiner neuen Würde, die dem Reiche gehörigen Kammer-
guͤter und Einkünfte mandjerlei Art zu Theil wurden, melde einft be⸗
deutend genug Waren, um forohl den der Würde des Kaifers ange:
Kurfürften. 613
ftreiten und bie zur Aufrechthaltung bes kaiſerlichen Anſehens erforder:
liche Macht aufbieten zu können. Unter den Reichsſtaͤnden entfprady
früher diefen Forderungen nur ber Erzherzog von Oeſterreich, der buch
ungewoͤhnliche Gluͤcksfaͤlle allmdlig zu einer fo ausgedehnten Herrſchaft
gelangt war, daß er unter den erften Mächten. Europas feine Stelle
einnahm und die kaiſerliche Würde für ihn nur als eine glänzende
Zugabe erfhien. Daher fiel denn von Karl IV. an die Wahl der
Kurfürften beftändig auf die regierenden Erzherzöge von Oeſterreich.
Mie aber ſolchergeſtalt das Anfehen der Eaiferlihen Würde gerettet warb,
fo drohte dagegen den nad) felbftfländiger Gewalt trachtenden Reiches
fiänden, befonders den Kurfürften, die Gefahr ber Unterwerfung unter
die Herrfchaft übermächtiger Kaiſer. Diefes weckte in ihnen eine größere
Wachſamkeit auf ihre politifhen Rechte und beftimmte fie, das unter
ihnen beftehende Band auf’s Engſte und Feftefle zu knuͤpfen und Fein
Sicherungsmittel gegen die Umgriffe mächtiger Kaifer zu verabfdumen.
Alle ihre Bemühungen würden indeß vielleicht vergeblich geweſen fein,
wenn ihnen nicht die Eiferſucht europdifcher Großmaͤchte gegen bie
wachfende Macht Oeſterreichs ſtets zur rechten Zeit zu Hilfe gekommen
waͤre.
Als unter Max J. (1495), zur Gruͤndung eines Zuſtandes
rechtlicher Sicherheit in Deutſchland, das Reichskammergericht eingeſetzt
ward, ſo verband man damit zugleich, zum Zweck der ————— —— der
Beſchluͤſſe deſſelben, den Plan zu einem Reichsregiment, deſſen Mits
glieder die Reichsftände ernennen, und welches dem Kaifer als flänbiger
Vollziehungsrath zur Seite fliehen follte. Zur Ausführung diefes Planes
ward das Meich in eine Anzahl von Kreifen getheilt, von deren jebem,
außerdem aber von jedem Kurfürften befonders, ein Mitglied bes
Reichsregiments ernannt werden ſollte. Da indeß daB Reichsregiment
nicht zu Stande kam, fo wurde die Eintheilung in Kreife dazu benugt,
die Ernennung ber Mitglieder des Reichskammergerichts darnach zu
reguliren, indem für jeden Kreis ein folches beflimmt, überdies jeder
Kurfürft eins, und der Kaifer wegen Defterreih und Burgund deren
zwei zu ernennen ermächtigt ward. Ungeachtet bdiefer Bildung bes
Reichskammergerichts hegten die Kurfürften bie Beſorgniß, es möchte
dadurch den mächtigen Kaifern aus dem Haufe Oeſterreich ein Einfluß
eröffnet fein, den fie leicht zur Unterbrüdung oder Schmälerung ber
reicheftändifchen oder Lurfürftlichen Rechte anwenden koͤnnten. Um
diefem zu begegnen, verpflichteten fie fich twechfelfeitig auf einem im
Jahre 1503 zu Gelnhaufen gehaltenen Kurverein: „in allen Reiche:
angelegenheiten ſtets einmüthig zu handeln, auf den Reichstagen alle
für einen und einer für alle zu votiren und fich jährlich einmal zu
verfammeln, um zu dieſem Zwecke das Nöthige mit einander zu vers
abreden.” Dieſes follte dabei ein unagabaͤnderliches Geſetz für ihre
Nachkommen fein und von jedem berfelben eidlich beftätigt werden *).
*) Boß, Schidfale der deut. Reichöverfafl. S. 280. 281.
614 Kurfürten |
As auch die bald nachher beginnenden Religionsfkeltigkeiten Spal⸗
tungen befürchten ließen, welche dem politifchen Einfluffe der Kurfuͤrſten
verbecblich zu werden drohten, gaben fie auf einem im Jahre 1521 zu
Worms gehaltenen Vereine einander die Zufiherung: „alle Trennungen
unter fi zw vermeiden, alle Streitigkeiten, aud die über Religion,
in Güte beizulegen und fid den Ausfprüchen ber zu biefem Ende a
nannten Gomite3 ohne Appellation zu unterwerfen, ferner im Fal
eines Angriffs oder einer Verlegung von Seiten Anderer, alsbald zu
farnmenzutreten und die von ihnen gefaßten Beſchluͤſſe mit vereinigten
Kräften in Ausführung zu Seingm“ ). Auch wurde auf diefem
Vereine zu Worms gemeinfamer Widerftand verabredet gegen diejenigen,
„die ohne der Kurfürften Wiffen, Willen und Verlangen nad) dem
roͤmiſchen Relche trachten, fo wie gegen unziemlich ſchwerliche Dan
at Fi Gebot zu beſchwerlichen Neuerungen und unpflichtigm
tenften.” ‘
Das Beſtreben der Kurfürften, ihre ariſtokratiſchen Vorrechte gegen
die Eingriffe der Kaifer aus dem Haufe Deſterreich zu fihern, ermedte
auch in ihnen den Entfchluß, vorzüglich die Ihrem Intereſſe entſprechen ⸗
den Normen und Einrichtungen in den Verhaͤltniſſen des deutſchen
Reiche, welche ſich allmaͤlig dürch Herkommen, Gewohnheit ober Webers
Kurfuriten. 615
Meih3angelegenheiten oder gemeinſame Rechte dir Stände erſtrecken,
noch eine Aenderung defjen mit fi bringen dürften, mas in der bes
ftändigen Wablcapitulation ober in andern Reichsconflitutionen verordnet
fei *). Indeß kehrten ſich die Kurfürften im Allgemeinen nicht an
diefe Beſchraͤnkung, und fie beachteten eben fo wenig die Proteftationen
der übrigen Stände, trafen vielmehr faft bei jeder Kaiſerwahl Abände:
rungen an dem Alten, wie fie Neues binzufügten. Es erhielt ſonach
eine fefte, den willkuͤrlichen Eingriffen der Kurfürften entbobene Wahl:
capitulation niemals Beſtand **).
Wie nun hiernach die Wahlcapitulationen zunaͤchſt als Mittel
in den Händen der Kurfürften erfcheinen, ihre befonderen Intereſſen
auf Koften des Eaiferlichen Anſehens und der übrigen Stände zu beför:
dern, fo bilden fie doch zugleich die bedeutendfte Grundlage und Quelle
der deutſchen Staatsverfaffung überhaupt, worin bie Kurfürften vor⸗
zugsweiſe eine bedeutende Stelle einnahmen, und fie find es unter
allen Donumenten diefer Verfaffung, welche die meiften und wichtigiten
Gegenftände umfaflen, und worin ſich die Verhaͤltniſſe zwiſchen Haupt und
Gliedern des Reihe am Vollſtaͤndigen und Genaueften geordnet finden.
Auf dem weftphälifchen Friedenscongrefie wurde von Seiten ber
übrigen Reichsſtaͤnde wiederholt an eine mit alffeitiger Zuflimmung
abzufafiende Wahlcapitulation erinnert, welche als feltes Reichsgrund:
gefe jeder Kaifer bei feiner Wahl beſchwoͤren follte. Die Sache wurde
jedoch auf den naͤchſten Reichstag verwiefen, auf welchem (1653) fie
indeß noch nicht, fondern erft auf dem fpÄätern (1664) in Berathung
tam, die enbliche Entſcheidung darüber aber fidy biß in das Sahr 1711
verzögerte- Diele fiel fo aus, daB den Kurfürften immerhin die Be:
fugniß blieb, bei jeder neuen Wahl weiter zu capitulicen, jedoch mit
Ausfchluß allgemeiner Reichsangelegenheiten und mit der Beſchraͤnkung,
daß dadurch weder den Mechten der übrigen Stände Eintrag gefchehe,
noch am der mit Webereinftimmung Aller errichteten Wahlcapitulation
oder an andern Meichögefegen etwas geändert werde. Bon diefer Be:
fugniß machten die Kurfürften feit der Wahl Karl's VII. in der
Weiſe Gebrauch, daß fie an den zu Waͤhlenden gemeinfame fogenannte
Collegialſchreiben richteten, worin fie ihn erfuchten, gewiſſe Gegenftände
zur Abfaffung eines Beſchluſſes an die Reichsverfammlung zu bringen.
Dabei war der Gewählte, nad einem in bie Wahlcapitulation aufge:
nommenen Zufag, verpflichtet, dem Inhalte diefer Schreiben zu ent:
fprechen.
Von ber Zeit an, da die Krone Böhmen mit der kaiſerlichen
beftändig in einer Perfon vereinigt war, wurde natürlich der Inhaber
derfelben dem Intereſſe der mit dem kaiſerlichen Anfehen in beftändiger
Dppofition befindlichen Kurfürften durchaus entfrembdet, fo daß er fich
von ihren Vereinen gänzlich ausfchloß, und Böhmen des Beliges feiner
— — —
*) HaAberlin, Handb. bes deutſchen Staatsrechts I, 182.— Voß S. 307.
roh ©. 309, ° es I,
6 Kurfürften.
kurfuͤrſtlichen Rechte zulegt völlig entkleidet erſchien. Im weſtyhaͤliſche
Frieden aber ward, zur Erhaltung des bisherigen Verhältniffes une
den Kurfürften hinfichtlich der Religion, beftimmt, daß Böhmen wiederum
in die Ausuͤbung feiner kurfuͤrſtlichen Rechte eintreten folle.
Nachdem ferner im weitphätifchen Frieden zu Gunſten bes reis
tuitten Pfalzgeafen eine achte Kur gefchaffen worden, fo fliftete aud
Leopold I. (1692) zu Gunften der Nachkommen Heinrich's des Loͤwen
der Herzöge von Braunſchweig⸗ Hannover, trog ber von vieler Fuͤrſten
dagegen erhobenen Proteitation, eine neunte nebft dem Erzſchatz meiſter⸗
amte. Indeß brachte die Erloͤſchung des Hauſes Baiern (1777) und
die dadurch bewirkte Vereinigung des Landes mit Pfalz die Zahl der
Kurfuͤrſten wieder auf acht zucäd. Neue Wechſel, wie in dem politis
ſchen Zuftande Deutfchlands Überhaupt, fo insbefondere in den Ver⸗
haͤltniſſen der Kurfürften, hatte der im Jahre 1801 mit der franzöſiſchen
Republik zu Luͤneville gefchloffene Friede zur Folge, indem durch ben
felben das ganze linke Rheinufer, mithin ber bedeutendfte Theil der zu
den Kuren Mainz, Trier und Cöln gehörigen Lande an Frankreich abs
getreten, ber übrige auf ber rechten Mheinfeite gelegene Theil aber,
nach dem Reichsdeputationshauptſchluſſe von 1803, zur Entſchaͤdigung
weltlicher NReiceftände verwendet wurde. Hierdurch verſchwanden die
geiftlichen Kuren von Trier und Coͤln gänzlih, nur die von Mainz
blieb und wurde mit dem Fuͤrſtenthum AÄſchaffenburg, den Reicheftädten
Regensburg und Wetzlar, dem Erzbisthum Regensburg und den Stif⸗
tern, Abteien und Kloͤſtern St. Emmeran, Ober» und Nieder-Bünfter
ausgeftattet, dabei der bisherige Titel: Kurfürft von Mainz, in ben:
Kurfücft = Erzcanzler verwandelt. An die Stele der verſchwundenen
zwel geiftfichen Kuren kamen vier neue weltliche, nämlih_1) das bis⸗
herige Erzbischum Salzburg, verbunden mit der Propftei Berditesgaben
lädt unb un
Kurfürften. — Lancaſter'ſche Säulen. 617
kleidet, einige jedoch, tie bie Kurfürften von Hannover und Heften,
ihrer Länder gänzlich beraubt. Nach der fpäter erfolgten Reftitution
dieſer behielt allein der Lestgenannte den Eurfürftlichen Titel bei, ohne
daf jedoch von der früheren Bedeutung deſſelben im Entfernteften meiter
die Rebe fein kann. G. R.
Kurheſſen, ſ. Caſſel.
Lafayette, ſ. Kayette la.
Lagerbuch, ſ. Kataſter.
Lancaſter'ſche Schulen. In den Perioden der Gaͤhrung
des Wölkerlebens, wenn neue Anflchten und Meinungen das herkoͤmm⸗
lich Geltende zu verdrängen fixeben; wenn ſich der Kreis der Erfahruns
gen und der geiftigen Intereſſen fchneller erweitert, wird ſtets auch--das
Beduͤrfniß erwachen, fich für die Weberlieferung der Kenntniſſe nad
neuen zweckmaͤßigeren Methoden umzuthun. Minder gebunden durch
die Auctorität der gewohnheitsmaͤßig beobachteten Formen des Unterrichts,
wie fie fich früher bewähren mochten, werben dieſe mit freierem Blicke
prüfenb in's Auge gefaßt; und mit Beachtung ber zunehmenden Intels
tectuellen Bebürfniffe der Nationen ift man bemüht, dem heranwachſen⸗
ben Geſchlechte, zur Bewältigung eines veicheren geiftigen Stoffes, neue
Mittel-an die Hand zu geben. So find denn hauptſaͤchlich nach den
Erfchätterungen der franzöfifchen Revolution, ober diefer unmittelbar
vorangehend, zahllofe Lehrmerhoden zum Vorſchein gekommen. Wie
der materielle Verkehr durch Dampfichiffe, Dampfwagen und Eifen-
bahnen gefördert worden ifts fo follte auch der Vertrieb ber geiftigen
Büter feine Erfindungen und Entdedungen haben. Faſt alle jene
Methoden, wie e8 überhaupt bei neuen Erfindungen gefchieht, wurden
als ein ausfchließliches Heilmittel gegen alle früheren Mängel bes Unter⸗
richte, als das einzig Achte himmliſche Manna der geifligen Nahrung,
ruͤhmend angekündigt. Solche Lobpreifungen gingen nicht durchweg
aus einem abfichtlichen Charlataniemus der Erfinder und ihrer erſten
und eiftigfien Schüler hervor. Liegt es doch tief in ber menſchlichen
Natur, daß derfelbe Enthufiasmus,- ohne den keine neue Schöpfung
moͤglich ift, im gutem Glauben auch die gehofften Wirkungen feiner
Schöpfungen vielfach übertreibt. Darum iſt es fehr erläctich, daß ſich
von allem pomphaft Angelündigten nur wenig geltend gemacht hat;
daß bie meiften diefer Methoden fpurlos oder fcheinbar fpurlos, oft
felbft dem Namen nad, wieder verſchwunden find.
Zu ben Lehrweifen, die ſich in ber That bewährt haben und auch
in Zukunft geltend machen werden, wenn gleich nicht in dem großen
Maße, wie es fi) die Phantafie der Erfinder vorgeftellt, gehören bie
Methoden eines Hamilton und Jacotot, bie indeffen bis jetzt
hauptſaͤchlich nur für Sprachkunde zur Anwendung gelommen find.
Sie geben bekanntlich von dem Grundfage aus, bie Jugend zu beieh:
ren, wie aud) die Natur und das Leben felbft uns belebten. Darum
beginnen fie mit der genaueſten und umfichtigfien Betrachtung ber
concreten Thatſache, alfo in der Sprache mit ber Auffaſſung vollſtaͤn⸗
618 Lancafter’fche Schulen.
dig gebitbeter Wortſaͤtze; und laſſen hieraus allmdlig bie Erkenntuiß
der Regeln, des Allgemeinen im Beſonderen, fi entwideln*). In
Defem Principe liegt ein Keim, der einer weiten Entfaltung fähig if,
und man barf wohl behaupten, daß es bem vorherrſchend eigenthuͤm⸗
lichen Geiſte der Meuzeit befonders entfpricht. Iſt es doch gerade bas
Charakteriſtiſche dieſes revolutionären ober veformatorifchen Zeitgeiftes,
dag er ſich in allen Verhaͤltniſſen des Zwanges leer getvorbener Als
gemeinheiten und oft willtürlicher, aber vom Vorurtheil geheiligter Bes
geln zu entledigen fucht, um das frifche Leben ſelbſt, mit feinem viel-
fach veränderten Gehalte, zur Richtſchnur und zur Quelle künftig gels
sender Normen zu mahen. Wohl gefchieht es aledann, dag man, im
Eifer der Emancipation von dem Herkoͤmmlichen und Hemmenden, nur
bie kutze Spanne der Gegenwart zum Mapftabe für alle Zukunft
nimmt; daß mit dem trabitionellen Vorurtheile zugleich die von Ge:
ſchlecht zu Geſchlecht überlieferte Wahrheit verworfen wird. Diele
Einfeitigkeit der Neuerung, gegenüber einem einfeitig ſtarren Feſthalten
am Alten und Veralteten, läßt fi) dann auch in dem Kampfe gewah:
ren, der aller Orten auf dem Gebiete der Erziehung und bes Unter
richts zum Ausbruche gekommen iſt.
Eine ganz andere Art von Wirkſamkeit für Verbreitung” von
Kenntniffen, als die Methoden eines Hamilton und Jacotot an
bie Dand geben, tritt in der Anwendung und Ausbreitung des fogenann-
ten Lancaſter' ſchen Schuimefens hervor. Auch diefe Lancafter’fchen
Schulen find der Welt als eine neue Erfindung angekündigt morben.
Es laͤßt ſich indeſſen bemerken, daß unter ben verfchiedenen Lehrmweifen,
die während ber legten fünfzig Jahre aufgetaucht, ſich gar manches
blos Erneuerte befindet; indem ſchon lange vorhandene, aber zeit
weife zurüdgedrängte Sormen des Unterrichts wieder in ben Vorder:
geund gerüdt wurden. Diefes gilt auch von den Schulen, die gewoͤhn⸗
lich nad) dem englifhen Quaͤker, Joſ. Lancafter (geboren 1771), bes
tannt werden. Schon Eicero deutet auf eine Ähnliche Art bes Uns
terrichts. Im 16. Jahrhunderte fand der Meifende bella Valle
etrea daſſelbe Syſtem in Hindoſtan, wo es fchon feit Jahrhunderten
beftanden haben mochte. Unter Louis XIV. dußerte Chevalier Pau⸗
Let ähnliche Anfichten, tie fpäter Lancafter. Nach weſentlich gleis
chen Grundfägen hatte der Geiſtliche der bifchöflichen Kirche, Doctor
Andreas Belt (geboren 1753 zu St. Andrew in Schottland), im
legten Jahrzehente des vorigen Jahrhunderts eine Schule in Hindoſtan
eingerichtet. Aus Indien im Jahre 1795 nad England zuruͤckgekehrt,
gründete er daſelbſt eine gleichartige. Schule und entmwidelte in einer
1797 erſchienenen Schrift feine Methode, auf bie er felbft vielleicht
durch die in Hindoſtan noch beftehenden Einrichtungen war hingeleitet
®) Ueber die Bedeutung der Hamilton s Kacotot’fchen Lehrmethode f. 2.
Tafel in der beutfchen Vierteljahreſchrift, 1838, III,
gancafter’fche Schulen, 619
worden **). eine Unterrichtsanftalt in England hatte kein Gedeihen,
und fo ſchien zugleich feine Methode wieder verfchollen zu fein ; bis fie
Zancaftler aus Bell's Schrift kennen lernte und im Jahre 1798, in
einer Vorſtadt Londons , eine Armenfchule für Knaben errichtete. Bet
der baldigen Erweiterung derfelben führte er ben Unterricht durch bie
Kinder ſelbſt ein und gründete fpäter aud eine Maͤdchenſchule biefer
Art. Zur Verbreitung feiner Methode bereiftte ex Großbritannien in
ben Jahren 1810 und 1811; fand vielfache Unterfiüsung und angefehene
Beförderer feiner Plane. Mehrere Schulen wurden nach feinem Syſteme
gegründet. Jetzt aber erwachte bie Eiferſucht der Episkopaien gegen
den Diffenter. Man erinnerte fi der früheren Leitungen Bell's
und flellte ihn Lancafler entgegen. Bell wurde der Beguͤnſtigte
der Tories und der biſchoͤflich Gefinnten, wie Lancaſter der Mann
des Volks und der Schüsling ber Oppofition. Ein nicht fehr ergög-
licher Streit echob fi) über die Frage nach der Priorität der Erfin⸗
dung und nad) dem, mas bavon dem Einen oder Anderen als eigen
gehöre? Diefe Zwiſtigkeiten thaten übrigens der Ausbildung und
Ausbreitung des Bells Lancarfter'fhen Syſtems eher Vorfchub als
Eintrag , da vom Sabre 1812 an beide Parteien in der Errichtung neuer
Anſtalten wetteiferten. Doc nahm ſich der Staat bes neuen Syſtems
weder in der einen nocd anderen Weile an. Nicht alle Erwartungen
Lancaſter's gingen in Erfüllung, und fo entfchleß er fi, im Sabre
1820 nad Amerika überzufiedein. Von Bolivar unterflügt, grün:
bete er feit 1824 in Columbien mehrere Schulen. Später fchlug er
8 Trenton, in den vereinigten Staaten von Nordamerika, feinen
obnfig auf, und auch hier machte fein Syſtem reißende Fortfchritte-
Gleichwohl fehen wir ihn im Jahre 1828 einen Aufruf an den Wohlthaͤ⸗
tigleitöfian der Amerikaner richten, um feine Samilie in ber tiefen
Armuth, in die fie gerathen mar, zu unterflügen. Seit 1833 lebte er
in großer Dürftigkeit und von feiner Hände Arbeit zu Montreal in
Canada, zus Schmach undankbarer Nationen, deren Woblthäter er in
raſtloſer Thätigkeit geworden war. Sein Gegner Bell war inzwifchen
zu Cheltenham in England, am 28. Januar 1832, in geogem Wohl:
flande geftorben.
Dan Hat das Lancaſter'ſche Schulweſen mit ber Milttdrorganis
fation und dem Unterricht in dem militärifhen Handgriffen und
Mebungen treffend verglichen. Die ganze Schuͤlerzahl, gleichzeitig unter
einem Lehrer und in einem Lehrzimmer vereinigt, ift in befondere Sectio⸗
nen, eine jede von etwa zehn Schülern, abgetheilt. Den einzelnen
Abtheilungen flehen geübtere Schüler als Monitoren vor und dieſe
felbft find der unmittelbaren Oberaufficht einer hoͤhern Claſſe, melde
Obermonitoren beißen, unterworfen. Monitoren und Obermonitoren
”*) Später, 1815, publiciete er daräber ein größeres Werk in drei Baͤn⸗
den: Elements of tnition. A ieten über fein
Erhrivelfe ı erfehtinen — ** uch Lancaſter hat zahireiche Schriften über feine
620 Lancaſter ſche Schule.
werben endlich in letzter Inſtanz vom Lehrer angewjefen und controlirt.
Dieſer hat außerdem einige andere Gehuͤlfen unter den Schuͤlern, die
den Dienſt der kleinen Schulpolizei beſorgen. Jeder Monitor hat ſeine
Abtheilung quf einer Bank, oder in einem Halbkreiſe, vor ſich. Das
ganze Triebwerk wird durch ein ſtreng gehandhabtes Syſtem von Stra⸗
fen und Belohnungen in geordneter Bewegung erhalten. Die Gegen⸗
flände des Unterrichts beſchraͤnken ſich weſentlich nur auf Leſen, Schrei⸗
ben, Rechnen und Auswendiglernen eines Religionsbuchs. Sprachun⸗
terricht, Denkuͤbungen, Singen und Zeichnen fehlen ganz. Eine
eigentliche Bildung des Gemuͤths, eine ſtufenweiſe Entwickelung der
Geiſteskraͤfte iſt unter der ausſchließlichen Herrſchaft dieſer Methode an
fih unmoͤglich; die vielmehr auf nichts Anderes, als auf ein mechani⸗
ſches Abrichten und Einlernen hinauslaͤuft. Die Vortheile des Spflems
befteben in dem kleineren Bedarf an gebildeten Lehrern und in dem
- geringeren Koftenaufiwande, womit fich wenigſtens einige Elementar:
Eenntniffe über größere Maſſen verbreiten laflen; fo wie etwa in der
Gewoͤhnung an eine firenge Ordnung, in welcher jedoch Die geis
flige Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit allzu leicht unterdrädt wird.
Die Anwendung ber Lancafterfchen Lehrweife kann alfo nur
zwedimäßig erfcheinen, too nicht für die Bildung und Beſoldung einer
zureichenden Zahl von Lehrern geforgt if. Sie hat darum in Deutſch⸗
land mit feinen befler organifirten Unterrichtsanftalten, wo man ſchon
vor Sahrzehenten bemüht war, allen todten Mechanismus mehr unb
mehr aus dem Schulmefen zu verbannen, nur wenig Eingang gefuns
den. Mie eb indeffen in Deutſchland über Alles, was fidy irgendwo
geltend zu machen fucht, nit an Schriften fehlt; fo bat die Ent
ftehung des Lancaſter'ſchen Schulweſens eine zahlreiche Literatur zu
Tage gebracht, worin daſſelbe vielfeitig geprüft und erwogen wurde.
In Frankreich dagegen, mo e8 an einer größeren Zahl tauglicyer Lehrer ges
brach und wo man das Bedürfniß einer gewifien Mafjenbilbung lebhaf⸗
ter fühlte, da etwa die Hälfte der Bevölkerung weder lefen moch fchreis
ben konnte, ift das neue Syſtem feit 1814” auch praktiſch zuc Anwen»
dung gelommen. Noch jest ift daffelbe, mit größeren ober geringeren
* Mobdificationen, in weiten Umfange verbreitet ; meiſtens unter dem Namen
des fogenannten wechſelſeitigen Unterrichts, einem unpaflens
den Ausdrucke, da vielmehr nur einzelne Schüler ale Unterlehrer thätig
find. Namentlich zieht man diefe Volksſchulen bes twechfelfeitigen Uns
tersichts, die etwa nur halb fo viel Eoften, als diejenigen für gleichzeis
tigen Unterricht durch einen und benfelben Lehrer, in ſolchen Gemein⸗
den vor, welche ſtark genug bevölkert find, um eine Schule von
40—50 Böglingen bilden zu können. Schon während ber Hundert
Tage war in Paris ein Verein für Verbeſſerungen des Elementarunter:
richts gefliftee worden. Carnot, damals Minifter des Innern, mollte
fit) vor Allem die Einführung der Lancaſter'ſchen Lehrmethode angelegen
fein laffen. Zu diefem Zwecke wurde ein Somite errichtet, das aber keine
Zeit hatte, irgend etwas zu leiften. Nach der Ruͤckkehr der Bourbonen
Laneaſter ſche Schulen. 621
ſuchten jedoch mehrere Mitglieder des Vereins, die ſich in England mit
jener Lehrweiſe bekannt gemacht hatten, dieſe nach Frankteich zu ver⸗
pflanzen. Beſonbders ehdtig waren Graf Laborde ımb Lafteyrie.
Es wurden mehrere Schulen nach Lancaſter's Syſtem errichtet, und in
benen zu Paris wurden zugleich angehende Lehrer in der neuen Mes
thode vertraut gemacht. Diefe kam jeboh nur in den vom Verein
gegründeten ober unterftägten Unterrichtsanflalten zur Anwendung;
denn bie Reſtaurationsregierung, beſonders aber die mächtige Geiſtlich⸗
Leit, fuchte ihrer Verbreitung vielfache Dinderniffe in den Weg zu
legen, und die ultraroyaliftifchen Blätter bemühten fi, fie ale nutz⸗
106, ja fogar, als ſchaͤdlich darzuſtellen. Im Wolle dagegen fand
fie großen Beifall und bedeutende Unterftügung; auch geſchah unter
dem Miniſterium Decazes von Seiten ber Regierung Einiges für
ihre tmeitere Derbreitung. Zwar traten fpäter neue Demmungen
ein. Aber ſchon hatte ſich der Geſellſchaft für Elementarunterricht
eine Menge von Hälfsvereinen in den Provinzen angefchloffen, umb
fo lebhaft vegte ſich aller Orten ber Wetteifer, daß endlich ſelbſt
die Regierung gezwungen wurde, Hand an's Werk zu legen. Doch
geritd man da und dort im mancherlei Webertreibungen, indem
man die Lancafter’fehe Lehrmethode auch in kleineren Schulen und
auf Gegenflände anwenden wollte, wofür fie durchaus unpaffend
war; fo daB man in ber Folge von Manchem ablaffen und auf
Fruͤheres zuruͤckkommen mußte.
Von Frankreich aus fanden die Lancaſter'ſchen Schulen in der
Schweiz Eingang; jedoch am Wenigſten in den Cantonen, wo noch
die Maſſenbildung am Weiteſten zuruͤckſteht und darum ihre Verbreitung
am Zweckmaͤßigſten erſchienen waͤre. Mit dem groͤßten Eifer wurde
dagegen ſeit 1819 m Dänemark, auf beſonderen Antrieb von
Abrahbamfon im Kopenhagen, die allgemeine Einführung des neuen
Schulſyſtems, ſowohl in dem Koͤnigreiche, als in ben Derzogthümern,
betrieben. Ein Erlaß der Eöniglichen Hofcanzlei bezeichnete‘ als befon-
beren Vortheil dieſes Syſtems den „großen Zeitgewinn für die unteren
Claffen, die man nicht mehr in Dingen unterrichten werde, welche
außerhalb ihrer Sphäre Liegen.” Einfichtsvolle Pädagogen, befonders
in ben Derzogthümern, fuchten fich Indefien von ber neuen Methode
nur die flrenge Ordnung, die Genauigkeit und unabldffige Selbftbe-
ſchaͤftigung der Schüler anzueignen, hingegen das Gelfttödtende ihres
Mechanismus zu befeitigen. Auf die genannten Staaten befchräntte
fi nicht die Verbreitung des Lancaſter'ſchen Syſtems. Es drang nad)
Schweden; in einige Theile Italiens, namentlich in das Großher⸗
zogthum Toscana; in das new gefchaffene Königreich riechen:
land. In Rußland war es eine der erften Sorgen des Kaifers
Nikolaus, das Schulmefen auf den Krongütern zu ordnen und für
bie unterften Claſſen die Lancaſter'ſche Methode einzuführen. Wir fin⸗
den diefe felbft in. ber aflatifhen Türkei, wie denn unter An:
derem am der großen Moſchee zu Damask eine Lancaſter'ſche Schule
Pre eancaſter ſche Schalen.
gegruͤndet war, worin 1600 junge Leute gleich Im Leſen bes & ,
vand unterrichtet wurden. Endlich fand daffelbe Soſtem in Aeg
ten Eingang, in den meiften eucopdifchen Gofonieen von Afrika, Afın
und Amerika, in dem Negerflaate Haity und in einen großen Tel
der unabhängigen Staaten des amerikaniſchen Feſtlandes. Wehe
bes Jahrzehents von 1820— 30 war ein eigentlicher Enthufiasmus für
Propaganda des Lancaſter ſchen Schulwefens erwacht, und man nz,
nicht felten geneigt, den Umfang, worin daffelbe Aufnahme gefunden,
für Nationen und Regierungen zum Mafftabe ihrer Aufftärung un
Freiſinnigkelt zu machen. In derſelben Periode war man zugleich vid:
fach darauf bedacht, ſich von allen Fortſchritten des Syſteras Rotiz u
derſchaffen und zu dieſem Zwecke ſtatiſtiſche Zählungen und Bm: |
gleihungen anzuftellen. So hat man berechnet, daß in Dänemark dr
Zahl der Lancafter’fchen Schulen von 1819 bis 1828 ſchon auf 2,3
geftiegen war. In ganz Europa, mit Ausflug Dänemarks, hattı
fi die Zahl derfelben, vom Jahre 1789 bie 1820, auf 5,600 Schuin
mit 1,650,000 Schuͤlern erhoben; tm Afien, Afıila, Amerika un
Auftcalien auf je 1000, 50, 400 und 10 Schulen, mit je 200,000,
20,000, 125,000, 25,000 und 5000 Schülern. Seitdem und bie zum
Sabre 1829 war die Zahl diefer Schulen in Europa auf 10,600 geftie
gen, in Afien, Afrika, Amerika und Auſtralien auf je 1600, 130,
1000 und 100; bie Zahl dee Schüler auf je 4,700,000, 500,000,
50,000, 380,000 und 25,000. Was fodann die Literatur uber dm
fogenannten wechfelfeitigen Unterricht betrifft, fo hat man forgfam zu
fammengezäßlt , daß bis zum Jahre 1829 in Dänemark, Schweden,
Deutfchland, England, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und
Griechenland je 37, 5, 34, 189, 201, 1, 6, 2 und 2 Schriften
über dieſen Gegenftand erfcienen waren.
Lancafterfche Schulen. — Lanbfaffiat. 623
nad) der größeren ober geringeren Verbreitung jener Elementarkenntniffe
bemefien dürfen; aber wenigſtens find diefe en Mittel, das bie
Beſchreitung höherer Stufen bedingt oder erleichtert. Und fo. barf
man wohl behaupten, daß auch die Anwendung ber Lancaſter'ſchen
Lehrmethode die Jahrhunderte verkürzen wird, die vielleicht für. bie
roheren Voͤlker erforderlich geweſen waͤren, um felbftehätig in bie
Weltbildung einzugreifen. S.
Land, ſ. Staat und Staatsgebiet.
Landesherr, Landesherrlichleit, f. Staat und
Staatsgebiet und hberrenlofe Sachen.
Landeöverrath, f. Hochverrath, juriſtiſch.
Landfrieden, f. deutfhe Geſchichte und Fauſtrecht.
Landrath, f. Provinzialftände.
Eandrente, f. Rationalreihthum.
Landfaffiat bedeutete im ehemaligen deutfchen Reiche die Uns
tergebung unter die Xerritorialhoheit eines Landeshern und, da ale
deren Dauptbeflandtheil bie Jurisdiction betrachtet wurde *), insbefon:
bere bie Verpflichtung, bei Iandeshertlihen Gerichten zu Necht zu
ſtehen, in fo fern fi) diefe Verpflichtung auf Alle erſtreckte, die inner:
halb eines landesherrlichen Gebiets entweder ihren Wohnfis hatten oder
unbewegliche Güter befaßen**). Diefes Verhätmiß kam nur in Bes
zug auf Freie in Betracht, bie ſich nad Willkür in bafjelbe begeben
(Landfaffen fein) oder durch Veränderung ihres Wohnfikes oder Wer:
äußerung ihrer Güter fi) ihm entziehen tonnten, — nidt aber in
Bezug auf Leibeigene oder Grundholden, die der Patrimonialgerichte:
barkeit ihrer Grundherren unterworfen waren, und wobei zunaͤchſt nur
binfichtlich diefer Letztern die Frage über das Beſtehen des Landſaſſiats
fih aufwarf. Dem Landfaffiat fand entgegen das Reich sſaſſiat,
als Befreiung von der Landeshoheit und unmittelbare Untergebung un⸗
ter die Hoheit des Reichs, insbefondere unter bie Gerichtsbarkeit ber
hoͤchſten Reichögerichte. — In mandyen Landen wurde regelmäßig Jeder,
ber in dem Territorium wohnte ober unbemwegliche Güter darin befaß,
für verpflichtet erachtet, ſowohl binfichtlich dee diefen Guͤterbeſitz betref⸗
fenden, als auch binfichtlich rein perfönlicher Verhaͤltniſſe Necht bei den
Gerichten des Landes zu nehmen, was den vollen Landfaffiat
(Landsassiatus plenus) begründete. Hierbei fand jedoch die noth⸗
wenbige Ausnahme Statt, daß ein Landesherr, der in dem Gebiet eines
andern unbewegliche Güter, insbefondere Lehen befaß und in leßterer
Beziehung Vaſall des Andern war, ſtets nur binfichtlich der feinen
Güterbefig oder feine Eigenſchaft als Wafall angehenden Verhaͤltniſſe
der Hoheit des andern Landeshern fidy unterordnete. In anderen
Landen wurden diejenigen, bie innerhalb des Territoriums Güter be:
2% Eichhorn, deutſche Staats⸗ und Rechtegeſchichte (d. Aufl.) Th. IV.
'#*) Pfeffinger, corp. jür. publ, T. II. Lib.I. V. 22.
D
634 Banbffie.
faßen ohne zugleich ihren Wohnfis daſelbſt zu haben, überhampt nur
hinſichtlich dee aus biefem Güterbefig entſtehenben, nicht aber hinſicht ⸗
ich fonftiger, rein perfönliher Verhaltniſſe ber Territorialgerichtsbarkeit
untergeben betrachtet, was den Begriff von unvolltommenem (mi-
mus plenus) Sandfafftat ergab. Endlich gab es Lande, im denen
getolffe Claffen von Inſaſſen, vermöge ihres mit perſoͤnlichem Adel ver»
Inhpften Grundbefiges, von ber Landeshoheit und Zerritorialgerichtsbar:
teit frei waren und das Vorrecht der Reichsmittelbarkeit genoffen. Zu
biefen Infaffen gehörten die ehemaligen mit Grundherrlichkeit begabten
Neidyeritter In Schwaben, Franken und am Rhein. In dieſen Lan
den galt daher der Landſafſiat in keiner Beziehung, fondern es bes
flimmte ſich nach andern Verhättniffen, ob ein Infaffe der Territotial-
gerichtöbarkeit unterworfen war oder nicht.
Diejenigen Lande, in denen der Lanbfaffiat ald plenus oder minus
plenus Beftand hatte, hießen gefhloffen, bie übrigen dagegen, zu
welchen übrigens nur die Reihslande Schwaben, Franken und zum
Teil am Rhein gehörten, ungefhloffene. Diefe Verſchiedenheit
beruhte darauf, daß, nachdem bie gedachten Lande nach dem Aueſterben
der früheren Herzöge an das Reich zurhdigefallen waren, bei deren
Wiederverlelhung dem Reich die unmittelbare Hoheit über dem darin
anfäffigen Adel und deſſen Güter refp. diefem die Reicheummitteihar:
teit als vorbehalten betrachtet und in der Folge durch Privilegien ges
ſichert ward*), was hinſichtlich der übrigen Territorien nicht Gtaft
fand **). — Zu den Territorien mit vollem Lanbfaffiat gehörten
namenilich Sahfen***), Baiernt), Selfentd Heut zu Tage,
da die Reicheunmittelbarkeit mit dem Weich verſchwunden iſt, muß,
nach der Natur der Sache, ein Seber, der in einem deutſchen Staat
t
Landfaffiat. — Landtagsabfchieb. 625
fie würde daher für diejenigen Lande zu bejahen fein, wo damals der
volle Landfaffiat beftanden hat *).
©. Ruͤhl.
Landftände, f. Conftitution, Abgeorbnete und Deutz
ſches Staatsredt.
Landflragen, f. Straßenbau.
Landſturm, f. Heerwefen.
Landtag, f. Conftitution.
Landtags abſchied. — Wenn ſich polltiſche Verfammlungen
unter öffentlicher Auctoritaͤt zu Rathſchlag und Entſcheidung zeitweiſe
vereinigen, fo liegt es in der Natur der Sache, daß nach Beendigung
ihrer Arbeiten bie Refultate derſelben für das öffentliche Leben über:
ſichtlich zuſammengefaßt werden. Die Urkunde, womit eine ſolche
Verfammlung am Schluſſe ihrer Verhandlungen entlaffen wird, heißt
in der deutſchen Geſchaͤfisſprache „Abfchied” (recessus), Nach der
Art der Verſammlung wird eine ſolche Urkunde näher bezeichnet als
Reichsabſchied, Landtagsabfchied , Kreisabſchied, Landtathsabſchied, als
Tagfatzungsabſchied für die Verſammlung ber eidgendffifhen Gefandten
in der Schweiz u. f. w.**) Solche Abſchiede werden in der Regel
oͤffentlich befannt gemacht, und es verſteht fich, daß dies gefchehen muß,
fobald fie eigentlich gefegliche Beſtimmungen enthalten. In diefen Urs
tunden werden alle Beſchiuͤſſe der Verfammlung aufgeführt; fo mie
die Refolutionen derjenigen Behörden auf die Anträge, Gefuhe und
Beſchwerden ber berathfchlagenden Koͤrperſchaft, mit melden dieſe in
politiſcher Relation fieht und unter deren Auctorität fie berufen worden
iſt. Die Sache und der Sprachgebrauch bildeten ſich zunächft in Bes
ziehung auf die Reichstage. Nicht blos diejenigen Beſchlüſſe, worüber
fid) die Kaifer mit den im 15. und 16. Jahrhunderte gebildeten drei
Neichscollegien vereinigt hatten, wurden in den Relchs abſchied auf
genommen; fonbern gewöhnlich auch die weiteren Puncte, über welche
eine Verftändigung zwiſchen dem Kaiſer und den mädhtigften Reiche:
glledern zu Stande gekommen war. Im Iegteren Faile ſuchte man
ſich noch den Beitritt der nicht gegenwärtig getwefenen Reichsſtaͤnde zw
verfhaffen umd dadurch bie Vereinbarung fo weit zu verftäcken, dag
ſich die Diffentieenden das Verabſchiedete gleihmohl mußten gefallen
laffen. Dec Reichsabſchied wurde dann meiſtens ducd ein kaiferliches
Decret (Hofdecret), auf das Gutachten der Reichsſtaͤnde, ertheilt. Da
vom Jahr 1663 an der Reichstag beftändig verfammelt blieb, fo konnte
feitbem von feinem eigentlichen Reichsabſchiede mehr bie Rede fein.
*) Eichhorn, Cinleit. in das deutſche Privatrecht mit Einſchluß des
Lehnrechts $. 75.
**) Eine eigenthuͤmliche Bedeutung hat der Austrud „in den Abfchieb
falten“ nach ber ſchweizeriſchen Gefhäftsfprache. Er gilt für biejenigen Be—
rathungegeaenftänbe,, wofür feine reglementarifche Mehrheit erhalten worden
iſt oder wofür ſich einzelne Stände bie Katification, oder das offene Pros
tocoll, oder das Referendum vorbehalten haben.
Staats : Lexiton. IX, 40
626 Lanbtagsabfchied.
Hiernach iſt derjenige von 1654 als ber jüngfe in ber beuitfäen
Wir fih num überhaupt die Territoriatserfoffungen mad dem Mer |
bilde der Meichsverfaffung entwidelt hatten; fo die Lund
un in Form und Namen nach biefem > u
Die Form diefer Landtagsabfchiede beginnt erſt mit dem
I Jahrhundert und wurde mamentlich durch die Be
fhrerden veranfaft, die von Selten der Stände ı und mer
Über die Megenten ihre Beſch zu faflen Nicht feitem
Inüpften die inde die ihnen angefonnenen an die
atfı
tagsabfehleden ten Freiheiten ber Ad:
tiget ober erweitert Unter die neu derwiligten gehörten
namentlich, im 16. Jahrhundert bie Verſprechungen der Regenten ,
fe nicht ver werden folle; daß fie fih ohne
oder ande in sine Wündniffe umd ein
wollen; ja zumeilen die Bufiderung, daß bie
jeder wichtigen Am enheit follen zu Rath gejogen werden. Als mir
Ausbildung der vollen ‚öheit feit Ende des breißigiährige
das fändifhe Wefen ——— in — gerleih⸗
Landtagsabſchiede
ſeltener erſchlenen erſt wieder 8
des Artikels 13 ar Banane als ie die
(dichte * deutſchen Bundesſtaaten. ſle bei der öffnn g
diſchet Verſammlungen in der Ehroncede De Stel
die noch —— Plane und Abſichten der 9 1
teten; fo brüct fid in dem Landtagsabſchiede das
”
Landtagsabfchied. — Landwirthfchaft. 627
Endlich folgen die millfabsenden, abmeifenden ober verheißenden Reſo⸗
Iutionen des Regenten auf fländifche Antsäge, Geſuche und Beſchwer⸗
den, fo weit diefe nicht früher, als conner mit den ſchon aufyseführs
ten legislatorifcyen Beftimmungen, ihre Erledigung erhalten haben.
In der Natur der Sache liegt es, daß Landtagsabichiede nur in
ſolchen Staaten mit fländifcher oder repräfentativer Verfaſſung erlaffen
werden, mo bie ftändifchen Verſammlungen periodifh und nach läns
gern Zwiſchenraͤumen Statt finden; mo fidh alfo das Öffentliche Leben,
in Beziehung auf die gemeinfame verfafjungsmäßige Thaͤtigkeit des
Fuͤrſten und ber Volksvertreter, nach gewiſſen Abfchnitten gliedert.
Darum kommen die Abfchiede in ſolchen größeren Staaten nicht vor,
in welchen, wie etwa in Großbritannien und in Frankreich, die Organe
des Monarchen und des Volkes in einer fortwährenden, oder nur aus⸗
nahmsweiſe unterbrochenen Berührung und Wechſelwirkung bleiben. —
S. Eichhorn, deutfhe Staates und Rechtögefchichte F. 262, 436,
546, 5875. Klüber, Gtaatbaseıtv Band 1. ©. 1%. Deffentliches
Recht des deutſchen Bundes $. und die bafelbft angeführten
Schriften. v. Zangen, Verfaffungsgefege deutſcher Staaten Bd. II.
S. 211, 239. Ludw. Spell, Handbuch des ſchweiz. Staatsrechts
Br. 1. ©. 158, 162 — 164. |
Landwehr, f. Heerwefen.
Landwirthfchaft. — Die Landwitthſchaft, d. h. der Pflanzen,
bau in Verbindung mit der Thierzucht (excl. der Forſtwirthſchaft), bil⸗
bet bei jedem Volke, welches das Nomadenleben verlaffen und fefte
Wohnfitze aufgefchlagen bat, das erſte und wichtigſte Gewerbe.
Der landwirthſchaftüch benugte Boden liefert einer weit größeren
Menſchenzahl fiherer und nachhaltiger die nothwendigfien Lebensmittel,
als dies auf der Stufe des Jäger: und Hirtenlebens durch biofe Jagd
und Viehzucht irgend möglich iſt; er ift in den meilten Ländern bie
seichfte Quelle der öffentlihen Einkünfte, und auf ihm erwaͤchſt für den
Staat die größte Zahl tüchtiger waffenfähiger Männer.
Man bat daher ſchon im Altertum dem Landbau den Rang vor
allen anderen Gewerben angemwiefen, als der urfprünglichften, noths
wendigften, natuͤrlichſten Beſchaͤftigung, als derjenigen wicthfchafte
lihen Thaͤtigkeit, welche zugleich ein Vergnuͤgen gewährte und dem
Geiſt und Körper ſtaͤrke zu Allem, was einem freien Manne zieme.
ınnium autem rerum, quibus aliquid acguiritur, nihbil est egri-
cultura melius, nibil uberius, nilil dulcius, nibil homine libero
dignius. (Cicero.) Die landwirthſchaftliche Kunft der Römer vers
pflanzte ſich unter ihrer Herrſchaft auch in biejeniyen Theile Deutfchs
lands, in welchen fie fich niedergelaffen butten; namentlich war dies
am Rhein und an der Donau der Fall.
In der fpäteren wild bewegten Zeit des Mittelalters warb ihr
weniger jene Achtung und Aufmerkſamkeit geſchenkt, die ihr im Alters
thum zu heil geworben. Unficherheit, Unwiſſenheit und der Drud
des Reibeigenfchaft laſtete hart auf ihr. Hoͤchſtens uf ben Eöniglichen
-
638 Landwirthſchaft.
Domänen und in der Nähe der Kloͤſter fand fie ſorgſame "Pflege.
Kart der Große mar es namentlih, der die Domaͤnenwirthſchaft forg-
fältig xegelte und die Geiftlichleit durch Ertheilung des Zehentrechts
für das Gedeihen der Landwirthfchaft intereffirte.
Nicht ohne wohlthaͤtige Wirkung auf den Landbau blieben bie
Kreuzzüge, indem durch fie der Handel und die Gewerbe und damit
das Aufblühen der Städte gefördert, die Nachfrage nach landwirth⸗
fhaftlihen Producten gefteigert, das Capital auch im Landbau ver-
mehrt und ber Drud der Leibeigenfchaft etwas gemildert wurde.
Die Entdedung des Seewegs nad) DOftindien und Amerika war,
indem der Handelszug zum Nachtheil Deutfchlands ſich änderte, dem
Aderbau weniger günftig, und endlich zerftörten bie religiöfen Wirren
die Sucht bes Fleißes und der Sparfamkeit von Jahrhunderten.
Mährend Holland, Frankreih und England an Macht und Reichthum
fliegen , verfiel Deutfchland in Armuth, Unmacht und Schmach.
Nach Beendigung bes dreißigjährigen Kriegs fingen die deutfchen Res
glerungen, nothgedrungen, an, bie fhweren Wunden zu heilen, die
dem allgemeinen Wohlftand gefchlagen worden waren. Man vertheiite
die Domänen des Staats in kleinere Güter und verlieh fie an Zeit:
oder Erbpaͤchter; man fuchte durch Errichtung von landwirthſchaftlichen
Lehrftellen auf den Univerfitäten Iandmwirthfchaftliche Kenntniffe zu vers
breiten u. f. m.; allein die Leibeigenfchaft dauerte fort, und der Wohl:
ftand der Städte war geſunken, damit aber die wohlthätige Ruͤckwir⸗
tung der letzteren auf den Landbau gefhmwädt. Auf ihre Hebung ward
daher vorzugsmweife nah dem Worbilde von Frankreih und England
durch Förderung ber Gewerbe und des Handels das Augenmerf ber
Regierungen gerichtet; allein biefe Richtung mar eine einfeltige und
dem Landbau vielfach ſchaͤdliche; denn fie führte zu Beſchraͤnkungen
ber Ausfuhr landwirthſchaftlicher Probucte, namentlich des Getreides,
der Wolle und bergleihen; zu Wälzung ber hauptfächlichflen Laſt der
Abgaben auf den Grund und Boden.
Manche Fürften, wie Friedrich der Große, Joſeph II, waren allers
dings, obgleich fie in ihrer Handelspolitik dem Mercantilfuftem huldig⸗
ten, träftige Sörberer des Ackerbaues. Auf fie wirkte aber auch bereits
ber Umfchwung, der ſich in ben vollswirthfchaftlihen Anfichten vorbe⸗
teitete. (©. z. B. Roͤdenbeck, Finanzfpftem Friedrich's des Großen.
Berlin, 1838.)
Die Lehre der Phnfiokraten in Frankreich nämlid war es, bie
auf den Landbau, als die Baſis aller volkswirthſchaftlichen und gefells
fhaftlihen Entwickelung, hinwies, bie auf Löfung der Feſſeln und
Aufhebung der Laften, welche den Landbau hemmten und drüdten,
drang und nicht nur auf franzoͤſiſche, fondern auch auf die beutfche
Wirthſchaftspolitik einen fehr bedeutenden Einfluß ausübte.
Wohl find aud die Phyſiokraten in eine große Einſeitigkeit ver:
fallen. Wenn fie gleich nicht verfennen, dag die technifchen Gewerbe
und ber Handel für die menfchliche Gefelfchaft in hohem Grade nüßs
Landwirthfchaft. 629
liche Beſchaͤftigungen find, fo leugnen fie doch, daß durch biefelben ber
Reichthum der Völker vermehrt werden Einne, weil fie annehmen, daß
die Production der Gewerbsleute ꝛc. durch ihre Confumtion aufgewo⸗
gen werde. Nur durch den Landbau, der einen Ueberfhuß über die
Productionskoften, einen reinen Ertrag gemähre, koͤnne das Volksver⸗
mögen vermehrt werden. Sie verlangen daher, daß alle Steuern
lediglich von diefem reinen Ertrag des Bobens erhoben werben follen.
Diefe Anfiht, die auch neuerlich wieder (von Dutens, philo-
sophie de l’economie politique.. Paris 1835. — Defense de
la philosophie etc. p.1837) als die einzig richtige vertheidigt worden
ift, verdient um fo mehr eine nähere Beleuchtung, als der Beweis,
daß der Landbau nicht das allein probuctive Gewerbe fei, im Intereſſe
deſſelben felbft Liegt.
Man kann die Frage über die Probuctivicät oder Unproductivitdt
der Erwerbsgefchäfte in eimer zweifachen Beziehung auffaflen und bes
antworten. Man kann fragen: ob ein Gewerbe Güter von höherem
Gebrauchs werthe hervorbringe, ober den vorhandenen Gütern einen
höheren Gebrauchswerth hinzuſetze, als der während bes Productions⸗
gefchäfts verzehrte Werth betrage? Oder — ob ein Gewerbe dem
Preiſe nach mehr einbringe, al$ bie Behufs der Production verzehrte
Süterfumme, dem Preife nah berechnet, bettage? Lest man
der Betrachtung den Gebrauchswerth der Güter zu Grunde, fo läßt
fi) allerdings der Beweis von der Productivität des landwirthſchaft⸗
lichen Gewerbes am Leichteften führen, da der Lanbwirth in der Negel
im Stande ift, einen Theil feines Naturaleinlommens, 3. B. an den
Grundherrn, an die Kirche 2c., abzugeben. Schwieriger ift der Beweis
bei den technifchen Gewerben, da man hier bei der Vergleihung mit
ungleihartigen Gütern zu thun hat, beren Werthgroͤße ſich nicht mit
mathematiſcher Genauigkeit beftimmen läßt. Uebrigens iſt e8 auch den
Phyſiokraten nicht eingefallen, zu behaupten, daß der Lebensgenuß der
Menfchen ohne alle technifche und Hanbelsthätigkeit derfelbe fein wuͤrde,
wie er es iſt mittelft ihrer Beihülfe. Man kann e8 daher als eine.
feines weiteren Beweiſes bedürftige Thatſache anfehen, daß, wenn man
den Einfluß der technifchen Gewerbe. und des Handels auf das menſch⸗
liche Wohlſein, auf die Erhöhung des Werths dee Güter für menſch⸗
lichen Gebrauch in's Auge faßt, ihnen in der Regel eine hohe pro:
ductive Kraft inwohnt. Man möchte fogar den Phyfiokraten gegen-
über verfucht fein, die Behauptung aufzuftellen, daß vorzugswelfe jenen
Gewerben eine probuctive Kraft zulomme, meil ohne ihre Deitwir:
tung der größte Theil der Urprobucte gar einen oder nur einen fehr
untergeordneten Werth haben würde und erft duch die technifche Thaͤ⸗
tigkeit und durch den Zransport in ben Kreis der Dinge von Werth
für die Befriedigung menfchlicher Bebürfniffe hereingezogen wird. Allein
es ift überhaupt. unpaffend, die eine ober die andere gewerbliche Thaͤ⸗
tigkeit blos für fi, abgefehen von ihrem organifhen Zufammenhange
mit den übrigen aufzufaflen. Wenn duch das nothmwendige organifche
630 = Landwitthſchaſt.
Zuſammenwirken ber verſchiedenen gewerblichen Thaͤtigkelt eine ro:
ductenmaſſe erzielt wird, die nicht blos die Beduͤrfniſſe der Unterneh⸗
mer und Arbeiter befriedigt, fondern überdies eine Reihe anderer Wolke:
Auffen, mie der Grundeigenthuͤmer, der Staatsdiener ıc., nähert und
Heidet und mit Wohnungen und taufend Gemächlichleiten und Ziers
ben verfieht, und eine Aufſammlung von Sapitalien geftattet, — wenn
ein folcher Ueberſchuß Über die Verzehrung der gemerhtreibenden Gi
nur unter ber Vorausfehung ihres organifchen Zuſammenwirkens ⸗
It iſt, wer kann der einen oder der andern dieſer Claſſe ihre Mit
wirkung zu der Hervorbringung jenes Ueberſchuſſes, d. h. ihre pro-
ductive Kraft, abfprehen?
Geht man alfo bei der Betrachtung von dem Gebrauchswerthe
aus, fo kommt keineswegs blos dem Landbau Produetivität zu.
Es ift daher die Frage: ob die phyfioßratifche Anficht etwa unter
der Vorausfegung, daß ber Preis der Güter der Betrachtung zu
Grunde zu legen ſei, ihre Richtigkeit habe?
Wenn gleich diefe Borausfehung nicht als richtig zugeftanden wer⸗
ben Tann, fo fol doch auch von diefem Standpuncte aus bie Frage
in's Auge gefaßt werden.
Die techniſchen Gewerbe und ber Handel follen bem Preis ber
Urftoffe nur fo viel zufegen, als der Preis der Güter betrage, bie
während der tedhnifchen und Handelsthaͤtigkeit verzehrt worden feien.
Diefe Behauptung wird aber fouleih durch bie tägliche Erfahrung
Lügen gefttaft. Zieht nicht aus dem Preife der Gewerbsprobucte nach
Abzug bes Preifes aller der Production willen verzehrten Güter ber
Unternehmer regelmäßig einen reinen Gewinn, ber Gapitalift einen
Zins? Eruͤbrigt nicht der Arbeiter von feinem Lohne bäufig noch
einen Keinen Sparpfennig? Und all' dieſes finder nicht blos
zufältig, duch Kargen und Feilſchen und günftige Preisconjunetus
ven, fonderh cegelmäßig und nothwendig Statt, wenn
die Bolksbetriebſamkeit einen erwünſchten Kortgang
haben ſoll.
May man alfo von dem Gebrauchſswerth oder von dem
werth der Vermoͤqenstheile ausgehen, fo ergibt fi das Reſultat, daf
keineswegs der Landbau allein zu Vermehrung des Volksvermoͤgens
beisutragen vermag, daß alfo aud die Forderung der Phyfiokraten,
alle Steuern auf den nad ihrer Anfiht allein einen reinen
gemwährenden Landbau zu legen, zum Gluͤcke des letzteren ihre Grund»
lage verliert.
Trotz dieſem Nefultat bleibt die Behauptung ber Phyfiokraten
wahr, daß die Landmwirthfchaft die Bafis aller volkswirthſchaftlichen und
gefellfhaftlichen Entwidelung bildet, daß von ber Groͤße des Webers
ſchuſſes an Rohproducten, meldyer von der Landbau treibenden Bevoͤl⸗
kerung über ihren eigenen Bedarf erzielt wird, die Größe aller weiteren
der Pflege des Eörperlichen und geiltigen Wohle der Geſellſchaft fich
widmenden Bevoͤlkerung hauptſaͤchlich bedingt iſt: es bleiben ihre An:
Landwirthſchaſt. 631
forberungen an ben Staat, alle die Entwickelung des landwirthſchaft⸗
lichen Gewerbes hemmenden Feſſeln, perſoͤnliche Unfreiheit der Land⸗
leute, laͤſtige Abgaben u. ſ. f., wegzuraͤumen, vollkommen in Kraft.
Dieſe Anſicht theilt die neuere Theorie in vollem Maße. Nur
von der Einſeitigkeit, daß hauptſaͤchlich das landwirthſchaftliche Ge⸗
werbe die Fuͤrſorge bes Staats verdiene, bat fie ſich losgemacht, und
indem fie nicht geringere Sorge für die technifchen Gewerbe und den
Handel in Anfprudy nimmt, leiſtet fie dem Landbau felbft die größten
Dienſte. Denn nur wenn fie wechfelfeitig auf einander wirken, kann
die Landwirthſchaft erſtarken und zu voller Bluͤthe fich entfalten.
Unteugbar bat die deutſche Landwirthſchaft, trotz der leuten fran«
zoͤſiſchen Kriege, Fortſchritte gemacht; Dank den Bemühungen der
Wiſſenſchaft, welche die Landwirthſchaftslehre duch naturwiſſenſchaft⸗
liche Kenntnifſe bereichert und Bekanntſchaft mit den Fortfchritten
fremder Voͤlker verbreitet hat; Dank ferner den Bemühungen der Res
sierungen, welche durch Errichtung landwirthſchaftlicher Lehranftalten,
duch Muſterwirthſchaften, durch Löfung mandyer ben Landbau hems
menden Seflein uw. f. f. zu feinem Anffchwung beigetragen oder wenigs
ſtens die Möglichkeit weiterer Entwidelung ihm verſchafft haben.
Keineswegs aber iſt der Kreis der Werbeflerungen gefchloffen. Verdienſt
genug iſt in der Zukunft nod zu erwerben !
Da der Ertrag des Bodens bei einigermaßen forgfältiger Bewirth⸗
ſchaftung vegelmäßig größer iſt, als die mit dem Landbaue befchäftigs
ten Perfonen zum unmittelbaren Verbrauch und zum Eintaufch ihrer
übrigen Beduͤrfniſſe nöthig haben, fo iſt Hierdurch die Möglichkeit .
gegeben, daB, fo weit der Staat den Ueberfhuß nicht in Anſpruch
nimmt, irgend ein Thetl der Bevoͤlkerung fich denſelben zueignet. Dies
ift auch In der That auf mannigfache Weife gefcheben.
Bald hat eine mächtige Kaffe der Geſellſchaft einen in perfönliche
Abhängigkeit verfallenen Theil ber Bevoͤlkerung, wie die Sklaven, Leib⸗
eigenen u. f. f., gezwungen, ihre Srundftüde zu bebauen und ben
Ueberfchuß über den nothwendigen Lebensbedarf ber Lebteren fich zuges
eignet. Bald Hat der ausfchiießliche Bells des Bodens die Grund⸗
eigenthäner in den Stand gefeht, für die pachtweiſe Benusung ihres
Eigenthums Anderen die Abgabe eines bedeutenden Theild des Ertrags
aufzulegn *). Doch auch auf dem Wege des völlig freien Verkehrs
tönnen die Grundeigenthümer eine mit der Entwidelung ber bürgers
lichen Geſellſchaft ſtets fleigende Rente fi) verichaffen, während bie
Rente der Capitaliften im Laufe der Zeit gewöhnlich ſinkt.
Die natuͤrliche Ertragsfaͤhigkeit der verfchiedenen Grundſtuͤcke naͤm⸗
lich iſt ſehr verſchieden; fie find durch die Naͤhe oder Entfernung des
Marktorts, durch die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des Transports der
—
*) Das merkwuͤrdigſte Beiſpiel in dieſer iſt Irland. (S. z. B.
die Auszäge aus Parlamentsacten: „ber —S Bin, 1840)
632° Landwirthſchaft.
Producte u. ſ. f. in einer bald mehr, bald weniger guͤnſtigen Pag.
Wenn nun durch die Nachfrage nach Bodenerzeugniffen der Preis de: !
felben fo geftiegen if, daß auch die fehlechteren ober überhaupt unte
den ungünftigften Umftänden bewirthſchafteten Grundflüde die Br
bauung lohnen, fo find die Eigenthümer ber einträglicheren in der
Stand gefeht, für die VBenugung derfelben von ben Pächtern fidy eine
Rente auszubedingen, bie um fo größer if, je mehr der Ertrag ber
felben den ber weniger begünftigten überfteigt-
&o bildet fih von felbft aus den Nature und Verkehrsverhoͤlt⸗
niffen eine Grundeigenthümerclaffe, melde je nad) dem Umfange ihre
Befigungen ganz oder theilweiſe von ihren Bodententen Leben kam, :
eine Claſſe, deren Einkommen aud ganz abgefehen von ihren Capital: |
anlagen auf Grund und Boden fleigt, je mehr duch das Wachsthum
der Bevölkerung und die Zunahme der Induſtrie die Nachfrage nah
Bodenprobucten ſich vermehrt, der Anbau von immer fchlechteren
Grundftüden zunimmt, und ber Preis der Urproducte in Folge diefer
Urfachen in die Höhe geht: In fo fern eine Steigerung des Preife
der nothwendigſten Lebensmittel in dem Intereffe dieſer Claffe liegt,
bat man ihr Intereffe als im Widerſpruche mit dem aller übrigen
Voltksclaſſen ſtehend dargeſtellt.
Aus einer naͤheren Betrachtung der Sache ergibt ſich jedoch Fel⸗
endes:
Das Intereffe der Grundeigenthuͤmer wird freilich durch das Ster
gen bes Preiſes ber nothwendigſten Lebensmittel, das aus verftärkn
Nachfrage und der Ausdehnung des Aderbaues aud auf fdhlechter
Grundflüde entfpringt, gefördert, das der übrigen Wolksclaffen ab
eben hierdurch unmittelbar benachtheiligt- Wenn daher das Gteigen
des Preifes der nothwendigſten Lebensmittel für die Legterem nicht durch
a L h
Landwirthſchaft. 633
zu fördern, begriffen find, von einem höheren Geſichtspuncte aus auf:
gefaßt, nicht im MWiderfpruche mit dem der Übrigen Volksclaſſen fteht.
Die Zortfchritte des landwirthſchaftlichen Gewerbes find, abgefehen
von dem hoͤchſt foͤrderlichen Einfluffe der technifchen Gewerbe und des
Handels, durch gefleigerte Nachfrage nach Urprobucten zur Nahrung,
Berarbeitung u. f. f., durch Lieferung wohlfeiler Werkzeuge und Ge-
räthfchaften, durch Uebertragung von Gapitalien auf den Landbau
u. f. f., hauptſaͤchlich durch folgende Umftände bebingt:
1) durch perfönlihe Freiheit ber Landbau treibenden Claſſe;
2) durch möglichft freien Grundbeſitz derfelben.
Für die landwirthſchaftlichen Fortſchritte am Zuträglichften iſt das⸗
jenige Verhältniß, wobei der Grund und Boden in dem Eigenthum
vermöglicher ſelbſtwirthſchaftender Landwirthe ſich befindet; der Ertrag
denfelben in moͤglichſt ungeſchmaͤlertem Maße zufällt, und die Erſpar⸗
niß regelmäßig auf den Boden als Capital zurüdfließt. Doc, ift auch
ein Pachtſyſtem, bei weichem die Güter in angemeffener Größe auf
eine beträchtliche Anzahl von Jahren an wohlhabende und gebildete
Paͤchter verliehen merden, der Cultur bes Bodens nicht hinderlich;
hoͤchſt ſchaͤdlich dagegen tft ein Pachtſyſtem, bei welchem die Güter in's
Unendliche zerfplittert, an arme unwiſſende Pächter auf eine kurze Reihe
von Jahren gegen hohe, durch die Concurrenz abgeprefte Pachtzinfen
verliehen werden, und eben beshalb jeder Trieb und jebe Fähigkeit zu
Verbeſſerungen fehlt.
Das Verhaͤltniß des zroifchen dem Grundherrn und Bauern getheit-
ten Eigentbums kann zwar nicht unter allen Umftänden ale abfolut
ſchaͤdlich und verwerflich betrachtet werden; allen da fich thatfächlich
an daffelbe in der Regel eine Reihe hoher und Iäftiger Abgaben und
Dienfte für den Landwirth Enüpft, fo liegt es im allgemeinen Intereſſe,
daß der Staat es dem Landmann möglich macht, durch Ablöfung jener
Laften und Dienfte ſich volles und freies Grundeigenthum zu verfchaffen.
(5. die Artikel „grundberrlihe Abgaben‘, „Frohnen“, „Zehenten“ u. f. f.)
3) duch die Freiheit des Land manns hinſichtlich der
Benusgung feines rundes und Bodens.
Xeecht und Klugheit fordert, dem Landmanne die Art und Weife
des Anbaues feines Feldes freizugeben. Ob er feinen Ader mit Ger
treide ober Handelsgewaͤchſen anbaue, feine Wiefe in einen Adler, oder
feinen Weingarten In ein Fruchtfeld ummandeln will, oder umgekehrt, .
ift feiner Einfiht und Berechnung zu uͤberlaſſen. Denn man darf
fiher fein, daß'der Einzelne diejenige Benugungsart wählt, die feinem
Intereſſe und feinen Verhältnifien am Angemefienften ift, und bie
daher in der Regel auch volkswirthſchaftlich die zweckmaͤßigſte iſt.
Die eigenthümlichen Grundſaͤtze, welche nad) Umftänden in Bezug
auf die Rodung der Privatwaldungen in Anwendung kommen müffen,
find in ben betreffenden Artikeln ausgeführt.
Auf gleihe Weife, wie dem Landmanne die Wahl ber Pflanzen,
womit er fein Feld bebauen will, — durch Aufhebung der etwa bes
os Landwirthſchaſt.
ſtehenden polizellichen oder plivatrechtlichen Hiuderniſſe — anbeim je
geben iſt, fo If ihm auch die Reihenfolge des Anbaues, die Feidrote⸗
tion, überhaupt die Einrichtung des ganzen Wirthſchaftsfyſtems au übır
taffen. Wird namentlic) der Landbau auf großen arrondirten Gütern der
trieben , fo ift lediglich fein Grund vorhanden , bie Bewirthfchaftunge:
weife polizeilih vorzufcpreiben. Der Staat kann unmöglidy befie
twiffen als die Gefammtheit aller Landwirthe, mas dem Intereffe eines
Jeben am Meiften frommt. Bei zerftüdeltem Grundbefige muß fi
allerdings der Einzelne mehr in die Ordnung der Menge fügen. Did
ift man auch hierbei in der Beſchtaͤnkung häufig zu weit gegangen, und
theils beſſere Einfichten, theils veränderte Verhättniffe haben mit Redt
Veranlaffung zu Maregeln gegeben, welche die möglichfte Auflöfung
der polizeilichen und privatrechtiichen Hinderniſſe der freien -WBerwegung
des Einzelnen zum Biel haben. Um dies näher zu erldutern, fol
kurz auf bie Entwidelung ber verfledenen Kelderfpfleme eingn
gangen werden.
Die frühefte und roheſte Art des Aderbaues iſt bie fogenannte
Wehfelwirchfhaft. Sie wird angewendet in einer Zeit umb Be
gend, wo Boden im Ueberfluß vorhanden, an Bänden und Gapitd
aber Mangel ift. Das dem Anbau gewidmete Gelb zerfällt (abgefchen
von einigem Garten: und Wiefenland) in zwei Theile. Jeder ie
wird benugt, fo lange bie natürliche Kraft bes Bodens ohne künſtuch
Düngung Emten erzeugt, in der Art, daß, während der eine Theil
Früchte trägt, der andere brach liege, bis er durch bie Einwirkung
bee Atmofphäre, des Regens, der verwef’ten Kräuter u. ſ. w. Redfie
m neuen Ernte gefammelt hat. Inzwiſchen dient er dem Mich zur
eide.
Landwitthſchaft. 633
zu fördern, begriffen find, von einem höheren Gefichtspuncte aus auf-
gefaßt, nicht im MWiderfpruche mit dem der Übrigen Volkeclaſſen fteht.
B Die Fortſchritte des landwirthſchaftlichen Gewerbes find, abgefehen
von dem hoͤchſt foͤrderlichen Einfluffe der technifchen Gewerbe und des
: Handels, durch gefteigerte Nachfrage nad Urproducten zur Nahrung,
Verarbeitung u. f. f., ducdy Lieferung mohlfeller Werkzeuge und Ge:
x raͤthſchaften/ durch Uebertragung von Gapitalien auf den Landbau
u. f. fi, hauptſaͤchlich durch folgende Umftände bebingt:
1) durch perfönlihe Freiheit der Landbau treibenden Glaffe;
2) ducd möglidhft freien Grundbefig derfelben.
Für die iandwirthſchaftüchen Fortſchritte am Zutraͤglichſten ift das⸗
jenige Verhättnig, wobei der Grund und Boden in dem Eigenthum
& vermöglicher ſelbſtwirthſchaftender Landwirthe ſich befindet; der Ertrag
denſelben in möglichft ungeſchmaͤlettem Maße zufällt, und die Erſpar—
a niß regelmäßig auf den Boden als Capital zuruͤckfließt. Doch ift auch
ein Pachtfoftem, bei welchem die Güter in angemeffener Größe- auf
„ eine beträchtliche Anzahl von Jahren an wohlhabende und gebilbete
; Pächter verliehen werben, der Cultur bed Bodens nicht hinderlich;
„ böchft ſchaͤdlich dagegen ift ein Pachtſyſtem, bei: welchem die Güter in’6
Unenbliche zerfpfittert, an arme untoiffende Pächter auf eine kurze Reihe
von Jahren gegen hohe, durch die Concurrenz abgepreßte Pachtzinfen
verliehen werben, und eben deshalb jeder Trieb und jede Fähigkeit zu
Verbeſſerungen fehlt.
Das Verhättniß des zwiſchen dem Grundheren und Bauern getheil-
ten Eigentbums kann zwar nicht unter allen Umftänden als abfolut
ſchaͤdlich und verwerflich betrachtet werden; allein da fich thatſaͤchlich
„am baffelbe in dee Regel eine Meihe hoher und Läftiger Abgaben und
Dienfte für den Landwirth Inüpft, fo liegt es im allgemeinen Intereffe,
; daß ber Staat es dem Landmann möglich macht, durch Ablöfung jener
Laften und Dienfte ſich volles und freies Grundeigenthum zu verſchaffen.
(&. die Artikel „grundherrliche Abgaben”, „Frohnen“, „Behenten” a. f. f.)
8) durch die Freiheit bes fandmanns hinſichtlich ber
Benugung feines Grundes und Bodens.
Recht und Klugheit fordert, dem Landmanne bie Art umd Beik
634 Landwirthſchaſt.
ſtehenden pollzellichen oder ptivatrechtlichen Huinderniſſe — anbeim ju
geben iſt, fo iſt ihm auch bie Reihenfolge des Anbaues, bie Feidroie⸗
tion, überhaupt die Einrichtung des ganzen Wirthſchaftefyſtems au über
laſſen · Wird namentlich der Landbau auf großen arrondirten Gütern be
trieben , fo iſt lediglich kein Grund vorhanden , die Bewirthfchaftunge:
weife polizeilich vorzufchreiben. Der Gtaat Tann unmoͤglich beffe
wiffen als die Gefammtheit aller Landwirthe, was dem Intereſſe eines
Jeden am Meiften frommt. Bei zerftüdeltem Grunbbefige muß fih
allerdings der Einzelne mehr in die Ordnung der Menge fügen. Dob
it man audy hierbei in der Befchräntung häufig zu weit gegangen, und
theils beffere Einfichten, theil6 veränderte Verhättniffe haben mie Redt
Veranlaffung zu Maßregein gegeben, welche die moͤgiichſte Aufldfung
der poligeilihen und privatrechtlihen Hinderniſſe der freien Bewegung
des Einzelnen zum Biel haben. Um dies näher zu erläutern, fol
urz auf die Entwidelung der verfhiedenen Geiderfpfleme einge
gangen werden.
Die fröhefte und roheſte Art des Aderbaues ift die fogenanmte
Wehfelwirthfhaft. Sie wird angewendet in einer Zeit und Ge
gend, wo Boden im Ueberfluß vorhanden, an Händen und Gapital
aber Mangel ift. Das dem Anbau gewidmete Gelb zerfällt (abgefehen
von einigem Garten: und Wieſenland) in zwei Theile. Jeder Deil
wird benugt, fo lange die natuͤriiche Kraft des Bodens ohne Lünfttihe
Düngung Emten erzeugt, in der Art, daß, während der eime Theil
Früchte trägt, der andere brach liegt, bis er durch die Ginmwirkung
der Atmofphäse, des Regens, der verwef’ten Kräuter u. |. w. Rodfie
gu neun Ernte gefammelt hat. Inzwiſchen dient er dem Wied zur
e.
Landwirthfchaft. 635
feftigen und etwaigen künftigen Kortfchritten in ber landwirthſchaftlichen
G Itur hemmend in den Weg zu treten. Zehentweiderechte u. dergl.
wurden auf dieſes Syſtem gegründet.
Uber wie angemeflen dafjeibe auch den Bebürfniffen und Ber:
hältniffen einer beflimmten Zeit fein mochte, eine neue Zeit ergeugte
neue Beduͤrfniſſe. Die Dreifelderwirthfchaft mit reiner Brache konnte
einer vermehrten Bevölkerung nicht genü.en; es mußte das Verlanuen
entitehen, daß die dem Anbau ber Brache im Wege ftehenden Hin:
derniffe weggeräumt, daß der Anbau der Kartoffel, der Handels: Ges
wächfe und der Futterkraͤuter, namentlich der Kleebau und die dadurch
bedingte Einführung der Stallfütterung,, möglich gemacht warb.
Diefe Möglichkeit wird namentlich duch Schäfereigefege
herbeigeführt, welche theils den Grundfag feititellen, daß der Anbau
dee Felder feiner Benutung als Weide vorangefeht werde, theils die
Abloͤſung der Weiderechte in befiimmten Zeitfeiften geftatten.
Wenn durch diefe Maßregeln die Möglichkeit des Anbaues bes Brach⸗
feldes — der Dreifeiderioiethfchaft ohne Brache — gegeben und dieſes
Wirthſchaftsſyſtem allaemeiner aewörden iſt, fo verflechten ſich auch in
biefes Syſtem Verhaͤltniſſe, namentlich neue Zebentrechte, welche ei⸗
ner weiteren Entwidelung ber Bodencultur entgegentreten.
Ein rationellee Betrieb ber Landwirthfchaft in einem bevölkerten,
mit Händen und Capital reichlich verfehenen Lande nämlich findet feine
Befriedigung nicht in bem gewöhnlichen Syſteme ber Dreifelderwirth⸗
fchaftz ee verlange eine zweckmaͤßigere Fruchtfolge, ein 6—9I jähriger
Turnus wird raͤthlich.
Auch hier iſt es Pflicht des Staats, durch Geſetze die rechtlichen
Verhaͤltniſſe ſo zu ordnen, daß bie Hinderniſſe eines verbeſſerten Ans
baues des Bodens wegfallen. Das Refultat bdiefer Betrachtungen iſt
hiernach folgende®:
Die Geftattung der möglichft freien Benugung muß für den Staat
Leitender Grundſatz fein
Bei getheiltem Grundbefig afer gebietet die Natur der Berhaͤlt⸗
niffe, den Einzelnen an eine gewiffe allgemeine Ordnung im Intereffe
ber Gemeinſchaft zu binden. In diefe Ordnung verflechten fi) man:
cherlei Rechte, die zugleich mit ben polizeilichen Beſtimmungen den les
bergang zu einer netten Drbnung der Dinge erfchweren oder verhindern.
Hat fi daber im Laufe der Zeit das gemeinſchaftliche Intereſſe der
Mehrzahl umgeſtaltet, fo ift durch geſetzliche Maßregeln ber Webergang
zu einer anderen Benugung des Bodens moͤglichſt zu erleichtern und
zu befördern.
4) duch eine zwedmäßige Arcondirung ber Beſi—⸗
gungen der einzelnen Landwirthe.
Der Landwirth, deffen Grundſtuͤcke an allen Enden und Eden ber
Markung zerftreut liegen, kann fein Feld nicht Überfehen und uͤberwa⸗
hen; das Hins und Hergehen und Fahren von einem Ader zum an⸗
bern bei bee Bebauung, bei Saat, Ente u. f. w. verurfacht für Mens
638 Landmwitthſchaßt.
ioͤhnern verwendet werden muß, und daß ſelbſt die Leitung bes Bettiebt
oft fremden Händen, Gutsverwaltern u. f. f., anvertraut iſt.
Da ſich aus dem Vorherrſchen des Groß: oder des Kleinbetriebt
des Aderbaues in einem Lande für das Maß der Bevoͤlkerung defiet-
ben, für die Einfommensvertheilung,, überhaupt für die ganze volkswirth
fhafelit:e und politifhe Geftaltung eines Staats fehr wichtige Folgen
ableiten, fo iſt die Frage: ob nicht der Staat, troß der Unmöglichkeit,
allgemein das richtige Maß für bie Größe der Güter zu beftimmen,
doch eine Einwirkung auf diefelbe ſich vorbehalten, oder ob er yanz
freie Theilbarkeit des Bodens geftatten foll?
Betrachtet man die Frage rein von dem privatwirthfchaftlichen
Standpuncte, ſo iſt auch im denjenigen Ländern, in welchen der Grund:
faß der Untheilbarkeit der Güter feit Jahrhunderten befteht, Darüber
nur eine Anficht unter den Landwirthen, daß die freie Theilnarkeit, d. h
derjenige Zuſtand den Vorzug verdiene, in welchem dem Einzelnen fr
ſteht, fein Landgut, fei es durch Ankauf oder Verkauf von Güterflü-
den, in ein richtiges Verhättniß zu feinen Fähigkeiten und Gapitalim
zu fegen, überhaupt feinem Mirthfchaftsbetrieb die feinen Verhaitniſſen
angemeffenfte Ausdehnung zu geben. (Mergl. z. B. die Lamdmirth:
ſchaft Großbritanniens. Aus dem Engliſchen von Schweißer, I. 64.x.)
Allein die Frage muß auch noch von einem höheren volkswirth⸗
ſchaftlichen und. politiſchen Standpuncte aus in's Auge gefaßt werben.
Wenn ohne Zweifel für den verftändigen und foliden Landwirth bi
unbefchränfte Dispofitionsbefugnig über fein Grundeigentum nur er
wuͤnſcht und unmittelbar nur von Vortheil fein kann, fo liegt do
die Befürchtung nahe, daß bei freier Zheilbarfeit die Theilung des Bo
dene, namentlich auf dem Wege.des Erbgangs, im Kaufe der Zeit
Landwirthſchaft. 637
das ſogenannte Vereindbungsfpftem , aus polizeilichen Ruͤcſichten geltend
gemacht werden, find nicht hinreichend, um Maßregeln zu Verhinde⸗
zung folcher wirthſchaftlich Lobenswerthen Unternehmungen zu rechtfertis
gen. Es iſt nicht zu fürchten, daß hierdurch die Dörfer gaͤnzlich ver⸗
fchwinden, daß bie Intelectuelle und fittliche Bildung und ein teges Ge:
meindeleben dadurch Noth leidet. Denn die Zahl derer, welche fich
zum Dinausbauen ihrer Wohnungen entfchließen, ift immer eine ges
einge. Die Koften des Umbaues der Gebdude, die Schwierigkeit, ſich
volltommen zu artondiren, ber Mangel an Waffe, und die Vortheile
und Genäffe, welche ein Zuſammenleben in einer Gemeinde in gefellis
ger und zum Theil auch in wirthſchaftlicher Beziehung, z. B. durch
die Nähe der noͤthigen Handwerker u. dergl., gewährt, find Grund
genug, um die Mehrzahl der Dorfberohner vereinigt zu erhalten;
wozu ſich noch die größere Sicherheit der Perfon und des Eigenthums
beim Zuſammenwohnen gefeltt. Diefe legtere Rüdficht macht es aber
raͤthlich, daß dee Staat fi) pofitiver Begünftigung des Vers
eindbungsfpftems enthält.
5) duch eine angemeffene Größe der Landgüter.
Man hat ſich viele Mühe gegeben, einen allgemeinen Maßſtab
für die zweäͤmaͤßigſte Größe ber Landgüter aufzufinden. Allein es läßt
ſich ein folcher allgemeiner Maßſtab unmöglich aufftelen. Die richtige
Größe It durch Ort, Zeit, perfönlihe und wirthſchaftliche Verhättniffe
des einzelnen Landwirths bedingt, und diejenige ift In der Regel die
richtigſte, welche aus der Natur biefer DVerhättniffe ohne zwingende
Einwirkung des Staats von felbft fi entwickelt.
Im Agemeinen laͤßt ſich über den Betrieb des Landbaues im
Großen und im Kleinen Folgendes bemerken:
Beim Betrieb im Großen wird an Capital und Arbeit erfpart,
Arbeitstheilung, Mafchinenanmwendung und ein intelligenterer Betrieb
mird möglich; mit einem Wort, eine kleinere Menſchenzahl iſt im
Stande, bem Boden einen größeren Reinertrag abzugeroinnen, als beim
Betrieb des Landbaues im Keinen. Was an Menfchen: und Capitals
kraͤften erfpart wird, kann anderen nüglihen Beſchaͤftigungen zuges
wendet werben. ,
Bei dem Kleinbetrieb findet eim größerer Aufwand an Capital
irthſchaftsgebaͤuden, Adergerächen u. f. f.) und an Menfchenkräften
Statt, ein großer Theil bes Rohertrags wird durch bie Lanbleute vers
ehrt, und ber für die übrigen Volksclaſſen disponible Ueberſchuß müßte
nothwendig eim bebeutend geringerer fein, als bei ber Großwirthſchaft,
wenn nicht die Sorgfalt, Sparfamfeit und ber Fleiß der ſelbſtwirth⸗
ſchaftenden Eigenthämer wenigſtens einen Theil des Ausfalls wieder
deden wuͤrde. .
Diefer Erfag durch Steig und Sparſamkeit iſt nicht felten fo bes
deutend, daß der Reinertrag Meiner Güter den der großen felbft über
feige; wobei namentlich in Betracht kommt, daß bei den letzteren haͤu⸗
fig das erforderliche Capital mangelt, daß eine größere Zahl von Tages
638 : Banbwirthfäaft
1öhnern verwendet werden muß, und daß felbft die Leitung des Betriebe
oft fremden Händen, Gutsverwaltern u. f. f, anvertraut iſt.
Da fi aus dem Vorherrſchen des Groß⸗ oder des Kleinbetriebt
des Aderbaues in einem Lande für dad Maß ber Bevölkerung deſſel
ben, für die Einfommensvertheitung, überhaupt für die ganze voikewirth⸗
ſchaftiice und politiſche Geftaltung eines Staats fehr wichtige Folgen
abliiten, fo ift die Frage: ob nicht der Staat, trog der Unmöglichkeit,
algemein das richtige Maß für die Größe der Güter zu beftimmen,
doch eine Einwirkung auf diefelbe fi) vorbehalten, oder ob er yanj
freie Theilbarkeit des Bodens geflatten foll?
Betrachtet man die Frage rein von dem privatwirthſchaftlichen
Standpuncte, ſo iſt auch in denjenigen Ländern, in melden der Grund-
fag der Untheilbarkeit der Güter feit Jahrhunderten befteht, darüber
nur eine Anſicht unter den Landwirthen, daß die freie Theilvarfeit, d.h. |
derjenige Zuſtand den Vorzug verdiene, in weichem dem Einzelnen. frei
ſteht, fein Landgut, fei e8 durch Ankauf oder Verkauf von Güterflür
den, in ein richtiges Verhältnig zu feinen Faͤhigkeiten und Gapitalim
zu fegen, überhaupt feinem Wirthfchaftsbetrieb die feinen Verhaitniſſen
angemeffenfte Ausdehnung zu geben. (Bergl. 3. B. bie Lamdwirth-
ſchaft Großbritanniens, Aus dem Englifhen von Schweißer, I. 64.x.)
Allein die Frage muß auch nod von einem höheren volkewirth⸗
ſchaftlichen und politifhen Standpuncte aus in's Auge gefaßt werden. ı
Wenn ohne Zweifel für den verftänbigen und foliden Landwirth die
unbefchränkte Dispofitionsbefugnig über fein Grundeigenthum nur er
wünfht und unmittelbar nur von Vortheil fein kann, fo liegt doch
die Befücchtung nahe, daß bei freier Theilbackeit die Theilung des Bo
dene, namentlich auf bem est - A: bgange, im Kaufe der *
fi
Landwirthſchaft. 639
ihrer Güter abhalten würde, wenn nicht bei Erbtheilungen das
Intereſſe dee Exben gerade in einer Wertheilung des ererbten Gutes bes
flünde. Die Exben könnten nämlich entweder das Gut gemeinſa aftlich
bebauen und es fo unvertheilt erhalten : allein biefes widerſtreite in der
Regel dem Intereſſe der Einzelnen; denn jedes Mitglied wolle, fobald es
fich verheirathe, feinen eigenen Herd; — oder es koͤnnte ein Kind das
Gut Übernehmen und den anderen Renten verſprechen; allein feines
der Kinder wolle Haus und Hof verlaffen; nody meniger verftehen fie
fih zum Verkauf des Gutes im Ganzen; es bleibt alfo nichts übrig,
als das Gut zu vertheilen, wodurch jedes Kind feine eigene Wirthſchaft
gründen und die Früchte feines Guͤtchens und feiner Arbeit in vollem
Maße beziehen koͤnne. Aus dem Geſet der gleihen Erbtheilung
entfpringe daher bei freier Theilbarkeit die Gefahr einer von Generation
zu Generation fortfchreitenden Zerfplitterung des Bodens und Verar⸗
mung feiner Bewohner. Wenn diefe Folge bis jegt nur hier und da
eingetreten fei, fo beruhe dieſes theils in befonderen Verhältniffen, 3. B.
dee Nähe von Gtäbten, thells bacın, daß das Goflem, mo «6
im Großen angewendet worden, wie in Preufen und Frankreich, erft in
feiner Entwidelung begriffen fei.
Die Gefahr, die aus einer Zerfpitterung des Grumdbefiges ent»
fpringe, ſel aber nicht blos eine wirthfchaftlihe, fondern auch eine pos
iitiſche. Durch Vertheitung der größeren Bauern» und Adelögäter
werde alle bei der Unftetigkeit des beweglichen Capitals doppelt nothwendige
Stabilität im Staatsleben vernichtet, indem ein tüchtiger Bauernſtand
ann cn das Beftehende aufrecht erhaltender Adel aus demfelben ver-
Wk
Offenbar ift der Punct ber gleichen Exbtheilung der wichtigfte und
ſchwierigſte in der Sache, und mir wiederholen hier die fon an es
nem andern Drte*) ausgefpeochene Anficht, daß uns eine Befchräntung
bee freien Xheilbarkeit je nady den Umftänden allerdings hier und da
moͤglich und nothwendig zu fein ſcheint, obgleich wir in der Regel,
und fo lange bie Theilung nicht dis zu einem ſchaͤdlichen Grade forte
ſchreitet, das Recht der freien Theilbarkeit ats den wirthſchaftlichen · und
geſell chaftlichen Fortſchritten am Zutraͤglichſten betrachten.
Den vielen Vorſchlaͤgen, weiche biesfalls gemacht worden find, fei
noch Folgendes beigefelt:
Es fol dem Gutsbeſitzer unbeſchraͤnkte Dispofitionsbefuanig über
fein Gut bei Lebzeiten zuſtehen; auch für den Fall feines Todes fol
ee nach feinem GButbefinden baffelbe einem feiner Kinder Übertragen
oder unter mehrere vertheilen innen; wuͤrde er aber flerben, ohne
—X über fein Gut verfügt zu haben, fo ſoll es dem diteſten Sohne
aufallen.
Hinfichtlich ber Anfpräche der nachgeborenen Kinder müßten für
dieſen Fall bilige gefegliche Beftimmungen getzoffen werden.
”) In der Schrift über den Einfluß bes Grundeigenthums ıc. Stuttg., 1836.
640 Landwirthſchaft. — Lebensmittel.
Vielleicht dürfte man ſich ſchon bei diefer gefeglichen Einrichtunz
und bei Beauffichtigung der Erwerbungen ber todten Hand und de
Familienfideicommiſſe der Hoffnung hingeben, daß weder eine dem öf:
fentlichen Wohle nachtheilige Verkleinerung, noch Vergrößerung det
Grundbefiges der Einzelnen eintreten werde.
6) Weitere Bedingungen und Befoͤrderungsmittel ber landwirth⸗
ſchaftlichen Fortſchritte find folgende:
Eine zwedmäßige Bilbung ber Landbau treibenden Claſſe in dm
verfchiedenen Zweigen der Landwirthſchaft, namentlich auch im Wein:
bau, Obſtbau, in der Viehzudt u. f. w.; Verbreitung landwirthſchaft⸗ }
licher Kenntniffe durch Vereine; Verbreitung nuͤtzlicher Ackermerkzeug, |
Viehragen, Culturpflangen; Verfiherungsanftalten gegen Zerſtoͤrungen
des landwirthſchaftlichen Capitals durd Feuer, Hagel, Viehfterben u !
1. fe gmeddimäßige Greditanftalten ; Fteiheit des Handels mit Lanbwink }
ſchaftlichen Producten, namentlich freier Getreidehandel; Cxleichtermg
bes Transports bdeffelben mittelft der Anlage von Strafen, Gandim
u. ſ. fs endlich zweckmaͤßige Gefege über Vertheilung und den Anh
der Allmanben. :
(S. hierüber die betreffenden Artikel „Aderbauinftitute” und „Gefe: |
ſchaftscreditanſtalten“, „Rorngefege”, „Eifenbahnen”, „Gemeinheitschi-
lungen” u. ſ. f. D. ®. Schu
Lauenburg, f. Sahfen-Lauenburg,
Lebendverfiherung, f. Verforgungsanftalten.
Lebensmittel. — Diefer Ausdrud würde im weiteſten Ginn
Alles umfaffen, was zur Erhaltung der phyfifchen Eriftenz des Men
fen, den gewöhnlichen Einwirknngen ber Natur gegenüber, erforder:
üch if: hauptſaͤchlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. In einem
nasın Ginne in m 3 ort hier 0; ii Larlahun
Lebensmittel. 641
der Concurrenz und bes eigenen Intereſſes der Producenten nicht zu
rechnen iſt. Ein ſolches ift das Waſſer, das nur an wenigen Orten
und unter befonderen Umftänden bezahlt wird, wo folglich nur fehr fel-
ten bie Privatperfonen durch ein mercantilifches Intereſſe veranlaft
find, an bie Berforgung ihrer Mitbürger mit biefem gleichwohl hoch⸗
wichtigen Bedürfniffe zu denken. An vielen Orten ift Waſſer in einem
das getwöhnliche, Beduͤrfniß dedienden Maße vorhanden; aber es iſt
ſchlecht, ungeſund, zu mandyen Zwecken gar nicht anwendbar, an mes
nige entlegene Puncte vertheilt, bei großer Hitze dem Austrodinen, bei
ſtrenger Kälte dem Einfrieren ausgefegt, einem ungewöhnlichen Beduͤrf⸗
niffe nicht genügend. Hier kann allerdings die Gemeinde oder der Staat
veranlaßt fein, die vereinzelten Kräfte zur Herbeifhaffung des Waſſers
mittelft Wafferleitungen, Nachgrabungen, Anlegung artefifcher Brun⸗
nen , großer Gifternen u. f. mw. zu vereinigen. In wärmeren und maf:
ferarmen Ländern wird natuͤrlich das VBedürfnig an Waſſer empfunden,
und es ift bekannt, welche gewaltige Anſtrengungen die Römer und die
Drientalen demfelben gewidmet haben. Es kann 2) vorkommen, daß
die unfchädliche Beſchaffenheit der Lebensmittel von den Gonfumenten
erft nach dem Genuſſe, alfo erſt wenn es zu fpdt iſt, ſich erkennen
laͤßt, folglich eine polizeiliche Ueberwachung und Vorausſicht gerechtfer⸗
tigt find. Hierher gehört die Aufſicht über das Fleiſch, die durch Were
anftaltung einer Viehfchau dafür, dag Fein ungefundes Fleifch gefchlach-
tet wird, und durch Mevifion der Fleiſchladen dafür forgt, daß nur
frifhe und! unverborbene Fleiſchſtuͤcke zum Verkauf ausgeftellt werden.
Unter Umftänden kann auch eine polizeiliche Beaufſichtigung der gerin-
geren Speifehäufer und Garküchen und der geräucherten Waaren erfor
derlich fein. Auch das Wild, befonders der Haſe, ift eigenthümlichen
Krankheitszuſtaͤnden unterworfen, während beren fein Genug den Mens
fhen ſchaͤdlich iſt, weshalb zu ſolchen Zeiten fein Einbringen zum Vers
kaufe wohl verwehrt werden mag. Auch der Genuß der Fiſche ift zu
gewifien Zeiten dem Menſchen ſchaͤdlich, und auch fonft eine polizeiliche
Aufſicht über den Fiſchmarkt um fo nöthiger, je gefährlicher die Mir-
tungen des Genuffes, ja der bloßen Ausbünftung verdorbener Fiſche
find. Ruͤckſichtlich des Getreibes wird ſowohl die Anwendung krank⸗
haften Kornes zu verhindern, als das Mahlgeihäft zu beauffichtigem,
gegen ſchaͤdliche Beimifhungen im Meblhandel einzufchreiten und bas
Bäderbrot einer Controle zu unterwerfen fein. Der Genuß unteifer
Kartoffeln, unreifen ober mabigen Obſtes erzeugt gefährliche, zuweilen
epidemifch werdende Krankheiten, und wenn gleich in biefen Dingen
Dieles übertrieben werden kann, To ift es doch wohl kein zu flarker
Eingriff in die perfönliche Sreiheit, wenn die Verkäufer verhindert wer⸗
den, Gegenftände auf den Markt zu bringen, die ber Gefundheit ihrer
Mitbürger fhädlih find. Aus gleichen Gründen wird die Polizei viele
fältig veranlaßt fein, über die Fünftlich bereiteten Getränke eine fcharfe
Obſicht zu führen. Hier iſt ohne chemiſche Analpfe die ſchaͤdliche Be⸗
ſchaffenheit nicht leicht zu entdecken, und nicht ſelten der Wohlgeſchmack
Staats⸗Lexikon. IX, 41
644 Legitimitaͤt.
ich einen legkimen Anſpruch auf den mic durch das Geſetz zugeſchiede⸗
nen, z. B. vaͤterlichen, Erbtheil; fo begründet die gefegmäßig gefchloffene
Ehe Legitime Verhättniffe und Zuftände für die Ehegatten, Eltern umb
Kinder u. ſ. w. Wir haben es jedoch hier mit folder allgemeinen Bes
deutung nicht zu thun, fondern nur mit der engeren, d. b. mit ber
auf politifche Verhättniffe ober Zuftände ſich beziehenden, wornach
3 3. dem durch gefegliche Age ober Wahl zur Herrſchaft gelangten
Regenten, eben fo ber auf gefeglichen Wege (d. h. durch die nad
natürlichem ober pofitivem Geſetz dazu rechtmäßig berufene Auctorität)
entftandenen Berfaffung, dann auch ber folder Verfaſſung oder
überhaupt dem — natürlichen oder pofitiven — Staatsrechte gemaͤßen
Regierung das Prädicat „Legitim” ertheilt wird, Im Gegenfas
3. B. eines Ufurpators, ober eines aus gewaltfamer Umwaͤlzung hervor
gegangenen Zuftandes, oder einer rein willkuͤtlichen, tyrannifchen Re
gierungsweife. In der engſte n Bedeutung jedoch, und welche in ber
neueften Zeit ſich ganz vorzuͤglich geltend gemacht hat, wird unter Legi⸗
timität faft nur das angeflammte Herrſcherrecht verftanden, ge
tolffermaßen bie — wie man fonft fagte — unmittelbar von Gott
verliehene Majeſtaͤt, im Gegenfage der auf den Volkswillen, ode,
wie man fagt, auf die Revolution begründeten Gewalt.
Diefen bergeftalt beſchraͤnkten Begriff hat man indeffen nicht aus
druͤcklich oder deutlich feftgeftellt, fondern ſich mit dem Ausrufen des
Wortes getwiffermaßen als eines Lofungswortes für die jet in
Europa vorherefchende Partei, als eine Art von Shibolech — zw
Unterfcheibung der Anhänger von ben Gegnern — begnügt, und mit
der Benugung deſſelben als eines Titels zur Rechtfertigung reactionder
Zendenzen. Der Sinn aber, den man damit verbindet, wird leicht m=
tannt aus bee praktiſchen Anwendung, die man nah Umftänden baven
madıt, und aus deren Zufammenhalten mit den übrigen Richtungen ber
Legitimität. 645
ſtieen als Famillenglled ſich angefchloffen: da ſtrahlte fein Thron von
fothee Majeſtaͤt und Herrlichkeit, daß an ber Geſetzmaͤßigkeit feiner
Herrſchaft zu zweifeln faſt für Unfinn gegolten hätte. Koͤnigreiche und
Herrſcherhaduſer hatte fein mächtige Wort erfchaffen, die Gewaltigften
der Erde ehrten ihn, bie Sprößlinge des bourbonifchen Hauſes aber,
welche einſtens den Thron Frankreichs befeffen, irrten als Flüchtlinge und _
Verbannte umher, und fanden kaum ein Land, deffen Herrſcher fie gafts
lich aufzunehmen ober nur eine Zufluchtsſtaͤtte gegen die Verfolger ihnen
zu getwähren wagte. Als nun aber der ruſſiſche Winterfroſt das große
Heer zernichtet und eine Reihe weiterer Unfälle die Macht brs Gefuͤrch⸗
teten, gegen welchen ſich jest das ihm früher verbündete Europa feind>
lich erhob, gebrochen hatte: da entſtand bei den Exbittertften feiner
Feinde der Bedanke, ihn zu entthronen, und ward in Erfüllung geſetzt
durch den Verrath bes fogenannten Erhaltungs:Senats. Der
felbe, durch Napoleon’s Willen in's Dafein gerufen, bisher auch ſolchem
Willen — fo wie es Knechten ziemt — unbedingt folgfam, erfühnte
fich jegt, auf des verfhmigten Talleyrand’s Rath, zur Abfegung
feines kaiſerlichen Gebieter6 und Herrn und zur Wieberberufung ber faft
vergeffenen Bourbonen auf Frankreichs Thron. Die vermeffene
That, unter dem Schuß ber fremden Kriegshaͤupter, welche noch kurz
zuvor mit Napoleon, als dem Kaifer der Sranzofen, um den Frieden uns
techanbelt hatten, gelang, und Ludwig XVII. ergriff die Zügel des
Reiches. Dem Principe dieſes Verfahrens gab Talleprand den Namen
„Legitimitaͤt.“ —
Dieſes Princip nun, wenn man es nad) ber ihm hier gegebenen
Anwendung beurtheilen, oder wenn man es in Gemäßheit ber aus fols
her Anwendung hervorgehenden Anfichten generalifiten wollte, würbe
theoretifch wie praktifch zu den für den unbefangenen Verftand unges
nießbarſten und für das Schickſal ber Voͤlker heillofeften Folgerungen
führen; auch würde es mit ben Lehren der Gefchichte und den bio zur
neueften Zeit anerfannten Brundfägen des Staats: und Völkerrecht im
ſchreiendſten Widerſtreite ſtehen. .
Das Erbrecht eines Fürftenhaufes auf die Regierung eines Landes
und Volkes Tann, wenn man nicht zur abfurden Dich tung eines
fhon vor dem Staat beftandenen Erbeigenthums einer Familie
über das ganze Gebiet feine Zuflucht nehmen, oder den Glau⸗
ben an eine unmittelbare göttliche Einfegung des Herrſcherhau⸗
fed forbeen will, durchaus auf feinem andern Boden wurzein, als auf
dem des vernünftigen Staatsrechts (ohne welches ohnehin bie
Rechtsguͤltigkeit irgend eines pofitiven gar nicht gedenkbar iſt), mithin
nur abgeleitet werben aus dem urfprünglihen Befellfhafts:
dertrage, al erfter Quelle, in defjen Gemäßhelt fobann ein Geſell⸗
fhaftsgefeg, d. b. der Ausfprudh des Geſammtwillens, ein
Fürftenhans zur Regterung berief und dadurch allen (mithin den künfs
tigen tie ben gegenwärtigen) Geſellſchaftsangehoͤrigen die Unterthanen⸗
treue gegen daffelbe zur Pflicht machte, wozu dann noch etwa ein bes
646 Legitimitdt.
fonderer, mit dem Regentenhaufe felbft geſchloſſener Wertung, welhe
die fortdauernde MWirkfamkeit jenes Gefeges verbürgte, gekommen fein
oder als hinzugefommen gedacht werden mag. Nun ift es aber gr
nicht menfhenmöglid, ein für alle Ewigkeit feine Kraft br
hauptendes Gefet zu maden; und auch jeder Vertrag kann —
z. B. duch, Untreue des einen Pariscenten oder auch durch völlige Am
derung der Umſtaͤnde u. f. w. — feine Rechtsguͤltigkeit verlieren. Cs
Tann alfo auch das Thronfolges, wie überhaupt das Verfaſſungegeſch
rechtsguͤltig verändert oder aufgehoben, und ed Tann der Unter ı
fumgsuenteog unter gewiffen Vorausfegungen feiner Rechtskraft beraubt
werden. elches diefe Vorausfegungen oder Bebingungen für Eins
ober das Andere find, fol hier nicht erörtert werden; es genügt bie
Andeutung der im Allgemeinen durchaus nicht zu verfennenden, nidt
nur factifchen, ſondern auch rechtlichen Moͤglich keit des Auf
hoͤrens jedes Geſetzes und jedes Vertrags; und wo die Möglichkeit zu
Wirklichkeit wird, da hört natuͤrlich auch die auf der Rechtsverbind⸗
lichkeit des Gefeges oder Vertrages ruhende Legitimität auf. .
Freilich find außerordentliche Umftände von Nöthen, wenn der con:
fitwirende Gefammtmwille, von welchem in der Idee das Grund
gefeg und das Thronfolgegefeg ausgingen, zur Abänderung des grund:
gefeglich Seftgeftellten aufgerufen und in Stand gefegt werben fol, fi
darüber unzweibeutig zu dußern. Ja, in ber Regel werden bie barnadı
gerichteten Beſtrebungen den Charakter der Parteiung oder bes Aufs
ruhrs, mithin des Verbrechens an fi tragen, ober wenigſtens fehr
zweifelhafter Natur — nad Urfprung und Form — fein. Und eben
fo wird die Frage, ob ein Regent wirklich, den Vertrag gebrochen und
zwar in dem Maße, daß dadurch das Volk ſich als losgebunden von
der gegen ihn eingegangenen Verpflichtung achten koͤnne, meift von einer
Legitimitat. 647
Werk gerichtet worden: fo iſt ber Mangel der urſpruͤnglichen Form ge«
heilt, unb die neue Einfegung jegt legitim. Es verfteht fi, daß
hier nicht die Rede ift von einer augenblicklichen, blos ſchweigenden, etwa
aus Furcht dor der duch Gewalt zur Herrſchaft gelangten Partei
heroorgehenden Duldung, fondern nur von einer bem vernünftigen
Urtheil als wirklich vorhanden ober als durch unzweideutige That⸗
ſachen ausgeſprochen erſcheinenden — im legten Fall alfo zumal von
einer aus der eine längere Beit hindurch fortdauernden Ruhe
hervorgehenden — Zuſti m mung.
Außer dieſer flaatsrechtlic; gültigen Anerkennung einer voll⸗
brachten Revolution oder Thronveränderung als einer rechtmaͤß igen,
mithin legitimen, gibt es auch eine völferrechtliche, in der —
gleichfalls ausdruͤcklich oder ſtillſchweigend zu erklaͤrenden — Gutheifung
"oder Billigung der übrigen Mächte beftehende. Als praktiſch güftis
ges Recht erfſcheint überall nur jenes, das fi der Anerkennung der
unter ſich in Wechſelwirkung Stehenden erfreut; und fo wird auch einer
irgendwo vorgefallenen Ummaͤlzung ber Stempel der Legitimität mit
voller Rechtswirkung erſt durch die Anerfennung der fremden
Staaten aufgebrüdt werben. Es kann aud hier nicht von einem
etwa blos durch Furcht erzwungenen Nihtwideripruc bie Rede
fein, fondern nur von einer freien (ob aud aus politifchen Gründen
entfprungenen) entweder thatſaͤch lichen (duch Forterhaltung des
ehevorigen diplomatiſchen Verkehrs bezeigten) oder duch förmlichen
Vertrag ausgefprochenen Anerkennung. Zu einer ſolchen befteht jedoch
— fobald die oben bemerkte ftantsrechtliche Guͤltigkeit unzweideutig
vorliegt — eine natädlihe Rehtsfhuldigkeit überall, wo nicht bes
fondere Werhättniffe einen Titel des Widerfpruche gewähren (f. „Ins
tervention‘); und es iſt auch nicht eben eine allgemeine ober
ausnahmlofe Anerkennung nothiwendig, fondern es genügt die von
der Mehrheit der mit dem betreffenden Staat in Wechſelwirkung fies
henden Regierungen ausgefprochene.
Iſt num folhergeftalt die Rechtmäßigkeit einer wie immer factiſch
bewirkten Ummälzung, alfo insbefondere auch einer Thronveränderung,
einmal ſtaatscechtlich und völßerrechtlich) anerkannt; fo iſt der dadurch
gegründete neue Buftand der legitime geworden, und ohne Wis
derſpruch mit fidy felbft, d. 5. alfo ohne Aufhebung bes vernünftigen
KRechtsbegriffs, kann dann von der alten Legitimität keine Sprache
mehr fein. Zwei fich entgegengefeste Legitimitäten innen nicht gedacht
werden; nur mag, bevor der Streit auf die oben bemerkte Weiſe
entfchieben it, noch ein Krieg beftehen zwiſchen bet auf die alte
und der auf die neue Legitimicät fich berufenden Partei, und fobann
das Waffengläd, oder der eine gemiffe Beit hindurch unangefochten
fortgefegte Wefig die Entſcheidung geben.
Wenn man dieſe Grundfäge verleugnet, wenn man, trotz als
ler ſtaatorechtlichen und voͤlkerrechtlichen Anerkennung einer gefchehenen
Thronveraͤnderung und tro& des längfien und unangefochtenen Beftans
648 Legitimität.
des der neuen Herrſchaft, immerdat noch das Recht ber alten, ver:
drängten Familie als fortdauernd betrachten, wenn man den auch erfl
in ſpaͤteſter Zeit etwa wieder zu erringenden Sieg biefer fegten als einen
Triumph der Legitimität Über die Ufurpation anfehen will: fo geräth
man zu den abfurdeften Gonfequenzen, oder verwidelt fi in bie um
heitbarften Widerfprüche ; ja man ftößt damit allen öffentlichen Rechts
zuſtand um.
Nach der Theorie diefer ftarren Legitimiſten würden noch heut zu
Zage, wenn ein Abftämmling bes farolingifchen, ia des meros
vingifhen Haufes erfdiene, die gegenwärtigen Beſiter der jenen
gewaitthaͤtig verdrängten Häufern einft zugeftandenen Kronen dieſelben
dem Ecben der legitimen Anfprüce dieſer Häufer abtreten ober ben
Vorwurf der Ufurpation auf fi ruhen laffen muͤſſen. Ja, da das
rein zufällige Erloͤſchen der widerrechtlich vom Throne geſtuͤrzten
Geſchiechter die Makel der Ufurpation bei den Nachkommen ber Thron⸗
räuber nicht tilgen, die urfprünglich ILLegitime Herefhaft nimmer zur
Iegitimen machen Tann: fo fteht bis heute noch eine große Anzahl Gen:
fherftühle 6108 auf dem Boden bes factifchen Vefiges, nicht aber auf
jenem des wohlbegründeten Rechtes; die Königin von Broßbritan:
nten verdankt ihre faetifche Sicherheit blos dem Ausfterben des Stuart’:
fhen Haufe; der König von Schweden aber und Ludwig Phi:
lipp in Frankreich haben jeden Augenblick zu befücchten, ihre Kro⸗
nen abtreten zu muͤſſen den unter dem Titel der Legitim itaͤt wide
fie auftretenden Erben der von ihnen verdrängten Fürften.
Noch mehr! Da wohl Fein mwefentlicher Unterfchied iſt zwiſchen
der rechtswidrigen WVerbrängung eines Kürftenhaufes durch einen ein»
heimifchen und der ducdy einen auswärtigen Afurpator, den Nach⸗
eegitimitat. 6
Staubensartitel aufftellte, zur Wahrheit gemacht werden, fonbern es
befagen ſolche Dictate nichts Weiteres, als das Worhaben oder den
Entfhluß diefer und jener Machthaber, das durch den Sturm der
Revolution Zerſtoͤrte nach Thunlichkelt wieder zu erneuen und dem —
in feinem Mißbrauch allerdings gefährlichen — Principe der Revo⸗
Iution das der Stabilität, von welchem auch jenes der Legitimis
tät ein Ausflug if, mit Auctorität entgegenzuftellen. s
Durch ſolche Uebertreibungen aber, die man fid bei der
Lehre von der Pegitimität In Bezug auf das Erbrecht der Fuͤrſtenhaͤu⸗
fer erfaubt, ſchadet man dem Zwecke, den man babei im Auge bat,
weit mehr, ais daß man Ihn dadurch fördere. Ein ganz eigenes
Recht, und welches noch heiliger und unverlierharer, al überhaupt die
auf den Grundgefegen des Staates ruhenden Rechte fei, zu Gunften
der Könige zu flatuiren, geht im heutiger Zeit niht an. Die „uns
mittelbar von Bott ſtammende“ Majeftät findet gegenwärtig
kelnen Glauben mehr, wogegen jedoch die Achtung vor dem Geſe tze,
alfo zumat wor ben Grundgefehen eines Staates, und jene vor
dem ewigen Vernunftrecht heut zu Tage in ben Verftand und in
da6 Gemüch der Menſchen tiefer eingedrungen find, und daher auch
dem Koͤnigthum oder dem Koͤnigsrecht eine feftere — wlewohl auch noch
anderen heiligen Rechten gleichfalla zukommende — Gtüge verliehen
haben, als die — wie wir gefehen haben unhaltbare — Lehre von
der allen Greigniffen und Umwaͤlzungen und allen entgegengefesten
ſtaatsrechtlichen und voͤlkerrechtlichen Anerkennungen trogenden Legis
timität es jemals fein Bann.
Das ſonach feftgeftellte Weſen der Legitimicdt, als Geſetzlich⸗
Zeit der Herrſchaft nad Urfprung und Ermwerbung, zeigt
Mar, daß fie nicht auf dem Boden bes Privatredhts wurzelt, fon
dern nur auf jenem des Sffentlihen. Ein privatrechtlich er
Urſprung der Herfchaft einer Perfon oder eines Hauſes über ein
Boll, über eine ftaatsgefelfchaftliche Geſammtheit ift ganz undenk⸗
bar. ie fest nämlich zuvörberft den in dem flantsbärgerlichen Vers
teage Aller mit Allen beftehenden Act der Bereinigung einer Anzahl
Einzelner zu einer Gefammtheit voraus; und fodann das von folcher
Gefammtheit amsgegangene, d. h. den Gefammtwillen ber Vereinigten
ausſoprechende Geſetz, weiches einer beflimmten Perfon ober Perfön-
lichkeit (mit oder ohne Beſchraͤnkung auf eine gemiffe Zeit) oder auch
einem ganzen Haufe und nad) einer feftgefeßten Ordnung ber Erbfolge
die Hertſchaft verlieh. Darin aber, daß es auf dem Willen der
Sefammtheit beruht, alfo im Grunde Recht dieſer Gefammt:
heit feibft iR, befteht der Charakter oder bie Natur bes oͤffent⸗
lien Redts, und eben batin, dag es das Recht Wieler zufams
mengenommen unb im Gtaate zugleih bee Schirm aller Prir
vatrechte der dem Verein angehörigen einzelnen Glieder iſt, Liegt
auch der Grund feiner befonderen Heiligkeit. Das Legitimitätsceht
der Fuͤrſten ift nicht ein blos ihnen ſelbſt zuſtehendes, mithin,
650 : . Bgitimitdt.
mie folches die Eigenfchaft ber Privatrechte ft, ale Anderen von be
Thelinahme davon audſchlie ß en des Recht (wiewohl Eitelkeit um
Anmaßung es mitunter als ein ſolches moͤchten geltend machen), few
dern es iſt ein, zwar allerdings ben mit ber Herrſchaft bekleibeten Pe
ſonen unmittelbar ober allernaͤchſt zu Statten kommendes, Der innern
Weſenheit nach aber ganz vorzugsweis ein Recht der Geſammt⸗
heit, d. h. des zur Staatsgefellfchaft vereinigten Volkes, als melde
durch ſeinen gefeßgebend ausgeſprochenen Willen es in's Leben rief, un
durch jede Verlegung deſſelben mit beleldigt, ja in feiner Forteriſten
als Volk bedroht wird. Der legitime König allein ſteht in wahren
Rehtsverhältniffe zum Volke, und feine Rechte find bedingt a
feine Pflichterfülung. Der Ufurpator dagegen übt blos eine factifäx,
jenſeit· des Rechtögefeges liegende Gewalt, been Grenzen demnach
fo weit und nicht; weitet reichen, als die der phyſiſchen Kraft ode
überhaupt der ihm zu Gebote ftehenden Iwangsmittel; Er iſt dem
nach verfucht, das Wort, das er des Mechtszuftandes beraubie auf
Urt eines Eroberets nach Kriegsrecht zu: behandeln, um’ es vom Mir |
Rande abzuſchrecken oder ihm denfelben unmöglich zu machen; und die
fes fuͤr's Volk heilloſe und auch für den. Ufupator' gefährliche Rriegdr
verhättnig wird fortdauern, bis — nicht etwa die Nation: vollig in
flumme, willenloſe Rnechtfchaft verfenkt iſt denn fo lange ſolchet Bus
fand dauert, wird et nie eine vernunftrechtlich anzuerkennende Legitimis
tät erlangen, —- ſondern bis etwa die Umftände ſich dergeſtalt bilden,
daß das Voik (vielleicht verlaffen von feinem früheren Derrfcher, vier
leicht die Unmöglichkeit erfennend, ihm wieder zum Thron: zu werbelfen,
vielleicht fein Benehmen als eine Verzichtleiftung darauf oder als eine
Verwirkung des ihm früher zugeftandenen Rechts betrachtend) mit dem
Ufurpator ſich ausföhnt, ®. 'h. von-ihm die Zufiherung der MR,
regitimitat. - 0
ohne ausbrädtiche ober pofitive Willenserklärung ber Geſammtheit als
von ihr gewollt zu bettachtende Befeg der nur im Binne des
Gefeltfaftsvertrags, d. h. blos im Intereffe bes Geſammt ·
wohls auszuübenden, nicht aber zur Befriedigung unlauterer, fubs
jectiver elüfte ober Launen des Herefchers zu mißbrauchenden
Gewalt.
Zur wahren und vollſtaͤndigen Legitimitaͤt einer beſtehenden Mes
gierung ober elnes reglerenden Herren oder Hauſes genügt daher nicht
das gefegmäßig erworbene Thronkecht; fondern es wird dazu
noch weiter erfordert die Beobachtung oder ungeſtoͤrte Wirkſamkeit des
die Verfaſhung regelnden Grundgeſetzes, und endlich noch die ges‘
treue Ausübung der verfaſſungsmaͤßig uͤberkommenen Gewalt tein
im Dienfte des Geſammtwohls. Wird das Verfaſſungsgeſetz
von dem Regenten gebrochen, fo hört feine Gewalt auf, eine legitime
zu fein. Er teite jenſeits der ihm durch die Verfaſſung gefegten
Schranken nur als Ufurpator auf, und übt alfo nicht mehr eine
tegitime, fondern blos noch eine factifche Gewalt aus; und dass
felbe if der Sal, wenn er, wiewohl die Formen der Verfaſſung
beobadytend, oder auch, beim Mangel einer pofitiven Verfaffung, an
dergleichen Formen gar nicht gebunden, dem materiellen Recht ber
Staatsbürger ober dem Gemeinwohl durch feine Regierungsweiſe wifs
fentli zu nahe tritt, d. h. anſtatt einer Acht koͤniglichen eine tyrans
nifhe Gewalt ausübt.
Mit biefen Grundſaͤten eines vernünftigen Staatsrechts, die man
heut zu age von Seite der ſtart legitimiſtiſchen oder Meactionspartei gerne
wegwerfend, mit einem felbft von bee Diplomatie gebrauchten Ausbrude,
nboble Theorleen“ zu nennen pflegt, ftimmt freilich die Praris
gar wenig überein. Nach ihr bezieht ſich ber Begriff der Legitimitaͤt
oder jene befondere, durch dieſes Wort bezeichnete Heiligkeit des Herr⸗
ſcherrechts blos auf den Regenten felbft und fein Haus, und
wird lediglich als ein biefem Haufe zuſtehendes, d. h. ihm allein
eigenes, ja dem Vollscecht fogar entgegengefegtes Recht betrachtet.
Es beſteht dieſes Recht in dem, unabhängig von jeder Verpflichtung,
dem Regenten und alien geborenen Thronanwärtern gebührenden , ſelbſt⸗
fländigen Anſpruch auf den Thron, fobalb die (durch Staates ober
aud nur Hausgefeg geregelte) Ordnung der Nachfolge fie trifft. Sie
befteht weiter nicht blos im dem Rechte auf den Thron ſchlechthin, fone
dern zugleich auch auf die Wollgemwalt der Regierung (in Gemäßs
heit des in autokratiſchem Sinne dictatoriſch aufgeftellten monarch i⸗
(hen Princips); fie ſtellt fi mithin dem conflitutionellen
Spftem feindfellg entgegen , betrachtet jede Werbeflerung der Staates
verfaffung, die ohne den. felbfteigenen Willen des jemten zu Stande
täme, als rechtsunguͤltige Anmaßung und heilige felbfk die Tyrans
net, als eine jedenfalld dem fouveränen Willen erlaubte Ausübung
ber ihm rechtlich zuſtehenden Gewalt. In biefem Sinne wurde zumal
1823 in Spanien ber Triumph der Legitimität gefeiert. Die Heere
Legitimität. — Lehnweſen.
der Reftauration, nachdem fie in Spanien bie Freunde ber im
Abfolutismus verhaßten Cortesverfaffung mit Hülfe einheimiſchen Be
rathes überwunden hatten, hielten ihre Aufgabe für giorreich bemdr.
als fie König Ferdinand VI. die, wie man fügte, legitim:
Volige walt wiedergegeben und ihn dadurch in ben Stand gefegt hatır,
die fchredlichfte, erbarmungslofefte Tyrannei gegen die unglüdlichen Pi:
teioten zu üben. Auf ähnliche Weife war kurz zuvor in Meapıl
und Piemont die legitime Herefhaft von Neuem bekräftigt, un
den aufgeftandenen Griechen die Lehre des Gehorfams gegen ihn
Legitimen tuͤrkiſchen Herefcher eingefhärft worden; und in ähnlihee
Sinne freute ſich die Reactionspartei der mit dem Galle Warfcaut
1831 bewirkten MWiderherftelung der, mie fie fagten, Tegitimen
Herrſchaft Rußlands über die unglüdlihen Polen. Die weil:
zen Regierungen und Diplomaten jedoch fehen ein, daß die dentm
den Völker der Neuzeit Peine andere Pegitimität anzuerkennen und br: '
lig zu achten geneigt und geeignet find, als welche mit dem lan
und aͤchten Begriff der Gefeglichkeit und Rechtmaͤßigkeit
übereinftimmt , welche demnach mit dem Rechte des Blutes oder id
Haufes auch das auf der Pflichterfüllung ruhende verbinde,
mithin auf die Beobachtung der pofitiven Gonftitutionggefete
unb auf jene der allgemeinen ober rein vernünftigen fatk
rechtlichen Regentenpflichten bedingt if. Möchten alle Herrfcyer bie
aͤchte und gebdoppelte Legitimitaͤt fid aneignen! Alddann wuͤrden ie |
Throne unerſchuͤttert inmitten aller Stürme der vom erlangen nah
Rechtsgewaͤhrung tief bewegten Neuzeit ftehen. Rotted.
Lehnwefen. — Bir finden Deutfhland in den früheften Zei,
da es im Licht der Geſchichte erfcheint, von verfhiedenen Voölkerſaen
ten bewohnt, die nicht durch politifhe Bande zu einem Ganzen mais
Lehnweſen. 653
fie zur Belohnung die beften Stüde ber Kriegsbeute zutheilten. Unter
dieſes Befolge, das dem übrigen Heer in Zapferkeit vorleuchtete, aufs
genommen zu werben, mar natürlich der heißefte Wunfch einer Jugend,
‚die, vol Kraft und Muth und abenteuerlichen Sinnes, nad) Krieges
ruhm und Beute bürftete und kein höheres Ziel ihres Streben er⸗
kannte, als fi) auszuzeichnen unter den Augen des Führers und in
deſſen Vertheidigung und Erhaltung Wunden und Tod zu erfämpfen.
Auf ein folches Gefolge geftügt mußte das Anfehen und die Macht der
Führer fleigen und fich befeftigen,, fo daB es forthin nicht Leicht mehr
vorkommen konnte, daß biefelben während ihrer Lebenszeit ihres Amtes
entkieibet wurden. Was Eonnte für herrſch⸗ und ruhmfüchtige Führer,
für ein Gefolge und Heer beutelufliger, kampfbegieriger Barbaren
Lodender fein, als bie nahe gelegenen reichen, mohlangebauten römifchen
Drovinzen, deren entnerote Bewohner den Angriffen jener keinen wirk⸗
famen Widerftand entgegenzufegen vermochten? In großen Heers
fhaaren drangen daher bie Franken, Burgundier in Gallien, bie
Gothen, die Longobarden in Italien ein und bemächtigten ſich nicht
allein der beweglichen Habe bee Bewohner als Kriegsbeute, fondern auch
ihrer fruchtbaren Ländereien und bequemen Wohnungen. In ihre
rauhen Wälder zuruͤckzukehren, fühlten fie Leine Luft; das milde
Klima, die neuen, ihre Sinne reizenden Genuͤſſe, die fie in die frems
den Länder gelodt hatten, feflelten fie auch dort und beftimmten fie,
ſich daſelbſt für beftändig nieberzulafien. Die alten Bewohner, die _
natürlich nicht ausgetrieben werden Eonnten, fondeen als Aderbauern
auf jede Bedingung hin bei dem gewohnten Beſitzthum zu beharren, ı
fuchten, unterwarfen fi) den Eroberern und wurden aus freien Eigen⸗
thümern blofe Bebauer ihrer Ländereien, deren Ertrag fie zum Theil
den Eroberern uͤberlaſſen und ſich außerdem gegen diefelben zu perfön-
licher Dienflleiftung verfichen mußten. Es wurden baher die Eroberer
bie Herren der Ländereien, wogegen bie alten Bewohner zu ihren
Knechten herabſanken. Diefe Grundherrſchaft übte zunaͤchſt allein der
Führer aus, welchem bie Vertheilung der Beute zulam, als Derrfcher
und König bes eroberten Landes und der darin lebenden Leute. Der:
ſelbe nahm baher den beften Theil der Ländereien nebft deren Bebauern
zu den Bebürfniffen und zum Glanze feines Haushaltes, fo wie zur
Unterhaltung und Ausftattung feines Gefolge; das Webrige verlieh er
zur Benugung an ausgezeichnete Krieger als Belohnung und Sold mit
der Berpflihtung, ihm fernerhin treu und gehorfam zu fein und eine
Anzahl gemeiner Krieger zu unterhalten, mit denen fie ſtets gerüfter.
und der Befehle des Königs gerodrtig fein mußten, um bie Eroberung
mit den Maffen vertheidigen und nad Gelegenheit vermehren zu
helfen. Diefe zur Benutzung verliehenen Ländereien biegen Feode
oder Lehen, im Segenfag von Alloden, melde als volles Eigen:
thum beſeſſen wurden.
Gleichwie Anfangs die koͤnigliche Wuͤrde und Gewalt nicht erblich
war, ſondern nach dem Tode des Koͤnigs mit Zuſtimmung des Heeres
654 Lehmpefen. |
demjenigen zu Theil ward, der, als der Faͤhlgſte, ſich ihrer mit Km !
heit und Kraft zu bemächtigen verftand, eben fo erbten auch bie Era
wicht auf die Nachkommen ber Befiger (Vafallen) fort, fonbern fiela
nach deren Tod an den König und Lehnsherrn zurück, ber fie ne
Gutdünten an Andere vergab. Auch murden die Bafallen noch bi
ihrem Leben ber Lehen verluftig, wenn fie ſich einer Felomie, d. b.
eines Treubruchs gegen den Lehnsheren, fdulbig gemacht, inbem fie fh
entweber gegen bdenfelben ber Pflicht der Kriegsdienfkleiftung und kt
Gehorſams entzogen , oder Handlungen verübt hatten, bie das Lehm,
die Ehre und Macht des Lehnsherrn gefährdeten, fo wie bie zur
wendung folder Gefaͤhrde gereihenden Handlungen unterlaffen hatte
Was dagegen die alten Einwohner betrifft, bie als dienſtpfüchti
Bauern und Knechte auf den Gütern geblieben waren, fo pflank :
fich deren Verhaͤltniß natürlich auf ihre Nachkommen fort. Died :
mag indeg mit Veranlaffung getvefen fein, daß die Könige und Br
ſallen almälig den Begriff der Erblichkeit auffaßten und auf ie
BVefigverhättniffe anzuwenden trachteten, und es mußte ihnen dieſes um
fo leichter gelingen, da ihre Intereffen ſich wechſelfeltig bedingten, f
daher ſich natuͤrilch gedrungen fühlten, bei jenem Streben einander m
unterftügen. Indem hierdurch das monarchiſche und arifkoßcatifce Er
ment in ben von germanifhen Völkern geftifteten Reichen fih um ;
herefchenden erhob und befeftigte, verſank dagegen die Freiheit der Ir
meinen und konnte erſt fpäter mittelft der in den Städten ſich entf
tenden Beiftescultur einen neuen Aufſchwung getvinnen.
Der Herrſchaft ber Franken in Gallien drohte von Deutſchud
her Gefahr durch Eindringen neuer Voͤlkerſchaaren, gegen die fie dafe
die Waffen Eehren mußten. Sie waren fo glüdlich, diefe Feinde m
befiegen und zugleich einen bedeutenden Theil von Deu:
Lehnweſen. 655
dere durch Unterwerfung unter die Kirche manches dem urfprünglichen
Grund und Zweck ber Lehnseinrichtung Fremdes und Widerſtreitendes
im Gefolge hatte, wie: Uebergang an Weiber, Leiſtung anderer Dienſte
als Kriegsdienfte x. ı
In Stalin, wo ſich die Lehnseinrichtung hauptſaͤchlich unter den
Longobarden aus gleichen Urfachen und auf gleiche Weife mie in Gal⸗
lien gebildet hatte, führte die herrfchende höhere Geiſtescultur und poli⸗
tifche Einficht, fo wie die Gewohnheit an gefchriebene Geſetze frühe dar⸗
auf, die Regeln und Normen des Lehnweſens zu ergründen und auf-
zufchreiben, wodurch bie libri feudorum entflanden, welche mit ber
Sammlung der römifhen Rechtsquellen im übrigen Europa, befonders
in Deutfchland, bekannt und als Gelege aufgenommen wurden. Ins
dem hierdurch das Lehnweſen fchärfer ausgeprägt und zu wifienfchaft
licher Behandlung vorbereitet ward, gewann «6 nicht nur größere Be⸗
feftigung, fondern auch mehr Ausbreitung, fogar in einer Zeit, da fein
eine nalicher Grund und Zweck im Leben bereitd zu verfchwinden
anfing.
Aus der Lehnseinsichtung entwidelte fich, die deutſche Reichsver⸗
faffung in ihrer bunten Geſtalt und eben fo bie Derfaffungen der eins
einen Lande. Diejenigen naͤmlich, Die über eine große Anzahl von
afallen mit bedeutenden Lehen geboten, erhoben ſich zu Meichsftänden,
welche zwar den Kalfer als Lehnsheren über ſich erkannten, jedoch vers
eint bemfelben als mitherrfchend ſich zur Seite ftellten, und deren Ans
fehen und Einfluß hauptſaͤchlich dadurch ſich befeftigen und immer mehr
wachſen konnte, daß fie ben Kaifer jedes Mal zu wählen hatten, wähs
rend fie felbft ihre Würbe und Gewalt erblich befaßen. Die der Lehns⸗
herrlichkeit der Meichsftände untergebenen Lehen und Vaſallen hießen
landfäffige; ihre Verhaͤltniß zu den Reichsſtaͤnden pflegte man dem»
jenigen dieſer zum Kaifer gleichzuftellen. Indeß entbehrten bie lands
fäffigen Vaſallen ganz und gar ber Mittel und Gelegenheiten, wodurch
es den Meichsfländen gelang, ihr Anfehen und ihren Einfluß bem
Kaifer gegenüber geltend zu machen, baber jene innerhalb der Terri⸗
torien unmöglich zu einer berienigen diefer gleichen Bedeutung gelans
gen konnten.
Die unterfte Stufe war das Verhaͤltniß der Landbbauern, welche
nur Schug zu hoffen hatten und als Leibeigne oder Butsunterthanen
verbunden waren, den Grundherren gemeine Dienfte (Frohnen) zu
teiften, die Güter für fie zu bebauen ober einen Theil des Ertrags an
fie zu entrichten. Mitunter ift jedoch das Verhaͤltniß ber Lanbbauern
dem Lehnsverhaͤltniß aͤhnlich, und diefelben erfcheinen als Wafallen, fo
wie es viele Lehngüter ohne eigentlihe Bauern gibt, welche von ben
Vaſallen felbft bebaut oder in Zeitpacht gegeben werben. -
In Folge gänzlicher Ummandelung der politifhen und bürger>
lihen Zuftände verfhwand immer mehr Zweck und Bedeutung bes
Zehnmwefens, und es geriethen die baraus entfprungenen Beſchraͤnkungen
und Beldfligungen des Grundvermoͤgens und der perfönlichen Freiheit
b
656 ' Lehnweſen.
in immer ſchneibenderen Widerſpruch mit neuen Jutereſſen und Be⸗
duͤrfniſſen, welche die höhere Clviliſation und die vermehrte Bevoͤlke⸗
rung bervorriefen, fo daß fie fih nur noch ale Mißbtauch und druͤckende
- Uebel fühlbar machten. Es wurde daher ihre Verbannung immer
- mehr für unertäßlih erkannt und erfolgte zuerft in Frankreich gleich
im Anfang der Revolution mit einem Male, wogegen man in Deutfdy
land erit fpäter darauf Bedacht nahm, den Landbau von den ihm fo
aͤußerſt nachtheiligen Beſchraͤnkungen und Beldftigungen bes Lehnweſens
zu befreien und deren allmälige Ablöfung durch Belege vorzufchreiben.
Was indeß das Verhaͤltniß zwifchen Lehnsherren und Vaſallen und das
damit verfnüpfte getheilte Eigenthum betrifft, fo bat fich folches nicht
allein in Deutſchland, fondern auch in andern Ländern, namentlich in
England, bis in die neueften Zeiten erhalten und kann fortwährend ſelbſt
neu eingegangen werden, wenn gleich die bamit verknuͤpfte Dienſtpflicht
in der Wirklichkeit nicht mehr vorkommt.
Das Object des Lehnweſens befteht urfprüngli in Immobitien,
welche einem zweifachen oder getheilten Eigentum unterliegen, naͤm⸗
(ich eines Theil des Lehnsherrn, andern Theils des Vaſallen ober
Lehnmannes, verbunden mit der Verpflichtung jenes, biefem Schuß zu
gewaͤhren, fo toie_diefes, jenem Treue und Gehorfam zu bemweifen.
Das Eigenthum des Vaſallen an dem Lehn, welches Befis und Nutz⸗
nießung mit fid) führt, wird Untereigenthbum, basjenige des
Lehnsheren ohne Befis und Nusniefung Obereigenthum gemamnt.
Das Recht des Vaſallen, über die Nutznießung des Lehns zu vers
fügen, 3.38. es zu verpachten, ift auf feine Lebensbauer befchränft, es
- verliert daher jede ſolche Verfügung mit feinem Tode ihre Wirkſamkeit
und iſt nur dann für den Nachfolger verbindend,, wenn biefer entweder
dazu eingemilligt bat, ober zugleich Allodialerbe ſeines Vorgaͤngers ges
worden ift, mithin beffen Verpflichtungen überhaupt anerlennen muf.
— Das Lehnsverhätmig wird durch den zwifchen Lehnsherren und Bas
fallen einzugehenden Lehnevertrag begründet und durch bie Belehrung”)
(investitura) verwirklicht. Die Rechte und Verbindlichkeiten bes Va⸗
fallen vererben fi in einer gewiſſen Ordnung auf die Deſcendenten
des erften Lehnserwerbers, und zwar, der Strenge nah, nur auf die
in legitimer Ehe erzeugten, fo tie regelmäßig nur auf die männlichen,
wogegen meibliche Nachkommen ausgefchloffen find und nur ausnahmes
tweife, wenn es bei Gründung bes Lehns bedungen wurde (Kunkel⸗ ober
Meiberiehn), gewoͤhnlich erft nach Ausfterben der Maͤnner fuccebiren.
Durch Ausfterben aller fucceffionsberechtigten Nachkommen des Vaſallen,
in deflen Perfon das Lehn gegründet ward, fo wie unter gewiſſen Vor:
ausfesungen durch Felonie, endigt ſich der Lehnsverband und dab
apert gewordene Lehn fällt dem Lehnsherrn zu freier Verfaͤgung anheim.
. ht.
+) ©. den Artikel „Belehnung.“
Lehrfreiheit. 657
Lehrfreibeit in Schule und Kirche. — Im meiteften
Sinne könnte man unter Lehrfreiheit überhaupt bie Freiheit der geiftis
gen Mittheilung unter den Menfchen verfichen. Man könnte alfo
3. B. auch die allgemeine Preßfreiheit, bie Freiheit der Reden an das
Volk darunter begreifen. Im engeren Sinne aber tft der Begriff Lehr:
freiheit auf wirkliche Lehramtsverhaͤltniſſe zu befchränten. Sie befteht
alfo in der Freiheit der Lehrer, in dem ihnen übertragenen Lehramte
ruͤckſichtlich der Methode, wie bes Inhalts ihrer Lehrvorträge ihrer eige⸗
nen pflihtmäßigen Ueberzeugung zu folgen, fo weit fie dabei nicht wahre
Mechtspflichten verlegen. Der befchräntende Nachſatz ift nothwendig: er
bezeichnet die Grenze aller rechtlichen Freiheit. Niemand wird wohl,
auch bei der höchften Schaͤtzung der Lehrfreiheit, in berfeiben die Be:
fugnig finden, die Lehrlinge zue Vornahme verbrecherifcher Handlungen
aufzufordern und zu unterrichten. Aber auch die vom Lehrer bei Ue⸗
bernahme bes Lehramts vertragemäßig unzweifelhaft eingegangene Ver:
pflihtung darf ber Lehrer nicht verlegen. Es wird nicht rechtlich er
laubt fein, daß etiwg ein Lehrer, der fich verpflichtet hat, die ihm ans
vertrauten Lehrlinge in ber proteftantifch s chriſtlichen Religion zu unters
meifen, fi) bemühe, bdiefelben zum Katholicemus, zum Judenthum
oder zum Heidenthum zu befehren.
Doc) bei diefer letzten Grenzbeſtimmung ift fehr zu wachen, daß fie
nicht durch einfeitige Auslegung und. Anwendung alle wahre Lehrfreiheit
aufhebe. Für’s’Erfte ift fehr zu berüdfichtigen, mer biefe Vertragsrechte
erworben hat. Sobald nur eine befondere Gefelfchaft im Staate, na-
mentlich eine Kiechengefellfchaft, einen Lehrer vertragsmaͤßig zu gewiſſen
Grundlehren verpflichtet, fo bat nur fie ein Recht aus diefem DVer-
trage. Der Staat, als folder, wird durch die Abweichung nicht vers
legt, und ift höchftens nur nad) bei ihm erhobenee Klage als Richter
über beftrittene PVertragsrechte zu einem Einfchreiten berechtigt. Aber
nicht bloß die Kirche ift als felbfiftändige Geſellſchaft in dem Staate zu
betrachten, fondern nach der Natur der wahren Wiſſenſchaft und nach ben
Grundfägen ber wahren vollkommnen Freiheit auch die Schule. Selbſt⸗
ftändig find insbeſondere die hoͤchſten wiſſenſchaftlichen Gorporationen,
Akademieen und Univerfitäten, und unter ihrer und ber Kirche Leitung,
der politifchen Gewalt gegenüber, überhaupt bie Schulen, zumal die,
welche nad) den Grundfägen vollkommener bürgerliher, alfo auch der
Unterrichtsfreiheit von der Kirche oder ‘von den Bürgern für fich oder
ihre Kinder gegründet und unterhalten werben. Diefe Freiheit ber
Schule fand wirklich Statt bei Griechen und Roͤmern und früher in
allen germanifhen Staaten, zumal bei ben Univerfitdten. Sie gilt
noch bei den Engländern, bei den Franzoſen und volllommen noch in
Belgien. Ste wird fi) überhaupt als allgemeine Unterrichtsfreiheit,
fo gewiß die Entwidelung der Freiheit in Deutſchland und Europa forte
fchreitet, mehr und mehr ausbilden. Dadurch wird übrigens das na⸗
türlihe Recht, ja die Pflicht des Staates, auch feinerfeits Schulanſtal⸗
ten für den-freien Gebrauch, der Bürger zu gründen und zu erhalten,
Staats s Leriton. IX. 42
UT
658 Lehrfreiheit.
und insbefondere auch das Recht, in biefen wie in allen Abe
Schulen Verletzungen der weltlichen Rechtsordnung zu unterbrüden, b::
neswegs beſtritten ober beſchraͤnkt.
Doch Über das ganze rechtliche und polltiſche Verhaͤltniß von bar
gerlicher Ordnung, Kirche und Schule, und wie fie cn
theil6 in freiem brüderlichen Vereine für den wahren menfchlichen Gr
fanmtzwed zuſammenwirken, und .anderntheil6 unter bee hoͤchſten Schar
gewalt des Staats dor gegenfeitiger Verlegung bewahrt werben mifn,
darüber fol hier zumächft nicht gehandelt werden. Darüber handelt thit
der Artitel „Sallicanifhe Kirche”, theils wird davon nod un
dem Worte „Staat“ die Rede fein.
Nur über den Merth der Lehrfreiheit und ihre Gicherung am
darüber, daß fie auch durch vertragemäßige Verpflichtung bei der &:
theilung der Lehrämter von Staat und Kirche nicht fehlerhaft befcheisk
werden darf, hat diefer Artikel zu handeln. |
Für die ganze höhere und edlere Menfchheit und Bildung, ak !
aud für jede edlere Menſchengeſellſchaft und vollends für jede wur
Haft chriſtüche Kirche (f. „Eh riſtenthum“) iſt Wahrheit und Ber:
vollfommnung im höherer Exkenntniß und das Streben, nah da
estannten Wahrheit bie Lehensnerhältnifie einzurichten, Geumdbebingmg
und Grumdgefeg. Weber allen menfhlihen, in menfchlicy unsk
tommenen pofitiven Formen ausgefprodenen Sagungen fteht bie
ewige, göttliche und natürliche Wahrheit als die wahre Seele jene 2
tiven Formen, als Leitfteen der Menfchheit. Was kann alfo Verkehrte
tes, ja Srevelhafteres gedacht werden, als wenn ſchwache irrende Stmk:
liche auf dem Standpuncte ihrer individuellen und gegenwärtigen, br
ſchraͤnkten, vielleicht irtrigen, jedenfalls mit Itrthum vermifchten Erfmnt:
niß ihre Mitmenfchen und die zukuͤnftigen Geſchlechter feſſeln, men
Lehrfreiheit. 659
werden, da Fann folche Unterbrüdung nur fehr unvollfommen und für
kurze Zeit ducchgeführt werden. Sie dient nur zur Taͤuſchung der Re:
gierenden über die ſich im Stillen doch verbreitenden freieren Anfichten
ber Regierten. Sie macht bie aufgezwungene Lehre, wie bie fie auf:
zwingende Regierung creditlos, verachtet und gehaßt. Und felbft in
Ländern und Zeiten, wo auf längere Zeit die Unterdrüdung durchge⸗
führt werden koͤnnte, wie in ben alten Monarchieen von Portugal,
Spanien und Frankreich, zeigt ſich zwar fpäter, aber audy um fo ver⸗
derblicher derfelbe Erfolg. Was hat denn den verderbliden materialis
flifhen und religionsfeindlichen, wie ben revolutionaͤren Philofophieen
und Lehren in jenen Ländern fo ausgedehnte und fchredensvolle Macht
gegeben, als die lange Unterdruͤckung geiftlicher und weltlicher Lehrfreis
heit zum vermeintlichen Vortheil des Throne und dee Kicche, der geifls
lihen und dee weltlichen Ariftofratie? Auf-Jahrhunderte hin werden in
Frankreich, Portugal und Spanien in der Maſſe des jetzt an der Spige
flehenden fogenannten aufgeliärten Theils biefer Nationen ungleich feivos
lere und materialiſtiſchere, unmonarchiſchere und gegen Abel und Prie
ſterthum gebäffigere, überhaupt mehr revolutiondre Gefinnungen, ale
je in dem lehrfreieren England, Schweden, Holland und Deutfchland,
fortwirden und ben früheren Drud anklagen. Das mird Niemand
leugnen, ber die Stimmung ber fogenannten mittleren und gebitbeteren
Stände dieſer Nationen und die von ihnen ausgehenden gefchichtlichen
Erſcheinungen aufmerkſam in's Auge faßt. Aehnliches wird ficher jeder
genaue Beobachter katholiſcher und der regelmäßig lehrfreieren proteſtan⸗
tifchen Länder bemerken koͤnnen. Wie oft findet man in den ſoge⸗
nannten nufgellärten mittleren und gebildeten Ständen Fatholifcher
Landſtriche niche blos mehr Gleichgültigkeit gegen alle® Religioſe und
Kirchliche als in proteflantifchen Ländern : nein, fogar einen wahren Wi:
derwillen gegen Geiſtlichkeit, Kirche und religiöfen Glauben, eine groͤ⸗
Bere Neigung zu Meligionsfpötterei und mehr materialiflifche: Lebens⸗
pbilofopbhie, als bei Proteſtanten. Aehnliches erzeugt freilich auch
bei Proteflanten, wo fie Statt findet, obfeurantifche Unterdrüdung
ber Lehrfreiheit.
Und ganz dhnlihe Erfahrungen bat auch die neuere Zeit und Ges
fhihte in Beziehung auf die Unterdruͤckung pofitifch freier Lehren
überall gezeigt: Wo fie Statt fand, wuchs im Stillen Haß und Mißs
trauen, nicht blos gegen die Grundſaͤtze der Unterbrüdung, fondern auch
oft gegen die der gefehlihen Ordnung und Gewalt, und führten bei
Gelegenheiten, wie fie in den bewegten europäifchen Zuftänden niemals
fehlen, zu unerwarteten Ausbruͤchen. Worzüglich aber murbe ſtets durch
die Unterdrädung die Stimme der Mäßigung und Weisheit wohlmel:
nender Baterlandsfreunde verdächtig und wirkungslos. Wie oftmals be:
merkte und vernahm ich nicht, baß auf Univerficäten felt ben Karlsbader
Beſchluͤſſen die fonft oft fo wohlchätig ermäßigende Wirkfamkeit der Lehrer
ihre Keaft verloren hatte! Die Eraltieten und die Verführer der Jugend ſetz⸗
ten ben Berufungen auf die naturrechtlichen und faatsrechtlihen Grundfäge
660 Lekhrfreiheit.
der Profefforen entgegen: „ja, dieſe duͤrfen ihre wahre Ueberzeugn
micht außfprechen, dieſe fürchten die Abſetzung.“ Ich erinnere mi,
eines eraltirten Studirenden, der auch naher eine Hauptrolle bei w
volutiondren Unternehmungen fpielte, und mit großer Ueberlegenba
eine Zahl der Stubirenden fo beherrſchte, daß er für fie fogar ki
Wahl der Lehrer und der Vorlefungen beflimmte- Diefer eraltirte Lida
fendete feine Anhänger in die Vorlefungen eines ziemlich fervilen !4
vers, verbot ihnen dagegen die Worlefungen eines Lehrers, der beknz
war ald Mann von gemäßigten , aber wahrhaften liberalen Grundfür
und von folher Ueberzeugungstreue, daß er das Vertrauen auch brik
Jugend befaß, furchtlos feinen wahren Ueberzrugungen gemäß zu ir
ven. Als nun jenem Gtudentenhäuptling Jemand darüber feine Br
wunderung ausdrüdte, erklaͤrte er, der fervile Lehrer fchade feinen m,
publicanifchen und revolutionären Principien bei feinen Anhänge
nichts, da man allgemein bie fervilen Motive der Lehren jenes Mans
tenne und fie auch, wegen des Mangels aller wahren Liberalitdt, ka
Sünglinge nicht anfprächen. Anders fei es mit jenem andern Lehe,
der das Vertrauen und die Adıtung für feine Grundfäge geminne m
ihm feine Leute verderbe. — .
Bet feinem aller beftehenden Inftitute iſt die möglichft vonfdnie
und ausgedehnte Lehrfreiheit: wichtiger als bei den Umiverfitdtm.
Sie: find bie hoͤchſten allgemeinen geiftigen Unterrichtsanftalteh, Ye
Gentealanftalten für die gefammte Wiffenfchaft, deren, Wefen Fribit
iſt. Auch war mit ihrer Hiftorifhen Entitehung und MWefenheit wi
tommene Freiheit verbunden. Wie die höheren Lehranftalten die Pi
tofophen = und, Rhetorenſchulen der Griechen und Römer, ſo waren und
fie Privatinftitute und feiner Lehrbeſchraͤnkung untertvorfen. Im Area
hatte zwar einmal ein“ allzu polizeilich gefinnter Beamter einen Yatız
Lehrfreiheit. 661
ber geiftlichen Intereſſen mit manchen Univerfitätslcehren nicht ausblei⸗
ben, befonders feit der Zeit, “als die theokratifch = hierarchifche Gewalt
des Papſtthums bei der heranreifenden Mündigkeit der europdifchen
Menſchheit ihre frühere freiere und mwohlthitigere Auctorität verlor, und
fie nun gegen die höheren Beduͤrfniſſe der Völker gemaltfam fefthalten
wollte. Aber man braucht nur die ewig denkwuͤrdige Gefchichte der Kämpfe
des berühmten Profeffors Reuchlin mit dem Obſcurantismus der
Moͤnche und mit der geiftlichen Inquifition , ja mit der ganzen päpftlichen
Hierarchie zu lefen, um ſich zu überzeugen, daß felbft im angeblich fo
ganz finfteren Mittelalter die geiftlihen und meltlichen Regierungen
eine unendlich größere Achtung vor den Univerfitäten und ihrer Lehr:
freiheit hatten und an den Tag legten, als die politiſche und Polizei⸗
willkuͤr unferer heutigen Gemalten nur ahnet. Zwar mit den duferft
feltenen und nicht fo leicht möglichen Verurtheitungen zum Verbrennen
der Leiber und Bücher droht man jegt nicht mehr; aber durch als⸗
baldige beliebige Entfernungen der Lehrer vom Lehramte, fobalb' ihre
Lehren etwa einzelnen geiftlichen oder weltlichen Behörden unbequem
feinen, vernichtet man ungleih mehr bie Lehrfreiheit als früher.
Selbſt in jenem Kampf auf Leben und Tod gegen’ ben angellagten
Reuchlin mußte die päpftlihe und die weltliche Macht ftatt, fo mie
jegt, mit einfeitigen Entfcheidungen darein fahren zu Eönnen, die Berufuns
gen auf die Gutachten der einheimifchen und ausmärtigen Univerfitäten,
ja zulegt die Berufung auf ein allgemeines Concilium und feine Ent:
fheldung über die ftreitigen Lehren vefpectiren. Die Gutachten der
Univerfitäten erfolgten meift zu Gunſten des Angeklagten, ein allgemei>
nes Concillum fcheute man, felbft der allgewaltige Papft gab nad) — und
Reuchlin fiegte. Auch bi8 zu dem Umſturze der früheren Verhaͤltniſſe
buch ben Rheinbund würde — einzelne ausnahmsmeife Gewalt:
freihe ausgenommen, tie fie in allen Lebensverhättniffen zumellen
vorfommen — Feine geiſtliche oder weltliche Gewalt eine Verurtheilung
einer Lehre und Leine nachtheiligen Maßregeln gegen ben Lehrer ges
wagt haben, ohne daß bie Gutachten der ſachkundigen unpartelifchen
Sacultäten die Sache reiflich geprüft und bie Öffentlihe Meinung in
Kirche und Staat zum Öberurtheil vorbereitet und veranlaßt hatten.
Die Univerfitäten waren und biieben lehrfrei; überhaupt freie Corpora⸗
tionen , in welchen bie Lehrer theild von der Corporation feibit berufen
wurden oder frei ohne Staatseinmiſchung, blos durch ihre wiſſenſchaft⸗
liche Befähigung als Privatdocenten in ben Lehrberuf eintraten, in
welchem Profefforen und Docenten von der Staategewalt keineswegs
mtfegt oder nach der milderen, aber darum gefährlicheren Welfe verfegt
und penfionirt werden durften. Gilt ja gleiches Recht felbft bis auf
den heutigen Zag in allen freien Ländern, z. B. in England und
Schweden. Selbſt Napoleon ließ den Univerfitätsprofeforen bie volle
Unabfegbarkeit und damit wenigftens die Anertennung unb mefent:
iche Grundbedingung der Lehrfreiheit. Die Gutachten der betref-
renden Facultaͤten in theolegifchen, juriflifchen, ſtaatsrechtlichen und
662 Lehrfreiheit.
mebichnifchen Angelegenheiten waren in ganz Deutſchland in Haha !
Achtung. Die Univerfitätspräfungen waren die Bedingungen bes Er
teitt in die höheren Staatsdienfte. Und auch in den Ländern, in weihe
Genfur der Preſſe eingeführt war, blieben doch in ber Megel bie Un;
verfitäten und Profefiocen von berfelben befreit. In den Reihe: m
Landftändifchen und in ben völferrechtlihen Verhandlungen hatten fo mi
in den Gerichten die Lehren, Schriften und Gutachten der Profefon
überall Gewicht und Einfluß.
Diefes Alles hat ſich leider gar fehr geändert. Die ungiät
liche despotiſche Rheindundezeit, überhaupt die Ausbildung alle
Iuter Regierungegevalt, zum Theil felbft ein einfeitiges Sm
überziehen höherer Staatsgrundfäge aus freien conftitutionellen Stau h
verfaffungen, mit Ausſchluß jedoch ihrer Liberalen Snflitutionm
haben bei uns in Deutfdhland in biefer wie in andern Beziehunga |
einen hoͤchſt bedenklichen und fonderbaren Rechtszuſtand begründe. |
Die alten Garantien der Freiheit und eines feflen Wechts, I
Rechtsſchutz der ganz felbfiftändigen Reiche und Landesgerichte, da
unabhängigen Corporationen, der Städte, der Univerfitdten, da
Sprudjcollegien und ber Rechtsgutachten der Facultäten und ner
18 andere hierhin Gehörige — dieſes Altes ift in Deutfchland ne
ſchwunden oder Eraftlos geworden. Die Negierungs- und Poligige
malt ift in allen Gebieten des bürgerlichen und gewerblichen Lebens, in
Lehrfreiheit. 663
wahrhaft uͤberraſchende Weile. Won Karl dem Großen an, unter ben
Otionen, wie unter dem Friedrichen, unter Marimilian, mie unter
Joſeph IL, hatten gerade in Deutſchland vorzugsmweife die Gelehr⸗
ten und ihre Worte in fo hoher Achtung geftanden; fie ſchienen,
ſeitdem vollends auch ein deutſcher Univerfitätsprofeffor duch feine
kehrfreiheit die kirchliche Reformation in fo vielen, die politifche es
form allmätig in faft allen europaͤiſchen Ländern bewirkte, vorzugsweiſe
geeignet und berufen, Wahrheit, Licht und echt männlid und ſelbſi⸗
ſtaͤndig zw vertreten, ihren freien Fortſchritt gegen Obfeurantismus und
Unterbrädung jeder Art zu fördern.‘ Wie früher auf ber fächfifchen
Univerfitäe Wittenberg Luther, fo wurde auf's Neue Thomafius auf
der preußiſchen Univerfität Halle durch dem freieften maͤnnlichſten Kampf
gegen Unterbrüdung und Finſterniß jeder Art ein Wohithaͤter der
Mienſchheit. Auf der neu geftifteten Univerfitäe Göttingen hatte, bald
nachher gefeiert von ganz Deutfhland, Schläger, nad) des Minifters
Mofer Ausbrude, mit feiner cenfurfreien kraͤftigen Wahrheit mehr
gegen Unterbrüdungen und Mißbraͤuche gewirkt, als Reichsgerichte,
Landescollegien und Landftände. Er umd alle freigefinnten Freunde
des Lichts und ber Wahrheit, ein Wolf, ein Häberlin, ein Spitts
er, fie konnten zur Ehre der Menfchheit und des Waterlandes ihrer
hohen Beftimmung genügen. Auch felbft der allgewaltige Napoleon
wagte Seinen Angriff auf die deutfchen Univerfitäten, die’ auch bie Scans
zoſen bewunderten. Am hohen beutfchen Bundestage felbft pries noch
in der Eroͤffnungsrede die Präfidialgefandtfchaft, unter Buflimmung aller
übrigen Regierungsbevollmächtigten, die deutfchen Univerfitäten und ihre
ausgezeichnet freie Verfaffung mit Begeifterung: „Wem find fie nicht
— fo rief der Gefandte aus — ein ſtolzes Denkmal deutſcher Ent»
„wickelung?“ Ex nannte fie: „Mitflifter der Ehre und des Ranges,
„deſſen Deutſchland im europdifchen Gemeinwefen ſich erfreut. ”
Und noch nicht drei Jahre fpäter erſchlenen — nachdem über bie
verzögerte Erfüllung der verheißenen Wieberherftellung freier Verfaſſungen
zwiſchen der öffentlichen Meinung und den Gabinetten eine Mißſtimmung
und bei ben letzteten ein verändertes politiſches Syſtem geflegt hatten
— die Karlsbader Befhläffe, diefe Befchläffe, die, noch außer ber.
Zerſtoͤrung der Preßfreiheit, die außerordentlichften Anſchuldigungen und
die auffallendften Maßregeln gegen dieſe Univerfitäten, gegen bie
Lehrer und die Stubicenden enthielten. Sie ftellen diefe ehrwuͤrdigen,
fruͤher felbftftändigen Anftatten für Licht und Recht und ihre Lehrer
unter fttenge polizeiliche Aufficht ; fie fordern von bem jegt bei ihnen
angeftellten Wregterungebevolimäähtigten: daß fie die öffentlichen und
nPrivatvorträge aller Lehrer forgfältig beobachten und benfelben eine
nheilfame wihtung geben”; fie fielen die Lehrer außer bem
Schut ber beftehenden Gefetze und verpflichten die Regierungen, ſolche
bei etwaigen Abweichungen von ihrer Pflicht, bei Ueberfchreitung der
nGrenzen ihres Berufs, bei Mißbrauch ihres Einfluffes auf die Jugend
„and bei Verbreitung verberblicher Lehren vom Lehramte zu entfernen,”
—— Lehrfreiheit.
und die in efnem deutſchen Lande mißfaͤllig befundenen auch in Era
andern Lande twiederanzuftellen. Die bekannte Ciecularnote vom Br }-
fen, Bernflorff, einem Mitgründer der Karlsbader Beſchlüſſe, æ
klaͤrte die Univerfitäten für Giftquellen und fagte zur Erlduterm
jenes Beſchluſſes: „man hat geglaubt, daß das ficherfte Mittel, bie pr
„Ktifhen und celigiöfen Abweichungen der Profefforen zu unterbrädn,
darin beftände, ihnen bie ſchlimmen Folgen anzutündigen , die ie
nfalfchen Lehren für ihre ganze Eriftenz Haben würben“)
Wir übergehen fpätere Bundes: und Landesmaßregeln, melde a
“ähnlicher Richtung gegen die deutfchen Univerfitäten und Gelehrn
nachfoigten. Es gehören z. B. hierher jene bekannten Bundesbeſchlift
über das ausſchliehliche Jnterpreiationsrecht der Bundesſchluͤſſe für ie
Bundesverfammlung und über die Zurüdweifung der Anführung ın
des Einfluffes der mißbeliebigen ſtaatsrechtlichen Theorieen und War
Es gehören ferner hierher die Bundesbefchläffe, welche jenes Palladium dr
Rehtsfiherheit, bie Actenverfendung an unparteiifche Zuriftenfarub
täten, aufhoben, das auch noch die Bundesacte (Art. 12) begünftigt,
indem fie es wenigfteng für die Staaten unter 300,000 Seelen als unge
ſtoͤrbar fänctionirte, das aber ein fpäterer Bundesfchluß gerade im den wid:
tigften Faͤllen dennoch felbft zerftörte, indem er in Criminal und Poli
fahen Actenverfendung und Einholung von Redtsgutachten bei Ju
ftenfacultäten in ganz Deutfchland verbot. Es gehören hierhin ah
die Bundesgefege von, 1834, welche den Einfluß der akademiſchen S
nate ſchmaͤlerten und ängftlich bewachten, ihnen aud) die Gerichtsbarkeit is
Polizei: und Criminalfahen über die Univerfitätsangehörigen entzogen
Es gehören ferner quch dahin die Gonfiscationen und Unterdrädungs
von Rechtsgutachten, melde Privaten von Juriftenfacultäten eingebolt
hatten; fo 3. B. von dem Rechtsgutachten, welches einen unglücklichen pls
echeſrehett. 605
Beſchluͤſſen über die religiöfen und politiſchen Abweichungen der Lehrer
hätte nicht mehr der in Preufen verfolgte geoße Wolf in Heffen und,
bei erfolgter Regierungsveraͤnderung, felbft wieder im alten Waterlande,
hätte nicht der vom Obfeurantismus in Sachfen verfolgte Thomafius
in Preußen freudige ehrenvolle Aufnahme, dem freien Lehrfluhl für bie
unſterbliche heilfame Wirkſamkeit, die freie Bahn zur Bewirkung eines
großen Fortjchrittes der Eivillſation des Vaterlandes gefunden. Jener
edle Wetteifer der vielen deutihen Staaten, in weichem z. B. auch
ſpaͤter die durch den Woͤllner ſchen Obfcurantismus von Berlin vertries
bene allgemeine deutſche Bibliothek von Altona aus für Licht und Auf⸗
Adrung fortwirten konnte — biefer Wetteifer, der einzige Erfah
für die entbehrte Einheit der Nation, iſt durch jene Befchlüffe
und durch die neue deutſche Pollzeigewalt und Verbindung gelähmt.
Für die Beantwortung ber Frage Übrigens, ob denn in zwei Jah⸗
ven der Geiſt aller deutfchen Univerfitäten, diefer fonft jtets, diefer noch
bei der feierlichen Eröffnung des deutfchen Bundes fo. hoch geachteten
Corporationen, ſich bis zum Entgegengeſetzten verändert hatte, ift die
Thatſache von Intereſſe, daß fogar noch nach den Karlsbader Beſchluͤſ⸗
fen und ber dadurch entſtandenen Mißſtimmung die allermeiſten deut ⸗
[hen Regierungen ihren Landesuniverſitaͤten die guͤnſtigſten Zeugniſſe
ausftellten *).
Die Regierungen und Staatsmänner müßten biejenigen Profeffos,
ten felbft verachten, die ſich etwa durch die öffentlichen Befchuldigungen
und Ausnahmsmafregein, durch deren Einfluß auf ihr Heiligthum,
ihre Lehrfreiheit und bie moraliſche Achtung ihrer Lehren nicht gekraͤnkt
fühlten. Aeußerungen dieſer Gefühle, Zurüdweifungen falfhen Vers
dachts erfolgten von allen Seiten. Auch war nad Verlauf einiger
Zahre die Falfchheit jenes Verfhwörungslärms, der ben Karlsbader
Beſchluͤſſen vorausging, enthüllt, indem bei allen Beweiſen eines weit⸗
verbreiteten, ungeduldigen, unzufiebenen Eifer für die verheißenen
Reformen doch nicht Ein Schuldiger von den Gerichten hatte beſtraft
werden Sinnen. Auch mar bei Ablauf der fünf Jahre, für welche
jene Ausnahmsgefege 1819 gegeben worden waren, der politifhe Zus
fland von Deutſchland ein völlig ruhiger. Es ſchien alfo feine Veran⸗
iaſſung vorzuliegen zu einer Erneuerung der Ausnahmsbefchlüffe nad)
Ablauf jener beflimmten fünf Jahre. Ein Thomaftus, ein Schloͤ—
zer, Spittler und Häberlin lehren nicht mehr auf unfern deuts
‘hen Univerfirdten ; auch fein Kant und kein Fichte. Selbſt Schleier»
macher, Fries, Oken und Arndt waren verflummt. Lauter und
verbreiteter war nun immer mehr bie officiell begünfligte Lehre der Vers
nuͤnftigkeit alles Wirklichen oder auch alles ‚Hiftorifhen. Da
erfolgte ftatt des gehofften Endes jener Maßregeln ohne Angabe eines
Grundes in dem Bundesbefchluffe vom 16. Auguft 1824 bie nadte
Beile: „fie dauerten felbfiverftanden fort.” Und es folgten fpäter, wie
*) ©. biefelben a. a. O.
EEE
0. Lehrfreiheit.
und die in einem beutfchen Sande mißfaͤllig befunbenen auch in keinen
andern Lande wiederanzuftellen. Die bekannte Gircularnote vom Gras:
‚ fen. Bernflorff, einem Mitgründer der Karlsbader Befchlüffe, ers
Härte die Univerfitäten für Siftquellen und fagte zur Erläuterung
jenes Beſchluſſes: „man bat geglaubt, daß das ficherfle Mittel, die pos
„ltifchen und religioͤſen Abweichungen der Profefforen zu unterbrüden,
„darin beftände, ihnen die fchlimmen Folgen anzufündigen , Die ihre
„Falfhen Lehren für ihre ganze Eriftenz haben würden *)."
Mir übergehen fpätere Bundes: und Lanbesmafregeln, welche in
“ ähnlicher Richtung gegen die deutfhen Univerfitäten und Gelehrten
nachfolgten. Es gehören z. B. hierher jene bekannten Bundesbefdyläffe
über das ausfchließliche SSnterpretationsrecht der Bundesfchlüffe für die
Bundesverfammlung und über die Zuruͤckweiſung der Anführung und
des Einfluffes der mißbeliebigen ſtaatsrechtlichen Theorieen und Werke.
Es gehören ferner hierher die Bundesbefchlüffe, welche jenes Palladium ber
Rechtsſicherheit, die Actenverfendung an unpartelifche Juriftenfaculs
täten, aufhoben, das auch noch die Bundesacte (Art. 12) begänftigte,
indem fie es wenigſtens für die Staaten unter 300,000 Seelen als unzers
ftörbar fanctionirte, das aber ein fpäterer Bundesſchluß gerade in ben wich⸗
tigften Faͤllen dennoch felbft zerftörte, indem er in Criminal⸗ und Polizels
fahen Actenverfendung und Einholung von Rechtsgutachten bei Juri⸗
ftenfacuitdten in ganz Deurfchland verbot. Es gehören hierhin auch
die Bundesgefege von 1834, welche den Einfluß der akademiſchen Se:
nate ſchmaͤlerten und ängftlich bemadhten , ihnen auch die Gerichtsbarkeit in
Polizei: und Criminalfahen über die UniverfitätSangehörigen entzogen.
Es gehören ferner aud) dahin die Confiscationen und Unterbrüdungen
von Rechtsgutachten, welche Privaten von Suriftenfacultäten eingeholt
batten; fo 3. B. von dem Rechtsgutachten, welches einen unglüdlichen polls
tifhen Verfolgten zur Rettung feiner oͤffentlich angegriffenen Ehre eine
hochberuͤhmte Juriſtenfacultaͤt einftimmig günftig ertheilte, und welches
nun nicht blos im Lande des Verfolgten, nein in dem Lande und am
Sige der berühmten Univerfität felbft polizeilich unterdruͤckt wurde.
Gleiches Schickſal traf bekanntlich fpäter das Tübinger Rechtsgutachten
für das unterdrüdte hannoͤveriſche Recht.
Wie gefagt, diefes Alles foll hier nicht ausgeführt werden. Aber
der gänzliche Gegenfag dieſer neueften Zuftände der deutfchen Univers
ſitaͤts⸗ und Gelehrtenverhältniffe mit den früheren ift von felbft Bar.
Nicht minder klar iſt e6, daB von einer wahren geſetzlich und ver:
faffungsmäßig anerfannten und gefhügten Lehrfreiheit der Univerfitäten
gerade in dem Lande, in der Nation jegt am menigflen gerebet wer:
den kann, welche ftets flolz war auf ihre freien Univerfitätseinrichtun:
gen und auf ihren Gelehrtenitand. In folhem Zuflande Hätten fo
wenig ein Schlözer wie ein Luther MWohlthäter der Menfchheit und
die Bierde ihres Vaterlandes werden können. Nach den Karlebader
*) ©, Kieler Beiträge 1, ©. 3.
Lehrfreiheit. 665
Beſchluͤſſen über die religiöfen und politifchen Abweichungen der Lehrer
hätte nicht mehr ber in Preußen verfolgte große Wolf in Heffen und,
bei erfolgter Megierungsveränderung, felbit wieder im alten Vaterlande,
hätte nicht ber vom Obfeurantismus in Sachſen verfolgte Thomafius
in Preußen freudige ehrenvolle Aufnahme, den freien Lehrftuhl für die
unfterbliche heilfame Wirkfamteit, die freie Bahn zur Bewirkung eines
großen Fortſchrittes der Civilifation des Vaterlandes gefunden Jener
edle Wetteifer der vielen deutfchen Staaten, in welchem 3. B. aud)
fpäter die ducch den Woͤllner'ſchen Obſcurantismus von Berlin vertries .
bene allgemeine beutfche Bibliothek von Altona aus für Licht und Auf⸗
klaͤrung fortwirten konnte — diefer Wetteifer, der einzige Erfag
für Die entbehrte Einheit der Nation, iſt durch jene Befchlüffe
und durch die neue deutfche Polizeigewalt und Verbindung gelähmt.
Für die Beantwortung der Stage übtigens, ob denn im zwei Jah⸗
ren der Geiſt aller deutfchen Univerfitäten, diefer fonft ſtets, diefer noch
bei ber feierlichen Eröffnung des deutfchen Bundes fo- hoch geachteten
Gorporationen, fi bis zum Entgegengefegten verändert hatte, iſt die
Thatfache von Intereſſe, daß fogar noch nuc den Karlsbader Beſchluͤſ⸗
fen und der dadurch entflandenen Mißſtimmung die allermeiften deut»
ſchen Regierungen ihren Landesuniverfitäten bie günftigften Zeugniſſe
ausfteliten *).
Die Regierungen und Staatsmänner müßten biejenigen Profeſſo⸗
ren felbft verachten, die fich etwa durch die öffentlichen Befchuldigungen
und Ausnahmsmaßregein, duch deren Einfluß auf ihr Heiligthum,
ihre Lehrfeeiheit und die moralifche Achtung ihrer Lehren nicht gekraͤnkt
- fühlten. Aeußerungen diefer Gefühle, Zurüdweifungen falfchen Vers
dachts erfolgten von allen Seiten. Auch war nad Verlauf einiger
Sabre die Falfchheit jenes Verſchwoͤrungslaͤrms, der den Karlsbader
Befchlüffen vorausging, enthüllt, indem bei allen Beweiſen eines’ weit-
verbreiteten, ungeduldigen, ungufriedenen Eifer für die verheißenen.
Neformen doch nicht Ein Schuldiger von den Gerichten hatte beftraft
werden Finnen. Auch mar bei Ablauf der fünf Jahre, für melde
jene Ausnabmegefege 1819 gegeben worden waren, ber politifche Zu:
ftand von Deutfchland ein völlig ruhiger. Es ſchien alfo Feine Veran:
laffung vorzuliegen zu einer Erneuerung der Ausnahmsbefchläffe nad
Ablauf jener beflimmten fünf Jahre. Ein Thomafius, ein Schloͤ⸗
zer, Spittler und Häberlin Iehrten nicht mehr auf unfern deut⸗
ſchen Univerfitäten ; auch fein Kant und Bein Fichte. Selbſt Schleier⸗
macher, Fries, Oken und Arndt waren verflummt. Lauter und
verbreiteter war nun immer mehr die officiell begunftigte Lehre der Ver:
nünftigleit alles Wirklichen oder auch alles Hiftorifchen. Da
erfolgte flatt des gehofften Endes jener Maßregeln ohne Angabe eines
Srundes in dem Bundesbefchluffe vom 16. Auguft 1824 die nadte
Zeile: „fie dauerten felbftverfianden fort.” Und es folgten fpäter, wie
*) S. diefelben a. a. D.
BE
-
666, Lehrfreiheit.
es eben angebeutet wurde, noch eine Reihe von Beflimmungen, melde
bie frühere Achtung, Wirkſamkeit, Lehr⸗ und Preßfreiheit der Univerfitaͤten
und des deutfchen Gelehrtenftandes auf eine betrübende Weife befchräntten.
Menn nun auch unbedenklidy zugeflanden werden muß, baf
viele Regierungen viele einzelne Lehrer durch höhere Gehalte, vor
nehmere Titel und durch Orden auszeichneten, fo wurden dadurch der
gerechte Schmerz und die Beforgniffe aller würdigen deutfchen Gelehe⸗
ten in Beziehung auf jene allgemeinen Maßregeln gegen ihren gangen
Stand und gegen Deutfchlands Univerfitäten nicht vermindert, ja ans
leicht begreiflihen Gründen zum Theil nody vermehrt. Auch dadurch
koͤnnen fie wohl nicht verfehwinden, daß die neuen Penſionirungs⸗ und
Verfegungsrechte, fo wie die Karlsbader Ausnahmsmaßregeln nur felten
hart angewendet worden find. Einige wenige Beifpiele genügen ja,
um Allen zu zeigen, was ihnen bevorfieht, wenn fie mißfällig wer⸗
den, um aͤngſtlich zu machen, um fie durch die Furcht vor Verluſt ih
res MWirkungskreifes und des Nahrungsftandes Ihrer Familien zu ſchre⸗
den. Eine einzige Ungunft und ſchnell in's Werk geſetzte Maßregel
fann jest von den Lehrftühlen der Religion, des Rechts, ber Philoſo⸗
phie und Gefhichte die Wahrheit und ihre Stimme ver
drängen und bie entgegengefegten Stimmenvon benfel»
ben ertönen laffen. In der That, wenn man mit dem Bigherigen
noch die jeßige Abhängigkeit aller Anftellungen und Beförderungen ber
Profeſſoren, in felbft die des Auftretens von Privatbocenten verbindet,
alsdann wird man nicht leugnen koͤnnen, daß gegen bie frühere deutſche
und gegen die englifche und franzöfifche, gegen fchmedifche, bänifche und
normwegifche, gegen holländifhe und beigifhe Lehrfreiheit die der jehigen
deutfchen Univerfitäten und Profefforen fehr, fehe vermindert, ja ohne
verfaffungsmäßigen Schuß gaͤnzlich von wechfelndem Verwaltungsbelie
ben abhängig ift.
Eine theilmeife moraliſche Revolution ift fiher an ſich ſchon diefer
Umſturz der früheren Verbältniffe und Rechte, der Achtung und ber
Lehrfreiheit der deutfchen Univerfitäten und des deutſchen Gelehrtenſtan⸗
des. Wie wenig diefe Veränderung wahrhaft heilfam iſt, dieſes geht
wohl aus den allgemeinen Betrahtungen zu Anfang diefe® Artikels
hervor. Vor Allem aber ift e8 klar, daß ein Umſtuͤrzen fo alter, geady
teter, einflußreicher Inftitute und Rechtsverhältniffe, wie die der beutfchen
Univerfitäten und des deutfchen Gelehrtenſtandes nimmer die Heiligkeit
der übrigen legitimen Zuflände und Rechte befeftigen kann. Zu hoffen
ift, daß endlich die unglüdlichen, zum Theil von fehr unzuverläffigen
Freunden der Regierungen und der Völker gendhrten Mißſtimmungen
und Beforgniffe endlich weichen und auch die deutfchen Univerfitäten
und der deutfche Gelehrtenſtand wiederum in einen geachteten, verfafs
fungemäßig gefhirmtar Rechtszuſtand und in ihre Lehrfreiheit eingefeht
werden mögen. Es ift biefes ein wahrer Ehrenpunct für die beutfche
Nation und ihre Regierungen.
Weſentlich find hierzu insbefondere die früheren freien Grund⸗
Lehrfreiheit. 667
füge in Beziehung auf Anftellung und Beförderung der Profefforen
und Privatdöcenten, minbeftens eine regelmäßig entfcheibende Mitwir⸗
tung ber akademiſchen Senate und ber Facultdten. Noch wefentlicher
ift die frühere Inamovibilitaͤt derfelben. Unmittelbare Einmifhung bes
Staats in bie Lehre follte nur bei Anzeigen wahrer Rechtsverletzungen
Statt finden. Das Uebrige müßte regelmäßig nur der freien wiffenfchaft:
lichen Prüfung und Widerlegung vorbehalten bleiben, und in etwaigen
Faͤllen von Beſchwerden wegen abfolut ſtaats⸗ ober kirchenwidrigen Lehs
ven mindeftens jede nadjtheilige Verfügung, fo wie ſtets vordem, bes
dinge fein durch vorherige Prüfung und Entfceidung anberer unpars
teliſcher ſachkundiger Facultaͤten. Man kann revolutiondte Umwaͤlzun⸗
gen ber verſchledenſten Art unternehmen und billigen, aber man wird
eine andern bie ganzen moralifchen Grundlagen ber Ehre und Civilis
fation des deutſchen Vaterlandes mehr untergeabenden auffinden, als bie,
wenn man die Lehrftühle für die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit zu
abhängigen Drganen der Gewalt, ihrer wechfeinden politifchen Meinun⸗
gen, Intereffen und Leidenſchaften umbilden will.
In Beziehung auf die Lehrfretheit der Kirche und der
Getftlichkeit befleht eben fo wie bei der Schule die Grundbedingung
in den anerkannten felbftftändigen Gorporationsredhten und Verfaſſun⸗
gen und in dem Grundprincip, daß auch hier der Staat, als folder,
nur die wirklichen Mechtsverlegungen abzuwenden, übrigens nur ein
wohlthaͤtiges Schugrecht auszuüben hat. Ueber bie Klrchenwidrigkeit der
Lehren hat nur die kirchliche Geſellſchaft zu entſcheiden. Diefes aber
kann auf heilfame Weife nur bei einer freien georbneten Kicchefivers
faffung und von der wahren gefelfchaftlichen Repräfentation, alfo von
den Synoden gefcheben. Diefe müffen zwar ebenfalls, wenn fie hrifts
lich find, die nothwendige chriftliche Freiheit und Vervollkommnung
heilig halten; jedoch hieße es mehr als wahre Lehrfreiheit fordern,
wenn man verlangen toollte, daß felbft gegen den Grundvestrag ber Ueber⸗
nahme eines Eichlichen Lehramts den wefentlihen anertannten
Srunblagen ber Eirchlihen Gemeinſchaft wahrhaft widerſprechende
und feindfellge Lehren, fo fern fie bie kirchliche Repraͤſentation
als folche erkennt, gebuldet werden müßten. Diefes können In ber
That nur ſolche fordern, melde die natürlichen Gefellfhaftszwede und
Rechte der Kirche gänzlich, verfennen ober die Kirche felbft anfeinden
und zu ſtuͤrzen fuhen. Aber die weſentliche Aufgabe ift es hier, einer-
ſeits die Einmifhung des Staats und politiſcher Interefien, anderfeite
die hertſchſuͤchtigen und partelifch eingenommenen Anfichten der Kirchen⸗
beamten wie des Pöbels ber Kirchengeſellſchaft durch die ruhige Ver⸗
handlung und Entſcheidung einer wohlgeordneten kirchlichen
Repräfentation auszufchließen. Unter ſoichen Vorausſetungen koͤnnte
es nur gebilligt werden, wenn z. B. eine chriſiliche Kirche eine Strau⸗
Kirche Lehre aus ihrer Mitte zuruͤckweiſſt, eine Lehre, die den weſent⸗
lichen Grundiehren des Chriſtenthums feindlich entgegentritt, die fogar
in ihrem naturphiloſophiſchen Materiaftsmus durch die Conſequenz abs
I —— —
668 Lehrfrelheit.
ſolut gezwungen iſt: die Perſoͤnlichkeit Gottes und eine Vorſehung
im religioſen Sinne, die menſchliche Freiheit und mit ihr die Wahrheit
von Tugend und Lafter im fittlihen Sinne und endlich bie wahre, die
“individuelle Unſterblichkeit aufzugeben. Freilich die neue Sophiftenfchule
fucht dieſes durch täufchenden Schein der Worte zu verhüllen; ja fie
ſucht abſichtlich nach ihrem bekannten Zäufhungsprineip: „für bie
„geommen und Einfältigen in der Sprache der Frömmigkeit und Ein
„falt zu ſprechen,“ hierüber das größere Publicum irre zu führen. Es
wäre ja gar nicht zu gewinnen und zu verführen, wollte man ihm
nicht, trog des Verſprechens der ganzen Wahrheit, die DVerneinung
jener Grundlagen aller Religion und Moral großentheils verbergen.
Mag übrigens auch ſolcher Lehre die Freiheit bfeiben, in Schriften,
vielleicht auch vom Lehrſtuhl der Phiiofophie, zuc öffentlichen Prüfung
aufzufordern; bie Wahrheit wenigſtens und eine Kirche, bie auf ihe
ruht, fürchten die Prüfung nicht. Sie ift heilfam, wo die Waffen
dazu vorhanden find, wo fie gründlich moͤglich ift, was freilich von
den Lefern und Leferinnen einer belletriſtiſchen Zeitſchrift nicht erwartet
werben follte. Aber ſicher wäre es doc weniger verlegend und ver:
kehrt, wenn man einen Rabbinen zum Religionsiehter, zum Dogmati-
ter oder Geiſtlichen einer chriftlihen Kirche, ober auch einen Katholiken
für Proteflanten oder einen Proteftanten für eine katholiſche Kirchen⸗
geſellſchaft anftellen wollte, ald wenn man einen Mann von jenen
Grundfägen zum Religionsiehrer irgend einer chrifklichen Kirche beriefe.
Und überall würden in ſolchem Falle auch proteſtantiſche Länder nöthigen:
falls zeigen, daß fie weder eines Papftes noch einer katholiſchen ſtrengen
Einheitsform bedürfen, um ihre Kirche gegen ſolche Unbill zu ſchuͤhen,
ihre kirchlichen Grundfäge und ihre wahre kirchliche Pofitivitdt und Ein:
heit zu bewahren. Diefes haben aud die Züricher gezeigt und auf
hochachtbare Weiſe gewiß, To weit nicht leider felbftfüchtige imd. Poli:
Lehrfreiheit. 669
freiheit befolgt. Es wird den kirchlichen in- und auswärtigen Regie:
renden in ber Kirche der entfcheidende Einfluß felbft auf Anftel:
(ung und Entfernung ber Profefforen und auf ihre Lehroorträge einge:
räumt. Alle alten Grundſaͤtze über die Selbſtſtaͤndigkeit der Univerfis
täten werben vergeflen ; vergeffen werden bie Grundfäge von ber Kai:
ferin Marta Thereſia und Joſeph, welche fefthielten an der Wahr:
heit, daß bie Univerfitdtebildung Sache der Wiffenfhaft und des Staas
tes ift, daß die bifchöflidhe Oberaufficht und Gewalt erſt mit dem Prie⸗
fterchume beginnt, daß ſeibſt nach ben Grundfägen des Mittelalters der
blos wegen Lehrmeinungen verfolgte Profeffor unantaftbar blieb, bie
ihn bie Geſammtheit der Kirche, bie Gutachten der theologifhen Facul⸗
täten und die Goncilien veructheilten.
Keiner weitern Ausführung aber bedarf es wohl, baß diefes ganze
Syſtem zum Unheil führt, daß die Regierung felbft fo die nicht ces
gierende Kirchengefellfhaft, die fie nie hört, und die fie um eigener
weltlichee Zwecke willen den herrſchſuͤchtigen kirchlichen Beamten Preis
gibt, zuerſt beleidigt, fodann immer mehr ſelbſt obfeurantifh und fa-
natiſch machen hilft. Die alten freien flandeifhen und brabantifchen
Katholiken ließen fich bei dem Megierungsantritt vor der Huldigung (in
ber Joyeuse Entree) von ihren Fürften vor Allem eidlich verfprechen, fie vor
Uebergriffen der Geiſtlichkeit zu fchirmen. Den bierin ſich ausfprechen:
den Grundgedanken einer gewiß gut Tatholifchen, aber freibeitliebenden
Bevdikerung überfieht jenes falfche Syſtem. Eben fo vergißt es, daß
die einer auswärtigen Macht bienftbare hierarchifche (Beiftlichkeit, an
der Stelle wahrer Religiofitdt und Moralität, Herrſchſucht und Taͤu⸗
(hung, Heuchelei, Sinnlichkeit und Aberglauben ausbildet, daß fie
durch jede neue Conceffion nur zu neuen Anfprüchen beflimmt wird
und zuletzt in ber unvermeidlihen Collifion mit ber weltlichen Regie:
rung gegen diefe die fanatifirten Maſſen verbiendet und aufreizt. Statt fol-
her unbeilvollen Verwickelungen, bie leichter herbeigeführt als gründlich
gelöf't find, hätten bei verfaffungsmäßiger Schuͤtung ber Lehrfreiheit bie
entgegengefeßten Richtungen jeder kirchlichen Geſellſchaft, die freiere und
die entgegengefeßte, ſich unter ſich wohlthätig bekämpft und ausgegli⸗
chen, und die Regierung hätte mit ruhigem parteilofen Schuß vermits
teind hoch über beiden geftanden, ohne ſelbſt in die Leidenfchaften des
Parteiſtreites verwickelt zu werden. Religion und Gittlichkeit, und Thron
und Altar wären dann nicht, fo wie früher in Frankreich und Spanien,
gerade felbft unter dem Scheine ihrer Förderung untergraben und ein
revolutiondrer und gottlofer Haß gegen fie groß gezogen worden.
Aber noch auf andere Weiſe und vorzüglich bei den Proteftanten
leidet die kirchliche Lebrfreiheit in neuerer Zeit gar Häufig. Die Regie:
rungen machen die Geiſtlichen von ihrer weltlichen Gewalt und ihren
politifhen Zwecken abhängig. Es fehle auch hier jetzt die Heilighaltung
dee früheren Grundſaͤtze über Anftellung und Beförderung der Geiftlis
chen durch ihre Gemeinde oder durch Eicchliche Behörden und nach rein
kir hlihen Zwecken. Es fehlt und zerfällt auch hier die Inamovibilitaͤt.
670 Lehrfreiheit.
Alles wird willkuͤrlich und abhängig von weltlichen Behoͤrden und Sa
teseffen. Da hört und fieht man denn aus Furcht vor ber freiheit,
zumal da, wo man fie verſprach und das Verſprechen nicht hielt, An:
drohungen und Vollziehungen von Zuruͤckſetzzungen und Abfegungen,
wenn der Geiftlihe in feine Predigten, wie man fagt, Politik ein⸗
miſcht, oder auch, wenn er ſich fon als Bürger für freiere Verfaſ⸗
fungsgrundfäge, 3. B. für freie Deputirtenwahlen, intereffist. Die offen
bare heuchlerifhe Lüge aber fcheut man nicht, daß man verfdhleiert ober
unverfchleiert es wuͤnſcht oder mit weltlichen Belohnungen und Strafen
fordert, ber Geiftliche folle dennod fi in bie Politik einmifchen, e
ſolle ben politifchen paffiven Gehorfam der Bürger predigen, das Lob
ber politifhen Regierung und ihrer Maßregeln, bie Lobpreifung bed
politifhen Abfolutismus, die Verdammungen der politiiyen Gegner bei
Regierungsſyſtems verkünden, oder auch er folle thätig Tein für bie
Wahlen politiſch ferviler Abgeordneter. Welcher neue Migbrauch des
Heiligen, wodurch man Religiofität und Moralitdt untergräbt, wodurch
man vorzüglich oft die proteftantifche Kirche und Geiſtlichkeit bei Pre⸗
teftanten und Katholiken um ihre Achtung bringt! Und wie verkehrt
ift an fi) fhon der Gedanke: der Geiſtliche fol nicht nach Teiner freien
religioͤs moraliſchen Weberzeugung, fo wie auf alle irdiſchen Pflichten, Zus
genden und Lafler, fo auch auf die wichtigfien, auf die des ſtaatege⸗
feufchaftlihen Lebens, die chriftlihen Moralgeundfäge anwenden ! XThaten
diefes nicht alle kirchlichen Reformatoren? Thaten und thun es nidıt
Sahrhunderte lang und nocd heute in Schweden und England und
Holland ihre Nachfolger? Auch hier muß, gegenüber dem Staate, bie
Lehre frei bleiben, fo lange keine Unrechtlicykeit, keine Aufforderung
zu Unrecht und keine juriflifchen Beleidigungen vorlommen. Jede ans
dere Zurechtweifung und Ahndung muß wenigſtens ſtets von bem ver
faffungsmäßigen Ausſpruch der kirchlichen Gefellfhaft ausgehen. Sonſt
hört die Kirche auf, eine freie, eine felbftftändige Geſellſchaft zu fein.
Sie wird eine entwärdigte Kirche, eine abhängige Staats» und Polis
zelanftalt. Dadurch aber wird fie aucd der Achtung und Liebe, des
Vertrauens und aller wohlthätigen Wirkſamkeit beraubt, felbft der wohl⸗
thätig beruhigenden und mäßigenden. Was foll man vollends fügen,
wenn man hört, daß politifhe Behörden in ihrer Verfolgung der polis
tifhen Freiheit und in ihrer Herabwuͤrdigung der Moral und ber Kirche
fogar fo weit gingen, von den Beifllihen, die man, eben fo wie bie
Profefforen, immer mehr zu Staatsdienern zu machen fuchte, fo:
gar politifhe Spionerie und Denunciationen durch Strafen und Beloh⸗
nungen heraus zu preſſen fuchte!
Wie viel ift auch bier zu -thun zur Entfernung des Frevels gegen
Neligion und Wahrheit, zur Derftellung der alten legitimen Grundfäke,
zue Herſtellung wahrer Lehrfreiheit! Freie Eichlihe Verfaffung,
gefhügt ducch freie Staartsverfaffung, wird auch bier allein
helfen, wird allein das wuͤrdige und heilfame Verhältniß von Staat,
Kirche und Schule möglih machen. In diefem letzteren werben insbe
Lehrfreiheit. Leibeigenfchaft. 671
fonderz auch ſchon die Schulen für die Jugend, die Gelehrten: und
die Volksſchule, als Unterabtheilungen der Univerfität und der Kirche,
frei bleiben von der Beherrſchung und von ber Verfälfchung der Wahrs
beit durch bie neuerlichen Einmifchimgen der politifhen Gewalten und
Selbſt Staatsmaͤnner, weichen eine niebere Natur und gemeinere
Lebensanfiht die hohe heilige Achtung ber Wahrheit und der Religion
verfagte, follten doch ſchon aus wahrer Politit vor dem in unferen
heutigen Zeiten abfurden Gedanken zurüdichreden, bie Lehrer und
Priefter der Wahrheit, der Religion und bee Gerechtigkeit zu Dienern
ihrer wechfelnben weltlichen Politik, zu eigentlichen Staats⸗ oder Ders
rendienern berabzumwürbigen. Alle praßtifche Liebe und Begeiſterung für
die Sreiheit, alle wahren praktifch wirkſamen Freiheitsgrundſaͤtze gehen
vollends heut zu Tage vom Leben, von den Eltern, von den Bruͤ⸗
dern und Freunden, von ber Berührung mit andern freien Völkern,
nicht aber von dem Profefiocen und Pfarren aus. Diefe können und
werben, wenn man ihnen Lehrfreiheie läßt, die Einfeitigkeiten und Leis
denfchaftlichleiten des Tags durch ihre tieferen und höheren Lehren ber
Wahrheit und der Liebe ermäßigen, beruhigen und die freien Beſtre⸗
bungen auf die wahren Grundlagen, Brundfäge und Grenzen zuruͤck⸗
führen. Beſtimmt man fie aber von Gtaatswegen zu ber öffentlichen
Lüge und zur verrächeriichen‘ Entweihung des Heiligen, daß fie, unter
dem Scheine wahrer Priefter ber göttlichen Wahrheit, Gerechtigkeit und
Liebe, an heiliger Staͤtte als die gezwungenen ober erlauften Werkzeuge
der jeweiligen Herrſchermacht und ihrer Tagespolitil wirken, aledann hat
man alle ihre wohlthätige Wirkſamkeit zerſtoͤrt. Wan hat zugleich wahr-
haft revolutiondr die ditefte feſteſte Grundlage eutopdifcher und beutfcher
Civiliſation, die Grundlage der Throne, wie die der Freiheit, man bat
die Selbfiftändigkeit von Kirche und Schule, die Freiheit der Religion
und der Wahrheit untergrabn. Man hat alsdann felbft die Greuel
bes ſinkenden römifchen Reichs und der aflatifchen Despotieen heraufbes
fhworen. Man wird früher ober ſpaͤter unfehlbar ernten, wie man
fäete. Aber es ift hohe Zeit, daß man fich befinne, auf welchem Wege
man fich befindet, wie fehr weit man fchon gekommen if. Die ſchmeich⸗
leriſche Lüge dev Worte, und ginge fie auch vom berebteften und ges
lehrteſten Dofprebiger oder Hofprofefioe aus, kann die Uebel und Ges
fahren der Wirklichleit wohl verhuͤllen, aber nicht befeitigen.
©. Th. Welder.
Leibeigenfhaft. — Das Wort Leibeigenfchaft enthält in ſich
felbft einen Widerfpruch, in fo fern dadurch angedeutet werden will, daß
der Leib eines Menſchen der Gewalt eines Anderen in ber Art rechtlich
unterworfen fein könne, daß dieſer Andere darüber wie über eine ihm
eigenthümliche Sache ſchalten und verfügen könne. Schon die denken:
den Römer erkannten biefen Widerſpruch recht gut, obgleich auch bei
ihnen unter dee Benennung servitus (Sklaverei) ein ähnliches, ja noch
weit druͤckenderes und erniebrigenberes Verhaͤltniß beſtand, als durch dem
—
672 Leibeigeufchaft.
deutfchen Begriff der Leibeigenfchaft bezeichnet wird. So ſagt 3. B.
Ulpianus in libr. 18. ad Edict. (L. 3. Dig. ad L. Aquil. IX. 2)
ſehr ſchön: „Dominus ımembrorum suorum nemo videtur“, umd
fhließt damit die Anwendung ber Grundfäge des Sachen: und Eigen⸗
thumsrechtes auf den Körper des Menſchen geradezu aus. Allein frei
üch bezog ſich dieſer Ausſpruch des Ulpianus nur auf ben Leib des
freien Menfchen : daß aber auch der Sklave ein Menfch fei, und
dag ein Menfc fo minig in dem Eigenthume eines Andern fein Eönne,
als er Eigenthümer feine eigenen Leibes fein kann, zu dieſer einfachen,
heut "zu Tage nunmehr glüdliher Weile in unferm Deutfchlanb und
dem ganzen civilifirten Weiten Europas unbeftiitten und eimbellig aner
kannten Vernunftwahrheit hatten fich die Römer, fo wenig wie die ſaͤmmt⸗
- ichen antiken Nationen zu erheben vermodt. Ueberhaupt war im gans
zen Altertbume der Staat und das Volksleben allenthalben mehr oder
weniger auf das Borhandenfein einer unfteien, eimer bienenben, bis zur
Glaffe der Sachen hinabgeftoßenen Claſſe von -Menfhen bafirt: ſelbſt
die griechifchen Republiken, welche noch heut zu Tage in vielen Bezie⸗
hungen als die claffifhen Muſter eines freien Bürgerthumes betrachtet
zu werden pflegen, machen hiervon feine Ausnahme. Das Vorhan⸗
denfein eines folchen erniedrigten, zur Gemeinheit gleichfam verdamm⸗
ten, und zu den niedrigften Dienften und Beſchaͤftigungen, zu Schmut
und Elend beftimmten Standes galt für unentbehrlih, um dem freien
Bürger jene noble Unabhängigkeit, jene Erhabenheit über die alltägliche,
profaifche, handwerksmaͤßige Arbeit zu fihern, welche eine freie Erhe⸗
bung des Geiſtes, einen großartigen Gemeinfinn und ein reges politi:
ſches Intereſſe zu bedingen fhien: der Bürger follte jener den Geifl
und das fittlihe Gefühl abflumpfenden Beichäftigungen enthoben fein,
welche auf reinen gemeinen Erwerb, auf die Stiftung bes nadten fe
bens gerichtet, die Sefinnung in einen gleichen‘ Schmuß, wie den Kir
per herabzuziehen geeignet find. So demokratiſch daher auch immer
die Einrichtung einer antifen Republik in Bezug auf das WVerhältnif
der freien Bürger unter einander fein mochte, fo war fie doch vom
weltbärgerlihen Standpuncte aus betrachtet nichts Anderes, ald eine
Ariftofratie, und zwar eine um fo verwerflihere Organifation, als
fie auf die Ausfchließgung der Maſſen nit nur von ben po:
litifchen, fondern von den angeborenen emigen und unverjährbaren
Menfhenrehten felbft gegründete war. Die Bermerflichkeit,
die Unhaltbarkeit diefer vernunftwidrigen und unnatürlihen Organi⸗
fation trat aber auch in allen Mepubliten des Alterthbums im Laufe
der Zeit offen und Elar hervor, und alle gingen an diefem Grundfeh—⸗
ler ihrer Inflitutionen zu Grunde, und waren fchon längft moraliſch
untergraben und zerfreffen, bis äußere Ereigniffe das morfche politiiche
Gebäude in Trümmer warfen. So wie ſich die Freilaffungen —
was unvermeidlid mar — vermehrten, fo twie aus den Freigelaſſenen
eine Plebs erwuchs, welcher bie Sreiheit, zu welcher fie nicht erzogen
war, ſtets etwas Unerfaßliches blieb, fo wie fich hiermit eine Maſſe
=
Leibeigenfchaft. | 673
gebildet hatte, welcher wirklich allee Schmug ber Gemeinheit und Nie:
drigkeit dee Lebensweife und der Gefinnung anklebte, eine Maffe, welche
ſtets zwifchen den Ertremen einer fohrankenlofen und biutdürftigen 2i-
cenz und bee fElavifchen Unterwuͤrfigkeit unter einen nicht minder biuti-
gen Despoten hin und her ſchwankte — von diefem Augenblide an mar
es um den Beſtand und die Blüthe der Republiken gefchehen, und eine
furchtbate Nemefis begann ein Rächeramt zu verwalten, welches nicht
anders, als mit dem Untergange der gefammten antiken Staaten en⸗
digte. So mar auch der Untergang ber römifhen Republit von dem
Augenblide an entfchieben, al6 Darius, um den Cimbern und Zeuto:
nen Widerftand zu thun, das Gefindel bewaffnen mußte, und von dem⸗
felben Augenblide an war die Freiheit und das Bürgertfum in Rom
für ewige Zeiten geächtet, und die Despotie, die einzige Regierungs-
form, welche niedrige Naturen zu zügeln im Stande und ihnen ange-
meffen ift, feierte von bier an einen halbtaufendiährigen Triumph, bie
das Auftreten der germanifchen Völker auf den Trümmern der alten
Melt eine neue Aera des Staates und Volkslebens in das Dafein rief.
So wie es Fein Verhältnig gibt, welches — fo vernunftwibtig es auch
fei — nicht feine Vertheibigung gefunden hätte, oder als gerechtfertigt
darzuftellen verfucht worden wäre, nachdem es nur einmal durch facti⸗
fche Gewalt begründet worden war, fo ſuchte man auch im Alterthume
fhon die Unfreiheit wenigftens zu beſchoͤnigen; und fo verkehrt ein fol-
ches Unternehmen an fi auch fein mag, fo liegt doch felbft in dieſem
Unternehmen, das Ungereimte zu rechtfertigen und dem Unvernuͤnfti⸗
gen doch menigftene eine vernünftige Seite abzugewinnen, ein achtungs⸗
würdiger Zug des menſchlichen Geifte® und Herzens: es ift das Gefühl
der Scham vor fich, welches jede befjere Natur ergreifen muß, wenn
fie Verhaͤltniſſe gelten ſieht, welche nicht anders als vernunftwibdrig er-
Bannt werden koͤnnen — es ift das natürliche Beſtreben, ſich über das
Unvermeidliche zu tröften, oder in Erwartung beffexer, aufgeklaͤrterer Zei:
ten fi menigftens einflweilen mit einer fcheinbaren Beruhigung zu
täufhen, wo das Ausfprechen des Verdammungsurtheils nur erft noch
an tauben Ohren verhalten wuͤrde. So fieht der Hindu gläubig in
dem Beftehen feiner verfchiedenen fcharf gefchiedenen Kaften, von beren
einer e& feinen Uebergang in die andere gibt, eine unmittelbare Anorbs
nung ber Gottheit, und mie der Bramine aus dem Daupte, fo ift ihm
der Paria aus dem Fuße des Brama entiprofien. So fieht der Mb:
mer in der Sklaverei ein bei allen Völkern vorlommendes — ein
gleichfam durch die allgemeine, überall gleichmäßig bervortretende Der:
nunft — jure gentium — eingeführte® und mohlbegrünbetes Rechte:
inflitut, und um die Dernünftigkeit der Unfreiheit defto begreiflicher
zu machen, wird ihre Bezeichnung (servitus) a servando — vom
Erhalten, Schügen abgeleitet, und als ein Kortfchritt der Humanität
in fo fern dargeftellt, als man in früherer, noch graufamerer Zeit die
Kriegsgefangenen ohne Gnade ermordet habe, jegt aber ſich darauf bes
ſchraͤnke, den Gefangenen zu Dienftleiftungen zu verwenden |
Staats: Lexikon. IX. 43
}
674 Leibeigenſchaft.
Wie aͤrmllch eine ſolche Erklaͤrungewelſe des Unvernuͤnftigen 4
brauchen wir glüdlicher Weife unferer Zeit nicht mehr begreiflich zu m
hen. Dody gab es auch im Altertyume ſchon Männer, bie, wenn
auch nicht hoch genug flanden, um ſich von allen eingemwurzeiten Je
thuͤmern ihrer Zeit und von allen gewohnten Volksanſichten unbe
loszuſagen — (und wer hätte dieſes je vermocht?) — body aber vᷣ
höher ftanden, als die große Maffe ihrer Zeitgenoffen, Männer, im
ſcharfet Blick manchen Schleier der Wahrheit durchdrang. Die gie
Meifter aller phitofophifhen Schulen und die Väter ber Staats
— Platon und Xriftoteles waren es, welche das Unterwuͤrfigkeitsverd
niß nicht mehr durch die factifche Gewalt, fondeen durch ein geifige
Princip, durch eine Beziehung auf ein ſociales Beduͤrfniß ber Vehe
fung gerechtfertiget wiſſen wollten. Nach ihnen follen bie Verſi
gen, die Zalentvollen, die Gebildeten gebieten, bie Unverfländigen, &
Beſchraͤnkten, die Ungebildeten gehorchen und dienen — ein &of, k.
wenn er gleich noch eine Auffaffung des Begriffe von Dienen in cm
ſtiaviſchen Sinne zufäßt, doch fhon die Negation ber Sklaverei als ans
erblichen Zuſtandes ber Rechtiofigkeit enthält und die Emancipation m
denffäpigen Menſchen als ipso jure begründet ausſpricht Da
Chriſtenthum, welchem der Begriff der Menſchenwuͤrde im jebem Jar
vſduum, der Begriff ber Gteichheit der Menfchen vor Gott, und
her Pflichten als Menfchen und Brüder, als Kinder eines und
ben Gottes, zu Grunde liegt — biefem und feinem Einfluß auf
germanifche Nechtsbildung war es vorbehalten, die Unfreiheit nad m
nach zu zerſtoͤren, die früher rohen Maffen für die bürgerfiche Fa—
zu erziehen und die Menſchenwuͤrde in ihre unverjährbaren,. Jahne
fende hindurch mit Füßen getretenen Rechte einzufegen. Auch bei fa
germanifchen Wölkern finden wir das Vorkommen eines umfreien Se
Leibeigenfchaft. | 675
Unfrelen ſtraflos war. Weber die Entftehung biefer Art der Unfreiheit,
welche fi) als eine Art Gutshörigket darflellet, gibt Zacitus keine
Nachricht. Bedenkt man aber, daß in der Zelt, in welcher er fchrieb,
eine forttwährende Bewegung unter den deutfhen Stämmen herrfchte,
and ein Stamm ſich auf den andern warf, wahrſcheinlich von nach⸗
rüdenden flavifhen Stämmen gedrängt, fo kann uns wohl fein Zwei⸗
fel bleiben, daß diefe unfreien Bauern nichts Anderes waren, als die
urfprünglich gemeinftelen Urbervohner des Landes, welche von einem er:
obernden Stamme unterworfen worben find. Die Sitte der Deutfchen,
die befiegte gemeine Bevölkerung ruhig auf den Bauerhoͤfen figen zu
laffen und von ihnen nur gewiſſe Präftationen zu fordern, welche dem
Sieger ein gemächliches, edelmannsmaͤßiges Leben ficherten, findet ſich
überdies durch die ganze beutfche Befchichte und bei allen Voͤlkerſtaͤm⸗
men während ber Voͤlkerwanderung beftätige, wie wir fogleich weiter
auszuführen füchen werden. Bemerkenswerth if, daß Tacitus gar
keine anderen Unfrelen, als jene eben erwähnten Gutsſaſſen erwähnt:
im Gegentheile fcheint ee das Vorhandenſein eines Standes von Uns
freien ohne Grundbeſitz geradezu ausfchließen zu wollen, denn er fagt
dabei ausdruͤcklich, dag ſich der Deutfche feiner Unfrelen nicht wie einer
Art Hausgefinde bediene, im Uebrigen aber die Beforgung der häusli-
hen Bebürfniffe Sache der Frau und ber Kinder ſei. Nur in Germ.
cap. 24. a. €. erwähnt Tacitus noch beildufig einer befonderen Ent-
ftehungsart der Unfreiheit, nämlich duch das Spiel, indem der Deut:
fhe, menn er alles Andere verfpielt habe, zulegt noch um feinen Leib
und feine Freiheit ſpiele. Tacitus bemerkt aber dabei zugleich, daß bie
Deutfchen ſolche Sklaven nicht behalten, fondern fogleich auswärts ver-
taufen, und glaubt den Grund hiervon darin gefunden zu haben, daß
die Deutfchen hierdurch ſich die Beſchaͤmung, einen Mann ihrer Na⸗
tion auf ſolche Weiſe überwunden und erniedrigt zu haben, zu erfparen
fuchten. So gewiß Zacitus in der Angabe biefe® Grundes irrte, fo bient
doch das von ihm richtig beobachtete Factum des Verkaufes des unglüd:
lichen Spielers an fremde Hanbelsleute abermals zur Beſtaͤtigung, daß
im Inneren Deutfchlands der Unfreie nicht anders, als wie ein Guts⸗
faffe vorkam — woraus aber ja nicht gefchloffen werden darf, daß der
gefammte Bauernftand von jeher oder jemals in Deutfchland unfrei gewes
fen wäre. Der eigentliche Grund aber, warum der Spieler von feinem
Sieger verkauft wurde, lag darin, daß dem Legteren darum zu thun
war, zu dem SKaufpreife, als der gewonnenen Summe, zu gelangen,
weiche er felbft wieder weiter zur Befriedigung feiner Leidenfchaft ge-
brauchen konnte. Der übermundene Spieler aber hatte von Anfang
an gerade in diefen Verkauf gemilligt, weil ihm fein Leihtfinn und fein
jugendlicher Uebermuch als etwas Leichtes vorfpiegelte, dem fremden
Käufer wieder zu entlommen, oder fih auf gewaltfame Weife feiner
zu entledigen. Darum galt e6 auch bekanntlich bei den Römern für
hoͤchſt gefährlich, einen deutfchen SMaven zu haben, während die Zreue
eines vertragsmaͤßig angemorbenen Deutfchen über zes hoch geſchaͤtt
X
676 Leibeigenſchaft. 4
wurde. Erſt in den Zeiten der Voͤlkerwanderung bildete ſich daher, wie
es ſcheint, nach und nach das Verhaͤltniß einer doppelten Unfreiheit
aus: man fing naͤmlich an, einen Theil der Beſiegten, nach ber Sitte
der Römer, zu häuslichen Dienften zu verwenden, ohne ihnen einen
Grundbefig einzurdumen, während ein anderer Theil wie eine Perti:
nenz ber eroberten Güter (glebae adscripti) behandelt wurde, daher
fie auch oft homines pertinentes — (börige Leute) — genannt
werben. Die Erfleren erfcheinen feit dieſer Zeit in den Rechtsquellen
der merovingifchen und Farolingifhen Periode (in den legibus Bar-
barorum und den fraͤnkiſchen Capitularien, fo wie in anderen Urkun-
den) unter dem Namen servi oder mancipia, bie Letzteren dagegen
werden bei den einzelnen beutfchen Völkern mit verfchiedenen Benennun
gen bezeichnet, 3. B. bei den Franken, Schwaben, Stiefen und Sad:
fen mit dem Namen liti ober lidi (d. h. Leute ſchlechthin), bei dem
Sachſen auch lati oder Igzzi, oder, wie der Sachſenſpiegel fie fpäter
nennt, Laſſen, welches Wort er Bch. 3. a. 44. nach einer alten
Tradition von laffen, belaſſen, figen laſſen, ableitet, indem er, mas
beſonders charakteriftifh und ganz mit unferer obigen Anſicht im Ein-
ange ift, die Entflehung biefer Benennung mit der Eroberung Th
ringens durch die Sachen in Verbindung bringt und ben Hergang fol
genbermaßen erzählt: „Und da ihrer (der Sachſen) fo viel nicht waren,
„daß fie den Ader bauen mochten, und ba fie auch die thuͤringiſchen
„Herrn (den Abel) ſchlugen und vertrieben, ließen fie die Bauern fiken
„ungeföhlagen, und befldtigten ihnen den Ader zu folhen Rechten, als
„noch die Laffen haben: und davon fommen die Laffen ber, und von
„ben Laſſen, welche ſich verwirkten an ihren Rechten, find kommen bie
„Tagwerken.“ Hiernach wurde alfo noch im 13. Jahrhundert dus
Vorkommen von Unfreien ohne Grunbbefig als eine Anomalie und als
ein Herabfinten aus ber Claſſe der unfreien Grundbeftiger zur Strafe
(durch Verwirken) betrachtet. Bei den Longoharden, Baiern und Ale
manen, befonders bei den Schmweizer-Alemanen, findet fi zur Be
zeichnung der gutsbefigenden Unfreien ber Ausdrud aldio, weiblich aldia,
unfer heutiges hold, Grundhold, in der Bedeutung von Perfonen, bie
einem Heren Hulde (obsequium) thun muͤſſen. Gehörten die Grund⸗
ftüde, zu welchen bie Unfreien gehörten, dem Fiscus, fo hießen fie
Fiscalini, gehörten fie der Kirche, fo hießen fie homines ecclesiastic,
Unvertennbar war die Stellung der grundbefigenden Unfteien viel vors
theilhafter als die der servi, zu deren Bezeichnung feit dem Beginne
der Kämpfe mit den flavifchen Völkerfhaften — Sclavones — an ber
öftlihen Grenze Deutfchlands der Ausdrud Sklave — offenbar dem
kriegsgefangenen Slaven bezeihnend — gebräuchlich zu werben anfing.
Die eigentlichen servi hatten fein Volksrecht; die Nationalität derfelben,
ob von romnnifcher oder deutfcher Abkunft, wurde Dabei nicht mehr
unterfchieden: ihre Wehrgeld war gering, nur 30 solidi, mo das be}
freien Deutfchen 200 solidos (den solidus zu einem Kleinen Thale
Silberwerth gerechnet) betrug. Der servus durfte nicht bewaffnet geben,
Leibeigenfchaft. 677
wagte er e8, mit einer Lanze zu erfcheinen,, fo wurde fie ihm auf dem
Rüden zerbrochen. In den Gefegen jener Zeit fteht er in aller Be⸗
ziehung den Sachen gleih, und mirb daher meift unter der Rubrik:
de rebus fugitivis, neben entlaufenen Pferden und andern Xhieren
mit erwähnt. Kaum etwas beſſer waren unter diefen setvis jene ge:
ſtellt, welche fih auf Handwerke verfianden, welche von Friegerifchen
Nationen gefhägt werben, wie Eifen=, Kupfers, Gold: und Silber:
ſchmiede (fogenante servi lecti, ministeriales sive expeditionales).
Dagegen aber war die Stellung der grundhörigen Unfreien in aller Be:
ziehung ausgezeichneter, fo daß es als ein großer Kortfchritt, wie eine
halbe Sreilaffung betrachtet wurde, wenn ein gemeiner servus von feinem
Herm der Kirche, oder dem Könige Üüberlaflen wurde (fogenannte ma-
numissio in ecclesia, circa altare ducendo, und fogenannte manu-
missio per impans, h. e. in bannum regis), um als homo eccle-
siasticus oder fiscalinus colonifirt zu werben. Bei bem lidus unb
aldio herrfchte daher immer wenigſtens noch einige Rüdfiht auf feine
Abftammung von urfprünglicdy freien Eltern vor: auch in der Unfrei⸗
heit wurde feine Nationalität (ob Romanus oder Barbarus, d. h. Deut⸗
fcher) genau unterfchieden ; denn außerdem, daß ber lidus deutſcher
Abkunft ein höheres Wehrgeld genoß, war diefe Nationalität von fort-
währender Bedeutung, da diefer Unfreie nicht als volllommen rechtlos ober
als Sache betrachtet wurde, und daher vor Gericht nad feinem Natio:
nalrechte behandelt und geurtheift werben mußte. Diefe liai und aldio-
nes waren, tie die Freien felbft, heerbannpflichtig : denn der Heerbann
war eine auf. den Grundſtuͤcken ruhende Laft, und der lidus und aldio
waren Grunbdbefiger, wenn gleich ihr Beſitz nur cin abgeleiteter fein.
tonnte. Sie waren daher auch fchuldig, an den jährlichen drei großen
Landtaͤdingen, den placitis majoribus, zu erfcheinen; auch waren fie
ſchwurkaͤhig im Volksgericht, ſowohl als Kläger als Beltagte und als
Zeugen: doch hatte ihr Eid gewöhnlich nur die Hälfte der Beweiskraft des
Eides eines Seien, fo wie auch ihre Wehrgeld nicht über die Hälfte des
Wehrgeldes eines Freien betrug, Es war daher, wo durch folhe Aldionen
bewiefen werden wollte, zur Weberweifung eines freigebornen Gegners
die doppelte Anzahl von Eibeshelfern nöthig, als wenn bie Ueberwei⸗
fung mit freien Leuten geführt werden konnte. Die Stellung des
Herrn zu dem aldio wird in den Iongobardifchen Gefegen fehr gut als
ein wahres Mundium Echutrecht, zugleihh mit dem Begriffe von
Schugpflicht) bezeichnet, und daraus erklärt fih auch, warum der
Sutshörige in der Regel ohne Einwilligung feines Heren meder eine _
Ehe eingehen, noch eine Frau aus feiner Familie verkaufen, d. h. an
einen Mann aus einer andern Familie verheirathen durfte, weil fie
hierdurch aus dem Mundium feines Heren getommen wäre. Wurde
der lidus getöbtet, fo fiel ein großer Theil feines Wehrgeldes, welches
der Thäter zur Sühne zu entrichten hatte, an feinen Deren, das Ue⸗
brige an feine Familie. Im Uebrigen war die Stellung des lidus im
Verhältniffe zu der des Sklaven nicht fehr drüdend ; er Eonnte eigenes,
680 Leibeigenſchaft.
zur Bezeichnung bes einen oder des andern ber beiden Begriffe ge
braucht, welche man heut zu Tage mit dem einen ober dem andern
dieſer beiden Worte vorzugsweife zu verbinden pflegt. Das Glit:
gitt von den übrigen, gleichfalls zur Bezeichnung der Unfceiheit gebräus:
lihen Worten: Eigenhörigkeit, Halshörigkeit, Erbunter.
thänigkeit u. dergl. Gewoͤhnlich verſteht man gegenwaͤrtig unte
Leibeigenfhaft jene Verbindlichkeit zu firengen Dienften und Zinſen
welche einem Menſchen gegen einen Herrn, ohne Rüdfiht auf ein
vom Herrn relevicenden Gutsbefig, obliegt, während man den Ausbrud
Hörigkeit, hörige Leute, mehr da zu gebrauchen pflegt, wo ber Unftra
einen vom Herrn abgeleiteten Gutsbefis hat. Der Unterfchied zwifdın
Leibeigenen und Hörigen in dem angegebenen Sinne beſteht alfo nz
darin, daß bei den Exfteren die befonderen Beziehungen, welche zwiſcher
einem Unfreien und bem feihheren in Ruͤckſicht auf ein gemiffes Gr
Statt finden können, der Natur der Sache nad) nicht eintreten oder Pic |
greifen fönnen; im Uebtigen ftchen ſich Leibeigene und Hoͤrige in al
Beziehungen völlig gleich. Auch fir die neuere Zeit wird man beham
ten imüffen, daß die mit einem Gutsbefig in Verbindung ſtehende Höti
keit als das praktiſch vorherefchende Verhältniß, und im Gegenfage dan
die reine Lelbeigenfchaft als ein Ausnahmsverhättniß zu betrachten mer.
Wenn gleichwohl die Zahl der Leibeigenen ohne Gutsbefig ſich nah
umb nach dadurch vermehren mußte, daß das Intereffe des Here dir
Theilung der Bauernhöfe nicht geftattete, und baher nicht immer alt
Kinder auf’ dem efterlichen Hofe eine Unterkunft finden Fonnten, um
dadurch viele gerade fo, wie es in ber oben angeführten‘ Stelle it
Sachſenſpiegels ſeht ſchoͤn angedeutet if, genöthige wurden, Tagwerta
zu werden: fo blieb doch auch für diefe Leibeigenen eine getwiffe Bar
Leibeigenfchaft. 681
einbare Widerſpruch, welchen die Eigenſchaft eines Staatsbuͤrgers und
eines Unfreien darbot, praktiſch empfindlich machen, und auf der Seite
aufgeklaͤrter Regierungen ſelbſt die Idee der Aufhebung der Lelbeigen⸗
haft hervorrufen. Als Staatsbürger mußte daher ber Leibeigene
ſchon in dem Genuffe und im der Ausübung aller jener bürgerlichen
Rechte geſchuͤzt werben, welche mit feiner Unfreiheit nur irgend verein
bar waren: man geftand ihm daher Eigenthumefähigkeit, fo wie auch
actives und paffives teftamentarifches und Inteftaterbrecht zu — abgefehen
von feinen und feiner Familie etwaigen befonderen, durch Herkommen
oder Bewilligungen begründeten Rechten an dem von bem Hexen here
ruͤhrenden Gute; aud) galt der Leibeigene nicht für anruͤchtig, war aber
doch — wegen des Mangels der Freiheit — zunftunfähig. Die Zeu⸗
genfähigkeit wurde dem Unfteien wenigftens in Sachen feiner Standes:
genoffen unter einander gleichfalls nicht abgeſprochen; doch wurde er
in Sachen feines Heren ſtets als ein verbächtiger Zeuge behandelt, und
eben fo fhien es nach dem Geifte des Altern deutſchen Rechtes und
den Anſichten deffelben über ben Begriff und die Wirkungen der Eben:
burt wenigftens bedenklich, feinem Zeugniffe in Sachen freier Leute
eine unbedingte und volle Beweisktaft M geben. Was die Entſtehungs⸗
gründe ber Leibeigenfchaft betrifft, fo war feit der Entftehung eines
praktifhen eutopdifhen Wölkerrechts die Kriegsgefangenfchaft oder Er-
oberung des Landes — jener aͤlteſte und urfpränglicfte Entſtehungs⸗
grund — ganz hinweggefallen: freiwillige Ergebung in die Leibeigen-
ſchaft mochte zwar noch Im der Theorie genannt werben ; e8 möchten ſich
aber in dem legten drei Jahrhunderten, in melden das Streben nad
bürgerlicher Freiheit fid Immer ftärker zu regen begann, ſchwetlich noch
Beifpiele davon nachweiſen Taffen. Der regelmäßige Entftehungsgrund
mar demnach die Abflammung von unfreien Eltern, da die Unfteiheit,
wie jedes andere Standesverhättnig, auf die Nachkommen vererbte.
Dabei war, um das eheliche Kind als unfrei erfcheinen zu laffen, es
binreihend, wenn auch nur der eine Eiterntheil unfrei war, mas man
durch die Rechtsparoͤmie ausbrüdte: „das Kind folgt der drgeren Hand."
Hinfichtlic der außerehelichen Erzeugung galt bie Regel: „partus se-
quitur ventrem‘, d. h. das Kind folgte hier ſtets dem Stande ber
Mutter. Pattieularrechtlich begründete mitunter fogar bie Ehe einer
freien Perfon mit einer Unfreien für erſtere die Leibeigenſchaft. Diefes
erklaͤrt fi daraus, daß in ber aͤlteſten Zeit eine Ehe zwiſchen Freien
und Unfeelen für durchaus unftatthaft gehalten wurde. Der freie Mann,
welcher ſich mit einer unfteien Frau verheirathen mwollte, hatte es freis
lich hierbei in der Regel im feiner Gewalt, dieſes Ehehinderniß zu ums
gehen: denn mar es feine eigene Leibeigene, welche er zu feiner Ehe-
frau erheben wollte, fo durfte er ihr nur eine Morgengabe beftellen, fo
Tag, wie wir aus den longobardiſchen Befegen erfehen, darin felbft eine
ftiufchweigende Sreilaffung, und bie Frau war fomit ipso jure feine ge:
fegmäßige Gattin; wollte er aber eine fremde Leibeigene heicathen, fo
mußte er fie erſt von ihrem Herrn frei kaufen. Strenger war das alte
R ——
: 682 Leibeigenfchaft.
Recht, wenn fi ein unfreier Dann mit einer freien Frau verband:
die Ehre ber freien Familie galt dadurch fo fehr gekraͤnkt, daß man
ihe bei mandyen beutfhen Stämmen, wie 3. B. bei den Longobarden,
erlaubte, den Sklaven und das Mädchen zu tödten, ober, wenn fie le
teres nicht tödten mollten, als Sklavin außerhalb Landes zu verkaufen.
Bei den Franken ftellte man den SHaven und bas Mädchen in einen
Ring (d. h. Kreis, vor Gericht), und ließ die Letztere zwiſchen Schwert
und Kunkel ( Spindel) wählen: mählte fie das erſtere, fo wurde ber
Leibeigene, als der Entführung ſchuldig, ſogleich hingerichtet, wählte
fie die Spindel, fo blieb fie feine Grau, wurde aber zu ihm in bie
Unfreiheit binabgeftoßen. Auffallend milder find hier die Rechtsbuͤcher
aus dem 13. Jahrhundert, namentlidy der Sachfenfpiegel: denn nad
diefem verliert die freie Frau durch Verheirathung mit einem umfreien
Manne ihre Freiheit nicht ganz, fondern tritt nur in ihres Mannes
Recht herunter, fo lange die Ehe dauert, weil der Mann mährend bie
fer Zeit ihe Vogt (Ehevogt) iſt; mit feinem Tode gewinnt fie jedoch
ihe Recht als freie Frau wieder. Daß jedoch mandymal gemeine freie
Leute Sein Bedenken trugen, ſich mit einer unfreien Stau zu verheira:
then und ſich hierdurch felbft in die Hörigkeit zu begeben, erklaͤrt ſich
wohl daraus, daß eine ſolche Heirath nicht felten die Gelegenheit ver
fhaffte, mit dem unfreien Mädchen, unter Zuflimmung des Leibheren,
deren väterlichen Hof zu erheirathen, und darauf geht auch zunaͤchft
der Sinn der Parömie: ,‚trittft du mein Huhn, fo wirft du mein
Hahn.” Außer ben bisher erwähnten Entflehbungsgründen der Leibei⸗
genfhaft gab es endlich particularcechtlidh aud) noch einen andern, naͤm⸗
li die Verjährung; und wo dieſes Verhältnig Statt fand, bezeichnete
man das Land als ein ſolches, wo bie Luft eigen made. Diefer Ber
jährung waren die Vagabunden (fogenannte Wildfänge, MWinbflügel,
oder Bachſtelzen) untertoorfen, welche fi) ohne Auctorifation Jahr und
Tag in dem Zerritorium herumgettieben hatten. Diefe Verjährung
kommt baher auch unter dem Namen Wildfangsredht vor und wurde
insbefondere von dem Pfalzgrafen bei Rhein (der baher auch Rhein
und Wildgraf hieß) fowohl in feinem, als dem Territorium einiger be
nachbarten Fuͤrſten in Anſpruch genommen.
Die Laſten, denen der Leibeigene in den letzten Zeiten vor der Aufloͤſung
des deutſchen Reiches unterworfen zu ſein pflegte, waren 1) Frohndienſte —
buchſtaͤblich Herrendienſte (von fron, frono, der Herr), welche entweder ge⸗
meſſene, d. h. der Qualitaͤt und Quantitaͤt nach beſtimmte, oder ungemeſſene,
d. h. unbeſtimmte, von dem Deren beliebig zu verlangende Dienſte wa-
ren. Manchmal waren dieſe Dienſte ſogar fuͤr den Herrn ohne reellen
Nutzen, wie z. B. das mitunter vorkommende Froͤſcheſtillen, was
darin beſtand, daß die hoͤrige Bauerſchaft jaͤhrlich in der erſten Nacht,
welche die Herrſchaft auf dem Lande zubrachte, ſich vor dem Schloſſe
verſammeln und mit Stecken in den Schloßteich oder Graben ſchlagen
mußte, um bie Froͤſche zum Schweigen zu bringen. 2) Der Dienft:
zwang, d. h. das Recht, zu verlangen, daß die Kinder des Leibeigenen,
Leibeigenfchaft 683
bevor fie fich weiter verdingten, ihre Dienfte (jeboch nicht nothwendig
unentgeltlih) auf bem Herrenhofe anboten. Damit hing 3) das Recht
zufammen, die Standeswahl des Leibeigenen zu befchränken, damit er
nicht dadurch ein Mittel finde, fich der Gewalt des Leibheren zu ent:
ziehen. 4) Zu gleihem Zwecke hatte der Herr das Satz⸗ oder Beſa⸗
hungsrecht (quasi vindicatio hominis proprii), d. h. eine Klage zur
Abforderung und auf Auslieferung eines Leibeigenen, ber ſich ohne Er:
Laubniß feines Heren in eine Stadt Behufs der Niederlaffung oder in
den Erbſchutz eines anderen Deren begeben hatte. 5) Ganz aus glei»
cher Rüdfiht war der Here auch befugt, von dem Leibeigenen einen
Erbeid zu fordern. 6) Abgefehen von den Laften, welche von dem
Bute entrichtet werden mußten, war der Zeibeigene gewöhnlich gehals
ten, einen Leibs oder Kopfzine zu bezahlen. Ferner mußte 7) für die
Erlaubniß zur Heirat meiftend eine Abgabe, maritagium, Bauzins,
Bunzengrofhen, Nagelgeld u. f. w., fo mie 8) fortwährend ber ſchon
früher ertwähnte Sterbfall, mortuarium, Befthaupt, auch Baulebung,
Todtenzoll, todte Hand, Todfall, Beſttheil, Buttheil, Kuͤrrecht, Kürs
mede, Kuͤrpferd genannt, oder eine Ervitella entrichtet werden; und
eben fo blieb 9) das Zuͤchtigungsrecht bes Herrn in praktiſcher Uebung.
Mitunter behauptete 10) der Leibherr auch ein unbedingtes Abäußes
tungsrecht, d. h. das Recht, ben Leibeigenen von dem Gute, welches
er inne hatte und welches unter ſolchen Verhältniffen insbefondere Leibs
flätte genannt wurde (welcher Ausbrud übrigens auch ein Lebenslängs
lich verliehenes Gut bezeichnen Bann), beliebig zu vertreiben und zu ent
fesen. — Das fogenannte Recht der erfien Nacht und das Bauchrecht,
welches lebtere in ber Befugniß des Herrn beftanden haben fol, auf
der Jagd dem Leibeigenen mit dem Jagdmeſſer den Bauch aufzureißen,
um feine Hände darin zu wärmen, gehören, wo nicht zu fabelhaften
Uebertreibungen, doch nur zu ben ſchaͤndlichſten Mißbräuchen, welche we:
nigftens in Deutfchland nie auf ben Namen eines Rechtes Anſpruch hatten.
Die urſpruͤngliche Beendigungsart der Leibeigenfchaft war bie
Sreilaffung, welche ſchon in den Älteften Zeiten unter verfchiebenen For⸗
men Statt fand. Die feierlichfte, Acht germanifhe Art war die Wehr:
haftmachung in der Volksgemeinde (garathing, woͤrtlich Waffengericht,
auch manumissio per sagittam); doc; genügte auch bie einfache Er⸗
klaͤrung des Herrn, und ſelbſt Urkunden waren nur bes Beweiſes wegen
dabei gebraͤuchlich. Für die Freilaſſung mußte mitunter ein befonderes
Laßgeld, Iytrum, litimonium, ‚bezahlt werben, welches urfprünglic)
wahrfcheinlic, dem Wehrgelde bes Unfreien gleich fland, fpdter aber oft,
wie 3. 3. bei der meiter oben erwähnten manumissio per impans, in
ein Scheinpretium übergegangen war, indem ber Unfreie dem Herrn
einen Denar anbieten mußte, welchen bdiefer ihm veraͤchtlich aus der
Hand ſchlug (jactus denarii). Daß außer ber freiwilligen Manumifs
fion fhon in dem 13. Jahrhundert eine gezwungene Sreilaffung vor⸗
kam, d. h. durch das Gericht erfannt wurde, wenn ber Herr den Uns
freien graufam behandelte, oder fich feiner in bedrängten Verhältnifien
684 Leibrenten. Leichenhaͤuſer.
nicht annahm, iſt bereits erwaͤhnt worden. In der ſpaͤteren Zeit er⸗
kannte man den Herrn auch dann für verpflichtet zur Freilafſung, wenn
der Leibeigene eine Gelegenheit fand, fein Unterfommen als freier Dann
zu finden, und fein Herr keinen gerechten Grund der Weigerung vorbrin⸗
gen konnte. Undankbarkeit, felbft wenn fie fih auch nur duch ein
rohes, beleidigendes Betragen bes Freigelaffenen gegen feinen Herrn dus
ßerte, gab aber Letzterem (nach dem Schwabenfpiegel c. 58) das Recht,
ben Sreigelaffenen wieder in bie Unfreiheit zurüdzuziehen. Eine andere
Art der Beendigung der Gewalt des Leibherrn lag in der Verjaͤhrung.
Schon in den Äfteften Zeiten findet man, daß der Aufenthalt in eine
Stadt, wenn er ununterbrochen Jahr und Tag gedauert. und Leine
Reclamation von Seiten des Deren während biefer Zeit Statt gefunden
hatte, die Sreiheit gab. In der fpdtern Zeit erfannte man überhaupt,
mit Hereinziehung roͤmiſch-rechtlicher Begriffe, eine erwerbende Verjaͤh⸗
rung der Steiheit an. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun⸗
derts begann endlich die Humanität ben Sieg zu erringen. Die Ge
feggebungen ber einzelnen beutichen Staaten fingen nad) und nach an,
das Bebürfnig einer Reformation der bäuerlichen Verhältniffe von Grund
aus einzufehen und Hand an das Werk zu legen, um ein Verhaͤltniß
auszutilgen, welches man fich bereits ſchaͤmte, unter den Rechtsinſtitu⸗
ten aufzuführen. Unter ben Kürften, welche zuerft mit ber Aufhebung
der Leibeigenſchaft vorangingen und ben übrigen Regierungen dadurch
ein eben fo ruhmmürdiges, ale unaufhaltfam zur Nachfolge zwingendes
Beifpiel gaben, ftehen die gefeierten Namen Friedrich II. von Pre
Ben, Kaiſer Joſeph I. und Kart Friedrich von Baden obenan.
3
Leibrenten f. VBerforgungsanftalten. |
Leichenhäufer, Leihenfhau. — Der Körper eines Dahin-
gefchiedenen ift für die Staatsgefellfhaft in doppelter Beziehung ein
wichtiger Gegenſtand, theild weil diefe noch Verpflichtungen für bie
aus ihrer Mitte tretenden Mitglieder hat, und zum Xheil, weil bie Lei:
hen Urfache und Merkmal des Verberbens für die Lebenden fein koͤn⸗
nen. Es ſtellt daher der Staat der Medicinalpolizei die zweifache Auf
gabe: für jeden, dem Anſcheine nad) tobten Körper, in welchem noch
irgend ein Lebensfunke fein kann, die Maßregeln zu ergreifen, damit
diefer Hürflofefte unter allen Menfhen vor Verlegung geſchuͤtzt werde,
und anderfeits bie Vorkehrungen zu treffen, die das Wohl ber Le
benden erfordert. Die legte Bitte, die ber ohne fürforgende Theilnahme
aus der Gefellfichaft der Lebenden fcheibende Menſch an die Medicinal⸗
polizei ſtellt, ift die, zu verhüten, daß er nicht lebendig begraben werde,
und der im Vereine ber Lebenden Bleibende verlangt von ihr, daß fie
ihm vor den Krankheitsurfachen, die von den todten Körpern ausftrömen
(Faͤulniß und Anftedungsftoff), fhüge, fo wie er auch wünfchen muß,
daß in den Leichen ſtets derjenige Grund des Todes aufgefunden werde,
der vielleicht noch fortwirkend die uͤbrig Gebliebenen bedroht, wie z. B.
der Mord und die anfledende Krankheit, die man im Berborgenen zu
Leichenhäufer. 685
balten gefucht hatte. Zur Erreichung dieſer Zwecke bienen vorzüglich
zwei Mittel: die Leichenſchau und das Leichenhaus.
Die Leihenfhau iſt zur Erfülung der zuerft bezeichneten Auf:
gabe der Medicinalpolizei eine unerläßliche Maßregel, denn immer, wenn
auch die Läiche in einem Zodtenhaufe lag, kommt es auf bie Beurthei⸗
lung an, ob ber Tod wirklich eingetreten fei oder nicht, wenn ein Koͤr⸗
per zur Erde beftattet werden fol. Es ift dieſe Beurtheilung keinen
Schwierigkeiten unterworfen, denn es gibt nur ein ficheres Zeichen der
entſchwundenen Lebenskräfte: die Faͤulniß; mas daraus hervorgeht, daß
es unzmeifelhafte Zuftände gibt, in welchen die Lebenskraͤfte zwar vor:
banden find, aber kein einziger Lebensproceß, felbft nicht in dem un:
merktichften Grade, wirklich vor ſich gebt, und alfo weder Zeichen ber
Mustelreizbarkeit, noch der Entwidelung thierifcher Wärme im Innern
des Körpers, noch irgend andere Erſcheinungen vorhanden find, welche
man als Erkennungsmerkmale des Lebens aufftelen könnte (wie biefes
3.3. bei dem befruchteten, aber nicht bebräteten Hühnerei der Fall ift,
in welchem die Kebensträfte zwar vorhanden find, aber volllommen ru:
ben, bis fie durch die auf fie angebrachte Wärme ihre Wirkfamkeit zu
äußern in den Stand gefegt werden). Demnach, und da die Faͤulniß
fich Leicht durch die Mißfärbung und den faulen Geruch erkennen Läßt,
“ find nicht fowohl Kennmiffe als Sewiffenhaftigkeit die Haupteigenfchaft
bes Leichenfchauers, und man ziehe daher bei der Wahl eines ſolchen ei:
nen zuverläffigen und von ber Einwohnerfhaft möglihft unab⸗
hängigen Mann, wenn er aud nicht Arzt oder Chirurg fein follte,
einem Mitbewerber aus dem Ärztlihen Stande vor, wenn etwa
diefem bie erwähnten Eigenſchaften abgehen follten. — Biel würbe
die Leihenfchau an Zuverläffigkeit gewinnen, wenn außer dem be:
zahlten Leichenfchauer ein achtbarer Mann den Leihenfchaufchein (in
weichen bie unzmweifelhaften Zeichen der Verweſung aufgenommen fein
müßten), nach vorheriger Befichtigung des Todten, als Zeuge unter
fohreiben müßte. Dem Pfarrer des Orts koͤnnte zur Pflicht gemacht
‚werden, nicht eher die Beerdigung vorzunehmen, als r fi durch
Ruͤckſprache mit jenem Zeugen von ber gewiſſenhaft vorgenommenen
Leichenſchau überzeugt bätte- — Durch den Leichenſchauer wird die Zeit
beftimmt, in welcher ein tobter Körper zur Erde beftattet werden darf.
Um übrigens außer dem Urtheile bes Reichenfchauer® noch eine weitere
Verfiherung zu haben, daß nicht vor dem wirklichen Eintritt des To⸗
bes beerdigt werde, ift zugleich in ben meiften Staaten eine Zeit feſt⸗
gefeßt, vor welcher die Beftattung der Leiche nicht erlaubt werden foll,
und eine Ausnahme wird nur in dringenden Fallen, bei fchnell eintre:
tender Faͤulniß und bei vorhandenen peftartigen Anitedungsftoffen,, auf
ausdrüdliches Verlangen der Aerzte, geftattet. Die gebildeteren Natio-
nen der Vorzeit waren bierin fehr vorfichtig, mehr ale wir es jetzt find;
indem 3. B. Lykurg die Zodtenbellagung, vor deren Beendigung Nie:
mand begraben werben durfte, auf eilf Tage feftfegte, und in ben Ges
fegen der zwoͤlf Zafeln die Beerdigung vor dem neunten Tage verboten
686 Leihenhäufer.
war. Es bringt aber eine zu lange Verzögerung dee Hinweofchaffung
der Leichen den Lebenden leicht Gefahr, und wenn wir berüdfichtigen,
daß nur in feltenen Ausnahmen nad, 48 Stunden noch keine Spuren
von Fäulni zu erfennen find, und daß bei einer gut ausgeführten Lel⸗
henfhau ohnehin die Beerdigung vor dem Eintritt der Faͤulniß nicht
Statt finden kann, fo möchte eine Verlängerung des von dem Staate zu
beftimmenden Zeltmaßes über zwei Tage hinaus doch kaum als gerecht⸗
fertigt erfcheinen.
Außer dem fo eben bezeichneten Zwecke ſucht der Staat durch bie
Leichenſchau noch mehrere Abfichten zu erreichen: ee fucht zu verhindern,
daß die Leiche nicht dircch zu lange Aufbewahrung nachtheilig für bie
Lebenden werde; er benutzt fie zur Entdedung von verheimlichten Krank
beiten, von gemwaltfamer Toͤdtung und von mebichnifchen Pfufcherelen
und zur näheren Ergruͤndung epibemifcher und endemifcher Krankheiten.
Um biefe Zwecke ſaͤmmtlich zu erkeichen, namentlich aber um durch bie
Leihenfhau zu einer genaueren Kenntniß ber Volkskrankheiten und ih
rer Urſachen zu gelangen, müßte nun freilich diefelbe in die Hand von
gebildeten Aerzten gelegt' werben. Es iſt aber dieſes umausführbar, und
da jenen Zweden zum Theil durch andere Mittel entfprochen werden
kann, mie namentlich die Kennmiß ber epibemifchen und endemiſchen
Krankheiten durch die artiftifchen Jahresberichte der Aerzte erlangt wird,
und bie übrigen theils untergeordneten Werthes find, theils durch dies
felden Mittel, wie die Verhütung ber Beerdigung von nur fcheinbar
todten Menfchen, erreicht werben können, fo moͤchte eine in der Weife
organifirte Leichenſchau, wie oben angedeutet wurbe, genügend fein und
buch biefelbe die bezeichneten Verpflichtungen des Staates erfüllt
werden.
Das Leihenhaus ift gleichermaßen ein wichtiges Unterftügungss
mittel füc die unbedingte Erreihung des Hauptzweckes ber Leichenfchan,
als es für die Gefunden ber fiherfte Schirm gegen bie von den Reichen
ausfließenden Schädlichkeiten iſt. Nur allzu oft macht bie Perfönlichkeit
ber mit dem Geichäfte beauftragten Perfonen die möglichft vollkommen
eingerichtete Leichenſchau unzuverläffig, und gar leicht wird dem Drän-
gen ber Verwandten auf fchnelle Beerdigung nachgegeben; anderſeitt
iſt es aber bei gewiſſen Verhältniffen auch Pflicht für die Lebenden, den
Zodten fo fchnell wie möglich zu entfernen. In biefen Fällen dient
die Lelhenhalle als Zufluchtsftätte für den aus dem Kreife ber Lebens
den ausgefloßenen Menſchen, indem er hier ungefhört ruhen kann, biß
die Natur über fein Schickſal durch unzweideutige Zeichen ſich ausge
fprochen hat; dem Lebenden dient aber das Leichenhaus, um fich vor
den an den Leihen haftenden Anftedungsftoffen und andern krankhaf⸗
ten Materien, fo wie vor den Dünften der Faͤulniß zu ſchuͤtzen, die oft
lange vor der gewöhnlichen Beerdigungszeit ſchon in hohem Grade fid
einftellt. — Diefe einleuchtenden Vortheile haben nunmehr den Werth
ber Leichenhäufer zur allgemeinen Anerkennung gebradht, wenn auch
gleich ihre Errichtung noch verhältnigmäßig wenig zur Ausführung ges
‘
Leichenhäufer. 687
kommen iſt. Schon I. P. Frank ſchlug die Errichtung von Todten⸗
haͤuſern in allen Staͤdten und Doͤrfern und in jedem Quartier der groͤ⸗
ßeren Städte vor; auf Hufeland's Anregung wurde 1792 eine voll⸗
ftändige Leichenhalle zu Welmar erbaut, und nach und nach wurden bis
jest, fo viel es bekannt wurde, in Deutfchland zu Berlin, Mainz,
Breslau, München, Frankfurt a. M., Rudolſtadt, Schleitz, Paderborn,
Dresden, Bamberg, Würzburg, Augsburg, Hamburg, Leipzig, Gotha,
Eiſenach, Wefel, Nauen, Ulm, Biberach, Heilbronn, Karlsruhe, Fulda
und Stuttgart mehr ober weniger vollftändige Einrichtungen der Art
gegründet. Diefe Leichenhäufer beftehen in einigen größeren und Feines
ren Hallen für die Leichen, einem Zimmer für ben Wärter und einer
Küche, und find mit Betten und allen Vorrichtungen verfehen, die in
dee Hülfeleiftung bei einem vorhandenen Scheintode nothwendig werben
koͤnnen. Die Leichen find mit leicht beweglichen Glockenzuͤgen oder einem
Wedapparate in Verbindung gefebt, fo baß das leichtefte Zuden von
einem Singer oder einer Zehe ſchon bie Gehörnerven des Waͤrters bes
rührt und durch numerirte Perpenbikel, deren Zahlen mit denen ber
Geſtelle für die Särge übereinflimmen, wird zugleich, wenn ſich einer
berfelben bewegt,, nachgewiefen, in welcher der vorhandenen Leichen eine
Megung bes Lebens Statt gefunden babe. — Diefe Einrichtungen find
hoͤchſt loͤblich, doch find fie für die Hauptzwecke ber Leihenhäufer (Si⸗
cherung vor dem Lebendigbegrabenwerden und Verhütung dee ſchaͤdlichen
Einflüffe der todten Körper auf bie Gefunden) in ber That entbehrlich,
‚und e6 liegt anberfeits keineswegs in der Verpflichtung bes Staa⸗
tes und ber Ortsgemeinden, jebem letzten Zuden bes Lebens nachzu⸗
fpüren, und bie ohnehin meiflens ſchon verfchwendete drztliche Kunſt
noch einmal in Thätigkeit zu feßen. Auch find bis jetzt Leine Beiſpiele
bekannt gemacht worden, daß durch diefe Einrichtung wirklich ein Men⸗
fhenleben gerettet worden iſt. — Da nun in dem gegebenen Falle,
wie bie Erfahrung lehrt, der beftänbige Hinblid auf das. entferntere
und nicht erreichbare Beſſere das Hinderniß für die Erreichung des nahe
liegenden Guten geworden ift (wie anderfeit® oft da6 Gute uns
abhaͤlt, nach dem Beſſeren zu ſtreben), fo wollen wir, den großen und
reihen Städten die Errichtung fchön gebauter Leichenhallen mit ihren
mannigfaltign Apparaten überlafiend, darauf bedacht fein, für jebes
Gtädtchen und jedes Dorf nur eine geräumige Kammer für die Leichen
zu acquiriven, wie ja auch ſchon eine Öfterreichifche Verordnung vom Jahre
1771 die Errichtung einer Todtenkammer bei jeder Kirche befohlen hat.
— Diefe Kammer (nebft einer Kammer für den Wärter) koͤnnte ent:
weder in einem auf dem Gottesader zu erbauenden und nur aus bes
gelmänden beftehenden Häuschen oder in irgend einem etwas von den
übrigen Häufern entfernt liegenden Locale in der Stadt oder dem Dorfe
feibft eingerichtet werden. Ein fländiger Wärter iſt wenigſtens in ben
Heineren Gemeinden nicht nothwendig, ſondern es genügt, den Anver:
wandten die Bewachung ber Leiche zu überlaffen, und wenn biefe in
dem Sterbehaufe ſchon einige Zeit lag, ift es felbft Hinreichend, nur ef:
688 Leihcontract.
nige Male des Tages und in der Nacht nach derſelben ſehen zu laſſen.
Heizung des Locales ift nur in ganz firengen Wintertagen nothwenbig;
fonft genügt es, die Leiche mit einer warmen Dede zu verfehen. —
Die Beerdigung tritt endlich ein, wenn bie Leihenfhau das Workans
denfein der Faͤulniß anerkannt hat. B.r
‚Leihbceontract (Eommodat). — Im täglichen Verkehr fpeicht
man zuweilen die Gefälligkeit eines Sreundes, eines Bekannten, Rade
barn u. f. w. durch die Bitte um UWeberlaffung (Leihen) eines Beſi⸗
thums deffelben zur vorübergehenden Benusung beflimmter Art am.
Wird diefem Anfprechen willfahrt, fo entfteht dadurch ein 6
Vertragsverhältnig, wird dadurch ein Leihbcontract (Commodat) ab
geſchloſſen, melcher in der Hingabe eines beftimmten Segenftandes zum
unentgeltlihen, aber beftimmten Gebraudye mit dem Beding der Zuräd:
gabe deffelben individuellen Object an ben Leihenden (Commodanten)
zu Stande fommt!). Dadurch, daB der Gebrauch ohne Rüdficht auf
einen dieſer Einrdumung entfprechenden Wortheil des Leihenden gewaͤhrt
wird?) , unterfcheidet ſich biefe Uebereinkunft Wn dem Mieth⸗ ober
Pachtcontract (f. „Miethe” und „Pacht“), woburd ſich ber Empfaͤn
ger zu Gegenleiftungen zum finanziellen Vortheil des Gebenden ver
bindlich macht. Dadurch, daß der Empfänger (Entichner, Commoda⸗
tor) fich verbindlich madıt, gerabe das, was ihm gegeben wurde, in
Natur zurüczugeben, erfcheint bie Uebereinkunft als Gegenfag bes Dar:
lehns (Mutuum), weil defim Gegenftand in einem Object, Gelb,
Frucht u. ſ. w., beiteht, das nur in Art und Güte dem durch das
Darlehn Empfangenen gleichſteht. — Der Commobator iſt verpflichtet,
das ihm Geliehene (welches Mobiliar oder Immobiliar fein Tann) ins
nechalb ber Grenzen bes Zwecks deffelben und der Abficht, im welcher
es erbeten und hingegeben wurde, zu benugen, und nad) gemadtem
Gebrauche dem Commodanten (oder bdeffen Erben) wiederzuzuſtellen,
denfelben auch, wenn das Entliehene durch feine, auch nur entfernte
Schuld Schaden erlitten bat oder zu Grunde gegangen ift, zu ent
Thädigen. (Dat der Zufall den Schaden ober Untergang herbeigeführt,
fo faͤllt dieſe Verbindlichkeit weg, weil es Rechtsgrundſatz iſt, daß der
Eigenthümer den Zufall tragen muß.) Dagegen iſt ber Commobatot
1) Politz, die Staatswiffenfchaften im Lichte unferer Belt. Thl. 1.
Leipz. 1823. 8. 35: „Der Leihdarlehnss und Pfandvertrag.” &. 99-101.
Mühlenbrud, Lehrbuch des Pandektenrechts. Zweite Auflage. Thl. 2.
Halle, 1338, &. 348. 349. Allgemeine Rechtslehre nach Kant. Zu Worlefuns
gen von Römer. Landshut, 1801. ©. 47.
2) Ein befonderes Beifpiel von Gewährung eines ſolchen KBortheits
durch das Leihen eines Gegenflandes dffentiihen Eigenthums ift das Hin-
geben von Büchern einer öffentlihen Bibliothel. Weber, Handbuch der
Staatswirthihaft. Band 1. Abthl. 2. Berlin, 1805, ©. 572. Derfelbe,
Lehrbuch der politifchen Dekonomie, Band 2. Breslau, 1813. ©. 226. |
Leihcontract. 6so
befugt, Erſat der zum Beſten des Entliehenen nothwendigen Ausla⸗
gen und, wenn der Commodant argliſtig und ſchuldvoll handelte, z. B.
wenn er dem Commodator die gefährlichen oder —B Eigenſchaf⸗
ten des Geliehenen verfchwieg?), von demſelben Erſatz des dadurch
erlittenen Schadens zu verlangen, und das Entllehene fo lange zu⸗
ruͤckzuhalten, bis ihm Auslage und Schaden erſetzt iſt.
Die deutſchen Rechtsbuͤcher weichen von’ dieſen Grundſaͤtzen bes
gemeinen (tömifchen) Rechts im Ganzen nicht ab. Eine Eigenthuͤm⸗
lichkeit des Sachfenfpiegels ift die Beſtimmung, daß der Commo⸗
dator auch den durch Zufall entflandmen Schaden tragen muß. Die
Statutenrechte haben aus der Quelle bes bereitd zu Anſehen gelommes
nen oder bereits eingedrungenen römifchen Rechts gefchöpft und fich
bemfelben faſt ohne alle Modiſtcatien angeſchloſſen “. — Solmfiſches
Landrecht Th. 1. Tit. 3: „Vom Leyhen anderer beweglichen ding
und haab, ſo auch vergeblich (unentgeltlich) geſchieht“*). — Naſſau⸗
Gagenelnbogifche Landordnung, Cap. 10: „Vom Leihen derer Dinge,
welche einem zu einem gewiffen Gebrauch und ohne Entgelt geliehen
worden”). — Landrecht der Rheinpfalz Th. 1. Tit. 3: „Won ber
andern Art des Leihens, Commodatum genannt”?). — Stadtrecht
von Wimpfen Th. 3. Tit. 11: „Von bem Leyhen und Entiehnen eis
ner Sache zum eäglichen Gebrauch“8). —' Badiſches Landrecht v. 3.
1622 Th. 4. Tit. 4: „Vom Leyhen, ſo vergebens geſchieht, zu ge⸗
wiſſem nothwendigem gebrauch ꝛc.“ Wuͤrtembergiſches Landrecht Th. 2.
Tit. 2 9). Von den Civilgefegbüchern der Neuzeit gilt das Gleiche.
Preußiſches Landrecht Th. 1. Tit. 21: „Von dem Rechte zum Ge⸗
brauch oder Nutzung fremden Eigenthums.“ Abſchnitt 3: „Von dem
eingeſchraͤnkten Gebrauchs⸗ und Nutzungsrechte fremder Sachen“ (S. 217
—650) $. 229—257, mo, nach der Natur dieſer Geſetzgebung, uns
ter Erſchoͤpfung der Gafuiftit vom „Leihvertrag“ gehandelt wird 19).
Deſterreichiſches Civilgeſetbuch $. 1 -982: „Von dem Leihvertrage“ 11),
8) Beifpielsweile fagt bas pfälzifche Landrecht: „So einer einem andern
ſchadhafte Gefäße oder Geſchirre als unſchadhaft und nüglich mit gutem Wiſ⸗
fen liebe, dadurch dem Entlehner fein Wein ober anberes verbürbe, ift ber
Leiher en Schaden ihm gut zu thun ſchuldi
unde, @runbfäne I bes gemeinen —R8 Privatrechts. 6. Ausg.
anne, nd: "Re dmer, Bandbud des rheiniſhen 9 6
on ber — mer, anbbu es rheinifchen Particularrechts.
Band 1. Frankf., 1831. ©. 4—
Bon der Kabmer a. . "©. S. 167-169.
Bonder Nahmer a. a. O. ©. 412—415.
8) Bon der Nahmer a a D. ©. 1130. 1131.
9) meiehaaz, Sanbbuch des würtembergifchen Privatredt. Dritte
"Ausgabe. Thl. 3. Stuttg., 1833. $. 1044—1047, & 4749, Nah Thos
mas, Syſtem der fulbaifchen Privatrecdhte. Th ei 8. Fulda, 1790, $. 500:
„Kom Leihvertrage“ ſchweigt diefes —ãe— en in biefem Bertra e.
10) Allgemeines Landrecht fuͤr die pigen ta Etacten. Reue Ausgabe.
er lei * et frreidifhen 9 Priatrechts. Thl. 2
eidlein, Handbuch des oͤſterr en rivatre
Bin, 1814. ©. 41 oe d
Staats⸗ Lexikon. IX 44
690 xeihcontract. — Beipgig (Schlacht bei).
— Code Napoleon, Bud 3. Tit. 10. Cap. 1: „Du pret & usage,
ou Commodat. Art. 1875—1891, ein Geſetzbuch, welches am Meiſten
vom roͤmiſchen Recht abweicht, indem es 3. B. dem Entlehner bas
Metentionsrecht nicht einräumt und ihn nad Umfländen, 3. B. wenn
das Entliehene bei ber Verleihung gefchäst wurde, den Verluſt, der
durch Zufall herbeigeführt wurde, tragen laͤßt. 12) ‘ Bopp.
Leihbankund Leihhaus, f. Creditanſtalten.
Leipzig (Schlacht bei). — Dreimal wird Leipzig In ben I
nalen ber beutfchen Kriegsgefchichte genannt. Das erſte Deal unterm
7. September 1631; Tilly verlor da Schlacht und Ruhm as
ben großen Schwedenkoͤnig Buftav Adolph. Eilf Sabre fpäter, am
2. November 1642, fchlug bei Leipzig Torſtenſon die Laiferlichsfächft:
fhen Truppen unter dem — Leopold Wilhelm und Piccolo⸗
mini. Die dritte Schlacht bei Leipzig (und zwar diejenige, von welcher
ausführlicher hier geredet werden ſoll) iſt die große gewaltige Voͤlker⸗
Tracht vom 16. bis 19. October 1813. Nicht bios den Verhaͤltniſſen
Deutfhlands, wie bie erfte der genannten Schlachten (die zweite
war ohnedie® unbedeutend), brachte fie eine neue Geſtaltung, fondern
zugleich den VBerhälniffen Europas und der Welt. Ausdehnung,
Maffe der Streitkräfte und Dauer des Kampfes waren eben fo ausge
zeichnet dabei, al6 Ruhm ber Führer, Glanz der Kronen, Senke, Be
geifterung, Muth und Unglüd. Die Flammenzeihen find verdfcht,
welche noch einige Jahre nad) der Schlacht ihr Begebniß und ihren
Werth dem deutſchen Volke in feurigen Zügen befchrieben; man hat
ben Mantel ber Vergeſſenheit über jene Tage zu werfen gefudt, und
mißmuthig frage fi der Patrlot: Ob denn bie Folgen alle eingefreten
feien, welche er an bie Leipziger Schlacht zu knuͤpfen berechtigt war?
Aber trotz dem bleibt bie meltgefchichtliche, die deutſch⸗ vatertlaͤndiſche
Bedeutung ber gewaltigen Schlacht. Nichts Schmachvolleres für ein
Volt, als Auswärtigen gehorchen zu müjlen; nichts Bedenklicheres für
ein Volk, als die Gefährdung feiner Nationalität. Deshalb: denn auch
die ungeheure Bogenfpannung, bie ed, wenn gleih nur allmdlig aufs
gefchraubt, alsdann entwidelt. Schlachten, wie die im Xeutoburger
Walde und die bei Leipzig, flehen iſolirt In der MWeltgefchichte, gleich
ihren Anläffen. Erſt nad) ber Leipziger Schlacht war kein Zweifel
mehr über die gebrochene Macht Napoleon's und die Freiwerdung
Deutfchlands nach Außen. Erſt nach ber Leipziger Schlacht rollte bad
Band aufgelöft und zerftücelt nad dem Rheine bin, das Band, wel⸗
ches, mit Verachtung ber Völker: und Menfcheninbivibualitäten, fid
um ben größten Zheil von Europa gefchlungen hatte. Erſt nach dr
Leipziger Schlacht hatte bie Freiheit in ganz Europa wieder Ausfichten
auf Erfolge. Wie der Fall Robespierre's und feines Schweifes die Re
volution beendigt hatte, fo bie Leipziger Schlacht den militärifchen Zen
torismus des modernen Frankreichs, die abfolute Appellation an's Ka
12) Vergl. Discussions du Code civil dans le opmseil d'état, par Jonan-
heau et Solon. Par., 1805, Tom. II. pag. 607-611. PR
Leipzig (Schlacht bei). | 691
nonenmetalf unter trögerifchen und heuchlerifchen Floskeln. Dort war
der 18. BDrumaire die Nachleſe dazu, und hier der Parifer Frieden.
Auch weiß das Volk nody von der Leipziger Schlacht. Die Lieber ſin⸗
gen noch von ihre. Und wenn gleich weniger mehr in Ruͤckert's und
Arndts jubelnder, als in Uhland’s kraͤftig klagender Welle: „Wenn
heut’ ein Geiſt herniederſtiege“, ift ber Finger, welchen der Bott der
Dichtkunſt, angeregt durch daB große, aber in feinen Folgen theilwelfe
verfümmerte Ereigniß ber Leipziger Schlacht, nun ſchon Tänger als
20 Sabre in die Wunden der Gegenwart Iegt- Dabei aber bieibt bie
Eigenfchaft diefes Fingers, als Deuters der Zukunft, als Verkuͤndigers
feoherer und freierer Ereignifie, wenn die Menſchen nur wollen, unb
als Verheißers keimenden Wollens biefee Art unverkennbar.
Die Yürften des Rheinbundes an ſich zu feffeln, war Napo⸗
leon in feiner Stelung bei Dresden geblieben. Als General hatte er
Darauf gerechnet, die eine oder die andere der drei Armeen, melden er
die Stirne bieten mußte, zu erbrüden, um hinterher mit den beiden
übrigen defto Leichtere® Spiel zu haben. Aber feine Rechnung mißlang
ihm. Denn jeder feiner Hauptgegner fuchte zunaͤchſt das franzoͤfiſche
Heer durch, haͤufige beſchwerliche Märfche und einzelne Gefechte zu er-
müben und zu ſchwaͤchen; eine entfheidende Schlacht fchien ihnen aber
nur dann annehmbar, wenn überwiegende Streitkräfte und ftrategifche
Gombinationen einen günfligen Erfolg mit Zuverſicht ertwarten ließen.
Noch ſchwebte der Zauber des Siegs um Napoleon’ Stine, während
des Kaifers beſte und erfahrenfte Heerfuͤhrer nach und nach anfehnliche
Niederlagen erlitten hatten. Man mieb ben Kaifer und untergrub doch
feine Macht; nicht blos auf Schlachtfeldern, fondern auch durch diplo⸗
matifhe Negociationen bei feinen bisherigen Alllirten, durch bie fleie
gende Unzufriebenheit des Landes, das er mit feinen Heeresmaffen aus⸗
fog, und durch bie Geſchwader, die, von Mord und Shd und Oſt,
ihn in Immer engeren concentrifchen Bewegungen nad und nad ums
cirkten. Insbeſondere gehörte dahin die alliirte Hauptmacht unterm
Befehle des Feldmarſchalls Fuͤrſten Schwarzenberg und 120,000 M.
ſtark. Gie brach in den erflen Tagen bes Dectobers 1813 aus dem
Lager bei Teplitz auf und rüdte in drei Colonnen in Sacfen ein.
Saͤmmtliche Armeecorps der Alliierten waren gegen den 12. October bei
Borna und Pegau verfammelt.
Dem General Bluͤcher, welcher die fhlefifche Armee führte, hatten
die alliirten Monarchen überlaffen, nach Umfländen zu handeln. Sr
hatte am 3. Detober bei MWartenburg die Elbe pafflet, um fich mit der
Nordarmee unter bem Kronprinzen von Schweden zu vereinigen, welche
lehtere ihrerfeitd am 4. October bei Roslau und Aken über die Elbe ging.
In allen feinen Daupteommunicationen bedroht und in Gefahr, bald
gänzlich eingefchloffen zu werden, fah ſich endlich Napoleon genäthigt,
am 6. Detober Dresden zu verlaffen und in zwei Golonnen auf beiden
Ufern der Eibe über Meißen nach Wurzen zurädzugehen. Der König
von Sachſen, in treuer, wahrhaft vÄterlicher Anpängnatek, folgte ihm.
693 Leipzig (Schlacht bei).
In Dresden ſelbſt blieb der Marſchall Goubion &t. Eye mit S0,000 M.
zur Vertheidigung ber Stabt und der Päfle nach dem Erzgebirge zuräd.
‚Napoleon hatte gehofft, durch eine fhnelle Bewegung gegen bie
ſchwediſche und ſchleſiſche Armee biefe wieder auf das rechte Elbufer zu
werfen. Allein ſowohl der Kronprinz als Bluͤcher wichen durch eine
Seitenbewegung und Aufſtellung hinter der Saale fuͤr jetzt einer
Schlacht aus. Noch etwas Anderes beabſichtigte Napoleon, wenn wir
feinen Worten glauben dürfen. Er mollte durch Wittenberg fein Heer
über die Eibe führen, auf ihrem rechten Ufer von Hamburg bis Denk
den manoeuvriren und Magdeburg dabei zum Mittelpuncte feiner Ope
rationen nehmen. Die Schlacht bei Leipzig waͤre dadurch vermieden
worden, und ber ganze Krieg hätte — geographifc, wenigſtens — einen
anderen Gang genommen. Aber Napoleon kam von dieſem Gedanken
ab — fo verfiherte ee — durch die auf feinem Marfhe in Düben
erhaltene Nachricht von dem Uebertritte Baierns zu ben Alliirten. Des
duch war nun diefen bie Straße nach Mainz geöffnet, und Napoleon
durfte nichts thun, wodurch fie hiervon Gebrauch machen konnten
Mapoleon wurde oft und bitter getabelt wegen des von ihm fo ungün
flig, vor Fluͤſſen und zwifhen feindlihen Deerfchaaren gewählten
Schlachtfeldes bei Leipzig. Ein Theil biefes Tadels würde wegfallen,
wenn die Wahl keine freie war. Und überhaupt hatte Napoleon jeht
mehr und mehr mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche ſelbſt das
Genie niht umfaffend genug zu befiegen vermochte, um am Ende
der großen Rechnung im Vortheile fich zu befinden.
Bier Tage vermweilte Napoleon in Düben, wie behauptet mich,
auf für ihn und fein Heer nachtheilige Weife, oft geſchaͤftlos und in
tiefe Gedanken verloren. Dann aber wendete er ſich gegen Leipzig,
wo er am 14. October fein Hauptquartier im Dorfe Reubnig nahm.
Am nämlihen Tage ließ Graf Wittgenftein durch die Generale Grof
Pahlen, v. Kleift und v. Klenau eine ſtarke Recognoscirung unter
nehmen, wobei die alliirten Truppen auf den Höhen von Wachau und
Liebertwolkwitz mit ben Meitergefhwadern bes Königs von Neapel hart
zufammenftießen. Beide Orte wurden gegenfeitig mehrere Male genommen
und wieber verloren; bee König von Meapel beinahe gefangen. Das Ge
fecht, für beide Theile ehrenvoll, endete Abends 5 Uhr mit einer Ka
nonade. Feldmarſchall Fuͤrſt Schwarzenberg, über die Stellung dei
Feindes duch jene Recognoscirung jest hinlänglich unterrichtet, ent
warf die Dispofition zu einem allgemeinen Angriffe auf ben 16. Ze
gleich richtete er einen Tagesbefehl an. ſaͤmmtliche Truppen: „Ruſſen!
Preußen! Deſterreicher!“ hieß es in demfelben, „Ihr kämpft für Gin
Sache! kaͤmpft für die Freiheit Europas, für die Unabhängigkeit Eure
Staaten, für die Unfterblichleit Eurer Namen.” „Alle für Einen!
Jeder für Alle!” war dann als der Ruf bezeichnet, mit bem der bei
tige Kampf zu eröffnen ſei. Aber auch Napoleon entfaltete nun all
ihm eigenthümliche Thaͤtigkeit. Er mufterte das Heer unb wies ben
Felbherren ihre Beſtimmungen an.
Leipzig (Schlacht bei). 693
Die franzöftihe Armee, ihren rechten Fluͤgel an das Ufer der
Pleiße lehnend, dehnte ſich in Geſtalt eines halben Mondes auf den
fuͤr ſie guͤnſtigen ſanften Anhoͤhen uͤber Doͤlitz, Markkleeberg, Wachau
und Libertwolkwitz bis Holzhauſen aus; General Bertrand ſtand mit -
feinem Corps bei Lindenau zue Wahrung der Straße nach Lüsen und
Erfurt, und Fürft Poniatowski hielt mit ben Seinigen die Pleißeuͤber⸗
Hänge bei Connewis, Loͤßnig und Doͤlitz befegt. >
Die Aufftellung dee alllirten Armee mar unterdeffen ebenfalls vor
fi) gegangen. Das Corps bes Feldzeugmeiſters Grafen Giulay ftand
auf dem linken Ufer der Eifter bei Kleinzſchocher, das Corps des Gras
fen Meerveldt bei Zwenkau, und die Referve, unter dem Erbprinzen
von Heſſen⸗Homburg, zwifchen ber Pleiße und Eifter bei Zoͤbigker und
Proͤdel. Auf dem rechten Ufer ber Pleiße, zwifchen Gröbern unb
Goſſa, waren die Übrigen Zruppen der Hauptarmee, commanbirt vom
General Barclay de Tolly, in zwei Treffen aufmarſchirt. Die ruffi:
fhen und preußifchen Garden, zu Fuß und zu Pferd, bildeten bei
Magdeborn die Meferve. Plan des Fürften Schwarzenberg war: bie
Seanzofen in drei Colonnen anzugreifen. Die zweite und dritte Co⸗
lonne follte bie Franzoſen in der Fronte beichäftigen und dadurch die
»Bewegung ber erſten, durch welche Mapoleon von Leipzig und alien
feinen Ruͤckzugspuncten abgefchnitten werben konnte, begünftigen. Ends
lich war noch das Corps des Generals Giulay beftimmt, Lindenau zu
nehmen, während der Schlacht in Leipzig einzufallen unb fomit die
Dernichtumg des Feindes zu vollenden. Viel kam bei Vollführung dies
fe& Plans darauf an, mie ſich unterbeffen die, Verhättmiffe bei der _
chleſiſchen und bei ber Norbarmee geflalten würden. Napoleon hatte
e bucch feine Bewegungen zum Zweck eines Eibeüberganges getäufcht,
aber nicht auf lange. Vielmehr nahmen Bluͤcher und der Kronprinz
von Schweden ihre Richtung nad) Halle, um am 16. October gleich
falls nad) Leipzig vorzudringen. Außerbem kam es auf noch etwas bei
Vohführung jene® Planes an: auf eine möglichfle Uebereinflimmung ber
Angriffsbewegungen der alliirten Truppen, was aber bei einem fo aus⸗
gedehnten Terrain und bei der nationellen Verſchiedenheit biefer Trup⸗
‚pen kaum zu erwarten war. Napoleon mit feinem Scharfblick, feiner
blisfchnellen Thaͤtigkelt und mit feinem, obgleich Beineren, aber doch
großentheiles taktifch trefflich geübten und nur ben einen Körper feis
ner kriegeriſchen Seele bildenden Heer, galt ba nothwendig als gefährs
Hiher Gegner. War ihm bie Möglichkeit gegeben, .bie alliirten Armee
corp6, eine® nach dem andern, anzugreifen, fo hatte er auch bie gewiſſe
Hoffnung, diefelben zu fchlagen. Nur wohl in biefee Hoffnung unter
nahm er die Schlacht. Ä
Es war ein bdüfterer, nebelichtee Tagesanbruch bes 16.; aber noch
ziemlich früh am Morgen theilten fi die Wolken und die Sonne bes
fhien den ganzen. Tag hindurch das Schlachtfeld. Um 7 Uhr festen
fih die Truppen ber Alllirten in Bewegung. Zunaͤchſt gegen Mark
Beeberg, gegen Wachau und Liebertwolkwitz. Ihren Angriffen feste
694 Leipzig (Schlacht bei).
der Feind ben heftigflen Widerſtand entgegen. Um 9 Uhr war be
Kampf ſchon allgemein, und der Donner einer zahflofen Menge Ge
ſchuͤzes ſelbſt von den dlteflen Kriegen kaum je fo ſtark und fo unun⸗
terbrochen gehört worden. Beide Theile zeigten glänzenden Muth umb
unerfehütterliche Tapferkeit. Die Abficht, das franzöfifhe Heer zu ums
geben, wurde durch den Fürften Poniatowski zu nichte gemacht, wel⸗
her, allerdings begünftigt durch das Terrain, die Ihm angewieſene Pos
fitton feftbielt und jedem Webergange ber Allürten über die Pleiße
wehrte. Kleine Vortheile, von den Alllirten muͤhſam hier errungen,
gingen ſchnell wieder verloren. Aehnlich bei Lindenau. General Bes
ttand ward nach harten Kämpfen vom Grafen Giulay aus biefem
Dorfe gedrängt; aber der Poften war zu wichtig für die Möglichkeit eis
nes etwaigen Rüdzuges, und fo verfchafften neue ungeheure Anſtten⸗
gungen ihn den Franzoſen wieder. Die Mitte der großen Schlacht:
ordnung hatten bie Ruffen und Preußen unter Wittgenftein und Kiel,
den rechten Flügel bie Deflerreicher unter Kienqu. Sie nahmen Mark
leeberg, drangen in Wachau ein und befekten ben Kolmberg bei A⸗
bertwoltwis. Die ganze franzoͤſiſche Schlachtlinie wid zuruͤck. Abe
Napoleon , der bier perfönlich zugegen war, bachte ſchnell baran, bes
Alliierten die kaum ereungenen Vortheile wieder zu entreißen. Er eb»
nete einen neuen Angriff, feine Truppen flürzten wuͤthend vor, und
bie Alllitten mußten die von ihnen genommenen Dörfer verlaffen. Sa,
noch jenſeits derfelben gewannen die Franzoſen mehrere Anhöhen, er⸗
flürmten die Schäferei Auenhain, drangen gegen das Dorf Goffa vor
und eroberten auf dem dußerften rechten Flügel der Verbuͤndeten bie
fogenannte Schwedenſchanze. Gelang ben Sranzofen, das Centrum ber
Alttieten zu durbrechen, fo ſtand Napoleon der Rädmarf nah Dres⸗
ben frei, er Eonnte ſich mit den 30,000 M. Gouvion St. CEyr's ver⸗
einigen, von der Eibe aus den Oderfeſtungen die Hand bieten unb
feine Vortheile weiter verfolgen. Wankende oder felbft ſchon abgefallene
Sreunde wurden dadurch möglicher Weife neu gewonnen. Ein günfli:
ger Friede fchien nichts Unwahrfcheinliches mehr. Einige Zeilen von
Napoleon's Hand brachten dem hartenden Könige von Sachſen nad
Leipzig die Nachricht von dem errungenen Vortheile, und bald ertöns
ten alle Glocken der Stadt zur Feier biefes Ereigniſſes. Es war
3 Uhr Mittags. Aber anfehnlidye Verſtaͤrkungen, welche Schwar⸗
zenberg den zuruͤckgetriebenen Corps der Alliirten ſandte, entriſſen nicht
ohne Muͤhe den Franzoſen die von dieſen errungenen Vortheile. Aber
faſt gleichzeitig drohte dann links von Wachau der Schlachtlinie der Al⸗
llirten das Sprengen ihres Centrums. Der König von Neapel naͤm⸗
lich hatte ſich an der Spitze feiner Cavallerie dem Dorfe Goſſa gend
hert. Schon war, in kuͤhnem, ſtuͤrmendem Angriffe, der linke Fluͤgel
der ruſſiſchen Infanterie von ihm uͤber den Haufen geworfen und die
ruſſiſche Gardecavalleriediviſion, noch ehe fie ſich formiren konnte, in
die Flucht geſchlagen worden; 26 Kanonen hatte er genommen. In
dieſem kritiſchen Augenblicke ſandte Kaiſer Alexander, weicher ſich nebſt
Leipzig (Schlacht bei). 695
dem Könige von Preußen in geringer Entfernung davon auf einem
Hügel befand, das ihm zur Bedeckung dienende bonifche Leibcoſalen⸗
vegiment, vom Grafen Orloff befehligt, Murat entgegen. Diefer
wurde zurüdgedrängt, 24 Kanonen wieder erobert. Die ruffifchen und
preußifhen Garden, bie öfterreichifche Reſerve, die ruſſiſchen Grena⸗
diere gingen nun vor. Wie ein doppelter und dreifacher Riegel ſchuͤtz⸗
ten fie das fo bedenklich bedroht getvefene Genttum. Aber die Wage:
Eraft der Franzoſen ruhte, nicht und nochmals verſuchte Laurifton in
Goſſa einzubringen. Kräftiger Widerfiand der Preußen und Ruſſen
‚verhinderte ihn daran. Zu berfelben Zeit hatten auch die Defterreicher
neh hartem Streit die Schäferei Auenhain wieder erobert. Nach
10ftändiger biutiger Arbeit flanden auf biefen Theilen des Schlachtfel⸗
des die Heere faft wie bei Anbruch des Tages; nur behielten bie Fran⸗
sofen auf ihrem linken Fluͤgel bie Schwebenfhanze in ihrer Gewalt,
wogegen bie Preußen und Defterreicher auf der andern Seite in Beſitz
der Hälfte des Dorfes Markkleeberg blieben.
Während nun am 16. October bie böhmifche Hauptarmee im
Suͤben von Leipzig den blutigen Kampf beftand, hatte Blücher von
Torben her ſich mit der ſchleſiſchen Armee gegen Leipzig in Bewegung
geſetzt. Mittags 1 Uhr begannen die Angriffe einzelner ihm untergebes
nee Corps auf die Franzoſen, welche der Herzog von Raguſa befeh⸗
ligte. Diefe zogen fih auf das Dorf Moͤckern zuräd. Es war in
den möglichft beften Vertheidigungsſtand gefegt worden. Unter einem
mörderifchen Gefechte zweimal genommen und wieber verlosen, flürms
ten die Grenadiere der Avantgarde es zum dritten Male, murden aber
bintee bemfelben von einem fo heftigen Kartätfchenfeuer empfangen,
daß fie das weitere Wordringen aufgeben mußten. Sranzöfifche Infans
teriemaſſen unb 70 bis 80 Stud Geſchuͤtz erneuerten ben Angriff auf
Moͤckern. Die preußifchen Truppen, dem wirkfamften Kartätfchenfeuer
ausgeſetzt, litten unbefchreiblid. Eine Zeit lang war der Erfolg zweifels
haft. Aber er entfchieb ſich endlich zu Gunſten der Alliirten. Die
Franzoſen zogen ſich nah Gohlis zuruͤck. 1 Adler, 2 Fahnen, 68
Kanonen, eine Menge Munition unb über 2000 Gefangene hatten
fie in den Händen bes Blücher’fchen Armeecorps zuruͤcklaſſen müffen.
Aber auch ber Verluſt der Preußen war, in Folge der beftandenen
mörderifchen Kämpfe, nicht unanfehnlih. Sie hatten an Todten und
Verwunbeten, 28 Stabsofficiere mit eingefchloffen, 172 Officiere und
6500 Mann. Das war berjenige Theil ber Schlacht bei Leipzig,
weicher bei Mödern, dem alten Schlachtfelde zwiſchen Guſtav Adolph
und Lilly, gefchlagen wurde, weshalb er denn auch in manchen Krieges
geſchichten „die Schlacht bei Mödern” heißt. Das franzöfifche Bulletin
über die Schlacht bei Leipzig, obgleich im Uebrigen ſich den Sieg zus
eignend, hatte doch die bei Mödern erlittenen bedeutenden Nachtheile
eingeftehen muͤſſen. Aber noch in einer andern, wichtigeren Beziehung
war ber eben erwähnte Kampf zwifchen Bluͤcher und dem Herzoge von
Ragufa für das Endergebniß ber großen Voͤlkerſchlacht vom größten
Mapoleon’s nur 171,000 Bann, 22,000 Mann Gi
Das Diifliche feiner Lage erfenumd, hatte Rap
Nacht vom 16. auf den 17. October den am 16. ge
nen Öflerreichlichen General — auf feh
Sta hätten
ende am 17. ſchlagen oder fein Heer ——
Bas I ben Alisten neue — er
t dazu zu en geweſen.
nf. w. Gewiß r4 * Ptapoleon’s ug
Bleiben in den Umgebungen von Leipzig bei
Taktik während ber Tage vom 16. bis 19. Deere
den bat. Wielekdt wolte er and) am 17. nicht.
ten aber um fo weniger zu eilen, als fie,
ſchoͤpfung ihres Heeres buch, ben gefltigen Kampf,
franzoͤfiſ te, bie Ankunft beitten
ee von Dissten über Grinume erweristen,
aber nun auch ben Allirten bie. Ankunft ber och
Dee 17. Detober, ein Gomntag, ing fit.
Nordſeite von Leiptig wurde bie allgemeine Dluhe umter
R
DEE. SE
Leipyzig (Schlacht bei). 697
fiſchen Marſchall ernannt, hielt nach wie vor die feſten Pofitionen bei
Connewitz, zur Wehrung bes Pleißeüberganges, und General Bertrand
den Paß bei Lindenau. Alles unnüge Fuhrwerk der feanzöfifhen Ar:
mee jagte ſchon da durch nady Lügen zu. In der Mitte feiner Gars
ben, bei einer halb zerſtoͤrten Tabaksmuͤhle, unmeit Probſtheida, befand
fi) Napoleon, um jedem bedrängten Puncte Hülfe fenden und das
Banze: leiten zu Eönnen.
Seldmarfchall Fuͤrſt Schwarzenberg hatte bie unter feinen Befehlen
fiehende,, jest vereinigte Armee der Alliirten in ſedſs Colannen getheilt.
Die erfte derfelben (Prinz Heffen Homburg) follte gegen Connewitz vors
dringen, um wo möglich endlich den Fürften Poniatowski aus feiner
Stellung an der Pleiße zu vertreiben; die zweite (General Barclay de
Tolly) war zum Angriff auf Wachau, Libertmollwig und von ba auf
Probſtheida beftimmt; die britte (des unterbefien eingetroffenen Genes
rals Benningſen) follte, mit Umgehung bes Feindes, gegen Leipzig,
die vierte (Kronprinz von Schweden) ebenfalls gegen Leipzig vorrüden,
bie fünfte (General Bücher) in Webereinflimmung mit der vierten
operiren, unb bie fechfte endlich (Graf Giulay) den Angriff auf Lintenau
gegen Bertrand erneuern.
Während dee 17. Detober trüb und regneriſch geweſen war,
fleablte der 18. in beiterem Sonnenſchein. Grauſig glimmten noch in
demfelben die Schutthaufen der in Brand aufgegangenen Dörfer, waͤh⸗
send der Würgengel des Kriegs auf ber weiten Ebene und in ben
Eräftig aufgezogenen Schlachtreihen im Voraus ſtillſchweigend feine neuen
blutigen und rauchenden Opfer bezeichnete.
Die erſte Colonne der alliirten Armee hatte Anfangs gegen Pos
niatowski einige Vortheile errungen, mußte aber dann zurüdmweichen.
Das Gefecht blieb beiderfeits im Gleichgewichte. Der zweiten Colonne
ber Alliirten folgten fämmtliche ruffifche und preußifche Garden, wobei
ſich die Monarchen von Becfterreih, Rußland und Preußen und. ber
Felbmarſchall Fuͤrſt Schwarzenberg befanden. Aus zwei Pofitionen,
tapfer vertheibigt, wurden bie Sranzofen eben fo tapfer vertrieben. Der
hauptſaͤchlichſte Kampf drehte fih nun um Probfiheida. Dies Dorf
war ſtark von ben Franzoſen befeht, und mehrere Batterieen fanden auf
den Anhoͤhen, zu ‚beiden Seiten befielben. Die Preußen hatten unters
befien Wachau vom Feinde unbefegt gefunden, die Schäfer Meuss
dorf genommen, und, mit den Ruſſen in einer Linie, ging nun bie
ganze Colonne gegen Probftheida vor. Zwei Verſuche der Alliirten, es
mit Sturm zu nehmen, mißglüdten, und bie Franzoſen verfuchten
nun felbft zweimal bervorzubrehen. Doc ebenfalld umſonſt. Go
fürchterlich war das Blutbad da, daß die Kämpfenben zulegt nicht mehr
über die Haufen ber Zodten hinmwegfteigen tonnten. Auf Befehl ber
Monarchen zogen ſich nun bier die Truppen ber Alliirten aus bem Ges
feht und flellten fich weiter rüdwärts auf. Der Erfolg bes Tages
war doch gefihert. Eine lebhafte Kanonade von Beiten ber Alliitten
baute bis zum Einbruch der Nacht und verhinderte die Stanzofen,
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Leipzig (Schlacht bei). 699
neuern , gegen Leipzig vorzurüden und im Fall eines Widerſtandes die
Stadt zu flürmen. Der Sieg — und mit Recht — galt den Alliir⸗
ten bereits als erfochten. Fuͤrſt Schwarzenberg war von den Mon
achen noch auf dem Schlachtfelde mit ihren höchften Orden gesiert,
der alte Bluͤcher zum Feldmarſchall ernannt worden.
Der Mond ging auf, und die franzäfiiche Armee trat.auf dem ihre
allein übrig gebliebenen Wege durch das Ranfkädter Thor Leipzigs den
Ruͤckzug an. Won da gelangte fie über die Pleiße, auf einer ſteiner⸗
nen Bruͤcke über die Eifter und, über einen ziemlich fchmalen Damm
bin, nach Lindenau. Die ſaͤchſiſche Straße nach dem Mheine fland ihr
dann offen. Auf dem Schlachtfelde blieb nur eine Avantgarde und
binter diefer mehrere zu deren Aufnahme beflimmte Soutiens fliehen.
Poniatowski und Macbonald mit ihren Corps (Polen, Badenern , Hefiens
Darmfädtern und einigen Franzoſen) waren angemwiefen, Leipzig und
feine zur Vertheibigung in Eile eingerichteten Vorftäbte, vorgelegenen
Gaͤrten und Häufer fo lange zu decken, bis das Gros der Armee durch
bie Stabt hindurch fei, und fi) dann anzuſchließen. Ganz im Stillen
war bie erwähnte Eifterbrüde unterminitt worden; der Magiftrat von
Leipzig aber hatte die Erlaubniß erhalten, eine Deputation an den
Fuͤrſten Schwarzenberg zu fenden, welche um Schonung für die Stadt
bitten ſollte.
As nun mit Anbruc des Tages die Alllieten die vom Seinde
inne gehabten Stellungen verlafien fanden , rüdten fie in Waffen gegen
Lkeipzig vor, warfen die Franzoſen bis unter bie Stadtmauer zuruͤck
und formirten fih zum Sturm in Golonnen. Indeſſen gingen die
Generale von Bubna und Platow mit ihren Corps zur Verfolgung
bes Feindes über bie Pleiße und Eifter. Das oͤſterreichiſche Reſerve⸗
corp® marſchirte nach Pegau und die Cavalerie ber fchlefifchen Armee
über Schleubig gegen Lügen. Um 9 Uhr rüdten die Alltirten gleich»
zeitig gegen bie Thore von Leipzig. Hartnädig war da der Kampf;
eben fo in den Vorſtaͤdten. Gegen Mittag waren faft alle Zugänge in
ben Vorſtaͤdten erſtuͤrmt; die Übrigen, im Rüden umgangen, mußten
die Franzoſen verlaſſen. Jetzt entſtand in den Allen und auf ben
Promenaden zwiſchen der Stadt und den Vorſtaͤdten ein wuͤthender
‚ Kampf. Aus zahlreichem Geſchuͤtz befchoffen die Franzoſen die Anruͤcken⸗
ben mit Kartaͤtſchen, und nur nad) großem Verluſt gelang es ben Alllics
ten, bie feindlichen Batterieen im Sturm zu nehmen und nun auch bie
inneren Thore zu erobern. In der Stadt felbft waren bie Straßen
mit Kanonen und Fuhrwerk aller Art verfpertt. Das Gefecht war hier
nur ſchwach, die Verwirrung hingegen flieg auf das Aeußerfte. Alles,
was fi noch von den Franzofen in ber Stabt befand, fuchte nady
dem Ranftädter Thor, dem einzigen Auswege, zu entlommen.
Napoleon hatte die Nacht im einem Gafthofe der Vorſtadt Leips
ige zugebracht. Schon hörte man das Kleingewehrfeuer, und Gras
naten flogen in die Stadt, ale Napoleon fi zum König von Sachfen
und deſſen Famille begab, um Abfchied von bdenfelben zu nehmen.
Unter ihnen der Marfchall Fuͤrſt Pontatowält. Er
haft verfhmägt und auf die Kraft feines 4
umfonft. Aehnlich der General Dumouſtier,
ge — * jenfeitige Ufer —— Nach und #4
Die verbinden Monarchen und Fürft S
—— und feine Garden waten die
Dudinot blich mit der Arrieregarde Hinter Binbdenan
Theil ber franzöfifhen Armee Hatte ben’ Weg nad
ſchlagen. Der BVerluft am den vier Tagen war
to und wird auf beglaubigte Welfe folgendermaß
anzoſen verloren an Kobten: 1 Marfchall, 8 G
Mann; an Verwundeten: 30.000 Mann, worunte
beteug an Todten, Verwundeten und Vermißten: 4
Dfficiere und gegen 45,000 Mann (ndmiich 4
21,740, Ruffen, 14,950 Preußen und 300 Schtert
Noch find nicht alle ferategifhen und felbfi
faͤcht ich en Pa der großen Stade geäft geloͤſt.
—— weit fie in —— lagen, wurde
Leipzig (Schlacht bei). 701
cht bei Leipzig (in feiner Schrift: „Die beutfchen Freiheitokriege
813, 1814 und 1815, Eiberfeld, 1815) nothwendig an Farbe
m, ald die Gefhichte mehr ihre Rechte geltend machte und
arteihaß ſchmolz. Noch Immer wird indefien von Zeit zu Zeit
vie Schlacht bei Leipzig Material zu Tage gefördert. So erſchien
ahr 1835 In Pofen eine Schrift: „Die Schlacht bei Leipzig.
8.0.W.”, 80 Seiten ſtark, und noch ganz neuerdings erzählte
Friebe. v. Kölle in feinem Auffage: „Erlebtes vom Jahre
" (deutfhe Pandora, Stuttgart, 1840. 1. Bd.) Manches,
ahin einfchlägt.
Mit dem wichtigſten ftrategifhen, fo ziemlich von allen Sei⸗
’apoleon zum entfchiebenften Vorwurfe gemachten Mäthfel jener
dem naͤmlich: wie er, ba body fhon am 16. Dctober Abende
othwendigkeit eines Rüdzuge nicht mehr zweifelhaft war, für
€ Uebergänge über die Pleige und Eifter nicht geforgt habe, da
jwei volle Tage Zeit geweſen fei, Anftalten hierzu zu treffen?
aber noch ein wichtiges, factifches in erflärtem Zufammens
Es ift das die Sprengung der Eifterbrüde zu einer Zeit, wo
oßer Theil der franzoͤſiſchen Armee diefeibe noch nicht paffict hatte.
von Napoleon an bie Möglichkeit, die Schlacht zu verlieren,
gedacht worden; hatte er nicht daran denken wollen; hatte er
frühere ungänftige Conjuncturen duch fein Genie und durch die
ckeit feiner Truppen bemeiftert, und glaubte er, daß immer noch
e Stern über feinem Haupte ftehe, wie fonft: fo haben dieſe
toͤſen, Menſchenleben und Klugheit vernichtenden und verachtenden
Imer doch einen gewiſſen Glanz der Kühnheit für fih. Wie aber
re Brüder Dem franzöfifen Bulletin zu Folge Hatte Napoleon
hjeniecotps befohlen, unter jene Brüde Slatterminen zu legen, um
tegten Yugenblide zu fprengen, fo den Marfdy des Feindes aufs
en und dem Gepäde zum Abzuge Zeit zu verſchaffen. Ein vom
‚en Montfort ungehöriger Weiſe mit diefer Operation beauftragter
tal, „ein Mann ohne Einfiht, der feine Sendung ſchlecht bes
", babe, als er die erften Slintenfhäffe von den Waͤllen der
: gehört, die Slatterminen angeſteckt und die Brüde in die Luft
ngt. Oberft und Corporal feien vor ein Kriegsgericht geſtellt wors
. J. w. Wahrſcheinlich Lam dieſes Kriegsgericht nie zufammenz
iſt aber, daß, waͤhrend Napoleon (offenbar mit dem größten Uns
in feinem Bulletin bemüht war, auf jenen Zwifdenfall den
Zuſtand des ruͤckmarſchitenden Heeres zu waͤlzen, die übelmollens
Gegner jene allzu frühzeitige Sprengung ber Brüde erklaͤrt ſei⸗
ertheilten Befehle aufehrieen. As Motiv wurde ihm dabei zu
be gelegt: fich perfönlih, auf Koften eines Thells feiner Armee,
ten. te Kölle in dem vorhin erwähnten Auffage erzäblt, war
& in Leipzig der Glaube ganz allgemein, daß ohne jene Maßregel
hlreiche Meiterei der Verbündeten in ben brei Stunden, welche fie
age noch hätte fechten Können, das franzoͤſiſche, Im großer Unords
700 Leipsig (Schlacht bei). -
Hierauf gewann er nur mic Mühe und auf Umwegen bie Eifterbräde.
Es war 10 Uhr Vormittags. Kaum aber hatte ber Kaifer die Bruͤcke
paſſirt, als fie in die Luft flog. Die naͤchſten Folgen hiervon maren
ungeheuer. 15 bis 20,000 Mann in gefchloffener Ordnung, mehr
als 200 Stuͤck Geſchuͤtz und zahlloſes Gepäd blieben nun dieſſeits umd
vermehrten die Trophäen ber Sieger. Viele der jest in größter Unorb⸗
nung Fluͤchtenden verfuchten die jenfeitigen Ufer der Pleife und -Eifter
zu erreichen, unb fanden dabei (man fagt von 2000) ihren ob.
Unter ihnen dee Marfchall Fürft Poniatowski. Er hatte die Gefangen⸗
fchaft verfhmäht und auf die Kraft feines Pferdes gerechnet. Aber
umfonft. Aehnlich der General Dumouftier, während Macdonald
gluͤcklich das jenfeitige Ufer erreichte. Nach und nach erloſch der Wider
fand. Die verbündeten Monarchen und Fürft Schwarzenberg hielten
an der Spige ihrer Krieger in ber Mittagsftunde in Leipzig ihren feier
lichen Einzug. Die Armee der Alliirten blieb größtentheild um Leipzig
ſtehen, während einzelne Corps berfelben die abgezogenen Franzoſen
verfolgten und ihnen fortwährend Gefangene und Geſchuͤtz abnahmen.
Napoleon und feine Garben waren die naͤchſte Nacht in Markranitäbt.
Dudinot blieb mit der Arrieregarde hinter Lindenau fiehen. Der übrige
Theil der franzöftfchen Armee hatte ben Weg nad) Weißenfels einges
fhlagen. Der Verluſt an den vier Tagen war von beiden Seiten
roß und wird auf beglaubigte Weiſe folgendermaßen angegeben: Die
Franzofen verloren an Zodten: 1 Marfchall, 3 Generale und 15,000
Mann; an Verwundeten: 30,000 Mann, worunter 2 Marſchaͤlle und
6 Generale; an Gefangenen: 24 Generale und 15,000 Mann noch
wehrhafter Truppen. Der Gefammtverluft der alliirten Heere hingegen
betrug an Zodten, Verwundeten und Vermißten: 21 Generate, 1793
Dfficire und gegen 45,000 Mann (naͤmlich 8000 Defterreiäkt,
21,740.Ruffen, 14,950 Preußen und 300 Schweden).
Noch find nicht alle ſtrategiſchen und felbft nicht alle that»
ſaͤchlichen Näthfel der großen Schlacht gelöf’t. Won der erfteren, im
fo weit fie in Napoleon’s Handlungen lagen, wurben einige bereitd ans
deutend erwähnt. Plotho, in feiner unten angeführten Schrift, be
ſchaͤftigt fi) ausführlicher damit und mit einem anerkennenswerthen Be
ſtreben, gerecht zu fein.- Auch Nachweifungen über die von ben Allir⸗
ten bei Leipzig begangenen ftrategifchen Fehler — obgleich mit milden
Farben — kann man bei ihm finden. . Ueberhaupt ergibt ſich auch ba
allmaͤlig von beiden Seiten das Streben nach Gerechtigkeit. Mor⸗
vins in feiner „Geſchichte bes Feldzugs von 1813” (in deutfcher
Ueberfegung, Darmftadt, 1832) hatte noch ganz entſchieden und in
allen Theilen Partie für Napoleon und gegen die Alliicten genom⸗
men, während Gouvion St. Eyr in feinen „memoires pour ser-
vir à U’histoire militaire sous le directoire, le consulat et l’empire“
Paris, 1831. 4. Band) begangene ftrategifche Fehler Napoleon's zus
gibt und felbft nachweiſ't. Won ber andern Seite bat Fr. Kohl⸗
rauſch's gewiß recht ehrlich und tächtig gemeinte Erzählung ber
Leipzig (Schlacht bei). 701
Schlacht bei Leipzig (in feiner Schrift: „Die bdeutfchen Freiheitskriege
von 1813, 1814 und 1815, Eiperfeld, 1815) nothwendig an Furbe
verloren, ale die Geſchichte mehr ihre Rechte geltend machte unb
der Parteihaß ſchmolz. Noch immer wird indefien von Zeit zu Zeit
über die Schlacht bei Leipzig Material zu Tage gefördert. So erfchien
im Jahr 1835 in Pofen eine Schrift: „Die Schlacht bei Leipzig.
Bon ©. v. W.“, 80 Seiten ſtark, und noch ganz neuerdings erzählte
uns Friebe. v. Kölle in feinem Auffage: „Erlebtes vom Sabre
1813 (deutfhe Pandora, Stuttgart, 1840. 1. Bd.) Manches,
was bahin einfchlägt.
Mit dem wichtigften ftrategifchen, fo ziemlich von allen Sei⸗
ten Napoleon zum entfchiebenften Vorwurfe gemachten Näthfel jener
Tage, dem naͤmlich: wie er, da doch ſchon am 16. October Abende
bie Nothwendigkeit eines Ruͤckzugs nicht mehr zweifelhaft war, für
nöthige Uebergänge über bie Pleiße und Eifter nicht geforgt habe, da
body zwei volle Tage Zeit gewefen fei, Anftalten hierzu zu treffen?
fieht aber noch ein wichtiges, factifches in erklaͤrtem Zufammens
bange. Es iſt das bie Sprengung ber Eifterbrüde zu einer Zeit, wo
ein großer Zhell der franzöfiichen Armee diefelbe noch nicht paffirt hatte.
War von Napoleon an die Möglichkeit, die Schlacht zu verlieren,
nicht gedacht worden; hatte er nicht daran denken wollen; hatte er
ſchon frühere ungünftige Conjuncturen durch fein Genie und durch bie
Tapferkeit feiner Truppen bemeiftert, und glaubte er, daß Immer noch
derfeibe Stern über feinem Haupte ftehe, wie fonft: fo haben biefe
monftröfen, Menſchenleben und Klugheit vernichtenden und verachtenden
Jerthuͤmer doch einen gewifſſen Glanz der Kühnheit für ſich. Wie aber
mit dee Brüde? Dem feanzöfifchen Bulletin zu Folge hatte Napoleon
dem Geniecorps befohlen, unter jene Brüde Slatterminen zu legen, um
fie im legten Augenblide zu fprengen, fo den Marſch des Feindes aufs
zubalten und dem Gepdde zum Abzuge Zeit zu verfchaffen. Ein vom
Oberſten Montfort ungehöriger Weife mit diefer Operation beauftragter
Gorporal, „ein Mann ohne Einficht, der feine Sendung ſchlecht bes
griffen‘, babe, als er die erflen Slintenfhäffe von den Wällen der
Stadt gehört, die Flatterminen angeftedt und die Brüde in die Luft
gefprengt. Oberſt und Corporal feien vor ein Kriegsgericht geftellt wors
den u. f. m. Wahrſcheinlich kam dieſes Kriegsgericht nie zuſammen;
gewiß ift aber, daß, während Napoleon (offenbar mit bem größten Uns
techt) in feinem Bulletin bemüht war, auf jenen Zwifchenfall den
üblen Zuſtand des rüdmarfchirenden Heeres zu waͤlzen, die übelwollen-
deren Gegner jene allzu frühzeitige Sprengung ber Brüde erklaͤrt ſei⸗
nem ertheilten Befehle zufchrieben. Als Motiv wurde ihm dabei zw
Grunde gelegt: ſich perfönlih, auf Koften eined Theil feiner Armee,
zu retten. ie Kölle in dem vorhin erwähnten Auffage erzäblt, war
damals in Leipzig der Glaube ganz allgemein, daß ohne jene Maßregel
Die zahlreiche Reiterei ber Verbündeten in den brei Stunden, welde fie
bei Tage noch hätte fechten koͤnnen, das franzöfifche, in großer Unords
find die Urfachen diefes Zuftandes, den fie zu veraͤnder
ift daher natürlich, daß ein Menfch mit fo ausgezeichn
bei einer fo ungewöhnlichen Beredtfamleit und bei fo
Kenntniffen, wie Lelewel fie hat, der Abgott einer Juger
nifche ift, werden mußte. Seine außerordentlich vielen W
nur in Polen, Rußland und in den übrigen flavifchen |
find, fanden auch gerechte Aufnahme in Deutfchland,
England, ja in ganz Europa. Sie find biflorifchen
Snhaltes; am Meiften beſchaͤftigen fie fi) jedoch mit De
Geſchichte. Letztere waren blos Materiale, weldye Le
um mit Huͤlfe derfelben eine volftändige Geſchichte
faffen. Durch eine volftändige Geſchichte Polens von
man von dem Beſtehen mancher weifen und nüßliche
unterrichtet werden, von denen man im Welten Euro;
Gedanken hat. Man würde die Verdienfte kennen lerne
um die Menfchheit und um Europa hat, und man
daß es in hundert und mehr Feldzügen die Civilifatton
gegen die nordifhen und oͤſtlichen Horden mehrere Jahrh:
vertheidiget hat. Ohne die Revolution im Jahre 1
Lelewel mit eben fo einem Werke für Polen beſchenkt,
Schaffarzyk mit feiner Geſchichte für bie flavifchen Wi
nosti slowanske) gethan hatte. Beide find die wuͤrdi
gezeichnetfien Repräfentanten der Geſchichte flavifcher
Werken, in welden ſich Lelewel mit Nachforfhungen
ſchwer verftändlich; in den Werken jedoch, welche er
fchrieb, in feinen Proclamationen zum Volk und zur Ai
des Kampfes 1830 und 32, ift er Mar, eindringlich, Hi
wohl er nie zuvor, wie fein Vater und Großvater, im
fo beſitzt er doch alle flavifhen, germanifhen un
Spradıen.
⸗ “
Lelewel. 705
nicht moͤglich iſt, ſo lange die Leidenſchaften aufgeregt ſind. Nach
vier Jahren eines ſtillen wiſſenſchaftlichen Lebens warf ſich Lelewel in
das oͤffentliche. Er wurde naͤmlich 1828 zum Landboten von Zelechow
in dee Woywodſchaft Podlachien ernannt. Der Reichstag, wohl erken⸗
nend die Sähigkeiten feines neuen Abgeordneten, ernannte. ihn zum Mit:
gliede in einer der drei Commiffionen oder Reichstagsabtheilungen.
Seit diefer Zeit wandten fi) die Augen aller Patrioten nad) ihm, in:
dem er für den Leiter einer weitverzweigten Verſchwoͤrung gehalten
wurde, welche, wie man fagte, ben 24. Mai 1829 bei ber Krönung des
Kaiſers Nikolaus in Warſchau ausbrehen follte. Kaifer Nikolaus,
fürdhtend, daß die Polen mährend des Tuͤrkenkrieges eine Diverfion
machen Eönnten, befchloß dieſe Krönung, um ſich bie Herzen ber Nation
dadurch anzueignen. Alle Umftände waren dem Gelingen diefer Ver:
ſchwoͤrung günftig; 36,000 Mann polnifcher Zruppen waren um War-
fhau verfammeltz Rußland war dur den Krieg mit der Türkei ge
ſchwaͤcht; überdies, waͤre auch das Lithauifche Corps, aus 80,000 Mann
beftehend und aus Polen von Lithauen, Wolbinien, Pobolien und
der Ukraine zufammengefest, unfehlbar beim erften Schuffe zu den In—
furgertten übergegangen. Alles war bereit; bie Unterofficterfchule Hatte
fogar fharfe Patronen. In der entfcheidenden Stunde jedoch hielt
Graf Guſtav Malachowski, fpäter Miniſter des Auswärtigen (geftorben
zu Paris 1835), die ganze Bewegung” auf, weil, angeblihen Nach:
tihten aus Paris zufolge, die Anfurrectionspläne noch. nicht reif
waren.
Bon bdiefem Augenblide an wandte bie. ungebulbige Jugend ihre
Augen geradezu auf Leleiwel, von jegt an erwartete fie blos von ihm
und von feinem Andern das Zeichen des Ausbruchs. Auf diefe Weife
verlief ein Jahr. Als jedoch die Polizei bereits anfing, ganze Abthei=
lungen von Verſchworenen zu entdeden, verfammelten ſich die Patrio: _
ten den 21. November in dem Bibliothekſaal der Gefellfchaft ber
Freunde der Wiffenfchaften, um fi mit Lelewel zu befprechen. Der
Tag zum Handeln war beflimmt: es follte der 29. fein. Ungluͤcklicher
Weife wurde Lelewel’s Water toͤdtlich Frank, und derjenige, welcher die
revolutiondre Bewegung leiten follte, twar aus-Kindespflicht genoͤthiget,
bei feinem fterbenden Vater zu wachen. Diefer beſchloß noch an bemfel:
ben Zage fein Leben. MWider Willen ließ er die Zügel der Bewegung
aus den Händen, welche nun ohne Führer und Regierung blieb. Won
jetzt an wurde er väthfelhaft, was zum Theil von häuslicher Kraͤnkung,
zum Theil auch daher kam, daß ihm fein Plan, das Vaterland zu be-
freien, nicht gänzlich. gelang. Die ſcharfe Polizeiauffiht, unter welcher
er ſich ohnedies befand, trug auch daB Ihrige dazu bei. Meue Perfonen
ſtellten ſich an die Spige ber Regierung und des Heeres. Als man
aber, flatt ben Großfürften Konflantin zu entwaffnen, anfing, mit ihm
zu unterhandeln, ward er von der preoviforifchen Regierung aufgefordert,
fih mit der Deputation, die nady dem Lager des ruffifchen Come im
Dorfe Wierzbna bei Warfchau abging, dorthin zu begeben. Geserat
Staats⸗Lexikon. IX, 45 x
706 Lelewel.
Chlopicki, ber, wie Lelewel, zu keiner geheimen Geſelſchaft gehörte, galt
für einen großen Patrioten und für einen noch größeren General, ers
zogen in der Schule Napoleon's. Aber er verfland ungluͤckücher Weiſe
den Geift nicht, der die ganze Mation befeeite. Der Fürft Lubedi, ein
ergebener Anhänger Rußlands und ehemaliger Sinanzminifter, beredete
ihn, die oberfte Seldherenwürde anzunehmen, wozu der Wille und das
Bertrauen der Nation den alten Soldaten beriefen. Lubedi’8 Abſicht
mar, ‘dag durch Clopicki's Moberantismus das Vaterland vor einem
Wageſtreich bewahrt würde. Lelewel, wie alle tiefgelehrte Männer, ifl
für das praktifche Reben nicht. gemacht; nichts deflo weniger war er durch
die Öffentliche Meinung zu allen Regierungen berufen, die nad ber
Vertreibung der Ruffen auf einander folgten. Aber in keiner kannte
oder mußte 'er fih das Anfehen zu verfchaffen, das ihm von Rehte-
wegen gehührte. Hier kann man ihm mit Recht vorwerfen, warum
er ſich dem Befchluffe nicht widerſetzte, welcher 10,000 Ruſſen mit
27 Kanonen erlaubte, friedlih aus Polen abzuziehen, ein Corps, an
deſſen Spige noch dazu bes Kaiſers Bruder Conftantin fland. Chlo⸗
pic ernannte ihn zum Minifter des Cultus und bes Öffentlichen Un:
terrichtö; Lelewel hingegen, als Präfident des patriotifhen Vereines,
erlaubte im Namen befjelben dem Dictator, nad Belieben zu fchalten
und zu walten, bis zum Zufammentreten des Reichstags, welches den
18. December Statt fand. Während diefer Zeit waren die beften fe:
bensträfte der polnifchen Revolution vergeudet; der Feind hingegen fam:
melte ſich an den Grenzen des Landes. Lelewel, ber daffelbe und den
Geiſt feiner Bewohner kannte, und ber bie irrige Ueberzeugung hatte,
daß die politifche Wiedergeburt deſſelben möglich fei, rieth, das Mi:
litär in Eilmärfchen an die Grenze Lithauens zu [hiden, mo das li⸗
thauiſche Corps mit Ungeduld die Ankunft ber Polen erwartete. - Aber
Chlopicki, getreu dem Verſprechen, das er Lubedi gegeben hatte, nicht
glaubend, daß der Auffland durd eigene Thatkraft ſich erhalten inne,
und ohne Kenntnig von bem Enthufissmus der Nation, wollte nicht
‚ vorwärts rüden, obwohl ihn dazu ſowohl feine Soldaten, als auch die
Öffentliche Meinung aneiferten. Man muß leider befennen, daß feit ber
erſten Theilung, das ift ſeit 1772, Polen ein Öffentliches Leben
hatte, und baß die fremden Regierungen mit Fleiß einen Theil der
Nation in der vornehmeren Claſſe zu demoralifiren trachteten. Lelewel
als Profeffor hätte fid) daher auch in der Gewalt nicht erhalten koͤn⸗
nen, wenn er diefelbe nur für einen Augenblick befefien hätte. In Po⸗
Ien mußte man den Ruhm eines Chlopidi, oder den Namen einer
alten polnifhen Familie haben, um zu regieren. Lelewel, feiner un-
begreiflich myſtiſchen Weife zufolge, Eonnte nicht offen, ſondern blos
im Geheimen und Dunkeln handeln. Deswegen wurde er auch den
Derfonen verdächtig, welche nicht zur Verſchwoͤrung gehörten, welche
aber nichts defto weniger in der Regierung einen großen Einfluß ausüb:
ten. Aus diefem Grunde ließ ihn auch der Dictator den 11. Januar 1831
nebſt mehreren anderen Perfonen verhaften. Die Bewegung der zur ur
Lelewel. 707
ſpruͤnglichen Verſchwoͤrung Gehoͤrigen noͤthigte dem Dictator, Lelewel
alſogieich wieder frei zu geben. Nach Chlopidi’s Niederlegung der
Dietatur follte Leiewel, anflatt der erſten Stelle in der proviſoriſchen
Nationalcegierung, welche ihm von Rechtswegen zugelommen todre,
die zweite befleiden. Die Wahl entfchied bereits für ihn, als in Folge
eines Formfehlers diefelbe für ungültig erklaͤrt wurde, und Intriguen
ihm kaum die fünfte vergoͤnnten; von biefer aber follte er ſich jedes
Mal entfernen, wenn ber Oberfeldhere in Warſchau gegenwärtig war.
Auf diefe Art war Lelewel’s Einfluß ganz unbedeutend, und bie aus,
fünf Mitgliedern zufammengefegte Regierung beſtand aus ganz verfchie:
denartigen ‚Elementen; jede nöthige Energie ging ihr ab. Diefelbe
dauerte doch bis zum 15. Auguft 1831. An biefem Tage hatte das
Volk, aufgeregt durch Rußlands Agenten und duch die Nachricht
von dem Herannahen des Feindes, fi ruſſiſcher Spione und für
Dienftfehler verhafteter Generate bemdchtiget und biefelben niedergemacht.
General Graf Krukowiecki, angeregt durch Neid und Eiferfucht, viel
leicht auch durch feindliche Geld, trug das Seinige dazu bei, um bie
fen Brand zu ſchuͤren. Zufolge diefer Unruhen gab die Nationakegie:
tung ihre Entlaffung, und Krukowiedi ward zum Präfidenten der
neuen ernannt. Lelewel nahm hierauf feinen Sig in ber Landboten⸗
tammer ein; man ſchrieb ihm gleichfalls einen großen Theil der Er⸗
eigniffe vom 15. Auguſt zu — ob mit Recht oder Ünrecht: das iſt nicht
mit Gemißheit zu beftimmen.
Nach der verrätherifchen Uebergabe Warſchaus ging er mit einem
fremden Pafle, einen Torniſter auf den Rüden, nad) Preußen über,
von wo er nicht ohme Schioterigkeiten den 29. October 1831 in Paris
anfangte. Später war er Mitglied bes proviſoriſchen Comites, unb
dann Präfibent des polnifhen Mationalcomites. Diefes übergab eine
Töne Petition an das englifche Unterhaus; von ihm erging auch ein
Aufruf an die polnifhen Juden, die Ungarn und die Ruffen. Diefe
letztere war vorzüglich Urſache, daß die franzöfifche Regierung, auf An-
ſuchen des ruſſiſchen Gefanbten, den polniſche GomitE auflöf’te, wor⸗
auf Lelewel am 1. Januar 1833 Paris verließ und ſich nach Lagrange,
dem Landgute Lafayette's, begab. Aber auch von dort entfernte ihn
die Polizei nach Tours, obwohl General Lafayette gegen biefe--in fei-
nem Haufe vollbrachte Gewaltthat öffentlich proteflirte- Dort erhielt
er endlich den 3. Auguft 1833 den Befehl, Frankreich zu verlaffen, von
wo er nach Belgien ging. Hier auch befahl man ihm, das Land zu
verlaffen; auf das Anfuchen vieler einflußreihen Bürger wurde jedoch
diefer Befehl nicht ausgeführt. Lelewel wohnt bis heut zu Tage (Ende
Decembers 1839) in Bruͤſſel. Während der Bildung der freien Uni-
verſitaͤt trug ihm der Senat eine Profefforftelle der Geſchichte an; er
nahm diefelbe nicht an, aus dem Grumde, weit er ſich nicht ſtark genug
fühlte, einen jo erhabenen Gegenftand, wie die Geſchichte, in einer frem⸗
den Sprache vorzutragen. Lelewel, als politiſche Perfon, hat in der
heutigen Emigration viele Freunde, aber auch dafür miete viele Geg⸗
’
‘
708 Lelewel. — Lefefreiheit.
ner. Diefes kommt von feinen tepublicanifchen Ideen her, welche, wie
er behauptet, Polen befreien follen. Was feinen perſoͤnlichen Charakter
anlangt, fo achten ihn alle Parteien. Lelewel nahm weder im Lande,
als Mitglied der Nationaltegierung, noch im Ausland als Fluͤchtling
Gehalt und Subfidien an. Er Iebt fehr, fparfam; etliche Kreuzer
reihen ihm zu feinem täglichen Unterhalt hin. B.
Leſefreiheit. — Die Freiheit zu leſen haͤngt genau zuſammen
mit der Preßfreiheit, zum Theil auch mit der Lehrfreibeit.
Wenn und in ſo weit der Staat Preßfreiheit anerkennt, wird er auch
ben Bürgern Leſefreiheit geſtatten. Die Rechts- und politifchen
Gründe für bie erflere fprechen auch für die letztere. Und natürlid
ift es, daß Schriften, die einer rechtsguͤltigen Beſchlagnahme ober
einem gerichtlichen Unterbrüdungsurtheil unterliegen, nicht Öffentlich, ver:
kauft und zum Lefen vermiethet oder an Öffentlichen Drten ausgelegt
werden dürfen. Die Heiligkeit ber perfänlichen Sreiheit und der Haus:
freiheit wird dagegen bei freien Voͤlkern nicht geflatten, den Privat:
befis und die Privatmittheilung ſolcher Schriften zu verfolgen, fo weit
die Iestere nicht gewerbmäßig Statt findet, oder je nach den Umſtaͤn⸗
den in Gemäßheit allgemeiner Rechtsgrundſaͤtze als Beftandtheil einer
befonderen Rechtsverletzung, etiwa einer Injurie oder einer Ausführung
eines andern Verbrechens, erfcheint. Wollte man etwa in Beziehung
auf öffentliche Leihbibliotheken, weil aus denfelben Minderjährige und
überhaupt unerfahrene Perfonen ſchaͤdliche Nahrung ſchoͤpfen Könnten,
andere,’ als die von rechtsgültiger Beſchlagnahme oder Unterdrüdung
getroffenen Bücher ausſchließen, fo würde bier eine einigermaßen
paffende, die Willkuͤr befeitigende Grenze nicht zu finden fein. Aud
würde der Zweck verfehlt werden. Denn die hier zuruͤckgewieſenen Buͤchet
würden nun, da fie ja Seder Laufen und aud von Privaten leihen
kann, wegen der erweckten Neugierde doppelt gelefen werden. Hier
Eann und muß nun die Erziehungsauffiht und Leitung der Eitern,
Vormünder und der Lehranftalten fi) wirkſam ermeifen. Auch lehrt
die Erfahrung, daß die Stantöpolizeiaufficht gerade bie moralifch ver:
derbiichften, fhändlichften Schriften faft niemals ausfchlieft, fondern
nur auf die Schriften fahndet, die für die Mächtigen unangenehme
Dinge enthalten. Kirchliche Gefellfchaften, welche die Lehrfreiheit be:
(hränten und überhaupt eine bevormundende Gewalt über ihre Ange:
hörigen anfprechen, merden freilich, unabhängig von den allgemeinen
Rechtsgrenzen, die Xefefreiheit beſchraͤnken. Und bekannt genug find
die kirchlichen Verdammungen, Berbrennungen, Hinwegnahmen und
Gonftscationen von Büchern, die Verbote felbft der heiligen Schriften.
Solche Maßregeln widerfprechen aber den im Artitel „Lehrfreiheic”
enttwidelten Grundſaͤtzen. Sie verrathen und erweden wenig Glauben
an die Wahrheit der Firchlihen Lehre und an ihre Fähigkeit, wahre
Prüfungen zu beftehen. Sie werben auch in unferer Zeit wenigftens
meift ihres Zwecks verfehlen. ebenfalls aber hat der Staat das Recht
und die Pflicht, zu wachen, dag folhe Maßregeln nie die bürgerlichen
Leſefteiheit. — Lefegefellfchaften: 709
Sreiheitsrechte der Bürger verlegen, alfo nur gegen Einwilligende aus:
geübt werden, und daß die kirchliche Gewalt ihre anerfannten ver-
faffungsmäßigen Gefellfchaftsrechte nicht mißbrauche oder überfchreite-
(nicht zu einem appel comme d’abus an den weltlihen Schuß Ber:
anlaffung gebe).
In Staaten aber, in welchen, flatt der Anerfennung einer nur
techtlih begrenzten Preßfreiheit, vielmehr der Regierung zugeftanden
wird, daß fie, vermittelft der Cenſur und der beliebigen Erlaubniß zum.
Druck der Zeitſchriften und Buͤcher, in Beziehung auf die Mittheilung
der Wahrheit alle Buͤrger gleich unmuͤndigen Kindern bevormunde:, da
iſt natuͤrlich dieſe despotiſche Bevormundungsgewalt mit ihrer vollſten, gren⸗
zenloſeſten Willkuͤr auch wirkſam gegen die Leſefreiheit. Da werden
ſogar Bücher, die ſelbſt die Cenſur nicht unterdruͤcken wollte oder
konnte, da werden die Werke der auslaͤndiſchen Literatur, da werden
die Zeitungen anderer Nationen oder verbuͤndeter Staaten nach regel⸗
loſer Willkuͤr oberer oder unterer Behoͤrden verboten, oder, was eben ſo
verletzend iſt, von dem regelmaͤßigen Poſtverkehr ausgeſchloſſen. Ja, ſie
werden, mit Verletzung auch der uͤbrigen rechtlichen Freiheit, den Pri⸗
vaten und Privatgeſellſchaften hinweggenommen, wohl gar die Auslie⸗
ferung bei Spee geboten, oder ihr Privatbeſitz und ihre Privatmit⸗
iheilung als Vergehen beſtraft, oder endlich es werden die auf dem
natuͤrlichſten Rechte beruhenden Leſegeſellſchaften willkuͤrlich aufgehoben
oder unterſagt. Es iſt in der That eben ſo empoͤrend fuͤr das natuͤr⸗
liche Rechtsgefuͤhl, ſolche der Gerechtigkeit und der menſchlichen und
buͤrgerlichen Freiheit widerſprechende ungluͤckſelige Folgerungen eines
ungluͤckſeligen Syſtems naͤher zu verfolgen, als es fuͤr jeden deutſchen
Ehrenmann kraͤnkend iſt, wenn, gegenuͤber faſt allen civiliſirten Natio⸗
nen, in unſerem deutſchen Vaterland noch ſolche Geringſchaͤtzung der
Buͤrger, ihrer Ehre und ihres Rechts und ſolches aͤngſtliche Mißtrauen
der Gewalt in ihre eigne moraliſche Kraft und in die freie Achtung und
Treue des Volkes zum Vorſchein kommen. Nach Grundfägen einer
vernünftigen Staatsweisheit aber läßt ſich diefe an ſich bodenlofe Will:
für nicht regeln und ordnen. Deshalb verzichten wir auf jeden Ver⸗
ſuch einer folhen Regelung. Die Gründe, die vom Standpunct ber
Gerechtigkeit und währer politifhen Weisheit gegen fie fprechen, ent:
halten übrigens die Artikel „Genfur der Drudfchriften‘ und „Preß-
freiheit.” ©. Th. Welder.
Lefegefellfhaften. — Es laſſen ſich vorzügli dreierlei Ars
ten von Vereinen zum Lefen oder zu gemeinfchaftlicher Benugung der
Schäge der Literatur unterfcheiden:
Die erfte befteht in einer Wereinbarung , gewiſſe Schriften in
einer gemeinfchaftlihen Verfammlung mit einander zu leſen. Solches
gemeinfchaftliche Lefen, bei welchem einzelne Mitglieder der Gefellfchaft
allein, oder mehrere, oder auch alle abmechfelnd vorlefen, findet theils in
religiöfen Vereinen, theild außerdem zu gemeinfchaftlidher Belehrung
oder Unterhaltung Statt. Seine Hauptvortheile, im Vergleich, gegen
\
N
gemeinfchaftliches Leſen, wenigſtens cin gemeinf:
hören, fehr zweckmaͤßig und heilfam mit mancher
mit manden Abteilungen in Strafgefängniffen un!
verbinden. Schon allein die negative Wirkung cı
richtung. Es können nämlich duch folde zwec
Vorlefungen Verkehrtheiten der verfhiedenften Art,
deren Mittheitung, Verdummung und Abftumpfun
dur immerwährendes Stillſchweigen, ohne geiftig
durd den Mechanismus einförmiger Arbeiten befei
mindert werden. Auf diefee Grundlage Binnen
paffender Wahl der Lecture für Belehrung, Bildu
wenigſtens bei Vielen, gewiß fehr große Erfolge erre
da ſowohl für Fabrikarbeiter wie für Steäflinge a
welche für ihre Belehrung und Beſſerung durch gei
beſtimmt wird, viel zu kutz iſt, und diefe Mittheil
wegen Mangels an gehörigen Grundlagen, wegen !
wegen längerer Unterbrechung durch die eingemurzelt:
ihre gute Wirkung verlieren. Noch heilfamer aber ı
tefungen da wirken, wo unter verftändiger Leitur
mohlthätige geiftige Selbſtthaͤtigkeit der zu Bildenden |
Vorlefen, durch Fragen und Antworten und durch
den werben koͤnnte. So wie durch die fortdauernde
Angewoͤhnung, Uebung und Ordnung die Eörperlic
fo müffen vor Allem auch die Vorftelungen, Gefuͤl
Gefinnungen der zu Bildenden und zu Veffernden €
tung und Tuͤchtigkeit erhalten, wenn wahre Bildu
für das Leben gewonnen werden follen.
Eine zweite Art der Lefevereine befteht darin
ber mit gemeinſchaftlichen Mitieln ſich Bücher anſch
mach einer norahrehsten Moihsfalas in ihren Mrinn
Lefegefellichaften. ou
ſicht find diefe Vereine doppelt wichtig und heilfam für ſolche, welche,
tie 3. B. Handwerker oder wie Schullehrer ober auch Geiftliche und
Beamte auf dem Lande, einer Erleichterung der Anfchaffung ber für
fie heitfamften Bucher und, bei vieler anderweitigen Beſchaͤftigung,
einer äußeren Anregung zum Lefen und Durchdenken berfelben bes
dürfen. Bekannt iſt es, zuerft wie Franklin in Amerika, dann Lord
Brougham in England durd) ſolche Leſevereine der Handwerker uners
meßlich wohlthätig und höhere und edlere und auch induſtriell tüchtigere
Ausbildung diefer wichtigen Claffe der Stantsbürger wirkten. Beide hiels
ten dabei ſtets die Grundbedingung des Gebeihens heilfamer ges
ſellſchaftlicher Wirkſamkeit — die Freiheit und Selbſtthaͤtigkeit — ent⸗
ſchieden feſt. In’ unferem überall bevormundeten Deutfchland dagegen
mißgiäden oder verfümmern alle ſolche wohlthaͤtigen Einrichtungen
durch Beamten: und Polizeicontrole und Bevormundung ‚ durch Mans
gel an feeier Deffentlichkeit, an Freiheit und Gemeingeift. Äuch bei
diefen Wereinen bedürfen übrigens, wenn fie zweckmaͤßig eingerichtet
find, die negativen wie die pofitiven Vortheiie keiner weiteren Ausfähs
rung. Die geiftige und moralifhe, ja immer mehr felbft die induftrielle ,
Cultur der neueren Welt beruht zu einem großen Theile auf der Lite⸗
tatur und waͤchſt täglich durch diefelbe. Man muß an biefer Literatur
Antheit nehmen, wenn man ſich möglihft auf die Höhe audy nur des
eigenen Lebensberufes hinaufſchwingen wil. In allen Claſſen des Lebens
aber ift die Gefahr, duch die Beſchaͤftigung mit Unedlerem, mit
Roherem und Verderblicherem oder mindeftens mit Unnuͤtzlichem Zeit
und Kräfte zu verlieren, fehr groß. Gemeinſchaftliche Vereinbarung zur
Anregung für’ Beffere, zur Auswahl und Benugung des möglichft
Beten ift Mittel und Fortſchritt der Veredlung, der Humanität,
der Wiffenfhaft und Kunſt. Beſchaͤftigung ſelbſt mit Gutem und mit "
Nüglihem auf Koften des Velten und Nothwendigſten iſt gefährliche
Verſchwendung der wenigen Zeit und Mittel, bie bem Menfchen zu:
gemöffen find. Es gilt biefes befonder6 aud in Beziehung auf die
kectuͤre, boppelt in einer Zeit, wo, wie in der unfrigen, fo fehr viel,
natürlich alfo audy fo viel Schlechtes gefchrieben und gelefen wird.
Eine dritte Art von Lefevereinen, bie noch mehr als bie erſte
und die zweite in unferer Zeit fi vermehrt hat, befleht in den im
engeren Sinne fogenannten Lefe: oder auch Mufeums:. ober
Harmonie:Gefellfhaften. Bei diefen werden in einem gemein⸗
ſchaftlichen Locale für die Benugung der Gefelfhaftsglieder von ihnen
auserwählte Schriften, geröhnlidy politifche und andere Zeitfchriften und
Erſcheinungen der neueften Literatur, wohl auch die nöthigen Reallexika
zum Nachſchlagen, zuerft im Gefellfchaftslocale aufgelegt, und dann
auch als eine gemeinſchaftliche Leihbibliothet von der Gefellfchaft benugt.
Zugleich verbinden ſich in der Regel mit biefem ernfteren Itede bie
Zwecke gefelliger Unterhaltung, des Geſpraͤchs, bes Spiels, ber Reſtau⸗
ration; der Muſik, des Tanzes u. f. iv. Diefe Vereine haben ſich in
Deutſchland vorzüglich feit ben Beftelungsktiegen außerordentlich vers
. " “ [1 “
712 Lefegefellfchaften. oo E
mehrt und find in den meiften Ländern felbft in ben kleinſten Städten,
ja zumeilen fogar in Dörfern zu finden. Und dhnli entfliehen auch
jest in Ungarn feit dem höheren Auffchwung dee Nation folche Ber:
eine. Der feit jener Zeit in Deutfchland erwachte höhere patriotiſche
" Sinn und Gemeingeift, die Annäherung ber verfchiebenen Stände umd
der Trieb nach höherer Bildung und Unterhaltung haben fie in's Leben
gerufen. Der Drud und die Verſtimmungen, die aͤngſtlichen und
kleinlichen Sefichtspuncte feit dem Eintritte der Reaction, die Unter
drüdung der Freiheit, insbefondere die der vaterländifhen Preſſe und
die Hinweifung auf die materiellen und felbftfüchtigen Intereſſen haben
es freilich verhindert, daß biefe Vereine jenen edlen Richtungen und
Zweden in der Art hätten dienen und nüsen innen, wie es in einem
edleren freieren Zuflande der vaterländifchen Angelegenheiten zu ermar:
ten gewefen wäre: Dennod find fie gewiß nicht ohne große und nüf-
lihe Folgen für die Bildung der Nation. Es wirken dieſe Vereine
insbefondere auch für eine höhere Bildung und für erhöhtes Selbfl:
gefühl des Bürgerftandes. Und überhaupt gelten für fie in erhoͤh⸗
tem Grade die ſchon von den beiden erften Vereinen erwähnten nega⸗
tiven und pofitiven Vortheile. Diefelben werden um fo größer werden,
je mehr die Regierungen dadurch die höheren und edleren Richtungen
der Bürger, ihren edleren vaterländifhen Sinn und Gemeingeift ber:
vorrufen oder wenigſtens ſich ungehindert entwideln laſſen, daß fie uns
die Sreiheit nicht vorenthalten, welche faft alle andern civilifirten Völker
des Welttheils, mit Ausnahme des Deutfchen, genießen. Und biefed
wird gewiß endlich gefchehen. Hat ja doch die deutſche Nation fo
feierlich anerkannte vollgültige Rechtsanſpruͤche auf dieſe Freiheiten!
Und find ja diefelben — die Pflicht gebietet, ed zu widerholen — allein
im Stande, unfer Baterland zu Eräftigen und gegen fo furchtbare Er:
niedrigungen und Gefahren, wie wir fie zu Anfange diefes Jahrhun⸗
derts erlebten, zu fichern. Es ift auch gewiß Zeit, daß die hohen ſchoͤ⸗
nen Worte endlich zu Thaten werden, eben fo, damit nicht hier hohle
lügenhafte eitle Wortmacherei, als auch damit nicht dort Unzufriedenheit
und Kraftlofigkeit wachſen. Schon im Jahre 1803 erklärte officiell ein fo
eben dahin gefchiedener Monarch: dag „der Unterdrüdung der
„Preßfreiheit“ (womit alle Freiheit zufammenhängt) „ein allge:
„meiner Nachtheil immer auf dem Fuße folge”*. Und
wahrlicd), das furchtbare Unglüd von 1806 zeigte diefes. Der Himmel
bewahre uns, daß uns aͤhnliche Lehre nothwendig gemacht werde!
Wird aber wahre Freiheit uns nicht laͤnger vorenthalten ſein, alsdann
werden in der Literatur wie in der Unterhaltung und an den Feſten in
den Trinkſpruͤchen und in den ſie begleitenden Reden, eben ſo wie in
dem freien und maͤchtigen England, eben ſo wie bei uns in den Frei⸗
heitskriegen und kurze Zeit nachher, wieder alle hochherzigen und edlen
Gedanken und Gefuͤhle der Freiheit, des Patriotismus, des Gemein⸗
*) Klüber, oXffentliches Recht $. 504. Note a,
⸗
Levante: — Piberal, Liberalismus; 713
geiftes laut werden Binnen, ohne daß Spione und Polizeifchergen lauern
und denunciren, und die Bürger und Beamten zittern und fi) vom
Edleren hinweg und allein zu ben niederen gemeineren Gedanken und
Lebensgenüffen hinwenden. Alsdann erft können uns diefe Vereine
viele der beſſeren Erſcheinungen und Wirkungen des öffentlicheren Lebens
und der Volksfeſte der. Alten und unferer freieren Vorfahren gewähren.
Menigftens ift für das höhere Süd, wie für die edlere kraͤftigere Bil:
dung und für die Vaterlandsliebe eines Volkes nichts fo wichtig, als daß feine
Bergnügungen, feine Gefellfehaft, Erholungen, Feſte, Gaſtmahle einem
höheren Gedanken und Zwede dienen und durch fie veredelt werden.
Wehe alfo denen, die ihrem Vaterlande dieſes edelfte Gluͤck, diefes
trefflichfte Veredlungs⸗ und diefes Eräftigfte Schugmittel rauben oder
verfümmern! C. Th. Welder.
Levante, f. Orient und Tuͤrkei.
Fester Wille, f. Erbredht.
Liberal, Liberalismus. — Wenn es Sklavenvoͤlker gibt,
denen die Fähigkeit, fi) zum Gefühle der freien Menfchenmwürde und der
Menfchenrechte zu erheben, verfagt zu fein fcheint, fo gibt es ander:
feits auch Völker, die mit dem Inſtinct der Freiheit geboren find. Doch
felbft unter den leßteren wird kaum eines zu finden fein, das durch alle
Stufen nationaler Entwidelung feine Sceiheit zu bermahren weiß. Es
Hegt im Weſen alles pofitiven Rechts, bag mit den Zeiten fid) die Wir-
tungen der Inſtitutionen und Gefege ändern, und je mehr diefelben
urfprünglid) aus einem unmittelbaren Zeitbebürfniffe hervorgegangen find,
um fo gewiſſer verkehrt fi) mit dem Wechfel der Verhältniffe ihre Ans
fangs mwohlthätige Natur in's Gegentheil. Werbindet fi nun mit den
" Wirkungen der Zeit auf die Gefege und die Rechte audy der Einflu
der Macht, die überall zur Weberfchreitung ihrer Grenzen und zum Miß-
braudy hinneigt, fo geht der Schug, den die Vereinigung unter einer
ordnenden und Ientenden Gewalt gewähren foll, faft unausbleiblich mehr
oder weniger in Unterdrüdung über. Vorzüglich aber ift e8 die qn fid)
naturgemäße Bereinigung getrennter Sprah= und Stammgenoffen in
größere Staats: und Nationallörper, was durch den Despotismus der
Gentralifation und firenge Unterordnung unter einen Willen eine Pe:
riode innerlihen Drudes und gemaltfamer Befchräntungen der indivi⸗
duellen und Iocalen Freiheit herbeizuführen pflegt.
So fehen denn die meiſten Voͤlker, bis ihr phyfifchee Organismus
gehörig erftarkt ift, und ihr Außerliches Dafein Confiftenz gewonnen bat,
ihr innere® Leben mannigfach gefeffelt und gehemmt. Wenn aber nun
mit der Vollendung ihres Lörperlihen Wahsthums auch die höhern See=
Ienträfte reifen und ein geiftigerer Sinn fidy regt: alsdann erwacht der
Trieb, die allzu ſchwer gewordenen Feſſeln abzuftreifen, dem Individuum
feine Setbftftändigkeit, den Gemeinden, Corporationen und ganzen Pro:
vinzen ihre Geltung zurückzugeben, und die verlorene Freiheit wieder zu
erlangen. Der Liberalismus ift es dann, der den erwachten Geift der
Freiheit auf vernünftige Principien zurüds und feinem höhern Ziel ent»
[}
N I
714 ziberal, Liberalismus.
gegenführt, oder, wo er ‚noch ſchlummert, durch bildende Inſtitutionen
und durch Aufklärung des Volks über feine Rechte und Intereſſen ihn
zu weden ſucht. Er will den trüb gewordenen Strom der Menfchenfa:
kungen von feinem Schlamme fäubern und das verdorbene, verfälfchte
Recht aus feinem ewig frifhen, immer reinen Urquell, der Vernunft,
erneuern. Wenn an die Stelle des Geſammtwohls das egoiftifhe Son:
derintereffe eines einzelnen Gewalthabers, einer herrſchenden Partei oder
einer bevorrechtelen Kaſte ſich gefeßt hat, fo leitet der Liberalismus bem
Staatszweck wieder auf das zurüd, was die Gefammtheit in ihrem ver
nünftigen Sntereffe will oder wollen muß, und biefen Staatszweck ſucht
er mit möglichft geringer und möglichft gleicher Beſchraͤnkung der Frei
beit Aller zu erreichen. Eben deshalb bleibt, auch fein letztes Ziel, auf
dem Wege naturgemäßer Entwidelung bes Volkslebens die Stufe zu
erreichen, auf welcher die höchite und die gleichfte Freiheit Aller möglich
iſt. Welcher Grad von Freiheit und von Gleichheit aber moͤglich fei,
ohne die vernünftigen Zwecke des Staats, und namentlidy den, alk
andern Staatszwecke bedingenden , der friedlichen Goeriftenz der Staats
genoffen zu gefährden oder zu vereiteln, ift nach der Verſchiedenheit des
Nationalcharakters, dee Culturperiode und der übrigen Momente dei
Volkslebens fehr verfchieden. Diefelben Inſtitutionen, welche bei einem
gebildeten Wolke die Schugmehr aller Freiheit und die Lebensbedingun⸗
gen des Fortfchritts find, Preßfreiheit, Volksvertretung, Schmurgericte,
Mationalbewaffnung, koͤnnen bei einem ungebildeten, noch auf ber Kind:
beitsftufe der Entwidelung ftehenden Volke eine Duelle ber Zerrättung
und Gefeglofigkeit, ein Werkzeug der Gemalt und Unterdrückung werden,
und von der blos privatrechtlichen Freiheit und der rein paffiven Gleich⸗
heit eines von jeder Theilnahme an der Staatsgewalt ausgeſchloſſenen
Volks bis zur demokratiſchen Selbftregierung liegt eine weite Stufen:
reihe liberaler Inftitutionen. in der Mitte, von denen ber vernünftige
Liberalismus keine weder unbedingt verwerfen, noch für die abfolut heil:
bringende erklaͤren wird. Er gibt derjenigen den Vorzug, welche der je:
weiligen Durhfchnittsbildung, der Gefittung und Aufklärung eines br:
flimmten Volles die entfprechendfte und zugleich bem Fortfchritte zu bi
berer Entwidelung die günftigfte if. Aber immer bleibt fein leitender
Gedanke die möglichfte, mit der fihern und vollflindigen Erreichung der
vernünftigen Staatszwede vereinbare gleiche Freiheit.
Und eben diefer Grundgedanke, ift nur die Anwendung des höchften
Nechtögefebes auf den Staat. Das wahre Recht ift nichts Andere,
als die ausgebehntefte und gleichfte Freiheit Aller, die ſich mit friedliche
Goeriftenz verträgt ; und da der Staat auf die Idee des Rechts gegrün:
det ift, da im Vernunftftaat ſtets und überall das Recht regieren fol,
da der Liberalismus nichts iſt, als der Inbegriff der auf Herſtellung
eines vernünftigen Rechts gerichteten Beſtrebungen: fo bat wohl fein
Princip mehr als irgend ein anderes politifches Princip gerechten Anfprud)
auf die allgerneintte Anerkennung, an ber es ohne Zweifel aud nicht
Liberal, Liberalismus. 713
fehlen würde, wenn nur daffelbe den nod in vielen Ländern uͤbermaͤch⸗
tigen dynaſtiſchen und ariftofratifhen Intereſſen günftiger wäre.
Daß unter dem gleichen Rechte und ber gleichen Freiheit Aller,
welche der Liberalismus fordert, nicht die Außerliche Gleichheit von Be⸗
fig und Macht gemeint fein koͤnne, indem Rechtsgleichheit himmelweit
verfchieden iſt von materieller Gleichheit des Beſitzes, und die bleibende
Duchführung der Iegtern ohne einen die Freiheit bed Verkehrs, des
Eigentbums und der Verträge vernichtenden Despotismus gar nicht
denkbar wäre, — dies wird zwar allmdlig von ben Gegnern bes Libe⸗
ralismus eben fo gut, als von den Liberalen felbft eingefehen. Aber
14 Liberalismus ift darum nicht minder Gegenſtand ber leidenfchaftlichiten
nfemdung und der gehäffigften Vorwürfe, unter denen bie gewoͤhnlich⸗
ften die find: dag derfelbe im Grunde nichts fei, ale ein grober Egois⸗
mus; baß er, indem cr als oberſtes Geſetz überall nur den wandelbaren
Willen dee Majorität gelten laſſen wolle, das Recht zu etwas rein Zus
fälligem, Willtürlihem und Aeußerlichem herabfege; daß er methodiſch
darauf ausgehe, den Staat von jeder fittlich=religiöfen Grundlage los⸗
zureißen und deswegen unvereinbar fei mit bem chriftlihen Staate und
mit dem Traͤger der gefammten europäifchen Cultur, dem Chriftenthum.
Derfelbe fol ferner, bei feiner egoiftifch-materialiftifhen Zendenz, auch
alles pofitive Recht zerflören, alle erhaltenden Principien des wahren
Rechts untergraben, jedes Band der gefellfchaftlihen Ordnung auflöfen
und, wenn es ihm zuletzt gelungen, alle Beſtehende umzuflürzen, an
die Stelle von Recht und Freiheit Anarchie und Poͤbelherrſchaft oder
ein Syſtem despotifcher und unnatürlichee Gleichheit fegen.
Es ift nur zu gewiß, daß in der Gefchichte der Freiheitsbeftrebun-
gen und Steiheitstämpfe Züge vorfommen, die zu diefer Schilderung
paffen. Allein bier muß zuvoͤrderſt doc daran erinnert werben, daß,
fobald man, wie es fein fol, die Perfonen von den Sachen unterſchei⸗
det, nicht jeder Mißgriff, jeder Fehler auch redlicher Liberalen, fofort
auf bie Verantwortung des Liberalismus felbft gefegt werden darf. So:
dann möchten, da alles Gute und fogar nur das Gute mißbraucht wer:
den Tann, die Verbrechen derjenigen, welche unter der Maske ber
Freiheit und Gleichheit ſelbſtſuͤchtige Zwecke verfolgen, dem Liberalismus,
als folhem eben fo wenig zur Laft fallen, als das Chriftenthum bie
Scheiterhaufen der Inquifition und die Heidenbekehrungen durch das
Schwert zu verantworten bat; und menn endlich aud) der Egoismus
unferer Zeit nicht felten ſich des Liberalismus als eines Werkzeugs und
Vorwands bedient, fo iſt doch erfterer nicht des legtern Quelle. Denn
die Anerkennung einer urfprünglichen Gleichheit aller Menfchen ift nichts
Egoiftifhes, und offenbar ift derjenige weniger egoiftifh, der im Geifte
allgemeiner Freiheit blos gleiches Recht für fic) begehrt, als der, welcher
Vorrechte verlangt; offenbar meint e8 derjenige mit feinen Nebenmen-
fhen beffer, welcher die gleichen Mechte Anderer vertheidigt, als ders
jenige, welcher fie den Mächtigen verräth und Preis gibt.
Unterfucht man aber den Gehalt bee weitern Anklagen genauer,
⸗
klaͤrt er insbefondere jede Mehrheitsentfcheidung, welche
gegen ihren Willen nah einem andern Geſetz behanb
derjenigen, welches die Mehrheit auch für fih als bi:
und für unbedingt verwerflich gilt ihm jeder Majoritä:
dem Moralgefege zumiderläuft. Jenes Princip der größtmd
Freiheit Aller oder der gleichen Achtung jeder vernünftk
Leit ift aber mindeftens eine eben fo unvergänglide Grun
thatfächlich Beſtehende, was die Confervativen heilig fpre
irgend eine pofitive Offenbarung, welche bie Jünger
Rechts in ihrem Sinne deuten. - Denn Vernunft und
den ewig die Gleichheit aller Menſchen ober die gleich
fremden Perfönlichkeit, welche man für bie eigene anfpei
und eben dieſes Princip flimmt auch ‚mit ben Geboten d
Sittenlehre fomohl, als insbefondere mit dem chriftlich:
fo innig überein, daß faſt nur böfer Wille behaupten kan
des Liberalismus zerftöre die fittlichen Elemente bes St
bürgerlichen Gefellichaft. |
Indeſſen ift nicht zu leugnen , bag es Kiberale gibt
nem andern Staatszweck ald dem Rechtsſchut und ber €
Sicherheit und die Bequemlicyleit des aͤußern Dafeins w
lichen, religioͤſen und intellectuellen Interefien aber ganz f
laſſen wollen. Allein das oft hervorgetretene Beſtreben,
keit des Staats einfeltig auf den moͤglichſt engen Umkreit
ten, bat feinen Urfprung. nur darin, daß flatt des wirkl
wohls allzu häufig die felbftfüchtigen Zwecke und Interef
Lieblingsideen und individuellen Anfichten der Gewaltt
werden; es muß von felbft aufhören, fobald ald Staats,
anerkannt wird, was bie Geſammtheit wirklich als in ih
"Tiegend will, und fobald die Staatsgewalt von jener fal
E. ru Mamas Bin mis Mahatın uch Mache
Liberal, Liberalismus. 717
Rechtöverlegungen, nicht auch Verletzungen der Sittlichkeit die Thä-
tigkeit der Staatsgefeggebung in Anſpruch nehmen und felbft der Straf:
gewalt des Staats verfallen innen, muß für die Öffentliche Sittlich⸗
keit verberblich wirken. Aber es ift keineswegs Gleichgültigkeit oder gar
Auflehnung gegen das moralifche Gefeg, wenn der Liberalismus gegen
eine allgemeine fittlihe Bevormundung der Staatsbürger ducch bie
Staats: oder eine vom Staat autorifirte Kirchengewait ſich ſtraͤubt.
Diefer Widerwille hat vielmehr feinen guten Grund in der Erfahrung,
tie mißlich und mie wenig förderlich es der wahren Sittlichkeit ift,
einen Menfchen zum bewaffneten Gewiſſensrichter des andern zu machen,
wie viel Unheil durch unduldſame, befchränkte, herefchfüchtige, oder
durch heuchlerifche und ſelbſt fittenlofe Sittenrichter angerichtet wer⸗
den kann.
Eben fo wenig ift es ein Zeichen von Irreligion, wenn der aufs
gektärte Liberale den Genuß ber flaatsbürgerlihen echte nicht, von |
einem beftimmten Glauben, fondern von ber Erfüllung der ſtaatsbuͤt⸗
gerlihen Pflichten abhängig gemacht wiffen till; und wenn wirklich
der Liberalismus ſich von der Kirche abgewendet hat und nicht felten
auch dem Chriftenthum entfremdet erfheint, fo find daran gleichfalls
diejenigen Schuld, welche nicht aufhören, den blinden unbebingten Ge:
horfam als erfte chriſtliche Buͤrgerpflicht zu predigen , diejenigen, welche
die Kirche der weltlichen Gewalt dienfibar gemacht, oder bie Lehre des
Evangeliums entflelt und mißbraucht haben, um den Menfchen geis
flige und leibliche Feſſeln zu fchmieden, fie in Drud, Dumpfheit und
Aberglauben zu erhalten, fie zu plündern und herabzuwuͤrdigen. Der
Liberallomus bedarf der Religion allerdings nicht, um rechtlich unhalt⸗
baren Anmaßungen eine trügerifche Stüge zu verleihen, und dem miß-
braͤuchlich fogenannten göttlichen Rechte muß er ein Recht von wahr:
haft goͤttlichet Art, das Recht der Vernunft, entgegenfegen, in beren
Ausfprüchen der ewige Schöpfer ſich eben fo gewiß fund geben wird,
als in den pofitiven Dffenbarungen, bie ja ihte legte Beglaubigung für
ein dentendes Wefen doch audy nur durch ihre Uebereinftiimmung mit
den Gefegen feiner Vernunft erhalten koͤnnen. Allein wo immer bie
Kirche zur urfprüngfihen Reinheit der Chriflustehre zuruͤckgekehrt und
aus einer Dienerin oder Verbündeten ber Gewalt, aus einem Werk:
zeuge der Anmaßung und Unterdrüdung wieder zur Tröfterin, Erleuch⸗
terin und geiftigen Erlöferin der Menfchheit geworden Ift, ba merden
auch die Achten Liberalen gern bekennen, dag nichts auf Erden wirk-
famer fein koͤnne, um jene Kraft aufopfernder Entfagung und Hin⸗
gebung zu erzeugen, unb, alle jene fittlihen Motive zu verftärken und
zu heiligen, von deren ungeſchwaͤchter Wirkſamkeit allein fie den voll-
fländigen Triumph ihrer Sache erwarten dürfen. Denn Chriftenchum
und Buͤrgerthum haben ja theilwelfe einen Zweck und gleicyes Biel;
nur wenden fie verſchiedene Mittel an. Auch das Chriſtenthum till,
daß Fein Menſch über Seinesgleihen ſich wiilkuͤrliche Gewalt anmafe
und feinen Nächten unterbrüde, daß Jeder dem Andern thue, was er
amertennt, beugt-er ſich aud) vor jener höhe geheim
die durch die Stimme des Gewiſſens zu der ganzen
amd an beren Innere Offendarungen er glauben mu
Glauben am ſich felbft und an die Menfchheit mid
Der denlende Liberalismus verkennt alfo Be d
menhang von Recht, Moralitit und Glauben; er
Stante Deigiem und Sitte nicht gleihgüttig ſein duͤrf
ſelbſt nicht unheilbare Wunden ſchiagen will; und wer
zichtet, das, was feiner Natur — nicht erzwingbar
fand direeter Bmangsgefege machen zu — —
wohl, daß Nefigiofität und Sittüchteit und alle
effen eben fo gut der — — er alı
daß auch fie nicht nur auf Schuß, fondern auf
vermöge des vernünftigen Staats wecks Anfprudy Br ade
zalen find es ja gerade, welche thatfächlich am
jerung ber materiellen Zuftände, fonderm auch
Auftlärung, auf Volfserziehung, auf ie
dungsanftalten dringen.
Wie mit dem Vorwurf des politiſchen Materiat
ſich im Wefentlichen = mit der angeblidy deſtructiver
bespotifchen Tendenz ber Liberalen. Wie nicht leicht .
Erfehütterungen ein neues Element in die Weltgefchich
gen 8 in der —— Staatsumwaͤtzung
a geltend macht, ehe Erfahrung und Nachb,
fen um — Haben. diefe Peuode, —
—* iſt —— —— Shaun Kan =
holen, mo die Freiheit durd) derftodten, blinden und |
Liberal, Liberalismus. 719
ben unentweibhten Patriotismus der Völker, an das hingebende Ver⸗
trauen, das fie in ihre Fuͤrſten festen, und an die Befcheidenheit der
Forderungen, welche damals gemacht und als gerecht anerkannt wur:
den. Wie in Spanien die Revolution der Gortes und die Julirevo⸗
Iution in Frankreich urfprünglih einen reinen Charakter edler Mäßis
gung gezeigt, den nur Taͤuſchung und Gewalt von oben in fein Ge:
gentheil verkehren und durch Aufregung gehäffiger Keidenfchaften ver:
giften Eönnen: nicht minder rein und edel war au in Deutfchland
jene patriotifhe Erhebung, welche eben fowohl der Wiederherftellung
der Volksfreiheit im Inneren, alö.der Abwehr eines Außeren Seindes
galt; und hätten die Machthaber im Geift der Jahre 1813—15 fort:
gehandelt, wäre der deutfchen Nation ihr volles unverkuͤrztes Recht
geworden — Fein Sand und Löning wäre aufgeftanden, kein bewaff:
neter Arm des Bürgers hätte in deutfchen Ländern ſich gegen die,
Staatögewalt erhoben, Fein Frankfurter Attentat hätte den deutfchen
Zürftenrath in feinem Bundesfig bedroht, Leine politifchen Verfolgungen
' hätten die Gefängniffe mit Angefchuldigten, das Ausland mit Slücht:
lingen angefüllt.
Dem wahren Wefen ber Freiheit iſt gewaltfame Zerſtoͤrung und
despotifches Nivelliten fremd. Auch find die heutigen Liberalen wohl
der großen Mehrzahl nach darüber einig, nicht unmittelbare Volksherr⸗
ſchaft, fondern einen ſolchen Zufland zu erfireben, in welchem eine
dem entichiedenen Volkswillen und Volksintereſſe beharrlich widerftrebende
Regierung nicht mehr moͤglich iſt. Zwar vindicirt der Liberalismus das
Recht der legten Entfcheidung über alle gemeinfamen Angelegenheiten,
im Staate wie in jeder andern freien und felbftftändigen Gefellfhaft,
urfprünglic der Majorität, ald dem natürlihen Organe der Ge—
fammtheit, in denjenigen Fällen, wo Stimmeneinhelligkeit nicht zu er:
langen und einen Beſchluß zu faffen doch nothwendig if. Auch gilt
ihm diefed Recht für ein unverdußerliches, weil, fobald daffelbe unmwi-
derruflich veräußert ift, der Staat aufhört, eine Gefellfchaft, eine Ge:
fammtperfönlichkeit zu fein (mie unter dem Artikel „Fuͤrſt“ gezeigt ift).
Deswegen aber verlangt der vernünftige Liberale doch Feineswegs, daß
die Staatdangelegenheiten unmittelbar durch allgemeine Stimmgebung
entfchieden werden. Ein folcyes Begehren wäre allerdings deſtructiv;
es würde beftändig in den Urzuftand der bürgerlichen Geſellſchaft zurüd:
führen und den flantögefellfchaftlichen Organismus in lauter Atome
zerfplittem, um feinen Aufbau immer wieder von vorne anzufangen.
Dabei waͤre gänzlich uͤberſehen, daß zur Freiheit auch das Recht der
freien Selbſtbeſchraͤnkung wefentlic gehört, und daß, wo es entſchie⸗
dener Wille der Mehrheit iſt, daß die vom Volke anerkannte Staats:
gewalt die Öffentlichen Angelegenheiten beforge, oder bag an ber Be:
forgung biefer Angelegenheiten geroiffe Claſſen der Staatsbürger vor⸗
zugsweifen Antheil nehmen, die Mehrheit das, mas eine von Män-
nern ihres Vertrauens umgebene Regierung befchließt, im Ganzen wohl
auch dem befonnenen Volkswillen gemäßer finden wird, als mas durch
3
720 Liberal, Liberalismus.
allgemeine Stimmgebung in jedem einzelnen Fall befchloffen werden
tönnte. Blos wenn der Zuſtand des hiſtoriſchen Rechts ein fo verdor-
bener if, daß er dem natürlichen Rechte ſchlechthin unuͤberſteigliche
Hinderniffe entgegenftellt, kann es nothwendig fein, auf einen tiefen
Standpunct der gefelfchaftlichen Entwidelung oder gar auf ben gefel:
ſchaftlichen Urzuftand zurüdzugehen, um .nur die Möglichkeit des Sort:
ſchritts wieder zu gewinnen. Sonft achtet flets der Anhänger des ver:
nünftigen Rechts nicht weniger, als der Vertpeil
ter und vernünftiger Freiheit georbnete und organifch ſich entwickelnde
Staat die allgemeine Stimmgebung erfegen muß; er achtet fie, fo
lange fie dem Willen der Gefammtheit nicht unzweifelhaft zuwider find,
und eben fo lange gilt ihm auch für unerlaubt und rechtswidtig, zur
Geltendmadjung des Geſammtwillens ſich anderer Mittel zu bedienen,
als die das beftehende Gefeg und pofitive Recht geflattet. Denn bir
Forderung des Rechts ift genug gethan, wenn ein Volk fo viel Frei:
heit und Gleichheit befigt oder auf friedlichen, gefeglihem Wege fih
verfchaffen kann, als es ſelbſt haben will, und als mit d_ geficherten
Erreichung aller vernünftigen, vom Wolke felbft gewollten Stantszwede
vereinbar ifl. Und mehr darf auch der Liberalismus nicht begehren.
Verlangt er für die Gefammtheit der Staatöbürger oder für einzelne
Glaſſen derfelben mehr Freiheit, als nach Maßgabe ihrer Bildungs:
ftufe, ihrer politifchen Reife und Selbftftändigkeit, mit der Erhaltung
des Staats und feinen Zwecken, befonders aber mit dem erfien und
abſolut wefensfichen Staatszwecke einer friedlichen Coerifteng verträglich
ift: fo zerftört eine foldye Freiheit, tie das Beifpiel_der zu früh eman-
Liberal, Liberalismus. 721
bewegen kann, mithin die Ungemißhelt über ben wahren Willen der
Sefammtheit und Über den Grad ihrer Mündigkeit und Reife, was
den Liberalismus verführt, feine Zuflucht zu ben Mitteln der Gewalt
zu nehmen und einem Voike eine Freiheit aufzubringen, welche es nicht
haben will ober bie e8 ohne Mißbrauch zu ertragen noch nicht fähig iſt.
Ein wildes, übereilte® Jagen, ein in gewaltfamen Ertremen ſich bewe⸗
gender Sturmfchritt, iſt keineswegs an fidh ber Freiheit eigen. Viel⸗
mehr ift Langfamkeit bes Fortſchrittes eine Eigenthuͤmlichkelt der Freiheit.’
„In einem freien Lande” — fagt Bentham, und das Beifpiel feines
freien Vaterlandes bezeugt es — „haben alle Meinungen eine Kraft,
die ihnen Widerftand geftattet, und fie weichen nur der Ueberzeugung.
Nicht im der Freiheit, fondern in der Unterdrüdung und der Rechtes
verweigerung liegt demnach die Gefahr, die heut zu Tage dringender als
irgend eine andere die Ruhe ber Staaten bedroht, und der Mißbrauch
der Staats» und Kirchengewalt zur Unterdrüdung ber rechtmaͤßigen
Freiheit ift es, mas den reinen Liberaliamus in libercien Materialismus,
Rabicalismus und Despotismus verkehrt, die Loofung zum Würgerkrieg
und Xerrorismus gibt, dee Anarchie und Willkuͤrherrſchaft breite Straßen
bahnt. Denn wie die Sünde Sünde gebiert und wie eine Uebertreibung
in naturnothwendiger Folge die entgegengefegte Uebertreibung hervorruft:
fo macht überall der Mißbraudy aud den rechten und wohlthaͤtigen
Gebrauch verdächtig, Vertrauen, Hingebung und tilliger Gehorfam
fhwinden, mwo eine Saat ber Taͤuſchung ausgeſtreut wird, und ber
Geift der Auflehnung, durch Willkür und Unrecht erzeugt, durch ein
ewiges Verſagen groß gejogen, durch den Mißbrauch heiliger Namen,
hinter denen die Gewalt und Anmagung fid birgt, an allem Glauben
iregeworben, überfliege nur allzu leicht fein Ziel. Aber nicht die Negers
ſtlaven dürfte Amerika, nicht die Irländer dürfte Großbritannien, nicht
die Völker dürfen die Regierungen anlagen, wenn eine lange Rechtes
verweigerung zum ſchlimmen Ende führt, und biejenigen, melde «6
unmöglid machen, die Wunden der Gegenwart zu heilen, indem fie
Vergangenes und Aufgeloͤſ tes wieberherftellen, die Lebenbigen den Todten
unterwerfen und bie Weltgeſchichte zu einem ruͤckſchreitenden Gange
zwingen wollen, die Abfolutiften des Staates und der Kirche, ſowohl
Artftokcaten als Servile, haben keinen Grund zu triumphiren, wenn es
die Kräfte ihrer Gegner überfleigt, in wenig Jahren wieder gut zu
machen, was Jahrhunderte des Drudes verdorben und zerrättet, noch
haben fie em Recht, zu fehmähen, wenn jene, nothgebrungen und
gewaltſam fortgeftoßen, eine Bahn betreten, auf der das Innehalten oft
nicht mehe vom freien Willen abhängt.
Wenn aber die Ausſchweifungen eines unaͤchten oder mißverſtan⸗
denen Liberalismus nichts Anderes als Werirrungen find, verfchuldet
duch die Mißhanblung bes Achten, fo Binnen jene auch dem Werth
des legtern keinen Eintrag thun. Daher begnägt man fi, befonders
in Deutfchland, nicht mit den Vorwüͤrfen melde blos den faiſchen
treffen, fondern greift mit ſyſtematiſchem Uebelwollen, mit affectirter
Staats » Lerikon. IX. 46
728 Biberal, Sheralimad,
Verachtung und mit offener Verleumdung aud ben wahren an. Ja
Deutfhland, wo nad) den verflogenen Slufionen. der Befreiungskriege,
wegen ber fortdauernden- Trennung der Völker und ber immer engen
Verbindung der Regierungen, die Volksſache von Anfang an faft ohne
Ausfiht war, und der Geift des Jahrhunderts feit ber Julirevolution
doch aud fein Recht unwiderſtehlich geltend machte, in Deutſchland
wird nicht bios ber Liberalismus gefliffentlich mit allen Auswüchfen bes
geaffeften Radicalismus identificiet, ſondern nicht felten auch den com
flitutionellen Liberalen ihre Mäßigung zum Vorwurf gemacht, indem
man fie Heuchler oder zahme Revolutionäre nennt, bie ſich vor den
Gonfequenzen ihrer eigenen Grundfäge fürchten; und ſeitdem bie Re
action ſich ihrer ganzen Uebermacht bedient hat, um den Liberalismus
waffenlos zu machen, erhoben ſich von allen Seiten Tauſende von
Stimmen gegen ihn, bie fonft geſchwiegen hätten, ober aus einem
ganz andern Tone ſich würden vernehmen iaſſen. Es ift fo leicht,
den, welcher vom Erfolg verlaffen iſt und nur mit halber Stimme
oder gar nicht fprechen darf, vor der Welt in ein ungünftiges Licht zu
flellen, den Wechfel der eigenen Grundfäge oder das Verleugnen, wenn
es nicht mehr lohnend iſt, fie auszufprechen, in's Gewand der Vater
Iandeliebe und beforgten Pflichtgefühls zu leiden, ober felbft anklagend
und verdammend jenen gegenüberzuttefen, welche ben unveränderten
Anforderungen des Rechtes und der Pflicht auch unter veränderten Ums
fländen zu genügen fuchen, und darum noch nicht das Unmoͤgliche zu
verlangen glauben, teil fie auf Forderungen beftehen mäffen, melde
nicht erfült werden. Wie aber von jcher die Apoftel des Despotismus
den Völkern die Uebel, melde jener ihnen zugefügt, noch zum Ber
brechen machten und, gleich dem Wolf der Fabel, die Freiheit befcul-
Liberal, Liberalismus. 723
Wuͤnſche, Zurüdweifung ihrer Anträge etwas fo Alttägliches ift, dag
fie Regierungsmarime geworden zu fein fcheint, wird jeder Widerftand
von ihrer Seite gegen Maßregeln, bie dem liberalen Princip zumibder:
laufen, als fpftematifche Oppofition verfchrieen. Wenn fie auf Sicher:
ſtellung ber verfaffungärhäßigen Freiheit dringen, fo foll das feinen
andern Zweck "haben, nis den Regierungen Verlegenheiten zu bereiten.
Wenn fie die Intereffen der Gefammtheit wahren und das unver:
Außerliche Recht des Fortfchrittes geltend machen, fo find das Träume
eines kranken Gehirns, ober es iſt Umfturz des Beſtehenden, Anarchie
und Poͤbelherrſchaft ihr geheimes Ziel. Weil ſtets die Mafle eines
Volles für daB, was fie will und braucht, der Führer und Vorkaͤmpfer
bedarf, meil fie nicht bei günfligem und bei ungünfligem Erfolg mit
gleihem Eifer ſtets ihr Ziel verfolgt, fo ſoll auch der liberale Aufſchwung
in fo vielen Ländern nur das künftliche Erzeugniß weniger Webelgefinnten
oder Schwärmer geweſen fein, die in der Volksmeinung, in dem
gefunden Sinn bes Volks, keinen Boden hatten. Weil in den klei⸗
neren Staaten eine Vollsvertretung ohne Preßfreiheit, ohne Recht der
Stenervermweigerung und unter ber bewaffneten Gontrole der abfoluten
Mächte, für das Wohl des Landes wenig ober nichts vermag, fo foll
das klar beweifen, daß das ganze Mepräfentativfpflem nichts taugt.
Dos Zuſammenwirken Gleihgefinnter, ohne das doch ein Erfolg poll
tifcher Beſtrebungen undenkbar ift, fol nur den Regierungen erlaubt,
bei den Vertretern des Volks hingegen dem geleifteten Eide zumider und
ein Zeichen blinder, gewiffenlofer Parteiwuth fein. Selbſt die Erfolgs
fofigkeit ihrer Bemühungen wird den Liberalen von denjenigen vors
geworfen, an deren Gegenwirkung fie gefcheitert find, und während bie
Ultrablätter des Abfolutismus und bes Feudalismus alle Wege gebahnt
finden, um die Parteilüge für Recht und Wahrheit, Infolenz und
binterliftigen Angriff nody für Schonung auszugeben; während officielle
Lobredner der Gewalt verfihern, die Kreiheit der Aeußerung fei unbes
ſchraͤnkt, fobald man nur in einem Zone zu fchreiben wife, ber die
Pfiihten eines guten Bürgers nicht verlegt, ift die freifinnige Preffe
enfmeher gefeffelt oder in dem größeren Theile von Deutfchland ganz
geächtet.
Dazu fommt noch von andern Seiten der in Deutfchland vors
zugsweiſe einheimifche Fatalismus einer Traͤgheit, welche immer lieber
zufieht und abmartet, als durch einen muthigen, entſchiedenen Ents
ſchluß ſich blosſtellt; Lieber den beflehenden Zuftand, wenn man nidıt
perfönlich dabei leidet, gut und preißwürdig und die ganz unleugbaren
Gebrechen unvermeidlich findet, als für mögliche Verbefferung ein Opfer
bringt. Man bält es häufig ſchon für eine große Unparteilicykeit,
wenn man erflärt, man fühle fidy nicht berufen, weber ben Ankläger,
noch den Lobredner ber Regierungen zu mahen; man möchte zwar
nicht durchaus Alles rechtfertigen, was von Seiten bee Machthaber
geſchieht, man will auch nicht gerade behaupten, daß die jegige poli⸗
tifche Stellung ber beutfchen Natlon bie wärbigfte fe, ober man findet
726 Liberal, Liberalismus.
Kampf mit Waffen des Geiſtes zu fein, er ift ein Kampf ber mare
riellen Macht, der alle Waffen zu Gebot ftehen, gegen eine Partei,
welcher nur flumpfe Waffen noch zum Schein geblieben find, — en
Kampf, der eben deshalb mehr geeignet ift, bei denen, Die nicht prüfen,
Mißachtung und Gteihgältigkeit, ais Spmpathieen für die Sache con:
flitutioneller Freiheit zu ergeugen.
Wenn nun vollends die Pforten zur Macht den Liberalen vır
fchloffen oder nur um den Preis ber Apofkafie geöffnet Find; wenn bie
geringe Anzahl werkthätiger Liberalen, die, um nichts unverfucht zu
taffen, was die Ehre fordern koͤnnte, in hoffnungslofer Zeit neh
Schritt für Schritt das urkundliche Recht vertheidigen, von Indife
tenten und Ultraliberalen als beſchraͤnkte Köpfe behandelt werten:
wenn einer verleumdeten, duch numerifhe Gewalt zum Schweigen
gegwungenen Minorität, anjtatt des Troftes, die Wahrheit, obgleik
ohne Erfolg, gefprohen zu haben, nur die Genugthuung übrig bleibt,
das Bild ihres Wirkens und Wollens in cenfiten Blättern bis jur
Unfenntlicheit entſtellt zu fehen: fo ift von ſelbſt Mar, bag in Deutid:
land die Volksſache aud nicht auf jene Widmung aller Kräfte und
Gedanken rechnen kann, ohne bie fie überall nur kuͤmmerlichen Fort:
gang hat, und daß von einem blos noch in Drudfdriften von mehr
als zwanzig Bogen und auch hier nur unter poligellihen und gericht⸗
lichen Beſchraͤnkungen aller Art zum Wort kommenden Liberalismus
ihr fein fihtbares Heil erwachſen kann.
Wird aber diefes Alles zu dem von der Reaction gewuͤnſchten Bicle
führen? Oder muß, wenn vor der Hand bie Molle bes durch die
Gongresbefhlüffe von 1834 vollends niedergebrüdten Repräfentatie:
ſoſtems in den conflitutionell genannten deutſchen Staaten ausgefpiit
Liberal, Liberalismus. 727
wenig untergehen, als die Vernunft felbft untergehen kann. Das
Gefühl urfprünglicher Gleichheit der Rechte. von dem fid die Freiheit
naͤhtt, lebt in der Menſchenbruſt fo unvertilgbar wie die Stimnie des
Gewiſſens, und von allen gegen den Liberalismus vergebracten übeln
Nachreden ift Leine grundloſer ald die, mit welcher man befonders in
Deutfhland der Polemik gegen die Freiheitsbeftrebungen die Krone
aufzufegen meint: der Liberalismus fei eine Erfindung feichter Köpfe
oder hohler Sdeologie, ein Spiel mit willkuͤrlichen Abftractionen ohne
innere Wahrheit und Nothmwendigkeit, eine Sammlung unfruchtbarer
Augemeinheiten, gut, um den Pöbel eine Zeit lang zu beraufhen und
befchränkte Fanatiker zu wilder ieberhige zu entzünden; aber gleich
unfähig, organiſches Leben zu erfchaffen, wie organifches Keben zu
begreifen, önne er hoͤchſtens einen todten Mechanismus, nie eine
lebendige pofitive Weltordnung begründen.
Die Erfahrung widerſpricht denen, die folhe Behauptung aufs
ſtellen, und ihre eigene Sucht ſtraft fie Lügen. Denn dag im Kampfe
gegen ganz Europa bie franzöfifhe Revolution Ianue Beine fefte Geſtait
gewinnen Tonnte, und daß ber Zuftand Frankreichs heute noch ein
ſchwankender ift, daß in Polen und Itallen die Freiheit fremder Uetere
macht unterlag, daß ber Liberalismus in Spanien und Portugal,
unter ben Erſchuͤtterungen eines durch auswärtige Unterftügung genaͤhr⸗
ten Bürgerkriegs, über den ganzen unheilvollen Nachlaß eines duch
viele Menfchenalter fortgefegten geiftlihen und meltlihen Despotismus
nod nicht Here geworden, daß in Deutfcland die conflitutionellen
Formen ohne. das Wefen des Nepräfentativfgftems fruchtlos geblieben, —
dieſes Altes beweiſ't noch Feine Unfähigkeit des Liberalismus zu organifchen
Schöpfungen, fo wenig als es eine Unmacht oder ein Erloͤſchen des
organifhen Bildungstriebes in den Voͤlkern, melde fih ben Zeitideen
zugewandt, beiweif’t, wen der Affociationdgeift oft vergebens gegen den
noch uͤbermaͤchtigen Zunft» und Kaftengeift, das Princip der freien
Wahl gegen das Princip der Erblichkeit ankämpft und wegen bes
übermächtigen Widerſtands nichts Zeitgemäßes, Dauerndes geſtalten
ann. Gegründet auf das Lebensvolifte, Schöpferifchefte, mas es gibt,
die Freiheit, verlangt auch der Liberalismus keine tödtende, mechaniſche
Gleichfoͤrmigkeit, wenn er auf Anerkennung gewiſſer allgemeiner Gefege
deingt und, bei gleichen hiſtoriſchen Elementen und Grundlagen, bei glei
her Stufe der Intelligenz und Bildung, auch gewiſſe gleichartige polis
tifche Grundformen fordert. Eben fo wenig ift e8 ein Zeichen von Unfähigs
keit, die reiche Mannigfaltigkeit des realen Dafeins zu verftchen und
die Keime individuellen Lebens zu befruchten, wenn häufig noch der
Kampf um feine allgemeinen Principien die beften Kräfte des Liber
lismus in Anfpruch nimmt und ihm unmöglich macht, auch die befons
den örtlichen, gemeindlichen und provingiellen Intereſſen nady ihrer
Eigenthuͤmlichkeit gehörig zu berüdfichtigen. Endlich kann wohl auch
das nicht gegen den Liberalismus zeugen, wenn ben Fortfchritten, deren
ex ſich ruͤhmt, im andern Lebensfreifen und Culturgebieten Küdfcritte
728 Liberal, Liberalismus.
zur Seite gehen. Denn in dem ewigen Kreislauf von Werben un
Vergehen fteigt bie eine Reihe der Entwidelung, während andere falm,
und eine gleichzeitige Bluͤthe aller Lebenskraͤfte ift den Voͤlkern fo wenig
als den Individuen vergoͤnnt. Der Freiheit dürfte es daher nicht zuge
rechnet werden, wenn neben der wachſenden Macht bes politifchen Ee
ments bie Kraft religisfen Glaubens abgenommen Hätte, oder eine
Schwächung kuͤnſtleriſcher und poetifher Production bemerklich wir.
Gewiß iſt aber, daß die kuͤnſtlich unterbrüdte oder willkuͤrlich geſtick
Enttoidelung einer Lebensrihtung die welkende Bluͤthe einer ander,
deren Zeit einmal vorüber iſt, nicht mehr erfeifhen und verjüngen kann.
Und find denn die Leiſtungen des Liberalismus da, wo er in freiem
Bahnen ſich bewegt, fo unbedeutend? Wiegt im Verhältniß zur Gefammt:
entwidelung unferes Geſchlechtes die Freiheit fo leicht, daß in der Det
der Menſchenfreund Urſache hätte, die Herifchaft eines andern Geflims
zuruͤckzuwuͤnſchen? Iſt die beifpiellofe Zunahme ber Bevoͤlkerung und
des allgemeinen Wohlftands in den Ländern des nordamerikanifden
Freiſtaats für nichts zu achten? Fehlt es in England, wo ber Liber
ũemus nicht erſt von heute oder geftern iſt, ber Sreiheit an einem fe:
gefugten lebensvollen und lebenskraͤftigen Organismus? Haben Frant-
reich und Belgien ihrer jüngern Freihelt gar nichts zu verdanken, um
das man in Deutfchland Urſache hätte, fie zu beneiden? Stehen bir
wahren Repräfentatioftaaten den abfolut vegierten an Bluͤthe, Madıt und
Reichthum, an lebendiger Entfaltung jeder Nationalkraft nady? Und
haben nicht bie abfoluten Staaten felbft von dem Spfteme, daß fie anfein:
ben, bie reelifte Frucht geeentet, gerade weil fie von den Kämpfen, melde
feine Gegner jenem überall bereiten und dann wieder zum Werbreden
machen, frei geblieben find? Zwingt nicht bie Sucht vor dem Gefpmf
ber Revolution die abfoluten Regierungen zur Mäfigung in dem &:
brauche der Gewalt, zu abminiftrativen und materiellen Werbefjerungen,
* Siberal, Liberalismus. 720
Noch maͤchtiger und unbeſiegbarer muß aber ber Liberalismus
dann erfcheinen, wenn man ſich überzeugt, daß er nichts Anderes ift,
als ber auf einer gewiſſen Stufe menſchlicher Entwidelung nothwendige
Uebergang bes Naturftaats in den Rechtsſtaat. Wie es im Leben ber
Individuen eine Periode gibt, wo mit dem Erwachen eines höhern
Berußtfeins an bie Stelle des Inſtincts und ber Gewöhnung, des
Gehorfams und bes Glaubens, präfende Reflerion und eigenes Nach⸗
denen tritt, fo gibt es auch im Leben ber zu einer höhern Entwidelung
beftimmten Völker eine Zeit, wo fie das unabweisliche Bebürfniß fühlen,
ftatt des bewußtiofen Naturtriebs und gedanfenlofer Unterwerfung unter
eine beöpotifche ober hierarchiſche Gewalt zur Grundlage des Staats
das Recht, und zwar das unveränberliche, Allen gleiche Recht, welches
die denkende Vernunft ihnen offenbart, zu machen; und diefes Be—
dürfnig wirkt um fo unmiderftehlicher, je mehr der Naturftaat durch
den Mißbrauch der Gewalt entartet war. Der Liberalismus ift dem⸗
"nach keine blofe Theorie, wie man fo oft behaupten hört, und felbft
wenn er es waͤre, iſt denn das, womit man ihn bekämpft, iſt die
hiſtoriſche Anficht, iſt die Lehre des Herrn v. Haller, ift die Ableitung
alles Rechts auf Erben aus dem Sündenfall nicht auch eine Theorie?
Allein fowohl der Trieb nad Freiheit als bie Freiheitstheorieen find
Zolge eines natürlichen Entwidelungsproceffes, und gleich in feiner
erſten und gewaltigften Offenbarung, der franzöfiihen Revolution,
erfcheint der Liberalismus nicht als eine unbegreifliche Zulaffung Gottes,
fondern al8 eine natürliche Reaction des politiſchen Lebens gegen despo⸗
tiſche und hieracchifche Lebensunterbrüdung. Ohne biefe Reaction
mürben bie europäifhen Wölker einer allgemeinen Auflöfung entgegen:
gehen, und das Geſchick des roͤmiſchen Weltreichs müßte ſich an ihnen
wiederholen. Aber die noch unerfchöpfte Lebenskraft der Völker erzeugte
nah einem geiftigen Naturgefeg bie Revolution, und dieſe mußte,
gleichfalls nad, einem Naturgefeg des Geiſtes, die neue Zeit eröffnen
mit ber ſchroffen Gegenäberftelung von Exitemen, bie erft allmdlig
toieber ſich ausgleichen konnten. Sogar in feinen Ausfchweifungen iſt
demnach ber Liberalismus das Ergebniß natürlicher Gefege des Geifters
lebens, und welch’ einen befchränkten Begriff vom Leben der Natur
und ber Geſchichte müffen daher dlejenigen haben, welche beftändig
von natürliher und geſchichtlicher Entwidelung reben und doch den
Liberalismus als eine natuͤtliche Entwickelung des gefchichtlichen Lebens
nicht begreifen wollen! Wie engen Gelſtes, ober wie verbiendet und
befangen muß man fein, um glauben zu koͤnnen, das, was feit einem
halben Jahrhundert bie europäifche Menfchheit bis in ihren tiefſten
Srund beivegt, was ganze Völker mit elektriſcher Gewalt ergreift und
au ben höchften Kraftanſirengungen begeiftert, fei eine in ben Lüften
fhwebende Metaphyſik, und ein fo gewaltiges Clement koͤnne, von
der Weltgefjichte einmal in ſich aufgenommen, durch menſchliche
Anftrengungen wieder vernichtet werden! Wie twiderfprechend klingt es,
wenn man ein tiefer Kenner der Geſetze bes Entſtehens und Vergebene
730 Liberia.
in ber Weltgefchichte fein, — und doch nur das Gemorbene, nicht mt
das Werdende in feinem hifterifhen Zufammenhang durchſchauend —
den freifinnigen Ideen die Lchensfähigkeit abfprechen will, teil fie ac
eine Ausgeburt des modernen Zeitgeiftes feien !
Eben weil die freifinnigen Ideen Erin todtes Erbftüd aus derr
kenen Jahrhunderten, fondern der lebendige Ausdrud des Zeit
find, und weil die herefchenden Gedanken jedes Zeitalter deffen geftit::
ticher Kebensentwidtung ihre Richtung geben, ift der Liberalismus ur
Mörbar. Er ift die Ruͤckkehr zu den Grundfägen bes verndnfin
Rechts, bie denkende, bemußte Freiheitsliehe, bie mit dem Heranıc'n
der Völker zur Mündigkeit, zum Selbftdenten und Selbfthanden. ft
entwickelt, und mit Naturgewalt verlehte Formen und verjährte Zt
bricht. Mir die Geſtirne ftetig ihre Bahn verfolgen, duch wenn Au he
ummölftem Himmel einem Auge fichtbat ſind, fo fchreiten, end
von dem Hauch der Freiheit angeweht, die Geifter imaufhaltfem mr
märts, wenn auch Snftitationen und Gefege jeitweis rüchtdets fir
Die Ideen des vermünftigen Rechts etwachen immer wieder, um hr
Freiheit findet, wenn aud noch fo oft zurüdgebränge, nad al
Zäufhungen, die fie bereitet, mac allen. Opfern ,- die" fie auferes
doch immer wieder im der Bruft der Völker einen Mitderhall. Des
die Freiheit iſt jegt eine Nothmwendigfeit geworden, und Feine menfdlit
Gewalt darf hoffen, jene weltbewegenden Ideen zu erſticken, die Ike
Weg durch alle Henmmniffe und Schranken finden werden, bi fe
Bahn, bie eine höhere Hand gezeichnet hat, durchlaufen iſt.
i
Liberia. — Das Negerſklaventhum in den Belt
von Nordamerika und die harten Maftegeln, welche man dort Iüt
Liberia. 131
bigen fei in der amerikaniſchen Staatögefelfchaft eine ſelbſt noch unguͤn⸗
ftigere, als. bie der Sklaven. Auch behauptet man, daß fie von ihrer _
Sreibeit Beinen fehr lobenswerthen Gebrauch machten; nur bie Affen
der Aeußerlichkeiten der Weißen feien, bagegen jede angefttengte Arbeit
fcheueten, hoͤchſtens als Bebienten, Boten, Marqueure dienten, am
Liebften fi) dem Muͤßiggange ergäben und biefes allemal thäten, ſobald
fie nur Brot für ben naͤchſten Tag hätten. Ja, recht ehrenmwerthe
Männer find der Meinung, die ganze Rage, um mid; diefes wibders
lichen Ausdrucks zu bedienen, fei einer höheren Entwidelung unfähig ;
fie fei, wie man fie am Härteften bezeichnet hat, nur eine edlere Art
von Affen, milder ausgedrüdt, eine unvollfommen oraanifirte Mens
fhengattung. Darüber fpdter. ebenfalls find diefe Menſchen eine
große Laft und eine furchtbare Gefahr für die Vereinigten Staaten, und
nit das mag das geringfte Webel des Zuſtandes fein, daß er, wie
allemal eine Gewaltherrfchaft, auch auf die herrfchenden Glaffen demo⸗
ralifivend gewicht, ‚fie zu folhem Daß, ſolcher Grauſamkeit, folder
Beratung menfhlicher Weſen und zu allen Vorurtheilen des Far⸗
benftolzes geführt hat. Um fo achtungswuͤrdiger find unter dieſen Ums
ftänden die Bemühungen edler Amerilaner, auch diefen verachteten Un»
gluͤcklichen ein beſſeres Loos zu bereiten, und biefe Abficht hauptfächlich
ift für bie Stiftung dee Colonie Liberia in's Auge zu Yaffen. Denn
die vielleicht anfänglich gehegte Hoffnung, auf biefem Wege eine frieds
liche Ableitung ber Gefahr zu ermitteln, bat man wohl frühzeitig
aufgegeben; erfennend, daß es nicht möglich fei, eine der jährlichen
Zunahme ber Sklaven entfprechende Ueberfiebelung befteiter Farbigen
zr bewirken.
Unter mehreren Geſellſchaften, die zur Verbeſſerung des Zuſtandes
der Neger zu wirken ſuchten, zeichnet ſich die Colonization Society
aus, welche fich zu Anfang des zweiten Decenniums dieſes Jahrhun⸗
bertö bildete und den Gedanken faßte, die Neger in ihr Stammland
zurücdzuführen, da man baran verzweifelte, fie im Gonfliete mit ber
ſtaͤrkeren Civilifation der Meißen und den Worurtheilen der Lebteren
gedeihen zu fehen. (England hatte durch die Stiftung von Freetown
ein Beifpiel bazu gegeben.) Man Eaufte zu diefem Ende 1821 einen
Landftrih in Oberguinea auf ber Weſtkuͤſte von Afrika, ſuͤdlich von
Sierra Leone, bei dem Cap Mount oder Mefurado, der fih zum Cap,
Sallinas erftredt und ſowohl durch alle Annehmlichkeiten des Klimas,
ald durch eine hohe Fruchtbarkeit des Bobens unterftügt if. Bereits
1822 wurden bie erften Anfiedler, unter Leitung bes Dr. Apres, dorthin
geführt, und 1824 verlieh man bem Gebiet den bezeichnenden Namen
Liberia; erweiterte es auch durch Anfauf eines Küftenflrihe von etwa
150 englifhen Meilen. Die Golonie hatte glei Anfangs mit Krank
heiten, welche wenigſtens den Weißen gefährlich waren, und noch mehr
mit der Feindſchaft der benachbarten eingeborenen Stämme zu kaͤmpfen.
Um ihre erfte Befeſtigung machte ſich in dem erften ſechs Jahren befons
ders der amerilanifche Agent Jehudi Aſhmun verdient, welcher bie
‚782 bgweria.
hoͤchſte Auctoritaͤt ausübte, während alle üͤbrigen Beawmtenſtelen kt
Mahl von Seiten bes Volks befegt wurben. Unter feinem Ci
organifirte man einen lebhaften Handeleverkehr mit ben benudkm
Stämmen, nadjdem man bdiefelben mehrfach energifch gezuͤchtigt ka
Der Handel der Colonie ift durch den großen, fchiffbaren St. Jebech
und andere Ströme, ſo wie durch die reichen Ertraͤgniſſe des fr
begünftigt, und bald rüftete diefelbe eigne Handelsfahrzenge aus. 8:
erbaute bie zu Ehren bes Präfidenten Monroe Moneovis ker
Stadt, fo wie Caldwell, Neugeorgien, Edina und Millsburg. mie
dürfte die Zahl der bis jest aus Amerika nach Liberia übergifige
Farbigen nur wenig über 2000 betragen, und damit mwenigkeit
Seite des Plane, wonach man von ihm eine günftige Rüdzite
auf Amerika erwartete, als trügerifch erfannt worden fein. Dat sw
nichts ausmachen; wenn nur bie Menſchen, die man in dieſe Zufet
ftätte retten kann, ſich beffer befinden. Wie Wenige es im Bas
zu fo vielen Leidenden fein mögen, ber edle Menfch thut menistn
was er Tann, und es iſt nicht minder Iohnend, den Einen ju mr.
wenn auch Yaufende neben ihm untergehen. Indeß fo weit bis ik:
Nachrichten von Liberia reichen, ſcheint ſich wenigſtens fo vie hrs
zuſteilen, daß es noch Beine Ausſicht gibt, durch ſich feibft ker
zu koͤnnen, und daß fein Flor, ja feine wiederholt von feines
Stämmen gefährlich bedrohte Eriftenz von dem Schuß und ber Ir
ftügung abhängig find, die ihmen von Außen her gebracht mer
mögen. Man bat auch hier die Bemerkung gemacht, daß diefe Ist
am MWenigften zum Aderbau Luft zeigten, und daß man fie, mi
auf den Landbau zu verweilen, wenigſtens von ben Küften rm
mußte. Mehr Neigung verriethen fie für den Handel und haupt
für bie mechfeinde apätigkeit eines gefhäftigen Müßigganges, ms
Liechtenſtein. 783
und andern Voͤlkern des füblichen Afrikas nicht fo unguͤnſtig beant-
wortet wird. ebenfalls ift e8 eine Anmaßung, aus jener Unfähigkelt
ben Schluß zu ziehen, daß fie gerade fchlechter, fintt: daB fie anbers
organffirt, zu Anderem berufen find, als wir. Einzelnes, namentlich
ihre Sucht bes Sklavenhandels, iſt allerdings von der Art, baß es mit
keinem Begriff von Civilifation verträglich if. Aber wird nicht der
Sklavenhandel erft durch den Antheil, den Europder daran nehmen,
möglich gemacht? Haben wir keine Seelenverkäufer in Europa gehabt?
War es nicht blos eine andere Form berfelben Handlung, mas deutfche
Fuͤrſten noch im vorigen Sahrhuberte mit zufammengepreßten, in den
ploͤtzlich gefchloffenen Kirchen zufammengepreßten Soldaten vornahmen ?
Hat der SHavenhandel, das SHavenwefen nicht lange Jahrhunderte bei
hochgebilbeten Völkern Europas und Aſiens, bei den Urvaͤtern unferer
Givitifation beftanden? Haben mir nicht unfere Eroberungstriege mit
Sengen und Brennen und Hinmorden von Tauſenden, bat nicht der
Katholicismus feine Inquiſition, der Proteſtantismus feine Hexenproceſſe,
hat nicht ber Despotismus feine Schaffotte und feine Feſtungen und
die Revolution ihre Guillotinen und ihre vepublicanifchen Hochzeiten
gehabt? Wird nicht eine fpätere Zeit fo Manches, was bei uns beſtan⸗
den hat, oder noch beiteht, und das uns nur deshalb nicht auffällt,
weil wir uns daran gewöhnt haben, und meil es in aͤußerlich rechtlichen
Formen auftritt, für nicht weniger inhuman erklären? Wäre es nicht
möglih, daß Afrika auf anderen Wegen, als bie zeither verfuchten,
von feinen ſchlimmſten Geißeln befreit würbe, und daß fich ein Zuſtand
in ihm begründete, der zwar nicht durch unfere Erfindungen und unfere
Bücherweisheit glänzte, wo aber dem Lichte weniger Schatten, dem
Gluͤcke weniger Elend beigefellt wäre, die Menfchen fanfter und lebender
mit einander lebten, einfacher und inniger an der Bruft der Natur
hingen und die Derzen Eindlicher zu dem großen Allvater auffchlügen?
Ueber Liberia geben übrigens die Jahresberichte der betreffenden
Geſellſchaft nähere Auskunft; fo wie: Inne, Liberia. Edinburgh, 1831;
Carrey, on the colonization Society etc. Philadelphia‘, 1833;
Jay, inquiry into the character and tendency of the American
colonization and anti-slavery Societies, New-York, 1835.
Bülau.
Liehtenflein, fouveränes Fuͤrſtenthum, der Heinfte der deut⸗
(hen Bundesſtaaten, iſt wefllih vom Canton St. Gallen, ſuͤdlich vom
Canton Graubuͤndten und Öftli vom Vorarlberg begrenzt; es umfaßt
24 Qundratmellen mit ungefähr 7000 Einwohnern in 11 Ortfchaften
(morunter der Hauptort, Markt Vadutz, jest Liechtenflein, mit
altem fürftlihen Schloß), die meift von Feld⸗ und Weinbau, Vieh:
zucht und Forſtnutzung leben. Das Land iſt bergig und maldig und
zum Theil rauh; der Länge nad) befpült es ber noch junge Rhein,
und hohe Schneeberge umftehen es im Süden. Der Landvogt in
Vadutz nebft einem Rentmeifter verwalten das Fuͤrſtenthum. In
Civil: und Criminalfachen fteht das Oberamt in zweiter Inſtanz unter
734 —
der fürfihen Gaza iz Ben. mer bie weise Beuen;
tageb; in ir Pirnarserlammiung bx e tie 25. 2
Vıritftimme. Sein Bentesernungent bemäss 55 Riem, ki
3. Dieiſita bes 8. Armecırps Foien. Pie Erntica to jie
thums betragen 17,005 Gun.
Schon im Jabt 942 ırife man auf Ahnberzen det Dacia ie
tenftein, das unbefkritten ben deflen adelichen Grat:
Siterreicufden Ertiande gehört und in Diefen große Beripumgrm aaa
hat. Nach dem Tode Harimann's VI. (seit. 1585; teein die
Soͤhne Kari und Gundaccar, Herren von Liechtenüen, mr
ihren Vater wieber vereinigt geweſenen Befigungen dee Das
murden, Karl 1618, Gundaccar 1623, von dem Kir zr
erblichen Reicsfürftenwürde bekleidet. Karl erlangte 1614 w:
Matthias das Fuͤrſtenthum Troppau und 1623 don Kaifer Zr
d16 Fuͤrſtenthum Jaͤgerndorf, beide in Edleften. ein Exk.
Johann Adam Andreas erkaufte 1699 von ken Ge—
Hobenembs die reichsunmittelbate Grafſchaft Vadus nebi ie
fd;aft Schellenberg und erlangte auch ein fürftliches Worum ım =
bifdpen Kreiſe. Da er 1712 flarb und die mdnnliche Nadtigw
Garolinifhen Linie mit ihm erlofh, fo fielen die fänemtlicde ke
an die damaligen Häupter der beiden Aeite der Gumdaccaz'ic
nämlidy an Johann Anton Florian (Enkel Gundaccm) #
Joſeph Wenzel (Urenkel Gundaccar’s). Erfterer erbte das io
fteinifche Majorat, Legterer die unmittelbaren Graf» umd Dackt
Vaduz und Schellenberg, verkaufte fie jedboh nachher am den PR
Liechtenfteim 785
Theil bee Güter des Haufes zugefchrieben worden. Franz Joſeph
ſtarh 1781, und fen Sohn Aloys Joſeph (geb. 1769) 1805,
worauf des Lesteren Bruder Johann Joſeph (geb. 1760) als
„Fuͤrſt und Regierer des Hauſes“ folgte. Letzterer hat fih in ber
oͤſterreichiſchen Geſchichte einen ehrenvollen Namen als muthiger und
einfichtsvoller Kriegsführer und als Diplomat erworben; fo durch bie
Eroberung ber Seftung Coni (1799), in vielen Schlachten gegen Frank⸗
reich, bis zum zweiten Wiener Frieden, und als erſter oͤſterreichiſcher
Bevollmaͤchtigter zu den Friedensſchluͤſſen von Preßburg (1805) und
von Schoͤnbrunn (1809). Bei Schoͤpfung des rheiniſchen Bundes war
Johann Joſeph, ohne fein Wiſſen und Verlangen, in denſelben
aufgenommen worden; doch hatte er die ihm zugedachte Souveraͤnetaͤt
für feine Perfon nicht angenommen, fonbern das Fuͤrſtenthum Liech⸗
tenftein mit der Sowveränetät feinem dritten, bamals nur dreijährigen
Sohne Karl beſtimmt: ein Verhaͤltniß, welches mit ber Auflöfung
bes Rheinbundes (1813) fi endigte. Nah Johann Joſeph's,
am 20. April 1836, erfolgten Tode folgte ihm in ber Regierung fein
ältefteer Sohn, der nunmehrige Kürft Aloys Maria (geb. am 26. Mai
1796), vermählt am 8. Aug. 1831 mit Franziska de Paula, bes
Srafen Franz Joſ. v. Kinsky Tochter, aus welcher Ehe mehrere Kinder
vorhanden find. — Die Religion ber Zürften von Liechtenftein ift die
katholiſche; deren regelmäßiger Wohnfig: Wien. — Außer Liechtenflein
befigt der Kürft anfehnliche Fuͤrſtenthuͤmer, Herrfchaften und Güter in
Deftereeih, Böhmen, Mähren, Ungarn, Steiermark und in der Laufig.
Sie übertreffen an Umfang, Einwohnerzahl und Einkünften bei Wei⸗
tem denjenigen Theil feiner Befigungen, welche ihn zum deutfchen Sous
verän und Mitglied des beutfhen Bundes mahen. In den mittels
baren Gütern iſt dee Kürft öfterreichifcher Vaſall, und wegen Troppau
und Jaͤgerndorf Sfterreichifcher und preußifcher Stanbeshere. Der Titel
des Fuͤrſten von der regierenden ober Sranzifchen Linie lautet: „Von
G. Sn. (fouveräner) Fuͤrſt und Regierer des Haufes Liechtenflein, Herr
zu Nicolsburg, Herzog zu Troppau und Jaͤgerndorf, Graf zu Miet
berg.’ — Die jüngere (Karlifche) Linie, mit dem zweiten Dajorate des
Hauſes dotiert, zu welchem die Derefchaften Großmeſeritz und Zhorz in
Mähren, nebſt andern Gütern gehören, bat gegenwärtig zu Ihrem Haupt
den Fuͤrſten Karl Borromaͤus (geb. 23. Det. 1790), 8. k. oͤſterr.
Kämmerer, General» Major und Brigadier in Nieberöfterreih (Wien).
Fuͤrſt Johann Joſeph hatte den Verhandlungen des Wiener
Congreſſes durdy feinen Gefandten beigewohnt und war ber Wiener Buns
desacte (8. Juni 1815) beigetreten. Um ben 13. Art. dieſer Acte zu
„erfüllen ,”' ertheilte der Kürft am 9. Nov. 1818, datiert Eisgrub, fels
nem Fuͤrſtenthume eine „Werfaffung*).” Ex erklärte im $.1 ders
*) Sie ift vollſtaͤndig abgebrudt in der Allgem. Beitung vom 9. u. 10.
Februar 1819; ſodann in: „Die Gonftitutionen der europäifchen Staaten feit
den legten 25 Jahren.“ Leipz., 1820, 3. Thl., S. 483, und in deren neuges
ordneter, berichtigter und ergänzter 2. Aufl, unter bem Titel: „Die europäis
der Geifttichtett werden alle Beſiter geiftlicher &
gebe Sommeniken Sgefin. „Diesen
ehtheit Stimmen aus ihrer Mitte auf Lebı
putirte, und zwat zwei für die Geiſtlichkeit der Graf
einen für jene der Graffchaft ftel
ar au Waduit zur —— ne *
geifttichen Vfründe ftgen!
ſteuerung untertworfenes Bermigen { Gulder
einem ſolchen E— zu den Rand
teägt, ein auf die (68) €
fdaft wird die n ober Ric,
Ancht der Ensfanäphufe Bde aber an ae Beige
en
ie ihre Perfon einen Steuerſat von 2000 Gulden
ale, von unbefholtenem ımd unelgen!
und verträglihjer Gemüthsart find. 4.)
Lanbftänden foll in alten amtlichen L
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Liechtenſtein. 737
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Uns behalten, fondern lediglich jene Ausgaben darunter
begreifen werden, welhe zur inneren Verwaltung und
ruͤckſichtlich der Außeren Verhältniffe erforderlich ſind,
fo Haben Unfere getreuen Stänbe fih nur über bie Ein-
bringlichkeit der poftulirten Summen zu berathfchlagen
und dafür zu forgen.” Alle liegende Beſitzungen follen, ohne
Unterfchteb des Eigenthümers, nad einem gleichen Maßſtabe in bie
Steuer gezogen werden ($. 12). Jedem Landflande ift die Befugniß
eingerdumt, auf dem Landtage Vorfchläge zu machen, die auf das
allgemeine Wohl abzielen. Dem Fürften fleht jedoch Über den
darüber erfolgenden Landtagsbeſchluß das Recht der Genehmigung oder -
Verwerfung zu ($. 13). Diefe Vorfchläge dürfen aber folhe Gegen:
ftände nicht betreffen, die entweber, gemäß Urbarien, oder altherge:
brachter Uebung, die fürfllichen eigentlichen Dominicalgefälle oder bie
Privatrenten betreffen, „well fie” (wie die „Verfaſſung“ bemerkt),
wenn fie gleich den Namen von Lanbesregalien führen,
gleihwöhl Unfer Privateigenthum find, das außer dem Wir-
kungskreiſe ftändifcher Befugniffe liege” (6. 14). Der $. 15 Tautet
dann woͤrtlich: „Dagegen geben Wir aber Unferen getreuen Unterthanen
Unfere gnädigfte Werfiherung, daß Wir bei Einführung neuer
allgemeiner Abgaben, in wie welt fie nur aus der Landeshohelt
gerechtfertigt werden koͤnnen, benfelben alfo fein Dominicaltitel zum
Grunde liegt, bie ftändifhe Berathbung vorausgehen Laffen,
und ihnen in gerechten und billigen Fällen Unſere hoͤchſte
Genehmigung nit verfagen werben.” Der $:16: „Vor⸗
ſchlaͤge im bürgerlichen, politifhen und peinlihen Fade
tönnen Wir aus dem im $. 1 fhon vorgdtommener
Grunde, und Vorfhäge, die äußeren Staatsverhditniffe
betreffend, Dürfen Wir, wegen des nöthigen Miteinvers
fländiffes mit anderen mädtigeren deutfhen Staaten,
Unferen getreuen Ständen nicht erlauben.” Die abfolute
Mehrheit ber Stimmen der am Landtag gegenwärtigen Stände bildet
einen Landtagsbefchluß, welcher durch Die fürfllidhe Genehmigung Ge⸗
ſetzeskraft erhält ($. 17). Die Ertheilung der „Verfaſſung“ wurde
hierauf vom Fürften der deutſchen Bundesverſammlung angezeigt (Prot.
dev B.⸗V. von 1819, 9.4). — Die Stände follen alfo Vorſchlaͤge
machen dürfen, bie auf das allgemeine Wohl abzielen, aber
diefe Berechtigung ift dann wieder fo modificirt, daß jene Vorſchlaͤge
faft nichts, als gerade bie unbedeutendflen Vermaltungsangelegenheiten
zum Gegenftande haben können. Noch unbebeutender iſt der Einfluß
der Stände auf's Steuerweſen, mo ſelbſt bei Einführung neuer
allgemeiner Abgaben bios ein berathendes Votum Ihnen zu⸗
getheitt ift. — Dagegen herrſcht in $. 16, in Bezug auf die aͤußeren
Verhaͤltniſſe, eine Naivetaͤt und Aufrichtigkeit, welche Anerkennung
verdient. — In den „Eonflitutionen der europdifchen Staaten feit ben
legten 25 Jahren” (vgl. die Note) heißt es: „Wenn gleich hreim Inhalte
Staats sEeriton, IX, . 47
‘
im Cum
faftem tes deurfhen Bundes fehlen.” — Dazu Die geographiide Kim
heit des Staats, ber, von einer greßartigen und gewaltigen Rx
umgeben, mebe in jemer, als in biefer bie Anhaltspumcte feiner Eis
kürgerlihen Inflitutionen geiucht zu haben fcheint.
Den Behandlungen, meihe ter Biene E hlußacte Verausginge
hatte Für Johann Jofeph duch feinen mit andern Bram
deueihen Fuͤrſten gemeinfhaftlihen Bevollmächtigten beigemetz =
mar ihe (am 15. Mai 1820) beigetreten. Kart Bukkı
efland, f. DRfer-Proningen.
Lineal-Succeffion, f. Succeffion.
Lippe, Gürftenthum, vormals Stafſchaft des rheinifs:mi
phdlifhen Kreiſes, auch Lippe-Detmold genannt, im Gaais
von Schaumburg-Lippe oder Lippe-Büdeburg, mir mie
Namen der im Befise einer jüngeren Linie des lippifchen Hat
befindliche Theil der vormaligen Graffchaft Schaumburg bezeihert =e
Die Grafen und Edlen Herren zur Lippe, mie lin
nennen pflegten, indem fie bie letztere Rangbegeichnung höher a a
Grafentitel anfhlugen, führen ihren Urfprung bis im’s 10. Jahckate
zuch@. Die Wiege diefes alten Dymaftengefchledyes ift am der sen
Lippe, von welchem Fluſſe der Name entlehnt worden, Unter fir
Ahnherren hat ſich zuerft Bernhard IL, ein ausgezeichneter Fate
Heintich s des Löwen, in der Geſchichte einen Namen erworben. It
einem vielbewegten thatenteichen Leben trat er noch im Hohen Ir
Lilberal, Liberalismus. : 729
Noch mächtiger und umbeflegbarer muß aber ber Liberalismus
dann erfcheinen, wenn man fidy überzeugt, bag er nichts Anderes ift,
als der auf einer gemiffen Stufe menfdhlicher Entwidelung nothwendige
Uebergang des Naturftaats in den Rechtsſtaat. Wie es im Leben ber
Individuen eine Periode gibt, wo mit bem Erwachen eines höhern
Bemußtfeins an bie Stelle des Inſtincts und der Gewoͤhnung, des
Gehorfams und des Glaubens, prüfende Neflerion und eigenes Nach⸗
denken tritt, fo gibt es auch im Leben ber zu einer höhern Entwidelung
beftimmten Voͤlker eine Zeit, mo fie das unabweisliche Beduͤrfniß fühlen,
ftatt des bemußtlofen Naturtriebs und gedankenloſer Unterwerfung unter
eine bespotifche oder hHierachifhe Gewalt zur Grundlage des Staats
das Recht, und zwar das unveränberlidhe, Allen gleiche Recht, welches
die denkende Vernunft ihnen offenbart, zu mahen; und biefes Be⸗
dürfniß wirkt um fo unmiderftehlidher, je mehr der Naturſtaat durch
den Mißbrauch ber Gewalt entartet war. Der Liberalismus iſt dem:
"nach keine blofe Theorie, wie man fo oft behaupten hört, und felbft
wenn er es wäre, ift denn das, womit man ihn befämpft, ift bie
hiftorifche Anſicht, iſt die Lehre bes Herrn v. Haller, ift bie Ableitung
alles Rechts auf Erden aus dem Sündenfall nicht auch eine Theorie?
Allein fowohl der Trieb nad) Freiheit als die Freiheitstheorieen find
Zolge eines natürlichen Entwidelungsproceffes, und gleich in feiner
erſten und gemaltigften Dffenbarung, der franzöfifchen Revolution,
erfcheint der Liberalismus nicht als eine unbegreifliche Zulaffung Gottes,
fondern als eine natürliche Reaction des politifchen Lebens gegen despo⸗
tifhe und hierarchiſche Lebensunterdrüdung.. Ohne biefe Reaction
würben Die europäifhen Voͤlker einer allgemeinen Auflöfung entgegen-
gehen, und das Geſchick des roͤmiſchen Weltreihs müßte ſich an ihnen
wiederholen. Aber die noch unerfchöpfte Lebenskraft der Völker erzeugte
nach einem geifligen Naturgefeg die evolution, und dieſe mußte,
gleichfalls nad, einem Naturgefeg des Geiftes, die neue Zeit eröffnen
mit der fchroffen Gegenüberftellung von Ertremen, bie erſt allmälig
wieder ſich ausgleichen Eonnten. Sogar in feinen Ausfchweifungen iſt
demnach der Liberalismus das Ergebnig natürlicher Geſetze bes Geiflers
lebens, und welch' einen befchränkten Begriff vom Leben ber Natur
und der Geſchichte müffen daher ;diejenigen haben, welche beftändig
von natürliher und geſchichtlicher Entwidelung reden und doch den
Liberalismus als eine natürliche Entwickelung bes geſchichtlichen Lebens
nicht begreifen mollen! Wie engen Geiftes, oder wie verblendet und
befangen muß man fein, um glauben zu koͤnnen, das, was feit einem
halben Sahrhundert die europäifche Menfchheit bis in ihren tiefften
Grund bewegt, was ganze Völker mit elektrifcher Gewalt ergreift und
zu den hoͤchſten Kraftanftvengungen begeiftert, fei eine in ben Lüften
Thwebende Metaphyſik, und ein fo gewaltiges Element koͤnne, von
der MWeltgefchichte einmal in fi aufgenommen, durch menfchliche
Anftrengungen wieder vernichtet werden! Wie widerfprechend klingt es,
wenn man ein tiefer Kenner der Geſetze bes Entftchens und Vergehens
N mac 5 üben‘
J
—
- Sippe = Detmold. 739
einen großen Theil von Weftphalen, insbefonbere auch die Iippifchen
Lande, gänzlich verwuͤſtete, die Städte Lippſtadt und Soeſt jebody vers
gebens belagerte.
Das im Jahre 1445 rüdfichtli der Stadt Lippftabt vereinbarte
Condominium befteht bis zum heutigen Tage fort. Die den vorma⸗
tigen Strafen zur Mark eingerdumten Miteigenthumsrechte "gingen nach
der Theilung der jülichsbergfchen Exrbfhaft auf das Haus .Bran-
denburg über. Duch einen im Jahre 1819 zwifchen den beider:
feitigen Regierungen errichteten Staatsvertrag find die Verhaͤltniſſe der
Stadt von Neuem georbnet worden. Darnach gelten zwar bafelbft die
preußifchen Gefege; in allen übrigen Beziehungen find aber die Rechte
beider Stammthronfhaften ganz gleih. Die Anftellung ber Beamten
gefchieht gemeinfchaftlih, und die eingehenden Steuern werden getheilt.
Nur die Recruten hat Lippe für eine beftimmte Reihe von Jahren an
Preußen überlaffien, wo hingegen letzteres einen verhältnigmäßigen Theil
des lippifchen Bundescontingents zu ftellen übernommen bat.
Außer Lippftadt befist das lippifhe Daus an dem 'Lippefluß
nur noch zwei Meine von Preußen reclamirte Gebietstheile, naͤmlich
das Amt Lipperode und bas Stift Cappel. Daſſelbe hatte fchon
in aͤlteſter Zeit mehr oflwärt® zwilchen der Wefer und dem Teutoburger
Walde, in bem jegigen Fürftenthum Lippe, feſten Fuß gefaßt, wo es
im 14. und 15. Jahrhunderte zu feinen Stammbefisungen auch die
Grafſchaften Schmwalenberg und Sternberg hinzu erwarb.
Das Tippifhe Haus blühet gegenwärtig in zwei Dauptlinien,
ndmlih: Lippe oder Lippe: Detmold und ShaumburgsLippe
oder Lippe-Büdeburg. Die erftere Dauptlinie hat wiederum zwei
apanagirte Nebenlinien: Lippe: Diefterfeld und Lippes Weißen»,
feld, welche ſich weit verzweigt und nach mehreren Seiten bin vers
breitet haben.
Der naͤchſte gemeinfchaftliche Stammvater aller jest lebenden Fuͤrſten
und Grafen zur Lippe ift Simon VI., welcher nad) einer 5Ojährigen .
ruhmvollen Regierung im Jahre 1613 mit Hinterlaſſung von vier
Söhnen verftarb. Derfelbe hatte das bereits 1368 in feinem Haufe
grundgefeglich eingeführte Primogeniturreht im Jahre 1598 vom
Kaifer Rudolph IL. beftdtigen laſſen, errichtete jeboc vier Juͤhre
fpdter ein Teſtament, worin er, unbefchadet der dem älteften und erſt⸗
geborenen Sohne zuftehenden Landeshoheit und Regierungsgemwalt, den
nachgeborenen Söhnen gemwiffe Däufer oder Aemter zu ihrem ſtandes⸗
mäßigen Unterhalt vermächte. Diefes Simon’fche Teſtament ift die
Quelle endlofer Streitigkeiten und Iandverderblicher Proceſſe geworden;
kaum dürfte ein anderes deutfches Fuͤrſtenhaus den vormaligen Reiches
gerichten fo viel Arbeit verurfacht, zugleich aber auch ben Publiciften
1 ie Stoff zu flantsrechtlihen Eroͤrterungen geliefert haben, als das
pifche. |
Bon den vier Söhnen Simon’s VI. fliftete der aͤlteſte,
Simon VIL, bie regierende Hauptlinie zu Demi, der zweite,
er
—
| j - j 5 | i . peter vor!
730 Eippe- Detmold. ꝓ
Otto, bie Nebenlinie zu Brake, der dritte, Hermann, verftarb
bald nach des Vaters Tode Pinderlos, und der vierte, Philipp, ward
der Stammvater der alverbdiffifchen, fpäter fchaumburg « lippifchen
Linie, welche noch gegenwärtig zu Büdeburg fortblüht. Der Lestere
gelangte durch ein Bufammentreffen glüdlicher Umftände zum Befige
eines Theils der vormaligen Graffhaft Schaumburg. Als nämlich im
Jahre 1640 Graf Otto VI. von Holftein-Schaumburg, ber Letzte feis
nes Geſchlechts, verftorben war, machte neben mehreren anderen Erb:
fhaftsprätendenten auch deſſen Mutter, eine geborene Gräfin zur Kippe,
Anfprühe auf den Nachlaß und übertrug ihre Rechte auf ihren jüngften
Bruder, den Grafen Philipp jur Lippe. Den Bemühungen deffelben
gelang e8, nach mehrjährigen Unterhandlungen Im Jahre 1647 einen
im Artikel XV bes meitphälifchen Friedens beſtaͤtigten Vergleich zu
Stande zu bringen, vermöge melches die Graffhaft Schaumburg,
nachdem einige Aemter an Hannover abgetreten waren, zwiſchen
Heffen:Caffel und dem Grafen Philipp zur Lippe getheilt wurde,
jedoch fo, daß Letzterer die Eeinere- Hälfte erhielt und diefe von Heſſen
zu Lehen tragen mußte. Diefer Iippifche Thell ber vormaligen Graf:
(haft Schaumburg bildet das jesige Fuͤrſtenthuum Schaumburg:
Lippe, welches nicht nur geographiſch von dem Fürftentbum Lippe
völlig getrennt iſt, ſondern aud fo menig hiſtoriſch als politiſch mit
bemfelben in icgend einer Beziehung fteht.
Die vom zweiten Sohne Simon's VI. geftiftete brakiſche
Mebenlinie, melche vier lippifche Aemter im Paragialbefig hatte, er:
lofh im Sahre 1709. Die Theilung Ihres Nachlaffes veranlafte zwi:
[hen der regierenden Hauptlinie zu Detmold und der jüngeren Linie
zu Büdeburg den heftigften Streit, welcher fi) über ein Jahrhundert
fortgefponnen und erſt neuerlich durch zwei ergangene Austrägalerkennt:
nifje feine endliche Erledigung erhalten hat. Der Fürft zu Schaum:
burg⸗Lippe befaß aus dem brakiſchen Nadlaffe das Amt Blom⸗
berg; er behauptete aber, daß feine Linie bei der Theilung diefes Nach⸗
laſſes verkürzt fei, weshalb er noch zwei andere Iippifche Aemter in
Anſpruch nahm, und zwar fo, daß er über biefe feine lippifchen Be:
ſitzungen die volle Staatshoheit ausüben und diefelben mit feinen
fhaumburgifhen Befisungen zu einem Staatsgebiete vereinigen molte
Das zu Detmold regierende Haus beftritt nicht nur diefe Anfprüce
der jüngeren Linie, fondern nahm auch, vermöge des im Tippifchen
Haufe beftehenden Primogeniturrehts bie big bahin fireltige Souve⸗
ränetät über das im Befige des andern Theils befindliche Ame Blom⸗
berg für fi in Anfpruch. Ueber diefe mechfelfeitigen Anfprüche wurde
mit mehrfachen Unterbrehungen von 1818 bis 1830 beim Bundestage
verhandelt. In dem letztgedachten Fahre erfolgte, nachdem ein vers
gebliher Verſuch zur gütlihen Vermittelung gemacht worden, bie
Ueberweifung diefer Streitigkeiten an das großherzoglich ba:
dbifhe Oberhofgeriht zu Mannheim, als erwähltes Austrägals
gericht, weiches am 20. und 22. December 1838 zwei Erkenntniffe des
_ Lippe» Detmold. 74
wefentlihen Inhalts erließ: daß Schaumburgskippe mit feinem
vierfahen Klagbegehren abzumeifen, die Souveränetät über das Amt
Blomberg aber mit allen nach dem Staatsrechte des beutfchen Buns _
bes daraus hervorgehenden ‚Rechten dem fürftlihen Haufe Kipper
Detmold zuzuerkennen fe.
Diefe beiden Austrägalerkenntniffe find für die flaatsrechtlichen
Verhaͤltniſſe bes Lippifhen Haufes und Landes von der größten Wich⸗
tigkeit, da das Princip der Einheit und Untheilbarkeit des Landes,
welches ſchon ſeit 1368 urkundlich feitftand, dadurch feine praktiſche
Anerkennung gefunden hat, und ber Fürft zu Schaumburg » Lippe in
feiner Eigenfchaft eines erbherrlichen oder Paragialbefibere des lippifchen
Amts Blomberg der Souveränetät bes zu Detmold regierenden Haufes
unbedingt untergeordnet iſt.
Das Fürftentpum Lippe liegt auf dem linken Ufer der Weſer,
zwifhen diefem Fluſſe und dem Zeutoburger Walde, welcher in ber
mittleren Gefchichte auch unter dem Namen DOsning vorlommt. In
der aͤlteſten Zeit waren bier die Wohnfige der Cherusker, melde
im Bunde mit den benachbarten deutfchen Volksſtämmen ben Kampf
gegen roͤmiſche Oberherrfchaft ſiegreich beftanden, indem fie im Jahre
9 nad Chriſti Geburt den Varus mit feinen Legionen in ihren Berg:
ſchluchten vernichteten.. Zum Andenken an diefes welthiſtoriſche Ereigniß,
welches Deutfhland vor römifdyer Anechtfchaft bemahrte, wird gegen-
wärtig dem Cherusterheiden Hermann oder Arminius auf eine
vorfpringenden Kuppe des Teutoburger Waldes, in der Nähe von Det:
mold, ein wuͤrdiges Denkmal errichtet. Auf einem maffiven Unterbau
von 84 Zug Höhe erhebt ſich bas koloſſale Standbild des Helden, aus
Kupfer getrieben, vom Fuß bis zum Scheitel 40 Fuß meflend, als
ein weithin leuchtendes Wahrzeichen für den gemweiheten Nationalboden,
auf welchem des deutfchen Volkes Name, Sprache, Sitte und Freiheit
gerettet und der Weltgefchichte erhalten wurden. Das Schlahtfeld ent:
faltet fih zu den Füßen, und meithin fchweift der Blick von der. Berg⸗
fette der. Wefer bis zu den fernen Gebirgen bes Rheinlandes.
Nachdem das Volk der Cherusker mit anderen deutfchen Volks:
ffämmen verfhmolzen und in ber Geſchichte untergegangen war, bils
bete das Fürftenehum Lippe einen Theil des alten Sachſenlandes.
Auch jest wiederum mar biefe Gegend der Schauplas biutiger Kämpfe,
welche auf die Geflaltung Deutſchlands einen wichtigen Einfluß Außer:
ten. Die Heerzüge Karl's des Großen gegen das Volk der Sacıfen-
nahmen mehrerntheils ihre Richtung vom Rhein in das jegige Fürften-
tbum Lippe. Hier und in der Umgegend erfocht derfelbe bie biutigen
Siege, welche nach einem IOjährigen hartnddigen Kampfe die Sachfen
zur Unterwerfung und zur Annahme des Chriftenthums nöthigten.
Das FürftenthHum Lippe bildet, mit Ausnahme der oben ers
>» mwähnten Keinen Gebietstheile an ber oberen Lippe, ein mohlarrondirte®
Ganzes, ungefähr 20 Quadratmeilen begreifend, auf drei Seiten von ber
Pöniglich preußifhen Provinz Weftphalen, auf ber vierten aber von
14 Sippe: Detmolb. " !
ebenfalls 7 zu wählen haben. Die Ritterfehaft, deren Gnmiia
nur aus 28 Gütern von mäßigem Umfange befteht, ift hiemah «
Stärkften vertreten. Fruͤherhin war der Adel ein nothwendiges Rızt
ber Landſtandſchaft; nad) dee neuen Verfaffungsurkunde werden inz
von den 7 Abgeorbneten bes erften Standes zwei aus ber Mitte &
bürgerlichen Nittergutsbefiger gewählt.
Die Landftände theilen fi in zwei Curien, — nach dem Pure
fen Entwurf folte nur Eine beſtehen — indem bie Abgeortusr
der Nitterfchaft die erfle Curie, bie der Staͤdte und des platten Bunle
zuſammen aber die ziveite Curie bilden. Die Werathung gefdieh:
gemeinfchaftlicher Werfammlung, die Abflimmung aber curimar:
jedoch wird in allen Steuerfaden durchgeſtimmt, fo daß hier, cz:
Ruͤckſicht auf den Stand, lediglich die Mehrheit ber Stimmen mise
det. Den jegigen Ständen find alle diejenigen echte zugeſite
welche ben alten zugeftanden haben, namentlid das Recht der Einz
bewilligung, die Theilnahme am Generalhofgeriht, an ber Atzr
ſtration der Landescaffen und an der Landes-Tutel, fo oft dem
ordnung ſich nöthig macht. Der alte Streit über das Votum
tativum oder megativum iſt aber auch jest unemtfchieden get
Die Wahl der Landesabgeorbneten gefchieht jedes Deal auf die £
von ſechs Jahren. Das Wahlfpftem ift etwas complicirter Att. E
den erften Stand find gar Feine Wahlvorfhriften erlaffen, ba dir
terfchaftliche Corporation: ſich hierin freie Hand behalten hat. Inh
Städten wird ein eigener, Wahlkoͤrper gebildet, beftehend aus den In
gliebern des Magiftrats, den Repräfentanten der Bürgerfchaft und #
einer gleich großen Anzahl von Wahlmännern aus der Mitte der ie
gen Bürger. Auf dem platten Lande finden Doppelmahlen Statt, is
zuerſt die Wahlmänner und von diefen die Abgeordneten ermählt w
den. Der Regel nach fol alle zwei Jahre Landtag gehalten wma
deffen Dauer auf 14 Tage bis 3 Wochen beftimmt if. Sm ber de
ſchenzeit hat ein Ausſchuß, wozu jeder Stand einen feiner Abgenı
ie fändii BIN ei =
Eippe - Detmolb. 743
fuͤhrte, eine durch vortreffliche Eigenſchaften des Geiſtes und Herzens
ausgezeichnete Regentin, welche ſich unter ſchwierigen Verhaͤltniſſen um
die Wohlfahrt ihrer Unterthanen große und bleibende Verdienſte erwor⸗
ben hat. Um die Selbſtſtaͤndigkeit des Landes zu ſichern, ſah ſie ſich
genoͤthigt, im Jahre 1807 dem Rheinbunde beizutreten, nach deſſen
Aufloͤſung ſie ſich dem deutſchen Bunde anſchloß. In der engeren
Verſammlung bildet Lippe gemeinſchaftlich mit Hohenzollern,
Liehtenflein, Reuß und Waldeck die 16. Curie.
Nachdem die Zwingherrfchaft der Franzofen gebrochen war, teclas
mitten die alten Stände des Fürftenthums Lippe die Wieberherflellung
der vormaligen ftändifhen Verfaſſung. Die Fuͤrſtin Paulina, von
dem lebhaften Wunfche befeelt,, ihrem Lande eine zeitgemäße Verfafſung
zu geben, ging auf diefe Reclamation nicht ein, ſondern erließ im
Jahre 1819 eine neue Verfaſſungsurkunde, welche auf einer zeitge-
mäßen Bafis, naͤmlich auf einer eigentlihen Repräfentation, bes
ruhete, indem alle Claſſen der Unterthanen zu der Wahl ber 21 Lan»
besabgeorbneten concurriren follten. Auch der Bauernfland gelangte
auf diefe Weife zu dem Befitze des vollen Stantsbürgerrehts, nachdem
bereits im Jahre 1808 das Leib: und Gutseigenthum, welches in einer
wiewohl fehr milden Form bis dahin fortbeftanden hatte, vermittelft
einer landesherrlihen Verordnung aufgehoben und dadurch bie lebte
Spur ber Unfreiheit verwifcht worden war.
Einige Mitglieder der alten Stände hatten ſich inzwiſchen beſchwe⸗
rend an den Bundestag gewandt, wo das fürftliche Haus Schaum⸗
burg=£ippe, melches mit dem zu Detmold regierenden lippiſchen Hauſe
damals in keinem guten Vernehmen fland, die angebrachten Beſchwer⸗
den lebhaft unterftügte, vorgebend, daß fene agnatifchen Rechte bei
diefer Frage weſentlich intereffict felen. Es hatte dies eine Aufforderung
von Seiten des Bundestags zur Kolge, bie neue Verfaſſungsurkunde
vorerft außer Wirkfamkeit zu fegen und den Weg gütlicher Einigung:
zu verfuchen. Nachdem der jest regierende Für Paul Alerander
Leopold im Jahre 1820 die Regierung angetreten hatte, wurben
mit den alten reclamirenden Ständen neue Unterhandlungen ange:
knuͤpft, welche nach mehrjährigen Unterbrechungen doch endlich zu einem
erwünfchten Reſultate geführt haben.
Nachdem naͤmlich die Regierung ſich mit den Reclamanten über
die wichtigſten Streitpuncte vereinigt hatte; fo wurde im Jahre 1836
ein Landtag nad alter Form zufammenberufen, auf welchem die alten
Landflände ihre Zuflimmung zu der vorgelegten neuen Verfaſſungs⸗
urkunde erflärten, deren Publication als Landesgrundgefeg fodann
am 6. Suli 1836 erfolgte. Diefelbe ſtimmt im Wefentlichen mit der
Paulinifhen Verfaffungsurtunde vom Jahre 1819 überein; jedoch hat
ſich die Regierung zu mehreren Gonceffionen zu Gunſten des erfien
Standes oder der Ritterfchaft genoͤthigt gefehen. Die Zahl dee Abs
geordneten beträgt auch gegenwärtig 21, wovon die Nitterfchaft 7,
die Städte 7 und die bäuerlichen Grundbefiger des platten Landes
144 Lippe= Detmold. '
!
ebenfalls 7 zu wählen haben. Die Ritterfhaft, bern Grunbbefis
nur aus 28 Gütern von mäßigen Umfange befteht, iſt biernady am
Staͤrkſten vertreten. Fruͤherhin war der Abel ein nothwendiges Requiſit
ber Landftandfchaft ; nach der neuen Verfaffungsurkunde werben jedoch
von den 7 Abgeordneten des erſten Standes zwei aus der Mitte de
bürgerlichen Nittergutsbefiger gewaͤhlt.
Die Landflände theilen fich in zwei Curien, — nad) dem Paulini⸗
ſchen Entwurf folte nur Eine beftefen — Indem bie Abgeordneten
der Ritterfchaft die erfle Curie, die der Städte unb bes platten Lanbes
zufammen aber die zweite Curie bilden. Die Berathung gefchieht in
gemeinfchaftliher Verſammlung, die Abflimmung aber curienweife;
jedoch wird in allen Steuerſachen burdhgeflimmt, fo daß bier, ohne
KRadfiht auf den Stand, lediglich die Mehrheit der Stimmen entſchei⸗
bet. Den jesigen Ständen find alle diejenigen Rechte zugeficert,
weiche ben alten zugeftanden Haben, namentlich das Recht der Steuer:
bewilligung,, die Xheilnahme am Generalbofgeriht, an ber Abmini-
ration der Landescaffen und an der Landes⸗Tutel, fo oft deren An;
ordnung fich nötbig macht. Der alte Streit über das Votum sonsul-
tativum oder negativum iſt aber auch jetzt unentfchiedben geblichen.
Die Wahl der Landesabgeorbneten gefchieht jedes Dial auf die Dauer
von ſechs Jahren. Das Wahlſyſtem ift etwas complicitter Art. Für
den erften Stand find gar Feine Wahlvorfchriften erlaffen, da die rit-
terfchaftliche Corporation ſich hierin freie Hand behalten bat. In den
Städten wird ein eigener Wahllörper gebildet, beftehend aus den Mit:
gliedern des Magiſtrats, den Repräfentanten der Bürgerfchaft und aus
einer aleich großen Anzahl von Wahlmännern aus der Mitte der übe:
gen Bürger. Auf dem platten Lande finden Doppelmahlen Statt, indem
zuerft die Wahlmänner und von biefen bie Abgeordneten ermählt wer:
ben. Der Regel nad ſoll alle zwei Jahre Landtag gehalten werben,
befien Dauer auf 14 Tage bis 3 Wochen beftimmt if. In der Zwi⸗
fhenzeit hat ein Ausfhuß, wozu jeder Stand einen feiner Abgeorb:
neten erwaͤhlt, die ftändifhen Rechte und Interefien zu wahren.
Der erfte Landtag nach Maßgabe der neuen Verfaffungsurkunde
wurde im Sommer 1838 gehalten. Das Land verdankt demfelben
einige nicht unmichtige Gefege, wie 3.8. ein Ablöfungsgefeg, ein:
Berordnung megen Einführung der Maifchfleuer flatt der bis
betigen Blafenfteuer u. ſ. w. Ein heftiger Conflict erhob ſich im
Laufe der Verhandlungen zwifchen der eriten und zweiten Curie in Be
treff der Frage wegen Beftleuerung des erimirten Grund:
eigenthbums. Die abelihen und einige andere eremte Güter haben
naͤmlich zu den allgemeinen Landesbebürfniffen bisher überall keinen Bei:
trag geleiftet; da nun von Seiten bes zweiten und dritten Standes
auf deren Heranziehung zur Grundſteuer gedrungen wurde: fo verließen
ploͤtzlich die fammtlichen Abgeordneten ber Ritterfchaft, um nicht in
dieſer Steuerfrage der Majoritaͤt zu unterliegen, ben Landtag und
Tonnten nur durch eine ernftliche Aufforderung der Regierung zur Ruͤck⸗
u
Lippe- Detmold. 745
kehr auf ihren Poſten vermocht werden. Die Streitfrage felbft bat
übrigens ſuspendirt werden muͤſſen und wird erft auf einem ber naͤch⸗
fien Landtage ihre Erledigung erhalten. Auch ber Anſchluß an ben
großen Zollverein Lam auf dem Landtage von 1838 zur Sprache, fand
«jedoch bei den Ständen Beine günftige Aufnahme, wiewohl bas Land
I auf allen Seiten von preußifhen und hanndverifhen Zollſtoͤcken und
Schlagbaͤumen umgeben ift und ihm daher, wenn es fich nicht ganz
ffoliten und feine Intereſſen vermittelft eines gefährlidhen Experiments
in eine feindfelige Oppofition mit denjenigen feiner mächtigen Nachbar⸗
flaaten fegen will, eine andere Wahl übrig bleibt, als ſich dein großen
Tationalvereine, deſſen fegensreihe Wirkungen in ganz Deutſchland
dankbar erkannt und von dem Auslande mit neidifchen Augen betradjs
tet werden, anzufchließen. — Andere nicht unmichtige Gefege, nament⸗
ih eine Landgemeindbeordnung und ein Heimathsgefes
find vorbereitet und merden mwahrfcheinlid auf dem naͤchſten Landtage
zur fchließlihen Berathung und Iandesherrlihen Sanction gelangen.
Die Verwaltung der Juſtiz und Polizei ſteht in erſter Inſtanz
in den Städten den Magiftraten und auf bem platten Lande den
Aemtern zu, deren es dreizehn gibt. An ber Spige der gefammten
Landesverwaltung ſteht die Regierung, welche bie oberfte Inflanz in
Dolizei: und Verwaltungsſachen bildet und zugleich bie Stelle des
Minifteriums oder Cabinets vertritt. Für die Verwaltung der Civil:
juftiz beftehen zwei Obergerichte, bie Suftizcanzlei und das Hof:
gericht, von welden die Appellationen an das für das Herzogthum
Braunfchweig, bie Fuͤrſtenthuͤmer Lippe, Schaumburg-Lippe und Walded
gemeinfchaftlich errichtete Oberappellationsgericht zu Wolfenbüttel gehen.
Für die Criminalſachen ift ein befonderes Griminalgericht angeordnet.
Es wird jedoch eine Verfchmelzung diefer verfchiedenen Gerichtsbehoͤrden
und eine Vereinfachung der Juſtizadminiſtration beabſichtigt. Es gilt
übrigens im Fuͤrſtenthum Lippe das gemeine deutſche Recht und
der gemeine deutfhe Proceß; die Einführung eines befonderen
Strafgefegbuches wurde auf dem legten Landtage beantragt.
Die Kirchen und Schulen flehen unter der Aufſicht unb Lei:
tung des Confiftoriums. Diefer Zweig der Öffentlichen Verwaltung hat
fi) der befonderen Fürforge fomohl der verewigten Fuͤrſtin Paulina,
als auch des jegt regierenden Fürften zu erfreuen gehabt. Namentlich
ift für das Volksſchulweſen, fehr viel geſchehen, indem das Dienft:
eintommen der Elementarlehrer , felbft bei den kleinſten Landfchulen,
auf 150 Zhaler gebracht worden if. Die Schullehrer erhalten ihre
Bildung auf dem Seminar zu Detmold. Außerdem find zwei wohl:
befegte Gymnaſien, zu Detmold und Lemgo, vorhanden.
Ueber die Sinanzen des Landes laͤßt fich nicht wohl eine ge=
drängte Weberficht geben, und zwar aus dem Grunde nicht, weil nah '
alter Sitte für jedes Staatsbedürfniß eine befondere Caſſe fundirt, aud)
die Nettos von ber Bruttoeinnahme nicht gehörig feparirt ift, und
manche Ausgaben ber Öffentlichen Verwaltung unmittelbar aus den
erhoben wird. Die Verwaltung der vom Kande auf
fleht, wie ſchon oben bemerkt mworben, unter ber
flände. In der lippifchen Sinanzverwaltung hat fei
nien ein verftändiger Geift der Sparfamkeit geherrfcht
tet der im neuerer Zeit fo fehr geftiegenen Staat
Dedung noch immer möglich gemwefen ift, ohne bi
neuen drüdenden Abgaben zu belaften. Ja, man
tegten Landtage felbft im Stande gefehen, einen X
brachten Contribution vorläufig für die Dauer von 3
laſſen. Vielleiht find in keinem andern deutſchen
Öffentlichen Abgaben fo wenig drüdend ale im F
Nur die Beſteuerung der Branntweinfabrication wurd
eingeführt, zur Beſtreitung der fo fehr angewachſenen
für welchen Zweck die älteren Mittel durchaus un
Die gefammten Einkünfte dürften fi approrimativ aı
veranfchlagen laffen. Schulden hat das Land wen
wenn ndmlid) die ausftehenden Activa mehrerer €
werthvolle Grunderwerbungen dagegen in Anfchlag ge
As das erfte Gewerbe muß die andwirthfch
den. Der Bauernftand, beffen geiftige und leibli
fihtbaren Aufblühen begriffen ift, bildet den Kern
Der Aderbau wirb mit Fleiß und Einfidt betrieben
geachtet der im Ganzen nur mittelmäßigen Bodenbefd
ſtarken Bevölkerung von ungefähr 5000 Einwohnern auf
nicht nur alle etſten Lebensbedürfniffe im Lande felb
noch einen Weberfhuß von Producten für das Aus
einem blühenden Zuftande befindet ſich namentlih bi
Ehe Kanam Warchlimn Auch has ham Ginnalanın mahlhaln
Lippe⸗ Detmold. — Lippe - Schaumburg. 747
bem Snbsfteiegieige laͤßt fi auf 4 bis 500,000 Thaler veranfchlagen.
Einen andern wichtigen Induſtriezweig bildet die Btegelfabricatton.
Es verlaffen nämlich jedes Jahr mit den erften Strahlen der Früh:
lingsfonne 2000 bis 2,500 der Träftigflen Arbeiter den heimathlichen.
Herd, um zahlreiche Biegeleien, namentlidy in den Küftenländern ber '
Nordfee vom Dolart bis zur Mündung der Elbe, in Betrieb zu neh⸗
men, von wo fie im Spätherhft mit dem verdienten Lohne in dem
Schooß ihrer Familien zuruͤckkehren. Alle übrigen Gewerbe leiden mehr
oder weniger unter dem Drude der von ben Nachbarſtaaten eingeführten
Grenzſperre. P..... t.
Lippe: Schaumburg oder Schaumburg-Lippe. — Der
Name dieſes Fuͤrſtenthums bezeichnet keineswegs einen jetzigen oder ehe⸗
maligen Territorialverband mit dem Fuͤrſtenthume Lippe⸗Detmold, mit
welchem es nie in einem andern ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe geſtanden
hat, als demjenigen, welches aus der Verwandtſchaft der jetzt regieren⸗
den beiden fuͤrſtlichen Familien hervorgeht. Oberhalb des Punctes, wo
die Weſer durch die Bergoͤffnung der Porta Weſtphalica in die Ebene
von Minden und die nördlichen bis zum Meere ablaufenden Niederungen
tritt, bildet fie, durch Gebirgszuͤge gedrängt, von DOften nach Welten
und dann von Süden nad, Norden gehend, einen fharfen Bogen, in
welhem auf dem rechten MWeferufer von den Höhen des Süntel und
des Deifter bis zur Weſer und dem unter dem Namen des Steinhuber
Meeres bekannten Lanbfee eine gebirgige Landſchaft ſich hineinzieht,
deren fübmweftlichfter, im dußerften Winkel der Flußkruͤmmung liegender
Theil zue Zeit der Sauverfaffung den Namen des Budigau führte,
während ber übrige Theil bdiefer Landfchaft den Gauen Merftemen,
Seleffen und Loſa angehörte *). Diefelbe war früher von ben
Agrivarieen bewohnt und bildete fpäterhin einen Theil des Tächfifchen
Engern. Schon im eilften Jahrhunderte wohnte im Budigau ein
Grafengeſchlecht, beffen Stifter Adolf (vielleicht nur der Nachfolger
noch früherer Grafen) die Schauenburg (fo und nicht nach der jet
übrigens officielen Schreibart Schaumburg ift der richtige Name **)
erbaute, audy feine Grafengewalt durch Stud und kluge Benugung der
Umftände über die urfprünglichen Grenzen feiner Grafſchaft hinaus
und namentlich in die oben bezeichneten Nachbargaue, zum Theil auch
auf das linke Weferufer ausdehnte. Sein gleichnamiger Sohn oder
Enkel erwarb durch Friegerifche Verdienfte vom Kaifer Lothar zugleich
die Grafenwuͤrde in Holftein, welches von nun an oft der Hauptſitz
der Samilie wurbe, oft aber auch durch Theilung an eine einzelne Linie
kam, zu manchen Sehden führte, mehrere Male als Beute in die Hände
fiegreicher Feinde fiel und zuletzt ganz verloren ging. („S. Dänemark.)
*) A. v. Werfebe, Beſchreibung ber Gaue zwifchen Eibe, Saale und
Unfteut, Wefer und Werra. Hannover, 1829. 4. ©. 209 — 222.
**) Wenigftens nennt Lerbecke in feinem Chron. comitum Schawen-
burgensium den Berg, auf welchem bie Burg erbauet wurde, mons specu-
lationis,
UNE HERAP P_ YULL KUppe > AHAUvAUI]JFUR uvett
den, Beaunfipeig und Maberhamn sur Cöfkurt De
morüber bie Auseinanderfegung mit Minden am Schtwierigfi
— Folge hatte, und erſt im —
dem — tr 5 —* ei Ki dem Gtafen SDbi
beiinhen Dat ſin, theils Ya bebeute
und. lehnbarer Juftragung d — — Schuge|
— wurde *). Das ei biefe in —— and
ie von nun an den ‚Namen der Graffchaft
Hacmalt mußte inde& nach dem Endes Ze
a Seiebrih ga (1777) dee Mannef
N Lippe- Alverdiffen. erneuert werden,
len Ernft, Vater des jegt —— —
—— 1787), ift. daher der Stifter einer
ebun,
* — es a le an
der Im Nabe 1088 Bird Mihtefpt sera
el
Demo m
— Ei Er (hon ben in dem Art. „Lippe
a, — Be Berlu 9J
un die * der eh ©: ra
— rt legt
Eat — und Ein
Sippe: Schaumburg. 749
lippiſchen Gebiets. Sein Flaͤcheninhalt umfaßt etwa 9 Quabratmeilen
größtentheils gebirgigen ober body von Hügeln durchbrochenen Landes,
auf weichen 27,437 Menfcyen wohnen. Das Land liefert Steinkoh⸗
ten, Holz und Korn, woraus, fo wie aus der Verfertigung von Garn
und Leinewand, bie Haupterwerbsmittel gezogen werden. Mit Garn
und Leinewand wird insbefondere ſtark nach Holland gehandelt; fonft
ftehen Handel und Gewerbe nicht eben befonders in Biuͤthe.
Die Verfaffungsverhättniffe des Landes haben In ben älteren Bti-
ten ziemlich denfelben Enttvidelungsgang genommen, wie in allen deut⸗
fen Staaten. Die allmälige Verwandlung des Eaiferlichen Grafen
amtes in die Territorialhoheit gab auch hier die Veranlaffung zu einer
beftimmten Ausprägung des Verhaͤltniſſes zwiſchen den Freien und
dem Erbfuͤrſten, und eben fo ift auch hier der Urfprung einer landſtaͤn⸗
difchen Verfaffung nicht ſowohl in einer einzelnen Hifkorifchen Thatfache,
als vielmehr theils in ber ber potitifchen Erfheinung aller deutfchen
Stämme im größten wie im Meinften Kreife zum Grunde liegenden
Idee der Voltsfceiheit, theild in dem lebendigen Zufammenhange aller
einzelnen Verhättniffe des öffentlichen Lebens aus einer laͤngeren Periode
zu ſuchen. Die Rechte des Landes wurden ben Ständen durch foge-
nannte Privilegien gefichert und bei verſchiedenen Gelegenheiten —
zumal bei Regierungswechfeln und ftändilhen Bewilligungen — ber
ſtaͤtigt und erneuert. Das aͤlteſte urkundlich vorhandene Hrivilegium
(wahrſcheinlich aber aud nur die Erneuerung und ſchriftliche Aufzeiche
nung ber fon früher vorhandenen und in Uebung erhaltenen Rechte)
ift vom Jahre 1389 und erwähnt nur der „Mannen, Ritter und
Knechte“, fo daß alfo damals die Landesvertretung eine rein ariſtokra⸗
tiſche war. Der geifttiche Stand hat nie das Recht der Landſtandſchaft
gehabt, und die Städte, obgleich zum Theil wenigſtens ſchon im brei-
zehnten Jahrhundert entftanden, nahmen doch erft im funfzehnten
Jahrhundert und einige noch fpäter Theil daran, hauptſaͤchlich wohl
deswegen, tell die meiften von ihnen zu Mein und ſchwach waren, um
ſchon in ben ftürmifchen Zeiten des fpäteren Mittelalters einen politiſchen
Einfluß zu gewinnen. Inbeß traten mehrere Umftände zufammen, um
die Vebeutung ber Stände dem Grafen gegenüber höher zu hiben,
als dieſes ſonſt in dem kleinen Ländchen wohl der Fall geweſen fein
möchte. Auswärtige Fehden, in melde bie Grafen -theild durch die
unſicherheit des Beſitzes von Holfteln, theils ducch eigene Neigung ver⸗
widelt wurden, und an welchen fie meift in fremden Kriegsbienften
Theil nahmen, zwangen fie oft zu längerer Abweſenheit aus dem
Lande, ſchwaͤchten dadurch die Macht des fürftlichen Anfehens, welches
in der unmittelbaren Nähe der Perfon des Fürften die ficherfte
Stüge findet, und ftürzte fie in Schulden, von benen fie dann nur
durch die erbetene Hülfe der Randflände fich befreien konnten. Die
Abhängigkeit, in welche fie dadurch von den Ständen geriethen, wurbe
von biefen theils zur Sicherſtellung gegen aͤhnliche Verſchuldungen,
theils aber auch zur Erweiterung des eigenen Einfluffes benugt. So
Vereinigung über die Nachfolge in der Regierung
Zwat half zur Verſorgung der übrig bleibenden Prin;
Kirche aus; allein auch den geäflihen Domberrem ,
bifhöfen in esheinn, Minden und Göln gefiel «8
priefterlichen Würde ungeachtet, ald Mitbewerber um di
zutreten oder folche als Vormünder im Namen des m
unter der Zahl der jüngern Brüder wohl noch nicht
"ten — Regierungsnachfolgers in Anfprud) zu nehmen
Umftänden hing bei einem Regierungswechfel für die v
tendenten regelmäßig. viel davon ab, die Landſtaͤnde fü
nen, und der Einfluß, welchen dieſe auf ſolche Weife
fanden von dem regierenden Grafen in felnem Teſt
eftimmmung anerkannt und befördert, daf von den
Söhnen der Würbigfte die Regierung übernehmen |
Dazu kam noch befonders die eigenthuͤmliche Geſt
haltniſſe durch die Reformation. Die Grafenfamilie
durch Verſorgung ihrer nicht zur Regierung gelangen
iftlihen Yemtern zu große a von der kathol
Babe, ‚als daß fie ſich fogleich im Anfı und freiwill⸗
tion’hätte anſchlleßen Eönnen. Die Einführung derſelb⸗
von den Geiſilichen ſelbſt und dem Wolke aus und
Grafen mehr aus Noth genehmigt, als-beförbert und in
trat Otto IV., unter welchem biefe Veränderung vor |
ſelbſt zum Proteftantismus über, jedoch mehr aus poli
als aus’ religisfer Ueberzeugung*), und auch unter fein
Nachkommen findet ſich no einige Zeit hindurch Eei
mung im det kirchllchen Anſicht. Darin lag denn bei eir
mechfel fuͤr die gleichberechtigten Bewerber eine meiten
Lippe- Schaumburg. 751
Landſtaͤnde zu gewinnen, und für diefe, durch Religionsverficherungen
auch den neuentflandenen kirchlichen Zuſtand garantiren zu laſſen und
ihren politifchen Einflug auf alle Regierungshandlungen 'zu erweitern,
welche für die Regierungsnachfolge von Bedeutung fein konnten. So
blieben fie nicht nur im Beſitze ber uralten freien Steuerbewilligung
und der Mitwirkung bei der Landesgefeggebung, fondern ihre Zuftim-
mung wurde auch eingeholt bei Verheirathungen des Landesfürften, fo
wie bei Teflamenten, ja fie wählten fogar den Nachfolger (mie Adolf
XII.), wenn berfelbe nicht auf andere Weife beftimmt werben Eonnte.
Aber fo ſehr war die landesfuͤrſtliche Macht unter der Gewalt ber Um:
. fände und den Folgen des eigenen Üüblen Haushalts niedergebeugt, daß
man nad) dem Tode des Grafen Dtto IV. dem Verlangen ber Lanb-
flände gemäß im Jahre 1577 ſich dazu verftiehen mußte, zehn Jahre
lang gar Beinen Lanbesfürften zu haben, fondern das Land durdy eine
aus Regierungsräthen und den Landfländen beftehende Commiſſion re
gieren zu laſſen: eine Einrichtung, welche freilich nur bie 1582 beftand.
So hatten ungeachtet des Beinen Staatsgebiets die Lanbitände eine
politifhe Wichtigkeit und Bebeutung erhalten, wie kaum in einem
anderen deutfchen Staate. Aber diefelbe ſank auf die nämliche Weife, wie
fie emporgelommen war. Die Faͤlle, wo mehrere Regierungsprätenden-
ten zuſammenkamen und ber Einfluß ber Landſtaͤnde unter ihnen ent:
fcheiden Eonnte, wurde immer feltener; dagegen ſtarb allmälig eine
Linie des vielverzweigten Geſchlechts nach der anderen aus, und der.
Straf Philipp (1646 bis 1681) führte das Vorrecht der Erſtgeburt
in der Regierungsnachfolge ein. Auch geftalteten ſich die Lirchlichen
Verhättmiffe ſehr bald fefter, die Eandeshoheit bildete ſich unter den
Stürmen des breißigiährigen Krieges, welcher auch die Graffchaft
Schaumburg ſchwer heimſuchte, vollftändiger aus, und die nad) dem
Tode des lesten Grafen aus dem [haumburgifhen Mannsſtamme eins
getretene Theilung des Landes mit Kurhefien ſchwaͤchte das ftändifche
Anſehen durch Zerfplitterung des Corporationsbanbes, von welchem ihre
Bedeutung weſentlich abhing. Zwar follte nah dem Sinne jener
Theilung das Land doch in mefentlihen Puncten noch ein Ganzes
bleiben, und bis 1661 wurden auch gemeinfchaftliche Landtage gehalten;
allein feit dieſer Beit trennten fich die Landftände freiwillig und geries
tben immer mehr in Unthätigkeit. Die allgemeinen und belannten
Urfachen, die fundamentale Umformung des Militärwefens, die geän-
derten Verhaͤltniſſe des Adels, welcher feine frühere Eriegerifche Selbfts
itändigkeit aufgab, um in fürftlihen Dienften Ehre und Unterhalt zu
fuchen, bie Sortfchritte, welche durch das Steuerwefen die Entwidelung
eines neuen Stuatsbürgerthums machte, neben dem bie ftändifchen
Privilegien immer mehr als unnatürlihe Vorrechte einzelner Glaffen
erfchienen, je höher die Aufklaͤrung flieg, der Mangel an thätiger Für:
forge für den durch Grundlaſten ſchwer beladenen kleineren Grunbdbefig,
felbft nur für Aufhebung der Leibeigenfhaft unter den Bauern:
biefes und andere Umftände machten e8 unmöglich, daß bie Landſtaͤnde,
⸗
152 ippe⸗Schaumburg.
welche fruͤher in einem bedeutenden Grade zugleich die Inhaber der
phyſiſchen Macht geweſen waren, jetzt, nachdem fie dieſe verloren hatten,
in ber moraliſchen Unterſtuͤtzung ber oͤffentiichen Meinung einen Erſatz
finden konnten, und befoͤrderten eben ſo ſehr das Gedelhen des Monar⸗
chismus im achtzehnten Jahrhunderte. Immer mehr wurden die fuͤrſt⸗
lichen Rechte auf Koſten der ſtaͤndiſchen erweitert, bie fiscaliſchen An⸗
ſpruͤche vermehrt und die Freiheit in der Steuerbewilligung beſchraͤnkt.
Den letzten, aber ſchon auf ohnmaͤchtige Huͤlfloſigkeit deutenden Verſuch
zur Wiederherſtellung oder Rettung ihrer Befugniſſe und zum Schutze
gegen landesfuͤrſtliche Eingriffe machte die Mehrzahl der Corporationen
im Lande (die Stände ſelbſt, als ſolche, nähmen nicht Theil daran) in
den legten Regierungsjahren des Strafen Philipp Ernft (ft. 1787)
durch einen beim Meichefammergerichte erhobenen Proceß, beffen ganzer
dürftiger Erfolg aber in dem durch preußifhe Commiſſarien im kaiſer⸗
lihen Auftrage mit der Vormundſchaft bes minderjährigen Grafen
Georg Wilhelm vermittelten fogenannten Randesvergleiche von 1791
(publicirt 1792) befland. Das Land Eonnte darin nichts weiter erreis
hen, als die Zufiherung, baß jährlich für die fürftliche Kammercaſſe
nur zwölf monatliche Gontributionen zu den laufenden Beduͤrfniſſen,
und Beiträge zu außerordentlihen Ausgaben nur auf erfolgte Nachweis
fung des Bedarfs erhoben werden follten, fo wie bie Feſtſetzung der
Beitragspflicht zur Schuldentilgung und zum Chauffeebau auf beflimmte
Quoten. Wegen der Meierverhättnifie und ber Leibeigenſchaft blieb
Alles im Wefentlihen beim Alten, und einige Befhränfungen ber Ab-
miniftrativgewalt in einzelnen Dingen find fo geringfügig, daß man eben
aus deren Aufnahme in die Vergleichsurkunde abnehmen ann, wie fehr
die Alteinherrfchaft der Regierung ſchon jede Selbftftändigkeie der Indi⸗
viduen und Corporationen zurüdgedrängt hatte, und wie man es ſchon
Jals Geroinn betrachten mußte, nur fo dürftige Sonceffionen zu erlangen.
Die Aufhebung des deutfchen Neiches und die Feſtſetzung der frans
zöfifchen Herrfchaft in Deutfchland hatte für die Verfaffung Schaum:
burgs zunaͤchſt die Folge, daß die Thätigkeit der Landſtaͤnde factiſch
ganz und gar aufhörte; im Ganzen ohne fonderlidhe Theilnahme des
Volks, welches auch durch bie Gefchichte des ganzen legten Jahrhun⸗
derts allerdings nicht an eine großartige Auffaffung des Inftituts ge-
wöhnt war- Die gute Folge hatte indeß das franzöfifche Gleichheits⸗
princip, baß die Regierung nun endlich zur Aufhebung der Leibeigen⸗
{haft fchritt (1810), obgleih man auch babei auf einen höheren Stanb-
punct der Beurtheilung ſich nicht erheben Eonnte, vielmehr ber Gerech⸗
tigkeit nur fo weit nachgab, dag die dem Landesfürften felbft zuftehende
| Leibherrlichkeit unentgeltlich aufgehoben werden follte, wogegen die
Leibeigenen der Privatgutsherren ihre Freiheit duch ein gefeglich be⸗
fimmtes Aequivalent erfaufen mußten”).
—
*) Zur Ehre der Wahrheit muß hier indeß bemerkt werden, daß manche
Entſchaͤdigungsanſpruͤche der Privatieibherren binnen ber vorgefchriebenen und
Eippe-Schaumburg 753 -
Auf Veranloffung des Art. 13 der bdeutfchen Bundesacte führte
der Fürft Georg Wilhelm vom 15. Januar 1816 eine landftändifche
Verfaffung wieder ein. Diefelbe legte freilich in Anfehung des Beſteue⸗
rungsrechts den Landesvergleich von 1791 zum Grunde und flügte ſich in
fo fern auf ältere, biftorifch entftandene Verhältniffe, war aber felbft
nicht die Folge einer zwifchen Fürft und Ständen errichteten Ueberein-
kunft, vielmehr in ihren wefentlichen, das ditere Verhaͤltniß umändern-
den Bellimmungen octroyitt. Die Landesvertretung befteht demnach
aus den fünf Befigern adelicher Güter, vier Abgeordneten der Städte -
und Flecken, und ſechs Abgeordneten der Landbewohner in den Aemtern.
Die Abgeordneten der Städte und Fleden werden durch den Magiftrat
gewählt, die der Landleute durch Wahlmänner, jedoch aus ihrer Mitte.
Die Mitglieder der Landſtaͤnde aus ber Ritterſchaft müflen das fünf:
undzwanzigfte, die Abgeordneten aus den Städten und Zleden, fo wie
aus dem Bauernſtande das breißigfte Lebensjahr zurüdgelegt baben.
Die Rechte der Stände find fehe kurz gefaßt und beftehen in Folgen«
dem: Prüfung des, Staatsbebarfs in Gemeinfhaft mit ber Regierung
nach Maßgabe des Landesvergleichs von 1791 und Bewilligung ber
darnach erforderten Steuern ; Berathung ber neu zu erlaffenden Gefege
und Zuſtimmung, wenn diefelben auf die Landesverfaffung
einen wefentiichen Einfluß haben; Reviſion der Rechnungen über
bie verausgabten Lanbesfteuern ; enblid das Recht der Vorſtellung und
Befchwerde. Die für bie Verhandlungen der Landflände verheißene
Geſchaͤftsordnung ift noch nicht erfchienen; auch iſt nicht, wie die Ver
ordnung beftimmt, alljährlich, fondern etwa alle drei oder vier Jahre
feitvem ein Landtag gehalten.
Diefe Verordnung gilt noch jet als das Grundgeſetz des Fuͤrſten⸗
thums und erfordert daher eine, menn auch nur kurze Prüfung Die
Zulaſſung des Bauernflandes zur Landesvertretung ift wohl der wich:
tigfte Sortfchritt, welchen das conflitutionelle Princip darin gemacht
bat, wogegen die Webertragung der Wahl ber ftädtifchen Abgeordneten
an die Magiſtrate diefem Principe, und die Unterfcheidung der adelichen
Mitglieder von den bürgerlichen und bäuerlichen bei der Beſtimmung
bes erforderlichen Alters der MWählbarkeit dem einen integrirenden Xheil
ausmachenden Grundfage der Gteichheit widerſtreitet. Durch die Art,
wie das Steuerbewilligungsrecht begrenzt ift, kann (bei vorausgefeßter
Feſtigkeit der Stände) wohl eine Ueberfchreitung des herkoͤmmlichen
Maßes der Steuern verhindert, nicht leicht aber deren Verminderung
von den Ständen ducchgefegt werden; eine Einwirkung auf den Gang
der Regierung durch den Gebrauch des Bewilligungsrechts ift völlig
ausgefchloffen. Der Antheil an der Gefeggebung, welcher ben Staͤn⸗
den bewilligt wird, umfaßt freilich noch mehr, als was man felbft in
neueren und neueften Zeiten vielfach für zuträglich hält, Inden doch wes
im folgenden Jahre noch durch eine befondere Aufforderung verlängerten Praͤ⸗
judleiaifriſt micht angemeldet, alfo flilfhweigend aufgegeben find.
Staats⸗ Lexikon. IX, U 48
754 Lippe Schaumburg.
nigftens in einzelnen Faͤllen neben dem ſtaͤndiſchen Getiitn
zugleich die Eintoilligung gefordert wird; dem vernünftigen Staatkeir
ift aber damit noch nicht Genuͤge gefchehen, und außerdem durd =
Unbeftimmtheit der Faſſung der Keim zu vielen Streitigkeiten übe ti
Frage gelegt: welche Gefege ihre Wirkſamkeit auf die Kandesn
faffung dußern, und welder Einfluß ein mefentlicher ſei? Dit
manche wichtige Beſtimmung fehlt, 3.8. über die allgemeinen fa
bürgerlichen Rechte, über bie in der Bundesacte geficherte Freiheit ic
Preffe, über bie ſchon im aͤltern Staatsrechte anerkannte*) mir:
twortlichkeit der Minifter oder fuͤrſtlichen Räthe, Über Oeffentüchket m
ſtaͤndiſchen Verhandlungen u. ſ. w, mag nad dem bamaligen Et
puncte ber Gonftitutionspoliti®, beſonders im nördlichen Deut.
der Verordnung nicht zum Vorwurf gemacht werben; doch mürmm
uns daraus, fo wie aus der Unvollftändigkeit des Ganzen übequm |
daß die Verordnung denjenigen Anfprüchen, welche man auf dem bew
tigen Standpuncte an eine liberale Verfaſſung macht, wohl fchmeit
noch) genügt.
Das MWichtigfte, was man mit der neuen Verfaſſung für be
Augenbli zu reguliren hatte, waren die Finanzen des Landes Dr
älteren Schulden waren wohl getilgt, allein die legten Rriegsjahrr hun
deren neue verurſacht, und es fragte fich, wer diefelbern zu dibemamn
habe. Berner hatte durch Errichtung des deutfchen Bundes und
neue Mititärorganifation die Landesverwaltung eine veraͤnderte Gmb
lage erhalten, und die nach der althergebrahten Finanzeinrichtung init
Verfaſſungsgeſchichte bei jedem einzelnen Falle vegelmäßig twieberkehtee
Zweifei darüber, melde Ausgabe das Land, und weiche ber SHR
übernehmen habe, bedurften auch hier einer Erledigung da mal
Lippe: Schaumburg, 0.7665
terhaltung bes Militärs in Sriedenszeiten ift fpäterhin dahin verglichen,
daß aus der Kammercaffe die Garnifonen unterhalten werben und aus
ßerdem noch ein Zehntheil zu den Koften des Bundescontingents bei-
getragen wird, "wogegen die übrigen Koften dem Lande ebenfalls zur
Laft fallen. — Die fonfligen Refultate des Landtags find für die all
gemeinen Verhältniffe des Landes ohne befondere Wichtigkeit.
Die weitern Landtage befchäftigten ſich meift mit Gegenftänden
von untergeorbneter Bedeutung. Auch das Jahr 1830 ging ohne
wefentliche Bewegungen vorüber, obgleich das nad) der Julirevolution
duch ganz Deutfchland fühlbare Zuden, und die befannte Aufregung
im benachbarten Heffifhen wie auch in Hannover keineswegs ohne leb⸗
hafte Xheilnahme blieben, welche im eigenen Lande befonder® durch er:
höhete Holzpreife materiell genähet wurde. Die Regierung hatte inbeß,
durch die bedenklichen Erfcheinungen in andern Ländern aufmerkſam ge
macht, bei Zeiten durch Steuererleihterungen und Beſchaͤftigung der
Armen der außerdem aus einer verfehlten Ernte zu beforgenden Noth
einigermaßen entgegengewirkt, und derfelbe Zweck wurde noch durch
mehrere auf dem naͤchſten Landtage vorgelegte Propofitionen verfolgt.
Auch von den Ständen wurden über funzig Anträge (Defiderien) echo: '
ben und zum Xheil erledige. Durchgreifende Reformen in den, be-
fiehenden Verhältniffen hielt man indeß nicht für nöthig; auch war bie
Zheilnahme des Volks an conflitutionellen Fragen in dem Beinen Lande
ziemlich gering. Selbft die ſeitdem und zum Theil fchon früher in
allen Nachbarländern gefeglich ausgefprochene, aud auf dem Landtage
von 1831 ſchon in der Ständeverfammlung zur Sprache gebrachte Abs
Lösbarkeit der Grundlaften hat im Fuͤrſtenthume Schaumburg bis zum
heutigen Zage noch Feine Anerkennung gefunden. Kleine Privat: und
Local = Angelegenheiten, Adminiſtrations⸗ und Steuerfahen bildeten zum
geößten Theile die Gegenflände der Iandftändifchen Belchäftigung.
Bemerkenswerth ift nod das Mefultat des kurzen Landtags vom
Jahre 1837, auf welchem der Anfchluß an ben zwiſchen Hannover,
Braunfchweig und Oldenburg beftehenden Zoll: und Steuerverband von
bee Regierung in Antrag gebracht wurde. Denn als bei der Abflim-
mung fi Stimmengleichheit fand, folgerte man baraus die Annahme,
weil es fih um eine Propofition ber Regierung handle. Eine grund:
gefeglihe Beflimmung ließ ſich für ein ſolches Verfahren freilich nicht
anführen; man glaubte indeg die Analogie anderer Ständeverfamm:
lungen für fi) zu haben, und die Stände beruhigten ſich dabei*). Die
— —
*) Wie gang anders ift die conftitutionelle Anfiht in England! Hier
entfcheidet bei Stimmengleichheit im Unterbaufe der Sprecher; es ift aber
berfömmlich, daß derfelbe alsdann gegen bie von der Regierung vertheibigte
Meinung flimmt, weil man annimmt, daß die Regierung gewiß bie Mehrheit
haben würbe, wenn ihre Anſicht wirklich bie beffere ware. Schmalz,
Staatsverf. Großbritanniens. Halle, 1806, ©. 101. Aus ber Natur ber
Sache ergibt fih übrigens fehr leicht, daß, wenn die Annahme eines neuen,
nod nicht vorhanden gewefenen Zuſtandes, alfo ein Ja ausgelprochen werben
feit einiger Zeit auf ‚einen befriedigenderen Stand %
als auf welhem «8 fi bis bahin. befunden en
mer an einem _burchgeeifenden Schulpiane fehlt, und
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Inhalt des neunten Bandes.
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ehe gegenüber der Gtantb- wahl. ahlcopitulation.— Bon
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Rice, Kirdenoesfafung, erangelft Sagestuß, [. Kataher &
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Richenvermögen , Kirdengüter. — Bon * herteniofe Gaden. 0
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