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Full text of "Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften"

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 Stadts-L exikon 


oder 


Encyklobpad 


der 
Staatswiſſenſchaften 


in Verbindung mit vielen ber angefeh: 
Publiciſten Deutſchlands 


herausgegeben 
von 


Carl von Rotteck md Carl Welcke 


— 


Neunter Band. 





Altona, 
Verlag von Johann Friedrich Hammerich. 





1840. 





E’TMIE 


D j , 
... Dee Ser on "ı 5 
⸗ mi. . . 
f ı “ . 





TS üfemitieu; das falſche keamöfkfäe und das wahre 
Spftem der rihtigen Mitee, und bie Kolgen jenes ram 
zöfifhen Syſtems für Beni ans —— — >. 
1. Einleitung. — Was kann ‚ empfehlene 
werther fein, als eine erbte itte rien der euere und Be 
handlung der menfchlihen Dinge! en dieſelhen doch buch Er 
feitigteit und Leidenſchaft nur zu häufig auf unfruchtbare oder verderb⸗ 
liche Weife von einem Aeußerſten zu dem —8 binäber. gezogen Ai 
darf es doch uͤberall zwiſchen —* zwiſchen entgrgengeſetzten Gruube 
fügen und Parteien, z. B. zwiſchen Idealiſten und Emplelkern, zieh 
ſchen Radicalen und Conſervativen, einer gerechten, verſöhnenden, 
maͤßigenden Mitte oder Vermittelung! Biete aber zeigt 
fich unter dem ſchoͤnen Names ber rechten Mitte oder Maͤßigung 'ge 
rade das Begentheil wahrer Gerechtigfeit und Berföhnung, und flat 
ihrer vielmehr nur Verlegung beiber- entgegengefeßter. Gumbfäge oder 
Parteien, nur Peinciplofigkeit, Willkuͤr, Mittehmäfigkeitl Was hat 
namentlich wohl im In⸗ und Auslayde und feihft bei — weichen 
die naͤchſten Folgen davon angenehm waren, mehe motralifche —— 
ſchaͤzung hervorgerufen, als das politiſche Syſtem, welches in ni 
Tagen bei unſeren weſtlichen Nachbarn mit dem ſchoͤnen Nomen’ de 
gerechten Mitte fih-fhmüdktel 

Der Begriff ſcheint alfo nicht vben fo leicht zu ſein, als er wich: 
tig und intereffänt ifl. Wird man etwa das. für.sine richtige Mitte 
und gerechte Permittelung halten, wenn,. hei: beu:enigegenflehen: - 
den Forderungen: hier dee Gistlichkeit im Mecht, dort Der Beachtauug 
der finnlichen Bedürfniffe und dee Zveiheit, nun ein angeblichen SARs 
milieu hier rein fittliche Handlungen gebieten: will, : durd :dem Mate: 
rialismus und felbfifüchtiger Winfite huldigt? Oder finden IE fid dar‘ 
wo, bei den Forderungen: bier des: Freiheit. und. Volksfonussänetät;, Dirt 
der Drbnung und fürftliden Meıgierungsfouveränetäl,,; nun dev angebffi 
Freund ber Mitte. zwiſchen beiden hin und ber ſchwankt7 hler 
dot jene opfer, —— 
oezfolgt und Gegenſatze zu unterwerfen. fuche 2: Be er die't 

Mitte rhdfshtäg der Dpefferibeit mwa bach, daß Rn: jum 
ſchrankenioſe nn waruche ABA bee vi vn a We 





4 Juͤſtemilieu. 


despotiſche Unterdrüdung der Wahrheit durch Verbot und Cenſur ge⸗ 
ſtattet? Beſteht fie in halber Wahrheit und halber Lüge, und darin, 
dag man, ohne Muth für die ganze Wahrheit und Gerechtigkeit, ein 
Bishen Gutes und ein Bischen Böfes thut? Iſt endlich das die rechte 
BVermittelung und Verföhnung der Streitenden, daß man willkuͤrlich 
einem Jeden fein Recht halb abſchneidet, und. fie folchergeftalt als 
gleich, behandelt, aͤußerlich neben einander ftellt, wohl gar Beide für eige- 
nen Vortheil ausbeutet, jebenfalls Beide verlegt und empört, Keinen 
befriedigt? 

Wo aber finden fich die rechten Grundfäge für die mahre Mitte, 
ihre Unterfchiede von der falfhen? 

Die geiftreichften Vertheidiger des franzöfifhen Süftemilieu, fo 
bas Journal des Debats, flellten uns als die Grundlage dieſes 
Spitems „die Mitte” des Ariftoteles bar. Mir zmeifeln, daß der 
alte Weife zu ſolchem Kinde ſich als Water befennen werde. Aber viel: 
leicht leitete man uns folchergeftalt dody auf einen guten Weg zur Loͤ— 
fung unferer Fragen. 

U. Die wahre gerechte Mitte. — Die ältefle und befte 
Grundlage für die wahre gerechte Mitte enthalten in der That die Phi: 
loſophie und Staatötheorie bes Ariftoteles und der Stoiker. Fre 
tich wird Mancher fagen, das Gerechte ift die einzige vechte Mitte. 
Aber man kann doch dann wieder fragen: ja, was ift das Gerechte? 
Und wie verhält es fich zundchft bei politifchen Sragen? Es gibt ja doch 
eine uralte Art dee Auffaffung bes Richtigen als eines Mittleren. 
Hierfür nun findet ſich in jenen Theorieen die rechte Grundlage, der 
Schu gegen jene Willkür. Nur durch das Verftändnig der rechten 
Mitte laflen fih die falfhen Wermittelungen der Ertreme 
und das falfhe Füftemilieu richtig würdigen und befämpfen. Ari— 
ſtoteles fuchte bekanntlich die Tugend überhaupt, vorzuͤglich aber bie 
Gerechtigkeit und die Staatsweisheit ausbrüdlic als „eine Mitte”, als 
„ein Mittleres” zu entwideln. Auch die Stoiker und mit ihnen 
die berühmten römifchen Suriften kommen, meil fie bier im Weſent⸗ 
lichen von einer gleichen philofophifchen Grundlage ausgingen, in ihren 
Theoriten ganz zu demfelben Refultate. 

Diefe Grundlage nun mar keine andere, als die oben (Bd. I. ©. 9) 
entwidelte. Sie befteht in der richtigen Auffaffung der allgemei- 
nen Naturfeite ober der allgemeinen naturgefeglihen Srunb- 
verhältniffe und Grundformen für alles Leben und feine Theo: 
tie, ſowohl für die des einzelnen Menfchen, wie für bie des lebendigen 
Menfhenvereins oder des Staates. Hierbei nun ergab ſich, daß 
jebes Leben nur befteht, indem ſich die beiden entgegengefegteften Le 
benselemente, nämlich das Höhere, allgemeine, innerliche geiflige 
und bie niederen befonderen dußerlihen Stoffe und Glieder oder 
bie leibliche Srundform in einem dritten zum ſelbſtſtaͤndigen, 
individuellen Leben harmoniſch vermitteln. Diefe drei (Geift, 
Leib, Seele in dem einzelnen Menfchen) waren im lebendigen Staate: 


— | Juͤſtemilien. | 5 


Verfaſſung, Volkskörper und Regierung: und als die drei 
Seiten feines Lebensgefeges und der Theorie deffelben: Politik, Recht 
md lebendiges Staatsgefes. Das Dritte, der Mittelpunet 
jedes befonderen Lebens, oder, nach dem Ausbrude der Alten, „def: 
fen Regierung*)”, worin ſich ftets die beiden erften Lebenselemente 
durchdringen, harmoniſch einigen und vermitteln müflen — im Staate 
die zugleich verfaffungsmäßige und vollsmäßige oder conftitutionelle 
Regierung — diefes ift alfo in Wahrheit ein Mittleres und zus 
gleich ein Vermittelndes. Das rechte Gefeb für feine Lebensthä- 
tigkeit — alfo im Staate das praftifche Iebendige (Politit und 
Recht vereinigende) Staatsgefek — fordert nothwendig ftete Bes 
hauptung jener rehten Mitte und für fie eine fletige, der Natur 
der drei Lebenselemente und ihrem grundgefeslihen Verhaͤltniſſe 
angemeffene VBermittelung der beiden erften entgegengefegten 
Lebensrichtungen. Es fordert eine DVermittelung diefer beiden Elemente 
unter fih, fo wie auch mit den Verhältniffen der Außenwelt, momit 
jedes Leben in Wechſelwirkung fteht. Die rechte Mitte beſtimmt fich alfo 
nad) der innerften Natur und den Grundverhältniffen der Dinge. Sie 
ift lebendige Bermittelung; fie ift die wahre Verföhnung 
und Vereinigung zweier entgegengefesten Elemente, Grunbfäge, 
Parteien; fie ift die rechte lebendige Verbindung von Geift 
und Form, vom Allgemeinen und Befonderen, die wahre Harmo⸗ 
nie und Geſundheit jedes Lebens. Im Staate ift fie die lebendige 
Gerechtigkeit oder die gerecht (in Uebereinflimmung mit der Frei⸗ 
heit oder mit dem Mechte der Bürger) vermirklichte Staatsidee, und 
die conflitutionelle oder die ftets dieſe Verfaſſungsidee mit der 
Volksfreiheit vereinigende Staatsregierung. Sie ift eine jedes 
einfeitige Extrem ausfchließende flete Maͤßigung. 

Diefe wahre gerehte Mitte unterfcheibet ſich von der fal- 
hen vorzüglich durch drei Hauptpuncte. 

Die wahre Mitte ift für's Erfte ſtets grundgefeglich und 
principmäßig. Sie adıtet als Heiligthum das Grundgefeg oder bie 
Natur der Grundkräfte und Grundprincipien und die grundgefeglichen ins 
neren und äußeren DVerhältniffe jedes Lebens; alfo im Staate die ber 
Verfaffungsidee oder des DVereinigungsgefeges des lebendigen Gefammt: 
zweckes, und die des organifirten Volkskoͤrpers oder der Volfsfreiheit und 
endlich der beide ſtets neu vereinigenden conftitutionellen Staats: 
regierung. Sie ſchwankt alfo nicht, wie die falfche Mitte, will: 
türlich und peinciplos zwifchen ben entgegengefesten Kräften bin 
und her, bald die eine, bald die andere begünftigend, oder unterdrü- 


*) 8. oben Bb. I. S. 9 und mein Syftem Bd. I. ©. 49, Bei dem 
Staate hieß es ihnen zoAırela und war ihnen bie felbftftändige, aber verfaffungss 
mäßige und vollömäßige Staatsregierung, welche ſowohl dem allgemeinen 
Staats geifte — der Grundidee ober bem Vereinigungss oder Berfaffungsprins 
cipe , der sowesla nad Ariftoteles — wie dem Volkskoͤrper mit ein 
freien Gliedern und ihren Stechte entſprechen mußte. 


6 Juͤftemilieu. 


ckend und verſtuͤmmelnd, ſo daß zuletzt nur Kraftloſigkeit, Tod oder Em⸗ 
rc Anarchie ober revolutionäre Umgeſtaltung des Lebens erfolgen 
müffen. 

Die wahre Mitte ift für's Zweite ſittlich und wahrhaft 

gerecht, nicht materialiftifh. Sie läßt insbefondere auch dem 
höheren allgemeinen geiftigen Lebensprincipe,, im Staate der höchften 
Staatsidee, fein volles Recht, mithin feine angemeſſene Vorherrfchaft 
über das niedere. Diefe Vorherrfchaft folge fchon aus der Beachtung 
‚der geundgefeglihen Natur und des Grundverhiltniffes 
der beiden Lehenskräfte, von welchen das niedere den leiblichen 
Träger, bie Grundform für das höhere abgeben fol. Die fal: 
[he Mitte dagegen, unbeadıtend diefes Verhältnig, mißachtet und 
verlegt das Höhere, fo wie jene Grundform, und wendet fich dem 
ihrer Willkuͤr und Selbſtſucht bienftbaren Niederen, Materiellen zu. 

Die wahre Mitte begründet fuͤr's Dritte eine innere pofi: 
tive, eine lebendige oder belebende Vermittelung und cine wahre 
Berföhnungder®egenfäge. Denn fie geht, wie es zu ſolcher Verföh: 
nung nöthig ift, fletS aus von einer inneren Gemeinfamfeit mit beiden, 

"die fie im Innern des eignen Weſens vereinigt. Sie geht aber zugleid) - 
aus von einem felbftffändigen Standpuncte und Principe diefer Vereini: 
gung, fie ift die Seele oder die wahre freie Regierung des gan: 
zen Lebens. Und fie bewirkt die Vereinigung unter Vorherrſchaft des 
allgemeinen höheren, innerlichen Zebenselements. So bemirft fie denn 
jene höhere harmoniſche Vermittelung, worin alle Lebenselemente ihre 
angemeſſene Stellung und ihre harmoniſche Wirkfamkeit, Erhaltung und 
Gedeihen finden. Die falfhe, principlofe und materialifti: 
(he Mitte dagegen kann nur eine willkuͤrliche, außerlide, 
negative oder eine durch Unterdbrüdung und Verflümme: 
lung zu bewirktende, blos ſcheinbare Ausgleichung geben. Sie 
huldigt nur beliebig, feheinbar und heuchleriſch, hier ber hoͤchſten Ver- 
faffungsidee, dort der Volksfreiheit, in Wahrheit ſtets ihrer 
Willkuͤr oder Selbſtſucht. Sie fuͤhrt alſo auch deshalb uͤberall entweder 
nur zu Mittelmaͤßigkeit oder zu Unterdruͤckung, Aufloͤſung und Tod des 
Ganzen. 

Die wahre gerechte Mitte ſchließt nach allem Bisherigen uͤberall aus 
die einſeitige, unpraktiſche, rein ideale und ſchwaͤrmeriſche Richtung blos 
auf das Allgemeine, Hoͤhere, Innerliche, Geiſtige. Eben ſo aber ſchließt 
ſie auch aus die alles hoͤhere Leben verleugnende und zerſtoͤrende gemeine 
materialiſtiſche Richtung blos auf das Beſondere, Niedere, Aeußerliche. 
Sie fordert aber uͤberall die rechte angemeſſene innerliche Verbindung 
von beiden Richtungen, von der geiſtigen und leiblichen, oder von dem 
höheren Inhalt und der aͤußeren Form. Sie will und achtet 
in allen Berhältniffen das Höhere. Aber fie will eben fo, daß auch ſtets 
die entfprechende leibliche Außere Grundform feiner irdiſchen Offenbarung 
und Verwirklichung geachtet und mit ihm verbunden fei. Sie will, daß 

Deide [deinbar entgegengefeste Kräfte und Richtungen in jeder neuen 


TG 


da 


Juͤſtemilieu. 7 


Erſcheinung und Bewegung des Lebens ſtets unter ſich, wie mit der Au⸗ 
ßenwelt vermittelt werden, ſowohl ihrer eigenen Natur, wie der Natur 
und dem Grundgeſetze jedes beſonderen Lebens entſprechend. 

So z. B. achten und anerkennen nach dem Obigen*) das Syſtem 
der wahren Vermittelung und die Regierung, als deſſen Voll⸗ 
zieherin, in Beziehung auf das ganze Recht im Staate, deſſen beide Haupt⸗ 
elemente und Gegenſaͤtze. Sie achten und anerkennen die ſittliche 
Idee der Geſellſchaft als das allgemeine höchſte Lebens princip 
derſelben und aller Theile des geſellſchaftlichen Rechts. Sie anerken⸗ 
nen und achten aber auch den aͤußeren Volkskoͤrper, beſtehend 
aus einzelnen freien Gliedern mit beſonderen verſchiedenen Anſichten 
und ſinnlichen Bedürfniffen. Sie wiſſen aber beide im lebendigen Rechts⸗ 
ftante dadurch harmonifc zu vermitteln, daß fie, vermittelft eines nach 
der fietlihen Idee frei von allen Gliedern gemollten 
Rechtsvertrages, Jedem eine angemeſſene Sreiheitsfphäre anwei⸗ 
ſen, innerhalb welcher er in allſeitiger Harmonie mit der Geſellſchaft nach 
ſeiner Ueberzeugung ſeine Beſtimmung und ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen 
und unter vermittlender Leitung der Regierung auch für die Gefammt- 
heit und ihre Idee mitwirken fol. In folcher Weife ſoll alfo wirklich 
iedes Recht von der höheren Idee befreit fein und ihe dienen. Diefe 
höhere Idee aber darf überall nur in der Äußeren angemeflenen recht⸗ 
lihben Grundform verwirflicht werden. Sie muß fo überall und in 
jeder Erfcheinung des Lebens mit der Natur des befonderen äußeren 
Volkskoͤrpers und feiner freien individuellen Glieder harmonifd) vermit- 
telt werden. 

Ohne foldhe wahre Vermittelung würde von den falfchen ertre⸗ 
men Parteien die eine die ganze reine Moralgefeßgebung, als ſolche, 
und mit Vernichtung des freien Volkskoͤrpers und der Freiheit feiner Glie⸗ 
der diefen zum äußeren Staatsgefes aufzwingen. — Die. andere Partei 
möchte ein gänzlich der Moral fremdes, ein materialiftifches, unmoralifches 
auferes Zwangsgeſetz verwirklichen. Die falfche Mitte dagegen wlürbe 
hier bald der einen, bald der andern falfchen extremen Anficht nachgebem, 
und fomit bald die Zreiheit, bald die Moral Preis geben. Sie würde auf 
unglüdfelige Weife Moral und Außeres Recht vermifchen und beide be 
einträchtigen. Sie würde hier zu viel, dort zu wenig thun, niemals das 
Rechte. Sie würde nie die Höhere Idee in ihrer dem Staatsleben 
entfprehenden Grundform oder harmonifch vermittelt mit einem 
Staatskörper freier Bürger zu Tage fördern. Ariſtoteles dachte hieran 
bei feiner Mitte zwifchen Unrechtthbun und Untechtleiben. 

So vermittelt die wahre Mitte, ald gerechte VBermittelung, 
oder an ihrer Stelle die Regierung, welche ſelbſt zugleich von ber 


- — — — — 


*) ©. die vorige Rote. Beiſpiele für die richtige Mitte enthält uͤberal 
die erfie Abhandlung des Staatslexikons, der Artikel,,Alterthum,“ 
der Artikel „Adel (Bd. J. 8.235 ff. u.ſ. w.). S. auch für die Falfche Mittel 
„Buizot’” am Ende 


Juͤſtemilieu. 


8 . 
hoͤchſten Idee ber 66 und zugleich von der Kreiheit 
de Ser Päeper, ausachen und Be fein fol, dieſe —S—— 


See In A — ne — 


welche zuteht ſtets auf dem Gegenſatz jener Grundkraͤfte zuruͤt 
zen, und bei welden ſtets bie Aufere Grundform für das Slhere das 
Rede if. So vereinigte. Indbefondene auch Ariftoteles jene Idee 
bes — ud die t aller Bug unter 
ſich — it ber. Debnung und Regierungeſouveraͤnetaͤt *). erklaͤtt 
im 


Süftemitieu, Freiheit blos beliebigen der 
Meichen mächen will, dem Gtoat, in fo fern nicht alle Bürger an ben 
felihen Befchtäffen Anteil haben, geradezu unb 
— fhr Sefe Eben fo aber. 
fage gegen Rouffeau’fde Willtuͤr ber Stim⸗ 

menm⸗ u Bilde Bid umd bie ihr und dem 
m ie terung über ſich aner⸗ 
für een fuͤr eine will⸗ 
Eüclihe — ie lebendige er 

0 





’ 


5 ie nicht blos — ab folutiomus, fondern auch zu einem - 


Juſtemillen. 80 


iſt alſo nur baare Willkuͤr oder Schwaͤche und Seichtigkeit. Es iſt die 
Nachahmung jenes alten Barbaren, ber die Menſchen bald verſtuͤmmelte, 
ba ihnen die Glieder aus einander zertte, um fie in feine Betten zu le 
gen. Vollends eine hier beliebig die Verfaffungsidee, dort den freien 
Volkskoͤrper oder fein Recht verlegende, und doch nach beiden fih con» 
flitutionell nennende Regierung — fie iſt für jeden gefunden morali⸗ 
[hen und politifhen Sinn ein Greuel. | 

Iſt nun aber diefe wahre Mitte jene Ariflotelifche Idee von 
der Sreiheit und Drbnung wohl bie Idee des neuen franzoͤſiſchen 
Süftemilieu? 

IN. Das neue franzöfifhe Juͤſtemilieu-Syſtem. — 
Bocbemertungen über ben richtigen Standpunct der Bes 
urtheilung politifher Syſteme überhaupt. — Der Würdigung 
jenes Syſtems muß ich einige Bemerkungen vorausfciden. 

Fürs Erfte gilt es mir hier um eine rein objective Würdigung dies 
fes Syſtems, ohne daß ich mich in Unterfuchungen einlaffen mag über 
die perfönlichen Urheber oder über bie fubjectiven Motive der Darimen 
und Mafregeln, welche diefes Syſtem bilden. 

Sodann beurtheile ich dieſes Spftem an ſich natürlidy nicht nach 
dem Standpunct unferer deutſchen Verhältniffe, oder darnach, ob «es 
uns etwa vorübergehende ober dauernde Vortheile oder Nachtheile in Bes 
ziehung auf unferen inneren und dußeren Frieden und Wohlftand gebracht 
hat oder verfpricht. Ich beurtheile e8 mie jedes politifche Syſtem zunaͤchſt 
nad) dem Standpuncte feiner Urheber, alfo nach der Aufgabe, nach dem 
Stüd, dem Ruhme und der Größe der franzöfifchen Nation und ihrer 
Dynaſtie. 

Sch bin ferner für's Dritte keineswegs gemeint, mic als Rath: 
geber der franzöfifchen Regierung aufzumerfen. Sie hat grobe und feine, 
öffentliche und geheime NRathgeber genug. Allein das Schidfal Frank: 
reich® ift nicht blos für die ganze politifche Xheorie und ihre Probleme, es 
ift audy für die Sache von Deutfchland und Europa praktiſch zu wichtig, 
als daß nicht taufend Beforgniffe und taufend Hoffnungen auch bei uns 
fi) an jede Veränderung feiner Verhältniffe Enüpfen follten. Sich über 
diefe Verhältniffe, ihre Urfahen und Folgen bie richtige Anficht zu vers 
ſchaffen, dieſes ift fchon ein Beduͤrfniß des Geiftes ; es wird eine Pflicht 
der Treue gegen das Vaterland für Alle, welche auf unfere vaterlänbdifchen 
Berhältniffe, wenn auch nur vermittelit der öffentlichen Meinung, einigen 
Einfluß ſich zuteauen dürfen. Deutfchland muß vorbereitet fein auf 
mögliche Wechfelfäte. Es muß zum Voraus gegen bie vielleicht über 
Nacht plöglich hereinbrechenden Gefahren gerüftet fein, wenn großes Ungluͤck 
verhindert oder gemindert werden fol; noch größeres vielleicht, als wir 
bereits — zumal auch durdy Alliancen Frankreichs zuerft im dreißig⸗ 
jährigen Kriege mit Schweden, bann 1803 und 1808 mit Ruß: 
Land — fchon erlebten. Könnte ich übrigens die franzöfifche Regierung 
wirkſam berathen, alsbann würde ich, frei von der Verblendung duxc 
Franzoſenhaß oder ähnliche Einfeitigkelten, im wahren Anterefie ok, 


S 





10. | Fhftemilien. 


unferes Baterlandes und der deutfchen Neglerungen gerade zu demjenigen 
rathen, was mir weſentlich ſcheint, um die neue franzäfifche Regierung 
und die Ruhe in Frankreich zu befeftigen, alfo deren wahres Gluͤck zu 
fihern.. Wenn 3. 3. durch Fünftliche Förderung der Gorruption und 
Demoralifation die lebten heiligen Bande der Gefellfhaft in Frankreich 
immer mehr aufgelöf’t würden, müßte diefe Peft mit ihren Folgen nicht 
zuletzt auch uns ergreifen? Wenn etwa dort durch foldhe Mittel und 
durch jede Lift und Intrigue das conftitutionelle Syſtem und feine Anhän: 
ger möglichft herabgemwürbdigt, um ihre Achtung, um den Glauben an fie 
gebracht würden, wirkte diefes nicht auch für unfere noch fo ſchwache 
Treiheit Lähmend und verderblih? Der befchränktefte politifche Verftand 
muß es vollends einfcehen, daB, bei einem durch Nichtbefriedigung der 
feanzöfifchen Nation herbeigeführten Sturz der gegenwärtigen Dynaſtie 
und Verfaſſung in Frankreich, wenigftend vorübergehend die Republicaner 
oder die Napoleoniften die Nation mit fich fortreißen und ſich wie ein 
Lavaftrom auf die benachbarten Länder flürzen würden. Alsdann flünde 
endlich doch der fo lange geflirchtete, fo muͤhſam zurüdgedrängte allge: 
meine europäifche Principienkrieg bevor, mithin zehnmal Schlimmeres, als 
alle zunaͤchſt im Intereſſe Frankreichs und ber gegenwaͤrtigen Dynaſtie 
angerathenen Mittel fuͤr ſie etwa beſorgen ließen. 

Fuͤr's Vierte endlich muß ich bei dieſen Betrachtungen gaͤnzlich 
zuruͤckweiſen jene oberflaͤchliche Eintagspolitik, welche alle politiſchen Maß⸗ 
regeln und Syſteme nach den zufaͤlligen und materiellen, ja nach den 
blos augenblicklichen Erfolgen berechnet und ſchaͤtt. Die Zahl ſolcher 
oberflaͤchlichen Politiker iſt freilich Legion. Sie finden ſich uͤberall unter 
Gelehrten und Ungelehrten, Vornehmen und Geringen. Nach den lt: 
theilen folcher politifchen armen Sünder war Napoleon’s ganze Politik, 
fo aud) die feines ruſſiſchen Feldzugs, mit dem Allen, ons jene jet, 
nad) dem furchtbaren Sturze des Helden, felbft als verkehrt, ja ald un: 
vermeiblich verderbenbringend fchelten, doch, fo Tange er glüdlich war, nur 
untadeliges Meiſterwetk. Sie wäre e8 auch nach ihnen ſtets geblichen, 
wenn zufällig neue Zehler und neite Unglüdsfälle feiner Gegner ihm 
den Sturz feines ſtets unnatürlicheren und fehlechafteren Syſtems waͤh⸗ 
rend feines Lebens abgewendet hätten; wenn etwa ber Kaiſer Alerander 
fo übel berathen, fo ſchwach oder aͤngſtlich geworden waͤre, nad) der 
Schlacht an der Mostmwa einen nachtheiligen Frieden zu fchließen, wenn 
Roſtopſchin's heidenmüthige Verbrennung Moslaus nicht eingetreten, 
ober ftatt des Bälteften der mildeſte Winter erfolgt wäre. Diefelben Po: 
litiker priefen ja auch — wer hörte es nicht mit eigenen Ohren ? — fo lange 
der Thronumſturz nur noch nicht aͤußerlich vollbracht war, die fünfzehn: 
jährige verkehrte Politik der bourboniſchen Reftauration. Sie priefen fic 
namentlich auch im angeblichen Intereffe für Deutfchland und die deut: 
fhen Fürften. Sa, fie bejubelten bis zum Tage vor diefem furchtbaren 
Thronumſturz die Weisheit der Juliordonnanzen, eine Weisheit, die aud) 
fogar für fie der blofe Erfolg fhon den Tag nachher in Thorheit verwan⸗ 
dere. Kurz, ibnen iſt überall fiets das Aeußerliche, Materiellſte, ſelbſt 





Süftemilieu. 11 


das ganz Vorübergehende in den Erfolgen die Hauptſache. So lange, 
vielleicht blos durch zufillige Fehler oder Unfälle, oder durch die gleiche 
Schwäche der Gegner — fo wie etwa vor der franzöfifchen Revolution in 
den meiften alten Monarchieen — folange Volk und Thron noch zuſammen⸗ 
halten, wenn auch nur fümmerlid und ohne Macht und Ehre, ja unter: 
höhle durch Zerſtoͤrung ber moralifchen und phnfifchen Kräfte: fo lange, 
ift ihnen felbft diejenige Politit, welche täglich mehr Nevolutionen, Ent: 
thronungen und Unterjochungen herborruft,, eine untadelige, eine noth: 
wendige Politif. Zeigt fich freilich zufällig sine nachtheilige bedenkliche 
Folge Außerlih, dann können fie felbft übermäßig erfchredien und heute 
den Untergang prophezeihen, während fie fchon morgen wieder, fo fern - 
derfelbe nicht ſogleich erfolgte, alle Gefahr für verſchwunden halten. 
So viel Geiftesfreiheit und Phantafte fcheinen fie nie zu haben, um ſich 
hineinzubenten, wie ungefähr die Verhältniffe anders geftaltet fein wuͤr⸗ 
den, falls die Einflugreihen ihre Freie Thaͤtigkeit Hätten Anderen wollen, 
und wie fie in dee Zukunft fich bilden müffen. Auch erwaͤgen fie vollends 
nicht, daß Staaten und Dynaſtieen ein größeres, längeres Leben haben, 
als Einzelne, fo daß für jene ein verderblicher Krankheitsftoff langer im 
Verborgenen fein Gift verbreiten kann, che ber Zerfall erfolge. Diele 
deutfhe naturphilofophifche und hiſtoriſche Schuler erheben ſolche 
Armfetigkeit fogur zum Syſtem. Bei ihrer abgefehmadten Vermi: 
{hung des Nothwendigen, des Freien und des Zufäl: 
tigen in den Begchenheiten und Folgen umbhüllen fie jene feichten und 
unmoralifhen politifchen Urtheile zur unbeilvollen Taͤuſchung für Fürft 
und Volk mit philofophifchen und gelehrten Floskeln. Indeß, wie mit: 
leidswerth und verberblich auch diefe politifche Stümperei ift, fo waͤre es 
doch vergeblich, fie befehren zu wollen. Fuͤr fie iſt nicht zu fchreiben. 
Wenigſtens muß, um fie von der Verkehrtheit eines politifchen Syſtems 
zu überzeugen, bereitd der völlige Sturz deffelben mit allen feinen un: 
glüdlihen Folgen handgreiflich vor Augen liegen, ehe fie diefelbe erfen- 
nen. Und audy dann noch werden fie, zumal wenn fie blinde Parteimänner 
find, auf die ſeichteſte Weiſe diefem Geflindniffe ausweichen, indem fie 
das Verderben von zufälligen Mebenumftänden herleiten, oder vielleicht 
auch der Bosheit dee Gegner zufchreiben. Das Auftreten der Letzteren 
fieht man ja dabei gewöhnlidy nur als einen blofen unglüdlichen Zu- 
fau an, während fie doch meift die verkehrte Politik ſelbſt erſt hervor: 
rief und mächtig machte. Ganz fo war es ja offenbar der Fall bei 
iener materialiſtiſchen Verderbniß, Meineidigkeit, Maubgier und Bedrü- 
dung vieler Höfe vor der feanzöfifchen Revolution. Achnliches zeige uͤber⸗ 
baupt — zur leider ſtets vergeblihen Warnung ! --- die Gefchichte der mei: 
ſten alten und neuen Verſchwoͤrungen und Revolutionen. 

Nur zu ſolchen Politikern alfo möchte ich reden, welche die wahren 
tieferen Kräfte und Berhältniffe der Natur des gefunden und Franken 
Menſchen- und Staatslebens, feine ewigen Gefege, das Ineinandergrei⸗ 
fen des Sreien und des Nothwendigen und die moralifche Macht des Hoͤ⸗ 
heren über das Miedere grtuͤndlich zu erfaffen ſuchen, welche auch \dyon 


13 ‚ SIüftemilieu. 

in ihren Quellen und unfceinbaren Anfängen bie zerftörent 
heiten eben‘ fo wie bie Heilfräfte erfennen. Nur für fie allein 
fie gibt es überhaupt eine wahre, eine praßtifche, ei 
thätig leitende und fhirmende Politik für die $ 
die Völker. Sie, welche die politifchen Verhältniffe und Entt 
in ihrem lebendigen Zufammenhange guffafien, laffen ſich 
itren durch einzelne augenblickliche Erfolge oder Unfälle. Sie 
Alem nad) den Grundträften und ben Grundfägen 
den eingefchlagenen Hauptridtungen einer Regierung, 
was diefe harakterifirt. Sind fe falſch — jener wahren g 
Mitte wiberfprehend — und Unglüd verheißend, fo beruf 
aͤußere Oberfläche der Dinge und bie fcheinbare Langfamkeit det 
Yungen ber Reifen des Voͤlkerlebens im Mindeften nicht. V 
HPolititern vernahm ich ſtets, auc während bes glänzenbften, 
famften Siegeslaufs Napoleon’s bie nie erfhütterte Weberzei 
dem voͤllig unvermeiblihen Sturze feines Spftems , welches | 
mehr in Widerfpruc, fegte mit den noch nicht moraliſch erfor 
verfaulten befferen Grundkräften des europäifchen Voͤlkerlebens 
mit jebem feiner Erfolge immer weiter und tiefer die dem Dei 
der Schmad; und der Lüge feindlichen Kräfte gegen ſich aufregi 
Politiker hörte ich gleich entſchieden ihre Weberzeugung von di 
des Throns ber älteren Boutbonen ausfprechen, feitbem derſe 
lich in und nad) bem Kriege von 1815 zu offenbar auf bie frı 
fengewalt gegründet wurde, und feitbem berfelbe auch in d 
Politik fi in feindlichen Gegenfag mit den herrſchenden Gru 


und Grundkraͤften des Volkölebens ſetzte, flatt eine Iebeı 
einigung mit bemfelben zu erficeben. Es ſteht eben fo v 
Seele bie völlig kiare und entfchiebene Ueberzeugung von d 
meidlihen Sturze dieſer Bourbonen, welche ſolchen Politikern 








_ Zuͤſtemilien. 13 


Auffaſſung der allgemeinen Grundgeſetze des Staats⸗ und Voͤlkerlebens, 
vor Allem eine unbefangene Würdigung ber Verhaͤltniſſe der franzoͤſiſchen 
Nation in und feit der Julirevolution nothwendig. Wir Deutfchen dürfen 
uns dabei natürlich nicht beſtechen laſſen durch die uns, leider! fo oft von 
unferen Nachbarn eingeflößten gerechten Beſorgniſſe und feindlichen Stim- 
mungen. Halten wir uns hiervon frei, fo muͤſſen wir zugeben, daß die 
franzöfifhe Nation vielleicht niemals in ihrer ganzen taufendjährigen Ge 
fhichte auf einem moraliſch und politifch vorthellhafteren und ruhmvols 
leren Standpuncte ſich zeigte, als in und unmittelbar nad) der Julire⸗ 
volution. Deshalb konnten auch felbft alle jene Beforgniffe und gegne⸗ 
rifhen Stimmungen nirgends In ganz Europa bie lauten Ausdrüde der 
Anerkennung und Bewunderung unterdrüden. 

Nicht minder allgemein aber in ganz Europa, wie in Frankreich 
ſelbſt, iſt das Gefühl und das Urtheil, daß ber fpätere, daß der jegige 
Zuftand, die innere und äußere Achtung und Stellung Frankreichs und 
feiner Regierung und deren noch fo ſchlecht geficherte Ruhe diefem größs 
ten glorreichften Moment ber franzöfifhen Gefchichte und den durch ihn 
erregten Erwartungen durchaus nicht entfprechen. Wo liegt nun hier 
die Urfache? 

Die Anhänger einer firengen Legitimitätstheorie in und außerhalb 
Frankreichs erklären überall die Gefahren und Mißgefchide der neuen 
Regierung durch den Mangel wahrer Legitimitde im gewöhnlichen Sinne 
des abſoluten Monachismus und rathen, wie zum Theil fchon bie 
Anhänger der Quafilegitimitdt und nun vollends ein Vertrau⸗ 
ter der neuen Dynaſtie, Hr. Sanfrede, zur möglichften Anfchliegung 
an das Legitimitätsprincip, zue Vertauſchung beffelben gegen das Prin⸗ 
cip des Vertrags. Aber gerade das Legitimitätsprincip ſprach ja für die 
Bourbonen wie für die Stuarte in England vor Beider erftem und 
vor ihrem abermaligen Sturze. Es wurde von Beiden auf: jede mögliche 
Weiſe gehegt und gepflegt, und Beide flürzten dennody für immer. 
Die nicht legitimen Häufeer Hannover und Bernadotte in Eng⸗ 
land und Schweden aber beftanden. und beftehen in unerfchütterter Kraft. 

In dem Mangel der Perföntichkeit bes neuen Staatsoberhauptes, 
in dem Mangel bes feinften, fchlaueften Verſtandes und ber behartlich- 
ſten Energie, in dem Mangel ſtets neuer, feiner und fchlauer Combina⸗ 
tionen und Berechnungen und bes feften, ja hartnädigen Behauptens 
des eigenen Willens — in diefem Mangel können wohl auch die Gegner 
nicht die Urfache des Mißlingens finden. Hier muß man vielmehr Be- 
wunderung zollen. Und man muß erflaunen, wenn folche Gaben, 
bei unleugbarem Muth, bei ber größten Selbftbeherrfchung und der uns 
ermuͤdlichſten Daͤtigkeit, bei der größten Nüchternheit und Maͤßigkeit, 
ja bei nur wenigen Stunden Schlafs — gewiß einem großen Vorfprung 
vor anderen Menfchen — dennoch nicht glüdlichere Reſultate hervor- 
bringen. u 

Freilich Hört man fagen, bie Franzoſen ſeien ſchwer zu regieren ; 
vollends aber bie Dusch bie Revolution zur Derfchaft gefommene Regie⸗ 





14 Süftemilien. 


rung habe einen unendlich fchwierigen Standpunct gehabt. Man Fonnte 
hierauf erwidern, im Ganzen fei vielleicht Eein Volk monarchiſcher und 
leichter zu regieren, als die Franzoſen. Sie find das geſellſchaftlichſte 
Volk; fie haben das größte Beduͤrfniß, die ſtaͤrkſte Neigung, fidy durch 
einen gemeinfhaftlichen, geſellſchaftlichen Antrieb und Mittelpunct be: 
flimmen zu laſſen; fie hängen am Meiften ab von der Regierung und 
Anregung der Gefelffchaft, der gefellfchaftlihen Mehrheit, alfo von der 
fie vepräfentirenden gefellfhaftlihen Gewalt. Damit hängt zufammen 
ihr doppelt lebhafter Ehrgeiz, durch öffentliche Ehren und Stellen in ber 
Geſellſchaft zu glänzen, und bie auch dadurch gegebene große Abhängig: 
feit von ber Regierung. Man könnte ferner fagen, eine nur an fid) 
tüchtige Regierung koͤnne in keinem andern Gefühl und Glauben der 
Nation eine größere Stärke finden, als darin, daß fie das eigene Werk 
der Nation ift, fo, daß ‚Angriffe auf fie unmittelbar das Werl und den 
Willen der Nation verlegen, Vollends aber hat eine Regierung, deren 
Eriftenz bas Werk eines fo großartigen moralifhen Aufſchwungs der 
Nation und mit dem erhebenden fittlichen Bewußtſein deffelben unzer: 
trennlich verbunden ift, hierin bie ftäckiten. Stüßpuncte und Mittel, 
welche die zumal in unferer Zeit fo fehr erfchütterten Bande und Ger 
wohnheiten alter Legitimitaͤt völlig aufwiegen. Und mit welchem Ber: 
trauen, mit welcher Einmüthigkeit der öffentlichen Stimme der uner: 
meßlihen Mehrheit der ſtimmfaͤhigen Franzoſen warf fi) nach der Juli⸗ 
revolution die Nation ihrem frei erwählten König in die Arme! An 
fi) aber gibt e3 gar Keinen günfligeren Zeitpunct für eine Negierung, 
Tuͤchtiges und Großes in einer Nation und mit derfelben zu gründen, 
als folche Zeiten eines großartigen Auffhwungs aller edlen und fittlichen 
Kräfte derfelben. Hierzu aber kamen nun noch bei den Sranzofen, und 
zwar zunaͤchſt in der Nation, die durch die Sulirevolution erhaltene glin: 
zende Befriedigung ihres politifchen -Strebens, die Befriedigung nad) 
bafbhundertjähtigem Kampfe fiherlid wenigftens in allen Hauptpuncten, 
zugleich mit einer durch felbfterlebte Erfahrungen erlangten großen Maͤ⸗ 
Bigung ; in dee Hand ihres Königs dagegen die unermeßlidden Mittel an 
Geld und Soldaten, an einer noch ganz Napoleoniſchen Adminiſtration 
und Gentralifation, an dem Deere abhingiger Beamten und ben Zaufen- 
den zu vergebender glänzender Civil: und Militaͤrſtellen. 

Sp wird man denn unvermeidlich dahin geführt, die Hauptgruͤnde 
der unbefriebigenden Ergebniffe, zu welchen in fo günftiger Lage, mit fo 
großen perfönlihen und fächlihen Mitteln die neue Regierungspolitif 
führte, in dee Sehlerchaftigkeit der Grundgedanfen ihres 
Spyftems zu fudhen. 

Mir hat flets gefchienen, dag alle Sehler diefes Spitems ſich zuſam⸗ 
menfaffen laflen in dem einen Sage: die neue Regierung huldigte in 
ihrem Süftemilieu, flatt jenem obigen Syſteme der wahren 
Mitte (M.), vielmehr dem ebenfalls angebeuteten falſchen Spiteme. 
Hierin find denn, als die Gegenſaͤtze jener Drei Hauptpuncte des rich⸗ 
tigen Syſtems, ihre drei großen politifchen Hauptfehler enthalten, 


Zuftemilieu. 15 


zuerft daB Aufgeben und Verfaͤlſchen ihrer Grundprincipien und bie 
Princplofigkeit; Todann der unfittlihe Materlalismus und die Cor⸗ 

ion, und endlich die Unfähigkeit zu wahren höherer Vermittelung 
und’ Begeifterung. 

V. Fortfegung — Bernadhläffigung und Verfälfhung 
des Grundprincips. Ewig wahr wird der große Grundfag der Al⸗ 
ten bleiben, daß eine jede Regierung ihre Kraft und Stärke fuchen muß 
in ben Kräften, welche fie fhyufen. (Imperium iis retinetur artibus, 
quibus initio partıun est.) Sie muß alfo die Grundprincipien des 
Nationallebens in der jegigen Geſtalt deſſelben und in bee Art, wie 
diefe Principien ihre eigene Entftehung aus dem Nationalleben begrün- 
deten, fie muß diefe Grundlagen ihres Lebens achten. Nur durch treue 
folgerichtige Ducchführung diefer ihrer wahren Grundprincipien, nicht 
durch deren liſtige Verhuͤllung, Verfaͤlſchung und Unterbrüdung, wird 
fie die Schwierigkeiten gluͤcklich vermitteln und ihre Aufgabe Iöfen- 

Was aber ift nun das Grundprindp, was find die Grund: 
Exräfte, die Grundideen des gegenwärtigen franzöfiihen National: 
lebens und der neuen franzöfifchen Regierung — diejenigen, welche die 
größte Erſcheinung dieſes Nationallebens , die Julirevolution, welche 
den Sturz der alten und die Entflehung ber neuen Regierung und 
Verfaffung beftimmten? . 

Im Allgemeinen wird man jenes Grundprincip bezeichnen koͤnnen 
als das der fittlih vernunftrehtlihen Freiheit, im Gegen: 
fage gegen Despotie und Theokratie oder gegen Abfolutis: 
mus und Prieflecherrfhaft. Diefes allgemeine Grund: 
princip aber wurde zum Theil eigenthümlich aufgefaßt; in feiner An⸗ 
wendung auf die inneren Berhältniffe nämlich, zunaͤchſt im Ge: 
genfage gegen das göttlihe Recht ber Könige, als auf Ber: 
trag und Bollsfouveränetät gegründete conflitutionelle 
freie Monardie; in der Anwendung auf die aͤußeren Verhält: 
niffe dagegen, zunaͤchſt im Gegenfage gegen die heilige Alliance, ' 
als freie Nationalfouveränetät im Kıeife freier Nationen 
nach dem Principe der Nihtintervention in ihre inneren An> 
gelegenheiten. 

Nach diefem dreifachen Hauptgefichtöpuncte fol hier das Grund: 
princip der Nation und dee neuen Regierung im Verhaͤltniſſe zu. der 
Politik der letzteren kurz betzachtet werben. 

1) Faßt man den allgemeinften Charakter der Julicevolution im 
Verhaͤltniſſe zu der Gefchichte der Älteren franzöfifhen Monardyie, zu 
der früheren Revolution und zu ber Reflauration auf, fo kann man 
als vorherrfchendes allgemeines Princip jene ſitt lich vernünftige 
Freiheit gewiß nicht verfennen. Die franzgöfifche Nation mar früher 
aus der Heuchelei und Geiftesfklaverei der Hierarchie und des Pfaf- 
fentbums durch entgegengefeßte Fehler herausgeriffen worden, durch ro: 
ben Materialismus unb Unglauben, naͤmlich durch den Atheismus, ja 
den wahren Religionshaß und die Religionsfpättsrei der Höflinge, der 








16 Süftemitien. 


Encykispäbiften, ‚der Voltair. Sie war ferr 

nach bem Austritte aus dem Despotismus der alte 
ſolchen blutigen anarchiſchen Revolutionsgreueln und ! 
Freiheit gekommen, daß es gerade hierdutch dem Nap 
geize möglich wurde, ſowohl die kaum erwachten Gru 
ter Freiheit und einer wahren aufgeklärt 
hen Moralität wieder zurädzubrängen, und bie 9 
rohen blutigen Kriegeruhme völlig zu beraufchen. 

Die fuchtbarften Wechfel und Leiden des Schick 
und bei Napoleon’6 bdoppeltem Sturze die Nation 
Sie hatten fie erweckt und vorbereitet zu einer endliche 
der wahren fittlihen vernünftigen aufget 
heitsgrundfäge und biefe feibft jenen Sturz mitbe 
alfo die offenbare Aufgabe der jest aus der Verbannun 
den Bourbonen, In ber Herrſchaft jener Grundfige u 
begründeten Culture und moralifhen Macht Frankreichs 
prineip, die Kraft und Beftimmung ihrer Regierung 
verlegten bieſes Grundprincip unb flürzten. Noch unglei 
wie ihr treulofes Spiel mit dee beſchworenen Sreiheit, x 
Religion · oder mit der reigiöfen Moral, waren die furd 
hungen der Religion für unwuͤrdige weltliche Zwecke un 
waren die Sefuiterei und Tartuͤfferei, waren die Miffio 
tifienigen und abſichtlichen Verbummungen des Volks. 
fie num wieder wenigftens theilweiſe, als einfeitige E 
Haß gegen bie chriſtliche Religion ſelbſt hervor, fo fehr 


tich die refigionsfeindlihen Schriften Voltaire's uni 
in fünf Sahren der Reflaucation mehr verkauft wurde 
fünfzig. 

As nun endlich das Maß erfüllt war, als den mo 
des franzöfifchen Volks mit geringen dufern Mitteln 





Juſtemilien. 17 


daß man neben ben von den Miniſtern gefuͤhrten und den Kammern 
mitgetheilten Verhandlungen mit fremden Staaten, in höherer Inſtanz, 
andere in entgegengefegtem, der Zreiheit und dem Nationalgefühl weis . 
Derfprechendbem ne führte, ober fei es, daß man bald durch hervor- 
gelockte Attentate und Emeuten, durch Spionerie und Qolncgreuei, 
ober auf diefe oder jene Weiſe, hinterliftig und taͤuſchens der ehrlichen 
und offenen Erfüllung des ganzen und wahren Sinnes des 
neuen Grundvertrags auszuweichen fuchte, oder zulest fogar bie 
Gründer des neuen Julithrons vurch verkleidete Potlagenten prü: 
geln ließ. j 

2) Zunaͤchſt in Beſſchung auf die inneren Staatsverhält- 
niffe wollte bie Nation entſchieden volltommene conftitutio: 
nelle Freiheit, und zwar gegründet auf Volksfouverd- 
netät. Die alte Regierung hatte, ganz bem Beifpiel ber Stuarte 
folgend, gerade mit Berufung auf Legitimicät und goͤttliches 
Recht und auf ihre angeblihe und alleinige Sonftituirungs= und des⸗ 
haub aud) einfeitige Aenderungsgewalt , bie Freiheit ſtets verlegt, zuletzt 
vernichtet. Die Nation wollte fie jest durch bie neue Regierung und 
ihre duch Woltemitlerkugnb Vertrag begründete Einfegung, 
durch die in diefem Sinne aͤusdruͤcklich hergeftellte, ſchon in ber erften 
Revolution erfämpfte Volksſouveraͤnetaͤt begrändee und befeftigt 
fehen. Aber man faßte biefes mefentliche Srundprincip für bie neue Re 
gierung, biefe allein mwefentlihe Aenderung der Charte sum Gluͤck 
hoͤchſt gemäßigt auf. Man verftand darunter nicht eine vipublica- 
nifhe Regierungsfouverdnetät, über dem König fiehend. Man 
erkannte vielmehr eine fouveräne, unverantwortliche, unab: 
Tesgbare, erbliche Königsgewalt an. Man fagte nicht, wie die Cor⸗ 
tesverfaffung: „die Nation ift allein fouverdn.” Man mollte 
eine Berfaffungsfouveränetät ber Nation, und auch bier nicht 
eine folche, wodurch bie Nation jeden Tag ohne Zuflimmung 
ber koͤniglichen Gewalt bie Verfaffung einfeitig ändern dürfe, 
wie ebenfalls die Cortesverfaffung beſtimmte. Dan wollte nur die 
Nation als eine ſelbſtſtaͤndige oder fouveräne beredhtigte 
Derfönlichkeit anerkannt fehen, von derm Willen für’s Erite 
urfprünglic) das Recht der erblichen Koͤnigsgewalt vermittelft des mit. 
der neuen Dynaftie frei gefchloffenen Wahlvertrags ausgegangen fel, und 
bet deren Ausflerben oder bei einer etwaigen neuen Unmöglichkeit 
ihrer Fortdauer wegen gänzlich zerflörten Grundvertrags auch das Recht 
der neuen Regierung abermals ausgehen müffe, ohne deren freie Zu— 
fimmung fürs Zweite weder irgend einwAenderung der Verfaſ⸗ 
fung, noch audy eine Beſchraͤnkung der verfäffungsmäßig anerkannten 
Freiheitsrechte der Bürger rechtsgältig fei. Man wollte auch Beine 
Thranten=: und formlofe Stimmenmehrheitsgemwalt der 
rohen Maffe, fondern eine Ausübung und Vertretung des Natio- 
nalwillens durch die verfaffungemäßig conftituirten Organe. Diefe aber 
ſollten fedlich dem Principe der Bolsfonveränetät gemäß, und wie man 

Staats s &erilon. IX. 2 





18 Süftenilien, 


auch burdy den Vorbehalt der Aenderungen des Wahlgeſetzes, ber 
Muntcipalgefege und der Preßgefeßgebung anerkannte, fo weit es 
nur immer bie Erhaltung ber Ordnung und gerade der Zweck, mögs 
lichſt volftändig den wahren Willen ber Geſammtheit zu fins 
den, zulaffen würden, den Willen aller feibfiftändigen Bür- 
ger zur Sprache bringen, repräfentiren und im Verein mit der Par⸗ 
lamentarifhen Regierung verwirklichen. Als ein Grundfehler der neuen . 
Regierungspolitid muß alfo Alles betrachtet werden, mas, untreu bem 
Sinne des Grundvertrags, dieſes Peincip, ftatt in ihm die Grundlage. 
und Grundkraft der Regierung freudig anzuerkennen, zu benugen und 
auszubilden, vielmehr vernachlaͤſſigte, in den Schatten ftellte, ſchwaͤchte, 
verfälfchte, überhaupt fcheinbar oder wirklich anfeindete und an beffen 
Stelle die Gewalt einzelner, mithin privilegirter Claſſen der Gefellfchaft 
ober auch eine abfolute Megierungsgemwalt, und die Legitimität oder das 
Intereſſe des fürftlichen Hauſes feste. Dierhin gehören 3. B. bie eng. 
herzige, durch liſtige Hofintrigue ducchgefegte Beſchraͤnkung der Wahlrechte, 
fo auch die Beſchraͤnkung der Departemental- und Municipalverfaffung, 
ferner die Doctein dee Quafiskegitimität, bie pensce immuable, 
die Septembergefehe, die bleibende Unterdrüdung ber Aſſociations⸗ 
freiheit, vollends der Feſtungsbau gegen daſſelbe Volk, weiches den Julie 
thron gründete. Es gehört dahin überhaupt das Princip der Intimi⸗ 
dation und bes Widerflandes. Und welche den Srundfägen ber Julirevo⸗ 
lution feindfelige, veactiondre, bespotifche Lehren fuchen vollends auf 
Koften der Eivillifle die vertrauten Organe zu verbreiten! Hierdurch 
mußte unvermeidlich Unzufriedenheit, Mißteauen und Abfall eines 
großen Theils des Volks und die Forderung einer ungemäßigteren 
republicanifchen Volksſouveraͤnetaͤt entftehen. Royer Collard fagte 
witzig: „Der Republik ftehen die alten und neuen Republicaner im Wege.‘ 
Wenn nur die. Sranzofen diefeß nicht auf ihr Königthum anwenden! 
Menigftens bat jegt diefes allein den feit der frühen Revolution fo 
allgemein gefürchteten vepublicanifchen Ideen von urfprünglic nur 
ſehr Wenigen Bebeutung und Anhang verfhafft. Es vermehrt den 
letzteren tagtäglich, und bamit zugleich auch die Hoffnung und Zahl der 
Garliften und NRapoleoniften. In Staaten wenigftend, melde, 
wie bie von England und Frankreich, Volksſouveraͤnetaͤt als Grundlage 
anerlannten — von andern kann ich bier nicht reden — befleht die Res 
gierung nur’ friſch und lebenskraͤftig, wenn fie in freier Harmonie mit 
dem verfafiungsmäßig fich ausfprechenden Nationalwillen ihre Befugniſſe 
ausübt. Bei entftehender wahrer Collifion deſſelben mit der eigenen 
Meinung der Regierugg hat diefe für die Durchführung ihrer Anfichten 
ſehr große friedliche Mittel. Sie kann für ihre Meinung die Ueber 
zeugung und freie unverfälfchte Zuflimmung der Repräfentanten 
gervinnen. Sie kann auch durch verfaffungsmäßige Appellation an das 
Volk die Aechtheit des Nationalwillens prüfen und bem mahren über 
ben blos angeblichen, über bie blofe Parteimeinung auf friedlichen Wege 
den Sieg verfchaffen. Hilft diefes aber nicht, alsdann muß fie fih mit 


Juͤſtemilieu. 10 


dem Nationalwillen ehrlich und friedlich einigen und ihn nur 
in ſeiner Verwirklichung leiten. Sie muß ſich, wenn ſie auch ihre Mei⸗ 
nung nicht durchſetzen kann, damit troͤſten, daß in dem Nationalwillen 
und ſeinem Sieg ungleich mehr Buͤrgſchaft der wahren Heilſamkeit und 
jedenfalls einer gluͤcklichen kraͤftigen Durchfuͤhrung liegt, und daß in 
freier Vereinigung mit ihm mehr wahre Wuͤrde und Ehre beſteht, als 
in dem Sieg der’ Hofintriguen und Parteianſichten. Jedenfalls muß fie 
bedenken, daß unvermeidlich ihre Königsmacht , wenn fie fi, in mahren 
Gegenfas mit dem Rationalwillen fegt, früher oder fpäter an diefem ge 
waltigen Helfen zerfchellen werde. Das ift auch in England laͤngſt ans 
erkannt. Ein durch unverfländige Hofintriguen bewirkter entgeaengefeßter 
Verſuch vor der legten Parlamentsreform hätte, ohne alsbaldige gaͤnzliche 
Zuruͤcknahme, unvermeidlid, die Revolution erzeugt. In den Nieders 
landen bewirkten faft gleichzeitig die unglüdlichen Verfuche, ſtatt jener 
friedlichen Stimmung, Prüfung und Yusführung des Nationalwil: 
lens, ihn vielmehr durch Verfolgung der freien Preffe und ber nicht mi- 
niſteriell flimmenden Deputieten liſtig und kriegeriſch zu unterdrüden 
und hartnädig einem entgegengefegten unterzuordnen, die Zerftüdelung 
des ſchoͤnen Reihe. Ganz diefelben Verſuche waren es, toelche zwei: 
mal die Throne der Stuarts und dreimal die der Bourbonen 
flürzten. Die Franzoſen und ihre Nationalgarden aber haben es jebt 
wahrlich eben fo, wie früher die Engländer und die Nordamerilaner, bes 
wiefen, daß man gerade durch Benugung und Geltendmachung des Prin⸗ 
cips der Volksfouveränetät, bag man durch das Volk felbft, durch feinen 
kraͤftigen und von Allen willig geachteten und befolgten Willen die Ruhe: 
flörungen befiegen, die Regierung und die Ordnung handhaben kann. 
Man kann es, fo lange man nur noch nicht jenes Princip durch Eigen⸗ 
finn und Anfeindung , durch Hinterlift oder Zuräditoßung ſich felbft 
feindlich gegenübergeftellt, oder einen falfhen Schein an die Stelle des 
wahren Nationalwillens geſetzt hat. Auf welche glänzende Weife hat 
neulich wieder das englifche Miniftertum die von ben Chartiften, von 
Sabrikarbeitern und Handwerkern durch ganz England verbreiteten furcht⸗ 
bar drohenden ungeheuern Volksbewegungen und Bolksverfammlungen 
unb den durch fie mit Seuer und Schwert geforderten Umſturz gänzlich 
befeitige 1 Welche Regierungen oder Minifter des Gontinents hätten 
wohl in ähnlicher Lage nicht gezittert und nicht geglaubt, durch Krieger- 
ſchaaren das Land mit Blut uͤberſchwemmen, felbft unfere kleinen contis 
nentalen Verfaffungsrechte fuspendiren und Zaufende vieljährigen Kerker⸗ 
qualen und furchtbaren Strafen überliefern zu müffen?- Das englifche 
Miniſterium kränkte oder fuspendirte auch nicht einmal das kleinſte aller 
großen britifchen Verfaſſungsrechte, appellicte. ganz ruhig an ben geſetz⸗ 
lichen Bürgerfinn des Volks, der Beamten und Gefchworenen. Alles " 
that feine Schufdigkeit, und mit den allermilbeften Mitteln, mit wenigen 
kurzen Verhaftungen und Strafen, find die Chartiften wie von der 
Erde verſchwunden und — mas bei gewaltfamer Unterdrüdung nicht 


möglich geweien wäre — für immer entwaffnet. 2. 





20 Ä Juſtemilieu. 


8) Aber noch ein drittes Prineip lag dem Sturze ber alten und 
ber Entftehung ber neuen Meglerung zu Grunde, da6 der wahren 
freien Nationalfouverdänetät nah Außen und einer ihr, 
wie der Ehre und ber Macht der franzöfifhen Ration 
entfprehenden würdigen Stellung im europälfhen Voͤl⸗ 
kerverhaͤltniſſe. Vielleicht dee ftärkfte und tieffte Grund ber Entzwei⸗ 
ung zwifhen dee reftaurirten Dynaftie und dem franzöftichen Volke 
beftand in ber unklug genährten Volksmeinung, baß bie Iegitimiftifche Gewalt 
dee Bourbonen durch die Heilige Allianz mit den fremden Fürs 
ften beftehe, durch fie beftimmt und geleitet werde und, wie ber Krieg 
gegen die fpanifche Freiheit erweife, gegen bie Freiheit ber Voͤl⸗ 
Fer mitverbändet fei. Durch die gänzliche Ausſtoßung biefer Dy⸗ 
naftie, durch begeifterte Wiederannahme der Rationalfarben und 
durch das auf Woltsfouveränetät gegründete Buͤrgerkoͤnig⸗ 
thum wollten bie Franzoſen für immer biefe dem Nationalgefuͤhl 
und der Freiheitsliebe widerfprechenden dußeren Bande und Verhaͤltniſſe 
zeritören. Sie felbft, als eines der mächtigften lieber des europäifchen 
Voͤlkervereins, proteftiete auf das Feierlichfte gegen die fogenannte heilige, 
biofe Fürftenalitanz , welche fogar nicht einmal von verantwortlichen Mi⸗ 
niſtern durfte unterzeichnet werden, unb die deshalb auch von England 
nie eingegangen mworden war. Gluͤcklicher Weiſe verbrängte auch hier eine 
 gemäßigtere, der wahren Freiheit und Öffentlihen Moral entfpres 
chende Auffaffung die frühere rohe und ungemäßigte,/ die gemalt 
fame Ausdehnung ber Freiheitsgrundſaͤze. Man wollte nicht die verlegens 
ben Eingriffe in die Inneren Verhaͤltniſſe felbftftändiger Staaten buch 
die officielle Revolutionspropaganda und die Mevolutionsheere. Man 
fagte fich feierlich Io8 von dem Durft nach rohem Kriegsruhm und nad) 
Eroberungsmacht. Aber die Franzoſen wollten dennoch eine der neuen 
Sreiheit, wie dee Macht und der Givilifation der großen franzoͤſiſchen 
Marion, ihrem Jahrhunderte alten Einfluffe und Nationalruhm entfpres 
chende ruhmvolle Stellung und Wirkſamkeit in dem Syſteme der euros 
päifhen Völker. Sie wollten zugleich mit bem freien Britannien, an 
dee Spige ber europaͤiſchen Givilifation und verbuͤndet mit ben freien 
Boͤlkern, durch moralifhen Einfiuß auf bie allmaͤhlige friedliche Verbrei⸗ 
tung der Freiheit und Eisillfation wirken. Sie wollten durch deren vor 
zug6weile Wertretung und Schügung im gemeinfchaftlihen voͤl⸗ 
kerrechtlichen Syſteme den Ruhm, Einfluß und Schuß der fruͤ⸗ 
heren Eroberungsmacht erfegen. Sie wollten fo bie Mechte und Pflich⸗ 
ten ausüben, welche für feine Ueberzeugung von dem Wahren und Gus 
ten jedes Mitglied in einem gemeinfhaftliden, mit gemein⸗ 
ſchaftlich en Kräften erhaltenen Syſteme hat. In einem folhen Sy⸗ 
ffeme oder Geſellſchaftsverhaäaltniſſe nimmt ja ganz nothwen⸗ 
dig jebes Mitglied Theit an der Ehre, wie an der Schande und Verant⸗ 
wortlichkeit des Wärdigen oder Unmürdigen, und an den Gefahren, welche 
durch ben Steg des Schlechten für es ſelbſt entſtehen. Solche Verant⸗ 
wortlichkeit und ſolche Gefahren finden aber in ber That im Voͤlkerver⸗ 


Juͤſtemilieu. | 21 


haͤltniſſe nicht minder flatt,. als im Gefellfhaftsverhältnifie der Einzelnen. 
Die Witglieber bürfen auch in jenem ebenfalls nicht, felbftfüchtig und 
fäg, Raub und Unterdbrädung unter fi dulden, ohne: 
zuletzt ſelbſt Denfelben zu unterliegen. Diefe Gefahren vers 
deppeln fich fogar für freie Völker im Völkerverhältnifie, weil die Anftedtung 
and Eauferneng unfreier Srundfäge, wenn diefelben durch die eigene Regies 
sung im Voͤlkerverhaͤltniſſe gehegt werden, unvermeidlich auch felbft im 
Inneren ded Staates, Gefahren bereiten. Das Syftem des göttlihen 
Rechts verdrängte gleichzeitig im Inneren der Staaten und im 
Voͤlkerverhaͤltniſßſe die altgermaniſche Freiheit und Gleichheit. 
Eben fo die letzteren fit Hugo Grotius wieder bie erſteren. Man 
betrachtete es ſogar als einen Selbſtverſtand, diefe in feinem blos voͤl⸗ 
Werte vom Recht des Kriegs und Friedens entwi⸗ 

delten voͤlkerrechtlichen Grundſaͤtze auch wieder unmittelbar nis ſtaats⸗ 
sechtliche Principien anzuwenden. Ganz natuͤrlich ſtrebt insbefondere 
ber Abfolutismus auch ſeinerſeits, ſchon wegen feiner Selbfterhaltung, 
kbesaß nach moͤglichſter Ausdehnung und Verbreitung feiner Pringipien 
mit allen feinen vereinigten Mitteln Auch in biefer Beziehung nun 
zeigt fih in Frankreich Vernachläffigung und Verlegung des Grundprins 
ap. Selbſt in derjenigen gemäßigten Auffaffung wurde «6 
aufgegeben, wie es namentlich auch das von der Megierung feierlich 
anerkannte, dann aber mit Zäufchung gegen die von ihr falich bera⸗ 
thenen unglüdiihden Polen und gegen bie ausdruͤcklich felbft durch 
bie Thronrede verlockten unglädlichen Italiener wieder Preis gegebene 
Princip der Nichtintervention bezeichnete. Auch biefes mußte 
nothwendig ber Regierung yerberblich werben und ebenfalls, zur Gefaͤhr⸗ 
bang ber Ruhe Frankreich und Europa’s, die ungemäßigte Auffaſ⸗ 
ſung ſelbſt hervorrufen. Es konnte nicht anders kommen, ſobald, wie 
ſo viele Franzoſen klagen, in der Nation die Vorſtellung Wurzel 
—— ihre Regierung nehme nicht jene hohe und wuͤrdige, ber Macht 
dem Ruhm, der Ehre, Freiheit und Sicherheit Frankreichs entſpre⸗ 
eeabe Stellung ein, fie ergreife vielmehr, trotz aller im Frieden die 
Landeskraͤfte vergehrenden Kriegsruͤſtungen, eine demüthige, bei jeder 
Drohung zum Widerrufe und zur Zurkdinghme ihrer Erklärungen und 
Aufagen bereitwillige, ia ‚eine heimlich der Freiheit der getäufchten Voͤl⸗ 
fer Aberall feindfelige, eine mit bem Abfolutiemus der Könige verbuͤn⸗ 
dete Stellung; fie -gefährhe fo zugleich wit der Freiheit und Sicher» 
beit bee Nation auch ben Ruhm und bie Achtung berfelben bei frem⸗ 
den Völkern, und führe dennoch mit ihrer Foͤrderung der Unterbrüdung 

ber Völker und mit ihrem Erkaufen bes Friedens um jeben Preis, 

Rate wahrhaften Friedens, nach) Jahre langm - großen Opfern, einen 
unvermeiblihen, immer gefahrvolleren Krieg herbei. | 
Vi. Sortfegung Der unfittlihe Materialismus 

und Mahlavellismus. — Als ich vor Fünf Jahren vor Allem be 
dauerte, pi die neue Politik, flatt die Nation in bee eblen firtlichen 
Richtung der Julirevolution zu erhalten und fie füg geiitige und ftt 






































22 Süftenilien. 


liche Entwwiderungen zu begeiftern, fie vielmehr felbfl 
des Materialismus und dee Genußfucht hetabziehe 
da fand diefer Tadel noch ziemlich vereinzelt da; feit 
Frankreich immer Tauter geworden, "Ztvei auf einar 
mern erinnerten nicht blos an bie nicht erfüllten! 
bie innere Freiheit und über die Verlegung der Ti 
Außen; fie Elagten vor Allem auch laut uͤber das un] 
Corruiption und die den Nationalcharakter entwuͤrdig 
ben Credit und die alle großen Unternehmungen laͤhm 
Materialismus und Egoismus. "Sie fliegen den Em 
einen Haupteepräfentanten aller Corruption, den ft 
Betruͤgerei bezüchtigten und dennoch den innigft der 
das Drgan des Hofe, mit Indignation ans ihrer M 
der öffentlichen Meinung halfen täglidy mehr wieder 
die Hinterliftigkeit und den Machiavellismus der Pot 
tel und über deren ftets wachſende verberbliche Mir! 
Klagen erhielten eine noch fatalere Geſtalt durch All 
würfen’ von Habgier fir das Familienvermögen eit 
mußte. Selbſt der Kammerpräfident Dupin, ſ 
meife für die firtfichen Ideen ſchwaͤrmeriſch begeiſtert 
feten Mangel auch nur der Berührung’ diefer "Seit: 
in allen beredten Aeußerungen von Dben und dageg 
Berufungen nur auf die ateriellen Jntereſſen in fe 
fentlichen Anreden rügen' zu müffen. N 

Ich führe Hier nicht" aus, daß Sittlichkeit, 6 


und Treue die’ allein wuͤrdige und fichee Grundlagı 
und ihrer Politik find, "daf ein Machlavellismus im d 
fo wie der des Jüſt em ili eu in den fpamifchen, it 
getifchen Angelegenheiten, 3. ®. in ber unfauberen Cr 

5 vollends bie Hetvorbildimg der Selbftfucht, "Ger 





Juͤſtemilieu. | 38 


öffentlichen Ordnung und Givilifation werden! Napoleon glaubte - 
nicht an bie fittlihen Ideen und ihre Macht über die Völker — und 
flügzte. Die Bourbonen verkannten die fittliche Kraft der Freiheits- 
liche ihres Volks — und flürzten. Werben bie neuen Zweifler gluͤck⸗ 
licher fein? Wie weitab ſteht doch von politifher Schlauheit und 
Gewalt politiihe Weisheit und Kraft! Und wehe! wenn es ge 
länge, burdy bie wachſende Demoralifation, durch Napoleonifche Avili⸗ 
rung ‚ber Denfchen die Kraft der fittlihen Ideen zu entwaffnen! Bei 
bes Ewigen, ber Thron und bie vorübergehende Ruhe find viel zu 
heuer erkauft, die es auf Koften ber äffentlichen Sittlichkeit murbden! 
Hier iſt auch für die übrigen Kürften und Länder nicht der Weg zum 
Sieben, fondern der Weg zum Kriege. Ä | 

Aber, fo jagen die Vertheidiger des Füftemilieu: die Sranzofen 
finb materialiſtiſch, felbfl- und genußſuͤchtig. Diefes und die Nothiven- 
bigfeit der Megierungspolitit beweiſet ſich ja gerade dadurch,- daß bie 
Regierung durch die⸗kluge und liftige Berufung auf diefe materiellen 
Intereſſen fid) Anhänger gegen ihre Feinde fchaffen, felbft Die Erfüllung der _ 
ihr unbequemen Verheißungen fchlau umgehen ober vereiteln Eonnte, fogar 
wiederholt die ihr unangenehmen Kammermajoritäten zu fprengen mußte. 
Aber ic) frage dagegen: wo in ber Welt war ein Volk, in welchem nicht 
Diele, ſehr Viele, ja die Mehrzahl zugänglich find für die Motive ber 
Eigenfuht und Genußſucht? Wo, wenn eine gewaltige koͤnigliche Ne 
gierung mit all’ den ungeheuern Mitteln des franzöfifhen Koͤnigthums, 
und mit ber noch nicht zerflörten moralifchen Auctorität eines durch bie 
Nation gewählten und zu ihrem Schuß und Frieden nothwendigen Koͤ⸗ 
nigthums, wenn eine ſolche Regierung, flatt.an die edleren Gefühle und 
Grundſaͤtze der Bürger, täglich nur an ihre materiellen Intereſſen bie 
Berufung einlegt, nur Eigennug und Genußfucht hervor: und großzieht — 
we, fage ich, wuͤrde unter gleichen VBerhältniffen nicht, "vorübergehend 
wenigftens, der Materialismus die Oberhand erhalten? Wozu aber find 
bie Könige auf ber Welt, wenn von ihnen nicht die höhere fittliche Idee, 
die wahre Ehre der Nationen follen repraͤſentirt, gefchügt und gekraͤftigt 
werben ? 

Und waren der Sturz Napoleon’s und ber Reflauration, 
ſelbſt nachdem beide halbe Menfchenalter hindurch ber unterdrüdten 
Volksmoral gefpottet und jede Oppofition befiegt hatten, nicht eine ge: 
nägende Warnung? Waren nicht auch hier der tief fittliche Charakter 
der Julirevolution, bie hochachtungswerthe Uneigennügigkeit, Mäßigung 
und Selbſtbeſchraͤnkung, in ihr das arglofe volle Vertrauen, mit welchem 
das Volk fi feinem neuen König in die Arme warf, die Herzlichkeit 
feinee Stimmung für denfelben deutliche Fingerzeige, diefer Richtung 
auch ferner zu folgen? Und kann ein folches Volk, kann eine Nation, 
deren Bürger auch jetzt wieder felbft in ihren Verirrungen eine ſolche muth: 

volle Tobesverahhtumg , ſolche Empfänglichkeit und Hingebung für das 
eigen, was fie der Ehre ihres Vaterlandes vortheilhaft halten, können 
diefe unempfänglich für die eblere Stimme ihres Königs, für edlere Res 





24 Zuuſtemilieu. 


gierungsmotive genannt werden? Die jetzt ſtets wachſende Geringſchaͤ⸗ 
kung und Indignation gegen die machiavelliitiiche Regierungspolitik 
wird diefes mahrfcheinlich bald noch beutlicher zeigen. 

Vo. Fortſetzung. Das Aufgeben der wahren VBermits 
telung. — Mit der Principlofigkeit und mit der Geringfhäsung ber. 
fittlichen Ideen, mit dieſer Unfähigkeit für diefelben, mit dem Mater 
rialismus und Machiavellismus bes franzöfiihen Juͤſtemilieu iſt 
noch ein fernerer großer politiſcher Fehler unzertrennllich 
verbunden. Dieſer beſteht darin, daß dieſes Juͤſt emilieu gerade das 
Gegentheil feines Namens, daß es weder gerecht noch eine wahre 
Mitte oder Vermittelung ifl. Sie befteht darin, daß diefe Politik zu 
einee wahren innerlihen pofitiven Vermittelung unb 
Verſoͤhnung der Gegenfäge, der &rtreme ber Parteien umb bes 
Volkswillens mit der Verfaſſungsidee gänzlid, unfähig wird. Fuͤr alle 
ihre Zwecke, für bie Befeftigung bes Thrones, ber Ruhe und der Ordnung, 
für die Beruhtgung der Gegenfäge und Parteien verfteht fie nur nega⸗ 
tiv und dußerlih, nur materialiftifch, unterbrüdenbd, ein⸗ 
fhränfend und ftrafend, nicht poſitiv begetfternd, her—⸗ 
vorbildend, vereinigend und [haffendb zu wirkten. Diefes 
aber ift nicht blos ebenfalls den Principien dee Julirevolution widerſpre⸗ 
hend, fondern überhaupt in der Erziehung und Behandlung bes Wolke 
wie ber Jugend ber größte Grundfehler. Das thatkräftigfte und unru⸗ 
higfte Volk von Europa , In feiner untemeßlihen Aufregung nad ber 
Julirevolution, und zugleich mit feinem Muth und feinen politifchen 
Mitteln — wie follte es ohne große moralifche Kräfte, blos durch klein⸗ 
liche materielle Intereffen und vorzuͤglich nur durch Beſchraͤnkungen, 
Hemmungen, Unterdrüdungen und Strafen zufammengehalten und an 
den neuen, von ihm gefchaffenen Thron gefeflelt und, fo ferne es ſich 
verlegt, beleidigt, getäufcht glaubt, dauernd beruhigt werden? Im Ges 
gentheil, die Erfahrung beftätigt es, jede neue Unterdrüdung regt na⸗ 
türlich immer mehr, immer tiefer und — wenn nicht ſogleich dem 
Außeren Auge und Ohr fihtbar — gerade um fo gefährlicher auf. Sie 
macht den Riß zwifchen Regierung und Volk tiefer, vermehrt und bes 
ftärkt die feindlichen Parteien und macht fo neue und verlegende Un⸗ 
terdrücdungen noͤthig. Die Regierung mag alfo wohl Recht haben, 
wenn fie die Kammer fragt: Aber find biefe Unordnungen nicht gefähr- 
ih? Muͤſſen fie nicht aufgehoben werden? „Ja und wieder Ja”, 
muß man aptiorten; „aber Ihr ruft fie durch Euer falfches Syſtem 
fetbft hervor, und She ruft durch Eure vorgefchlagenen Mittel noch 
neue und gefährlichere bervor. Aendert alfo vor Allem, fo fchnell wie 
möglich, Euer Syſtem!“ Soll es denn auf bem biöherigen Wege noch 
einmal enden mit einer neuen furdhtbaren Erplofion für Frankreich und 
Europa? Wilhelm von DOranten, als er durch eine Ahnlihe Re 
volution auf ben englifchen Thron berufen wurde, fagte: „eine neue 
Dpnaftie muß durch Blut mit dem Volke zuſammenwachſen.“ Unb weit 
entfernt, den Krieg für feinen neuen Thron übermäßig zu fücchten, leitete 


Juſtemilien. | 25 


er ab und vereinigte die aufgeregten Kräfte durch gerechten Krieg und neuen 
Nationalruhm. Ic beabfichtige Leineswegs, einen Krieg blos aus 
folder Urſache anrathen zu wollen, felbft wenn es mir auch augen» 
ſcheinlich duͤnkt, daß auf dem bisherigen Wege die nene franzdfifche Pos 
init, mit ihren kurzſichtigen, materlaliftifchen und taͤuſchenden Süftemiltens 
mitteln im Inneren, und mit ihren Verletzungen der Beſtimmung, 
bee Würde und des Ruhms der Nation nah Außen, flntt der 
erfehnten Ordnung, Ruhe und Mägigung und flatt eines wahren 
dauernden Friedens, gerabe ſelbſt die fuchtbarfien Ertreme 
und Unorbnungen, neuen furchtbaren europdifchen Krieg hervorruft. Auch 
bin ich weit entfernt, zu glauben, daß, wenn man das wahre voͤlkerrecht⸗ 
liche Princip der Nichtintervention zum Schutze der unglädlichen 
verführten Voͤlker, denen es das feierliche koͤnigliche Wort verbirgt hatte, 
mit würbiger Entfchiedenheit und Maͤßigung hätte behaupten wollen, dazu 
große, für Frankreich gefährliche Kriege nöthig gewefen wären. Wahr⸗ 
lich, Frankreich war damals in ber Lage, anderen Monardhieen das Krieg 
führen ſehr bebenklih zu machen! Es brauchte gewiß nicht feinem 
Koͤnigsworte und dem allein einen bauernden Frieden möglich machenden 
gerechten Princip unten zu werden und nicht fogar im Nachbarlande Ita⸗ 
ten zu dulden, was, fo lange es franzöfiiche Könige gab, Feiner duldete. 
Doch ich wollte hier nur durch ein Beiſpiel aus dem Leben «eines gros 
fen ruhmgekroͤnten fürftlihen Staatsmannes, der auch ſonſt übers 
all die Politik der neuen franzöfifchen Regierung verwarf, einen Gegens 
faß der letzteren anfchaulidy machen. Webrigene aber gibt es, wie felbft 
das Programm der Julirevolution zeigt, noch ganz andere Weifen, 
ein Volk zu einigen, zu erheben, zu .begeiftern und fo feinen aufgeregs 
ten Kräften, ftatt der verderblichen, eine pofttive, gute und heilfame 
Richtung zu geben. Aber dazu bedarf es vor Allem der höheren Idee 
und der moralifchen Größe, der eignen Begeiſterung der Staatemänner, 
der ganzen muths und opfervollen Treue und Wahrheit und Ehre. Dazu 
taugen keine Halbheiten und Kleinlichkeiten, keine Hinterlifte, Taͤuſchun⸗ 
gen und Ruͤckſchritte, wie fie felbft bei den neufranzöfifhen Maßregeln 
für gute und einer großartigen Behandlung fähige Aufgaben, 3.8. bei - 
denen für die Erziehung und die Gemeinde⸗ und Departementalfreihelt, 
bervortreten. 

Durch dieſes Alles wirken fich bie Regierung und bas Juͤſtemi⸗ 
lieu und, fo weit fie bazu mitwirken, deifen auswärtige Freunde in als 
len Beziehungen gerade Telbft entgegen. Sie wirken, leider! nur zu 
Gunſten der Republicaner, welche in einer neuen franzoͤſiſchen Krife, 
und vollends bei auswärtiger Einmifchung , falt unvermeiblid) obenhin 
tommen müflen, weil in ihnen alsbann bie hoͤchſten Principien der 
franzöfifhen Nation, Nationalruhm, Gleihheits: und Kreis 
heit sliebe, wenn auch in ſehr ercentrifcher Seftalt, allein noch fich 
vereinigen, und zwar zugleich mit der ganzen Energie und jugendlichen 
Feuerktaft des franzoͤſiſchen Charakters, und weit eine vollendete Taͤu⸗ 
fung ber Freiheitsfreunde in dieſem Bürgerbönigthume weht, 018 ollek 





26 | Jüftemilieu. 


Anbere, den Glauben an die Monarchie erfchüttern würde. Freilich die 
rohen been ber meilten franzöfifchen Republicaner waren lange Zeit 
gerade bie beften Alliirten des Juͤſtemilieu. Aber diefes hat in dank⸗ 
barer Erwiederung dieſer Hülfeleiftung durch feine fortgefegten Fehler 
auch diefe feine Alllirten auf's Kräftigfle unterflügt. Den Hunberttaus 
fenden bereit mehr oder minder entſchiedenen Republicanern wuͤr⸗ 
den in folcher großen Erfchütterung fogleich neue Hunberttaufende ſich 
anfchließen. Die noch keineswegs ſich mindernden ober verfühnten Les 
gitimiften und die Immer mehr beroortretenden Napoleoniften, 
ja der Eräftigfte Theil felbft ber Gründer des Julithrons, von 
der früher dyn aſtiſchen linken Seite, arbeiten ihnen bereits kraͤf⸗ 
- dig in bie Hände. „Allgemeines Stimmredt, ein roher Er 
oberungses und Kriegeruhm, der Raub unferes deutfhen Weſtens 
und neue Allianz mit Rußland, um biefelben gegen Weberlafs 
fung Polens und des deutſchen Nordoftens und, wie 1803 unb 
‚1808, gegen Xheilung in das uns beiberfeits bereits angebotene beutfche 
Protectorat zu erwerben” — biefes find jetzt in allen franzöfifchen Par⸗ 
teiblättern die täglichen Loofungsworte für den ſich immer mehr vorbe 
reitenden Ausbruch des Kampfes. Die Republicaner felbft denken ſogar 
noch an allgemeine Socialrevolutionen. Weberhaupt aber, im Uebrigen 
uneinig, werden alle Parteien jest immer mehr einig in jenem neuen 
Drogramme, in der Feindſchaft gegen die neue Regierung unb gegen 
ben Frieden ber Welt, und bie innere Gaͤhrung waͤchſt täglih. Sind 
nun aber biefe jegigen Loofungsworte etwa befler, als jenes gemäßigte, 
mwürdige, von der Regierungspolitit in ben Staub getretene Programm 
der Julirevolution? Sind fie etwa weniger unbeilvoll für ben Frieden 
der Welt, die man auch jetzt noch durch Principien wird. aufjuregen 
verfiehen? Sind fie insbefondere weniger unheilvoll für unfer ungläds 
liches Deutfchland, welches immer weniger durch die verheißene gemein» 
fame deutfhe Nationalfreiheit und Ehre, durch treue, ehrliche und 
beutfche Politit gegen große Stürme von Oſten und Weften geeinigt 
und gekraͤftigt iſt)? Und find in Frankreich etwa ber Prätendenten 
und der meuchelmörderifhen Verfchwörungen gegen ben Julithron we⸗ 
niger geworben? Jene hält immer deutlicher auswärtige Politik bereit; 
diefe regt ſtets auf’s Neue bie wachſende Mißachtung des falſche Jüftes 
miliew unb feine moraliſche Verderbniß auf. Kann man fich wirks 
lich endliche Sicherung durch bie bisherigen Mittel verfprechen, durch 
fotche, wie fie noch geftern eine Zeitung des Jüftemilien zur Charak⸗ 
teriſirung dieſes Syſtems laut zu preifen wagte? Gie wagte naͤmlich 


*) eben bebeutenderen Gruͤnden für bie Wachſamkeit nach beiden Geis 
ten, wie fie auch bie Pentardyie an bie Hand gibt, iſt es vielleicht nicht 
unbeahtendnert), daß berfelbe Durand, ber fo lange als Redacteur bes 
Jo de Francfort ben Apoftel ruffiicher Politik machte , Pl als Rebas 
eteur des Rapoleoniftifhen „Capitole“, ben ei ertheibiger jenes 
neueren fauberen Programme macht. Doc das BVolk fieht Tange, woher uns 
Werderben droht. Bebe Gott auch anderswo endlich Licht! | 





. 


Süftemilien. 27 


gelegentlich der neueften Pulververſchwoͤrung und ber Beſorgniß einer 


neuen Emeute das laute Bekenntniß: Keine Emeute der Republikaner werde 
fortan gefaͤhrlich ſein, weil man liſtig ſo viel Verraͤther unter ihnen zu 
erkaufen oder unter ſie zu bringen gewußt habe, daß von zwanzig Re⸗ 
pablicanern ſechs im naͤchſten Ausbruch ſelbſt auf ihre eigenen Camera⸗ 
den ſchießen würden. Und mo wird wohl der nur durch Materialie 
mus gewonnenen Juͤſtemilieumaͤnner aufopfernde , nusharrende Treue 
bleiben, wenn dee Kampf erſt ausgebrochen, wenn auch nur augenblids 
(th factifch die Macht unterliegt? Sie werden kluͤglich und Häglich 
jedem neuen Factum und jedem neuen Lohn huldigen. — Und wo vols 
lends iſt jene außerordentliche moralifche Begeiſterung für die neue Vers 
faffung und Dynaftie geblieben, die noch eine längere Zeit nad) ber 
Jullrevolution und bis zur Enthüllung bes neuen Jüftemis 
lieuſyſtems felbft die entgegengefesten Intereſſen und Parteien ver 

madıte und Millionen Arme zur DVertheibigung bes neuen 
Throne, der neuen Ordnung ber Dinge waffnete, welche felbft im Aus: 
Lande eine fo furchtbare Gewalt auf die Völker ausübte, daß jede weiſe 
Dolitit vor einem Krieg gegen Frankreich erzitterte und lieber folche furcht- 
baren Verlegungen aller perfönlichen und Regierungsintereffen , wie die 
durch die beigifche Revolution und Volksſouveraͤnetaͤt zugefügten, ge 


duldig hinnahm? Noch einmal: nie in feiner ganzen Gefchichte ſtand 


Frankreich ruhmvoller, größer, moralifcher und geachteter da, als bamals. 
Und wohn but es die Juͤſtemilieupolitik gebracht? Don dem Innern 
wilf ich nicht weiter reden. Gehe Jeder, wenn er den Zeitungen nicht 
glaubt, nad) Frankreich, und frage er die Anhänger des Syſtems ſelbſt, 
ob fie es achten, ob fie ed nicht bloß, weil und fo lange es ihnen dus 
Bere Vortheile fihern Bann, oder megen ber großen Fehler der andern 
Parteien vorziehen? Frage man nad dee moralifhen Auctorität 
der Regierung, nach der Liebe und Treue für fi. Welch’ ein Zuftand, 
wo der zuerſt beliebte Fuͤrſt fi nie ohne die argmöhnifchen Vorſichts⸗ 


maßregeln ber verhafteften Tyrannen oͤffentlich dem Volke zeigen Eann!- 


Was die Stimmung im Auslande betrifft, fo frage man nur, ob die 
Adytung der natürlichen Größe des Volks und des Throns ber früheren 
Geſchichte und den Fortfchritten der Nation, ob fie vollends irgend ber 
Julirevolution entfpriht? Frage man bei den Königen und Zürften, 
den Adelichen und Legitimiften, welche ben Abel und bie Achtung des 
Königthums, den Glauben an daſſelbe durch das Juͤſtemilieu verlegt 


halten, welche für den Exben bes großen feanzöfifchen Throne fo harts 


nädig felbft die Hand der kleinſten aller Prinzeflinnen für zu gut erflär 
tm. Man frage, um von ben ungemäßigteren nicht zu veben, bei den 
gemäßigten Sreiheitöfreunden, die ihr deal, die Freiheit, die repräfenta- 
tive Monarchie, in Frankreich in den Staub getreten und um den Glau⸗ 
ben gebracht fehen! Dan frage bei den Freunden der fittlihen Ent- 
wickelung der Völker, weiche in Frankreich die öffentliche Moral fo tief 
berabgewürbigt fehen. Am Velten. brüden naiv bie Vertheidiger bes 
Süftemilieu die buch fein Syſtem bewirkte Minderung ber inneren und 





28 Süftemilieu. Jury. 


äußeren Kraft und Achtung der Regierung und der Nation feit ber 
Julirevolution aus, wenn ſie es jest bewundernd preiſen, daß 
der arme Thron ja bis heute noch ſtehe, nut wanke, daß das arme 
Frankreich von der Todesgefahr eines Krieges und einer Zerſtuͤkelung 
noch verſchont ſei. Kurz, wenn: in ber und einige Zeit nach der Fur 
evolution die Achtung und das Vertrauen zu der franzoͤſiſchen Nation, 
ie Einfluß und moralifdes Uebergewicht größer waren, als je, fo 
find fie durch) das Juͤſtem ilie u vieleicht tiefer herabgeſunken, wie 
in irgend einer anderen Periode. Und wenn auch dieſes Soſtem ſelbſt 
auf eine unblutige Weife geflürzt werden follte, und wenn ber feders 
kraͤftige gefündere Nationalfinn alle anderen Werderbniffe und Gefahren 
diefer verkehrten Politit uͤberwaͤnde und ausſchiede — die moraliſche 
Verberbniß und die Betrachtung bes Herrlihen und Großen, was in 
fo großer Beit die neue Megierung für Frankreich, für Europa hätte 
ieiſten koͤnnen und follen — biefe werben dad Jüfemilten ewig 
anklagen. Aber. audy bie anderweitigen Uebel und Gefahren ſtehen 
wahrlich noch drohend genug vor unferen Xugen. 

Darum alfo — im Interefle Frankreichs, Deutſchlands und Eus 
ropas, im wahren Intereffe der neuen Dynaſtie ſeibſt — wiederhole 
ich meinen Grundgedanken: „es werde bie Regierung erhalten durch 
die Kräfte, welche fie ſchufen, und zwar nicht vermittelt des falſchen 
und ungerehten Jüftemiliew, fondern durch die waber gerechte 
Bermittelung N!“ Th. Welder. 

Jury, Schwurs oder Befäworengeriäe als Rechts⸗ 
anftalt und ale politifhes Inflitut. Die großen Ges 
breden unferer deutfhen Strafrechtspflege und das 
Schwurgericht, als das einzige Mittel, ihnen grändlid 
‚abzuhelfen *). — I. Begriff des Schwurgerihts. — Im 
weiteren Sinne begreift man unter Schwurgeridt jede Ges 
richtseinrichtung, bei welcher zur rechtlichen Werurtheitung eineg Buͤr⸗ 
gers eine Schuldigerkiärung von Mitbürgern oder Ger 
noffen nothwendig iſt. Es gehört hierher jede regelmäßige Mit⸗ 
wirkung von Würgern oder Standesgenoſſen bei gerichtlichen Brspeb 
ten. Das Schwurgericht im weiteren inne ift der Gegenſat einer 


ch a 
J 
— fir un] Kinder und Mithher 


Fi — ber — Hof, us das. ——— wird fie babur« 


Jury. 20 
Mechtöfprechung, welche vom Regenten, ober allein von richterlichen 
Staatebeamten ausgeht. Der Name: Gefhmworene aber bil: 
dete fi in alten und neuen Zeiten für bie mitrichtenden Bürger das 
durch, daß fie gemöhntich für jede befondere Gerichtsſitzung bie treue 
Erfuͤllung ihrer richterlichen Pflicht beſchwoͤren muͤſſen. Einerlei aber 
iſts für den weiteren Begriff, ob, wie gewoͤhnlich beiden alten Ger⸗ 
manen und in manchen Fällen bei Griechen und Römern, ‘alle 
Bürger eines Gerichtödiftricts ober eines Volkes, alfo bie Volks⸗ 
verfammiung, an bee Schuldigerklaͤrung Antheil nehmen dürfen, ober 
ob, wie gewoͤhnlich bei Griechen und Römern, bei der germanifchen 
Scyöffeneinzihtung und bei den neueren Geſchworenen, ein Ausſchuß 
von Bürgern ober Genoffen die Uebrigen repräfenticen. Eben fo ift es 
einerlei für dieſen weiteren Begriff, ob, wie größtentheils in 
Rom und Griechenland und auch bei den Germanen vor ber Aus: 
bitbung bes neueren Geſchworengerichts und, wie nammtlidh in den 
Standeögenofiengerichten der Miniſterialen, Lehniente, Officiere und 
neuerlich ber Standesherren und in den meiſten Schiebsgerichten, bie 
Bürger oder die Genofien das ganze Urtheil allein fprechen, oder ob 
fie, wie bie neueren Geſchworenen fih nur auf die Thatfragen 
(die Entſcheidung über den Beweis) befchränten und die Rechtsfra⸗ 
gen (bie Gefegausiegung, die Beflimmung der Thatfragen und ber 
rechtlichen Kolgen) ben vorfigenden Richtern überlaffen. Dagegen 
flegt das tief in der Matur aller Volks⸗ und Genoffengerichte, daß 
ihre Verhandlungen regelmäßig oͤffentlich und muͤndlich, nicht geheim 
und umverftändlic für die Mitbürger und Mitgenoffen feien. 

Im engeren Sinne verfteht man unter Schmurgericht nur 
jene, zum Theil in Norwegen und Schweben, vorzüglich aber in Enge 
land bewirkte zeitgemäße Ausbildung des altdeutſchen Schwurge⸗ 
richtes, welche jest in allen britifchen Ländern aller Welttheile, 
m allen freien amerikaniſchen Staatn, in Schweden und 
Norwegen, in Franktreih, Portugal, Spanien, Bel: 
sten und allen Deutfhen Ländern bes linken Rheinufers 
Statt finde. Hiernach hat eine Auswahl der zutrauenswürdigften 
Bürger mit den juriftifhen Staatsrihhtern, unter deren Vor: 
fig und Controle, in der Art zufammenzumirten, daß die Ge 
fhworenen zunaͤchſt über die Thatfragen, bie Staatsrichter über 
die Rechtsfragen entfcheiden. 

Das Gefchworengericht im weiteren und im engeren Sinne 
Tann Dann wieder, entweder wie größtentbeild In Rom und Grie⸗ 
hentand, wie im alten und mittleren Deutſchland, und mie noch 

. heut zu Tage in England und Amerika, zugleih in Eriminals 
und CEvilfahen Statt finden, oder fi) auf eine unferer heutigen 
Cultur und der Nature der Sache entfprehende Welfe, fo tie in 
Frankreich und in den deutſchen Ländern des linken Rhein- 
ufers, auf Criminalfahen befhränten. 

die Geſchworenen in ben peinlichen Proceffen koͤnnen nun tier 


fahen abfolut wefentlich, daß beffer als jest in Deutfchland 
NE EEE hen EI abi 

ingi 2 0 be 
lichen Gerichtsfhreiber, willtürlich und — erwieſene Ert⸗ 


ftenz irgend eines Vergehens ober genügenden Werdachts, die 

Proceffe beginne: Es iſt fo wie in Frankreich, ein 

vibler Richter mit einem Öffentlichen Gerichtsfchreiber 

die Aufforderung oder die fofortige Hinzuziehung und Mitwirkung 

nes inamoni ‚und eines. öffentlichen 

—* * De —* im Seante 
m 2 . y 

und als vollends in Deutſchland, gegen. Schritte ber 7 


Jury. 31 


ſationſsrechtes als bie möglichfl vertranenswürdigen und 
unparteilfhen auserwählt wurden, inider Art zuſam⸗ 
menwirken, daß nach vollftändiger öffenthicher und 
mänbliher accuſatoriſcher Verhandlung dieſe Geſchwo⸗— 
renen auf ihren Eid nad ihrer innigen moraliſchen Ue—⸗ 
berzeugung entweder die Gewißheit oder bie Zweifel: 
baftigleie der Thatfahen der Schuld ausfagen, und 
bie Staatsrichter im erſten Falle die Größe der geſetz⸗ 
liden Strafe, im zweiten die Losfprehung erkennen. 

, I. Der geſchichtliche Urfprung einerfeits des neus 
europdifhen oͤffentlichen mündblihen Anklageproceſſes, 
vor dem Vereine iuriffifher Staatsrichter und bürgers 
liher Befhworenen, und andberfeits unferes dbeutfhen 
geheimen fhriftlihen Inquifitions= und Relationspros> 
ceffes, vor blos juriſtiſchen Regierungsbeamten. 

1) Des Shwurgerihtes aͤcht deutfhe Grundlage 
und Natur. . 

Man hat viel und gelehrt über die Entſtehung der beiden obengenanns 

en geflritten, ber Hauptſache nach aber meift fehr einfeitig. 

Das Sefhworengeriht im weiteren Sinne (I.) oder 
das Mitwirken bee Mitbürger zu ber Schuldigerfiärung in Criminal: 
proceſſen, fo wie das öffentliche mündliche accufatorifche Verfahren, 
find in der That fo alt, als die Geſchichte freier Völker. Die Des 
brder in ihren befieren Zeiten, bie freien Griechen und Römer 
md alle freim germaniſchen Voͤlker kannten, wie e8 allgemein 
zugeftanden ift, kein anderes. Selbſt die flauifchen Völker, fo lange 
und wo fie Freiheit behaupteten und behaupten, hatten und haben 
Schwurgerichte *). Es giit heut zu Tage in allen wirklich freien Stans 
ten der gefitteten Welt. Noch gab es Fein Volk auf der Erde, 
welches wahre ober verfaffungsmäßig geficherte Freiheit hatte, ober Dies 
felbe behauptete, bei welchem die Bürger bie Criminalproceffe und mit 
ihnen Ehre, Leben und Freiheit der Bürger im Dunkel inquiricenden 
und richtenden Juriſten und Regierungsdienern überlaffen hätten. Die 
Berichtsverfoflung aller civilificrten Völker der neueren Zeit 
batte bis zum fpäteren Mittelalter im Wefentlihen gleihe Grund: 
lagen. Diefelben beftanden — fo weit nicht Kampf, Gottesurtheil, 
ober Eibhelfer die Gtreitigkeiten fchlichteten — in ber Entfcheidung 
bes Volkes ober. ber Genoſſen. Diefe Entfcheibung erfolgte in den 
altgermanifchen,, Öffentlichen, münblichen, accufatorifähen , allgemeinen 
Bollsgerichten dee Gemeinden, Eenten, Grafſchaften, Provinzen und 
des Reichs; daneben [dom ganz früh, fpdter immer mehr in den 
Schoͤffengerichten, ober den Berichten ber vom Volk erwählten Repraͤ⸗ 
fentanten deſſelben. (&. oben Bd. I. S. 278. 305. Bo. IV. &. 372.) 
Diefe leäteren, in der Regel (und ſchon nach ber Edda) zwölf an 


*) Bergl. B. Evers, das Altefke Recht ber Ruffen ©, 285. 301. 





82 u Jury. . 


der Baht, mußten bekanntlich zum Gerichte erfchelnen, waͤhrend bie 
fonft ſtimmfaͤhigen Glieder jener Vereine nur das Recht behielten, 
wenn fie erfchimen, als fogenannter „Umfland” ihr Stimmrecht 
geltend zu machen, unb dem Urtheile ihrer Repräfentanten . beizuftims 
men, oder, aud) es zur Ändern. In den Seubalvereinen richteten die den 
Volksgerichten -nachgebildeten Genoſſenſchaftsgerichte der Leibeigenen, ber 
Hinterfafien , Minifterlalen und Vaſallen. Die allgemeine Reichägefeg: 
gebung ber Carolina, biefe wichtigfte Grundlage noch unferes heuti⸗ 
gen gemeinen beutfchen Criminalrechts, erklaͤrt wenigſtens ein Strafurs 
theil blos von Beamten und ohne Schuldigerklaͤrung der Volksgenoſſen 
oder Schöffen im öffentlihen, muͤndlichen, aceufatorifchen Schlußver⸗ 
fahren für rechtlich unmoͤglich (S. „Earolina”.) Die ganzen Vers 
eine der Genoſſen ober auserwählte Schöffen aus benfelben — „ge: 
fhworne Gerichtsſchöffen“ nad dem Ausdrude der Carolina Ars 
titel 88, oder: „Seſchworne“ geradezu, nad) dem Ausdrucke des Kai⸗ 
ſerrechts (1, 1.)umb anderer beutfchen Gerichtsordnungen, fo 3. B. nach ber 
für da8 Landgericht des Klettgaues *) fprachen überall in Deutfchland und 
meift bis zur Hälfte des vorigen Jahrhunderts, ja häufig, namentlich 
in den Reichsſtaͤdten, bis zu Ende des deutſchen Reichs bie Strafur⸗ 
theile, und zwar theils nad) dem In Alter Welle die ganze, thells nach 
dem nur bie Schluß⸗Verhandlung mit Oeffentlichkeit vor ihnen 
Statt gefunden hatte. Außerdem hatten noch reichsgeſetzlich bis zur 
Auflöfung des Reichs alle Angeklagten das Recht, durch Actenverfenbung 
(ſ. den Artikel) die Zwiſchen⸗ und Emburtheile von einem unparteiifchen 
auswärtigen Schöffenftuhle oder Sprucheollegium fällen zu laſſen, fo wie 
auch die Volksgerichte ſich bei derfelben Raths erholen durften”), . 

Ueber die Thatfache jener fpäteren Fortdauer der äffentlichen volks⸗ 
mäßigen Gerichte auch in allen Theilen von Deutſchland, kann für bie 
Lefer der angeführten Schriftfteller über beutfche Gerichtöverfaffung 
und Gefchworengeriht, und insbefondere auch der bi Maurer, 


u — 





”) Zentner, das Geſchworengericht. —— 1830. &. 167 ff. 

**) Weber bie Bolkegerichte der Hebräcr iſt no immer Michgelis 
Mofaifhes Recht Band I. $. 2. zu vergieihens über die der Gries 
ben Bachsmuth's heilenifche Alterthumetkunde Band IL Ab⸗ 
teilung l. ©. 154 ff, Zittmann, griehifhe Staatsverfaffung 
&. 193; außerdem bie befonderen Werke von Maier und Schömann, 
Hefter, Platner, Yutwaller u. ſ. w.3 über bie‘ ber Römer 
Schweppe, römifhe Rechtegeſchichte Seite 839 fig., über bie ber 
Deutſchen enblih, namentlich auch die angebeuteten Grundzüge ihrer Eins 
richtung, bie befannten Werke von Eihhorn, Savigny, Maurer u, ſ. w. 
Ueber das Gefchworenengericht der Sarolina f. ben Artikel „Sarolina” 
und über bie neuern Befhworenengerichte Mittermaier, Strafverfah- 
ren St. I. 8. 13 — 44 ımb bie dort citirte Literatur. Die Abhandlung 
über bas ſ(ſchwediſche, norwegiſche, tslänbifche, daͤniſche) Befhwores 
nengeriht von Repp Überf. d Buß, (Freiburg, 1885) ik vorzuͤg⸗ 
lich auch durch die neuen Rachweiſungen ber Vebereinftimmung ber ftanbinaptjchen 
und der übrigen germanifchen Hechtseinrichtungen, fo wie des uralt repräfen- 
sation Sharakters der germanifchen Schöffen intereſſant. 


Jury. | 88 


S. 334. 392 ff. Mittermaier 15.13 ff. Zentner S. 164 ff. 
gegebenen Nachweiſungen kein Zweifel beftehen- Nur zu befferer Ver: 
anſchanlichung wi ich aus meinem nächiten Vaterlande einige Beifpiele 
biefer beutfchen volksmaͤßigen und — felbft wenn kein Pri⸗ 
auftrat — wenigftens nach gefchloffener Vorunterfuhung 
öffentlihen und accufatorifhen Strafproceſſe anführen. In 
en, and in ben nicht altbadifchen, Landestheilen des Großher⸗ 
zogthums Baden befland, mie es zum Theil fhon Zentner in 
ber angeführten Schrift und Duttlinger in feinem Archiv für die 
Nechtöpflege des Großherzogthums Baden Bd. I. ©. 647 
und neuerlich in einer öffentlichen Promotionsrebe actenmäßig nachwie⸗ 
fen, bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts das den Forbes 
zungen der Reichsgeſetze und namentlich der peinlidhen Gerichtsordnung 
Karl's V. entfprehende Schwurgeriht. Bor meinen Augen 
legt unter Anderem ber ortenmäßige Bericht über einen im Jahre 1748 
tm Durlach geführten Sriminalproceß, weichen bereite dad Durladyer 
Wochenblatt (1838 Nr. 38 in einer Beilage) abdruden ließ. 


Zu Gericht faßen: der fürflliche Beamte als Stabsführer, wels 
der , ohne jedoch felbft ein Votum zu haben, die Verhandlungen ges 
ſetzlich leitete, und dann zwölf buͤrgerliche Geſchworene oder 
Blutrihter. Das Gerichtsprotocoll berichtet die Verhandlungen alſo: 
„Actum Durlach den 4. Aprilis 1748. 


„Peinlich Halsgeriht vor Herrn Rath und Ambtmann Pfeiffer 
als Staabführer; 
Aus Gericht und Rath als Btlutrichter: Herr Jacob Lindauer; 
. Hear Johannes Hernig’ (folgen die zehn anderen Namen). 


„Es bat fi) nemlich der Herr Rath und Ambtmann Pfeiffer als 
Staabsführer mit obenftehenden 12 Gerichtss und Rathsperfonen nies 
dergefegt, und nach deme ber Delinquent aus dem Gefängniffe abges 
hole und in das arme Sünderftüblein auf das Rathhaus, fofort nad) 
gehoͤriger Losfchliegung, in die in der Rathsſtuben befindlichen Schrans 
ten durch bie darzu beftellte Buͤrgerwache geführet und vor das pein- 
sche Halsgericht geftellet worden, ihnen allerfeits bie Urfache dieſes 
peinlich angeflelten Blutgerichts umftändlich eröffnet, auch den desfalls 
ergangenen hochfürftlichen Befehl öffentlich ablefen laffen, und ſodann 
dem Stabdtknecht befohlen, das Gericht gemwöhnlichermaßen zu hegen 
und ſolches oFfentlich auszurufen, daß niemand bei Leib» und Le⸗ 
ben⸗Strafe fi) unterftehen folle, während diefes Blutgerichts aufzuftehen 
oder etwas zu reden, viel weniger thätlih zu handeln, er habe dann 
bie Erlaubnis dazu von dem Herrn Staabsführer erhalten.‘ 

„Nach beme nun dieſes von dem Stadtknecht verrichtet worden, fo 
dat dev Staaböführer den hochfuͤrſtlichen fiscalifhen Anwalt Herrn 
$. ©. Hernig, bermaligen Rentlammerrath und Ambtd Keller dahier, 
feine nomine fisci habende Klage anbringen zu dürfen, verwilliget, 
welches foldyer auch ſogleich durch den Hofs und Ehegerichts s Advoca- 

Staats s Lexiton. IX. 8 


. . — 


34 Jury. 


tum Heren Wielandt verrichten und die Anklage Öffentlich ableſen, ſo⸗ 
fort felbige ad acta geben laffen.” 

„Nach ſolchem iſt von dem Herrn Staabsführer dem Wertheibiger, 
Herrn Hofs und Ehegerichtö:Advocato Breffand, ebenfalls erlaubt 
worden, auf beruͤhrte fiscalifhe Anlage und, was er fonften zu feines 
Giienten Vorftand beibringen koͤnnte, vernehmen zu laffen, welcher dann 
feine Defenfionsfchrift ebenfalls oͤffentlich abgelefen und folde ſodann 
ad acta gegeben. Auf weiche dann ber Herr Advocat Wielandt feine 
gegen biefe Defenfioneierift abgefaßte Replik auch öffentlich abgelefen 
und ad acta übergeben” aud; ad sententiam condemnatoriam sub- 
mittiret hat.” 

„Endlich iſt von dem Hn. Defensori eine darwider gefertigte 
Duplik gleichfalls verlefen und in der Sache zu einem gedeihlihen Urs 
theil vor dem Inquiſiten befchloffen worden.” 
„Nachdem nun beide Theile fubmittiret und darauf nebft dem fis⸗ 
caliſchen Hertn Anwalt abgetreten, auch ber Maleficant abgeführet wor» 
den, fo wurde folgendes abgefaßt : ’ 

„In peinlicher Rechtfertigung ſich haltend und zwiſchen des durch⸗ 
lauchtigſten Fuͤrſten und Herrn, Herrn Carl Friedrichs Markgrafen zw 
Baden und Hochberg ꝛc. verordneten fiscaliſchen Anwald, Klägern an 
einem und Johann Knoͤpfler, peinlich Bekiagten andern Thells, wird 
die Sache fuͤr beſchloſſen an⸗ und die Urthel bis auf fernere Betagung 
zu Bedacht genommen." 

„Nach befcgehener Publication ift das Zimmer geſchloſſen (d” 
bis dahin flattfindende Deffentlichkeit und Theilnahme des Publicw 
alfo aufgehoben) und durch den Herrn Staabsführer bei diefem 7 

ericht denen anmefenden Heren Blutrihtern fowohl aus dem I 












. er 
geen. derſelbe hlerbei zwei große &hle in dem Schwa⸗ 
Bm men Die ot: wi begangen, auch mit folden Umftänben, 
oma, ‚mern er ber SEhäter nicht geweſen, nichts willen koͤnne, 
eingeflanden, fo feine Meinung bahin, daß er mit dem Gtrang 
wem Leber zum Tode gebradt * “ 

Es folgen nun bie gehn anderen Vota, alle mit eigenthümlich 
ansgehrüdkten, zum Theil neum Gründen für die freilich harte, aber 
offenbar den bamaligen pofitiven Geſetzen entfprechende Strafe. Sie 
—* dabei, wie auch ſchon — sn j af bie on Defen: 
or vorgebrashten, Bertgeibigungsgrünbe t. o fagt der 11te 
Votant, der Mathövertvandte und Baumeiſter Gabriel Waag: „er 
Bönne. nicht finden, wie basjenige, was von bem Herrn Defensore 
vorgebracht worden, hinreichend feie, ben Delinquenten von der auf 
dergleichen Diebftähle, wie er begangen, georbueten Strafe der Hinrich⸗ 
tung mie 2 dem Strange zu befreien, baher er auch denfelben dazu 
verurtheile. 

Die ſaͤmmtlichen Blutrichter, beſtehend aus fuͤnf Gerichtsverwand⸗ 
im und fieben Ratheverwandten, conbenmirten hierauf den Angeklag⸗ 

ten auch in bie Koften. Noch in ber Sitzung ward das Urtheil aus: 
gefestigt, nachher voni Fuͤrſten beflätige und am 4. Mai vollzogen. 

Die von Duttlinger ebenfalls aus ben Acten referirten Bälle 
ſtellen im Weſentlichen völlig gleiches, öffentliches accufatorifches Ge⸗ 
richtsverfahren vor bürgerlichen Gefchworenenrichtern dar. So der am 
4. Auguft 1726 in Carlsruhe ebenfalls Über einen Diebflahl vers 
handelte —— frener der vom 80. Januar 1737, tn dem altbadi⸗ 
fhen: Amtsftätchen Emmendingen, gegen eine” Kindesmärberin 5 
endlich ber vom 14: ‚Deisber 1771, in der damals öfterreichifchen Stadt 
Freiburg, gan dam Änzer. Nicht minder thun daſſelbe 

auch die bei enge befindlichen actenmäßigen Nachrichten von den 
——ã— in den früher dem Bisthume Baſel zugehoͤri⸗ 
gen —S Damen Dppenau und Oberkirchz ferner in dem Laiferite 
hen Landgeriht des Klettgaus, mo das öffentliche, volksmaͤßige 
Gericht erſt gegen Untergang des Reichs endigte, ja, ſich in den an 

egangenen Diſtricten bis in bie neuere Zeit erhielt 

(Bentner ©. 166); ferner in der Benedictiner Abtei Set. Peter, 
wo ſich 14 Bhrger als Richter finden — in den Ealferlichen Landgerich⸗ 
* in Schwaben, nach deren Gerichtsordnung von 1662 „Bürger 
— Math der vier Gerichtsorte fo viele „Urtheiler‘ verord⸗ 

daß jedes Landgericht mit zwoͤnf tuͤchtigen Urtheilern vers 

— werden inne; ferner in der Landgraffchaft Hauenftein, der 
ren Srelbrief. von 1442 ihnen das alte Recht zuficherte, „in allen Din» 

gen durch ein Bericht der Gleſichen und von keinem Fremden⸗ 
gerichtet Fe werben.” Hier wird von 24 Geſchworenen entfchieden. 
Im WMeſentlichen gleich iſt auch das Verfahten in dm. Reiheftädten ; 





86 \ Sur. 


ſo in Neberlingen, weldes fie bie verſchiebenartigen Gadıem 
fo verſchiedenartige Voikegerichte hatte, wie einſt Athen, und wo :uie 
Griminalunterfuhungen vom Gyndicns, einem ⸗ 
rihtsfhreiber und zwei Marhsherren — 
wurden, bie ſaͤmmtlichen Mathsher@n aber tichteten 
und wo erft gegen Ende bes Reihe, 1803 ndnukh, bie Berichtshars 
Zeit der Bürger aufhoͤrte; ferner in Gonkan, me wo erſt 1786 end 
oͤſterreichiſche Verordnung das Volkegericht unterbrhdte; ferner in Of⸗ 
fenburg, Gengenbach und Beil und der reichefrelen Landgemeinde 
des Harmersbacher Thales. 

In Freiburg wurde in jenem von Duselinger, berichteten 
Falle das Blutgericht gebildet vom — Bürgern, naͤmlich vom 
fechs Rathsherren und 24 Bunftmeiften; in ——— aber 
von zwoͤlf Srtsvorſtaͤnden, Wögten aus den umliegenden Dörfern. Im 
DOppenau und Oberkirch wählten die Bärger aus ihrer Mitte auf 
eine längere Beitdauer eine Anzahl geſchworene Schöffen, bie man, 
von ber Zahl, welche .nothwendig zu einem Gerichte berufen werden“ 
mußten, Zwölfer-nannte. In Carleruhe und Emmendine 
gen war felbft nicht einmal ein Iandesherelicher Beamter, fondern der 
Drtsbürgermeiftee, der Stabhalter, oder Gerichtsporfiger. Deshalb ftims 
men denn hier beide Stabhalter audy mit, während bie Iandeshertiie 
hen Stabhalter in Durläc und Freiburg Seine Stimme hatten. 
Daher kommen denn auch in titterſchaftlichen — aim Kaiſerſtuhle, 
gleichzeitig, getade fo wie oftmals in den flandinatifchen Reihen, nıe 
eif Geſchworene oder Blutrichter vor, indem jeder nicht Iandeöherrliche. 


Stabhalter, als der Zwoͤlfte, mitvotict, Auch findet ſich der Unter⸗ 








8 
Jur · 87 


feinem Verthelbiger zu erbitten, ber aber dann nicht mehr mitflimmt. 
Wogegen ſpaͤtere Serichtsorbnungen, z. B. die von Dppenau (bei 
Zentner ©. 166), den Angeklagten freiftellten, von ben Rathsherren 
ober aus dem Umftande (dem Publicum, welches zuhoͤrt) fi einen 
Vertheidiger zu wählen, nicht aber aus den Schöffen. Ausdrädiich _ 
erwähnt dann das Carlsruher Protocol die dem Artikel 92 ber 

Carolina emtfprechende, nach der Entfernung des Publicums Statt 

findende gemeinfchaftliche Verhandlung der zwölf Geſchworenen, ihres 

Vornehmens der Acten, ihres Vorleſens des Beſi⸗benungsprotocolls (über 

das vor fieben Zeugen wiederholte Geftändniß des Angeklagten) und der 

betreffenden Stellm der Carolina und des Landrechts. Hier bildete fich 

übrigens nur eine Stimmenmehrheit von zehn gegen zwei abweichende 
Stimmen. 

Uebrigens wünfcht die badifche Malefizordnung von 1588 (I. $. 1), 
bag wo möglich bie Öffentliche Gerichtsſitzung in einem Lage ges 
endigt würde. Daß die Mitglieder des Gerichts aus den Gemeinderd« 
then, ober Ortsvorftänden genommen, oder auf längere Zeit gewählt 
werden, fordert das Geſetz nicht, fondern, fo wie auch noch die Mas 
lefizordnung von 1710, nur: „daß fie fromme, gottesfücchtige, getreue 
„Leute feyen, von ehrbarem, aufrichtigem Wandel, zwölf an der Zahl, 
„und nicht unter 25 Jahren.“ Mach ber citirten Landgerihtsords 
nung bes Klettgaus (I, 1 und UI, 3.) follen die Richter oder Ges 
ſchworenen (eine größere Anzahl derfelben) jährlih neu ernannt, oder 
beſtaͤtigt und für jeden Criminalfall 24 der tauglichfien Voͤgte ober Ges 
ſchworenen zum Gerichte gezogen werden. 

Die Deffentlicgkeit dieſer Wolksgerichte, überall menigftens bis zug 
Beratbung der Geſchworenen, ergibt fi) aus allen Acten und Gefetzen. 
Sa oftmals erhielt ſich ſelbſt bis im fpätere Zeiten die uralte deutfche 
Deffentlichkeit der Verhandlung der Gerichte unter freiem Him⸗ 
mel. So hielt noch 1766 das Baiferlihe Landgericht im Klett» 
gau offenes Bericht, mitten auf ber Kaiferftuhler Rheinbrüäde und we⸗ 
gen Störungen ber Schweizer feitdem, bis in die Zeiten ber franzoͤſt. 
ſchen Revolution, eine Viertelfiunde davon entfernt, und nur dann 
durfte wegen Kälte und Naͤſſe das Gericht unter Dach gehalten wer 
ben, wenn auf das Öffentliche Ausrufen des Waibels: „ob Jemand 
„vorhanden, dem das Recht nicht eben fo lieb unterm Dach als auf 
der gewoͤhnlichen Rechtflätte wäre?” Niemand dawider ſich erkidrte, 
wurbe das Bericht unter Dach gehalten*). Auch in der Landgrafs 
ſchaft Hauenflein, in den Paiferlihen Landgerihten in 
Schwaben, fo wie an vielen anderen Derten erhielt ſich diefe Art 
der Deffentliägdeit unter freiem Himmel bis in's gegenwärtige Jahrhun⸗ 
dert **), SWBollends aber bie "Definung der Gerichtethuͤren, befonbers in 





e 2 Landgerichtsordn. v. Klettgan fol. 27. Bentnera.adD, . 
and 148.109 . u 


tgie nad) dem Bisherigen bei den endlichen Ente 
ſcheidungen bes Proceſſes das Verfahren an die gefehlichen Beftimmuns 
gen ber Garolina ſich anſchloß, läßt fi) annehmen, daß man, 

ftens noch in den befferen Berichten, waͤhrend ber Unteefuhung 
diefelber befolgt, alſo namentlich audy mehrere, meiſt vier —2 tel 
allen wichtigeren, mindeſtens zw ei bei den unwichtigeren (f. oberi Bd. TIL. 


wart von fieben Zeugen, „in foͤrmilcher WBeficbenung 
den, wovon dann dem vollen- Malefizgerichte das Protocol vorgelegte 
wurde. Beeitich , das Mittel der Tortut iſt traurig, aber die Scheu 





Jury. 89 


hn, oder mehr eine anverzeihliche Umiviffenhett, wenn heut zu age, 
Bde bie befcheibene Forderung einer Wieberherfkeitung auch nz ie 

effenetichkeit umd einer zeitgemäßen Thellnahme ber am Bits 
getichte uber ihre Mitbürger, eine Theitnahme in bee Art, daß ſte bioh - 
duch Cntfheidung über die Thatfrage mit bem rechtsgelehrten 
Staatsbeamten zufammenwirken, bamit befeltigen wollen daß fie 
das Volk für noch unfähig, oder wohl dar biefe gerechteſte Forderung 
als undeutſch, ja felbft wahrhaft majeflätsbeleidigend, als mit Deuts 
ſchem Eh ume unverträglich erftäcen? In Baden Durlach 
verbrängte Übrigens Die Beamtenmacht und das allmdlig immer gehels 
mer werdende juriſtiſche Beamtengericht im Jahre 1753, in Baben 
Baden aber erf Im Jahre 1786 das öffentliche Wolkögeriht*). Für 
net erworbene Landestheile, in welchen es ſich noch in Trümmern erhalten 
Batte, hob es auedruͤckiich erſt das Strafediet von 1803 ($. 6 u.17) auf. 
In Schlesteig und Holftein, in den Städten und felbft- zum Thelie 
auf dem Lande, haben fi) fogar noch bis jegt fragmentarifch die alte 
deutſche Deffentlichleie und Mündlichkeit umd bie Bildung der Gerichte 
durch Bürger und Landleute für Civil» und Criminalſachen erhalcka **), 

Nur erft in den Zeiten twurde mehe und mehr die beutfche Nas 

tion ihrer Öffentlichen Schwurgerichte, bie allerdings einer Reform, abet 
„feiner Aufhebung bedurfter, Beraubt, als, bei machfender Schrankenigs 
figfeit des fliefttichen Abſolutiemus, bee Despotismus ber Beamtenkafte 
und der Höflinge alle nationalen, vollsmäßigen und freihettlihen Grunde 
Tagen des baterländifchen Lebens, die Reichs⸗ und landſtaͤndiſche Were 
faffung, die freien Gemeindes und Munkipafrechte In Stadt und Land 
mit ihtem Haffe verfolgte, üuntergeub und zerſtoͤrte. — Gerade diefe 
Berftörung aber. war es ja auch, melde die deutfche, nationale Bes 
finnung und Kraft fo furchtbar Lähnte, welche unfere ehrwuͤrdige Reiches 
yerfaffung Auflöf’te, die Fremdenherrſchaft, den Untergang fo vieler 
Türftendäufer umd beinahe fhr immer ber Freiheit des Waterlandes ders 
— uns 618 jeßt wiſchen unferer doppelten — 

ar in unferer Zerfplitterung in einer wahrhaft ges 
ran Sage ließ, in weicher nur zeitgemäße Herftellung, nationas 
ler, vollängäfiger Snftitutionen, eben fo in der Mechtefi g, wie 
In ber bereite wieder volksmaͤßig getworbenen Kandesgefeägehumg und Ge 
meindeverwaltitäüg, bie Grundbedingung unferer Kräftigung 
und unferer Rettung ifl., P " 

&o wit das öffentliche Volks- oder Genoffengrticht überall in 

in bey einzelnen Ländern, Städten, und Ständen in dem 
fi he, wie noch Sreigeit dawerte, [6 turde es.Üben 
up Ban Wieberermacen ber Freiheit niiederberaefkelit, ober.d 
jurhägeföidert. — Go wurde es bergeftelle in Frankreich, Mors 





— ———— —— 
. Ba . 
wig und —X il ie yeriee “en “ 





40 - Sum. 
wegen, Spanien, Portugal, Beisten, unb bur: 


dh ißee frllägre 
Berbindung mit Fraukrelch auch in den preußifchen, be 1 
und —8 hen Ländern bes linken Rhein: &o wurde 


fommlungen der cönflitutioneilen beutfchen Gtanten 





fengerichte duch die Umbildung der Volks: und ber feus 
dalftändifhen Werfaffung in freie flaatsbärgerlicdhe 
ftändifhe Verfaſſung. 

Die vorzöglichften Unterfhiede des neueuropäifhen 
Sowurgeriches von den fruͤheren Volksgericht en übers 
Haupt beſtehen fuͤr's Er ſt e darin, daß an ben aͤlteren Volksgerichten 
mehr oder minder die Maſſe der Bürger Antheil nahm, waͤhrend im 
den neueren Schwurgerichten das Volk nur buch eine kleine auser⸗ 
waͤhlte Anzahl von Bürgen vepräfentirt if. Sodann aber 
tichteten in dem Älteren Volkegerichten die Bürger über die That» unb 
* die Rechtsfragen, bei dem neueren Schwurgerichte nur über die 

leren. 

Doch wie im geſchichtlichen Leben gewoͤhnlich die Verſchiedenhei⸗ 
ten ſich mehr einander annaͤhern, als in abſoluten Gegenfägen ans 
einander treten, fo auch hier in Beziehung auf die beiden Hauptunters 
fhiede der alten und neuen Wollsgerichte- Es nähern ſich für's Erſte 
ſchon die bei den Athenerg in bie einzelnen Gerichtshoͤfe vertheilte 
größere Anzahl ber Bürger, und vollends die zu Rom In die verſchie⸗ 


denen befonberen Griminafgerichte (Quaestiones) vertheilte Heinere Ans 

zahl von Volksrichtern (Tudices), welche legtere ſchon ähnlich, wie bei 

den neueren Criminalgerichten, unter Mitwirkung des Angeklagten auss 

gemäte mar, srmi ſehr — der neueren Volksrepräfentation ber 
" d u 8 od zahl 


Ju. 4 


Auch bei, den dentſchen Schöfferi, änthätt bie, ihnen nach * Ca ro⸗ 

line und für jeden Hall ſchwi "Becpösfrogen zur Pfüct 

des Raths von Defiisveftänbigen fi for eine Art 

iÖcänbtng auf bie Thatfragen... Und hierbei und weil fe bie 
slnifden und kanoniſchen Gefege, melde durch die Juriſten leider in 
fremder Sprache in die Rechtsſprechung allmälig eingedrungen waren, 
nicht ſelbſt ſtublren konnten, machte es ſich natüclih, daß bie vorfis 
genden jurlſitſchen Richter allgrmeift mehr und mehr Autheil an dem 
Urtheite erhielten. Noch näher einem Geſchworenenurtheile blos über 
die Thatſache ber Schuld ſteht ein anderes urdeutſches gerichtliches Ins 
ſtitut aller ſchen Voͤlker, die Eidheifer oder die Ab ſch woͤ⸗ 
rung der Schuld zwölf oder meht Mitſchwoͤrer. So B 
naͤmuch der Anklaͤger an die oͤffentliche n Geſchworenen wens 
dete, um durch ſie den Ausſpruch der Schuld des Beklagten zu 
erwicken / fo konnte dieſer oft daburch den Proceß beendigen, daß er 

eine Anzahl Privatgeſchworene ſtellte, die, wenn fie mit ihm 
ſelbſt einffimmig feine ünſchuld beſchwuren, ein Beweis für 
biefefbe wurden unb ihn frei machten. Diefe Art-der Proceffchlichtung 
(bei den Engländern Wager of Law, bei den Schweden Edh genannt) 
fand theils — —* vor dem Volts· oder Geſchworenen ⸗ 
Gerichte Statt und war ſeht beliebt. Durch eine größere Anzahl 
von Privatmitſchwoͤrern aber konnte auch hier der Ankläger gegen den 
Angelogten fiegen. 

Auch in den geiftichen Send» oder Synobalgerichten gab 
es Schoffen, bie fpäter mehr auf die Thatfrage befchränkt wurden. 
Die Bilhöfe hielten naͤmlich [dom fruͤhe bet ihren Kirchenviſitationen in 
den einzelnen Kicchfpielen ein ae Stratgericht über veigiöfe Vers 

geben. Ban nah den allgemeinen freien germanifhen 
Srunpfägen richteten nun hier urfpränglich bie ganze Kite 

’ Gengemeinbe, und mit ihe, oder für fie, bald ebenfalls, fo wie in 
en weltlichen Berichten, aus ihrer Mitte erwählte Schöffen. 

Fi —— der geiſtiichen Hierarchie und ihrer —— — Prie⸗ 
ftecfafte aber beraubten die geiſchen Vorſtehet dieſer Sendgerichte die 
ne 2. —— inde und ihre kirchlichen Schöffen 
Maar be kirchlichen Bußen, oder über die Kechtefrage mite 

Mur das Eniſcheiden, ja immer Di nur das bloſe 


mine nie — keineewegẽ fo vollſtaͤnbig und allge⸗ 
mein, als größten: den neueren engliſchen, und vollends bei den 
frangöfiichen —A— Selbſt aoch Bladftone in feinem Com⸗ 
ment qr Aber das engliſche Recht (IV. 27. 38.) Lege den neusten enge 


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her, ais ein lebendiger @efetcn! 
bee © ſammlung bie ganzen Wofksgefehe big berfagen muß 
ten. te ſollten dagegen wicht .eigentiäch juriſtiſch ober Logifch befchränid 
kend ober außbehnend en ober g bi } 


Heralteter und [7 sehen. 
hattet Strafgeſede en 


tvend: } u 
Be a En 
etes hen mitderen Ste * 
Was fol man nun ſagen von dem großen gelehrten Streltigkeiteng 
mie und wo ba ernglifche und das franzöfifche, überhaupt das neuere Ges 
ſchworenengericht entftänden fet; ob unmittelbar nur aus dem altheutſchen 








Jury. 48 


minifterialen unb Hoftagen, ber Sechfte von fürftiichen Privilegien ges 
gen Uebernahme landesherrlicher Schulden, der Siebente endlich von 
dee Entftehung der Landeshoheit und von der Nachahmung der Reiches 
verfaffung unb reichögefeglicher Beflimmung ableiten wollte; während 
doch die allgemeine wefentlihe Grundlage in den urbeuts 
ſchen Frelheits- und Zuſtimmungs und Bewilligungsrech⸗ 
ten für alle gemeinſchaftliche Geſetzgebung, Regierung 
und Beſteuerung beſtand, und jene anderen hiſtoriſchen Umſtaͤnde 
zum Theile nur Momente der Ausbildung, der hiſtoriſchen 
Geſtaltüng und der Unterftägung der ſtaͤndiſchen Verfaſſungen 
wurden. Der tiefere, praktifchere gefchichtliche Sinn und die wahre Gelehrs 
famteit des britifhen Blackſt oa e und unfere® deutſchen Tu ftu 6 Moͤſer 
ftanden keinen Augenblid an, auf gleiche Weife das englifche Geſchwo⸗ 
tenengericht mie das deutſche Schöffengericht des Mittelalter, naments 
ld) auch das der Sarolina dem Wefen nad) unbedingt aus ber alls 
gemeinen germanifhen Volksfreiheit abzuleiten, aus dem 
allgemeinen altdbeutfhen Rechte jedes freien Bürgers, nur auf 
SGchuldigerliärung feines Volks oder feiner Mitbürger 
verurtbeilt werben zu dürfen. Selbſt der Außeren Einrichtung 
nah knuͤpften fie es mit Recht vorzugsweife an das altdeutſche 
Volks⸗ und oͤffentliche Geſchworenengericht, bdeffen Eins 
richtung aber in der Entwidelung vorzüglid von jenem Beweisin⸗ 
flitute der Privatgeſchworenen oder Eidhelfer beftimmt wurde. 
Sie erklärten es zugleich auc aus der noch Älteren gefunden Vernunft, 
aus dem wahren Naturrechte aller freien Völker, welche ſtets einfahen, 
daß Gericht über Leben und Tod eine heilige allgemeine Angeles 
genheit ifl, ein atle Bürger angehbendes Nationalredht, 
welches unter ihrer Mitwirkung und unter dem moralifchen Himmels: 
lichte der Deffentlichleit auszuüben fei, und daß zugleich ein befriebis 
gender criminalcechtlicher Bewels auf andere Weife in der Megel nicht 
zu finden ift, als fo, daß eine Anzahl der tauglichften Mitbürger, nach 
möglichft vollftändiger eigener Anfchauung und Prüfung aller Perföns 
lichkeiten, ihrer Ausfagen und Verhaͤltniſſe, ihre eidliche gewiſſenhafte 
Ueberzeugung im Namen ihres Volkes ausfprechen. Sie erlärten bas 
her biefe Mitwirkung des Volkes zu Criminalurtheilen für ein eben fo 
unzerſtoͤrbares als uraltes Nationalcedht, obgleich es, wie das Hecht ber 
Geſeteszuſtimmung oder das der Steuerverwilligung,, in verſchiede⸗ 
nen zeitgemäßen Formen auszuüben ift, früher in den mehr demokra⸗ 
tiſchen, jegt, nach Ausbildung der monardifchen ftändifchen Verfaſſung, 
gleich der Geſetzgebung, in mehr monarchiſchen und namentlich, in anges 
mefjenee Zuſammenwirkung von Regierung und Regierten ”). 

Und babei wird es auch bleiben, mag man aud noch fo einfeitig 
gelehrt aus den natürlihen Shwanklungen ber Snftitutio> 
nen im Mittelalter einzelne jener Momente ber hiftorifchen Ge: 


*) &. oben Bd. II, &. 276. 








4 Jury. 


ſtaltung unrichtig zus wahren Grundlage des ganzen Nationalinfiktı 
ftempeln ober auch durch einzelne einfeitige juriſtiſche und politifche Mü 
fihten und. Klügeleien feine wefentliche Gerechtigkeit verdunkeln woll 

Gerade eben fo. aber, wie in Beziehung auf die ganze neuere ftändif 
Monarchie alle Freiheitliebenden Völker der gefitteten Welt und ihrem 
feren Staatsmänner immer mehr jenem tiefen praktiſchen Sinne 
freien Briten huldigen, mit welchen fie felbft unter allem Drude d 
potiſcher Eroberungs= und Feubalgewalt und‘ ihrer Ueberbleibfel d 
ftets die freien Acht deutfchen Grundlagen ihter Geſellſchaft zugls 
Biken und zugleich zeitgemäß zu wahtem organifchen Zuſamm 

ange auszubilden mußten, fo verdient vor Allem aud das neu 
Schwurgericht diefe Bewunderung ‚zumal wenn man vergleicht , tool 
die übrigen germanifchen Wölfe und vollends bie deutfhen bei ge 
gleichen Grundlagen ſich führen ließen. 

Aecht deutſch blieb das neuere Schwurgericht, fo wie aı 
noch jenes obem gefchilderte fpätere beutfche Volks oder Schöffen = € 
richt nad) der Earolina, in der Hauptſache, ober darin: 1 
Fein Bürger, verurtheilt werden durfte, ohne daß er durch achtbare 8 
präfentatiom feiner Mitbürger und feines Vaterlandes nad accufat 
tifher Sffentliher Verhandlung für ſchuldig erkld 
worden war. 

Aber wie viel weiſer und für Freiheit und Gerechtigkeit glüdtic 
mußten die Briten daſſelbe rein deutſche Inftitut zu behaupten a 
auszubilden! - Sie, erhielten es einerfeits gänzlidh rein u 
frei von ben frembartigen zerftörenden Einflüffen 
volksverachtenden Romaniften, die fie aus Parlament und Gericht j 


ten, wie von aller hierarchifchen und -Panonifchen Inquifition, u 
tetteten dabuch das Grunbinftitut bürgerlicher Freiheit a 
mit ihm die Freiheit ihres Vatetlandes +) "und der Welt. Dage, 
huldigten fie anderfeits der mehr monarchiſchen und neu 





Jury. , 45 
digſten Oeffentlichkeit und ber Mittheilung auch durch preßfrele Zeituns 
gen eine mittelbare controlicende Einwirkung. Anderſeits übergaben fie 
die Entſcheidung über Verlegung der Gefege und daraus entftehende 
Nichtigkeiten bem aus den zwoͤlf recht sgelehrten Oberrichtern ge: 
bildeten Töntglichen Öbergerichte, und gaben auch den rechtsge⸗ 
lohrten koͤniglichen Präfidenten des Schwurgerichts einige unten zu 
errmähnende wichtige Mittel, ungerechten materiellen Entfcheidungen vor⸗ 
zubeugen ober abzuhelfen. Gleich weiſe aber vermieden fie es, aͤhnlich 
wie fpäter bie Dänen und Schweden, den aud) dort das oberfte Se: 
richt bildenden zwoͤlf Oberrichtern, feit diefelben vom Könige angeftellte 
Nechtögelehrte waren, ferner als einem hoͤchſten Schwurgeriht — (mas 
das Obergericht urfprünglich fein follte) — eine Oberentfcheibung im 

ateriellen zu geben und dadurch eigentlic, das Weſen der Schmurges 
richtsentſcheidung zu beeinträchtigen. 

2) Auch die Ermählung der Gefchworenen wurde theild monars 
chiſcher, theils aber auch in jeder Hinficht beſſer, als die der meiften 
fpäteren deutfchen Schöffen. Zwar wurde der uralte Grundſatz, daß 
fie VB ollsrepräfentanten, und zwar wie alle ©efege aller ger: 
manifchen Völker ſtets forderten , eine Auswahl ber beften und acht⸗ 
barften Bürger des Volkes fein follten, ſtets feftgehalten. Er 
galt auch fpÄäter eben fo gut, wie damals, als bie Schöffen auch 
noch nad) Karl's bes Großen Geſetzen und in vielen ber obenerwähnten 
fpäteren deutfchen Schöffengerichten unmittelbar vom Wolle erwaͤhlt 
wurden, und dieſes die Sprüche feiner Stellvertreter noch reformiren 
durfte. Jene Wahl gefhah natürlich auch früher in den ſtandinavi⸗ 
[hen Reihen, wo die Geſchworenen eben von ihrer meift in der Wolke: 
verfammlung Statt findenden Ermählung zu jedem Schmwurgerichte bie 
Ermählten (Nämnd, Näpninger), oder von ‚ihrer Eigenſchaft und 
Micht der Wahrhaftigkeit die Wahrfprehenden (Sandemen, 
veridioi) hießen (moher auch ihre Ausfprühe bier wie in England 
Verdicte genannt wurden). Eben fo aber mie ſpaͤter in ben nors 
difhen Reichen, fo wurde auch in England die Auswahl der Geſchwo⸗ 
venen durch die große Zheilnahme, welche einerfeits ſtets die Regierung, 
anderfeit® beide Parteien, der Ankläger und der Angelagte, bei dens 
felben erhielten, theil® mehr monarchifch, und einer Repräfentation des 
ganzen WVaterlandes, alfo auch der jest fouveränen Regierung, wie 
des regierten freien Volkes angemeſſen, theils zugleich parteilofer für 
den Angeflagten, wie für den Anklaͤger. Es vereinigte in der lebten 
Beziehung hoͤchſt vortheilhaft und organiſch Volksrecht und Königsrecht, 
und die beiden Richtungen jenes alten Öffentlichen und des Privats 
ſchwurgerichts und die in denfelben Statt findenden verfchiebenartigen Ein: 
flüffe des Ankiägers und des Angeklagten auf bie Auswahl der Ges 
fhworenm. Die Auswahl der neueren Geſchworenen vereint und bes 
friedigt, wie fih unten zeigen wird, alle Intereſſen. Durch die ſtets 
neue Auswahl für jede Gerichtsfigung und jeden Proceß aber gefchah 
diefe® ‚mehr, und es blieben auch die Geſchworenen eine reinere Repraͤ⸗ 








20 Jury · 
ſentation des Volkes, als wenn, wie ſpaͤter oft in Deutſchland 





bie 
Schöffen auf längere Zeit ernannt oder mit ber bürgerlichen Magiſtra- 
tur identiſch wurden. 

3) Aud die Ernennung der Gerichtövorftände, welche in England 
aus einem ober zwei der vom Könige umabfehbar angeftelten rechtever⸗ 
ftändigen zwölf Oberrichter beftehen, und melde nad) einem regelmäßle 
gen Wechfel, ähnlich den Sendgraven Karl's des Großen, das Band bes 
reiſen, ift ficher monarchifcher, als bie in alten Zeiten auch in Deutfche 
land Statt findende Volkswahl ber Graven und Centgraven und in Stans 
dinavien der Gefegmänner, ja felbft noch als jenes oben erwaͤhnte Präs 
fidium der fpäteren deutſchen Schöffen duch Gemeindevorſtaͤnde. Dar 
bei hat es aber auch zugleich, wieder etwas Nationales, der Idee eines 
Ausfpruchs des Waterlandes Entfprechendes, daß der Präfident der Afs 
fife nicht, wie fpäter der ſkandinaviſche Gefegmann, ein beflänbiger 
Beamter des Diſtricts iſt, vollends Fein Wollziehungsbeanater, wie die 
alten Graven und Gentgenven, ober wie etwa einer ber beiden jegigen 
engliſchen Gravſchaftsvorſtaͤnde. 

4) Auf's Neue aber iſt es monarchiſcher und zugleich ber 
höheren Civitiſation mit ihrer Thellung ber Arbeit entfprechenber, 
für’6 Erſte, daß die Vorſtaͤnde des Schwurgerihte (mie allermeif 
auch die Anklaͤger und Vertheidiger) rechtsgelehrie Beamten, aber freie 
uch — ftatt dee Romaniſten und Kanoniften — vaterländifhe Rechts. 
gelehrte find, mährend häufig auch noch in dem fpäteren Schöffenges 
richten Nichtjuriſten präfibirten; fodann auch das, daß Alles, was 
gelehrte juriſtiſche Kenntnig erheiſcht, den Rechtsgelehrten, der, wie ſich 
zeigen wird, durchaus nicht techniſch juriſtiſche Ausfpruc über Die 





Aury. 47 


5) Ungleich foͤrderlicher für Gerechtigkeit und Freiheit iſt auch 
darin das engliſche Schwurgericht, daß es feſthielt an den altdeutſchen 
Srundfägen, daß, verſchieden von dem ſpaͤteren deutſchen Schoͤffengerichte, 
die ganzen Hauptverhandlungen, alfo auch bie Ausſagen bes 
Angeklagten und aller Zeugen ſtets vor ben Augen und Ohren 
des ganzen Gerichts in oͤffentlicher accuſatoriſcher Verhandlung Statt 
fanden, und Richter und Geſchworene, Anklaͤger und Vertheldiger belie⸗ 
bige degn an dieſelben ſtellen konnten; und endlich 

6) daß hierdurch, durch die Zuruͤckweiſung aller romaniſtiſchen und 
hierarchiſchen Einflaͤſſe, das engliſche Criminalverfahren ſich frei hlelt, 
oder doch laͤngſt ſich wieder völlig frei machte von ben unten zu ſchildern⸗ 
den unheilvollſten Erfcheinungen unferes deutſchen Criminalproceſſes, 
von dem Wahne einer juciftifchen Beweistheorle mit ihren ſchauderhaf⸗ 
tem Folgen, ber alten gefeglichen Tortur nämlih und der neueren uns 
gefeglichen ber Sabre langen geheimen Inquifitionss und Kerkerqualen, 
von den Verdaches⸗ oder aufßerordentlihen Strafen und den lebenslänglis 
hen Verbächtigkeitserfiärungen und DVermögensberaubungen buch bie 
Losſprechungen von der Inftanz- 

8) Die Entflehung unferes heutigen geheimen ſchrift⸗ 
lihen In quiſitions- und Relationsproceffes vor blos 
juriffifhen Regierungsbeamten durch die bierardhifche 
Snqauifition und die unvaterländifhe Jurisprudenz, 
duch Beamtenherrſchaft und Abfolutismus und ihre 
vereinte Zerfiörung der vaterländifchen Freiheit und 
Verfaſſung. — Nur in ſolchen germanifchen Ländern, wo, wie in 
Deutfhland, die fremden in einer * die Volksrichter unverſtaͤndlichen 
Sprache geſchriebenen roͤmiſchen, kanoniſchen und lombardiſchen Rechts⸗ 
buͤcher allgemeine Geſetzeskraft erhielten, mithin nicht in Schweden und 
England, bildete ſich mehr und, mehr das unnatuͤrliche, geheime in⸗ 
quifftorifche Beamtengericht aus. 

Schon frübzeitig im Mittelalter hatte die Geiſtlichkeit, zunaͤchſt 
angeblich aus der Sorge für das Seelenheil (sacramentali ratione) 
für Kichens und Sittenzucht, dann aber immer mehr zur Ausbildung 
ihrer theoktatiſchen priefterlichen Oberherifchaft eine große kirchliche 
Buß⸗ und Strafgewalt uſurpirt. Diefe übte fie früher nach ben 
Grundfägen der freien deutfchen weltlichen Gerichte, immer mehr aber 
auf eine geheime und inquifitorifche Weife aus. Go gefchah es nad 


— — — — 


waͤhrend dig alts und neudeutſchen, und namentlich auch bie ſtandinaviſchen Bes 
ſchworenen ald Richter fehr natürlich flets nach Stimmenmehrheit entfchieden. 
Das doppelte Element ber Entwicklung bes englifhen Schwurgerichts übrigens 
veranfchaulicht der Anfang des Criminalproceſſes. Will der Angeklagte 
bei demſelben fogleich freiwillig fich ſeibſt ſchulbig bekennen und auf die „Prüs 
fung ber Sache durch's Schwurgericht“ verzichten, fo entſcheiden bie Staats⸗ 
richter allein, will er das nicht, fo fordert er buch das erlangen, „durch 
Gott und fein Waterland gerichtet zu werben”, die Jury⸗ 0 





48 Sur). 

dm 2 null; dem mefptiinglich —— 

6 f 

seen Beahen — 

Spftems hierarchifch⸗ theokratiſcher Hertſchergewalt, Inmocenz I 
fer bed eigentli ionsp J 


denfelb; nur den geiftlichen Gerichten vor**); doch 6 
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eisen Web | 
Zu dem bieracchifch » fanatifcen Treiben der Geifttichkeit und 
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ben 9 ihm finden Bade 


m Suciftenzunft ı und mit ihrer -_ 
if und Vreadht he Freiheiten Nechte. A 
niß un ung, eg und 


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feits Bas har freie gehehme geiſtliche — m 
Sie führten aus dem wömifchen. % die Sklaventortur für 
— ein und erfanden alle md; ENTE, 
Vorzüglich, die ferne —— Eeler⸗ und Heren 
zuerſt im den geiſtlichen, und dann in den weltlichen Gerichten, d 
[hrunäpe ausge Ausgeburt de Sirrardie, * zu dleſer ungtädlichen 1 u 


Ma mäshias 





Sum 49 


das vaterländifche öffentlihe Geſchworenengericht fanc: 
tionirte, da verfolgte die unvaterländifche Juriſtenkaſte das vortceff- 
liche, auch vortrefflich deutſch gefchriebene Geſetz mit Haß und Spott. 
Selbſt zu theilweifer Anwendung kam das treffliche Reichsgeſetz zuerft, 
als es aus ber beutfchen — „ver Bauernſprache“ — in bie Ge⸗ 
lehrtenſprache, das Lateinifche, überfegt war. Mit ber Ausbil: 
bung des färftlichen Abfolutismus vollends wuchs die Geringfchägung 
der kaſtenmaͤßigen Hof» und Beamtenariſtokratie gegen alles Volks⸗ 
mäßige. Ihnen mußten natürlich mit allen übrigen fielen deutſchen 
Nationalrechten auch die Befchmworenengerichte unterliegen. Jene Greuel 
bes geheimen Inquifitionsproceſſes, feine Tortur⸗, feine Kerker- und 
Juſtizmorde wuͤtheten fort, und die unnatärlichfte Proceß⸗ und Ge⸗ 
sichtseinrichtung entwidelten und verbreiteten fi) immer mehr*). 
Leider benusten die Fuͤrſten die roͤmiſche Juriftens und Beamten: 
kaſte für die Ausbildung abfoluter fürftliher Gewalt. Selbſt der Kai⸗ 
fer Maximilian begünftigte fie in diefer Richtung in feinen Erblanden 
und zu vermeintlicher Rettung feiner fuͤrſtlichen Macht im Reiche. 
So war denn aller Kampf einfichtiger Vaterlandsfreunde gegen diefelbe 
verge 98106 verhallten die furchtbaren Klagen gegen diefe 
-Doctoren ber fremben Rechte in ber fogenannten Reformation Kaifer 
Friedrich's III. und in Ulrih von Hutten’s Schriften und Briefen. 
Erfolglos blieben ihre Worfchläge: ähnlich, wie befanntlidy die Englän: 
der umb Lange Zeit hindurch auch die Schweizer **), zur Rettung ihrer 
Pationalfreiheiten, gethan hatten, die Doctoren der fremden Rechte aus 
den fländifhen und Gerichteverfammlungen auszuſtoßen. Vergebens 
blieben ber Bauernkriege blutige verzweiflungsvolle Bemühungen gegen 
bie rechtswidrige Zerftärung altbeutfcher Volksrechte; nur voruͤbergehend 
wirffam der Würtemberger und anderer beutfchen Volksſtaͤmme 
Kämpfe für Ausſtoßung der Romaniften aus ihren Gerichten. Sn 
- Würtemberg namentlid forderten die Stände 1514: „wenn bie 
„Sache Untertbanen beträfe, die Doctoren nicht zu Rathe zu ziehen, 
„das Hofgericht „mit ehrbaren, redlichen und verftändigen” Perſonen 
„vom Adel unb von den Städten zu befegen, die nicht Doctores feten, 
„auch ferner die Beſchwerde ber Gelehrten zu bedenken, welche merk⸗ 
„lich bei allen Gerichten durch das ganze Land bei ihren Handlungen 


*) G. überhaupt oben: „Ableugnung”, „Anklage”, „Garolina“ 
„Bolter‘ und „Jurisprudenz“. 

”) Gerſt lacher, Sammlung der Würtemb. Geſetze I. ©. 70. 
Unter Anderen wies ein fchweizerifcher Gerichtsvorſtand, als eine Partei fi) aus 
dem nachbartichen Gonftanz einen Doctor hatte kommen laffen, der ſich nun 
auf römifches Recht und feine Gommentatoren Bartolus und Balbus ber 
rief, mit den Worten zurüd: „Hoͤrt Ihr, Doctor, wir Schweizer fragen nicht 
„nach ben Bartele und Baldele und andern Doctoren. Wir haben fonberbare 
„Landbraͤuche und Rechte. Raus mit Euch Doctor!” — Ulzich von Huts 
ten (Ulrici Huttenis in Neminem praef. Bas., 1518) klagt unter Anderem: 
„Die Bartoliften liegen wie Schwämme in den Ohren der Fürften. Nach ihrem 
„Rathe werben jegt die Staaten regiert.” 


Staats »Errilon. IX. 4 








50 Jury. 


„einbteche, fo daß jegt Einer, dem Rechtens noththue, mit 1 
nicht davon tomme, der vielleicht vor 12 Jahren mit 10 Hellern 
Sache gar gerichtet hätte”). Aehnliche Beſchwerden der Stände 
tönten in Medienburg, Franken, Böhmen, Baitern 
Eine Verordnung vom Derzog Georg von Baiern hilft hie 
unvollitändig ab durch bie Beſtimmung, „daß allweg mehr Kandlı 
„als Doctores genommen werden follen *+*).” Beſſer, aber nicht 
wirkſamer fuchten viele landſtaͤndiſche Verträge durch die Beſtimm 
abzuhelfen: „es folle auch auf Tagen der Nechtfertigung kein „DA 
oder Licenciat gebraucht werden +)" 

So entftand und fo befeftigee ſich unfer geheimer Inquiſiti— 
proceß. Ergeiffen von ben neuen lauten lagen, welche bei dem 9 
dererwachen der Lichtſtrahlen geiftiger Freiheit und Bildung zu € 
des’vorigen Jahrhunderts Thomafins, Bercaria und die ı 
böhere Cultur hervorriefen, ſuchte ziwar allerdings fürfttiche Huma 
eifrig feine auffallendften Graufamkeiten, die gefegliche Tortur, 
Hätte vieler Strafen, die Güterconfiscationen zu befeitigen. Dody 
Zuriften wußten bald ihre guten Abfichten zu vereiteln. Die gefe 
Tortur wurde bald durch noch viel furchtbarere und gefährtis 
ungefegliche Torturmittel und durch immer größere Dauer der Km 
fitiond = und Kerkergualen während der Unterfuchung erfest. Die] 
löfung des Reichs aber und der Despotismus der Rheinbundesep 
brachte unferen criminalgerichtlihen Buftand neues, großes Ung 
Die Reſte alter Volks» und Gemoffengerichte, der accufatorifchen 4 
richtung und ber altdeutfchen Deffentlichkeit des Griminalprore 
welche bisher noch der Verfolgung der Momaniften und Regierm 



























Sum. 51 


mM. Das Wefen und die Wirkungen ber beiden Pro: 
ceßarten unb Gerichte: 1) die unferes geheimen inqui— 
ftitorifhen Relations: und Beamtengerichts. Zunddft 
Beranfhaulihung berfeiben buch einige actenmäßige 
Griminalgefhidhten. 

Die Bedingung der von der Gerechtigkeit und Menſch⸗ 
lichkeit geforderten Aufhebung mangelhafter und verderblicher Einrich⸗ 
tungen beſteht barin, diefe Mängel möglichft klar zu machen. Viel⸗ 
leicht iſt es heilſam, der allgemeinen Schilderung ber Mangelhaf⸗ 
tigkeit unſeres deutſchen Criminalproceſſes zur lebendigeren Veranſchau⸗ 
lichung einige wenige Criminalfaͤlle, wie fie ſich zufällig gerade zu⸗ 
naͤchſt darbieten, vorauszuſchicken. 

Zu erſt mögen einige Beiſpiele das in Deutſchland leider nur 
allzu häufige grundloſe Beginnen von Criminalproceſſen 
unb die Unndthigkeit und Willkuͤrlichkeit der Frei: 
heitsberaubungen in denfelben veranfchaulichen. 

So erzähle Efcher in feiner Lehre von dem firafbaren 
Betruge Zuͤrich, 1840. ©. 128. und eben fo das Neue 
Archiv des Criminaltehts Bd. II. ©. 634 aus dem Ks 
nigreiche Baiern den folgenden actenmäßigen all: Gelegentlich eines 
Givitproceffes wurde ein Bürger, der durch Öffentliche gerichtliche Urs 
Tunden fi zuerft eine Schuidforderung von 1800 fl. hatte cediren 
loffen, um fie auf eine dem wahren Gläubiger bequeme Weife 


“gegen eine Provifion für diefen beizutreiben, und fie ihm dann zurüds 


cedirte, bei der ehrlichften Dandlungsweife von dev Welt, die auch kei⸗ 
nen Menſchen befchädigt hatte, dennoch, weil er natürlich bei der Bei⸗ 
treibung materiell unwahr jene Sorderungen als fein Eigentbum aus: 
gab, dur eine unbegreifliche juriftifche Begriffsverwirrung als angeb⸗ 
licher Betrüger in Haft genommen. Ja, es wurde derfelbe durch Ober: 
gerichtebefchluß auf die Acten in Specialinquifition verfegt. — Noch 
mehr, der ebenfalls vollig unfchuldige wahre Gläubiger wurde, „um 
Gollufion zu verhindern, ebenfalls eingelerkert, bis denn nach 
Verlauf beinahe von einem Jahr ein höheres gerichtliches Erkenntniß 
dem graufamen Unfuge durch Aufhebung aller Unterfuchung glüdlicher 
Welle ein Ende machte, 

Über denke man nicht, daß die unglüdlichen Opfer unferer ge 
heimen KBeamtenjufliz und ihrer KBegriffsverwirrungen immer fo 
—5 find, einen Jahre langen Unterſuchungsarreſt wenigſtens mit 

— beendigt zu ſehen. Nein, derſelbe Eſcher berichtet S. 
266 ff. au demſelben Koͤnigreiche blos aus dem Capitel der Betruͤ⸗ 
gerei, zunaͤchſt der Unterſchlagung, fuͤnf verſchiedene neuere Faͤlle, in 
welchen ehrliche Buͤrger wegen durchaus nicht verbrecheriſcher und ohne 
alle Abſicht der Eigenthumsbeeintraͤchtigung vorgenommene Handlungen 
ohne Anklage in quiſitoriſch in Unterſuchung genommen und ale 
Verbrecher verurtheilt wurden. Ein Mann z. B., welcher für einen 






“ Anderen Gelder einzufordern hatte, verwendete davon eine Summe für 
% 


— 








52 Jury. 


ſich, berechnete ſich aber aus freiem Antriebe ſogleich bei ber Abtiefei 
darüber mit:feinem Auftraggeber, zog feine Koften ab;, -ftellte ihm 
den Neft von 70 fl. einen Schuidſchein aus und verſprach dieſen 
juverdienen. Er hatte auch wirklich bereits 40 fl. daran abwerb 
als plöglic der Aermſte ohne alle Klage des Gläubigers vom 


beiminquifitsrifhen Amtswegen in Unterfuchung gegogen 
vom Griminalgerichte als Verbrecher beftraft wurde. Gleich enpd 
für den gefunden Menfchenverftand und das Gerehtigkeitsgefühl 
die vier Übrigen Fälle, wo völlig unſchuldige Leute meift bei Geh 
heit von Civuklagen inquiſitoriſch in Criminalunterfuchung genom 
und nur zwei ‚fo gihdlich waren, durch vernuͤnftige Griminalgel 
freigefprodhen zu werden, während die zwei Anderen ebenfalls ſchu 
veructheilt wurden. Es waren aber diefes Richter, die nach beim 
Deutſchlands erftem Eriminaliften, nad) dem von Feuerbach 
morfenen ‚Strafgefegbuche richteten. Weiter unten noch mehrere Ahr 
Beifpiele aus anderen deutfchen Laͤndern, namentlich aus Baden (IN 
Nicht minder häufig find leider ſoiche Fälle, welche die Imı 
fitions- und Kerkertorturen, die baburd hervorgel 
ten, völlig falfhen Geftändniffe und Ausfagen ge 
Mitfhuldige, und bie fo bewirkten falfhen Verurt 
Lüngen veranfchaulichen. ' 
Der aus ber Provinz Shdpreufen, von dem edlen preufi 
Suftizminiftee von Arnim in feinen teefflichen Bruhftüäden d 
Verbrechen und Strafen ©. 44 ff. erzählte Fall wird 
zuͤglich durch feine Einzelnheiten und des Verfaſſers Bemertu 
ſtets Iehrreich bleiben. Im Jahre 1800 wurden wegen Brandfth 
in zwei Städten, Sieraz und Wartha, fieben Perſonen 
haftet. Schon durch die Polizei: und unteren Juſtizbeamten, u 
von ihrer Schuld völlig überzeugt, ihnen mit Mißhandlungen 


















Zum. &8 


fiten bie Stabt Sieraz und Wartha nicht angeſteckt Haben koönn⸗ 
ten, indem fie zur Zeit der Anzinbung von den Brandflätten theils 
meit entfernt, theild dergeftalt beobachtet worden waren, baß fie 
durchaus nicht die Branbflifter hatten fein können.” Sie wurden nun 
natürlich, als ganz unfhuldig, völlig frei gefprodhen. Le 
biglich die geheime Snquifitionstortur, bier Schläge in ber Form 
von Lügenftrafen und von Strafen wegen Verweigerung 
beflimmter Antworten, Torturen, von benen die Acten, fo wie 
„faft regelmäßig” (S. 52), fo auch hier, nichts oder doch nur hoͤchſt 
weniges Unvoliftändiges (S. 45. 51. 54) und Unverfängliche® enthiel- 
ten, und, wie ein Inquiſit ausfagte, „die wahren Martern des vielen 
„Bernehmens” (S. 66) hatten bei fe hs Männern die zum gewiſſen 
Tode führenden, fo beharrlich wiederholten, völlig übereinftimmenden, 
falſchen Ausfagen nicht bloß gegen fich felbft, fondern gegen ihre un: 
fAuldigen Unglädisgenofien, fogar den ernftlihen Wunſch baldigen 
Todes erwirkt und hätten, ohne Dazmwifchenkunft eines reinen Zufalls, 
in einem auf feine Juſtizeinrichtung folgen deutfchen Staate den 
(Haubderhafteften Juſtizmord herbeigeführt. Der Eine der Inquiſiten 
jebod tar bereit in der Unterfuchung, in Folge ber gleich Anfangs 
von den sinteren Polizei= und Suftizbeamten erfahrenen Mißhandlungen, 
wirklich geſtorben. Und die angeblichen Lügenftrafen maren der Art, 
daß bei der neuen Unterfuchung, nach Entbedung ber Unfchuldsfpuren 
officteß für einen Inquiſiten, den ſtets leugnenden Joſeph, einige 
Hundert tuͤchtige Kantſchuhiebe zugeftanden wurden. Der Eirie der 
Inquiſiten Übrigens fcheint ohne eigene Prügel, blos duch das Bels 
fpiel feiner Leidensgefährten, und ein Anderer eben fo durch einen im Un⸗ 
gluͤck ihm entftandenen Lebensüberdruß zu den ſtets erneuerten falfchen 
Ansfagen gebracht worden zu fein. 

Herr von Arnim erzählt noch einen andern Fall, welcher fich 
faft gleichzeitig in der preußifchen Graffhaft Marl ereignete. Eine 
Familie Riffelmann kam zuerſt wegen unbebeutenden Diebftahle, 
und als num fcharfe Züchtigungen bes arretirenden Militärs von dem 
einen Sohre ein Geſtaͤndniß erpreßt hatten, auch megen anderer in ber 
Gegend vorgefallenen Diebftählen und Räubereien und felbft wegen 
eines Raubmorbes in Verdacht. In den Worunterfuchungen brachten 
es nun das arretivende Militäv und die Polizei duch Mißhandlungen 
und Suggeſtivfragen nicht blos zu den ermünfchten Geſtaͤndniſſen, fons 
dern auch zur Anzeige fehr vieler zum Theil in der Gegend anſaͤſ⸗ 
ſigen Mitfchulbigen. Man brachte fie alle zum Arreſt und lieferte 
dann fpäter die ganze fogenannte Bande an das competente 
Griminalgeriht ob. Hier wurden die Mißhandlungen,, wodurch bie 
falfhen Ausfagen erprobt, vollftändig nachgemiefen,, und zugleich 
wurde duch die fchmwierigfle Unterfuhung die voͤllige Unſchuld 
aller Angefchuldigten ausgemittelt. Mur ber eine Sohn Miffel: 
mann's wurde wegen eines Bettdiebſtahls zu zweilähriger Zuchthaus 
ſtrafe verurtheilt, während beren er jedoch „nach langen Leiden, 





54 Zum. 


„als wahrfheinlihen Folgen der bei feiner Arretiri 
„erlittenen empörenden Mifhandlungen, im Keı 
starb.” Sein Vater wurde als der Theilnahme am diefem = 
ſtahle verdaͤchtig (!) verwetheilt zu dem überftandenen Ar 

Einen Ähnlichen Fall erlebte ich ſelbſt in meinem Vaterlande | 
fen im Amte H., einen Fall, welder auch dadurch merfroätrbig | 
daß der hier allzu eifrig auf Entdeckung der von ihm geglaubten Se 
binarbeitende Inquivent ein ſehr ausgezeichneter Juriit von ehrem 
them Charakter, ein jetzt Hochftehender Beamter, war. 

Bon den merkwürdigen Einzelnheiten aus der trefflichen Dal 
lung des Herrn von Arnim kann hier nur Folgendes Platz fin 

Der vielerfahrene preußifche Juſtizminiſtet bemerkt vor ber. 
zaͤhlung jener durch den deutſchen Inquiſitionsproceß verſchuldeten 
desurtheile · gegen fechs unſchuldige Menſchen und jener beiden & 
ihn berbeigeführten Kerkermorde ausbtüdtih (S. 44), daß ibm 
Raum nicht verflatte, in Beziehung auf die ungluͤckſeligen Wirku, 
unferer neueren Suguifitionstorturen „eine Menge von Beifj 

‚ten aufzuftellen, am welden es ihm nicht fehle.’ 

| Er fpeicht ferner ausführlih von „dem nur gar zu. beta 
„ten Dange der meiften Inquirenten zum Peinf 
„und Schlagen ber Angefhuldigten‘ (S. 38), und fi 
ihn „fo natürlich, daß diefem Mißbrauche Faum mit der größ 
Strenge zw ſieuern ſei.“ „Der Inquitent“ — fagt er — „mil 
„an dem allgemeinen Intereffe des Publici Theil, den unbekannten 
nbeber eines Verbrechens Eennen zu lernen. Ihn fordert überbies 

















Jury. ‚8 


„laͤßt*), wie kann man fi) wohl wundern, wenn beinahe alle Inqui⸗ 
„renten, felbft junge unerfahrene Referentarin — gewiß ſehr oft 
„ganz den die Abficht des Gefeges — von jener Erlaubniß in vol: 
„tem Maße Gebraudy machen.” 
Faſt mathematiſch anfhaulidd maht dann ber erfahrungsteiche 
Minifter (S. 35. 49. 72) die Mustofigkeit der Beſchraͤnkungen des Ge: 
+ feges, „baß, um den Verhafteten zum Geftändniffe zu bewegen, feine 
„gewaltſamen Mittel angewandt werben, und daß Schläge blos ale 
‚Strafen des Leugnens und der Verweigerung beftimmter Antworten 
und der Angabe des Aufenthaltes der geftohlenen Sachen eintreten - 
folen. Die durch Eifer oder Leidenfchaft befangenen Inquirenten, 
welchen in ihrer geheimen Inquifition gegen den fchuglofen Inquiſiten 
Alles überlaffen ift, geben nah fubjectiven Anfihten auch allen 
foihen Strafen die Zendenz der Geftändnißerpreffungen und diefen 
die Form von jenen. Dartnädiges Ableugnen der zugemutheten Schuld, 
Unwiffenheit, wirkliche oder fcheinbare Widerſpruͤche in Beziehung auf 
die vorgefaßten Anfichten des Inquirenten über den angeblihen Sach⸗ 
verhalt, vollends jedes, auch das wahrſte Zuruͤcknehmen wirklicher ober 
f&heinbarer Zugefländniffe verdient nach ihnen gefeglich beliebige Züch- 
‚tigungen. So erhielt, wie Hr. v. Arnim (S. 72) nachweiſet, felbft 
ohne Verlegung des Buhftabens bes Gefeges, jener Eine, 
mit Recht leugnende unfchuldige Inquiſit feine etlihe hun» 
dert tuͤchtige Kantfchuhlebe; fo wurden er und feine Unglüde: 
genoffen zu jenen furchtbaren total falfchen Ausſagen gegen ſich felbft 
und gegen einander chne eine buchftäbliche Gefeßverlegung beftimmt. 
Mertwürdig aber find die aus den Acten mitgetheilten Beweiſe 
von der Furcht, welche die meilten diefer Inquiſiten vor diefen Inquiſi⸗ 
tionstorturen hatten. Lieber wollten fie zulest auf dem Richtplage durch 
Henkershand flerben, als duch Widerruf, ja als nur duch Berufung 
auf die Zeugen für ihre Unfhuld, für ihre Alibi, der näheren 
Gefahr neuer Prügel wegen angeblich „tüdifcher Winkelzüge” ober der 
„wahren Marter unaufhörlihen Vernehmens“ ſich ausfegen. Blos ins 
dicect, zweideutig und liſtig ließen fie in ihren Ausfagen die Unfchuld 
durchblicken, was aber die befangenen Inquirenten um fo meniger 
merkten, da fie nad) ebenfalls geroöhnlicher Weife die Ausfagen nicht 
mit den eigenen Worten der Inquifiten gaben, die oft erſt bei fpäterem 
Zufammenhalten mit anderen Aeußerungen und Umſtaͤnden oder für 
einen Unbefangenen ihre wahre Bedeutung erhalten, während 
. fih die MWortfaffungen der Inquirenten gemöhnlid nur deren vorge: 
faßten Ideen möglichft anpaffen. So ergab fi 3. B., daß Einer der 
ſchuldlos Angefchuldigten feine lügenhaften Ausfagen gegen feine eben: 
falls fchuldlofen Unglücsgefährten flets mit den zweideutigen Worten 


Es iſt diefes bie Inftruction vom 26. Febr. 1799, welche, nachdem 
riebrih der Große alles Schlagen ber Inquifiten gänzlich verboten 
‚zum gehen Bebauern des Herrn von Arnim, in gewiflen Faͤllen 

e als Strafe wieber erlaubte, 


N 





\ 
56 Jury 
906, „fie feien fe füetie, wie m fi" &e 
nachdem fein fräheres: Burkdiuchmen 
das Berufen auf feine Unſchuls umd auf bie Beugen für fein ALS: 
als „Lügen und Winkelzuͤge“ beftraft werben 

mals auf‘ biefelben Bar aber jeht angeblich nur, 
*. — feiner Bekenntuifſe abgehoͤrt werben 
die Unterſuchungecommiſſten, einmal feflgerannt in ber 
zeugung von der Schuld, und diefe für hinlaͤnglich betviefen — 525 
ging auch jetzt nicht darauf ein, dieſe entfernten Zeugen vernehmen zu 
läffen. So wiederholten denn ſelbſt bei und nach dem Genuffe bes 
heiligen Abendmahls nicht blos jener Eine, fondern alle Unglüdfichen 
ihre furchtbaren zum Tode führenden Luͤgen gegen fich felbit und d 
Keidensgefährten. Wer hätte nun wohl hier zweifeln mögen? — 
hätte bier, wo fogar nicht einmal, fo wie gewöhnlid ein einzelner 
Inquiſitor, fondern 'eine ganze Gommiffion unterfucht hatte, foldhe 
Derkehetheit der geheimen Inquifition ahnen follen? Bmei der Um: 
glüdtichen hatten zwar in bet vertraulichen Beichte ihren Beichtvätern 
ihre Unfchuld geftanden;'aber fie waren doch nicht zum Gebrauch eines 
Rechtsmittels gegen das ungerechtefte Tobesuetheil zu bewegen. Einer 
indeß hatte — ergriffen von der Publication beffelben — fpäter ein 
Rechtsmittel eingelegt und feine Zeugen für feine Unſchuld genannt. 
Aber alsbald uͤberwog wieder bie Zucht vor neuen Inquifitionsleibem, 
und er erklärte bie rettende Wahrheit felbft für Lüge und fich 
und feine unfduldigen Mitgenoffen für Verbrecher. Auch nody Arte 
gefichts des unmittelbar in wenigen Stunden bevorftehenden Todes 


wurden die ſchauderhaften Lügen — — nachdem —9— be⸗ 
de Ma bi ibi q 








Sum. . 57 


„in bemahe unzähligen Fällen, bald unter biefem, bald unter 
„jenem Borwanbe, buchſtaͤblich verlegt wurde.” Wer aber will nun vols 
lends allen Misbrauch erlaubten Schlagens und alle namenlofen und 
taufendfachen anderen Quaͤlereien verhindern ? 

So — um diefe und ihre Wirkungen in einem anderen 
Beifpiele zu veranſchaulichen — erzählt das erfte Heft ber Annalen 
der kurheſſiſchen Eriminaljufttiz folgenden Fall: 

Wegen eines auf der Straße von Taffel nady Fulda verübten 
gräßlichen Raubmordes wurde ein armer Schullehrer eingezogen, nad) 
langer Griminalinquifition und auf fein Geftändniß hin zum Tode 
verurtheilt. Durch einen reinen Zufall indeß wurden noch unmittel- 
bar vor ber Vollzlehung durch einen Angehörigen des Verurtheilten 
Spuren vom wahren Thäter und bald diefer felbft entbedt. Da kam 
es zu Tage, daß der völlig unfchuldig verurtheilte Ungluͤckliche durch die 
gewöhnlichen Kerker⸗ und Inquiſitionsleiden ſchon geſchwaͤcht, endlich 
durch einen ihm gemachten Geiſterſpuk, der ihm in der Mitternacht den 
Ermordeten im blutigen Hemde vorfuͤhrte, und ihn unter furchtbaren 
Drohungen zum Geſtaͤndniſſe aufforderte, das falſche Geſtaͤndniß ab⸗ 
gelegt hatte. Jedoch die Freiheit laͤchelte dem nun für völlig unſchuldig 
Erklaͤrten nicht mieder ; die Folgen der Inquiſitions⸗ und Kerkerqual 
machten ihn zum Gefangenen des Irrenhauſes. Den Richter aber 
batten zu feinem Vergehen wieder nur jene an fich Löblichen Motive 
gebracht, wieber nur die unglüdfelige Natur des geheimen 
Inauifittonsproceffes und des Drängens auf Gefländ- 
niß verleitet. 

Noch empörender find die Torturqualen, welche nah) Demme’s 
Annalen der Griminalcechtspflege Bd. VIII. &. 163 und anderen 
Zeitfchriften in neuefter Zeit in dem Großherzogthum Heffen ein In⸗ 
quifitor fi) erlaubte. Er wagte es, einem Sinquifiten, um zur Ent: 
deckung der Wahrheit zu gelangen, zuerft eine graufame Prügelftrafe 
zuzufügen, dann, als diefe nichts half, ihm mit glühendem Eifen auf 
ben Rüden zwei lange tiefe Wunden einzubrennen und enblich ver- 
mittelft gefalzener Nahrung und Verſagunq des Getraͤnkes durch die 
Höllenqualen eines Durftes, welchen ber Gefolterte durch feinen eige⸗ 
nen Urin zu loͤſchen fuchte, zum Geftändniffe zu bringen. 

Diefe Qualen wurden wie germöhnlich ohne gerichtliche8 Urtheilund meift . 
unprotocofliet vollzogen. Der Richter, da deffen Verfahren dieſes Mat gerabe 
zufällig entdeckt wurde, erhielt — tie berichtet wird — einen Verweis. 

Im badifhen Oberamte Br... brachte vor einigen Jahrzehenten 
ein Richter durch die Inquiſitionsqualen, zulegt ebenfall® durch die 
Qualen des Durftes eine ganze Familie zu dem falfchen GBeftändniffe 
eines großen gefährlichen Diebftahls und dadurch zur Zuchthausftrafe. 
As Jahre lang nachher in Tirol der wahre Thäter jenes Diebftahle 
entbedt wurde und freimillig unter feinen übrigen Verbrechen auch diefes 
geftand, war bie übrige, völlig unſchuldige Familie bem Kerkertode ers 
legen. Der allem noch am Leben gebliebene, ebenfalls unfchuldige 











58 Jury. 


Sohn ſagte nun aus, daß die natuͤrlich meiſt nicht im Protocoll 
haltenen Quaͤlereien und Ueberliſtungen ihnen das falſche Geſtaͤn 
entlockt, und die ſich jetzt bei jedem Widerruf als Luͤgenſtrafe 
neuernden Inquiſitionstottuten ſie endlich für immer von allem WB 
rufen abgeſchreckt hätten. 

Ein fermeres gutes Bild deutfher Inquifitionsgua 
und zugleich ein Beifpiel, was man von dem jet zur Mobe ı 
denden Indicienbeweis aus Acten und vor gelebrtem $ 
riftengericht zu erwarten. hat, liefert auch der in Bau 
Strafrehtsfällen Bd, I. S. 1 ff. erzählte, oldenburgäl 
Proceß wegen der Ermordung des bänifhen Gefandten, Kanımerh 
von Qualen in. Eutin. Her von Qualen wurde am 
Februar 1830 im ‚Garten in feinem Blute und todt gefunden, 

zwar, wie ber Arzt und die Gerichtsperfonen zuerft glaubten, tobt b 
einen Fall, wie fie zwei Tage fpäter uetheilten, duch Mord, 

Die alsbald herbeigerufenen Gerichtsperfonen und. die Aerzte 
gannen aber leider micht fogleih, wo bei dem gerade liegenden &d 
die Spuren der blutigen Mordthat leichter zu entdecken waren, fonl 
am dritten. Tage die Obbuction und Unterfuhung. Da fi nur 
diefer gegen den wirklichen Thäter gar Leine Spuren finden woll 
fo machte der num erwachte und vielleicht durch den vornehmen. Si 
des Ermordeten, fo wie durch die außerordentliche Forderung des Hs 
‚ihm wöchentlich über die Unterfuchung zu berichten,” allzu fehr ge 
gerte Eifer zwei Vedienten des Ermordeten, durchaus unbefhol 
Männer, ohne irgend zuläffige Verdachtsgruͤnde, zum Dfer einer 
in’s achte Jahr dauernden Inquifitions> und Kerkerqual, in mel 
der eine Inquifit, angeblich wegen des unficheren Unterſuchunge 
ters, drei Jahre hindurch die gefundheitsverberbliche Pein des Ket 
tragens zu erbulden hatte. Nachdem Jeber von ihnen in ihrer 
famen Haft durch ahtzig bis neunzig Verhoͤte gemartert, 



























Jury. 59 


menfchliche beutfche Criminaljuſtiz! — obgleich, wie der actenmäßige 
Bericht (im Kieler Gorrefpondenzblatt von 1836 Nr. 38) fagt, 
„Verurtheilung unmöglih mar, und es fih nur fireiten Eonnte, 
„den Ungluͤcklichen die Geld» und Ehrenvortheile zu nehmen, die 
ihnen die unparteilfche Juriſtenfacultaͤt für ihre fechsiährigen Leiden 
zuerfannte,” wurden fie dennody nad) der Publication dieſes los⸗ 
fprehenden Erkenntniſſes in ihre Kerker zuruͤckgefuͤhrt. Dieſe 
Appellation zur Verſchlimmerung des Urtheils wurde fuͤr zulaͤſſig 
erklaͤrt. Jenes Blatt berichtet, daß fuͤr beide ehemals kraͤftige junge 
Maͤnner, welche jetzt die langen Leiden zu einer muthloſen Apa⸗ 
thie gebracht hatten, und von denen der Eine, blaß und zerfallen, 
ſich auf den Gerichtsdiener ſtuͤtzen mußte, das losſprechende Ers 
kenntniß, als fie die Fortdauer ihrer Leiden vernahmen, keinen 
Werth mehr hatte. ” 

Nah abermaligem Ablauf eine® Jahres trauriger Kerkerleiden 
erfolgte endlih am 18. Zebruar 1837 das (im Kieler Correfpon- 
denzblatt vom Februar 1837 abgebrudte) neue Erkenntniß des Ober- 
appellationsgerihts zu Didenburg. Es beftätigte gegen den einen 
Anguifiten das Göttinger Erkenntniß, fprach aber wirklich den an 
been Inquiſiten jegt nur von der Inſtanz Los und veructbeilte 
ihn in die Koften feines vieljährigen Aufenthalts im Kerker und 
feiner Vertheidigung und in bie Hälfte der Koften ber Actenvers 
fendung. So wurbe jegt durch diefe unnatürlihe und graufame, 
von beutfchen Suriften geſetzwidrig erfundene Art der Losfprechung 
die früher zuerkannte Ehren: und Vermoͤgensgenugthuung für den 
Ungluͤcklichen zerftört. Statt ihrer wurde ihm, nad allen feinen 
Leiden, auch noch ber bleibende Makel ſcheußlichſten Verdachts und 
die ſtete Gefahr beliebiger Erneuerung der Kerker⸗ und Unterfu: 
chungsqualen aufgebürdet, und er feines durch bie vieljährige Kreis 
heitsberaubung bereits fo ſehr geſchwaͤchten Vermoͤgens beraubt !! 
Ganz auf diefelben Acten hin gab das neue Erkenntniß blos 
auf angebliche Indicien, welche die berühmte Suriftenfacultät, deren 
Referent doch fonft den Indicien nur allzuviel zutraut, für fo völlig 
nichtig erflärte, jest die entgegengefeste Entſcheidung. Der Einfender 
diefes neueſten Erkenntnifies bemerkt dabei zugleih, dag das in: 
quirirende Gericht, bie Juſtizcanzlei in Eutin, ebenfalls im Wider: 
fpruch mit dem Öbergericht, gerade ben von demſelben zur lebens: 
länglihen Verdaͤchtigkeit und in bie Koſten Verurtheilten für weit. 
verdachtlofer, als den auch jetzt wieder völlig Losgefprochenen „hielt. 
Er ruft dabei aus: „Das iſt die Sicherheit unferes Criminalbe: 
„beweiſes!“ Jener auch jest völlig Losgefprochene hatte jedenfalls 
die einjährige Werlängerung der Kerkerqual eben fo grundlos erdul: 
det,. wie alle frühere. Denn auch das Öberappellationsgericht fah 
fi) genöthigt, demfelben die Forderung auf Schadenerfag gegen das 
inguirirende Gericht vorzubehalten, freilich mit den Worten, „daß es 
„ihm unverwehrt bleibe, feine vermeintlichen Anſpruͤche auf Schaden: 


Jury. 


0 
„arfsh, im fo weit er ſich damit durch zutommen getraut, in wepa- 
rat qeisemd zu machen.” Diefe Worte find in diefem Falle-boppeit ber 
P - Kriber fielen mehrfach die Würfel deutſchet Erimmineijufi, 
[2727 de⸗delt unglädüih. Der bios von der ebene pur cn 
mit feinem Wet von Vermögen bie (age hätte 
üfeen töamen, erbielt diefelbe nicht, und er wird dagegen: feines 
3 Roften beraubt. Der freigefprochene Bermögeniofe 
9 gefchadet hätte, erhielt sein. Reck, 
* 





wird. 
fh aber einem roten Begriff mahen-von dep, ganzen 
FH firts gleidy gebliebenen Bodenloſigkeit det angeblichen 
gegen bie beiden Ungluͤcklichen, von Verdachts 
wI jur Griminalinguifition und Verhaftung, und nad 
ger ze jener tesurigen Verbäctigkeitderflärung und Roflenberse 
Keliung hüten führen dürfen, und eben fo von der umbegreiflicen eife, 


er: umb act umd fiebenzig Indieienbeweiſe für die Schuibs 
Wan fit in's are Jade, füge in's achte Jahr, durften in Deutfchland, 
im be Deutihtaudb dis meunzehnten Jahrhunderts, im ordentlichen 
Wear Mebprns, ein folder einfacher Eriminalptoceß, ſolche furc 
bass Unteriuchungsmarter gegen die unfchuldigen Ungluͤcklichen dauern/ 
Deich: genannte Öffentliche Blatt vom 18. Februar und 8, 


1837 ber ihr greichzitig ebenfalls aus dem Oldenburgiſchen 
mes Berseis von der furchtbat langen Dauer und der in ihren Dies 
faizstın fo traurigen faiſchen Gruͤndlichteit deutfcher Criminalunterfie 
Gumgen. Es iA die Nachricht von einem 1832 begonnenen und 





Jury. 61 


1834 durch ein von ber Göttinger Juriſtenfacultaͤt gefälltes Erkennt: 
niß der Zifhlermeifter Wendt in Roftod wegen angefchuldig- 
ten Giftmords feiner eigenen Mutter von der Inſtanz entbunden, da⸗ 
gegen wegen Giftmords feiner Ehefrau und wegen verfuchten Gift: 
mords gegen feine Schwiegermutter, wegen culpofer Vergiftung mehr 
rerer Perfonen, und endlicd wegen bolofer Brandftiftung zur qualis 
ficirten Xodesftrafe bes Rades verurtheilt. Ganz nad) den: 
felben Acten und ohne alle Veränderung der Sache fprach ihn 
1836 bie Heidelberger Juriftenfacultät frei, und zwar von allen übrigen 
Verbrechen gänzlich frei, von dem Giftmorde der Ehefrau jedoch nur 
von der Inſtanz; und fie vesurtheilte ihn dabei in die Koſten der Ac- 
tenverfendbung. Auf neue Appellation wegen diefer beiden legten Puncte 
endlich ſprach, ebenfalle nach denfelben Acten, 18383 das Oberappel⸗ 
lationsgericht zu Parchim auch in Beziehung auf den Giftmord der 
Ehefrau des Inquiſiten deſſen völlige Unfhuld und Verdachtloſigkeit 
aus, und befreite ihn natürlidd auch von allen Koften. Im Sahre 
1839 erklärte hierauf, vom Gewiſſen getrieben, der Angeber bes Wendt, 
fein Sefelle Heufer, welcher des vollgogenen Verbrechens des Gift⸗ 
mords und ber Branditiftung geftändig und bereits verurtheilt war, aber 
diefelben im Auftrage Wendt’s vollzogen haben wollte, gerichtlich alle 
feine Ausfagen gegen Wendt für erlogen, fich ſelbſt dagegen für den 
alleinigen Schuldigen. | 

Se endete im neunten Jahre diefer deutfche Criminalproceß, nach⸗ 
dem das neue, ungluͤckliche Opfer deutfcher Kerker- und Inquiſitions⸗ 
qualen biefeiben bis in’s fiebente Jahr erduldet, durch fie der Wer: 
zweiflung und beinahe dem Wahnfinn in die Arme geführt und zu 
oftmals wiederholten falfhen Belenntniffen verleitet worden mar. Sie 
endete, nachdem der nun für völlig unſchuldig und verdachtlos Erklaͤrte, 
ein vorher unbefcholtener, wohlftehender Bürger und Gewerbsmann 
mit feinen Kindern völlig an den Bettelſtab gebracht, bei zerrütteter 
Geſundheit und von feinen Zunftgenoffen wegen des achtjährigen, ges 
richtlichen Verdachts barbariſch zuruͤckgeſtoßen, nur kuͤmmerlich durch 
Almoſen lebt, die ihm ſein edelmuͤthiger Defenſor reicht und ſammelt. 
Das von dieſem Letzteren erbetene Recht gegen das inquirirende Unter⸗ 
gericht, wegen ſeiner verkehrten Inquiſition, wodurch es den Schuld⸗ 
loſen in's Ungluͤck geſtuͤrzt, eine Schadenserſatzklage zu erheben, hat 
das Obergericht, obwohl voͤllig anerkennend dieſe ganze Verkehrtheit, ab⸗ 
geſchlagen. Wo waͤre auch in unſerem neueren deutſchen Inquiſitions⸗ 
proceß ſeinen ungluͤcklichen Opfern jemals auch nur ſolche duͤrftige, aber 
von der Gerechtigkeit und Staatsweisheit gleich ſehr geforderte geſetz⸗ 
liche Genugthuung geworden? Ein Scheingrund, ſie abzuſprechen, 
findet ſich ja uͤberall leicht; fo bier darin, daß der der Criminalfehme 
verfallene Unglüdliche auch feinerfeite In ber durch dieſes Ungluͤck und 
bie Inquifitionstortur verurfachten Angft fich zu einigen Fehlern, zuerft 
zu einer unwahren Befeitigung falſchen Verdachts, dann zu unwahren 
Bekenntniſſen hatte verleiten laffen. Auch hatte ja der Inquifitor fo 


“ Jury. 


— — Bir Göttinger Furiftenfaeultät irgend einen böfen Willen. 
Zi Woigien ulmche wur mit allzu ee 
gie, der Bnsib yar Gttafe zu bringen. Das Berbridien Tiegt 
u Hier wiederum nur in der geheimen, ingwäfltorie 
ben Procfeinriätung, welde folgen furhtbaren Eiwr 
eitigteiten umfer Leben und unfere Sinerbeit über 


fr 











Boetüich auf «6 feihft das Dberappellationsurtheil im fehnen ⸗ 
(Gedungsgchnden vortrefflih austinanderfeßen, wie ein währer 
Gafist, daß ber Ungrfculdigte die unter ben obwaltenden Umflänben fü 
68 gong-unbegreiflien, durhaus nidt metibirsen 
cbrebem begangen, gar nicht vorhanden war, und wie Tebiglid 
das Gericht buch feine Blinde, verkehrte Verfolgung feiner Dor« 
sefoften Anfiht von der Schuld, duch Seelentortue und 
Ecweckung von Furcht und taͤuſchendet Hoffnung, die unglaubielicbigen, 
Heie wieder zueh@genommenen Geftändniffe verſchuldete. Aber während 
man fonft für jede techtswidrige Wermögensbeihädigung, für jebes 
Dpfer bes Eigenthums zu Staats zwecken Entſchaͤdigung für eine heilige 
Nothwendigt at anerkennt, gibt es ja rückfichtlic aller furdhtbarften Mens 
lehungen unferer geheimen Imquifition weder Schub noch Erfah. 

Diefe artenmäßige Procepgefhidhte aber follte vor 
fändig Tefen, wer noch fein Grauen vor den unvermeibfigen 
Ungerechtigkeiten deutſcher geheimer Kerkerinquifition hegt, wer 
nicht ſchaudert vor den Gefahren der Verurtheilung nad Acten, 
die, wie jene Entfcheidungsgrände des Oberappellationsgerichts Mär 
naqwelſen/ aud hier bei aller Dide doc nur fo hoͤcht 
feitig aufgefaßte,. unvollffändige Vorftellungen Bom 


dem wahren Sahverhalte mittheilen, vor einer 
lung vollends nach einer abermals einfeitigen Relation aus fol 





Usten, vor einer Verurtheifung endlich nach protocollicten und teferis 


Jury. 63 


* a en laͤngſt der Angeklagte geſtanden hatte, hier, dann 
in der Form jener —6 luͤgneriſchen 
55* — wegen der Zuruͤcknahme des zuvor erpreßten 
Geſtaͤndniſſes — mithin als reine Zortur zu feiner 
Eipeuerung (VI. ©. 247. 264). Eigentlih aber erpreßte ber 
-Suauifitor die Beftändniffe dur die Äängfligende und ermat⸗ 
"gende mosalifhe Zortur langer und vieler Verhoͤre, 
buch das gewöhnliche Drängen, nicht auf die reine Wahrheit an ſich, 
immer nur auf das, was der Inquifitor dafür hält, nämlich auf 
Weitändaif | ber Schuld. Zunaͤchſt wirkte die gem ähnliche Erweckung 
der unbeflimmten -Vorftellungen vom Nachteile des Nichtgeflehens und 
“von ben Bortheilen des Bekennens, fo wie des Gedankens des Inqui⸗ 
fiten, bei der feften Weberzeugung des Berichts von feiner Schuld und 
wegen der hm actenwidrig vorgefpiegelten, angeblich actenmäßigen 
WBeroeife, werde ihm ferneres Leugnen doch nicht helfen. 
Auch Hier, fo wie gewoͤhnlich, betrachtete es der geheime 
Inquifitor als im feiner Aufgabe tiegend, bie bei ſchweren Criminal⸗ 
Hogm und einfamer Huͤlfloſigkeit fo natürliche — — 
des Inquifiten bis zur Seelentortur, oft bis zur halben Geiſtes⸗ 
krankheit zu ſteigern. Alsdann aber gelten Auch hier wieder bie fo 
ſelbſt hervorgerufenen Schwächen des Unglüdlichen ale neue Beweiſe 
felner angeblichen Schuld. In diefer Richtung benust das Bericht 
‚für feine „ben eglihen VBorhaltungen zum Beftändniffe” 
:die dem unglüdlichen Kamilienvater qualvollen Nachrichten über die 
Zerruͤttung ſeiner Familie und feines Nahrungsflandes, fo wie ben 
— Verdacht auch der nahe mit ihm verbundenen Perſo⸗ 
In dieſer Richtung dehnte man, wie es ebenfalls ganz ge⸗ 
währt iſt in Deutfchland, die qualvolle Unterfuchungsfrage weit 
über die in allen freien Ländern anerkannten natürlihen Grenzen, 
z. B. auf Geſinnungen, Anfichten u. f. w, aus (VI. 224. 226. 228). 
: Sr gleicher Richtung enthalten die Äcten oftmals folche gerichtliche 
Ermahnungen: „Inquiſit werde, menn er nicht der Wahrheit bie 
„Ehre gebe, zu bärteren Mitteln das Gericht nöthigen, wogegen er 
„bei —— Angaben zu erwarten habe, daß man auch Alles 
„gerne zur Eroͤrterung ziehen werde, was nur irgend zu ſeiner Ent⸗ 
„ſchuldigung gereichen koͤnne,“ oder ferner: „daß er durch hartnaͤcki⸗ 
Leugnen au die Sache erfchwere, feine Inhaftirung verlängere‘ 
(v1. ©..223. 228. 235). Denke man fih nun lebendig alle Qua⸗ 
im, alle Augſt alle Gerwifienstämpfe bes durdy die quälenden, in 
immer nene Meride verwidelnden, ſtets bebrohlichen Verhoͤre, 
buch ben Kerker, durch die Sorgen abgematteten, . dennoch moralifch 
aufgeregten Unglüdlihen! Denke man ſich ihn in dem nur nad 
graufamem deutſchen Inquifitionsprocefie ſtets geheimen firengen Arreft, 
einfam, völlig arbeitslos, völlig Hälfs und rathlos! So 
ſteht er gegenäber der geifligen und phnfifchen Weberlegenheit feines 
Inquiſitors, deſſen Einfeltigkeiten und Verkehrtheiten bei uns nice- 


. 


64 Jury · 


wie in dem kurzen franzoͤſiſchen Inquifitionserfahren, durch bie 
zeitige Mitwirkung verfchiedener Behörden, fo wie durch bie 

vor der Deffentlichkeit gebrochen werden. Denke man ſich ihm olme 
die Rechtskenntniß, die ein öffentliches Schwurgericht gibt, ohne bie 
Sicherheit vor Jahre langer Fortdauer des Unterfuchungskerkerd und 
vor Mishandlungen, ohne die. bei freien Wölkern trofteeiche Geil 
heit, in wenigen Woden vor dem öffentlichen Schmurgericdhte, war 
feinen Mitbürgern mit feiner Unſchuld fiegen zu müffen! 

Denkt man ſich diefes Alles und dabei vielleicht noch, trot aller 
Unſchuld im Wefentlihen, doch die Qual des Bemwuftfeins- einzel 
ner Fehler, die fi zufällig mit feinem Ungluͤck verketten — alsbann 
geroiß begreift man die ganze Verzweiflung des Unglüdfeligen. 
Man begreift „die unruhige Angſt, das finftere Dinbräten, dem 
„inneren Grimm”, wovon jene Entfcheidungsgrüunde des 
lationsgerichts ſprechen (S. 216), und folhe felbit actenmaͤßige 
Ferungen des Unglädlichen, „es ift wohl das Belte, ‚daß ich mir 
„und meinen. Kindern das Leben nehme, dann weiß ich es hadh, 
‚daß ich gefündigt habe,“ oder durch den ‚Angitcuf: „Nun wir es 
„gae fo toll, daß. man mid) bald prügeln wird“ (VI. 228). Man 
begreift es, ihn bald laut und Lange weinend, dann ſtumm und mit ei: 
zeinen Austufen an die göttliche Barmherzigkeit, bald verfehrren Pldnen 
zu Eünftticher Rettung eifrig nachgehend zu finden. Jene Entfcpeidunge 
gende fagen von demunglüdlichen ſchuldloſen Manne: „In der Mache, 
„bieihn umfängt, verliert er dns Steuer feines Lebens; actenmäfige 
„zeugen, daß er damit umgegangen, ſich zu erhängen (©. 216); aumb 
„später: „Wie haben es mit einem Eurzfichtigen , abgematteten,. 
„üngluͤck abgeftumpften Manne zu thun, der nichts als ſchwatze Bilber nor 
„fi fieht, der in ber richterlihen Function nur Ausübung ber zichterlidhen 
Wacht wahrzunehmen glaubt, der durch feine Stimmung zu ummcheun 
‚Alt, um eine Stüge in dem ihm ohnehin nicht klaren Gedanken zu 





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66 Sum- 


fie ihr Opfer nicht mehr 106, da ſchloß ihm biefelbe. Tortut 

nad) der gemöhnlichen Welfe, den Rüdweg zur Wahrbeit 

wie 6 jene Lügen ſtrafen und ſolche Actemflelten, wie) 
beweifen: Auf die Aeußerung Wendt) si. „Er geftche dies dio 

„er führe, daß er doch nicht anders aus dee Sache komme,“ bemerkt 
das Protocol: „da wurde ihm vom Hexen Inquirenten allerdings fein 
„unverftänbiges Benehmen mit etwas harten Morten norgehakten, 
nee beurfundige ſich durch fein Benehmen als einen 

Menſchen, mit weichem man gar Feine Umftände macenz-unbugegen 
welchen man härter als bisher verfahren werde, wenn er keine be⸗ 
nieren Wege einſchlage· Von Schlägen und dergleichen, wower im 
„Laufe des. Verhörs.der Arteſtant fih zu fuͤrchten bisweilen. morgab, 
mift nicht die Rede gemefen!’ (11). 

So alfo macht ‚eine richtige Auffaſſung der Natur und der Mir 
tung unferer ‚geheimen Inquifition das font Unbegreifliche ‚begreifen, 
daß der völlig Schuldloſe ſich ſelbſt oftmals. wiederholt der. fcheufilichiten 
Zodesverbrechen, luͤgenhaft beſchuldigt, ja, mit: Geiftesanfirengung amd 
mit ‚Hülfe der gem hhulichen Suggeftionen von Seiten des Gerichte der 


tailiete Erzählungen vonder Art der, Ausführung macht... So erbichr 
get et z. Berzur Beflätigung feiner todesgefaͤhtlichen falſchen Wielenmt- 
niſſe, eine 1» Bosheit‘/i feiner hraven Frau, mit der ‚en ſtets 

lebte, zum, Ecklirungögrunde feines. Giftmordes gegen ſie. Bay 
ſteebt nach ‚Gonfsontationen mit: feinem falſchen Denuncianten, um 


durch deſſen falſche Ausſagen-des qualvolien Mach 

mens über die paffenden, mit deſſen Ausfagen üben: 

im mende n Einzelnheiten u berh oben zu ſein (VL 

Dabei bewirkt denn auch hier die ebanfalls nut allzu⸗ge ne 

Liche und allzu natu elich e Einfeitigkeit und vorgef 

Anſicht des Inquiſitors, daher, wie das Oberappellati— 

teefflih ausführt; mehr faſt wie der befangenſte Gegner, vollko m 
en blind i ü fe -Umftände und Wider 















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*X*— 








ten: Mſerenten elberger dee Einfluß bee 
= —— * — ſo Mesa Be baf * | 
} Spruchcollegium, im offenbaren pruche 
** eigenen anderen Erklaͤrungen, wenigſtens für das eine ber an⸗ 
geſchuld Derbrechen noch Berbarhetgränbe ober Indieien finden, 
De ER NE. 
We ‚bie un ung blos von 
ten; — re biee den Unglädtichen, nach endlicher De⸗ 
feelung aus bem Kerker, aufs Neue m Boden ſchmetterte, indem «B 
für ihn Aueſchluß aus ber Zunft unb bem Gewerbe veranlaßte "und 
ihn fomit ich nahrungslos machte. | 
.. in warnendes Denkmal geyen en Sndieienbeieife juriſtiſcher Rich⸗ 
ter, gegen Beweiſe auch aus vielen augeblih zuſammen⸗ 
tr 


effenden Subicten unb mie Anfängen. Hirocter Beweife, 
aber werden ſtets bie blelben. Dein 
im Weſentlichen auf Inbiehai —2* dab: 


Facultaͤt, 
* —— ——*— — ehe die 5* de biefen ſch 


















21 
Ik 
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il 
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andere Perſon duferte, was doch nur dann, wenn das 

X fernereß für Die‘ 
frau Toll fein, daß er beirathetuflig genefen fet, da erbald Di bern 
Xobe wieber hatte heirathen rollen. aber hatte 
er bei Lebzeiten feiner Frau gar —X getan weiter foct» 
gehende Ahniktye Tophiftiiche Verdachts⸗ und Sndkciemmaderet &s 
geugte feibf bei fo hochgeſtellten, völlig unpaztelifchen DR ein⸗ 


ichtern 
‚mal: vorgefaßte Anficht von der Schutd bes U Mon 
dieſen Indicienbeweis bier geleheten: Richter, m * aber 
freilich und Ocharffiun der Uctheilbeerfaſfer — fo 
und Anden gar febe 4 ‚ga verhüflen vwifen! Man Ic ihn aud 


— 





Sum. 


68 
" darauf * einftimmige Todeturtheil des fenbat nf 


quldigen h 
vergleiche dann dieſe Beweiſe einer großen Reihe angeblich zufamu 
treffender Indicien, bie oft faſt noch ungluͤckſeliget find, als die; * 
im vorigen oldenburgifhen Falle von deutfchen rechtsgel⸗ 
Beamten zur Begründung eines Todesurtheils gegen zwei ebenfalll 
fig unſchuidige Männer gebraucht wurden — man leſe fie und" | 
dere bei dem Gedanken, daß in Zukunft alle Strafurtheile gegem 
ſche Bürger nach geichrten Imdicienberveifen und auf geheim gu 
mengefchriebene Eriminaldeten von geheim richtenden Beamten geſpt 
werden follen, vom Richtern, bei melden ine gleiche Umabhängl 
Geiftesbildung und Sorgfalt des Verfahrens als von unpartel 
Juriſtenfaculiaͤten im Durhfhnitt durchaus nicht zu 
warten find, deren unglädtiche Mifgeiffe a uch nimmern 
fo leicht zu Tage fommen als die der Juriſten facultta 

Schon bisher, wo man diefe furchtbare Theorie noch nicht 
Fam es nur allzu Häufig vor, daß von verfchiedenen beutfchen Ger 
auf diefelben Griminalacten bin, fo wie es hier von zwei der/ber 
teſten Juriſtenfacultaͤten gefdjieht, das eine Losfprehung, dası € 
Todesſtrafe, oder das eine ein Jahr, das andere zwa nzig 
Zuchthaus ertannte. ⸗Wie wird es vollends erſt werden, 
die Verurthellung auf Werten: und Metationsindielen 
mein: ift? 

Wie untrew aber, wie unvollffändig, wir fi 
nur altzu häufig das Bild ift, welches die Acten wo 
Ausfagen der Angefchutdigten und Zeugen, und von den dur 
Mienen und Geberden und durch das ganze Benehmen ſich ergeb 


Indicien mittheiten, biefes wird ſchon durch faft alle bisher 

Eriminalfälte deranſchaulicht. Es weiß Jeder, der nicht M 

iſt in der criminaliftifhen Praris, daß fogar ganze Protorolli 

—* nad) dem Verhoͤre von dem Inquirenten — 
bi 


Jury. 69 


Veranlafſung ber Jufättigen Durchreife eines Jugenbbekannten, ber 
biervom hörte, und ber den Angefäuidigten als blöbftnkg **2 


ge des geheimen Protocollirens und des — auf tedglige 
"nahrbeitsmibrige Protocolle. Denn in ben Verhören hatte ber 
‚„Unterfuchungsrichter den Inquifiten, um verftänbige Protocolle zu 
„haben, immer fo verftändig reden lafien, daß von Wlöbfinn auch keine 
„Spur aus den Acten vernommen werben konnte.” Um das Gewichht 
ber Controle ber Actuarien zu. brranfhaulichen, theilt Zentwer folk 
genden auch vom Geheimenrath Duttlinger in ber rund 
Kammer vorgetragnen Fall mit: „Ein ee mgpchter bebiente 
„fc zur Erzweckung eines Geſtaͤndniſſes der Oxchläge gegen ben Je ' 
„quifiten und bictirte dieſen Act mit den Ne Arten zw Protocol: ‚Bam 
„„hat dem Inquiſiten — —* un Der Acta 
„wollte an ber Richtigkeit Ausbruds zweifeln, wurde aber vom 
- "Beam yum Odreiben angeniefen, unb damit ‚behielt es fein Mas 








Fur eine ſolche Juſtiz freilich und für ihre Vertheidiger IR es. 
ein Städ, ja eine Nothwendigkeit, baf das Dunkel ihr Verfahren 
und Die Gräber ber Zuchthäufer, wie die ber Hingerichteten, ihre 
Dpfer verbergen! Wielleicht daß‘ wenigſtens noch eine Belt eine 
foiche moralifche und e Dum auf bee beu 
laſtet, daß auch ferner noch wie bisher viele Deutfche bei ſolchem 
Dunkel fich ber die Gerechtigkeit ber gerichtlichen 
verbienben, wie ja ihre Vorfahren auch die ber vermeintlichen Deren. | 
für völlig gerecht hielten. Wer aber bie Augen‘ öffnet, wer, fo.wie 
ber Verfaſſer biefer Zeilen, bei feiner mehr als zwanzigjaͤhrigen Theil⸗ 
nahme ſowohl an ſchriftſtelleriſchen — für deutfche Eriminals 


- vechtöpflege wie an Facultaͤtsurtheilen über Criminalacten aus deu mei⸗ 
fen deutſchen Ländern, durch DBerufspflicht genoͤthigt wurde, fo weit 
in dieſe dunkelſten und traurigfien Wheiledergan- 
zen vater! nbifhen Berbättniffe zu blicken, der muß ſchwan⸗ 
ken, als die traurigſten bezeichnen fo, bie ber 
geheimen Sneuifiean: zur Vorbereitung, ober bie bes gehei⸗ 
men Relationsgerichts zur Faͤlung der Strafurtheile. Je mebe 
man aber Gelegenheit erhält, fich über den wahren eriminalrechtlichen 
—* bee Länder zu unterrichten, um fo mehr firht man, daß der⸗ 
‚felbe nicht etwa in denjenigen Stanten am Gchlechteften iR aus vr 
den man noch die Öffentiidy mittheilen darf, ober wo vol 
lends bie Gerichtsoͤffentlichkeit fie zu Tage bringt, Sondern, wie ſehr 
begreiftich iR, in denjenigen, in mn man Gründe au bee. 
groͤßtmoglichen Verheimiihung hat, umb eben biscch die Ver⸗ 








70 Jury. 


heimlichung immer mehr die Scheu und die Scham vor 
dem Untehte und bie Hülfe gegen daſſelbe gerfiör, 


Eine weitere Mitteilung von criminalgechtlichen Beiſplelen ber 
jen des geheimen Inquiſitionsproceſſes übrigens verbietet der Raum. 
nicht ganz unerfahrene Criminalift, ſei er Richter ober Antsalt, 

kann biefelben leicht vermehren. 


Bon dem neweften politiſchen Criminalproceſſen in verſchiedenen 
deutſchen Ländern aber wollen mic nicht reden. Gie wurden mei 
durch bie außerordentlichften und neueften Mittel mehr noch, als je 
ſonſt die deutſchen Criminalproceffe, in kuͤnſtliches Dunkel gehuͤllt. Auch 
das aber, was man durch Zufall erfuhr, oder was ein ehrlicher 

mann baräber urtheilen moͤchte — dieſes wird, fo fuͤrchten wir, tm 
unferen heutigen Zuftänden die Cenſur volftändig mitzutheiten nice 
erlauben. Giniges indeß, was bereits die cenfirten deuefheon 
Zeitungen Öffentlich mittheilten, koͤnnte wohl allein ſchon Mes 
gierungen, welche die Gerechtigkeit und bie Ehre allen unwichtigeren 
politiſchen Müdfichten vorziehen , beſtimmen, die volllommene Freiheit 
der Veröffentlichung diefer Proceffe zu geftatten, um fie, fo weit e8 noch 
möglich iſt, der Prüfung und Conteole mohlwollender Regenten wie 
des Publicums zu unterftellen, und fo die fehr (däbdliche und gefäges 
Ude Wirkung fo mander im Stillen fortfchleichenden , zum Theil wohl 
übertriebenen Vorſtellungen und Gerüchte, hier durch deren Biber 
legung, dort durch genugthuende Suͤhne und Rüge von Mißgriffen 
moͤglichſt auszutiigen. Zu jenen duch Zeitungsbericht notorifchen “ 
Dingen gehört 3. B. die zwei⸗, drei⸗, viers, ja fünf» und fechsjähe 


Jury. 71 


{her Vergehen freilich hat man mit Recht zu vermeiden gefucht. Aber 
wird al jenes Ungluͤck in den Kerkern für nichts gelten? 

Zwei ebenfalls notorifhe Thatfachen find mohl geeignet, biefen 
Wünfhen Nachdruck zu geben. Unglüdlicher Weife verbreiten die Ans 
hänger der Haller' ſchen Grundfäge, namentlih auch im Ber⸗ 
Iiner Wochenblatt, ihre Aufforderungen an bie Regierungen, das, 
was von jeher bas größte Heiligtum ber dbeutfchen Nation und Nas 
tionalehte mar, die unabhängige Juſtiz zu untergraben und umzuftärs 
zen. Sie lehren: die Mächtigen, die Regenten, Dinifter, Ariſto⸗ 
raten müßten das Recht haben, burdy abhängige oder von ihnen 
ſelbſt ausgehende Richterſpruͤche fih zu rächen und ihre Intereffen zu 
fügen (f. oben „Eabinersjuftiz‘). Nichts aber kann wichtiger fein, 
als diefem mehr orientalifchen wie deutfchen Gedanken, es führe in 
dem Steafrechte die Macht einen heimlichen, liſtigen, rachſuͤchtigen 
Krieg gegen ihre Feinde, felbft jeden Schein von Glaubwuͤrdigkeit zu 
entziehen. Er müßte zulegt unvermeidlich den Gedanken eines gleichen 
binterliftigen vechtlofen Krieges — wie dort im Namen bes Throns und 
ber Gerechtigkeit, fo hier Namens des Volkes und feiner Freiheit — 
hervorrufen. 

Sodann hat das Ungläd folder fo fehr verheimlichten politifchen 
Griminatpeoceffe in einer Reihe von beutfchen Staaten eine Anzahl 
von Männern getroffen, bie von ber Nation und ihren Meitbürgern 
geachtet waren und al& der legtern gewählte Vertreter oder als Schrift 
ſteller muthvoll deren Rechte zu vertheidigen fuchten. 

Eine Betrachtung aber iſt es vorzüglich, die bei ſolchen Criminal⸗ 
fällen wie die früher erzählten, bie, bei allen Inquiſitions⸗ und Ker⸗ 
kermorden, jeben nachdenkenden Vaterlandsfreund erfchreden muß. Es 
ift die, daß die Entdedung der Unfchuld der meiften ungerecht Verur⸗ 
theilten, fo wie auch der in der Inquifition vorgefallenen Verkehrthei⸗ 
ten und Greuel in der That faft überall von einem feltenen zus 
fälligen Zuſammentreffen giüdlicher Umftände abhing. Wer darf 
fih nun dem Gedanken entziehen, daß, fo gewiß das Gewoͤhnliche 
häufiger iſt, als das Seltene — von allen falfchen Verurthei⸗ 
lungen fchuldlofer Mitbürger nur der kleinere Theil entdedt 
wird; vollends in einem Lande, wo nicht, wie in England und Frank⸗ 
reich, vollkommene Deffentlichleit und freie Publicität Statt finden! 
Liegt es doch wirklich jedem aufmerffamen Rechtsfreunde Har vor Aus 
gen, daß bei uns in Deutfchland nicht blos eine Entdeckung fondern 
audy felbft wieder die Veroͤffentlichung der Entdedung falfcher 
Urtheile und der Inquifitionsgreuel von feltenen Zufälligkeiten ab» 
hängt, nur in ben felteneren Faͤllen der feltenen Entdeckungen 
Statt findet! — Welcher Abgrund vor den Augen jedes benfenden 
und fühlenden Mannes! 

Gewoͤhnlich taͤuſcht man ſich, wie es insbefondere auch die Zeinde 
bee Zobesftrafe thun, mit dem Gedanken, bei der Zuchthausſtrafe 
fei die Entdedung und mithin bie Aufhebung des Unrechts falfcher 


= 
12 Jury 


Verurtheilungen unendlich leichter, als bei ben Todesurtheilen. 

fetten iſt die Falſchheit einer Verurtheilung fo ganz ohme Weiteres 
erfennen, fo wie etwa in dem in Schlo zer's Stantsanzeig 
erzählten Juſtizmorde aus ber Oberpfalz (mo aber dennoch die Hins 
richtung erfolgte). Meift bedarf es dazu, neuer Ausführungen und 
Unterfuchungen. Und was hat denn. ber im Buchthaufe Vergrabene 
füc Mittel, feine Unſchuld zu beweifen Beichtvaͤter von Strafanftalten 
verfidyerten mich tieberholt, daß ein großer Theil der Sträflinge felbfk 
in der Ohrenbeichte fottdauernd ihre Unfchuld behaupten. Allein and 
bei ſolchen, welche dieſes etwa mit Wahrheit thun: welche weltliche 
Behörde hört die definitiv Verurtheilten mit ihrem Worgeben und. feibfE 
mit ihrem Erbieten zum Beweiſe des alibi nur an? Selbſt mandje 
Aufteuetionen für die Behandlung der Sträflinge, oder auch ohne bier 
fe8 die Zuchtmeiſter bedrohen folches Worgeben als hartnddige Wers 
ſtocktheit mit Strafen. Breiiih zuweilen, aber wie felten umb 
gewiß unter hundert Fällen kaum einmal, drängen fid) den Staats⸗ 
behörden ganz zufällig neue Beweiſe der Unſchuld auf, fo, wie im 
mehreren oben erzählten Fällen, ober wie bei jenem Juben, Daniel 
Mofes, In Klein’s Annalen (XV. 6), ber in Preußen menge 
einer angeblichen Brandftiftung im Jahte 1763 zum Buchthaufe vers 
urtheilt tworden war, und dann. 12 Fahre fpäter, 1775, nach zufälliger 
Enidecung und gerichtlicher Anerkennung feiner völligen Unfhulb, aus 
dem Zuchthaufe entlaffen wurde. Und mie Viele, wenn ſich auch ferbft 
ſolche feltene Beweiſe ſpaͤter fanden, wurden nicht, wie ber größte 
Theil jener Bruchfaler Familie, fhon zuvor das Opfer des Kerkersl 


Von zehn zu zehn Jahren Zuchthaus DVerurtheilten find. gewöhnlich 
neun zum Tode verurtheilt, fallen als Opfer ber Zreiheitsberambung 
und ber ungefunden Wohnung und. Lebensart, ehe ihnen der Zag ber 
Greiheit wieder ſtrahlt. - 

Diefes wohl auch beherzigten zwei eble Fuͤrſten, Carl Fries 








Jury. 78 
groͤßeren Mehrheit unferer Yuriften und Richter, find bie Urfachen ber 
hoͤchſt traurigen Erfcheinungen unferer Strafrechtöpflege, mie fie bisher 
gef&hilbert wurde. Die Urfahen liegen in ber Natur uns 
ferer firafrehtlihen Einrichtungen felbfl. Ich ſpreche alfo 
auch bier Lebiglidy von den objectiven Einrihtungen unfes 
ces Sriminalproceffes, beffen Reform ja auch bereits als 
dringend nothwendig anerkannt if. Bel der innigen Ueberzeugung, 
weiche ich von ber hoͤchſt verberblihen Natur vieler zufällig und hof⸗ 
fentlih nur vorübergehend bei uns entflandenen Einrichtungen hege, 
muß ich es fogar den Gefinnungen unferer Regierungen und eines 
großen Theile unferer Richter noch zu einer befonderen Ehre 
anrechnen, daß bie Folgen verkehrter Verhältniffe bis jeht nicht 
noch trautiger wurben, als fie es Leider freilich fchon find, und als 
fie es bei der wachfenden verberblichen Kraft verkehrter Einrichtungen fehr 
leicht und fehr bald auch für den Charakter der Richter wie des Volks 
werden könnten, ja ohne Eräftige, baldige Abhülfe werben müßten*). 

Gerade aber das, daß felbit unter den Augen und Händen wohl 
neinender Regierungen und Richter unfere Proceßeinrichtungen fo 
fucchtbare Erfcheinungen erzeugen — und daß biefe den allgemein er- 
fchütternden, empörenden Eindrud bei uns leider nicht machen, wie «6 
bei einem freien, gerechtigkeitliebenden Volke natürlid wäre, daß des⸗ 
halb auch jene Einrichtungen, trog mancher Klagen und wohlgemein- 
ten Bemühungen gegen ihre Mängel gerade in den wichtigſten Punc- 
ten fich immer mehr verfchlechteen — diefes fpriht am Meiften 
für ihre Verderblichkeit. 

Der erfie Hauptmangel bes bisherigen beutfhen 
Griminalproceffes betrifft die noͤthige richterlihe Uns 
abhängigkeit, die wefentlihfte Garantie für rihterlidhe 
Unparteilihleit. Bedarf nun wohl diefer Mangel nod) einer 
Ausführung für ſachkundige Männer, welche es wiſſen, was unfere 
Vorfahren bis zur Auflöfung des deutfchen Reiche, was alle freien 
Voͤlker als die unentbehrlichſten Bedingungen richterlicher Unabhängig> 
keit und Unparteilichkeit in ihren Grundgefegen forberten, welche e6 
erwägen, wohin wir neuen Deutfhen in diefer Beziehung 
bereits feit Aufloöſung bes Reihe gelommen find und 





*) Wie kann wohl Willtür und Ungerechtigkeit in der richterlichen Praxis, 
auch wo ihre Gründe mehr in der Einrichtung als in ber Geſinnung der Rich: 
ter liegen, anbers als verberblich wirken? Niebuhr, in feinen Briefen 
2b. 3. ©. 279, Uagte ſchon im Zahre 1830 fehr bitter: Ich will nicht in 
„Abrede ftellen,, daB es übel mit der Rechtöpflege fteht. Aber die Vielfachheit 
„ber Rechte ift das geringfte Uebel: das traurigfte Liegt in ber Perſdnlichkeit 
„De Richter, welche den alten Charakter ihres Standes abgelegt haben. Wo 
‚man fi) erfunbigt, ift das ber Kal. Der alte firenge Ernft ift aus ben 
„Tribunalen chen, deren Mitglieder groͤßtentheils, wie andere Geſchaͤfts⸗ 
‚leute, ihre Arbeiten nur nothdürftig abzumachen ſuchen und kein Gewiſſen 
„dafuͤr haben, daß fie das Hecht verwalten follen, ein Gebanke, welcher auch 
„den Rechtslehrern völlig fremd iſt.“ 








74 Jury 


täglich weiter kommen? Es ift hier fo wenig als dom per 
lichen Gefinmungen, eben fo wenig auch davon bie Mebe, daß of 
vevolutiondre Tyrannei zuweilen, vielleicht auch troß ber beiten ber 
fiehenden Gefege und Berfaffungen, und gegen biefelben 
Gewalt ausüben koönnte. Mein, es ift bier bios die Mebe von 
gegenwärtigen, hoffentlich nur vorlbergehenden gefeglichen Beſtim⸗ 
mungen und Einrihtungen und von Störungen und Aufbebungen , 
eichterlicher Unabhängigkeit und unparteiiſcher Gerechtigkeit, die jeden 
Tag nach die ſen Geſetzen felbft, die fogar ohne Verfap 
fungss und Gefegverlegung möglich find, 

Wird man nun aber wohl noch da von dem Schutze durch eich“ 
terliche Unabhängigkeit gegen befangene oder willkuͤtliche Megterwkges 
oder Miniftergewalt reden, wo von der legteren und nicht äusjchließtich 
von wahren ftändifchen Gefegen die Organifation und die Normen des 
Verfahrens und der Eutſcheidung der Gerichte ausgehen, und io fie 
ſchon im Allgemeinen bei Anftelung und Beförderung die Richtet mady, 
voͤllig unbefchränktem Belieben auswählen kann, wo fie vollends jeben 
ihre mißbeliebigen Nichter jeden Augenblick, zut Vernichtung feines Ber 
bens» und Kamilienglüds, willkuͤtiich da oder dorthin, vielleicht 
ihm und feiner Samilie unangenehme, fehäbliche Orte verfehen, 
kraͤnkender Zurhdfegung, ober Entziehung ber Hoffnung weiteren Bons | 
ruͤckens, und mit Verluſt eines großen Theils feiner vielricht noch 
ringen Einnahme penfioniten, ja, mo fie zur Strafe wegen 
Hiebiger Entfheibungen ſelbſt ganze Gerihtshöfe am — 
nehme Orte verweiſen Tann? Doch die hierdurch offenbar für 
Richtet entftehende Abhängigkeit von den Anfichten und Wünfchen ber 


Negierung oder der Minifter, dieſe iſt noch das Geringfte. Mer 
aber weiß es nicht, daß, Bei ber Verſchiedenheit der Menſchen 
ihrer Anfihten, man” aus einem Nichtercollegium vielleicht nut ziveh, Beet 
feibftftändige, etwa liberal denkende Männer zu entfernen bracht, am 


⁊ 





Jury⸗ 75 


allen Bormwurf irgend einer Gefegverlegung, jeben Aus 
genbli® in befter Form Rechtens in folhe Commiffionen vers 
wandern? in Gommiffionen, von welchen man volllommen aͤhnlid) 
zum Voraus fagen könnte, wie Napoleon von feinen Militaͤrcom⸗ 
miffionen fagte: „Er fol vor biefelbe geftellt und erfchoffen werden.‘ 
Es find biefeß aber alsdann Commiſſionen, die zur Vermehrung bir 


Gefahr und bes Ungluͤcks des Angefchuldigten, zum Schaden feine 
Ehre, noch dazu ben täufhenden Schein eines verfaſſungsmaͤßi⸗ 


gen, ordentlichen, friedlichen Gerichtes an fi tragen. Ein Miniflır 
mit folcher Serichtsverfaffiung müßte ein Dummkopf fein, oder keine 
Kraft haben, falls er nicht, fobald er es nur wuͤnſchte, innerhalb we» 
niger Wochen jebes beliebige Strafurtheil gegen den Unſchuldig⸗ 
ften und vollends Monate und Jahre langen Unterfuchungslerker fire 
alle ihm binberlichen oder verhaßten Gegner In befter Form Rechtens, 
auf Außerlich geſetzlichen Wegen erhielt. Man hörte ja doch wohl 
ſchon davon, wie man unangenehme Volksvertreter und bie das Vollk 
dazu vielleicht erwaͤhlen wollte, ober bie für das Recht und gegen bat 
Unrecht etwas laut wurden, bald durch wirkliche, bald durch angebrohte 
Griminalprocefie „unfhädlih machte?” Man vergleiche aber nur 
die von freien Völkern, ja von der gefitteten Welt am Meiſten verabfcheus 
ten Snftitute, eine hohe Sternkammer, ein Napoleon’fhe® 
Spectalgericht: wären fie nicht gegen ſolchen, ſelbſt geſetz⸗ 
Lich jeden Tag möglihen Gebrauch unferer Gerichte, die noch 
dazu in völligem Dunkel und unter willkuͤrlicher Genfurunterdrüdung 
verfahren und richten und ihre Inquiſiten viele Jahre lang in firenger, 
geheimer Haft halten, als wahre Wohlthaten zu preifen? Se 
nes Napoleon’fche Specialgericht 3. B. war befegt mit nicht willkuͤrlich 
auswählbaren Richtern, nein, mit fünf völlig inamovibeln Appellations⸗ 
raͤthen eines geſetzlich beftimmten Gerichtshofes und mit drei Stabes 
officieren. Und es verfuhr volllommen Öffentlich, und ohne 
deutfche Snquifitionstorturen. 

Gegen den Hohn, uns gegen ſolche Maßregeln, die nur all 
zu bald alle Kraft der Stände brechen, auf bie flänbifchen 
Miniſteranklagen zu vertröften, fo wie gegen ben politifchen Unverfland, 
der mit augenblicklichen Gefinnungen der Mächtigen beruhigen will — 
biergegen wollen wir das Angemeffene nicht erwidern. 

Wie raſch wir meiterfchreiten in Vernichtung aller Sahrtaufende 
alten Grundfäge unferes deutfchen Vaterlandes und aller andern freien 


Voͤlker ruͤckſichtlich der Selbſtſtaͤndigkeit der Juſtiz — davon zeugen 


wohl neuerliche Geſetzentwuͤrfe, welhe die richterlichen eidlichen 
Weberzeugungen über bie Nechtsgültigkeit einfeitiger Megierungsnormen, 
fo ferne fie mißfallen, als Criminal verbrechen erklären, fo wie 
die allgemeinen Verbote mißfälligeer Rechtsgutachten. Wo bleiben 
bier die fonft flets in Deutfchland von den Auriften und Regierungen 
anerkannten Grundfäge (f. „Cabinetsiuftiz‘), welche Feuerbach 
(f. deffen Schriften vermifhten Inhalts) in feine Eins 








26 - Sun - 
fuͤhrungsrede als erfler Präfident Für den Rezatkeeis mit Folgenden 





Morten ausſprach? „So find alfo die Richter innerhalb ihres Richter⸗ 
„amtes fo wenig Diener: der oberfien Gewalt, daß fie diefer, wem fie 
‚„iene Grenzen überſchteiten follte, den Gehorfam zu verfagen mächt 
„etwa nur berechtiget, fondern kraft ihres: Eides verbunden ſind u 
Steht es nun fo traurig mit den gefeglichen oder verfaffungss 
mäßigen Bürgfhaften der Unabhängigkeit und Unparr 
teitichkeit felbf der Obergerichte, fo ift «8 vollends: meiſt mod, 
trcuriger beftellt mit. den Ingquifitoren, bie gegen jeden Bär 
ger einen Criminalproceß beliebig beginnen, ihm verbaften, und viel⸗ 
leicht Jahre lang im größtentheils ungeſunden, oft fcheußlichen Kerkerm 
feifeln, in ganz geheimer Haft: mit Iuquifitionen und ihren traurigen 
moralifchen und phyſiſchen Torturmitteln zu Grunde richten Bönmenz 
melde fogar gewöhnlich in vielen Proceffen feibft- das Endurtheil pres 
en, jedenfalls aber für alle in ihren Protocollen die Grundlagen ber 
ganzen vichterlichen Entfheidung: zubereiten und alfo faft unumfchrämkte 
Herren des Schickſals ihrer Angeklagten find. Sie beftehen häufig fer 
gar aus Verwaltungs= und Polizeibeamten, die mebr- an Poligeimille 
Er, als an fihernde feſte Rechisformen gewöhnt und als Abmminie 
ftrativbehoͤrden ober aud als Civiltichter mit anderen Geſchaͤften Kbers 
Laden find, oft aus abhängigen jüngeren Beifisern und Recht 
wanten, die fogar. häufig ohne Zugiehung eines felbfiftändigen 
öffentlichen Actuats, die allein. oder mit einem blos von ihnen — 
haͤngigen Diener — oft. einen verunglüdten Subjecte — hanbein and 
protocollicen und audy beliebig, 3. B. wenn fie mißhanbelten, nidht 
* * — 


of 





Sur 77 
dem Abel, wenn er in Mißverhättniffe mit „bem Herrn” und feis 
nen Miniſtern war, und wie auch in ähnlicher Lage patriotifchen Buͤr⸗ 
gern, hochmuͤthig und gehäffig gegenüber? Ohne freigefinnte Beſtre⸗ 
bung und Oppofition gegen manche Regierungsmaßregeln Tann feine 
Rede fein von-Freiheit, von der höheren Kraft freier Staaten und 
ihree Regierungen, keine Rede von ber Abwendung der Mißgriffe und 
falſchen Regierungsmaßregeln und Syſteme, noch ehe fie unheilbaı: 
ſchaͤdlich wurden; eben fo wenig al6 von ber Aufdeckung ber Mißbraͤuche 
und ber Untreue der Mächtigern gegen die Megierung unb bie Ver⸗ 
faffung. Diefes geben alle Verftändigen zu. Aber diefe wahrhaft heils 
famen, patriotiſchen Beſtrebungen müffen menſchlicher Weife oft den 
Minifter und Beamten, und wenigſtens durch fie‘ auch dem Regenten 
unbequem, ja gehäffig erfcheinen. Sie treten auch oft, obwohl an ſich 
noch fehr ehrenmwerch und heilfam, doch eben fo, wie ja audy alle übri- 
gen menſchlichen und wie auch fürfttiche und minifterielle Beflrebungen, 
einfeitig, 3. B. mit Uebertreibumgen und in unangenehmer Geftalt, auf. 
Sie flören wentgftens nad) der Meinung Andersdenkender unnoͤ⸗ 
thig bie bequeme Ruhe. Iſt's nun nicht natürlich, daß jene rich 
tenben Regierungsbeamten von bem Schelten, von ben Vorustheilen, 
von ber gehäffigen "Stimmung bee Mächtigen mitergriffen werben? 
Und als vor einiger Zeit in Deutſchland die Schritte mehrerer Ge: 
reichte diefe leidenſchaftliche Befangenheit nicht fehnell und ſtark genug 
fund geben wollten, ba vernahmen mir alebalb in ben öffentlichen 
Blättern, aus ber Feder eines hohen Stantsbeamten, bie bedeutunge: 
vollen Vorwürfe: „Die Richter feien ebenfalls von bemagogifchen, 
hochverraͤtheriſchen Umtrieben angeſteckt, man muͤſſe ſich gegen ihre Par: 
teilichkeit fihern”*). Solches in Verbindung mit allen zuvor erwähnten Mit⸗ 
teln zur Abhängigkeit der Michter unb bes unmittelbaren Einfluffes auf 
das Gluͤck und Ungläd derfelben und ihrer Kinder und Kindeskinder, 
kann e6 denn wirkungslos bleiben, fo lange Menſchen nicht 
aufhören Menfchen zu fein? So werden nur zu leicht felbft die edel⸗ 
fien Güter, fo die freie Landes: und Gemeindeverfaffung, und jebe 
gefesliche Inflitution zu wahren Fallſtricken für ehrliche 
Männer und zu den ungluͤcklichſten Taͤuſchungen für 
die Sürften und die Völker, welche beide aber leider oft 
dann erſt das Verderben erkennen, wenn e6 zur Ret— 
tung zu fpdt iſt. Bei folcher Abhängigkeit der Richter erfcheint «6 _ 
noch faſt als naive Ehrlichkeit, wenn man von beutfchen Ländern 
lieſ't, in welchen geradezu politifche Procefie, Proceffe wegen Majeſtaͤts⸗ 
beleidigung u. f. m. von denjenigen höheren Staatsbeamten, die ſelbſt 
bie Parteien find, von Regierungscollegien und Minifterien, entfchieben 
werden, und von andern, In welchen bie Griminalurtheile der Gerich⸗ 
te nur als Entwürfe erklärt werden, die das Minifterium beliebig 
“ abändern dürfe, und in welchen etiwa auch bie Berufung der Ange: 


*9) ©, meine Abhandlungen für das dffentl. Recht. S. 7Lff. 





vs Sum. 


ſchuldigten auf die beftehenden Gefege und Gerichte dadurch = 
merden, daß man im Ihren Proceffen wiederhoit neue: — | 
| 





und vüdwdrts auf fie anwendet , ihre Sache ſelbſt aber 

miffton überweifet, und nachdem biefe Beine Schuld finden konnte, fie 
wieder einer andern, zuletzt einer dritten, vierten und fünften lien 
gibt”). Daß bei den Alten nicht von —— geredet werden 
ſell, iſt begreiflich. Und man begreift es leider auch, daß durch 
Erſcheinungen der Nechtsfinn unſeter Väter allmaͤlig bei uns fo abge⸗ 
ſtumpft wird, daß Manche jest ſolche Dinge leſen, ohne andy nr 
nor dem Ausiande zu erröthen, 

Doch ſelbſt in der aufgehobenen richterlichen Unabhängigkeit Tiegt 
noch nicht die, gefährlihfte aller Befangenheitemiund 
Parteilichkeiten der Gerihtsperfonen, Der Inguifitionde 
proceß macht lediglich dur ch feine Natur die Inquitenten zu ben 
parteiiſch geftimmten Gegnern gegen bie Schuldli 
der Inquifiten. und gegen fie felbft; deren Schickſal doch gänzlich. in ihren 
Händen liegt. Sie, die Inquifitoren, ſtuͤtzten melftentheils dieſeiben 
in den Griminalproceß ; fie watfen fie in den Kerker, in dem Werbadhte 
und in der vorgefaßten. Anſicht, daß fie das beſtimmte Werbrechen 
begangen hätten, "Sie muͤſſen als Inguirenten in ihrer Phantafle den 
Bufammenhang, die Art und Weiſe, die ganze Geſchichte ſich ausbens 
Een, wie das Verbrechen verübt wurde, Ihre Combinatior barliber 
wird ihe geiftiges Schooßlind. Sie bemühen ſich Tage und Wochen 
lang mit der die Leidenſchaft fpannenden Arbeit, den hartnddig: leugnen⸗ 
den Inquifiten zu Eingeftändniffen zu möthigen, welche dieſe Gombb 
nationen kroͤnen/ ihtem Scharfſinn Ehre und Beifall, und ihnen viel⸗ | 
leicht Befoͤrderung begründen ‚ die auch die Gerechtigkeit und’ öffentliche 
Sicherheit befriedigen follen. Und umgekehrt, | wenn das 
nicht — fo find ſie, zu allem Berdruffe großer Taͤuſchung 

il 


en DVerhaftetert , «feiner Familie, feinen Mitb: 


. Sur. 70 
Ubanen, bie oft nicht vor dem Ende der ganzen langen Unter⸗ 
udung, ja, oft aud dann noch nicht einen Wertheibiger fehen! 
Rs da nicht menſchlich unvermeidlich, daB gerade am Meiften zwiſchen 
dem Unſchulb bewußten, ungerecht leidenden Inquiſiten und feis. 
nem Inquirenien leidenfchaftliche immungen und bann Mißhand⸗ 
lungen des Lesteren, ‚daß alle die hundert ungluͤcklichen feineren und 
größeren Korturen Statt finden ? Diefe Verlegungen ſelbſt aber find 
aur neue Gruͤnde für den Inquifitor, fi) in das Gedankenſyſtem über 
die Schul leidenſchaftlich feit zu rennen, um nicht durch baldige und 
durdy gänzliche Schuidloserklaͤrung und Befreiung die Beſchwerden des 
Wißhandeiten zu Tage kommen zu laſſen. Doch ſchon bie oben er 
zählten Proceffe genügen wohl, alle die Qualen ber unglüdfeligften ' 
Scälarptopfer diefer deutſchen Yufkiz ahnen zu Inffen. Sie zeigen bie 
Unglädii im einfamen elenden Kerker, täglich hülflos ausgefegt dem 
twilkäcichften Rechto · und Ehrenkränkungen, ben toben Brutalitäten 
eines leidenſchaftlichen Inquifitors, und immer new im angflvollen 
Kapapfe für Ehre, Sreipeit und Leben gegen feine laͤſtigen Inguifitione 
fragen und Schlingen, gegen feine überlegene Rechtöfenntniß, furchtbar 
hülftos und mit erichöpften Kräften in einem Kampfe, weichem man 
gefund, und chflig vieleiche nicht gewachſen wäre, 
lcklich, die demgeren Bürger, welche durch Mangel an Bilbung 
doppelt,hülflos, dieſem hoͤchſten menfchlichen Elend, einer deutſchen Crir 
minafinquifition, verfallen | Nicht minder unglüdlih aber die Männer 
aund Sünglinge bes gebildeten Standes, welche, wie wir's erſt neuerlich wies 
erholt aus politifchen Procefjen wiffen, nun gar dem Scheußlichſten, dem 
Stod des: beutichen, Inquifitors,, biefer beftialifchen Grniebrigung , untere 
worfen ſind Der Inquiſitot aber Hält, ſelbſt abgefehen van jener Be⸗ 
fangenheit, theils ſchon wegen ber Natur unſeres Proceſſes die 
gar hartnadige Durchführung dieſes Kampfes für gerechtfertigt, ja 
für Pflicht, Weil wir fein Schwurgeriht haben, fobedär, 
en die Richter, wenn fie nicht bei den allermeiften Verbrechen wegen 
angels an juriſtiſchem Beweiſe freifprechen wollen, ober jedenfalls um 
ihre Verurtheilung zu rechtfertigen, Geftändniffe. Diefe mäffen, da 
fie meift nicht freiwilig gegeben werben, erpreft werden. Deshalb alle diefe 
geheimen Inquiſitionẽkerker mit ipren Qualen von immer längerer, in 
neuerer Zeit oftmals von ein», zwei⸗, drei⸗, vier», ja ſechs⸗ und 
ahtijähriger Dauer. Kaum eine Strafe aber vergleicht ſich 
unferem beutfhenUnterfuhungsarreft. Daß die Ferker meift 
ſchiechter und ungefunder find als die Budthäufer, daß 
&infamkelt und Arbeitlofigkeit, jene bärteften Schärr 
fungen ber Strafen, meiſt die Inquifiten quälen — dieſes Allee 
iſt noch gering gegen die Inquifitionsieiden und die ſchrecklichen Unger 
wißhelten und Gerlenlämpfe duch fie. 
Es helfen auch die Klagen des ungluͤcklichen Inquiſiten bei den 
Obergerichten, falls er, unkundig des Rechts und jedes Beiſtandes be⸗ 
raubt, ſie wagen ſollte, meiſt wenig oder nichts. Ja, ſie verlaͤngern 





80 Jury. 


und vermehren nur die Kerker⸗ und Inquiſitionsqualen und reizen 
den Inquiſitor zum Aeußerſten. Die Obergerihte bedürfen Gefländs 
niffe, mollen den Inquifitor in feinem mühfamen und effrig 

nicht kraͤnken, nicht compromittiren. Mo politifche Leldenfe und 
Einflüffe einwirken, da iſt vollends Feine Hülfe. Da muß man feine 
Legitimitaͤt durch Kerker⸗ und Juſtizmorde gegen die Thronfeinde dar 
thun. Und wo hat der ungtädlihe Inguifit Beweismittel für 

im geheimen Kerker oder Gericht erduldetes Unrecht * Der Bericht, die 

colle feines Gegners vernichten ihm. Geht endlich die Unterfi 

quaf zu Ende, dann wird der Inquiſit nicht felten zum Verzicht auf 
feine Ktage beflimmt, indem dem Berlaffenen dor ber Abgabe ber Um 
terfuchungsaeten im Kerker vorgefpiegelt wird, oftmals durch den — 
füngentoärter, der einflußreihe Bericht des Herrn Inqulrenten werde 
alsdann fehr günftig für ihn ausfallen. Und ein Abvocat —— 
es, der in edler Abficht uits aufmerktſam machte, wie im Dunkel 
unferes geheimen Proceffes die hier von Beamten und Be 
höcden immer abhängigeren Advoeaten es auch zum Theil ſcheuen, durch 
Eräftige Vertheidigung der Mißhandelten ſich Feindſchaft zu erwerben, 
vollends gar, wenn die ungluͤckichen —— ihnen durch s Armentecht 
aufgedrungen werden, und fie niemals fehen*). Findet endlich — 
Obergericht den Ingquifiten ſchuldig, fo würde man doch bem glüidie 
lichen Inquifitor, der das Geftändniß erprefte — mag er auch viel 
teicht ein neues Opfer eines Juflizmordes dadurch vorbereitet Haben 
— feinen Eifer zu gut halten. Wie viele deutſche Michter haben 
denn aud) nur eine Ahnung davon, daß freie Völker die 











Jury. 881 


heit und gefeglihe Ordnung auf eine von allen gruͤnd⸗ 
lihen Beobachtern bewmunderte Weife erhalten, und zwar 
Beides ohne auch nur den zehnten*, Theil unferer Vers 
Hafturden und ohne ben zehnten Theil der Dauer biefer 
wenigeren. Verhaftungen und der ganzen Criminalproceffe, und 
gaͤnzlich ohne irgend eine geheime Inquiſition und ihre, 
Dualen. Denn vor Eintritt des äffentlihen Schwurgerichts finden 
dort nur zwei einzige Vernehmungen, und zwar oͤffentlich Statt, 
bei welchen beiden dem Angefchuldigten, fo wie ftet auch, wenn 
er verhaftet it, im Gefängniß, Freunde, Verwandte, 
Nehtsbeiftände zur Seite ſtehen dürfen. Aber freilich, 
fobald unfere deutſchen Richter diefes nur erft einmal recht müßten 
und begriffen, gewiß, alsdann hätten fie auch unferem Proceffe das 
Todesurtheil geſprochen. Denn Qualen und Verletzungen und reis 
beitsberaubungen unſerer Mitmenfchen, unferer Mitbürger — falls fie 
nicht abfolut unvermeidlih find '— mas find fie denn für 
die Regierungen, die fie verorbnen und zulafien, was für bie 
Richter, welche fie ausüben? Und mie foll man, troß alles moͤg⸗ 
lichen Scheines unpraktiſcher Gelehrſamkeit, die ſtuͤmperhafte, 
barbarifhe Jurisprudenz bezeichnen, die offenbar die zehns 
fahen Martern und Opfer ihren Mitbürgern aufbürs 
. det, die zehnfahe Zeit braudht, um denſelben Zwed in 
günftigerer Lage, fhlechter zu erreichen als er erwiefener Maßen Jahr⸗ 
hunderte durch in England erreicht wird? Gemwiß, aber fein wuͤrdi⸗ 
ger deutſcher Richter möchte ſich unndthig zum Kerkermeiſter oder 
Folterknechte, zum Werkzeuge vermeidlicher, alfo boppelt Tcheußlicher 
Zuftize und Kerkermorde erniedrigt fehen! Alle würden bei ernfle 
licher Prüfung und Bergleihung unferes Proceſſes für die ganz 
unentbebrlihe Grundreform flimmen. 

Jetzt aber, mie er ift, ift e8 nun auch nur zu verwundern, 
wenn man überall, fo weit man hinein fehen kann in diefe dunkle 
Behme, diefe immer und immer taufendfältig ſich erneuernden 
ungefeglihen Inquiſitions- und Kerkerqualen vor fich fieht und diefe _ 
taufende von falfchen, widerrufenen, oder fpäter widerlegten erpreß⸗ 
ten Seftändniffen und Ausfagen gegen Mitfchuldige, und fo mandye 
auf fie gegründete nur rein zufällig entdedte, fchandervolle Ver: . 
urtheilungen von Schuldloſen; Geftändniffe und Ausfagen gerade fo 
falſch, als ja doch Hundgreiflih alle die Hunderttaufende e8 maren, | 
duch welche die hingemordeten angeblihen Deren und Zuuberer un: 
mögliche Dinge eingeftanden und bezeugten? Haben denn wirklich 
folhe Suriften den gefunden Menfchenverftand und alles Wahrheites 
gefühl ihren Vorurtheilen geopfert, die uns noch Immer belügen 
wollen, die Inquirenten im geheimen Inquiſitionsproceſſe feien, obs 


\ 


*) Vergl. z. B. des k. preußifchen Staatsminifters v. Binde Staates 
verwaltung von Großbritannien S. 98 fi. 
Staats⸗Lexikon. IX. 








82 Sum, 
wohl fie. der Ratus der Sache nach allermeift die Ankläger 


und Einferkerer der Angefhuldigten, und die befans- 
genften, intereffirteften, leidbenfhaftlihften. Gegner 
ihrer Schuldtofigkeit (ind, dennoch zugleich parteilofe Michter, 
ja zugleich, auch noch eiftige.Wertheibiger ihrer Unfchuld ? Nein, mer 
Unfinn fäet, muß Unfton ernten. Wer in einem einzigen leibenfchafte 
lichen, einfeitigen Menſchen zugleich die völlig widerfprechenden Rollen.bes 
Anktägers, Vertheidigers und des parteilofem Richters vereinigen 
und ihm dazu im Dunkel gegen ben hälflofen Gegner alle Millkite 
und alle Waffen in die. Hand gibt, wer alle feine Intereffen für die 
Zortur, zue Erpreffung unglaubmwirdiger Xusfagen und ‚Gefkänbe 
niſſe in Bewegung fest und von folhen Ausfagen bie Straf 
theite abhängig macht, der mag ſich auch ruhig im. ale hiervon, amger 
trennlihen. Scheuflichkeiten und Juftizmorde ergeben, wie ſie der vorige 
Abſchnitt aus unferem neueſten deutſchen Criminalproceffe  nachtied, 
Und eine Nation und ein »Seitalter, melde gegen folhe Unnatlire 
lichkeit und Rechtswidrigkeit, gegen biefe volle Ums 
menfhlihkeit ihte Augen verfchliegen, find, nit minder barbar 
riſch und verbiendet, als es diejenigen waren, welche alle jene gerihte 
lichen fcheußlihen Mordthaten gegen. die Heren für gerech 
Die aber, welche ſogar im Namen der Gerechti; die, Fottdauer dies 
fer Einrichtung fordern, feinen mir um nichts höher zu «ftehen, as 
jener. Bifhof, der auf die Anfrage: ob die ſchon graufam gemazterte, 
aber immer noch die Hererei nicht gefichende unglüdliche Frau no 
ferner zu torguiven fei? „im Namen Gottes weiter zu 
befahl. Die endlich, welche hier nicht von gänzliher Aufhebung 








j ST 88 
„ſchneidender Abſtand, ber die glaͤnzenden Vorzuͤge der erſten nur um 
„ſo mehr erhebt und uns fuͤr dieſelben, als fuͤr die allgemeine Sache 
„der Menſchheit, faſt zur Begeiſterung hinreißen muß. Jene ſtehen da 


„als ein herrliches Kunſtwerk, einfach und groß, von der Freiheit ſelbſt 
„erfunden, von der Wahrheit vollendet; dieſe jenen gegenuͤber als ein 


„duͤſteres aͤngſtigendes Zwinghaus, das in finſteren Zeiten die Tyrannei 


„fuͤr ihre Sklaven gegruͤndet und erſt ſpaͤterhin ein beſſerer menſchlicher 
„Sinn in einzelnen Theilen zu lichten und auch für Freie erträglich 
„bewohnbar zu machen verfuht hat. Hier — iſt nicht die Rede von 
„Richtern, in deren Hände der Angeklagte felbft fein Schidfal legt; 
„ein Corps von Blutrichtern, die von ftändigen Amts wegen über alle 
„Unterthanen richten, halten in jedem Augenblide das Schwert über 
„den Häuptern Allee empor ; flets drohend und doch in bie Finfternig 
„des Geheimniſſes gehuͤllt, läßt die ſchreckliche Criminalgewalt aus vers 
„ſchloſſenen Kammern jene Urtheile hervorgehen, welche uͤber das 
„Hoͤchſte entſcheiden, um deſſen Erhaltung willen ſich der Buͤrger dem 
„Staate gegeben hat. In dieſer Form der Ausuͤbung erſcheint die Cri⸗ 
„minalgewalt mehr als Eigenmacht, denn als Handlung der 
„Gerechtigkeit, mehr als Werkzeug, wodurch ber Sous 
„derän feine eigenen Beleidigungen räht, denn als 
„Das Berföhnungsmittel der Beleibigung Aller, als par 
„teiloſes Vertheidigungsmittel der Freiheit eines Jeden.“ . 
„Der Angeklagte ift von feinen Richtern getrennt; fie fehen ihn 
„micht, fie hören ihn nicht; nur durch Mittelorgane dringt feine Stimme 
„und das Mort feiner Vertheidigung bis zu ihnen. Sie hören weder 
„die Zeugen, welche wider ihn, noch diejenigen, welche für ihn fpres 
„Ken; daß lebendige Wort muß erſt in einem Protocolle zum Ealten 
„Buchſtaben erftorben fein, ehe e8 die Gemüther trifft, in welchen es 
„als Urtheil über Dafein und Freiheit mwiederauferftehen fol. Die Uns 
„terfuhung felbft ift fo geheimnigvoll in ihrem Anfange bis zu ihrem 


„Ende, wie die Entſcheidung. Ohne Stüge, ohne Vertheidiger, eins ' 


„ſam verlaffen fteht der Angeklagte vor dem Inquifitor, der ihm viels 
„leicht ſchon vor ber Unterfuhung in feinem Derzen das Verdammungs⸗ 
„urtheil gefpeochen hat; ber ihn fchuldig zu finden alle Kräfte fpannt, 
„weil feine Inquifitorehre ſich hauptſaͤchlich von den Schuldigen nähet, 
„die ee dem Obergerichte überliefert. Dem Unterfuchungsrichter it 
„zwar von den Gefegen eingefchärft, unparteiifch für die Schuld mie 
„für die Unfchuld zu unterfuchen, Feine Lift zu gebrauchen, die felbft 
„den Unfchuidigen bethören koͤnnte, fic als ſchuldig zu geben, nicht 
„durch Zwang zu erpreffen, was nur durch Freiheit zugeflanden merben 
„Sol, Alles getreu zum Protocolle zu geben ohne Zufag, Weglaffung 
„oder Aenderung. Aber find das Gefege, denen die Ga: 
‚rantie ihrer Befolgung mangelt, bie der Redliche 
„nicht braucht und der Unredlidhe firaflos überfchreiter? 
„Wo ift das Auge, das über die Wahrheit der Protocolle wacht, die 
- „Sonteole, bie ihre Unmwahrheit findet, die Macht, weiche bie vorfägliche 





se Sum. 


„und unvorfäglice Veränderung ober Unterbrädung der Wahrheit wer 
hindert ? Dee Gerichtsſchreiber — wenn er da ift — gewöhnlich en 
nabhängiges Geſchoͤpf, ſchreibt, was der Richter ihm in bie Feder ſagt; 
dee Angefjuldigte iaͤßt diefen fagen und jenen fchreiben, was ihnen 
beliebt, entweder aus Furcht oder weil er im feiner Untoifienheit das 
Gericht nicht ahnet, welches erft der erkennende Richter in einem 
umſtande mehe ober weniger findet. Um den Unterfuchungsrichter 
„einer Gonteole zu unterwerfen, gibt man ihm — zuweilen — zwei 
„ober mehrere Veifiger, fogenannte Schöppen, zur Seite, bie aber 
„meiit Saum wiſſen, wozu fie da fißen, und am Ende auch nur dazu 
„ba find, um einige Unterfchriften mehr an den Schluß des Protocols 
„zu heften. &o liegt über dem ganzen Verfahren ein Schleier eines 
büfteren mißtrauifhen Geheimniffes. Aus dem einfamen Gefängniffe 
wird der Angefchulbigte geführt in die chen fo einfame Verhoͤrſtube, 
„in biefe Werkflätte, wo man die Pfeile’ fhmiebet, bie 
„feinem ganzen bürgerlichen Reben drohen. Er erfährt 
„und fieht feine Angeber nicht, außer etwa aus einer befondes 
„ten Gnade; er ſieht feine Anfhuldigungszeugen nice, 
außer wenn es darauf ankommt, ihm buch die geifiige Marter der 
„Gonfeontation ein noch mangeindes Geftändnif abzugewinnen Er 
„ſelbſt erſcheint nicht dor den Augen feiner Mitbuͤrger, außer wenn em, 
nachdem fehon das entfcheidende Loos gefallen, zum Schaffot ober im 
„das Zuchthaus abgeführt wird, Ein Vertheidiger wird ihm wohl mei 
‚tens verftattet, um fich mit ihm zu beſprechen, aber — meiſt nidhe 
„während der Inguifition und — nur insgeheim und unter der Wade 


„einer gegenwärtigen, vielleicht betheiligten Gerichteperfon ; und biefe Wer 








Jury. 8 


„muß in allen feinen zufälligen Windungen und Kruͤmmungen erſchoͤpft 
„fein, ehe es der Unterfuchungsrichter wagen darf, die Acten für ges 
„ſchloſſen zu erklären.” — 

— „Ein zweites Mittel, die Unichwd vor Gefahren zu mahren, 
„iſt die aͤngſtliche Beſchraͤnkung ber Beweiſe der Schuld. Wo feine 
„Bernunft auch bei der Angftlichflen Vorſicht zweifelt, da follen unfere 
„Richter zroeifeln, wenn es darauf ankommt, einen Miflethater ſchuldig 
„zu finden. Gleihfam als time die Gewißheit eines Verbrechens aus 
„andern Quellen, ald aus welcher jede andere hiſtoriſche Gewißheit 
„kommt — — — wird der volle Beweis der Anfchuldigung ausſchlle⸗ 
„ßend an WVorausfegungen gebunden, welche nicht mehr Gewißheit 
. „geben, als die ausgefchloffenen. — Die Ueberführung des Thaͤters iſt 
„ſonach — abgefehen noch von dem befonderen Beweiſe des Thatbe⸗ 
„ſtandes — geitellt auf deffen Unverftand — daß er vor wenigftens zwei, 
„über jede Einwendung erhabenen Zeugen fein Verbrechen beging — 
„oder auf feine ſchwache oder gutmüthige Bereitwilligkeit — ſich durch 
„fein Geſtaͤndniß felbft anzuklagen (fich ſelbſt zu verrathen nach engli⸗ 
„ſchem Ausdrude) und dem Nichter Beweis wider fich zu liefern, wo⸗ 
„buch bie größeren und feineren Böfewichte der Strafe von Rechts⸗ 
„regen entgehen — feitdem man nicht mehr buch die Fauſt der 
„Henkersknechte die Geftändniffe erpreffen half. — Der gemeine 
„Verſtand und das Intereſſe des Staates aber fanden hierbei erhebliche 
„Bedenken. Man erfand daher (theils die ungefeglichen langen In⸗ 
„quifitiongs und Kerkertorturen, tbeils) die Theorle der außeror⸗ 
„dentlihen Strafen bei unvollftändigem juriftifchen Beweiſe, in- 
„dem man dem Angefchuldigten, von bem man ſelbſt eingeftand, 
„daß er niche in rechtlicher Art überwiefen fei (baß er alfo viel 
„leicht unſchuldig, nur durch ungluͤcklichen Zufall oder dürch feindfelige 
„Hintelift in Verdacht gerieth) menigftens einen Theil der Strafe zu: 
„ertannte — zu wenig, war er ſchuldig, und viel zu viel, 
„wenn er unfhuldig war. — Hin und wieder ging man von 
„dieſer Voransfegung zw, noch gefährlicheren Ertremen — dehnte ‘die 
„außerordentlihe Strafe bis dahin aus, wo nur dringende Vermuthun⸗ 
„gen dem Angefchuldigten entgegenftanden, und erhob — den Ver: 
„Baht zu einem befonderen Verbrechen.” (Defter auch er⸗ 
tannte man unter bem Namen von „Sicherheitsmittel” ohne Be- 
weiß der Schuld bie araufamen Leiden zu, die man als unverdient 
anertannte, welche felbft den elenden Zweck einer ungerechten Sicherung 
nicht einmal erreichen. Denn, ſelbſt abgefehen von den verfchlechtern- 
den Einflüffen unferer Zuchthaͤuſer, können fie natürlich die ungererhe 
Mißhandelten nicht beffern, fondern müffen ihnen und Andern, um fo 
kraͤftiger fie And, um fo mehr das Gefühl des Kriegs gegen fo unges 
rechte Gefelfhaftseinrihtung einflögen. Und überall ließ man, wenn 
nach jahrelangen Unterfuchungsqualen der Inquirent nicht alle vollen 
Beweiſe zur Zerflörung jedes erregten Verdachtes gegen den Angefchuls - 
digten hatte finden können, oder wollen, durch eine blofe Losfpre: 


‘ 





86 Jury. 


hung von der Inftanz, die Schande gerichtlich erfläcter Verdach⸗ 
tigkeit auf ihm laſten und das Schwert lebenslang über feinem 
ſchweben. Jeden Augenblick und bei ber geringften angeblichen neuen 
Verdachtsſpur fol er wegen deſſelben Verbrechens, das fein Ankid- 
ger, der Inquitent, nicht bemeilen konnte, abermals zur Erneuerung 

.„ dee Inquifitionstorturen in den Kerker verftoßen werben dürfen. Man 
verband außerdem damit Verluſt ber edelften Vürgerrechte, 3.8. ber | 
Wahlfaͤhigkeit in Bezlehung auf Lundftände. Neuerdings Endpfte | 
man baran beliefige Verbannungen aus der Heimath u. ſ. w. Ja 
man vernichtet zugleich das Vermögen des Unglädtichen, indert man 
ihm auch noch, abgefehen von dee Störung feines Hausweſens und 
Gewerbbetriebs durch ben Unterſuchungskerker und feine Bolgen mit 
der Losſprechung von der Inftanz, die Unterfudungstoften ganz oder 
zum Theil aufbürbet. 

Bis zur Erinnerung verloſchen find in biefem ganzen Werfahs 
von die Grundfäge freier Völker, der Griechen und der Roͤmer und 
aller germanifhen Voͤlker wenigſtens bis zum fpäten Mittelalter, 
daß vor vollftändig geliefertem Bemelfe ber Schutb 
der Angeklagte in feinen Rechten ungekraͤnkt blieb, daß ihm ferner 
eine Anklages ein Proceh auf Ehre, Leib und Leben das Heilige 
Recht auf eine Veendigung deſſelben durch die Entfdeidung über 
feine Schuld oder Unfchuld gab, und daß er, wenn jener volle Be 
weis nicht geliefert: wurde, vollftindig und für immer frei‘ vondem 
angefhuldigten Vergehen aefprochen werden mußte ). Vergeffen ik 
es, daß felbft noch die Carolina(f..den Art.), fo wie Öffentliches 
und münbdfiches Gefchworenengericht, fo auch bie ftrengften Beflinimun: 





gen gegen. Verfegung in Anklageftand ohne dringend begründeten Mer 
dacht gab, eben fo gegen verleende und lange Verhaftungen und Für bie 
buch Eautionen und felbft durch Mitverhaftung des Aklds 





Jury. 9 


ten befonderen Schriften abfolute Unabhängigkeit der Gerichte, ihrer 
Drganifation, ihrer DVerfahrenss und Entſcheidungsnormen von eins 
feitigen Regiexungsverfuͤgungen. Nicht minder aud bie Oeffentlich⸗ 
keit des Verfahrens. Sind nun unfere Gerichte feitdem unabhäns- 
giger und ihre Verhandlungen öffentlicher geworden? find nicht viel« 
mehr fehr große Erſcheinungen für das Gegentheil zu Tage gekom⸗ 
men, und zugleih auch für Teidenfchaftlihe Gegenfäge zwiſchen gar 
manchen Regierungen und einem großen Theile der Bürger, Gegen» 
fäge, doppelt gefährlid; bei unferen geheim verfahrenden und im 
Dunkel richtenden abhängigen Regierungsbeamten — — 

Ja, die letzten Reſte einiger gefeblich geficherten Bürgfchaft, fo 
wie für die richterliche Unabhängigkeit, fo aud für Veröffentlichung 
der Wahrheit zu Gunften etwa leidenfchaftlich Verfolgter, find felbft 
feit jener Napoleon'ſchen Zeit, in welher Feuerbach fhrieb, im⸗ 
mer mehr verfhmwunden. Das Dunkel des Geheimniffes, welches 
den ganzen @riminalproceg und die Leiden und Klagen der einge 
kerkerten Inquiſiten bededt, tft, fobald e8 den Miniftern und Ges 
richten beliebt, völlig abfolut geworden, geheim von ber erſten Wer 
baftung an bis zu dem Tode und nad) bem Tode der Verfolgten. 
Selbſt die gutmüchigen Thoren, weldye die Vorwürfe des Dunkels 
geheimer Vehme mit ber Berufung auf die gefeglich geficherte freie 
gedruckte Mittheilung aller actenmäßigen Thatſachen und Crgebniffe 
beſchoͤnigen wollten, haben verflummen müffen. Alle oͤffentliche Mit 
theilungen fann bie Genfur belichig unterdrüden. Und ‚was man 
zur Beit bes Reichs felbft für moralifh unmöglich gehalten hatte, 
es gefchieht täglich mehr. Die Genfur unterdrüdte zum Beiſpiel 
"den zur Ehrenrettung eines Eingekerkerten verfuchten Abdrud eines 
Rechtsgutachtens, von einer beriihmten Suriftenfacuftät einftim: 
mig ertheilt, nicht blos im Lande bes Kingekerkerten, fondern auch 
im Lande, in der Stadt der berühmten babifchen Univerfität feldft. 
Bei politifhen Verhaftungen und Unterfuchungen, hier wo die Ge⸗ 
fahren, zumal bei ber viers bis fechsjährigen Dauer ber neueften 
Procefſe am Größten ift, ift bekanntlich nocd außerdem zum Voraus 
von Bundeswegen jedes Zeitblatt für den, Fall einer Mittheilung 
durch den Untergang bedroht. Und nah den dennoch wiederholt in 
cenfirte Zeitungen durchgedrungenen einzelnen Nachrichten wurden 
feleft den Wertheidigern, hier die Mittheilungen aller Criminalacten, 
dort die Mittheilung felbft der Enticheidungsgründe des Gerichts, ver⸗ 
fagt und aud) nad gefüllten Endurtheiten den Mertheidigern jede 
Veröffentiihung zur Vertheidigung der öffentlich angegriffenen Chre 
ihrer Glienten unterfagt*). Seldft die Anwälte maht man zu abs 
bängigen Gehülfen der Unterdrüdung der Wahrheit und ihrer Recht: 
fertigung ihrer Glienten, ben. Richtern bat man laͤngſt an vielen 


N 
— — ——— rn 


Siehe 3. B. Allgemeine Zeitung Beilage 1839 Nr. 256, 
©. 2003 ff. 1838 Nr. 357. ©. 2855. 1838 Rt, 115. ©. 919, | 





88 Jury. 


Orten Öffentliche Mittheilung des feiner Natur nad) nothwendig 
Deffentlihen verboten und zum Verbrechen gemadt. Daß man uns 
parteiffhen Dritten die Einfiht der durch Endurtheile völlig gefchlofe 
fenen Griminalacten verfagte, wie es der Verfaſſer aus Erfahrung 
weiß, ift hiernach begreiflich *). Die Angeſchuldigten ſelbſt, entweder 
lebenslänglich ihrer Freiheit beraubt, oder auch langen Kerkerleiden faum 
enteonnen, möüffen meift eben fo wie ihre Vertheidiger und Angehörigen 
duch Veröffentlichung neue Gefahren oder Verſchlimmerung flatt 
der Milderung der Leiden befücdten. So bleibt, mas ber Ange 
ſchuldigten heiligfte Güter und Rechte, ihre Ehre, mas alle Bürger 
angeht, bie zuverläffige gerichtliche actenmäßige Darlegung über bie 
Schuld oder Unfchuld öffentlich befdyuldigter Bürger, über die Gründe 
der Gerechtigkeit und der Verſtoßung derſelben aus der Geſellſchaft, ja, 
fo weit moͤglich, der Ehre ihres Namens aus der Menihen Gedächt⸗ 
nig, Allen vorenthalten. Ueber Aller Haupt aber ſchwebt biefelbe Ger 
fahr, welche mit dem Geheimnifje felbft täglich waͤchſt, fo wie natürlich 
hinwieberum dieſes mit den Gründen, das Licht zu ſcheuen, wachſen 
muß. Auch nad längft beendigten Criminalprocefien von Mitbuͤrgern, 
deren Ehre der Nation theuer iſt, wie es die Nationalehre ihnen war 
bieibt, nachdem fie die Grabesnacht des Kerkers det, die Matiom im 
Dunkeln über Grund und Necht der Verurtheilung. Daß eing etwa 
bier, und ba beltchte, durch den politifhen Standpunct. ber bie 
ceiminalrehtlihen VBerfolgungen anordnenden Negies 
rungen, alfo ber anflagenden Partei, beflimmte Auswahl von 
Nachrichten über politifche Proceffe, belichige Auszüge, welhe Niemand, 


mit den Acten controliren und aus ihnen nad dem Stanbpunete ber 








Jury. 80 


So ſchon die Willkürlichkeit und Formloſigkeit, wo— 
mit heute bei uns fo häufig die Criminalproceduren begons 
nen, Bürger als perſoͤnlich verdächtig bingeftellt, ihre Häufer und 
Papiere durchſucht, fie in Criminalproceffe und fall jedes 
Mat zugleich in Kerker geflürzt werden. Keine gefeglihen 
feften Bedingungen, Grenzen, Formen und Bürgfchaften, 
keine Habeascorpusacte, keine früheren beutfhen Senugthuungss 
vechte wegen feivoler Verdächtigungen und Mißhandlungen, fügen bei 
ung Ehre, Freiheit, Gefundheit und Lebensglüd der Bürger gegen die 
gefährlichften aller MWilltürlichkeiten und Mißgriffe. So aud die fo - 
hoͤchſt ungerechte Länge und die noh ungerechtere vielfaihe 
Härte bes Unterfuhungsarrefts, welcher doch als ein ſchon an fi 
meist Höchft emmpfindliches, für Ehre, Lebensglüd, Gefundheit und Wohl⸗ 
ftand verderbliches Leiden eines Bürgers, der bis zu feiner Verurtheilung 
als unſchuldig anzufehen ift, auf Die aͤußerſten Fälle dringen: 
der Nothwendigkeit befhränkt und fo unverletzend als 
nur möglich eingerichtet werden muß, wenn von Achtung ber 
Gerechtigkeit und bürgerlichen Freiheit auch nur noch die Rede fein 
fotl. Das Dunkel des Geheimniffes nimmt oder Lähmt aud) hier über: 
au die Vertheidigungswaffen zum Schutz durch höhere Gerichte, durch 
eine wuͤrdige Öffentlihe Meinung des Vaterlandes und durch die Du: 
manität und Gerechtigkeit des Fuͤrſten, durch bie Scheu vor ber Öffent: 
lichen Schande der Beamten und des Landes. 

Alle bezeichneten Gebrechen felbft übrigens find wohl fchon durch 
die actenmäßigen Mittheilungen im vorigen Abfchnitte hinlaͤnglich ver: 
anſchaulicht. Daß aber diefelben unzertrennlih mit unferem 
geheimen Inquifitionsptocefje verwachſen find, und ohne Aufhebung der 
ganzen Grundlagen diefer widernatürlihen Proceßform, aud 
bei den Löblichften, humanften Gefinnungen der Negiering, der hoͤchſten 
Staatsftellen und der Stände nicht befeitigt werden Eönnen, diefes wird 
Jedem aud) ba, wo diefe Sefinnungen am Günftigften find, der 
Biid in feine Umgebungen zeigen. So haben in Baden bie Stände 
feit ihrem Entfiehen 1819 unermüdlih auf jedem neuen Landtag gar 
nichts dringender immer und immer auf's Neue von der Regierung er: 
beten, als Reform des unglüdlihen Criminalproceffes, ins: 
befondere auch die unentbehrlichite, die von beiden Kammern ald noth- 
wendig anerkannte *), auch für die Treue aller Ausſagen fo wichtige 
Miederherftellung dev Deffentlihkeit und Mündlichkeit. Wie: 
beeholt erhielten fie auch von der Negierung die feierlichiten Zufagen der⸗ 
felben, namentlidy durch ein vom Fuͤrſten unterzeichnetes Staatsmini⸗ 
flerialvefeript vom Jahre 1831, die „der Trennung der Juſtiz 
„von der Adminiftration, der Errihtung von Colle— 
„gialgerihten aud in ber unteren Inftanz und einer 
„auf Deffentlihleit und Muͤndlichkeit gebauten neuen 





*) Zentner a. a, O. &, 30. 84. 


oo Jury. 


„Berichtes und Strafproceßeinricht ung.“ Auch einzelne 
Berbeſſerungen verſuchte man vorläufig, und die Verwaltung des jetögen 
Inftizminifteriums wird an Einfiht und Sorgfalt von einem andern 
übertroffen. Aber aus grundverderblichen Grundlagen entwickein fid 
unvermeidlich Immer neu die verderblihen Gebrechen. Diefes fühlen 
auch alle einſichtsvolle, wahrheitsliebende badiſche Geſchaͤftemaͤnner 
einzugeftehen ſich gedrungen. . j 
So beftagen die zwei zunor citirten ber gegenwärtigen Staͤndever⸗ 
fammtung überreichte Schriften von zwei erfahrenen, ſachkundigen Peak 
tifchen Nechtögelehrten, von einem Mitglieb der badiſchen Oberges 
richte und einem Unterfuhungsbeamtem, vom Hofgerichtsrarg 
Bentner und vom Amtmann von Jagemann, im Sntereffe der 
Öffentlichen Gerechtigkeit, wie in dem eigenen Intereſſe aller würdigen 
Richter und Unterfuchungsbeamten felbft die ſchon angebeuteten Ge 
brechen unferes ſtraftechtlichen Gerichts « und Procefzuftandes in ber 
oberen und ih der unteren Juſtanz. Bentner klagt ;. B. (S. 68), 
„daß der Anfang oder Nichtanfang und die Fortſehung der Criminafs 
proceffe und der Verhaftungen ohne gefesliche Beftimmungen der Mille 
„Ehe der oft meit von dem höheren Behörden entfernten einzelnen 
„‚Unterfuchungstichtern überlaffen fei, fo daß, wie die Erfahrung Iehre, 
ie nach der Individualitaͤt des Beamten Unterfuhungen und Vech 
„tungen mit Unrecht begonnen, oder eben fo verkehrt, und ſchon wegen 
„ber niederdruͤckenden Laft von anderweitigen Adminiſtrativ⸗ und Gipiß 
„huftisgefchäften unterlaffen und verzögert würden. ins der größten 
„und gefähtlichjten Gebrechen aber liege in der Art der Erhebung ber 
„Beweife: Zu der umnatürlihen, alle nöthige Unbefangenbelt 
nbindernden Verbindung des Anklägers und Richters in einer Per 
„fon werde bie urkundliche Aufnahme und Abfaffung ber Protocofle, 













Jury. | 9 


„Anſpruch habendes Volk paßt, gefallen find (S. 69). Noch duͤſterer 
„werde das traurige Bild dadurch, daß, waͤhrend viele Richter an dem 
„(geſetzl ichen) Grundſatze feſthalten, daß auf Indicien (richterliche 
„Vermuthungen) gar keine Verurtheilung Statt finden dürfe, die größere 
„Zahl der Mitgiieber unferer Gerichtshoͤfe, ſelbſt des oberften, dennoch) 
„veruetheilt, fo daß in einem fo wichtigen, beinahe in jedem Straffalle 
„wiederkehrenden Puncte die Meinungen ber Richter fo getheilt feien, daß 
„es am Ende von ber zufälligen Belegung des Senats, von 
„der Laune des Zufalls abhängt, ob ein Angellagter 
„verurtheilt oder freigefprohen wird. Go ärgerlich dieſer 
„Zuftand für das Publicum und fo gefährbend für da8 Anfehen der Ges 
„eichte, fo qualvoll feier fie den Richter. Auf ber einen Seite flieht 
„ee ſich durch feine Ueberzeugung, daß die Verurtheillung auf Indicien 
„durch unfere Sefege nicht geftattet fei, oder doch durch bie Betrachs 
„tung bergroßen Gefahr, mit welcher bie Verurtheilung 
„auf Indicien durch angeftellte Beamten bei verfchlofs 
„ſenen Thüren auf blofe trüglihe Protocolle hin die 
„Berehtigkeit im Allgemeinen bebroht, eingeengt: unb ges 
„aͤngſtigt; auf der anderen Seite hin heiſcht die Sicherheit bes Staats, 
„bag feine Richter Beine Angeklagten, welche fie fchuldig glauben, unge: 
„fteaft davongehen Laffen. So fei von unferen gefammten Staatseins 
„richtungen Fein Zweig ſchlechter beftellt, als gerade ber 
„wich tigſte von allen, ber Strafproceß.” 

Hr. v. Jagemann klagt vorzüglid über die Criminalunters 
fuhungen und zeigt die Unwirkſamkeit der in unferem neuen badifchen 
Gefegentwurf vorgefchlagenen ftrengen Strafbeflimmungen gegen die Ins 
quirenten zur Abhülfe derfelben, von Strafbeflimmungen gegen gefehs 
widrige Verbaftungen u. f. w., wo es an allen Gefegen fehle Er 
klagt ganz fo wie Zent ner ſchon in feinem feühern Werk vor zehn 
Jahren und in feinem jegigen: daß „nach unferem Inquiſitionsproceſſe der 
„Unterfuchungsrichter Alles und Alles nur auf eigene ausfchließliche Ver⸗ 
„antwortlichleit thun müffe. Keine collegiate Berathung biete ihm bie 
„Gerichtsverfaſſung dar, keine Beſchluͤſſe fafle er auf Anträge Dritter. 
„Wie ganz anders fet die Zage eines Unterfuhungsßs 
„richters nach franzöfifhem Recht. Da werde contrabdics 
„tortfch verhandelt. Da könne er abwarten, ob der Staatsanmalt 
„einen Antrag ftellen und feine Verantwortlichkeit theilen wolle. Da 
„koͤnne er, ohne ſich zu compromittiren, den Angeklagten von den bes 
„abfihtigten Unterjuhungshandlungen in Kennmiß fegen und feine Er⸗ 
„klaͤrungen vernehmen” (ftatt der für freie Bürger und wahre Juſtiz⸗ 
männer glei unmwürdigen hinterliſtigen Heimlichkeiten 
und Raͤnke zur Ueberrafhung und Weberliftung ber 
hälftofen Angefhuldigten). „Dort werde auf’s Geftändniß 
„nicht mehr Gewicht gelegt, als auf andere Ueberzeugungsgruͤnde.“ (Es 
wird bott erfannt, dag Geſtaͤndniſſe, die an ſich fehon, wie bekannt iſt 
und au Feuer bach [Criminalfäle Bd. II. S. 249 ff.] actenmäßig 





92 Jury · 


nachweiſet, aus den mannigfachſten Gründen. fo- unſicher 
einen gewiſſenhaften vernünftigen Mann ger ade durch unſere 
hintetliſtigen und gewaltſamen Erpreſſungen ihren Werth: 
Rechtsgülthgekeit verliere n.) „Wie ganz anders auch würt 

„in werigen- Jahren werden,‘ wenn der nun ſchon feitwier 

‚zur Discuffion bereit liegende gedruckte, auf Muͤndlichkeit und 

chteit gegruͤndete Eutwurf einer badiſchen Strafprocehordnung fe 
wuͤrde. Wie kaͤme da alles Unrecht der Detinqueuten fowohl-als ber 
Verhoͤrrichtet zur- Aufklärung und Abſchreckung Aller an das helle Ta- 
gesicht (S 24)” He von Sagemann Eagt- fernen „bah dr 
Stand. der. Unterſuchungstichtet — von ‚denen. man dag, S 
‚rigfteim gangen’Stantslehen — die Vereinigung aller 

„ten des Antlaͤgers, Vertheidigers und das pacteilofen Richters im eine 
„Perſon fordere im Mißeredig fei, daß man nun ausm ahme« 
we i ſe ihnen Bedruͤckung oder Begunſtigung m ich t -zutraye, (Ss 7). 
Die, Acten aber koͤnnten ja: Beine, Alare Borftsllung 
‚Sange der, Sahe geben, + Bei einmal entſtandenem Mißitennen 
„könne man zwiſchen den Zeilen „hindurch! eine ganze, Reihe von Dres 
ubungen, BVorfpiegelungen,  Verfprechungen und. Suggefliongm.Iefen, 
„ohne daß ‚der Inquirent ſich Dagegen verantworten könne. Die ein: 
nbige winhfameDeoberfeiner Thätigkeit und Neblächbeit 
— die Öffentlihe-müundlihe-Rerapitulation bes wunn: 
‚zen Verfahrens fei ja leider, die Mheinprovinzen ausgempmmen, 
„noch allenthalben vorenthalten. -Meiftens höre man nur Schlinmies 
mon den Inquirenten, und: die Schuldlofen koͤnnten ſich mi von 








„Berdähtigungen.- reinigen, weil das geheime Inauifitionsfpfteng Ahnen 
die, Hände binde. Es fei ja auch deider wahr, daß den Mißr 
nbräuhe gar ıdiehe in die Verhörftuben ſich eingefchlichen Haben, 
„daß manche Inquitenten nicht nur die Angeklagten, fonbern 
„auch die Beugen aufseine rohe einfhühternde MWeife 





Jury. 93 


„Scheiftzetchen beobachte? Die trefflichften Gefege, die zögerndfte Sorgs .. 
„falt in der Auswahl ihrer Vollzieher werde nie hinreichen zur 
„Befeitigung der Beſorgniß, daß mandhmal etwas uns 
„terdeädt wird, etwas Anderes in der Verhörftube ge: 
„ſchieht, ats die Acten melden (S. 15). Die Unterfuchung, 
„welche nicht gehörig eingeleitet wurde oder halbwegs ftedlen blieb, 
„oder fo bedeutende Fehler enthielt, daß der Beamte fie nicht 
„vorzulegen wagt, Pönne in der Tabelle unterdrüädt wers 
„den, ohne daß nur zu beforgen wäre, baß Jemand darnach 
„frage. — Aeußerſt felten dringe ber Befchädigte oder der 
„Angellagte auf ein Erkenntniß, benn das dbeutfthe Volk ift 
„über feine Richter viel zu wenig aufgeklaͤrt (S. 15). 
„Bel unferen jesigen abhängigen Actuaren in Buben Pönne man 
„Sefege und Negulative erlaffen, fo viel man wolle, und 
„jede empfindlihe Strafe androhen, man merde doch ſtets 
„Methoden erfinden, um nad) dem alten Schlendrian und Style fort 
„zufahren und den Gefchäften ein Kleid zu geben, wie wenn 
„Alles in befter Ordnung wäre, und Alles zutbun, was 
„bem Beamten gerade beliebt, wenn man ed auch nad> 
„her nicht durch die Acten, weihe das Grellſte überge: 
„geben, beweifen koͤnne. Namentlich gehörten hierher alle 
„‚zechtspolizeilichen Strafen, bie mährend der Unterfuchung erkannt 
„werden, und die (obwohl in Baden ausnahmsweife alle Schläge ver: 
„boten find) zumeilen von einer Folterung nicht viel verfchie: 
„ben find, welche der Pleinliche Richter aus Aerger über eine perfon= 
„liche Beleidigung ober über ein hartnädiges, feinen reiflich durchdach⸗ 
„ten Sermonen fein Gehör gebendes Leugnen anwende (5.16). Häu; 
„fig men diefe Strafen vor — felten aber werde man 
„eine Ermähnung davon in den Acten finden Berhaftuns 
„gen, Hausſuchungen, Specialverhöre, Gonfrontationen würden gar 
‚oft vorgenommen, ohne daß eine Zeile Darüber in's Pro⸗ 
„tocolt !äme (S. 17). Es fet etwas beffer, dag man In Baden jegt 
„meift Rechtspracticanten ſtatt blofen Scribenten anwende. Allein 
„auch fie feien wegen des Unterhalt und beliebiger Auffündigung und 
„Sinnahmsherabfegung ganz abhängig von der Willkür der Beamten, 
„and folhe Beamte, die eine genaue Controle als eine Ruthe betrach- 
„ten, die fie ſich thörichter MWeife felbft aufbinden würden, würden immer 
„Subjecte zu erhalten fuchen , die fo hinlänglich fügfam oder beſchraͤnkt 
„nd, dag man ihnen fo ziemlich Alles zumuthen kann. Und 
‚ter wollte es leugnen, daß es im Ecribentenftande dergleichen überall 
„gibt, weil derfelbe gar oft aus Defperation als letztes Mittel eines 
„Thunichtgut ergriffen wird, ber zufällig noch gelernt hat mit der Fer 
„der umzugehen (S. 18). — 

Wahrlich nah folhen merfmärdigen, aber hoͤchſt ehren» 
werthen, dem Öffentlihen Wohl heilfamen Geftändniffen fachfundiger 
badifcher Richter und Inquirenten über die Grundlagen unferer Crimi⸗ 


94 Jury. 


nalproceſſe kann auch die edelſte, die wohlwollendſte 
traurigſten Erſcheinungen nicht vermeiden, wie ſie auch, ‚teoß d 
mäßig völlig, geheimen, Verfahrens, doch zufällig in einzelnen Fälfen | 
den Aufmerkſamen oft genug ‚fund. werben. N y 
So kann «8 nicht wundern, daß glei In Vezlehung auf bie 
Grundtofigkeit des Anfanges der. Eriminalprocefje und Ve 
ganz ähnlich ungluͤckliche Mifgriffe, wie die im vorigen Abfchnitte ans 
einem Nachbarftante ‚erzählten Beifpiele, vortommen. „In einer 
„von Fällen“ — fo‘ berichtet jenes erfahrene Mitglied eines babifchen 
Dbergerichtd — „in einer Menge von Fällen wird nad); dem bermmaligen 
„Verfahren bie einmal verkehrt angefangene Unterfuchung, viele 
und Monate lang fortgefchleppt,” Denn flatt alles des höchft forafdis 
tigen engliſchen und frangöfifchen Verfahrens und der dortigen. Bufam. 
menwirfung verfchiedener Behörden und, collegialer. großer. Gerichte zum 
wichtigen Ausfprudy, ‚einer Verfegung in den Antlageftand 
wegen eines genau beflimmten-Berbrehens. bleibt bei ums 
auch diefes der Wiltkitr jenes einzigen. geheim verfahbremden 
Inquirenten überlaffen. Ja/ horribile dieta! «8 finder, ‚fobalb ein 
mal, vielleicht wegen ganz unbeſtimmten Verbadhtes, einem, foldpen In: 
quitenten ber Anfang einer Inquifition und Verhaftung beliebte, mei» 
ter gar Bein Abſchnitt des traurigen, Verfahrens bis zur oberge: 
richtlichen Aburtheilung, Fein Erkenntniß auf Specialinquifition,, ad 
weniger alfo Vertheidigung gegen diefelbe Statt, ‚Die In 
quixenten tönnen alfo nun in's Blaue heraus und hinein 
ven, was und wie es. ihnen beliebt. „Wenn endlich,” fo fährt Bemtr 
ner fort, „dem Gerichtshofe die Acten vorgelegt werden, fo muß 
„fig erft das, was der Staatsanwalt Längft, ohne die, Gerichte zu ber 
„helligen, zur Ausführung gebracht haben würde, "beichloffen. iwexbem, 
„dag nämlich die Unterfuhung wegen Mangels am Thatbeftande 
„eines Verbrehens.oder wegen Mangels an Inzihren 





. Jury. | 95 


SHofgerichtöbezicke zur Unterfuhung gekommene all, daß ein Unter 
fuchungsbeamter einen lediglid wegen des unbebeutendften Waldfrevels 
verhafteten Unglüdlihen fieben Donate unverhört hatte figen laſſen. 
Dazu nehme :man noh, bag während in England gar nidht, in 
dem noch Napoleon'ſchen franzöfifchen Proceſſe nur ausnahmsweiſe und auf 
ganz kurze Zeit die Angefchulbigten das Ungluͤck und die Huͤlfloſigkeit 
eines geheimen firengen Unterfuhungshaftes mit Ausſchluß des Troſtes 
und Rathes von Verwandten, Kreunden und Beilländen Statt findet, 
er in Deutfchland gewöhnlich durch bie ganze fchredliche lange Zeit des 
Proceſſes dauert, und auch in Baden ein Vertheidiger nur nad) ges 
ſchloſſener Unterfuchung zugelaffen wird und dann, fehr oftmals den In⸗ 
quifiten gar nicht ſelbſt fieht und ſpricht. —— Fentner fährt fort: 
„Auch in den bei ung fo häufigen Fällen, in welchen klagfrei erklaͤrt 
„wird, würde das geübte Ermeilen eines Staatsanwaltes, dem das 
„oͤftere Unterliegen und Erheben grundlofer Anklagen weder große Freude 
„noch Ehre mahen könnte, fiherlidy eine nicht geringe Zahl von den 
„Serichtshöfen fern halten. Weit nicht wie in Frankreich gleih Ans 
„fange mehrere tüchtige erfahrene unabhängige Behoͤrden, Staatsan⸗ 
„waͤlte, Unterfuchungsrichter, Uctuare und das Bezirksrichtercollegium, 
„und dann bie Anklageflammer zufammenwirken und ſich controliren, 
„den Proceſſe eine feſte Richtung und zweckmaͤßige Vorbereitung für 
„eine tüchtige Aburtheilung ertheilten, müßten jest oft die erfennenden 
„Richter aus den chaotiſchen Protocollen der Unterfuchungsrichter, bie 
„manchmal felbft niht recht müßten, wo fie hinſteuerten, erft 
„ein beflimmtes Verbrehen auffuhen, wo fie dann 
„nicht felten ein folhes fänden, an deffen Thatbeftand 
„dee Inquirent kaum gedadht, den er baher gar nicht oder 
„nur unvollfländig ermittelt babe (1!) (S. 70). Wie viel durd 
„ſolche nutzloſe Unterfuhungen den Hofgaichten jährlich Zeit ge 
„raubt und der Staatscaffe unndthige Koften verurfacht werden, 
„wiſſe Seder, der in ber Nähe zuzufehen Gelegenheit hat.” ' 

Um aber dad noch weit wichtigere Unglüd fid zu verans 
fhaulichen, welches für die Bürger unfere mangelhafte Einrichtung bes 
gründet, bazu blide man — um alles nicht bereits Öffentlich befannt 
Gewordene hier zu übergehen, in die fo hoͤchſt belehrenden Verbands 
lungen der zweiten badifhen. Kammer über die Beſchwerden 
fo vieler Bürger der Stadt Heidelsheim in den gedrudten Protocol: 
len der Sißung.vom 12. Juli 1839. &, 312 ff. Welches ers 
greifende Bild von bem fchweren Unglüde fuͤt eine ganze Stadtges 
meinde, für fo viele Bürger derfelben geben dieſe theild in der Bürger 
Ihlihten Worten, theil8 von ihren Anwälten nach den Acten und mit. ' 
Protocollauszügen vorgetragenen Beſchwerden! Sie fchildern juriſtiſch 
nie zu rechtfertigende, im Beginn und in der Fortdauer mit empoͤren⸗ 
ben und Öffentli und geheim befchimpfenden und verhöhnenden Miß⸗ 
handlungen verbundene lange Unterfuchungsverhaftungen einer gro⸗ 
Ben Anzahl von Bürgern, größtentheils achtbarer,. mit Gütern 


96 Jury. 


angeſeſſener Familienvaͤter und Ernaͤhter zahlreichet Familien, Ch 
führen Klagen über Unterfuhungshaft im Zucht haufe Bel 
Zuchthaus koſt und bei andern Entbehrungen, und darüher Def 
die richterliche Leidenſchaft zum Theil auch noch außerdem und ctifer 
jenen Mißhandlungen bei der Arretieung die Verhafteten mit andern 
Strafen, namentlich 'monatlangen Blodffrafen des Zuchthaufes wer ber 
Unterfuchung belegt und nicht blos fle ſelbſt, ſondern auch ihre Entlar 
ſtungs zeugen ungebührlichft behandelt und eingefhüchtert, zum SEheif feibit 
unrichtig protocolliet habe. Sie fhildern eine Unterfuhungshafe, I 
‚welcher viele der Ungluͤcklichen zu allem Uebeigen nad) ber erften 
BVernehmung Monate, zum Theil viertehalb Monate lang underhärt, 
in welcher unter Andern ein beinahe fiebenzigjähriger unfhuldiger Greis 
nad) perfönlichen Mifhandiungen des Beamten fünf und fiebengig Rage 
zulegt im Finfterem eingekerkert hülflos gefehmachter, in welcher ende 
lich Einer der Ungluͤcklichen, ein neunzehnjähriger Juͤngling im einem 
mit Steinen gepfatteten feheußlichen Kerker, worin er fich Baum auf 
menſchliche Art beivegen fonnte, nach der erften kutzen Vernehmumg 97 
Tage lang umverhört. ſchmachtete und am 97. Tage endlich imber 
Verzweiflung todtgefunden wurde. - un 

Den übrigen fonft gewöhnlichen Veranlaffungen ſolcher 
ſchichten aber ging hier eine andere voraus, melde der Werfäffer 
Beiten in jenen Öffentlichen Verhandlungen S. 323 mit folgenden 
Worten fchilderte: 

„Sie fehen, meine Herten!‘ bei diefer Gefegenheit einen Fehler im 
„unſerer Einrichtung, den man fo oft in dieſem Haufe beffagt hat, Er 


feben das Unglüdfelige der Verbindung der Abmindifkrn« 
„tton mit der Juſtiz. Hier ſind die Abminifteneivbehörde (Das 2m) 
„und die Bürger — über einen von jener begünftigten und tiber einen gegen 
nihee Wuͤnſche gewählten Bürgermeifter — in bitteren Streit 

‚men, und als der Streit ausbrach, ſtand dieſelbe Behoͤde Kin 








Jury. | 97 


Protocol nalo gefteht, daß man hier „bie abminiſtrative 
„Ruͤckſicht“, „ben in.die Unterfuhung und Verhaftung Hineinge⸗ 
„zogenen aus bem Semeinderathe zu entfernen,”” in bie 
gerichtliche Verhandlung übergetragen (!!) . 

Wohl iſt zu hoffen, daß die Gerechtigkeit der Gerichte und 
der Regierung, nach völlig beendigten Verhandlungen biefer Trauer: 
gefchichte, das Gerechte verfügen wird. Aber gut madhen läßt 
fih ſolches Unglüd nit. — Und was nody niederfchlagen- 
der iſt, auch die Sorgfalt der höchften Juſtizſtelle wird die Frei⸗ 
heit ber badifhen Bürger, die Humanität und Gerechtigkeit nim⸗ 
mermehr rechtlich fchüßen, fo lange fie der geheimen Inquiſitions⸗ 
fehme einzelner Beamten und ihrer uncontrolicbaren Willkuͤr, ihren 
ſtets nur zufällig entdeckbaren Mißgriffen Preis gegeben bleiben. In 
wie vielfacher Weife aber diefelben gefährliche Schlingen bereiten, das 
zeigt lehrreich Die vor Kurzem von dem H. v. M. gedrudt erzählte Leis 
densgefchichte feiner Verhaftung in Freiburg. Diefer Erzählung und 
der allgemeinen Kunde zufolge ließ fich biefer ehemalige tin. preußifche 
Officier, Befiger eines Haufes und Meinen Guͤtchens bei Freiburg — 
durch den Unmillen über eine gegen ihn aus dem nidhtigften Grunde: 
und ſchonungslos vollzgogene Unterfuchungshaft zu ber Uebereilung vers ' 
leiten, fich dem Angriffe der Gerichtsdiener auf feine Perfon zu wis 
derfegen, und fein ſechzehnjaͤhriger Sohn, dem natürlichften kindlichen 
Sefühle folgend, eilte jegt zur Vertheidigung feines Waters herbei. Beide 
Ihmachteten nun gegen ein Fahr im Unterfuchungsterker. — Gegen den 
Vater machte man jeßt, wie jene Berichte fagen, ftatt des nichtigen 
urfprünglichen Unterfuchungsgrundbes, da8 an fich geringe Vergehen 
feiner MWiderfeglicyleit geltend. Der unglüdlihe Juͤngling, gegen wels 
hen auch diefer Grund unanwendbar war, und für welchen ber Richter 
andere Unterkunft nicht wußte, blieb vollends grundlos den Leiden und 
Gefahren einer fo langen Einkerkerung ausgefest, melde Hr. v. M. 
auf die ergreifendfte Weife fchilbert, und weiche ihm die näher bezeich⸗ 
neten unerfeglichften Nachtheile gebracht habe. 

Hoffentlicy bedarf e8 nunmehr weiterer Beifpiele nicht, um es zu 
veranfchaulihen, daß auch die humanſte Regierung unmöglich fchägen 
kann gegen bie unglüdlichften Verlegungen unferer geheimen Inquifition, 
gegen furchtbare, duch fie herbeigeführte Werurtheilungen und Juſtiz⸗ 
morde, wie bie im vorigen Abfchnitte erwähnten, gegen das Trau⸗ 
rigſte endlich, gegen die durch bie Verzweiflung der Kerkerqualen her⸗ 
beigeführten Selbſtmorde, wie ber jenes unglüdlichen Heidelsheimer 
Bürgers, oder Verftandesbernubungen, wie die jenes Sünglings, deſſen 
geſebwidrige Unterfuhung und fpätere Schulbloserflärung ebenfalls bie 
öffentlichen Landtagsverhandlungen vom Jahre 1833 ausführlich befpra= 
hen. Welches Unheil aber vollends bei folhem Mangel aller Bürg: 
Thaften der Unfhuld und Freiheit menfchlid mögliche verkehrte und 
Iehenfejafliche Einflüffe dr Macht anrichten koͤnnten, bavon fein 

ort 
Staats, Lexikon. IX, | 7 





Trug 
as Su, . .. 


Sek abgefehen von befonderen Drffgeiffen, ⸗ 
für Die uififäpen Ciheinkerseife in unferen geheimen Prowfiup same 
zur Expeeffung von Ausfogen und Geftändniffen besedhneten: 

langen Verhaftungen wahrhaft barbariic. Griechen und Sömmeh . 
tn, daß Für die größten Berbrechen dem Staate Genuprhunngiterede, 
wenn der Verbrecher, mit feinem Vermögen in einen fremden S—— 
ziehe. Sollte es denn nicht wenigſtens bei allen geringern Verbrechen 
bhintängtiche Genugthuung für ung fein, wenn der Angefhuldigte Water: 
land und Staat und fein. Vermögen Preis gibt? Weit in den meiften 
Fällen find hiernach Verhaftungen eben fo unnoͤthige als ungerechte Graue 
ſamkeiten. Vollends ift es ihre entſetliche deutſche Länge. Seibſt aus 
demjenigen deutſchen Staate, welcher ſich der beften Juſtig ruͤhmt, — 
richtete neulich ein Schreiben in der Augsburger allgemeinen Seitumg 
und im ſchwaͤbiſchen Mercur, daß bei Anfchuldigungen großer Merbrer 
hen Proceß und Unterfuchungshaft, ſelbſt wenn der Angefhufbigte for 
gleich geftehe, faſt mie unter bgei Jahren dauerten. Wie 6 iſt 
wenn man vergeblich Geſtaͤndniſſe zu erarbeiten ſucht, davon fpradhen 
andere öffentliche Mittheilungen. In Baden’ erfcheinen fehr 

Weiſe, feitdem das Juftizminifterium auch biefen Mifftand unferes ger 
beimen Inquifitionsprocefjes möglihft zu mindern fucht,  Geimimale 
tabellen, und bie neueſten derfelben von 1837 enthalten zum erfhen lat 
auch Angaben über die Dauer der in diefem Jahre a bg euerheibgem 
Criminalproceffe (Ne. XII. ©. 70). Ich bebe hier mur die, meiche im 
Durchſchnitte mindeftens vier Monate dauerten, aus, indem ich 

weil leider die Tabelle keinen genauen Anhaltspunct für die Du 
des ganzen Proceffes darbietet, bie getrennten Rubriken der Beit Der 





Dauer dev Unterfuhung und der meift gleih langen Dauer 

vom Schluſſe der Unterfuchung bis zum Urtheil zufammennehme, 
Es wurden (nad) S. 4) 2289 Perfonen in dieſem Jahre in 

Unterfuhung gegogen, die entfchiedenen Procejje aber Dastertem 





Jury. 9. 


zwar bie Tabelle leider ebenfalls nicht an, eben fo wenig als bie Dauer: 
zeit ber 32 Griminalpeocefie, wo blos bie Unterfuhung über ein 
Fahr dauerte. Doc läßt fid) nach neuerer deutfcher Gewohnheit an⸗ 
nehmen, daß bei Unterfuchungen, die vier Monate lang dauerten, 
weit bie Meiften verhaftet waren. Asdann wurden in dem einen 
Jahr (abgefehen von allen Unterfuhungen und Verhaftungen unter 
4 Monaten) von einer Seelenzahl etwas mehr als einer Million gegen 
1000 Menſchen vom Gericht für unfchuldig erklärt, bie dem Staate 
das entfegliche Opfer bringen mußten, über vier Monate und zum 
Theil Jahre lang unfchuldig zu ihrem und der Ihrigen Unglüd In 
groͤßtentheils ungefunden Unterfuchungsterkern einfam von den Ihrigen 
(osgeriffen zu ſchmachten. Wie groß mag erft die Zahl folder und 
noch viel unglädiicherer Sriminalopfer in Zeiten und Ländern fein, wo 
bie humane Vorforge ber Regierungen, wo vollfommene Ruhe, Wohls 
fand und Arbeitſamkeit des Volks die Zahl ſolcher Ungtüdlichen weniger 
befchräntten *). 

Bedürften aber nun nad) allem Bisherigen bie deutfhen Unters 
fuhungss und Kertertorturen felbft noch einer Schilderung? 
Oder foll man es erſt noch ausführen, daß biefe Torturen weit vers 
tegender, gefährlicher, verderblicher find, als bie fräbes 
ven gefeglihen Zorturen, welche body die allgemeine moralis 
fhe Empörung mit verdientem Abſcheu von ſich fließ, welche die Hu⸗ 
manität und Gerechtigkeit der Fürften und Voͤlker feierlich abfchaffte? 
Unfere Juriften mußten beide graufam zu täufchen. Jene alten Torturen 
waren nicht wie unfere heutigen völlig unbeflimmt, konnten nicht 
duch einen einfeitigen, leidbenfhaftlihen Inquirenten, 
nah augenblidliher Laune und Willkür formlos dietirt 
und ſogleich vollzogen werden, ohne daß felbft nur die Protocolle eine Spur 
derfeiben, oder doch nicht ihre wahre Geſtalt erwähnen. Sie mußten 
vielmehr duch feierlihe Dbergerihtsbefhluffe und nah ben 
Gefegen nur bei fo großen Beweifen der Schuld ertannt 
werben, daß heut zu Zage die meiften Juriſten fie für Straferkenntniſſe 
genügend finden würden. Sie waren im Gefe& oder Urtheil genau be- 
ftimmt und murden nach dem Gutachten von Aerzten, im Beifein des 
Gerichts, gefeglich vollzogen — und fie hatten, wenn ber Angefchuls 
digte fie überfland, ohne zu geftehen, wie ein Gottesurtheil, 
feine gänzlihde Schuldloserklaͤrung und Losfprehung 
zur Folge, was heute keineswegs der Fall iſt. Sie waren nicht 
mit dee empärendften, aufreibendfien moralifhen Tor— 
tur verbunden, welche vollends unfchuldige und edlere Angeklagte 
empfinden müflen, wenn fie fih ohne Schug und ohne Ziel der rohen 
rechtloſen Willkuͤr und Leidenfchaft ihres gegnerifchen Inquiſitors Preis 


*) Ein Beifpiel eines Fünfjährigen graufam firengen gebe» 
men Unterfuchungsverhaftes in der Allgemeinen Zeitung 1838, Beilage 116, 
©. 917, der andern politiſchen Proceffe nicht zu —* 








100 Jury. 


gegeben ſehen. Selbſt fo gefährlich endlich ruͤkſichtilch unge. 
rechter Verurtheilungen waren ſie nicht, als die oft noch ohne 
alle Beweisgruͤnde für die Schuld willkuͤrlich und zugleich geheim 
äugefägten, welche In ben Protocollen entweder gar nicht erwähnt 
werden oder doch nicht mahrheit@gemäß und als Erpreffungsmittel ber 
ändniffe, fo daß num dieſe von dem entfernten, nach dem tobten 
zuge aus den tobten Protocollen urtheilenben Obergerichte als Freis 
mwiltige gültige Geftändniffe, als unfehlbare Wahrheitöbeweife Ihren 
leider fo oft ungerechten Verurtheilungen zu Grunde gelegt werden. 
Diefe Torturen aber, zumal bie moralifhen der Inquifition ſeibſt 
in Verbindung mit langen Qualen ſtreng einfamer Einfperrung, Hoffe 
man nimmer, ganz zu verbannen, fo lange man blofe jur 
ſtiſche Beamtengerichte hat, und Inquitenten nieberfegt, um ihnen 
bie Entbedung der Schuld durch Geſtaͤndniſſe zur höcften Aufgabe, 
zur Bebingung der nothwendigen Verurtheilungen zu machen, weiche 
Beamtengerichte ſich ſteis durch die, wenn auch erpreßten Geftändniffe 
und Ausſagen werden zu decken ſuchen. Die Unnatur, um jeden Preis 
die Verdächtigen beftimmen zu wollen, durch Geftändniffe ſich ſelbſt ans 
zuftagen und ihre eigne Schande und Veructheilung zu begründen, 
mu$ neue Unnathrlichleiten erzeugen. Gluͤcklich noch — wenn, -tele.gte 
Ehre der badifchen Regierung feit dem Landtage 1831 in Baden, das 
Gefeg wenigſtens jedes Schlagen verbietet, wenn auch dadurch — tie 
ſchon jener Heitersheimer Fall beweif't, und der Minifter von Armim 
beftätigte, nimmermehr alle Mifhandlungen der Angeſchuldigten in 
ferem geheimen Inquifitionsproceffe, noch weniger alle Inquifitionse md 








v Sum. 101 


digkeit unferes allmaͤlig gegen die Gefege eingeführten Inquiſitions⸗ 
und Relationsproceſſes erfcheinen indeß erft in ihrem vollen Lichte, 
wenn man genauer die Nefultate und das Ende diefer fo 
entfeslih langen, opfer: und gefabrvollen geheimen 
Inquiſitionsproceſſe betrachtet und bitfelben mit ben Reſulta⸗ 
ten und dem Ende des natürlichen, vaterländifchen, bei freien und prak⸗ 
tiſch vernünftigen Nationen üblichen oͤffentlichen muͤndlichen accufatos 
rifhen und ſchwurgerichtlichen Verfahrens vergleiht. Sie werden Bar, 
wenn man zufieht, wie der Natur der Sache nad ſo hoͤchſt un⸗ 
vollftändig, einfeitig und unzuverläffig die actenmäßigen Beweife und Pars 
teiberichte der Inquirenten find, und mie dann nicht einmal unmit⸗ 
telbarauf fie, fondern aufdie abermals einfeitigen, unvoll> 
ftändigen täufhenden Ertracte und Referate bed Refe—⸗ 
renten aus ihnen — wie auf ſolche, fo oft unrichtig protocollirte und 
referirte, fo taufendmal falfche, erliftete und erpreßte Ges 
ändniffe und Ausfagen, ja auf fo protocollirte und referirte Mies 
nen und Geberden bin die geheimen Blutrichter ihre Urtbeile 
- über Leben und Zod fällen, ohne daß nur .ein einziger Richter ben 
Antläger, den Angeflagten, die Zeugen oder auh nur bie Anklaͤ⸗ 
ger und Vertheidiger feibft ficht, hört, befragt, ja ohne daß fie 
auch nur jene diden Protocolle und die in ihnen enthaltenen Ausfas 
gen und Zeugniſſe felbft fehen und lefen, vollends ganz fehen und lefen. 
Sie laffen fi) ja abermals nur von einem Dritten, einem Referenten, 
einen ermüdenden fchriftlichen oder einen noch ungründlichern münds 
lichen Auszug daraus vortragen, der unvermeidlich abermals nad) eins 
feitigec Auffaffung unvoliftändig, parteiifh und untichtig fein, das Uns 
wefentliche in falfches Licht flellen, das Weſentlichſte überfehen kann 
und muß. Alsdann, wenn fie nun diefe ermübdende, einfchläfernde 
Vorlefung, ohne, wie ein öffentliches Geriht, vom Auge bed Publis 
cums und ded Anklägerd und Vertheidigers bewacht zu fein, oft nicht 
ſehr aufmerkſam beftanden haben, alsdann ftimmen fie ab und ent: 
fheiden nad einfacher Stimmenmehrheit über Schuld oder Unſchuld, 
über Leben und Tod ihrer Mitbürger, und das Reſultat — das bes 
kanntlich abermals vom Üeferenten oder vom Praͤſidenten einfeittg oder’ 
falſch redigirte, zumellen auch durch geheime Einflüffe vor der Publis 
cation wieder abgeänderte Reſultat — das heißt man das Urtheil 
des Gerichte. 

Die Vergleihung mit dem entgegengefeäten Verfahren — nicht 
etwa blos nad) einzelnen Mißgriffen, die freilich bei jeder menſch⸗ 
lihen Einrichtung vorkommen, fondern nad der Natur der Eins 
richtung, die fir, wo fie gut ift, vermindert, und wo fie fchlecht 
it, unvermeidlich vermehrt — diefe Vergleihung ergibt ſich erft 
fpäter. Eben fo auch der Grundirrthum des geheimen fchriftlihen Ins 
quifttiong: und Relationsproceſſes, daß ein juriſtiſcher Beweis in 
Strafſachen moͤglich und zuldffig fe. Doch fo viel iſt wohl jest ſchon 
Bar, dag fürs Erfte kein praktifcher vernünftiger Geſchaͤftsmann, 








102 Jury. 
um für ein wichtigeres Geſchaͤft feine Leute, ihre Faͤhigkelten, Are 





Abfihten und Ausfagen kennen zu lernen, einfeitige, befangene, uncon» 
trolirbare Berichte von Dritten feinem Selbſifehen, Geibfihören, 
GSelbftfragen vorzieht, daß fein vernünftiger gerechter Vater fein Kind, 
fein Here feinen Knecht firafen möchte, ohne, wo er es koͤnnte, fie 
ferbft über ihre Schuld zu befragen. Und das ift für's Iweite 
ebenfalls fo Mar, tie der Tag, daß in einem wichtigen verroidelten 
ſchwierigen Griminalfalle die wirkliche und vollſtaͤndige Wahrheit und 
Gewißheit für das ganze Gericht viel ficherer fich ergeben muß, 
wenn alle Richter und Geſchworenen fammt Anktägern und Bertheidis 
gern, nach früherer, beffer controlitter und ebenfalls ſchon vielfeitigerer 
Vorunterfuhung alle Angefhuldigten und Zeugen felbf 
hören und fehen, und wenn eine ſolche juriftifche und bürgerliche Elite 
der Nation diefelben mit ihrem ganzen Reihthume von Erfahrungen, 
von vielfeitigen, fharffichtigen Gedanken und Bliden befragen und 
erforfhen und vor Allem auch ſich über die volle Freiheit, 
Deutlichkeit und Aechtheit dieſer Ausfagen und der fie 
begleitenden Mienen und Geberden Rechenſchaft geben 
Tann. Wo kann man die geiftige Blindheit und Verftodts 
heit bernehmen, gegenüber einer folhen Unterfuhung und Wahrs 
heitsüberzeugung für das Gericht, blos jene jammervollen, eins 
feitigen, unzuverläffigen, hundertmal falfhen geheis 
men Inquifitions« und Relationsberichte über hundertmal 
erpreßte und unmahre Ausfagen vorziehen zu wollen? Wie 
Tann man es mit gefundem Menfchenverfiande und mit Ehrlichkeit 
auch alsdann noch thun, wenn, wie in Frankreich, diefe unmittelbare viel⸗ 





Jury. 103 


brecher wirken und wahrhaft glaubwuͤrdige Geftändniffe erhalten innen, 
roährend alle jene fcheußliche Inquifitionsüberliftung, &rpreffung und 
Willkuͤr, die unzertrennli mit der Natur unferes jegigen In⸗ 
quijition&peocefjed verbunden find, in jeder Beziehung nur für das 
Gegentheil wirkten. Nur fo tft überhaupt die völlig unparteilihe Stel 
lung und Wirkſamkeit ded ganzen Gerichts ungleich mehr gefichert, 
als bei dem geheimen Urtheilen auf die einfeitigen Ertracte der par⸗ 
telifchen Sinquifitionsacten. Und felbft die Appellation wenn und wo 
man fie nöthig findet, wie regelmäßig bei den ſchwediſchen Schtwurges 
richten und zum Theil bei englifhen und franzöfifchen, verfpricht jeßt 
eine wahrhaft parteilofe gründliche neue Prüfung. 


Es it fürs Drittefo viel bereits allgemein anerkannt, 
daß heut zu Tage, wo man nit mehr die unficherften und ſchlechteſten 
aller juriflifhen Beweiſe, die duch Zorturen erpreßten Ausfagen und 
Seftändniffe, haben will, die angeblidy juriftifhen Beweiſe wenigſtens 
in den allermeiften Fällen nicht ausreihen, wenn man 
niht faft alle Verbrecher, alle nämlich, welche nicht zwei claf> 
fifche Zeugen zu ihrem Vergehen zuziehen oder freiwillig ſich felbft an» 
Hagen und geftehen, losfprechen will. Alle ihrem Namen nad würs 
dige Juriſten aber verabfcheuen endlich nicht blos als ſcheußlich 
und ungerecht, fondern audy als wahrhaft abfurd eben foalle Ins 
quifitiond = und Kerkertorturen zur Herbeiführung jener ſchlechteſten un⸗ 
ſicherſten juriftifhen Beweismittel, wie die bie deutſche Rechtswiſſen⸗ 
ſchaft ſchaͤndenden Erfagmittel für die immer größeren Mängel 
und Füden jener Beweiſe, die SInftanzlosfprehung naͤmlich 
und die aufßerordentlichen oder Verdaͤchtigkeitsſtrafen. 


Und ſomit iſt unfer bisheriger Strafproceß völlig bankbruͤchig ges 
worden. 


In der Verzweiflung aber, die nun entſtehen mußte, in dem 
offenbaren Bankbruche unſeres geheimen Inquiſitions⸗ und 
Relationsproceſſes ergaben ſich nur zwei Auswege: ents 
weder der allein naturgemäße der Ruͤckkehr zum vaterlaͤn⸗ 
difhen Schwurgerichte in zeitgemäßer Ausbilbung, oder der für 
ein freies Volt fucchtbare, der ndmlih: unter anderem Namen alle 
Strafen zu Verdächtigkeitsftrafen zu madhen, ndmlid 
bie unabhängigen juriftifhen Regierungsdiener nad 
ihrer fubjectiven Meinungserkidärung über Freiheit, Ehre 
und Leben ihrer Mitbürger richten zu laſſen. Es ift dieſes der Aus» 
weg, welchen ſchon vor fünfzig Jahren ber ehrwuͤrdigſte praftifchefte 
Juriſt Deutſchlands, der große Juſtus Möfer, mit Abſcheu zuruͤck⸗ 
wies. Sogar that er dieſes zu einer Zeit, wo man die heutige Ab⸗ 
haͤngigkeit unſerer Richter noch für undenkbarer hielt, als unfere heu⸗ 
tigen, ſie erſt recht gefährlich machenden politiſchen Parteiungen der 
Bürger und ber Regierungsdiener. Dennoch urtheilte Moͤſer ſchon da⸗ 
. mals, daß dieſes: „die gefaͤhrlichſte Wendung ſei, welche wir zu bes 





104 Jury. 


„fürchten haben, und daß bei ihr Freiheit und Eigenthum einzig, und 
„allein auf der Gnade des Kandesheren ruhen würde *).“ 

3) Wefen, Eintihtung und Folgen des neueren 
Schmwurgerihts. — Verfahren bis zur Affife**). 

In England behielt man bis heute, eben fo wie ſtets in Gries 
henland und Rom und bei allen germanifdhen Völkern bis in's fpäte 
Mittelatter, den Privatanklageproces oder den Grundfak bei, in ber 
Regel die Griminalproceffe davon abhängig zu machen, daß einzelne 
Bürger freitoillig im Namen des beleidigten Vaterlandes oder auch zu 
ihrer eigenen Genugthuung al3 Privatanfläger auftreten und für bie Bei⸗ 
dringung der Beweiſe forgen. Nur in eigentlichen Staatsproceſſen 
teitt eim Öffentlicher Anklaͤger auf (attorney general). In feiner 
Grundidee und, weil es edle geſebliche, aufopfernde Bürgergefinnung 
und den Abſcheu gegen die Verbrechen nährt, hat diefe Form bes 
aceufatorifhen Verfahrens freilich viel Gutes. Auch hat dee englifche 
Gemeingeift, zum Theil durch Affociationen zur Beftreitung der Laften 
der Anklagen, in Verbindung mit einzelnen gefeglihen Nachhuͤlfen, bie 
unfeugbaren Bedenklichkeiten gegen diefe Einrichtung bisher noch meiſt 
befeitigt. Der Anklaͤger nun forbert einen Friedensrichtet der Graf⸗ 
ſchaft zur Erlaffung eines Worführungsbefehls gegen den Angeflagten 
auf, damit der Friedensrichter den Anklaͤger, ben Angeklagten und bie 
Zeugen vernehme. Schon dieſes erfle Verhoͤr ift öffentlich und 
ein Beiftand des Angeklagten nicht ausgeſchloſſen. Der Frledensrich⸗ 
ter laͤßt die Verhandlungen protocolliven. Findet er kein Verbrechen 
oder Seinen genügenden Verdacht deffelben, fo läßt er den Angeflagten 
gehen. Iſt das Gegentheit der Fall, fo bleibt der Angeklagte ebenfalls 
frei, wenn er durch mäßige Cautionen oder durch Bürgen Sicherheit 






Jury. 108 


Werth auf ganz frei abgelegte Geſtaͤndniſſe, weiß, dag biefelben eher 
durch moraliſche Einflüffe, als durch allen liftigen und quälenden Krieg, 
welcher zum Gegenkriege reizt, entftehen. Gefländniffe überhaupt, aber 
vollends die fo tauſendfach irreführenden, welche auch nur durch eine 
bIo8 geiftige Tortur erpreßt wurden, find für’ Schwurgeridhtsurtheile 
unnöthig. 

In Folge einer vom Friedensrichter vorläufig zugelaffenen Anklage 
wird nun der Angefchuldigte alsbald vor die große Anklagejury ges 
ſtellt, welche aus mindeftlens 12 und höchftens 24 der achtbarſten Mäns 
ner der Grafſchaft beftchen muß, und die von dem Sheriff der Grafſchaft 
zufammengerufen wird. Wenn nun bier nicht wenigftens zwölf ber 
Geſchworenen die Anklage für begründet halten, fo wird der Anges 
(huldigte nicht in Anklagezuftand verfegt, fondern freigelaffen, kann 
aber fpäter wegen deffelben Vergehens gerichtlich verfolgt werden. 
Hält dagegen die Jury die Anklage für gegründet, fo ift ber Anges 
ſchuldigte erft jegt im peinlihen Anktlagezuftande, und der Proceß wird nun, 
abermals ohne Dazwiſchenkunft irgend eines Actes umferer deutfchen 
Inquifitionsqualen, in ber naͤchſten Affife dee Grafſchaft öffent: 
lidy accuſatoriſch verhandelt und endlich entfchleden. Ueber alle gerins 
geren Dergehen richten die Vierteljahrsfigungen der Friedens 
tichter der Sraffchaft, welche Friedensrichter als unentgeltlich dienende, 
aus Grundbefigern der Grafſchaft beftehende Bürger in ihrem Vereine 
an fi) ſchon ein Schwurgericht bilden, aber auch noch Geſchworene 
neben ſich haben. Wenn nun in der Affife oder ber Vierteljahrsfigung 
Losfprehung erfolgt, fo kann der Losgeſprochene nimmer wegen deſſel⸗ 
ben Vergehens wieder angeklagt werden. Der ganze Griminalproceß 
dauert, wenn er nicht fchon gleich in den erften Tagen endet, mit fei- 
ner dreifachen Verhandlung und Vernehmung und feinen zwei Schwurs 
gerichten, ber Anklage: und Urtheildjurm, nur wenige Wochen, 
felten ein Vierteljahr und noch feltener einige Beit länger. Bei 
jeder Sigung follen die Gefängniffe geleert, alle Proceffe beendigt 
werden. Das ganze Criminalverfahren von feinem Anfange 
bis zu feinem Ende und der Angeklagte in demfelben flehen unter dem 
Schutze des vollen Sonnenfcheins der Deffentlichkeit. Auch bei den 
wenigen und kurzen Berhaftungen ift daduch, daß ben Engländern 
alles geheime Inquiriten völlig fremd ift, ſelbſt die Veranlaffung zu 
jenen beutfchen Kerkerqualen und zu Erpreffungen unglaubwürdiger 
Ausſagen und Geftändniffe entzogen und duch die Zulaffung von 
Freunden und Anmälten, wie durch die fpätere Deffentlichkeit der gan⸗ 
zen Verhandlungen der befte Schug gegeben. Bekannt ilt ed aus 
ßerdem, auf welche trefflihe Weife die Habeascorpusacte gegen jeden 
Beginn und gegen jede Kortdauer unbegründeter Verhaftung durch eine 
Meihe von Beflimmungen forgt, und die Bürger fo gegen furdhtbare, 
Gluͤck und Gefundheit zerftörende, dem Despotismus der Beamten 
und der Regierung dienflbare Inquifitionsquälereien ſchuͤtzt, unter denen 
bei uns mehr Menfchen leiden, als man fich geftehen mag, welchen 





106 Jury. 


auch nur ausgefeht zu fein, ein allgemeines Ungtüd und. bie gefähe 
lichſte Untergrabung der Freiheit. ift, r 

Das feangöfiiche: Gerichtsverfahten iſt leider unter Na eons 
bespotifhem: Einfluffe mancher Mechtsgarantieen bes engliſchen bermukı, 
obgleich es noch unendlich viel gerechter und f(hüähenberr if, 
als das deutfche. Gerade diejenigen Puncte, mo es dem fehterem fd, 
nähert , bezeichnen die Franzoſen als deſſen partie honteosw mb für 
dem deren Meform: Es weicht in der Form des aceufurorifchen Wa 
fahrens und der. Vorunterſuchung auf eine der oͤffentlichen Sichecheit 
bei unferer heutigen Cultut entfprechende Weife darin won dem 
ſchen ab, daß im jedem Gerichtsbezirte Sffenrlihe Antiägen 
Staatsanwälte; zu gerichtlichen Werfolgung dev Verbrecher verpflicen 
find. Auch findet unter ihrer Controle und Mitwirkung-eine Urt kn 
theitweife inquiſitoriſchet Vorunterſuchung Statt. 

Den Proceß beginnt mit der VBorunterfuhung ein imammoribie 
Collegialmitglied des erſten Inftanzgerichts als Inftructtonsridhter; 
bei dem delit flagrant möglicher Weife auf eigene Hand, außerdem eb 
regelmaͤßig nuc auf Aufforderung bes öffentlichen Anktägersy” jedes 
niemals ohne Mitwilfen und ohme Mitwirkung des Letzteren und ober 
Höhere Leitung des Collegiums- bei allen bedetitenden Schritten. Min 
haftungen erfordern ebenfalls biefes Zuſammenwirken umd finden zn 
häufiger als in England, dody weitaus nicht fo häufig und fo Tanga 
als in Deutſchland Statt, nämlich nur bet den größeren Verbtechen 
bei fehr deingendem Werdadyte. Auch wird derfelbe öfter durch Sicher 
heitsteiftung: abgewendet. Und nur ſehr felten und auf Kurze A 
if der Vechaftete Durch befonderen Befhluß der ſogenannten 








nen Haft; fo'mwie leider regelmäßig und Jahre fang in Dymtidı 
land, des tröftenden und ſchuͤzenden Zufpruchs von Verwandten, een 
den und Beiftänden beraubt. Die Vorunterſuchung fetbft- age 
nicht fo kurz, wie in England und nicht öffentlich ie dort. Denken 





Sum. 107 


der Vorunterfuchung nachfolgende öffentliche Verhandlung und bie volle 
Freiheit der Vertheidiger und des Angeklagten, in derfelben jede Unges 
buͤhr Eräftigft zu rügen und zum Vortheil feines Clienten zu nügen, 
eine neue kraͤftige Sicherung. Endlich iſt eine vortreffliche Hauptfolge 
diefee Deffentlicykeit, daß jeder englifche und franzoͤſiſche Bürger feine 
gefeglichen Mechte und Pflichten ungleidy beffer kennt, als der Bürger 
in Deutfchland, und dadurch in den Stand geſetzt wird, jedes Unrecht 
ſogleich bei bem Beginne kräftig und wirkſam zu bekaͤmpfen. 

Uebrigend wird auch in Frankreich die Vorunterfuhung von dem 
Snfteuctiongrichter mit Hülfe des Actuars zu Protocol gebracht, zwar 
zunaͤchſt ebenfalls nur, um, wie in England, mit allen etwaigen fon: 
fligen Documenten und Beweisftüden für die Frage über. die Ver: 
fesung in den peinlihen Anktageftand zur Grundlage zu dienen. Doc) 
bleiben diefe Protocolle, fo weit fie in den enblichen öffentlichen Wer: 
handlungen Beftdtigung erhalten, eine fchriftlihe Grundlage auch in 
dem übrigen Proceffe. 

Iſt die Vorunterſuchung beendigt, fo merden bie Unterfuchungss 
acten nach vorgängiger Prüfung und Antragftellung der Staatsbehörde 
von dem Collegium des Tribunals ber erften Inftanz berathen, und von 
diefem,, wenn es nichts weiter zu erinnern ober zu ergänzen findet, 
ber Anklagekammer des Appelhofes übergeben. Diefe, "mins 
deftens aus fünf Appellätionsräthen beftehend, hat nun ftatt der eng: 
tifchen Anklagejury nach genauer Erwägung über die Verfegung 
in den Ankllagezuftand zu entfcheiden. Erklaͤrt fie entive- 
der, daß die Anklage unzuläffig ober nicht genügend begründet fei, fo 
wird der Angeklagte, wenn er verhaftet war, in Freiheit geſetzt. Er: 
kennt fie die Verſetzung in den Anklagezuftand,, fo wird nun die Sadıe 
an die naͤchſte vierteljährige Affife verwiefen. Auch in Frankreich 
werden die meiften Procefie in wenigen Wochen beendigt. Selten 
dehnen fie ſich über die naͤchſte Wierteljahrsfigung der Affifen aus und 
dauern in der Regel nicht fo viele Wochen als in Deutfdyland Donate, 
ja Jahre. Ja, wir haben oftmals in Frankreich, fo mie jest in Eng: 
land, große politifche Procefje mit einer [ehr großen Anzahl von 
Mitſchuldigen im Laufe weniger Monate beginnen und beendigen fehen, - 
Proceſſe, bei welchen unfere bier fi wahrlich nicht als meifterhaft er: 
weifende, graufame, deutſche Juſtiz alle irgend Verdaͤchtige Jahre 
lang, oftmals fünf bis ſechs Jahre in den Kerkern hätte ſchmachten 
laſſen und fie zum Wahnfinne, zum Tode oder zu lebenslänglichem 
Siechthume abgemartert hätte, fo daß es in Deutfchland Häufig viel 
größere Leiden begründet — vielleiht unfhuldig — audh nur 
verdächtig, als in England und Frankreich verurtheilt zu 
werden. 

Das Hauptverfahren ſelbſt und die endlihe Entſchei— 
dung. — Ste finden in England wie in Frankreich in ber feier: 
lichen durchaus oͤffentlichen Verhandlung der fogenannten Affife Statt. 
Diefe findet in England dreimal, in Frankreich viermal im Jahre, und 










108 Jury. 
wenn ſich die Proceſſe haͤufen, damit fie ſchnell genug beendigt men 
Serichtsdeat 


den koͤnnen, auch nach außerotdentlichet Weiſe in jedem 
Statt. , 
An der Aſſiſe nun fisen in England. als jutiſtiſcze Srantsrichen 
einer ober zwei der Lords Oberrichter von Engiand twelche zu 
diefem Zwecke die Grafſchaften bereifen,. zu Gericht, Sie haben du 
ganze Gerichtsverhandlung unpartelifd und gefeglich zu leiten, 
In Frankreich, und in den deutſchen Laͤndern des linken Reis 
ufers, im welchen legteren die fpäteren frangöfifchen bebeutenden Der 
änderungen der früheren Napoleon’fchen Gefeggebung über das Scymun 
gericht nicht Statt. finden, beftehen diefe Staatsrihter aus fünf mad 
meuerem franzöfifchen Gefese leidet nur aus drei) Mäthen des Dim 
appellationsgerichts bes Bezirks, von welchen einer zum Pedfidents 
der Affife ernannt wird. Sollte eine befondere Thriimabme, die de 
Proceß erregt, im ‚einem Departement eine nicht ‚völlig wibefamgen 
Jury erwarten laffen, fo kann duch Gerihtsbefhtuß ber Proud 
der Affife eines andern Departements. zugewieſen werden. So wurd 
z. B. der Proceß von Font in Coͤln, melt dort cite lebhafte Mehr 
zeugung feiner Schuld ſich zeigte, ‘vor die Affife in Trier vermieden 
Die Bildung ber-Gefhworenen und Verbinbium 
der Affife. — Neben den juriſtiſchen Staatsrichtern follen zur unpari 
iſchen Entſcheidung über die Ihatfcagen der Schuld die Gefchmo remen 
fisen; in England und in Sranfeeih 12 an der Zahl, Die Auswahl 
der Geſchwotenen geſchieht auf folgende Weife. 
In England ift, nad der neueſten Parlamentsatte (22. I 
1825), zum: Gefchmorenen jeder Engländer fähig, melher 21 aber 
alt ift und ein. Einkommen von 10-Pfund Sterling aus Gru 
thum oder einen Erbpacht von 20 Pfund jährliher Einkuͤnfte har md 
in der Graffhaft. anfäffig ift. Doch find manche Perfonen u— 
ſchloſſen, weil manı fie für weniger tauglich hätt, oder nicht ala genug 






















: jeden mit Angabe gefehlicher Mecufationsgrände, wegen Unfähigs 
keit, Infamsie, oder Parteiihteit. Bleiben hierbet fein 

renen übrig, fo werden Ergänzungsgefhworene, zum. Theil aus ben 
. Unsftehenden ernannt, bei weichen dieſelben Eecufationdredhte Statt 
finden. Gind endlich 12 nicht recuſitte vorhanden, fo merden fie 

ı eberldigt, und das Geſchworenengericht iſt conflituirt. " 
"In Srankreich find zu Gefdworenen fähig framzoͤſtſche Staats. 
Bürger, welche SO Jahre alt und im Beſitze der politifchen Rechte 
And, und durch Einkommen ober ihre intellectwelle Bildung 
als notable Bärger Värgichaften geben. Dahin gehören 1) alle 
Mitglieder dee Wahlcolegien für Deyutirtenſtellen, weiche im Des 
gartement wahlfäbig Tind oder ihren Wohnfit haben; 2) bie vom 
‚Könige ernannten unentgeltlich dienenden öffentlichen Beamien; 3) bie 
Dfficiere der Land⸗ und Geetruppen, weiche en retraite find, 1200 
Francs Penfion haben und felt 5 Jahren Im Departement wohnen; 
-4) bie Doctorm und Pieemtiaten einer oder mehrerer Facuitaͤten, 
wenn fie Advocaten ober Antedite bei einem Gerichtshofe oder mit 
dem Unterrichte In einem Zweige ihrer Faeultaͤtswiſſenſchaft beaufs 
tragt find, oder ſchon zehn Jahre im Departement wohnen; ferner 
- De Mitglieder und Gorvefpondenten des Jnſtitutes und: die Mitglie⸗ 
der der übrigen vom Könige anerkannten gelehrten Geſellſchaften; 5) end« 
uuch die Notarlen, . weiche ſchon drei Jahre ihre Amatefunctionen aus⸗ 
üben. Die Praͤfecten fertigen die Liſten aller diefer Faͤhigen und 
ergänzen fie, wenn fie nicht wenigſtene aus 800 Mitgliebern in 
" einem Departement beſtehen, bie ga ofen Babl, aus ben siak 





110 Jury. 


den werden in eine Urne geworfen und daraus’ bie 12 Geſchwen⸗ 
nen herausgegogen. So wie ein Name herausgezogen wird, fat 
zuerft der Angeliagte, welchem einen Tag vorher die Gefhinorenm: 
tifte mitgetheilt wurde, und nad ihm der Staatsanwalt das Mecht, 
ohne Angabe der Gründe, den Genannten zw vecufirem, BES Amict 
mehr als 12 übrig find. Bei umgleicher Baht darf der Angeklagte 
einen mehr recuficen. Wenn 12 nicht recuficte Geſchworene abır 
ſolche, gegen welche nach dem Angeführten kein Netufationseedt 
mehe möglich iſt, vorhanden find, fo werden biefelben beeibäge, um) 
das Gefäworenengericht iſt gebildet, 

Diefe ganze Bildung der Gefhmworenen in England und Frank 
reich bezwecht offenbar, daß aus ber ganzen Mation eine Hinldng 
liche Anzahl folcher Bürger ats MNepräfentanten berfelben, im Ahrem 
Namen gleichfam als ihr oͤffentliches Gewiſſen, wie ausdrüdktich fee 
i ifchen Gerichteformeln erklären, über das Dafen 
der Schuld richten, welche dazu in jeder Hinfidt am Gun 
eignetften find. SPerföntiche Unbeſcholtenheit, ein anſtaͤnc⸗ 
Ausfommen und Vorzüge des Geiftes und der Ausbildung, Abe 
Miſchung aus den verfhiedenen Ständen’ und Berufselaffen der Geb 
Schaft, ihr Wohnfis in der Gegend, wo das Verbrechen gefchah, und ir 
Angeklagte fich befindet, und dazu die Eigenthümtichkeit, dag fe 
fo wie fie vor dem Urtheil aus dem Schooße ihrer Min 
bervortreten, nad demfelben ohne bieibende Gemalt im? bemfelhem 
zuruͤcklehren ſollen die Annahme rechtfertigen, daß fie durch— 
föntiche Tüchtigkeit wie durch Intereſſe für das Waterland mb Be 


f ©; 















Jury 111 


Repraͤſentanten ber vaterländifchen Gerechtigkeit erfcheinen. Der Ans 
aefchuldigte und der anklagende Staat belommen fo ein Gericht, das 
fie felbft als das moͤglichſt unparteiliche anerlannten, das fie ſich ges 
wiffermaßen felbft auserwaͤhlten. | 

Zu dem fo vereinigten Gerichte juriftifher Staatss 
richter und ber Geſchworenen und vor baflelbe gehören nun 
außer dem Angeltagten, den Zeugen, dem Gerichtsfchreiber und dem 
Volke, welches der mündlichen Ssffentlihen Verhandlung anmohnt (fos 
fern nit ein für bie Sitten feandalöfer Kal ausnahbmsweife nur 
allen Advocaten Zutritt geflattet), noch folgende beiden Hauptbeftand> 
theile. Auf der einen Seite der Staatsrichter befinden ſich ein oder 
mehrere Staatsanwälte, welche ebenfalls, wie die Staatsrichter, für 
bie ſtrenge Gefeglichkeit der ganzen Verhandlung, zunddyit aber für die 
Wahrung der Staatsinterefien in derfelben. zu wachen haben. Dabei 
tritt in dem franzoͤſiſchen Accuſationsproceſſe ein Staatsanwalt regels 
mäßig als öffentlicher Ankläger auf und hat als ſolcher befonders auch 
für alle Mittel der Ueberführung des Angefchuldigten zu forgen, wäh: 
send in England in der Regel noch Privatanlläger auftreten. Den 
Staatsprocuratoren und Anklägern gegenüber ftehen dann in England 
wie in Frankreich bie frei erwählten, meift techtögelehrten Vertheidiger 
des Angeklagten, welche vorzugsweife alle für den Angeklagten günftis 
gen Momente hervorheben und, unterftüst von der Deffentlidykeit, für 
. genaues Einhalten der Gefege zu feinen Gunſten machen. Freilich 
follen auch fie niemals wiffentlich Unmahres und Ungefesliches ver: 
theidigen, fo mie vollends der Staatsanwalt im Öffentlichen Intereſſe 
feines Amtes daffelbe befämpfen und natürlidy auch die dem Angeklag⸗ 
ten günftigen Momente anertennen und geltend machen fol. — Doc 
find gerade ihre beiderfeitigen entgegengefesten Rollen der Bertheibis 
gung und ber Anklage und bie dadurch natuͤrlich gegebenen entgegen: 
gefesten Hauptrichtungen für die gerechte parteilofe Entfcheidung we⸗ 
ſentlich und vortrefflih, um die Sache möglichft vielfeitig und vollftän- 
dig von den entgegengefesten Standpuncten auß zu bes 
teachten und alle bedeutenden Puncte berfelben hervorzuheben. Schon 
allein weil bei uns dieſes mangelt und weil bei uns nicht ein Kläger 
und Bellagter vor dem Richter gegenüberftehen, iſt unfer deutfcher 
Eriminalproceß wahrhaft monſtroͤs. Dagegen fordert die Staatsrichter 
und die Geſchworenen ihre unparteilihe Richterpflicht auf, bie natürs 
liche Ausgleihung und die unparteiliche Wahrheit zu ſuchen. Dazu 
aber Haben Richter und Gefchworene eben fo wie die Ankläger und 
Vertheidiger auch das für Aufbellung der Sade herrliche 
Recht, ſtets die nöthigen Kragen an den Angefhuldigten wie an die 
Zeugen zu ftellen, oder durch den Präfidenten ftellen zu laſſen, demnach alle 
Mifverftändniffe zu befeitigen und über dunkle Puncte fi) und Ans 
dern ſogleich Licht zu fchaffen. Sie fehen und hoͤren Alles vollftändig 
und ſelbſt lebendig vor fih, haben nicht, wie die Richter bei unfern 
Relationen und oft fehr einfeitigen Auszügen aus einfeitigen todten 








112 Fury. y 


Protocollen nur das durch Dritte vielleicht unrichtig Aufgefagte umbau 
vollftändig, vielleicht uncichtig Mitgetheilte vorlefen zu hören „ohme bie 
Angefhuldigten und Zeugen mit ihren eigenen Worten, Mienen mb 
Geberben jemals felbft zu fehen, zu börem, oder um am 
Aufſchluͤſſe angehen zu können, um Auffhläffe, die-oft mehr 
als Alles das wahre Licht geben. Um aber die Gefchmorenm 
und die anderem Richter in diefern Streben nach der parteilofen Wahr: 
heit über Schuld oder Nichtſchuid zu unterſtuͤden, bat der, Präfibent 
dee Affife nach beendigter Verhandlung in Kürze mit möglichfter Un 
parteilichkelt, Ruhe und Klarheit die Nefultate der ganzen Werken 
tung und die für und gegen die Anfhuldigung fprehenden Puncite 
wiederholen. - Alsbann uͤberreicht er den Gefchworenen Ichriftkichdir 
Fragen über die Begehung oder Nichtbegehung der verbrecherifäen 
Thatſache und uͤher diejenigen Thatumſtaͤnde, welche gefeglich met 
lich find, um die Hauptthat als ſchwerer oder als milder ftrafbar bare 
feiten. 

Nach folder reifen und vielfeitigen Vorbereitung m 
Bildung einer Ueberzeugung ziehen ſich die Geſchworenen im ihr befen 
deres Berathungszimmer zurüd. Sie nehmen dahin aufer dem feheif 
lichen Fragen und ihren Auffaffungen: der Verhandlung auch, au rim 
zeine Momente nochmals prüfen zw koͤnnen, alle über bie bei 
Thatſachen gefammelten Documente mit, Sie haben dann noch umie 
einander ſich über ihre Zweifel gegenfeitig aufzuklären und zu Derflie 
digen und fid endlich in dem gewiffenhaften Beſchluſſe über die Schu 
oder Nichtſchuld zu einigen. Sein endliches Votum foll übrigens Ih 





Jury. 118 


Schwurgericht ſelbſt beobachten konnte, erfuͤllt die ſtete aͤußerſte Sorgfalt 
fuͤr jenen großen Grundſatz mit Bewunderung. Da haben die Gerichte 
nichts von der tyranniſchen oder polizeimaͤßigen Haͤſchermanier an ſich. 
Da hoͤrt man die vorſitzenden Lords Oberrichter, ſtatt gewaltſamen oder 
liſtigen Draͤngens zur Erhaſchung eines Geſtaͤndniſſes, die Angeſchul⸗ 
digten ſogar vaͤterlich warnen, ſich nicht durch Ueberraſchung zu falſchen 
Geſtaͤndniſſen uͤbereilen zu laſſen. „Da iſt es“ — um mit einem Be⸗ 
richterſtatter der Allgemeinen Zeitung (vom 21. Aug. 1840) 
uͤber die neueſte gerichtliche Verfolgung der Chartiſten zu reden — 
„ein immer neues erhabenes Schauſpiel, wie bie hoͤchſte Gewalt 
„ſich ſelbſt durch kleinliche Foͤrmlichkeiten gegen Willkuͤr bewahrt, wie 
„man ſelbſt die Proceſſe gegen Maͤnner, welche die oͤffentliche Ruhe 
„ſo groͤblich verletzt haben, und denen man noch dazu die frevelhafteſten 
„Abſichten in Bezug auf die beſtehenden Eigenthumsrechte zuſchreibt, mit 
„der majeftätifhen Gelaſſenheit und Leidenſchaftsloſig— 
„Leit führen ſieht, welche diefe Verhandlungen in Monmuth 
„bezeichnen. Auch iſt“ — fo fährt immer noch jener Berichterftatter 
fort — „auch ift diefe Gelaffenheit nicht auf den Gerichtshof beſchraͤnkt; 
„die ganze Nation, obgleich alle Blicke auf das dortige Verfahren ge: 
„ichtet find, nimmt Theil daran, was ſich ſchon dadurch aͤußert, daß 
„ſelbſt die wuͤthendſten Zorpjournale bie ganze Zeit über kein Wort fallen 
„laſſen, durch das die Lage der Schuldigen verfchlimmert werben koͤnnte.“ 

Wie viele Menfchen unter uns haben wohl aud nur ein beut- 
liches Gefühl von biefer göttlichen, jeden unbefangenen Beobachter mit 
Hochachtung erfüllenden Gerechtigkeit in der Sefinnung eines großen 
Volks, welche die herrlichſte Frucht des Schwurgerichts und 
zugleicy der Eräftigfte Damm gegen alle Wogen ber Keidenfchaften, der 
ftärkfte Schirm der gefeglichen Ordnung wie der Freiheit ift. 

Bet ber franzöfifchen Jury genügte früher — und diefes gilt noch 
in den deutfchen Rheinlanden — eine Mehrheit blos von einer Stimme, 
alfo die Mehrheit von 7 Gefchworenen gegen 6 Stimmen, nicht zur 
Verurtheilung, fondern alsbann flimmten die Staatsrichter mit über 
die Thatfrage, und zwar fo, daß vor dem Geſetze vom 24. Mai 1821 
ihre Stimmen mit denen der Geſchworenen zufammengezählt und durch 
die Mehrheit entfchieben wurde, fpdter aber die Mehrheit der Staats: 
richter die Losfprechung entfchied. Dieſes veranlaßte, daß die Geſchworenen 
‚in ſchwierigen Faͤllen, wenn bei ihnen die Ueberzeugung für bie Schuld 
überwog, aber noch nicht über jedes Bedenken erhoben war, öfter wohl 
gerne durch eine Verurtheilung von 7 gegen 5 bie Entfcheibung in die 
Hände ber Staatsrichter Iegten. Nach dem revidirten Code d’instruc- 
tion von 1832 aber iſt in Frankreich diefes aufgehoben, und es 
werben zur Verurtheilung 8 gegen 4 Stimmen erfordert; nach den 
Geptembergefegen jedoch wieder nur.7 gegen 5. Dagegen Binnen bie 
Geſchworenen in Faͤllen, wo ihnen die Schuld zwar unzweifelhaft ift, 
aber ihnen die Verurteilung durch die befonderen milbernden Umflände 
erſchwert wird, mit gleicher Stimmenmehrheit das Vorhandenfein mil 

Gtaats⸗ Lexikon. IX. 8 





? * 


114 Jury. 


dernder Umftände ausfprechen, wobei denn bie Staatsrichtet eine geringen 
Strafe auszufpeehen haben, Im England haben die Gefd u 
ähnlichen ſchwierlgen Fällen, we ihnen bie. Thatfache ber | 
ber betreffenden Danbfung zwar gewiß if, ihnen aber doch 
fonderer Umftände der verdtecheriſche Charakter und die S 477 
Handlung bedenklich ſcheint, auch noch das Recht, ein. fogenamnis 
Specialverdict zu geben, buch welches fie, ſtatt ein Schulbig ausw 
ſptechen, blos erkläsen, daß die Thatfache wahr fel, ums bem. zedhtd: 
gelehrten Stgatsrichtern die. Entſcheidung der Sache anheimzuftellen, 
Gegen etwaige Mifariffe fhüsen außerdem noch ‚andere Einrid 
tungen. Hierhin gehören nicht blos die, Gaffationen des ganzen 
im Falle der. Berlegungen irgend einer der wefentlichen — 
ſchriften bei dem Verfahren und bei falfcher richterlicher 
des Geſetzes. Dieſe Caſſation kann von dem; Staatsanwalt ober 
Angeklagten gefordert werden und hat, wo fie erlannt wird, bie 
meifung der Sache an ein neues. Gefchworenengericht zus Bolge, mc 
welchem, die, ganze Verhandlung. ſich wiederholt. Auch wenn ein Gr 
fhmormer etwa. durch Privatgefpräc, duch eine Bectüce odet durch 
Entfernung - während. ber Verhandlung, fo, wie im, geheimen 
öfter dev Richter, eine Unterbrechung feiner angeſttengten Nufmerffan 
für die ganze Verhandlung zeigte, wich. fogleic. dad _gamze Bier 
fahren. caſſirt. Zur befonderen. Garantie, aber, daß die 
nicht ein Stenferkenneniß ausſprechen muͤſſen, wo file am 
Schuld glauben, und daß nicht etwa die Gefehmorenen im einem 
einzelnen Falle der Unſchuld durch eine ſolche Weruerheili ſchaden 
Eöunten, bei welcher die wiſſenſchaftlichen Richter ernfiliche Bi 





ihrer Gerechtigkeit ‚haben , fteht dem Lepteren bei einem. ſolchen verusr 
thellenden Exfenntnik in England. und, Srankreich das. Suspen 
ftonsrecht zw, vermoͤge deſſen fie die Sache an ein. neues J 
tenengeticht bringen. Auch kann das, Gericht, falls es das Mh 





Jury. 118 


um eine Verurtheilung auszufprehen, für Volk und 
Regierung die bentbar größte Gewißheit und Ueberzeu: 
gung von des Angeklagten wirtliher Schuld bewirkt, 
widrigenfalls derfelbe losgeſprochen werde. 
Einerſeits follen und können allerdings die Geſchworenen über bie 
Wahrheit oder Unwahrheit der angefchuldigten Thatfache ſich ein Urtheil 
bilden, entweder bie felte, innige moralifche Ueberzeugung, daß ber Ans 
gefingte unzweifelhaft des Verbrechens fchuldig fei, in welchem Falle fie 
ihn ſchuldig erklären, oder die, daß fie ihn für unfchuldig halten, ober 
endlich die, daB auch nur nody Zweifel an biefer Schuld Statt finden, 
in welchen beiden letztern Fällen fie nad, ihrem Eide das Nichts 
ſchuldig ausfprechen follen. Sie koͤnnen darüber urtheilen. Denn 
es iſt diefe Thatſache der Schuld fo unzmeifelhaft ein Gegenftand ber 
allgemeinen menfhlihen und bürgerlichen Erkenntniß, daß 
nicht blos Jeder ohne alle juriftifche Bildung wirklich täglich mit Ueber: 
zeugung darüber urtheilt, fondern daß auch eine Verurtheilung bes 
nicht juriftifchen Verbrechers rechtlich unmoͤglich, daß ihm die Handlung 
ur vollen Schuld gar nicht zurechenbar waͤre, menn er nicht felbft 
—* die Schuld hätte urtheilen koͤnnen. Es find ficherlich die Ge⸗ 
ſchworenen, zwölf der achtbarften, vertrauenswürbigften Bürger aus 
verfchiedenen Ständen und Lebensverhäitniffen, mit gefundem praftifchen 
Sinn und Verſtand und vielfeitiger Erfahrung über bie Lebensverhaͤlt⸗ 
niffe, über Bedürfniffe, Neigungen, Beflrebungen und Handlungsweiſen 
ihrer Mitbürger, zu einem folchen Urtheil über eine ihnen fo vollftändig 
dargelegte Thatſache des Lebens volllommen befähigt. Das allgemeine 
menfchliche Intereſſe und ihre eigenen praktifchen Bebürfniffe in ihrem 
Berkehre mit Menfchen aller Claſſen, ihr tägliches Bebürfniß, ſich und 
die Ihrigen vor Verbrechen, wie vor Verbrechern zu fhügen, haben fie 
längft vor der Affifenfigung bei Hunderten von verfchiedenen Verbrechen 
und andern Handlungen ihrer Mitbürger dahin geführt, die verfchiedenen 
Ausfagen und Gründe für und mider die Wahrheit der Ausfagen und 
Anzeigen dee Schuld oder auch für die Wahrheit der Ableugnung vers 
bächtigter Perfonen zu einem moralifchen Uebergeugungsurtheil abzumägen 
oder zu combiniren. Alle ihre Verhältniffe, fo 3. B. ihre Verträge 
mit ihren Pächtern, Handlungsbdienern, Knechten u. f. w., zwingen fie 
ja täglich zu ernftlihen Prüfungen von ſolchen Verdachtsgründen und 
von Ausfagen über Schuld oder Unfchuld beftimmter Perfonen. 
Dennoch Tann und foll ihre Urtheilen bei der Affife zur möglichften 
Bielfeitigkeit und Vollſtaͤndigkeit auch durch die juriſtiſche Bildung 
unterflägt werden. Kann diefe ndmlidy etwa mit einem befonderen 
Schatz von Erfahrungen und von Scharffinn vielleicht in Beziehung 
auf einzelne Umflände und Ausfagen den Schlüffel zur Löfung einzel⸗ 
ner Verroidelungen und Raͤthſel, ober richtige: Gombinationen und 
Schluͤſſe finden, die, fobald fie einmal gefunden und richtig find, neue, 
num allgemein verftändliche, Lichtvolle Anfichten über den wahren Bus 
fammenbang der Sache eröffnen, können ſie in Bejtchung auf 


116 Jury. 


ſchuldhaften Charakter ber Handlung, deſſen Erkenntniß mh 
dem. Obigen an ſich auch ſchon Gemeingut der. Bürger fein doch 
ein etwa moͤgliches Mißverſtaͤndniß aufhellen — nun fo Eönnen und 
merden natürlich verftändige praktifhe Männer als Geſchworene ‚nom 
dieſen Haren Nefultaten für ihr Urtheil gerade fo gut Gebraudy machen, 
als ‚hätten fie Beides aus ſich felbft erzeugt. So num bemusem fie bie 
gegenfeitigen Vorträge der juriſtiſch gebildeten Anktäger und 
füt und gegen bie Gründe der Anfhuldigung, und den ruhig wermit: 
seinen, die Cinfeitigkeiten aufhellenden Vortag des Präfibenten zur 
Bildung ihret moralifhen und bürgerlichen Ueberzeugung von ber 
heit ober vom der, Ungewißheit der verbrecheriſchen Thatfachen. 
Anderfeits bebarf es allerdings der juriftifchen Bildung fiir die 
Aufgabe der Staatsrichter, für ihre Auslegung und Handhabung aller 
geſeblichen Vorſchriften uͤber das ganze Griminalverfahren und diber dir 
Beſtrafung des ſchuldig erkannten Werbrechers, über die Aı fung 
des Grades der Strafbarkeit und zur Seftfiellung ber Hierzu 
entfheidenden thatfählihen Fragen, melde bie Gefdhisons 
nen zu löfen haben, Und auch fir mögtichft vielfeitige Löfung biefer 
Thatfragen it nad dem zuvor Bemerkten der Mitwirkung ber Sucifim 
und Staatsrichter ein bedeutender Spielraum gegeben, Aber es iii 
unendlich heilfam, daß, in Beziehung auf biefes Urtheil über die 
Fächliche Schuld und in Beziehung auf die ganze Verurtheilung ade 
Losſprechung der umvermeidlihen natürlichen Stanheseinfeitigkeit, der 
nur zu oft durch die Gelehrfamkeit felbft verdeckten theoretifchen Spike 
findigkeit und befangenen Stimmung der dem Gelehrtenftande ange 


hörigen befoldeten Negierungsbeamten ein mwohlchätiges G 

und eine Ergänzung ‚gegeben werde. Diefes nun gefcjieht durcch die 
Mitwirkung der Gefchworenen, ihres unbefangenen gefunden Menfe 
finnes, ihrer frifhen, vielfeitigen, praktifhen Lebenserfahrung, ber 
Beurtheilung vom’ Standpuncte des. freien. Bürgerthunies aus, von 





Jury. 117 


ſchworenen gehen als freie Mitbuͤrger des Angeklagten zwar aus dem 
regierten Wolke hervor, und Ihre Richtung wuͤrde zundchft mehr auf 
Schutz ber Freiheit und ber Mitbürger gehen; aber durch ihre forgs 
fättige Auswahl nad dem Vertrauen ſowohl ber Regierung ale bes 
Angeklagten und durch ihre Thellnahme an der Ausäbung des wichtig» 
ſten aller bürgerlihen und Regierungsacte zum Vortheil und Schuß 
der Orbnung tie ber rechtlichen Freiheit find fie gewiß zugänglich für 
alle wuͤrdigen, richtigen Gefichtspuncte der richterlichen Staatsbeamten 
und für die rechte Vereinigung mit ihnen in ihrem wichtigen Geſthaͤfte. 
Die juriſtiſchen Beamten wären zwar in einfeitiger Abfonderung ben 
großen Einfeitigkeiten des gelehrten und juriflifchen Standes ausgeſetzt, 
und vollends als befoldete Diener der Regierung, welche ganz natürlich 
zunaͤchſt mehr auf Ordnung und Untermürfigkeit,- ale auf Frelheit 
‚gerichtet if, eben fo auch den gefährlichen Einfeitigkeiten einer bloſen 
Beamtenrichtung. Aber da fie zugleich auch eine unabhängige richters 
liche Stellung haben, und auch an ihre eigene Staatöbürgereigenfchaft 
durch das Schwurgericht lebendig erinnert werden, fo find fie Im Ver⸗ 
eine. mit den achtbaren Repräfentanten ihres Volks ihrerſeits ebenfalls 
zugänglich ben würdigen bürgerlichen Gefichtspuncten und einem vers 
einten Wirken für die wahre, volllommene, allfeitige 
Gerechtigkeit. Ganz fo wie bei der ſtaͤndiſchen Verfaf: 
fung, welheim Shwurgerihtihren Srund: und Schluß: 
ftein erhält, die fiändifhe Mitwirkung bei gefeslihher 
Seftftellung des gemeinfhaftlihden Rechts, fo wird im 
Gefhmorenengeriht der wichtigfte Theil der Handha⸗ 
bung dieſes Rehts, fo wird das Endurtheil über Ehre, 
Leben und Freiheit der Bürger, auch bier unter fleter 
Leitung der Regierung, das Refultat des freien, fid 
gegenfeitig bewahenden, ergänzenden und unterftü> 
benden Zuſammenwirkens ber Regierung und des Volks, 
ber Regierungsbeamten und ber freien Bürger, bes 
juriftifhen Wiffene und bes gefunden Menfhenvers 
ftandes. So fordern es die Natur und bie Harmonie 
des Lebens eines freien, eines gefunden Staats: und 
Rechts⸗Organismus. 

Dieſes Alles aber wird erſt in ſeiner Vollkommenheit verwirklicht 
durch die ſtets offentliche und muͤndliche Verhandlung 
des ganzen Proceſſes, in welchem, in fo gaͤnzlichem Gegenſatze 
mit unſerem geheimen Inquiſitions und Relationsproceſſe bes bloſen 
Beamtengerichts, alle juriſtiſchen und buͤrgerlichen Theilnehmer des Ge⸗ 
richts den Anklaͤger, den Angeklagten, ſeinen Vertheidiger und alle 
Zeugen, ihre Worte und ihre Mienen mit eigenen Augen und Ohren 
ſelbſt und vollſtaͤndig ſehen und hoͤren, und ſich durch beliebige 
Fragen ſogleich jede Luͤcke ergaͤnzen, jede Zweideutigkeit beſeitigen koͤnnen 
und ſollen. 

Alle dieſe Perſonen ſelbſt aber ſtehen und ſprechen Angeſichts des 





18 . Sum. 


Ehrfurcht gebletenden Staats: und Nationalgeridhts. Cie ſtehen wie 
allen Richtern felbft gegenüber fowohl der wachſamen © 

wie dem Kreife zuhörenber Mitbürger, welche theilnehmend, moraüſq 
bewegt find von der großen, twichtigen, lebendigen Handlung und von 
ben im derfelben angeregten hoͤchſten Gefihtspuncten und 1 
aller Bürger, des ganzen vaterländifchen Lebens und feiner 

Sie fehen ſich gegenüber und bewacht von der öffentlihen Weir 
nung des Vaterlandes. Menſchen, fonft falt unfähig der Scham 
und höherer Regungen, werden hier von benfelben ergriffen. Die 
verfiodteften Verbrecher, die im geheimen, lifligen In: 
quiſitionskriege Jahre lang liftig ihre Schuld verftedt 
hätten, geflehen oder verrathen fie unwilikürlich, und 
Telbi der. Falfhen Ausfagen und Beugniffe Won 
wenn fie nicht verſtum men — werden Lügen geftraft buch 
bie Geberden, Mienen und Widerfprüdhe, durch bie Am 
fammenhangstlofigkeit und ihren unmittelbaren, Teben: 
digen Eindrud auf die VBerfammiung, durch bie Verrärher 
des böfen, deserfhütterten Gemiffens. Im folder Tebendi 
gen Verhandlung und in dem freien geordneten Kampfe, bei: der | 
Mede und Gegenrede zur DVertheidigung aller fi gegenüberftehendm 
Rechte und Intereſſen von den verſchiedenſten Standpuncten aus, follen 
dieſe ſaͤmmtlich in der Tebendigen Wahrheit und Gerechtigkeit ſich auegleis 
chen oder ihr Gericht; finden. Aus dem vollftändigen Gegenkampfe aller 
Mittel der Anklage und. der Vertheidigung muß in dem unparteilfcen 
Urtheile des fo vollftändig und fo vielfeitig befegten vaterlämbäfhen 
Gerichts — fo, weit es unter Menfhen möglich ift — der 


endliche Sieg der Wahrheit und Gerechtigkeit hervorgehen. 

Aber die öffentliche und mündliche Verhandlung gibt nicht bios 
alten Ausfagen und Anzeigen durch Mienen und Geberden mehr, Wahr 
eit und Treue, und zugleich allen Richtern eine ächtere und zum 








Jury. 119 


Es ift bie wahre, ehrliche Ueberzeugung bee allfeitig aufgeflärten, un: 
parteitfchen Mepräfentanten des ganzen Volles und Staates. 

Das aber, daß vollends bie Verurtheilung eines Bürgers 
bier kaum je zu denken ift, ohne dag ſowohl die mifjenfchaftlichen . 
Beamten als die Geſchworenen fie für gerecht halten, biefes ift klar. 
Die Staatsprocuratoren felbft haben die Pflicht, die Anklage 
ganz oder theilweife fallen zu laflen, fo weit ihnen die Verhandlungen 
die Unfchuld ber Angellagten in's Licht ftellen. Nicht blos der Ver⸗ 
theidiger macht alle Gründe für die Unfchuld und die Zweifel geltend, 
auch der Staatöprocurator foll die ihm gemichtig fcheinenden hervorheben 
und anerkennen. Der Präfident hebt fie in feinem Vortrage natürlich 
eben fo wie die für die Schuld hervor. Und ſchon an ſich laͤßt ſich gar 
nicht erwarten, daß alle zwoͤlf ober mindeftens fieben Gefchworenen 
da, wo die wiflenfdhaftlichen Staatsbeamten mit dem Vertheibiger übers 
zeugt find, dee Angefchuldigte müfje wegen Ungemwißheit der Schuld los⸗ 
gefprochen werden, vielmehr verurtheilend ausfprechen, daß ihnen nad 
ihrer innigen Ueberzeugung feine Schuld unzweifelhaft fei.” 

In Frankreich wie in England haben es wirklich die Geſchworenen 
auf ihren Eid betheuert, nur dann zu verurtheifen, „wenn fie von ber 
Schuld innig überzeugt find”, alfo Leinen Zweifel haben. Shre Un» 
parteilichleit verbürgt die Auswahl, unb daß fte, dag mindeſtens fieben 
von ihnen lieber ihrem ide zufolge auch einen noch fo fehr Verdaͤch⸗ 
tigen losfprechen, als meineibig bie Verurtheilung eines Unfchulbigen 
auf ihre Gewiffen nehmen, dieſes verbuͤrgt die menfchliche Natur. 
Sollte aber das Gericht ihre Verurtheilung feiner Ueberzeugung über 
ben Beweis bee Schuld mwiderfprechend finden, fo bleibt ihm die Pflicht 
und das Recht dr Suspenfion, um mit Gaffitung des Urtheile 
die neue Prüfung und Entfcheidung einer andern Affife herbeizuführen. 

So iſt es fonnenklar, daß der Natur der Sahe nad aus 
vielen Gründen wenigſtens falfhe VWerurtheilungen ein gut 
eingerichtete® Schmwurgeriht minder herbeiführen kann, als ein 
blos juriſtiſches Gericht. Den Gegnern bleibt daher nur der Vorwurf 
ber Gefahr zu vieler Losfprechungen, fo wie überhaupt ber Vorwurf einer 
zu großen Sicherung der angellagten Bürger. Diefem Vorwurf 
aber fegen fiegreich die freien Briten für's Erſte den natürlichen Grund⸗ 
fag, auch der heiligen Schrift wie des römifchen Rechts entgegen, daß 
es beſſer und auch für alle ehrlihen Bürger fichernder ift, wenn im 
Zweifel Leber Schuldige ſtraflos bleiben, als dag ein unfchuldiger 
Bürger Namens ber Gerechtigkeit zu Grunde gerichtet werde. Sie 
fegen für’6 Zweite entgegen: daß jene Sicherheit gegen Kerker⸗ und 
Juſtizmorde ihnen als freien Männern unendblih wichtiger 
und für ihr Vaterlands- und Freiheitsgefühl echebender fei, als bie, 
welche ettva dadurch gewonnen wäre, daß auf Koften derfelben einige 
Verbrecher mehr geflraft würden. Sie können ihm endlich drittens 
die fiegreiche gewaltige Thatſache entgegenfeßen, daß in England bie 
Öffentliche Sicherheit in unendlich fhwierigeren VBerhältniffen 





120 Jury · — 


dennoch ungleich beſſer gehandhabt wird, "als in faſt allen Laͤndern ber 
Erde, Daß diefes mit ungleich größerer Sicherung ber In 
ſchuld und ohne ben zehnten Theil der traurigen, theuren 

ohne die Verlegungen unferes Inquifitionsprocefies gefchehen kann, das 
iſt der Höchfte Triumph ihres Schwurgerichts und das inappelkabie 
Berdammungsurtheil unferes Verfahrens, feiner uns 
deutfche Juriſten fo tief befhämenden Stümperhaftigkeit und: Ange: 
vechtigkeit. 

Einleuchtend aber ift es zugleich, daß das Schwurgericht, während 
es wenigſtens ſolche Kerker⸗ und Juſtizmotde wie die oben erzählten 
unmöglich macht, und überhaupt die größten Gefahren der Verurtheitung 
nad) der moralifchen Uebergeugung eben fo, wie die vielen und langen 
deutfchen Unterfuchungsverhaftungen, Kerkers und Inquifitionstorturen 
befeitigt, doch aud fo manche unfinnige Losfprehungem Öffentlicher 
Verbrecher ausfchließt, welche anderwärts wegen Mangels der fogenannten 
juriftifchen Beweiſe neben allen Kerker- und Unterfuhungsleiben Uns 
ſchuldiger und neben den ungerechten Verurtheilungen umdermieiblih 
Statt finden müffen. 

Ueberhaupt aber — durch Erwägung des ganzen hier. angebeuteten 
Verfahrens — erhalten die großen Worte, twomit noch heute in England 
der Angeklagte nach alten Gerichtsformeln das Geſchworenengericht 
ſich fordert: „Ich verlange duch Bott und mein Vaterland 
„ge rich tet zu werden”, und darauf zue Antwort erhält: „Sieh 
„bier find vedlihe Männer, die, dein Volk repräfenticen‘ *), ihte volle 
Bedeutung. Alle freien germanifhen Volksſtaͤmme hielten «6 mad 
Zacitus mit ber Freiheit unvereinbar, daß ein einzelner Mann, 'eine 





einzelne ftändige Behörde Gewalt habe und Herr fei über Leben und 
Freiheit des freien Mannes, ihn feffeln und tödten bürfe. So nun will 
auch nod) heute daß freie germaniſche Volk der Engländer und jedes Watt, 
das Freiheit und Schwurgericht hat ober fordert, Feine einzelne fkdimbige 


Sur. . 121 


Beine einzelnen Menſchen, welchen er bie Gewalt über Lelb und Leben 
über ſich zugeſtehen müßte. Mur Gott und die vaterländifche Gerech⸗ 
tigkeit find feine Richter. Es ift diefes dafjelbe ewige Grundgejeg der 
Kreiheit, nach welhem Cicero mit Römerflolz es preift, daß über 
freie Römer nur Mitbürger als Richter fprechen dürfen, bie nach ihrer 
Zuftimmung zu Gericht fisen *). 
Die höchite Idee der flrafenden Gerechtigkeit follte nach dem tiefen, 
gefunden Sinne diefer freien Völker bei jener Bildung eines fo viel 
möglih von dem Verbrecher felbft mit gebildeten und gebilligten 
Gerichts von Volksgenoſſen dadurdy vermwirkiiht werben, daß ber 
Angeklagte nicht als Gegner von feindliher Gewalt zur Rache 
verfolgt, nicht ald Sklave vom dbespotifhen Herrn ge> 
zuͤchtigt, fondern daß feine That durch die Gottesftimme des eigenen 
Gewiſſens und bes öffentlichen Gewiſſens feines Volle gerecht ge» 
tichtet, daß fo die Schuld wahrhaft gefühnt und von ihm und dem 
Volke hinmeggenommen würde. In diefem Sinne nimmt ein folches 
Urtheil des Vaterlandes, fobald Alles gefchehen, was menſchliche Weis: 
heit zur Verhütung des Irrthums leiſten konnte, das moͤglichſt 
größte Vertrauen der Gerechtigkeit in Anfprud, die für 
feine heilfame Wirkung faft noch wichtiger ift, als die größere materielle 
Gerechtigkeit felbft e8 war. Es nimmt die Natur eines Volks⸗ ober 
Gottesurtheild an und erhält eine unendlich fittliche Kraft. Die Wich⸗ 
tigkeit des Schwurgerichts für politifche Sreiheit, und mie es zugleich das 
heutige höchfte Sittengericht und die Schule und Stüge wahrer politifcher 
Bildung, Gefinnung und Freiheit und des Gemeingeiftes ift, kommt hier 
noch gar nicht in Betraht. Schon aus der criminaltedhtlidhen 
Vortrefflichkeit wird die einftimmige Begeifterung erklärt, womit 
alle Völker, welche, fo wie auch unfere deutfhen Rheinländer, 
einmal das Schwurgeriht im Leben kennen lernten und er- 
probten, an biefem Sünftitute wie an feinem andern unb. als 
an ihrem Eoftbarften Kleinode hängen, und nicht minder die einftimmige 
Forderung beffelben von allen Völkern, welche, nachdem fie das un- 
natürliche entgegengefegte Verfahren erprobten, zum Bewußtſein der 
Freiheit erwachten und von dem Weſen des Schwurgerichts Kunde cr: 
hielten. Es mird begreiflih, mie felbft der große Hume **) mit 
feinem gruͤndlich und in Ealter Parteilofigkeit prüfenden, ja zur Skepſis 
geneigten, tiefen und praktiſchen Verftande, wie biefer nichts weniger 
als freiheitsſchwaͤrmeriſche Hume, der vielmehr fein Vaterland Lieber 
als abſolute Monarchie, denn als Republik fehen will, dennoch das 
Schwurgericht „eine der größten und herrlichſten Erfindungen bes 
„menfchlichen Geiſtes nennen Eonnte; eine Einrichtung, welche von 
„allen, die je der menfchlihe Scharffinn erfann, am Beften berechnet ift 
„für die Erhaltung der Freiheit und die Herrſchaft der Gerechtigkeit.” 


*) Pro Cluontio 43. 
**) &, Eapitel 2, feine engliſchen Geſchichte. 






122 Sun. 


W.. Gründe für das Shwurgeriht. 1 Erfahren 
beweife und Befeitigung blofer Sheingrändu.— er 
wohl fein ganz ſchwacher Erfahrungs: und Auctoritätsbeneis. 
Schwurgericht und gegen unfer Beamtengericht, daß bekannttich a 
alle Voͤller, bei welchen das Schwutgericht heimiſch wurde. malche u 
mit feinen Folgen lange und nad) allen Seiten: hin im Leben serie 
ben, welche es auch mit dem entgegengefehten Verfahten prüfenib wer: 
gleichen konnten, mit bewundernswerther -Einftimmigkelt das Sham 
gericht als dem Foftbarften Schab unter allen ihren Inflitutionen pic: 
fen, ja den Gedanken, es gegen bie ungegengefett — 
vertauſchen, mit Empoͤrung zutuͤckweiſen, während umgekehre bie 
fer, bei welchen dieſe andere Einrichtung von lange het ein in 
ſobald fie zu freier Sprache gebracht werden: — fo wie, bie 
tionellen beutfchen Ständevsrfammiungen das Schwwurgericht  Derfängen, 

Ein ſolches Urtheil der Völker ift um fo. bedeutungsnoller,; mil 
bei ihnen der Vorzug der einen oder anderen Einrichtung ſich banal 
beftimmen wird, bei welher am Wenigften Mängel fichtbat 
murden. Nun bleiben aber bei dem geheimen Verfahren bie 
brechen ungleich ‚mehr verborgen, als bei bem 
Scwurgerichte, fo daß am ſich bei der Vergleihung die Uxtheite ft 
das letztere noch weit weniger günftig ausfallen müffen, als s 
Dumme und umerfahrene Menfchen halten ja oft aus 
Gründen die Buftände geheim regierter abfolutiftifcher Länder für 
und glüdticer als die der freien Staaten. diefen 
Jeder alsbald; alle Schäden und Gebrechen. Die 
Volksredner, der Petitionen und der freien Preffe bringen —— 
intereſſanteren und zut Ruͤge und Verbeſſerung auffordernden 
gehenden Mißgriffe als das gleichfoͤrmiger bieibende ſtille S— 
Sprache, haͤufig felbſt mit Uebertreibungen. Da tufen nunjene 
ren: ſeht, wie viel ſchlimmer es iſt in England, in der 








Jury. 128 


Und doch Hätte in biefen Ländern ber Umftand, daß ihnen biefes Ins 
flitut von den fremden Eroberern mar aufgebeungen worden, gegen 
daffelbe verftimmen koͤnnen. Auch Eonnten die Bewohner diefer Pros 
vinzen recht wohl die früher bei ihnen und die noch jett im ihren Haupt⸗ 
und Nachbarländern herrfchende deutfche Berichtseinrichtung mit dem 
Schwurgerichte vergleihen. Dabei befiten fie das Schwurgericht fos 
gar nicht im der in Frankreich ſpaͤter wefentlich verbefierten, fondern 
nur in ber mangelhaften Napoleonifhen Geſtalt. Den Rheinpreus 
fen wurde fogar feit 1819 das, was felbft fonflige Gegner am 
Schwurgerichte allein als vortrefflich preifen, die Sicherung ber bürgers 
lichen Freiheit in politifchen Proceſſen durch daſſelbe, entzogen. Kür 
polttifche Vergehen und Vergehen der Beamten wurbe das Schwurgeridht 
aufgehoben. Dennod, auch blos als reines Rechtsinſtitut für die uͤbri⸗ 
gen Griminalproceffe, bewachen fie daſſelbe mit eiferfüchtiger Liebe. 
Lediglich von diefem criminalcechtlihen Standpuncte aus erweiſ't andy 
defien Vortrefftichleit das berühmte Gutachten der koͤnigl. preuß. 
Immediatjuſtizcommiſſion über das Befhmorenengeridht 
1819, die befte Schrift, weldye über das Schwurgericht als rein cris 
minalrechtliches Inftitut je gefchrieben wurde. Die Geſchichte biefes Gut⸗ 
ahtens aber iſt zu merkwürdig, um fie nicht bier mit einigen Zügen 
zu geben. 

Als einige Zeit nad) der Verbindung der Rheinlande mit Preußen 
die Wünfche der Mheinbemohner für die WBeibehaltung des Schwurge⸗ 
richts und des Öffentlichen mündlichen accufatorifchen Verfahrens in 
Widerſpruch kamen mit dem Franzofenhaffe, der alled von den Zranzos 
fen Eingeführte, auch mo es urdeutſch war, verfolgte, fo wie mit 
dem Stolze auf die altpreußifche Juſtizeinrichtung und mit ben fehr 
begreiflihen Wuͤnſchen, die rheinifche Gerichtseinrihtung möge mehr 
mit der preußifchen als mit der franzöfifchen Monarchie uͤbereinſtimmen, 
da ergriff die Regierung das weiſe Mittel, durch eine tüchtige Coms 
miffion die Güte oder Mangelhaftigkeit der xheinifchen Einrichtungen 
und die wahren Wünfche der Bewohner an Ort und Stelle unterfus 
hen zu laſſen. Damit aber diefe Prüfung deſto grümblicher und alls 
feitiger fei, erhielt die Commiſſion zugleidy auf längere Zeit bie mini» 
fterielle Leitung der Juſtiz in den Rheinprovinzen, und zugleich hatten 
die einzelnen Commiſſionsglieder alle Gerichtsbezirke zu bereifen, um 
überall an Drt und Stelle von den Bürgern, Beamten und Advocas 
ten Nachweiſungen und Mittheilungen über die Gerichtseinrichtungen 
und über die Wünfche für oder gegen diefelben einzuziehen. Die Coms 
miffion war zufammengefebt aus fünf der tüchtigften, in den hoͤchſten 
Gerichts: und Staatöftellen erprobtejten juriftifhen Staatsmännern ; 
unter ihnen war Hr.v. Sethe, der muthvolle Vertheidiger feines Landes 
gegen Napoleon, jetzt erſter Präfident des Caſſations- und Oberrevis 
fionshofes in Berlin. Aber fie beftand aus nur zwei Nheinpreus 
gen und aus brei Altpreußen, drei Mitgliedern ber hoͤchſten alts 
preußifchen Gerichtshoͤfe. Diefe waren urfprünglich begreiflih gegen 



















124 Jury. 


das angeblich frangöfifde und für das deutſche und veeofifie Berk 
verfahren eingenommen, fo daß die Majorität der 
gegen das Schwurgericht ſchon zum Voraus verbürgt ſchien. Und ben 
noch: was gefhab? Nachdem jene fünf Männer Jahre lang an Du 
und Stelle durch eigene Anfhauung und Gefcäftsführung und bie au 
nauefte Erforſchung der Erfahrungen und der Wuͤnſche aller Clafen 
des Landes bie rheiniſchen Einrichtungen geprüft und fie mit ben deut 
ſchen und preußtfchen verglichen hatten — da entſchieden fie ſich aim 
ſtimmig — alfo jene drei altpreufifchen Juſtizmaͤnner mit ein 
gefchloffen — im abgefonderten gebrudtten gelmdlichen gutachnichea 
Berichten. für das Schwurgericht, für die Deffentlichkeit und Mind: 
lichkeit des Verfahrens und für feine aceufatorifche Geftaltı  Mbfidt 
lich uͤbergingen ſie dabet bie im ‚der civilifieten Melt anerkannter 
politifhem Vorzüge. diefer Einrichtungen und befchrämfte fid 
nur auf ihre juckftifhen Vorzüge. Nuc fo viel thaten fie in 
jener - Beziehung‘ dar, daß jene Einrichtungen jedenfalls‘ mat eine 
fireng momachifhen Verfaſſung, felbft mit einer im 
conftitutiomellen nicht im Widerfpruche fein, ‚und die 
liche Regierung, ſtimmte auf achtungswerthe Weiſe ihren Ueber 
gungen beis 
Die entſchiedene Liebe aller deutfchen Rheinländer für dag Schu 
gericht, die der heffifhen und baierifhen, «ber fo mie bi 
der preußifchen , iſt auch noch zwanzig weitere Jahre hinbady, if 
bis zu diefem Augenblide völlig unverändert ‚geblieben. Sie 
wie in den letzten Tagen ein Bericht aus Rheinpreufen im: dar Allg 
meinen Zeitung. fid) ausdrüdte: „ſo feſt an demfelben wie am Ihrem 
Glauben.” Die, Verhandlungen der Landräthe und Landftände, fr 
wie faft alle, Reden, womit die aus, dem oberften Gerichtshefe a 
mählten Präfidenten ber Schwurgerichte diefelben zu eröffnen 
bezeugen laut biefe dauernde begeifterte Liebe zu dem grofan 







Sur 285 
Der bechimte Lriminaliſt Geolmann, alt: et. — damals ſchen 
— von Den 5 ua ae eigene Anfchauung een 
gerichts in Rheinhefſen e fruͤhere Verwerfung 
ftitutes fücmiich zuruͤcknahm later 6. 513), erklaͤrte bie 
Entwidelung feiner Vorzüge, fo wie bie MWiberlegung ber Gegen» 
gründe in dem erwähnten preußiſchen Gutachten ale meifbechaft, 
unb. richmte befonders auch folgende „erfebrungemäfige, fehr große 
„nolitifche ‚Vortheile” befieiben. „Es begründet,” fagte er, „in ber 
„Meinung des Volks größeres Zutrauen zu ber echtfprechung ; 
„erhebt bie Liebe. bes Volks zu einer Regierung, welche ihm —* 
„Die zu ber Juſtizertheilung ihr Derirauem und ihr ehren» 
des Urchei feine —eai 6 bekundet, es befeſtigt in dem 
„WVolke bie ng ber Geſetze und das Intereſſe an dem Gemein⸗ 


„weſen, es beit bei dem Bürger das Gefaͤhl des eigenen Werthes 
„uud es wirkt vortheilhaft auf die öffentliche Sitte.” - 








Mag «6 nun wohl ſtaͤrkere Auctoritätss und Erfahrungsbe . 


weiſe für. bie Vorzüge einer öffentlichen Einrichtung ‚geben? Einftim- 
mig preifen die englifchen Rechtögelehrten, Staatemaͤnner, Bürger, 
Dume wie Burke, Bladfkone wie Lord Ruffel*), 
Browgham wie Peel, das bei ihnen niemgls untergegangene gets 
maniſche Schwurgericht, täglich einftimmiger eben fo alle —— 
ſeit ihnen zuerſt ihr großer Montes quieu deſſen Wiederherſtellun 
dringend empfahl, und ſeit fie es in nun halbhundertjaͤhrigem de 
fige täglich beſſer würbigen und handhaben lernen. Auch beiuns Deut: 
ſchen entwickeite fchon laͤngſt vor den Bebürfniffen -unferer heutigen 
ſchwer bedraͤngten politifdyen Freiheit ber edelſte und weile unfes 
ve  Redjeägeleheten, unſer Juſtus Möfer, feine zwoͤlf Gründe, 
s weldyen ex die Wiederherſtellung des Schwurgerichtes, als die 
Seundbebingung gerechter Handhabung des Strafrechtes im Namen 
der egen, forderte. Nicht minder erklaͤrte fait gleichzeitig 


* eln as anſeitiger a befreite und ton dem Gewiſſen auserwaͤhl⸗ 
er anheimgab, er Mitte der — und ans alem 

erkunden des lichen ehem —5 jede mögliche Bärafchaft einer 

‚nben fo tspollen als —— menſchlichen —22 darbieten.“ 


aller Garantieen bes Lebens, der Ehre, ber eat ber Bürgtr, 
eine —— hs e Berfiherung gegen Unrecht und Gewalt 
heile cn bffeher Gtaotsmam das Schwur⸗ 


gt 
gericht. Tot er Deb. 2 Ya „Das Bolt, welches eine ſolche 
ut, ſteht —8 Rn as Bolt, dem je mod fehies es it muͤn⸗ 
N et fc Der Stoatühire den ihtrefiu ab de berufen — as 
duch biefes ertrauen in an Grabe geehrt und gehoben fü übten. Er wird 
—* gr nt ae e Bet bacf Daber —— em 

an eu n — 

tfein ‚von dern ich gefprochen babe, auch ein gewiſſer Stolz ſich bes 


er eireffiide Bertbeibi des 1 
a a la vi. © eis Sqhwurgerich 





126 Jury · 


Deutſchlande größter Philoſoph, unſer Kant (Matwer. . 40), mr 
diefe Strafgerichtseinrichtung mit dee Gerechtigkeit vereinbar. Und mum 
vollends, nachdem diefes vaterländifche Jaſtitut felbft im under⸗ 
kommener Geſtalt ſeit mehr als einem Menſchenalter bei thel 
niſchen Landsleuten fo trefflich die Probe beſtanden, nachdem die vieiſa 
tigſien Prüfungen und Vergieichungen deſſelben moͤglich und wictie 
geworden — jetzt vereinigen ſich mit jenen Stimmen bie Slimmen 
diefee überrheinifchen Bewohner und der diesfeitigen Lanbftände*), 
Stimmen folder Staatsmänner und Ständemitglieder wie IE 
Kiebenftein, Rotted, und zugleich bie folder praktifchen 
männer wie die Verfaſſer jenes Gutachtens, endlic) die Stimmen fok 
her theoretifh und praktiſch gleich gründlichen Staatsrechete mb 
Strafrechtslehrer wie Klüber und Zach arid, wie Kleinfnre 
und Groimann, wie Mittermater und Duttlinger®®), 

Diefe Stimmen ſind ſicherlich nicht minder der gefeßlicdem, Dr 
monachifhen Ordnung wie der Freiheit befreundet. Stimmen abır 
wie die von Grolmann und von Mittermater, find, eben fo nk 
die jener altpreufifchen Mitglieder der Immediatjuftijcommifften, Barım 
doppelt bedeutend, weil fie ſich früher gegen das Schwurgericie auk 
ſprachen, und erft als fie fpäter das Inftitut im Leben Eemmen 
hatten, aus früheren Gegnern deffelben mit adhtungstmerther 
heitsliebe feine entſchiedenen Vertheidiger wurden. Menigftend folde 
Feinde des Schwurgerichtes welche niemals daffelbe im Leben fh 
vielfeitig und gruͤndlich prüften, ja vielleicht die Gebrechen unferer 
heimen Aetengerichte nie gründlich Eennen lernten, diefe wendgflens je 
ten bilfig folhen Stimmen gegenüber verſtummen. 





Aber freilich ftehen auch hier der heilſamen Neform, 
ald wahre Gründe, Vorurtheile, Scheingeünde und Intereffen 
über. So — um hier einige derfelben zu berühren — iſt €8 
erktärich, wenn viele Suciften, als folde, fchom Ihrem 





\ 


Jury. 197 


wirken dee Gefchworenen mit ben juriflifchen Megierungsbeamten für 
beffer und vielfeltiger hält, als der Lesteren ausſchließliche Wirk 
ſamkeit. Aber auch trotz des Widerlegung jenes großen Worurtheils 
wird doch der Beamten» und Juriſtenſtolz aller befchränkteren und aller 
weniger patriotiſch und, bürgerlicy gefinnten juriflifhen Beamten noch 
das Schwurgericht haſſen. — Gerade fo haßten und haflen ja auch 
die Miinifter und andere Beamte die ſtaͤn diſche Mitwirkung von Nicht: 
juriften und ſchlichten Bürgern bei der Geſetzgebung und Staatsver⸗ 
waltung. Und ganz eben fo empört den Stolz und Kaftengelft ber 
Liniemofficiere die Mitwirkung der bürgerlichen Lanbwehr mit 
dem ftebenden Deere und mit deſſen zum Lebensberufe ausgebildeter 
"Kriegskunft. Die Priefterkafte mit ihrer beöpotifchen Ausſchließung 
altes Laien von jedem Antheile am Kirchenregimente find Beiden vor: 
ausgegangen. Aber follen wohl nun vernünftige Bürger und Gtaate- 
männer fich durch ſolche Urtheile eines befchränkten, engherzigen Ka⸗ 
fiengeiftes beftimmen laſſen, jenes vierfahe organifche geſell⸗ 
ſchaftliche Zuſammenwirken nicht mehr für heilfam und noth⸗ 
wendig zu erfidien? Sobald es auch nur einmal eingeführte iſt, fühle 
ſich ſeibſt jener früher verfiodte Kaftengeift befehrt oder belehrt. Oder 
wird nicht in allen fländifchen Ländern endlich auch von den Miniflern 
- und Beamten die vor ihrem Siege fo ſehr gefürchtete und geſchmaͤhte 
ſtaͤndiſche Verfaſſung, die Mitwirkung der Nichtjuriſten zur Geſetzge⸗ 
bung und Staatsverwaltung — welche doch unendlich viel größer und 
ſchwieriger if, als der Gefchworenen Ausfage über eine blofe Thatſache 
des Außeren Lebens, für vernünftig und ungefährlih anerkannt? 
Stimme nicht auch felbft der militärifch kunſtmaͤßig am Meiften aus: 
gebildete Officierſtand, der preußifche, mit feinem ganzen Vaterlande, 
mit ganz Europa überein, daß bie Verbindung ber bürgerlichen Land: 
wehr mit Linienmilitär vortrefflich, die beilfamfte und glorreichite aller 
Ssnftitutionen ber preußifhen Monarchie ift? Sehen wir nicht das 
Gleiche in Beziehung auf die Jury bei dem wahrlich in ber Achtung 
Sehr hoch ftehenden Juriſtenſtande Englands, Frankreichs und ber deut: 
Shen Rheinlande, unb endlich auch bei der Zulaffung ber Laien zu 
unferer neuen proteftantifhen Synode? 

Aus einem zweiten, britten und vierten Mißverftändntfie 
verwerfen folche das Schwurgericht, welche das allein jest zu empfeh⸗ 
Iende Öffentlihe Antlageverfahren mit bem Privatanklage⸗ 
proceffe verwechfeln, oder welche einige wirkliche Vortheile ſchrift⸗ 
licher Aufzeichnungen und einer inquifitorifchen Unterfuchung nicht aufs 
geben wollen. Allein die obige Darflellung, vorzüglich auch des frans 
zoͤſiſchen Schwurgerichts, zeigt es ja, daß fih alle wefentiihen 
Vortheile der Schriftlichkeit und der inquifitorifchen Unterfuchung 
mit dem Schwurgerichte eben fo vortefflich vereinigen, als die Wirk: 
ſamkeit juriſtiſcher Beamten. Nur ihre Einfeitigkeiten werden 
ausgeſchloſſen ober ergänzt. . | 

. Ein Fünfter Grund zur Verbreitung falfcher Scheingrände bes 





128 Jury · 


ſteht in dem oben ſchon bemerkten Umſtande, daß’ bie Mängel der 
öffentlichen aeeufatorifhen Verfahtens und des Gefe 

öffentlich werden, alle großen Gebrehen des gehe en 
Inquifitonsproceffes dagegen meift im Verborgenen 
bleiben und diejenigen, die fie treffen, meift flumm zu maden 

So laſſen fich denm manche unferer beſchraͤnkten gutmüthigen — 
die und: Juriſten mehr zutrauen, als wir ſelbſt zu vermögen und cübe 
men möchten, von den Gegnern des Befchworenengerichts täufcen. 
Sie taffen ſich oft durch ein Hiſtörchen von einzeinen Mißgeiffen, die 
feeitich bei allen ſtets unvollkommen bleibenden menfchlichen 
vorfommen müffen, oder durch einzelne fehlerhafte Einricht des 
Schwurgerichts einnehmen. Und ſelbſt viele unferer guten 

Juriſten — nad) der uralten Weife nur den Splitter im fremben 
erblidend — koͤnnen über einen Fehler, dem fie von ber framgöfiiden 
Jury erzählt erhielten, und wmeldyer: vielleicht getinger iſt, ais Die In 
ihrer naͤchſten Nähe in der geheimen Vehme ſich täglich ermewermben 
— doch faft außer ſich gerathen. 

Ein fehfter Grund der Worurtheile gegen das. Schromrgeridit 
befteht im pedantifcher Anhänglichkeit an das gerade Beflchende, Lund din 
ftebenter endlich in’ der Untertvärfigkeit und Schmeicelel gegen vr 
gerade herrſchende Tagespolitit und Hofmeinung. Die dabudh be 

ündete doppelte Billigung der von der Gewalt feltgehaltenen Ein 
richtungen wird noch dazu Durch zwei praktiſch verderbliche Schulehenriem, 
die natuephitofophäfcye, befonders Hegel’fche, und bie —— — 
(f.„Atterthimer” und Hegel), mit einem fuͤr unſelbſtſtan 
fter räufchenden gelehrten und phitofophifchen Scheine — Bar 





manche träge, bequeme und für ihren eigenen Vortheil, für ihre Stautebe 
förderung allerdings politiſche und praftifhe Männer finden 6 um “ 
nicht phitofophifd) und hiſtoriſch, nicht polleifh und praktifch, wie 

Veränderung des hergebracjten von der Gewalt begünftigten Burflande 





Jurh. 18 
> Rein beffees Gegengewicht gegen bie aus allen jenen Quellen fließen. 
den Taͤuſchungen aber gibt es wohl, als gruͤndliches Prüfen und Selbſt⸗ 
- fehen und, wo biefe unmöglich find, der Blick auf jene erfahrungsmaͤ⸗ 
figen Uebergeugungen ber Voͤlker, welche prüfen umb vergleichen 


Ä 2) Befeltigung der vier ſchaädlichſten Mißveriiänd: 
niffe: 3. Die Aufgabe ber Befhworenen ift Leine wife 
ſenſchaftlich juriſtiſche. 1. Eine jurifiifhe Beweis». 
theorie in Ctiminalſachen if eine unheilvolle Xäus 
(Yung IM. Ein Jurifiengeriht mie Mifhung juriflis. 
(hen und Shwurgerihtsbemeifes, iſt eben fo unmöglich 
wie jeder andere Ausweg aus unferen Procegübeln 
außer dem Schwurgerihte IV. Das Schwurgericht iſt 
weit entfernt von einer Ausfhliegung ober Zurück⸗ 
fegung ber Wirkſamkeit der jurifiifhen Staatsbeam⸗ 
ten und von blofem Volksgetichte. 
Mir iſt nicht eine einzige Ausführung gegen das Schwurgericht 
‚ befannt, bie nicht weientlih auf den bier widerfprochenen Voraus 
fegungen beruhte, durch die man natürlich leicht gegen das Schwurge⸗ 
richt eingenommen wird, bie fidh jedoch ſaͤmmtlich als falfch erweiſen 
lafien*). Die ihnen entgegenftehenden Wahrheiten kann man auch pofitiv 
fo ausdräden: 1) Die Geſchworenen follen (nad I. und IK) 
nach ihrer allgemeinen bürgerlihen Erkenntniß und Webers 
jeugung über die Wahrheit von Thatfahen bes gemeis 
nen Lebens den Theil des Strafurtheils ausfprechen, über 
welchen auch Juriſten vernünftiger Weiſe nur nah denfelben 
Quellen, nidt nad wiſſenſchaftlichen Principien pen koͤnnen. 
2) Sie ſollen (nach IH. und IV. und der obigen Ausführung LU, 
$) keineswegs für fih allein, fondern in organifher Verbins 
dung und in Wechfelwirtung mit den juriflifhen 
Staatsrichtern urtheilen. Nach diefen beiden Sägen gilt es 
6106 um die Sage: ob dieſes Zuſammenwirken von beiden 
zunaͤchſt in Beziehung auf die Entfcheidung der Thatfragen beffer If, 
als das alleinige, ausſchließliche Wirken ber juriflifchen 
Staatsbeamten. Der gewöhnliche Streit darüber, ob für das 
Griminaluetheil Bürger beſſer feien als Suriften, oder vollends beffer 
als dieſe deren juriſtiſche Aufgaben Iöfften, iſt noch wiberfinniger 
als ein Streit, ob die Regierung beffer fei, oder da® Parlament. Sie 
find nur zufammen gut, nur gut bei richtiger Abtheilung -und richtiger - 
Wechſelwirkung in Beziehung auf die gemeinſchaftliche Aufgabe. 
3u I und IV. Zur Entfcheidung der eben aufgeftellten: Trage 
kommt e8 auf zwei Vorfragen an: 1) wem muß bewiefen und 2) wie 
muß bewiefen werden ? Ä | 


in aa han heraben auch ale Khenfunigen Ehnäibungen von Trefart, 
Gtaats sEeriton. IX, 


130: Jury 

Offenbat uf nun (ui). der ganzen Scaatage 
das heiße: dem Volke und der Regierung in —J——— 
einigung, bewiefen werden; und ed muß (zu 2) auf eime ihre 
möglichfte moralifhe Ueberzeugung don ber 
ber Schuld ober Unfhuld begründende Meife 
werben. Es iſt, fobaldein wahres, alfo ein gegenfeltigi 
meinfhaftlihes, verbärgtes Nedhtsverhättnig zwiſch (di ben 
gern und der Regierung beſtehen fol, ein heitiges Mecht aller Bilicgen, 
feinem: vom ihnen von der Negierung Ehre und en 
werde, ohne ali gemein erfennbare Nahmweifung bes 
dazu, ober ber Wahrhebt der firafbaren —— — 
gleich aber iſt es der Bürger und der Regierung heilt, 
Rede, daß die wirklich ſchuldigen Verleger des gem 
Rechtes auch bie gerechte Strafe treffe. 

Die wahre Bedeutung diefer Forderung, ſo wie die Nature tue Bra 
minalrechtlichen Beweiſes ergibt fidy vollſtaͤndig erſt dutch bie 
tung der gänzlich derfchiedenen Natur der Eivil⸗ und Gr 
und der Entſcheidungen derſelben. Bei dem Givilpröceffen 
ſich um feiedliche Schlichtung eines Streites Über veräug 
Privartinteroffen zweier flreitenden Theile gegen n 
worüber fie fich jeden Äugenblick beliebig vergteihen inner, ine 
stehung auf welche ‚auch der ganze Givilproreß umd_feine Menefe 
der Thatſache in demfelben, feine Eideszufchiehungen , 
Berweisverfäumniffe u; ſ. w. von jeher nach den fogenannten Een 
twal:Berhandlungss und Eonventionalmarimen —8 
wahrhaft conventionelle Natur hatten. — 
Parteien betrachten, ſobald über die beliebig beigebtachten CH 





geftandenen Beweiſe, Eide, Zeugen u: f. w., nady dem 
conventiomellen und formellen Feſtſtellungen der 
definii ben Steele in 





Jury. 181 


durch ntoralifche Ueberzeugung erkaunt erben koͤnnte, nur moͤglichſt nach 
der moraliſchen Ueberzeugung der ganzen Geſellſchaft. 
Nur eine ſolche Entſcheidung iſt gerecht. Daß hlervon auch die ge⸗ 
rechte und heliſame Wirkung der Serafurthelle abhängt, bedarf keiner 
Ausführung. Es wäre Uebermuth eines einzelnen Standes, hier des 
juriſtiſchen, fein ſubjectives Glauben an die Stelle ber bier allein der 
Dbieciuide ſich nähernden und das Beweisurtheil objectiv machenben 
Sefammtüberzgeugung des Staats ober feiner moͤglichſt bes 
fien and allfeitigen NRepräfentation — an die Stelle ber 
Ueberzeugung and Entfcheidung „des Vaterlandes“, im britifchen 
Sinne, fegen zu wollen. 

Es ift nun aber in ber That an fich ſchon derjenige Theil bes 
Strafurtheils, welcher entfchelbet, daß man annehme, ein beflimmter 
Angeklagter habe die ihm angefchuldigten verbrecherifchen Thatfachen bei 
gangen, durchaus nicht objectiv demonſtrirbar oder nach technifch juris 
ftifchen Srundfägen als wirklich wahr zu ermweifen. Die Unmöglichkeit 
einer folchen juriflifchen Beweistheorle iſt bereits von ben beiten Erimi- 
naliften nachgewiefen *). 

Die Entfcheidung Über die Thatfeage der Schuld hängt ab von ber 
Wahrheit befonderer, freier, zum Theil innerlicher hiſtoriſcher 
Thatfadyen, naͤmlich von der Wahrheit der Thatfachen, ber Ange: 
Magte habe wirklich die angeſchuldigten Handlungen, und zwar mit innen 
ver Abſicht, mit böfem , ober doch mit fahrläffigem Willen begangen ober 
nicht begangen. Die Wahrheit folcher befonderen, freien, hiſtori⸗ 
(hen Thatſachen aber iſt für Alle, welche fie nicht unmittels 
bar ſinnlich felbft empfanden oder wahrnahmen, melden 
fie alfo bewiefen werden follen, nicht etwa, wie eine naturges 
fegtihe, mathematiſche, logiſche Wahrheit nady abfolut allges 
meinen Principien, Gefegen und Formen menfchlicher Auffaffung o b⸗ 
jectiv oder abfolut allgemein gewiß und erweisbar. Sie 
iſt es nicht durch ben fogenannten natürlihen oder directen 
Beweis, durch Zeugenausſagen und Bekenntniſſe uͤber unmit⸗ 
telbare, ſinnliche Wahrnehmungen ber Thatſache, welche 
betolefen werden fol. Sie iſt es noch weniger durch den indireeten, 
künſtlichen, den Anzeige- oder Schlußfolgebeweis, wobei 
man, ohne unmittelbare Ausſagen ſinnlicher Wahrnehmungen, uͤber 
das, was bewieſen werben ſoll, nur aus andern Thatſachen 
(Anzeigen) mittelbar darauf ſchließt. Er fordert alſo fuͤr's Erſte 
ſchon einen voltfiändigen birecten Beweis jener anderem 
Thatſachen (3. B. der Thatfache, daß man den bes Mordes VBerbächtigten 
mit blutigen Kleidern ſah), und ſodann für's Zweite, daß mit Wahr 
ſcheinlichkeit aus diefer Thatſache allen befonderen Umfänden nnd) eine 


*) 6, Wittermaier, Strafverfahren $. 44 und bie dort citicten 
Schhriften. Fenerbach, über — —— Gyros 
ten der pr. J. 6. S. I ff. as 








Jury. 188 


Selbſt der im Begenftande ehr befchränkte Beweis durch Augenfchein von 
Gerichtsperſonen erhaͤlt meift jene unfichere Natur der Auffaffungen und 
Ausfagen über zum Theil innere Hiftorifche Thatſachen und der Schluß⸗ 
folgerungen aus ihnen. Auch das ändert nichts, daß in den feltenften 
Fällen denkbarer Weile einzelne Puncte des Schuld« oder Uns 
fchufdsberweifes auf mathematifcher, naturgefeglicher und logifcher Un⸗ 
möglichkeit des Begentheils beruhen könnten. Die Annahme der Uns 
möglichkeit wird auch regelmäßig felbft wieder Umftände vorausfegen, 
die, wie 3. B. das Alibi, nur auf Ausfagen des Angellngten ober 
dee Zeugen oder auf Indicien beruhen. Jedenfalls find die Faͤlle, wo 
durch gerichtlichen Augenfchein oder durch jene Unmöglichkeit allein ein 
volftändiger Beweis dee Schuld oder Unfchuld ſich ergäbe, ja, es find 
fogar die Säle, wi völlig glaubmwärbige Belenntniffe oder eben 
ſolche Ausfagen zwei vollgültiger Augenzeugen für das Ver⸗ 
brechen vorhanden find, nach ber Natur dee Sache und der Erfahrung 
fo fetten, baß fie bei der Entfcheidung über die Natur des Bewei⸗ 
ſes überhaupt niht in Betraht fommen. Nur das Wes 
nige, ſagt Kant, ift in den Beweiſen Gewißheit, was Mathematik iſt. 
Aber wie ifl’6 mit dem Webrigen, alfo mit bem Ganzen? | 

Hier HE nur praftifhes Kürmahrhalten, nur auf ber 
moralifhen Weberzeugung beruhbende Annahme ber 
Wahrheit, nur Berveisentfcheidung nad ihr, moͤglich. 

Die praktiſche moralifche Uebergeugung von der Wahrheit dieſer 
beflimmten hiſtoriſchen Thatſachen befteht aus vielen einzelnen 
Elementen oder Wahrſcheinlichkeiten. Diefe aber beruhen 
einerfeits auf einer unerfchöpflichen Reihe einzener befonberer 
Erſcheinungen des beftimmten Falles, aller dabei vorkommenden 
eigenthuͤmlichen perfönlichen oder ſachlichen Eigenfchaften, Umflände und 
Verhaͤltniſſe; anderfetts auf der eben fo unerfchöpflihen Reihe 
von Lehenserfahrungen und "Verknüpfungen berfelben, nad welchen 
biejenigen , welche bie hiftorifihe Wahrheit des Kalles beurtheilen, feine 
Erſcheinungen auffaffen, unter fit und mit dem Endreſultate vers 
Inüpfen. Diefe Annahme der Wahrheit geht jedesmal aus von 
allen beſonderen Umftänden des individuellen Falles unb 
gile nur für ihn. Hierfür nun — oNer für die hiſtoriſche Gewiß⸗ 
heit der einzelnen freien biflorifchen Thatſachen und für ihre Scheidung von 
biofer Wahrſcheinlichkeit ober felbft von der Unwahrſcheinlichkeit — gibt 
es, wie auch Feuerbach richtig ausführtte, durchaus Beine 
Wiffenfhaft, keine wiffenfhaftlihen allgemeinen Bes 
fege. Iene im jedem individuellen Kalle verfhledene und 
unendliche Weihe der Erfcheinungen und der allen Lebenserfahruns 
gen entiprechenden möglichen Verknüpfungen in allgemein entfcheibens 
ben Beweisregeln zum Voraus umfaffen und für jeden Fall die Kraft 
beflimmen zu wollen, welche fie für den Verſtand des Richters haben 
follen, „dieſes wäre”, wie Feuerbach fagt, „nicht vernünftiger als 
„dee Plan, den Dcem In: einen Eimer zu faflen, Solche Geſetze 





134 Jury. 


lagen immer zu wenig und zu viel, find eutweder ai erg 
„tosit, und darum eben fo begünftigend für die et 
ndie Unfhuld gefährlich.” — 
Es bildet ſich fo vielmehr jene praktiſche Ueberzeugung Ban ber 
Wa hehe it der einzelnen individuellen ferien inmerlichem ab Aufere 
lichen Hiftorifchen Thatſachen in jedem Falle frei nach dem allge: 
meinen menfhlihen und bürgerlihen Auffaffungen, Ex 
Eenneniffen, Begriffen und Schtäffen. Die nicht juchlifhen Bine 
eben fo gut wie die juriftifchen — Tobald Ausfagen oder andere 
gen einen Verdacht begründen, ein beſtimmter Menſch habe eine be: 
ſtimmte verbrecherifche That veruͤbt — benutzen ihre allgemeinen Kent 
niffe von der Welt, den Menfchen und ihren Wechältniffen, Ko tele 
von ber moralifchen und ber bürgerlichen Drbrtung amd Den allge: 
meinen Pflichten ber Bürger in derfelben. Sie fragem einerfehts ihre 
Erfahrungen, Empfindungen, Uetheile, ihren barauf fi grünbenben 
Glauben oder Unglanden an die Mahrheitsliebe umd; dem 
Blick der Ausfagenden, anderfeits ihr natürliches logiſches Schlußs umd 
Berbindungsvermögen über den Zuſammenhang der vorliegenden be 
fonderen Umftände, um ruͤckſichtlich jenes Werdachtes die Wahrheit br 
die glaubhafte Annahme zu findm. Ein Collegium von wiif 
gut ausgewählten Gefchworenen ift am ſich fhon hierbei. mach 
Obigen (II, 3) no im offenbaren Vortheile vor einem 
ſtaͤndiger gelehrter Juriſten. Jene gehen gröfiteneheils unmittelbar 
aus dem praßtifchen Leben hervor. In dieſen Gefchworenen, aumter eh 
chen Mitglieder aller Stände und Lebensverhältniffe Plah finden, und 
zwar meift Mehrere, bie ben Angeſchuldigten und den Beugen miek mäher 





ſtehen, „fie beffer werftehen und durchfhauen Eönnen, vereinigen fi, 
vielfeitigere und praktifhere Standpuncte und Anfichtem gut 
Beurtheilung dee Thatfahen, der Ausfagen, der Mienen und Geberben, 
Und aud zur Webung in diefer Beurtheilung Habem fie 
dalih 9 auls 0 hei nie ruf h hie 2 





Jury. 135 


zwar fe, nicht aber diefe Staatsrichter, alle Ausfagenden felbft 
feben, hören und fragen? Je weniger biefes Legtere ber Fall iſt, 
je mehr Zwiſchenorgane zwiſchen das Gericht und alle jene indfvis 
duellen hiſtoriſchen Umftände und Verhaͤltniſſe des beftimmten alles, 
alte jene Worte und Mienen der Ausfagenden u. f. w. geftellt werden, 
je mehr entfernt fih das Gericht von der Wahrheit und 
von ber Reinheit und Sicherheit ihrer Auffaffung. 

Dod prüfen wir die Einwendungen, gegen unfere Anficht!*) 
Man wendet hiergegen zielerlei ein. Fuͤr's Erſte fagt man: 
das Schuldig der Gefchworenen enthält mehr ald das Urtheil, daß diefe 
beflimmte dußere Thatſache, z. B. die Töbtung eines Andern, don 
einem beflimmten Manne hervorgebracht ſei. Sie enthalte auch das 
juriſtiſche Urtheil, 3. B., daß jene Toͤdtung das ſtrafbare Verbrechen 
eines abfihtlihen Mordes bilde. Ia, allerdings etwas mehr als bie 
Wahrheit der phyſiſchen Thatſache ſagt das Gefchworenenurtheil aus. 
Aber ift diefes Mehrere, iſt — nachdem zuvor die juriffifchen Richter 
duch ihre Frageftellung die Wefenheit der verbrecheriſchen Hands 
lung unter ihren richtigen Gefichtspunct des beftimmten vom Gefege be- 
ſteaften Verbrechens geftellt haben, und nun fragen: iſt der Angelagte 
ſchuldig, diefen beftimmten Menſchen ermorbet zu haben — iſt num die 
fes eine lediglich nach wiffenfhaftliher Jurisprudenz von dem gelehrten 
jueiflifchen Regierungsdiener zu entfcheidende Frage? Bewahre! Wäre 
dieſcs, dann dürfte auch nur ein Juriſt, nie der nichtjuriftifche Ver⸗ 
brecher darnach geſtraft werben. Er ift nur ſchuldig wegen des Un- 
echte, das er als Bürger nad den allgemeinen morali— 
Then und bürgerlihen Kenntniffen von den verbotenen, 
verbeeherifhen Handlungen erkannte und ertennen 
mußte. Es wäre fcheußlich, ihm zu ſtrafen, wenn nur ein gelehtter 
Juriſt mit feiner gelehrten Jurisprudenz ben verbrederifchen Charakter 
feiner Handlung entdeden koͤnnte, wenn nur er aus feinen 5108 juriſti— 
ſchen Gombinationen eine Handlung als mit criminaliftifhen Geſichts- 
puncten zufammenhängend und gefährlich oder ſtrafbar erkennen koͤnnte. 
&s’ bleibt alfo auch diefee Theil der Schuidigerklaͤrung eine 
Frage für bie allgemeine bürgerliche Erkenntnig**). 


*) In jeder Ginficht iſt alfo gerate das Urtheit des Schwurgerichts das 
tunftverftändige Urtheil, 

**) Die Gegner ſeibſt, z. B. Trefurt (S. 295), erklären fogar den 
Strafgefeogeber „gebunden durch die in feinem Wolke entwidelten Bor: 
fellungen und Begriffe. Nur das, was die ducch religiöfe, rechtliche und po: 
itiſche Aufklärung im Volte entwidclte Meinung für ftrafbar 
hätt, darf er fkrafen.” um wie vielmehr muß alfo der Richter zum Aus- 
ſpruche der gerechten Strafe an die moralifhe und rechtliche Bildung und Nieber- 
aeugung feines Volkes gebunden , ihrer völlig kundig und ihr treuer Repräfen 
tant fein! Zrefurt, der fogar vom Richter ausdrücklich fordert, er folle, 
„als Gefhworener mit ber Gefchworenen freiem Ermeffen‘‘ richten, hätte 
hiernach, fo ſcheint es notkwendig, aufs Shwurgericht geführt werden 
follen. Doch mit feiner eigenen Brundanficht nicht übereinffimmend und an 
ſich unrichtig, ſucht er auch den Ausfpruch Über die Thatfrage der Schuid von - 





186 Sum. 


Auögefühst aber wurde es bereite (oben ILL, 3), wiedaß 
geite x nik ds a — Juriſtiſche Fi pe Pi 
unl tung bes ſes, Auslegung und 

und geftglichen Zormen, Grageftellungen, Strafausmeffung - 
urtheit — den Jutiſten zumeifet, fondern fie auch zum Tharurthe 
Geſchworenen in folder Weile unterftügend und contweodie j 
mitwirken tät, daß dieſes als gemeinfdaftlicyes Reſultat ihees R 


beben 
einem blos tehnifhsjuritifchen Miffen abzufeiten. Gr ex | 
affung bee thatfädlihen Erfcheinungen bes Wi 

jufammmenfaffung derfelben in dem Urtheile, daf fir basbewimmi | 
Berbrecen bilben, mit Unrecht als eine angeblich tedhmifch Li2 
fifche Function ganz gleich der technifch-medicinifhen Auffaffum _ 
ber einzelnen Erfheinungen einer Krankheit und ihrer ” 
fammenfaffung in dem Urtheile, daß fir die und bie 
Krankheit bilden, Allein bie richtigen mebieinifchen Auffafe und un 
theile beruhen ja auf naturwiffenfchaftiichen und mediciniſchen 

bie feineswegs pofitiv gefehlich für alle-Bärger | 
Find, vie micht alle Bürger felbft befigen und befolgen mäj \ 
tie die gefeglichen Verbote der Werbredhen. Eben fo irrig wie Wied: 
Reltung des nothwendig allgemeinen bürgerlichen mtl de 
Ihatfrage der Schuld mit einem tehnifh-medieinifhemim 

Exiſtenz und Natur einer beftimmten Krankheit iſt aun ach ir 
Gegenfat zmifen Gefdworenen und Zuriften rücfichtlid der Bllbung 
Urtheils über die Thatfragen ber Schuld. Die Geſchworenen follen 
lebiglih nad Gefühlen urteilen, wie Trefurt fehr ircig Ühre 
mein bürgerliche Erkenntniffe, Auffaffungen, Crfahrungen und 


eine 


urtheiten koͤnnen. Das 
nen. der tieferen Grünb 
(üy * 


Iur. | 187 


feitigen geordneten organtfchen Zuſammenwirkens; als das Reſultat beibers 
feitiger Erkenntniſſe und Vorzüge erfcheint, und dag vollends bie Vollziehung 
einer ben Juriſten unrichtig erfcheinenden Verurtheilung ausgefchioffen ift. 

Schon allen hierdurch ift denn auch — ſelbſt abgefehen von dem 
Rechte der Juriſten, als Befchworene erwählt zu werden — das IVte 
Mißverſtaͤndniß befeitigt, daß Mämlih, wie Trefurt ſich aus 
druͤckt, das Schwurgericht „Über die Jurisprudenz den Stab breche”, 


„Denn“ — ſagt er (I. S. 338) — „was kann unbilliger und graufamer ſein, 
„ots einen Wenfchen zu verbammen , ohne verfichert zu fein, daß er ba 
„Gefeh , deſſen Webertretung ihm zur Laft gelegt wird, begriffen und, vers 
„fanden habe, oder habe begreifen und verftchen können. Die beutiihfte 
„Probe aber, daß ein Verbrecher das Geſet verftanden habe ober habe 
„verſtehen Tonnen oder follen, if unftreitig biefe, wenn 7 ober 12 ungelehrte 
„Männer ihn darnach verurtheilen und durch eben biefes Urtheit zu erkennen 
„geben, wie ber allgemeine Begriff des Abertretenen Geſezes geweſen, und wie 
„jeder mit gefunder Bernunft begabte Menſch folches verftanden habe. Dies 
‚am die einzige Probe von der wahren Deutlichleit bes Bes 
„ſetzes, weiheber Gelehrte nie geben Tann, weil feine Sinne gu 
„geſchaͤrft, zu fein und über ben gemeinen Begriff zu fehr erhaben (und, wie 
er ſpaͤter hervorhebt, ben natürlidhften Gefühlen, Anfichtöweifen, Verhaͤltniſſen 
und Gewohnheiten ber Bürger kaſtenmaͤßig fremb, oft gegnerifdh) „find. Der 
„‚in ber peinlichen Halsgerichtsordnung vorgefchriebene Eid erforbert von den 
„ungelehrten Urtheilsfindern, daß fie nah ihrem beften Berftändniffe 
„ſprechen ſollen. Das befte Verſtaͤndniß eines Gelehrten ift aber nothwen⸗ 
„big von bem beften Verſtaͤndniſſe des MWerbrechers fehr unterfchieben. Der 
„Belchrte if ein Naturkundiger, der durch ein Bergrößerungsglas hun⸗ 
„dert Dinge in einer Sache entdeckt, welche ein gemeines Auge nicht fieht. — 
„Benn alfo ein Gelehrter urtheilt, fo ift er in beftändiger Gefahr, von feiner 
„feineren Ginfiht entweder zu unzeitiger. Milde oder zu einer. übermäßigen 
„Bteenge verführt zu werden, und er follte fih um feines eigenm Gewiſſens 
„willen nie mit peinlichen Urtheilen abgeben” (nie fie ausſchließlich und allein 
fällen wollen). An einem andern Orte (IV, 25) hebt er noch befonders den 
Vorzug praltifher, handelnder Menfchen vor ben Belehrten hervor, 
fobald es Urtheile Über ganze Thatſachen gilt. „Wie giädlic” 
fo fagt er, „iſt der Menſch, daß er durch die allmächtige Wirkung eines To⸗ 
‚taleinbruds und nicht durch kleine abflrahirfe Negein zum Handeln 
„beftimmt wirb , indem wahrlid mehr Gutes in ber Welt unterbieiben würde, 
„als jet barin Boͤſes geſchieht, falls es in des Menfhen Vermögen geweſen 
„wäre, fi an ber Schnur abgezogener Regeln zu halten, oder jede feiner 
„ganblungen fo einzurichten, wie er es fich in feinem Lehnftuhle bei Kalter 
„weberlegung vorgenommen hatte. — ben fo wird der durch den aangen 
„Eindruck ber Schöpfung belchrte Bauer immer des metaphyſiſchen Atheiften 
„lachen und Sort da erkennen, wo biefer ibn nah dem Maße verliert, 
„als ertrennt, theilt und in's Unendliche geht. Unter jenen bat 
„nie Einer an feiner eigenen Eriftenz und feiner Zreiheit gezwei⸗ 
„fell. — — — Zum BIäd müflen die meiften abgezogenen Regeln in dem 
„Augenblide ber Handlung und Entſcheidung dem mächtigen Total⸗ 
„eindbrude weihen. In den mehrften Ländern werben die Verbrechen 
„nach abflracten Regeln verdammt, aber in England erkennen zwölf Zotaleins 
„drücke über bie eoncrete That, — Aber des Allen ungeadhtet verachte ich 
„die Gelehrſamkeit nicht. — Allein die Geſchaͤftsmaͤnner und bie handelnden 
„Männer follen die Refultatenügen, ohne mit jenen einerlei Bang 
zu gehen — — fie follen, wie ein Muſiker die Roten, den Verſtand bucch’6 





138 Sury. 


daß durch daſſelbe die juriſtiſchen Staatsbeamten zuruͤckgeſetzt unb ganz 
aus der ſtrafrechtlichen Wirkſamkeit verdraͤngt wuͤrden, und Alles von den 
Geſchworenen ausgehe. Dieſes iſt gerade ſo falſch, als wollte man 
ſagen: durch die Mitwirkung der aus allen Buͤrgerclaſſen erwaͤhlten 
Landſtaͤnde bei beſtimmten Regierungsgeſchaͤften wuͤrde die Regierung 
herabgeſetzt und wirkungslos gemacht. Vielmehr iſt nur das allein die 
Frage: erklären mit Recht alle freien Völker dee Erde jenes. con: 
trolirende und wechfelfeitig unterfiügende Zufammen- 
wirken eben fo wie bei dem Geſetzgeben fo auh im Strafgericht zur 
fleten Vereinigung der Intereſſen der Öffentlichen Ordnung mit 
denen der Freiheit, zu einer vielfeitiger erwogenen, gerechten Geſetzge⸗ 
bung , zur vollen Mepräfentation des ganzen Staates und zur 
Vebendigeren Gerechtigkeit im Wolke und in der Regierung für beffer als 
das ifolirte abfolute Befeggeben und Richten blofer Regie— 
zeungsbeamten in ihrer kaftenmädgigen Abfonderung vom Wolke ? 
Im Strafgerichte aber iſt jene organifche Vereinigung und bie 
Mitwirkung dee Bürger für Freiheit und Rechtsſicherung fogar noch 
weit unentbehrlihher, als bei der Geſetzgebung. Auch laͤßt fid) 
dort eine nicht technifchsjuriftifche von einer bürgerlichen Kunction für bie 
Bürger ungleich befier abfondern als in ber ftändifhen Gefesgebung *). 


— — —— — 


„Auge in bie Finger gehen laſſen, und das commercium rerum et animae, wie 
„es Bıacon!nemt, fo wenig buch das Denfen ber Beiden als durch 
„deren Ausdruck aufhalten.” (Sie follen nicht wie bie Theoretiker durch das 
Schwanten über bie Gründe unb bie Befege der Thatſachen bie 
Wahrheit und Bewißheit von diefen letzteren felbft verlieren.) 

Ka diefen vortrefflichen Bemerkungen entfcheibet bem praktiſchen 
Refultate nach aud gerade über die fehwierigften Puncte bei der Schuld⸗ 
frage, ob im individuellen Falle ein Handeln mit Freiheit oder Zurechen⸗ 
barkeit, mit böfem Vorſatze, mit ſtrafbarer Nachläffigkeit vorhanden war, das 
Schwurgeriht mit größerer Siherheit gerecht und richtig, als nur allein 
Gelehrte, die hier wie über die Eriftenz eines perfönlichen Gottes und der mo: 
rali'hen Freiheit in tauſend Streitigkeiten, Einfeitigkeiten und unnatürtichkei: 
ten gerathenz fo wie z. 8. ſelbſt Feuerbach mit ſeinen „zwei Vernunften, einer 
moraliſchen und einer juriſtiſchen,“ mit feiner ausdruͤcklichen Ableugnung aller 
moralifchen Zreiheit im Rechtsverhaͤltniſſe, mit feinem Grundſatze, daß es auf 
die Schuld in concreto bei bem Strafurtheile nicht ankomme (!), daß 
ſchlechte Erzichung bie Strafbarteit erhoͤhe (!) u. f. w. Auch das Gut: 
achten (8. 112 ff.) weift an mehreren Stellen nad, wie die berühmteften 
Auriften und Gerichtshöfe durch ihre theoretiſchen Spisfindigkeiten, und aͤhn⸗ 
ih wie foftematifirende Hiſtoriker, zu den falfcheften praktiſchen Urtheilen über 
Thatſachen geführt werben, zu Verkehrtheiten, wie fie dem gefunden prat- 
tifhen Sinne bes Schwurgerichtes unmöglich find. Bei den für das Schwur⸗ 

ht etwa unlbsbaren Fragen der Zurechnung aber, ba müffen ja auch bie 
uriften nach kunftverfländigem medicinifchen Gutachten urthrilen. 

*) Deshalb mußte denn auch fchon die unvermeidliche Gonfequenz ben in 
der vorigen Note von mir beftrittenen babifhen NRechtögelehrten, indem er bic 
Bürger für unfähig zum Sawurgerichte, und ihre Mitwirkung als Hrrab: 
fegung und Störung der Wirkſamkelt der juriftifchen Richter crllärte, un- 
wilttärtich zu Brunbfägen führen, welche auch aller ftändifchen Berfaffunu 
das Zodesurtheil fprechen. Diejes thun denn auch diejenigen, weiche berfelbe 





Jury. 189 


Erſcheinen aber wohl irgendwo in Deutſchland, wo man fie zu Schreib: 
mafdyinen macht und in beftaubten Gerichtsftuben von ber Nation ab- 
fondert, die Mechtögelehrten jemals in einer gleich hoben, geachteten, 
einfiufreichen Stellung und Wirkſamkeit als die englifhen und franzoͤ⸗ 
ſiſchan Zurtften in ber Affife ? 

Ein zweiter Einwand gegen unfere Behauptung, daß die Ents 
ſcheidung der Thatfragen an ſich und nothwendig eine allgemein bür- 
gerliche Aufgabe fei, führt näher 

zu dem I. Mißverfländniffe Jener Einwand beſteht 
nämlich darin, bie Gefeggebung koͤnne und folle wenigftens zur Si⸗ 
cherung gegen untichtige richterliche Beweisurtheile kuͤnſtliche juri- 
ſtiſche Beweife erfhaffen. 

Wie aber kann biefes nach der unter I. entiwidelten Natur des 
eriminalcechtlichen Beweiſes und des Beweiſes ber Wahrheit ber be: 
fonderen freien biftorifhen Thatſachen, ſowohl der verbre⸗ 
cheriſchen Handlungen wie auch ber Ausfagen darüber gefchehen? Blog 
conventionelle Beweife oder eigentliche Vergleiche, altdeut: 
[che Beweiſe durch Eidhelfer, Zweikaͤmpfe, Gottesurtheile, Torturen 
oder andere Loosentſcheidungen, gleich viel ob der wirklichen Wahr: 
beit entfprechend oder nicht, Bann man doch unmöglich heut zu Tage zur 
Grundlage der Strafurtheile machen wollen. Dennod aber führen 
alle juriflifchen Zwangsgeſetze über ben Beweis jener Thatfachen, weil 
übe befter, ihr einziger Beweis in der jedesmaligen möglichft freien und 
volftändigen Auffaſſung und moralifchen Ueberzeugung je nad allen 
ibren befonderen Erſcheinungen und Verhaͤltniſſen befleht, zuletzt 
auf jene Abwege und zur Berfiörung bes wahren Beweifes 
bin. Der Geſetzgeber muß nämlich die Richter zwingen, in jedem be: 
fonderen zukünftigen Falle nicht mehr das fuͤr wahr zu halten und als 
folches auszuſprechen, was wahr ift nad) ihge moralifchen Ueberzeu⸗ 
gung, welche ihnen ihre eigene Anſchauung, Auffaffung und Prüfung 
aller befonderen perfönliden und fählihen Erſcheinungen und 


neuerlich mit ben Annalen ber badbifhen Gerichte in der erften 
©itung dieſes badiſchen Landtags über das neue Strafgeſetzbuch gegen bie Fa: 
bigteit der nicht juriftifchen Mitglieder zur Theilnahme an der Berathung von 
Geſetzbuͤchern geltend machte. Die hier auögefprochene Behauptung: daß fuͤr 
biefe Berathung eine Verſammlung von Technikern oder Zuriften und die Re⸗ 
ſultate ihrer Berathung durch Theilnahme von Nichttechnitern fogar we: 
fenttih verfälechtert werden müßten, ift in der That das To: 
—5 für alle Kaͤndiſche Gefeggebung , die ja ſtets zum Theil juriſtiſch und 
techniſch iſt. Ja, fie ift ein Todedurtheil für jede ftändifche Berathung, weil 
für einen jeden befonderen Gegenſtand immer ein Theil der Mitglieder 
nicht techniſch kunſtverſtaͤndig if. Es vertheidigt — wie wenig auch diefes dic 
Abficht des ſehr achtbaren Schriftflellers war — doch in unwillkuͤriicher Son: 
ſequenz diefe Merwerfung des Schwurgerichts die Grundidce der ſtrengſten 
kaſtenmäßigen Sefhäftsabfondberung ber abfolutefien Mon: 
archie, nicht aber bie Ibee des lebendigen Organismus eines 
freien Volkes, auf welcher bie conftitutionelle Berfoffung und bas Schwur: 
gericht beruhen. 





140 Jury. 


Berhättmiffe det angeblichen verhtechertſch en Handlungen unt 
ſagen und Anzeigen über dieſelben begründet. ER el 
dasjenige, für wahr zu halten, was er, ohne alleldief 
deren Erfcheinungen ſelbſt zu Lennen, zum Woraus U 
meinen blos nad) einigen wenigen Umſtänden die 
ten abſtracten Erfahtungsregeln unifaßt, für das Fin iin 
liche hält, und deshalb als juriſtiſchen Beweie zu eriid 
Er fagt: wenn diefe zwei, drei beſtimmien Umftände, BL 
fügen von zwei Beuigen oder vom Angeſchuldigten, weichEift 
fendmal fhon'irrig oder fatfh waren, In bie 
Art vorhanden ſind, alsdann befehte ich zu glauben arg 
Magte (huldig ift. Ale Nichter und” dad Volk ' FoNmeh 
jedem. zukünftigen Falle daffelbe glauben, was ich forgt 
glaubte oder glauben’ wollte. Sie follen dieſes, went fie 
allen den taufendfach verſchie denen Umftändew b) 
deren Falles, die Bein Geſebgeber der Welt zur 
und. gefeglich feſtſtellen kann, und die wohl fie, niche aber) 
(indem wohl fie, nicht aber ich, ale Worte, Mienen um 
der Angefhuldigeen und Zeugen , dieſe beſten Wetbeife Aal 
der Wahrheit oder der Unmwahrheit, Fe rbft hörten und ſahen 
völligen Gegentheite Übergeuge fein) föllten. "Dennoch fölle 
meinen ganz unvollfländigen, erwieſenetmaßen tauſendfach 
abſtracten Regeln Schuldige laufen läffen und Unſchudig 

Iſt nun wohl dieſes vernuͤnftig und gerecht? Dffenbe 
angeblich juriſtiſche Beweis doch an ſich weiter nichts, ie 
Lifdyes Glaubens⸗, ein Gefhworenenurtheitiäbk 


riſche Thatſache a der fich er Fein gutes. Esiltelnwom 
zum Voraus, ohne irgend genaue und anſchauliche Kenntnig — 
jener Thatſache und au über Beweismittel gegebenes. Ja, wa da 
Hei: es iſt ein ſolches/ das der Gefesgeber ſelbſt nicht für 





Jury. 141 


überall verkehrte Folgen erzeugt, bei ber gefeglichen Beweis⸗ 
theorie reichlich dargethan. Die North und fehlerhafte Bermifchung von 
Gioll: und ..Griminatbeweilm hatten im fpäteren roͤmiſchen und deut: 
ſchen Rechte, nach der Zerſtoͤtung des einzig wahren Griminalbeweifes 
bar vollſtaͤndiges Schwurgericht, auf eine gefegliche Beweistheorie zur 
Sicherung ber Unſchuld gegen angeblicyes individuelles Glauben ber 
Beamten. geführt. — Die Gefege forderten, um eine ftrafrechtliche 
Veruxtheilung auszufprechen,, vollftändigen, durch Augenfchein ober zwei 
nöllig zlaubwürdige Zeugenausfagen zu liefernden direc⸗ 
te»: Beweis des Thatbeſtandes des Verbrechens und einen eben fo 
vollſtaͤndigen, durch folche Zeugenausfagen ober ein völlig glaubwärbiges 
Geſtaͤndniß zu liefernden dDirecten Beweis, daß ber Angefchuldigte 
der Thaͤter war. Sie verboten durchaus die Verurthei— 
(ung auf iIndirecte oder Indicienbeweiſe, weil biefe dem 
Wein nad nur zu fubjectivem Glauben des Richters fuͤh— 
sen. Diefe geſetzliche Beweisſthorie aber offenbarte und bewirkte bald 
folgende Gebrechen: . 

1) Jene directen Beweiſe bildeten in der That doc) nur eine 
Loosentſcheidung. Ste führten zu fehr vielen falfhen Verur⸗ 
thejlungen von Unfchuldigen, noch ungleich mehr aber zu falfchen 
Losfprechungen von Schuldigen. Sie waren mit ihren gefeblichen Be: 
dingungen der Bollftändigkeit nur fehr felten vorhanden. Man 
mußte alfo alle Verbrecher, die nicht zwei völlig glaubmürbige Zeugen 
zu ihrem Verbrechen zuzuziehen ober es zu ihrem Verderben freiwillig 
vollguͤltig zu geftehen beliebten, Losfprechen. 

: 2) Um. diefem Skandal zu entgehen, gelangte man denn fehr 
bald dahin, daß man nicht mehr blos glaubwuͤrdige Ausfagen und 
Geſtaͤndniſſe, fondern auch völlig unglaubmwärbdige ale geſetzliche 
Beweife der Wahrheit anſah. Man verurtheilte auf die vermittelft 
ber gefeglichen und der willkuͤrlichen richterlichen Martern, auf bie 
duch Schmerz und Todesangſt, durch Inquiſitions- und Kerker⸗ 
qual, durch Lebensüberbruß und Leberliftung erpreßten Ausfagen. We⸗ 
nig half es, daß ber Widerfinn ſolcher Theorieen ſchon an ſich zu Tage 
lag und bald durch Zaufende von Juſtizmorden, fo z. B. auch durch 
die erpreßten Ausſagen bes Unmoͤglichen, von den Deren, bandgreifs 
ih wurden. Steht einmal ein verkehrtes Srundprincip feſt, dann 
find die verkehrten Folgen ober Aushülfen unvermeidlich. Und fobald 
das pofitive Geſet oder die juriſtiſche Praris einmal etwas feſtgeſtellt 
bat, dann hoͤrt für viele Juriften der Unterfchied von Sinn und Un: 
finn, von Gerechtigkeit und Barbarei auf (e vinculis sermocinantur), 
Und wirklich vertheidigen ja noch heute viele ganz flattliche deutfche Su: 
riſten biefelbe Theorie und die durch Tortue unter der Form von Luͤ⸗ 

enftrafen und von andern nquifitionds und Kerkerqualen erpreften 
meismittel; und baher eben biefe neubeutfchen Torturen und Ju⸗ 

Rismorde ſelbſt. | 
3) Ehen weil bei ben juriſtiſchen Beweiſen body dinmal er Yaakı 


m 


man dann‘ preifen — 
555 — der Su 
Pech und Unfehutd 
und 


das nicht empört, 
pi, naͤmlich 


langſamen 
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Ben —— 5 
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Bir it, nötbia fäien, neben allen anderen 








An: rt: Änbefonbers (0 wie ber Mäfer paud Gans 
‚©. bie Zurd it diefes Spftems enthüllt; eben fo au dag Gut- 
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—— verfhledenen, individuellen, con= 


lichen und uUtniſſe und und ihre vielen 
antonimt, und fagt dann: „, fei 2 erlaubt, be= 
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wtereot Abd davon, daß fie nit, Immer wir bie On 
en gensigter find , oayufpreien, ala ju Be, fehen davon, 


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um bie Gefahren zu vermehren. Stan meh au Ci 
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jeruetheilung 


zu — oben Ta € ——— ee 
— I mie she "das arbitrium 


ticher,, ale das 





144 Jury. 


Zu IM, Die Einſicht. der; abſoluten erg ran 
urtheife von juriftifchen ‚vollends von amopibeln und, 

venden Regierungsbieneen nach ihrem. ſubjectiven 

ehrlichen Sicherheit der Bürger, has eine Abartberfe, 
Mifhungsverfud von objertivem, juriflifhem. 
salifhem Glaubensbemweis bei neueren Eriminafifkem rum, 
fegvorfchlägen erzeugt, und, troh der Warnungen Han Grimme 





dicis an eine Formoorfchrift oder an ein — Regeim 
Iren, Abgefehen davon, daß ein Miderfpruch in ſich J 
‚Das. Geroilfen- mit der Form und mit den Regeln —2 t, und 
„the Shlendrian erflidt die Anfiht von ber Bi: 
„der einzelnen rihterlihen Handlung, — Man darf me 
der ehrlichfte Schulmann ungereht wird in der Beurthi — 
nex indicüs, Auch bie Gollegiatttät hilft wenig. fie er i 
tert oft die Veruttheilung, wenn die Werantwortung gleichfams. auf — 
„‚Einzetnen nicht fügen. bleibt. Gnblich-ift es wie mit dem. Arzt, 
Rtante behandelt: er wird Lühner, fein Spftem reift ihm fort, ne 
treu, hätt er fich bei jedem nn 6 te Dinge — der 
„nichts Schrechaftes mehr für ihn. der Jurift, welchem ber 
„seine arbitrium gegeben ift, — Er macht ſich eine Art von Goftem 
„it fein Seoifen befhrichtigt, und bie Berurtheitun 2. if * keine | 
„ionbern eine alltägliche Sache” (mie.jenem berühmten & 308, 
fih rühmte zu.20,000 Zodesurtheilen mitgewirkt zu haben.) 4, 
ders fteht eẽ hier mit dem Gefchworenen, zumal wenn er feinen 
Bahrſpruch thut. Daher nodimals meine volle Uebe 
—9 gefährlicher als der den Rihterrollegiem fre 
„Beweis aus Bermuthungen.“ 
Nehme man mun zu biefem Allen ferner noch die Abhängigkeit 
genheit von Regierungsdienern in politifchen Proceffen , — u 


fie, fih dem Geift der Regierung und dem Verdacht der, Bi 

politifcpen Gegner zu entziehen, wenn. fie biefelben nicht fchuldig findEm) 
Dürften fie nur nad objectiven juriftifchen Beweifen verurtheiten, fo.) 
mit dem Mangel derfelben ſich ftets.entfculbigen. Richten fie aber 


um. 145° 


.®e von Möfer, von Mittermaier (a. a. O.), gegen ſolche ins 
Yeneinbare iſchung des ——— — verbreitet jegt die Vers 
lung am ber Achten juriſtiſchen Berweistheorie, wie an der blofen 
dentheorie 5 a a u 2 ne einzige Pr 
rechte Auspüll urgerichts dern, diefe je Theorie. 
Man hält nach derfelben eine Bruchftuͤcke der alten directen 
jeglichen Beweiſe feft und erlaubt, fie durch die Suite nie bes 
Wahrſcheinlichkeiten blofer Indicien unb das fubjective 
GSlauben der Richter. an dieſelben zu ergänzen. Auch erklärte. man 
bereits Häufig geradezu, der Richter folle often ale Losfprehun: 
sen nad feinem fubjectiven Glauben entſcheiden. Ex folle nur 
dermittelſi fogenannter negativer juriſtiſcher Beweiſe Beine Vers ⸗ 
urtheilungen ausfprehen Sinnen, ohne baf einige Trümmer des 
juriſtiſchen iſes fi mit feinem Stausen oder laubentwollen vers 
binden. In allen diefen Faͤllen aber bleibt einestheils ber Vorwurf 
ber Untanglicykeit aller aufgezwungenen —— 1 ihrer —— 
ihrer verderblichen Hemmung der Wahrheit. 
gleich die ganze Gefährlichkeit der cidjterlichen ge und — 
denn feinem wahren Weſen nach bleibt ſolcher Beweis fubjectiver Stau: 
bensbereis. Diefes bleibt ex vollends nach der Theotie derer, bie, 
wie Roßhirt, dadurch zu einer juriſtiſchen Weweistheorie helfen wole 
len, daß fie den bisher als un zuverläfſig anerkannten Bruchftüden 
Taziflifcher Bewelſe außergerichtiichen Geftändniffen, den Ausfagen von 
Mitfyuldigen, von einem Zeugen u. f. iv. eine dohere Berveiskraft 


heime Kerkere und * —ãS truͤgliche Ieten, beliebiges Hinein⸗ 
derausinquiriren Sirafen, doel der 

Sue Mint ⏑,———————— more 
fahrens, und dazu noch BRichterfprüche nach dem ful — — Meinen — und que 
legt enbtich jegt ein Gpielcaum bes richterlichen fens zwiſchen dem en 
Fe —— Dr de m — — die a ae un und 
Er Sarlaormel her Mrkliden ser — —— ng. 


6 ga viel, wenn t, daß eine s Srmäätigung une ab M \ 
5 n a erh heh “4 Indicien, aul 5 fette Per en 
gie: en Ermädtigung NER u QJufi Teen 
‚man fich auch nicht etwa darauf, daß Na franzöflfe ürden Orr —ã— — 
über unb correctionelle — auch nicht am juriſtiſche Geweij 
en En 
un 
AN 
und die folgen vi 
denn uns armen Deutfen 


146 Jury · 


andichten. Dadurch wird ber juriſtiſche Beweis aur 
unzuverläffig, oder er muß doch mehr feine Kara 
durch Indieiem oder moralifche Ueberzeugung erhalten. 


Wenn auch eimelne Städe directen juriſtiſchen Verweilen, eima m 
Beweis des Thatbeftandes und ein Fragment des Zeugen» imb 
nißbeweifes gefeslich gefordert würden, welche feld nur 
—— — en und durch meue 
ergänzt werben m fo- Täße fih ja num md nimmermehe > 
Bruchſtuͤck, die Stärke umd der Mangel feiner Gl 
die nothwendige Stärke der zur Ergänzung nothweridigem 
lichkeiten objecttv, mathematiſch und jueiflifh al und 
gleichen, eben fo wenig als die Stärke ber Indicien fe 
fcheidet in Beziehung auf jeden Punct ri das far 
jeetive rihterlihe Meinen und Ermeffen, 


Den Richter aber In ben Fällen, wo vollftändiger juriſtiſcher — 
weis fehle — das heißt aber in den allermeiften Criminal 
fälten — in feiner, nad alen unberehenbaren, le£@ Herfäin 
denen Befonderheiten jedes conereten Falles zu it (4 
jectiven Ueberzeugung zum Boraus durch einzelne abficncte, m 
fubjectiven Weberzeugung bes Geſetgebers gebildeten. juriſte | 
gungen und Regeln, ihn duch Halbe und viertelssjuriftil — 
gewaltſam befcränfen zu wollen, dieſes iſt vielfach noch 

die Forderung ganz juriſtiſcher Beweiſe. Es ergeben fi Klee 

gen Nachtheite beider Bormen; zugleich aber aoch bee 
liche neue, daß num hier bei diefer Mifchung fubjectiver 
und juriftifcher Beweiſe, bei_biefer Miſchung der fubjectiven 

gung des Richters und des Gefekgebrrs, beide verberbt ober aufan 
merden, daß doppelte Taͤuſchung, Unficherheit und WIlEkE au 
Eee v4 huiftiihen * wie des titeelihen ——— 














Surg. 147 


gefhilberten allertraurigften Folgen und. Aushälfsmittel 
der juriflifhen Beweistheorie und des Beamtenge⸗ 
richto, die langen geheimen Kerker⸗ und Inquifitionstorturen zur Tr⸗ 
preffung von Ausfagen und Geftänbniffen, die Verdaͤchtigkeltsſtraſen 
umd Inſtanzlosſprechungen und das vehmgerichtliche Dunkel des Vers 
fahrens. Das reine Juriftengericht, das fie ſchuf, wird fle 

.aud gegen den Wilten der Gefege erhalten. Die Natur 
der Dinge iſt flärker als die Befege. 

Außerdem fteht die abſolutiſtiſche Verſchlimmerung der Dinge nie 
von felbſt ſtill. Es liegt eine flets wahfende Kraft im jeder 
Berkeherheit, fo Lange das Leben nicht eine gänzlih entgegens 
gefegte Rihtung erhält. Ohne biefe werben auch. jene Uebel, 
pt das Beheimniß des Erlminalproceſſes und die Abhängigkeit der 

erichte ſtets wachſen, tie fie feit Anfang ber Rheinbundẽdespotie 
fhon zum Erſchreckken gewadhfen find und nod taͤglich 
wach ſen. Sie werden wachfen, felbft trog dem, daß fogar bie Abfos 
tutiften aus Zucht vor Schande dagegen proteftiren und 3. B. 
haͤngigkelt der Berichte für ſcheußlich, und eine Yufklz, die das Licht 
ſcheut, alles Vertrauens unwuͤrdig erklaͤren, ja es ausfprechen, daß eine 
geheime abhängige Juſtiz der ausgeſprochene Kriegezuftand zwiſchen 

ort und Regierung ſei. " 

Freilich muß man es achtungs voll anerkennen, daß alle 
unfere ehrenwerthen Rechtsgelehrten vor einem ſolchen 
Eriminalverfahren und feinen unvermeidlihen Folgen zuruͤckſchaudern, 
und einftimmig als Grundbedingung eines ehrenhaften Rechtszuſtan⸗ 
des, als Grundbedingung aud für die Mifchungstheorie: Oeffent⸗ 
lichkeit und Muͤndlichkeit und accufatorifhe Einrihtung 
des Verfahrens und das Selbſtſehen und Selbſthören 
der Ankiäger, Angeklagten und Zeugen von allen Kich- 
tern fordern. Und zugeftehen muß man, daß, wenn dieſe Forderungen 
ehrlich erfüllt und gehalten würden, ja werden koͤnnten, im Vergleich 
mit unferem bisherigen täglich ſich verſchlechternden criminalcehtlichen 
Buftande, ſelbſt ein ſolches Beamtengeriht mit jenem ungluͤcllchen 

+ Mifhjungsbeweife noch eine wahre Wohlthat genannt werden 
müßte, zumal bei einer Forderung bedeutender negativer Beweisgruͤnde 
und Öffentlicher Entfceidungsgründe, bei der Forderung einer größeren 
Nichterzapt und einer größeren Stimmenmehrheit, bei ausgebehnteren 
Recufationsrechten gegen bie Richter und vor Allem bei wieberhergefkellter 
Unabhängigkeit ber Gerichte 

Dennoch aber muͤſſen wir nady allem Visherigen den Unglauben 
an ein ſolches widernatürlihes Sthämwerk, ja den Uns 
glauben, daß es nur irgend im Leben ſich werbe,halten 
tönnen, offen ausſprechen. Sogar in dem Hauptforderungen Iäft 
ſich die Schwaͤche bereits wieder das Weſentlichſte abdingen. Selbſt 
die richterliche Unabhängigkeit fordert man nicht einmal fo weit, als fle 
für gerechte Straffuſtig Trefutt (©. 816) für anentbepriig 


148 Sum. 


erklärte, vollends nicht fo, wie fie mit den Relchegeſehen (Beift’s 
Staatsr. $. 148) und ben Gefegen freier Völker Feuerbach forderte 
Die kuͤnſtlich combinirten Trümmer ber juriſtiſchen gs 
und des fubjectiven richterlichen Meinens aber bieten. feine 
nügenden Bürgfchaften, hindern bier bei bem Mangel jener 
tiven-Bedingungen bie Verurtheilung offenbar Schuldiger, 
führen dort, ſchon um das Pegtere zu vermeiden, zur Mi und zur 
Verhüllung derſelben und der von iht ausgehenden , Verurthelfumgen 
tmirklich oben juriſtiſch Unfchuldiger. Bor Allem aber muß ſchon, um 
jene negativen Bedingungen der Beructheilung, Geftändniffe und. Auss 
fagen von Mitſchuldigen herausjubringen, gerade die größte Scheuf- 
lichkeit, die lange Inquifitions> und Kerkertortur unb die durch fie feibft 
wieder begründete Unglaubmwärdigfeit jener Ausfagen aub 
hier der Natur der Sache nad fortdbauern. Diefes IE um fo 
unvermeldliher, da Gerichte von juriftifchen Regierungsbeamten nie 
fortdauernd vor dem Volke die Verantwortlichkeit von Griminaluerheilen 
auf ihr fubjectives Meinen auf ſich nehmen und ihrem Fürften auf: 
bürden können. Wo aber foll nun der Much und das gute Ge 
wiſſen herkommen, dem Rechtsgefuͤhle und gefunden Menfhenverflande 
des Volks dieſe Schauber erregenden, unnatuͤtiichen, geheimen Worbereis 
tungen des unnatürlichen Gerichts mit feinen Kerker⸗ und Juflimorben 
öffentlich vor Augen zu flellen, der Muth, diefe deutfche Suftiz mit 
ihrem Moderduft und blutbefledten Kleide zu enthüllen? So aber 
werben die Inquiſitionskerker geheim und hülftos bleiben tie — 
Die Thuͤren des Urtheilsgerichts aber werden ſchon, um ihre Mater 
und um das Urtheilen auf folche Grundlagen hin nicht öffentlich fehen 





zu laſſen, entweder nie wirklich geöffnet oder gar Bald 
wieder gefhloffen werben, gerade fo, wie man fhon früher Die 
uralte deutſche Deffentlichkeit gefegwibrig aufhob, eben weil das Wir 
fahren der Gerichte das Licht fheuen mußte. wi 





Jury. 149 


„den Nachtheilen unſerer alten Einrichtung noch unzaͤhlige neue ver⸗ 
„binden und keine Vortheile des wahren Geſchworenengerichts geben 

3) Die größere Verbuͤrgung ber Gerechtigkeit ber 
Urtheile bes Schwurgerihts. Das aus dem Vereine von 
Staatsrichtern und auserwählten Volksrepräfentanten gebildete Schwurs 
gericht gibt nach der obigen Ausführung (II, 2 und 3) entfchieden bie 
beften Bedingungen und Bürgfchaften für wirfiih objectiv ges 
rechte Urtheile und verbannt allein alle oben geſchilderten Unges 
techtigleiten unferes geheimen Inquifitorifchen Beamtengerichte. Es 
wirkt zugleih am Beſten für die fubjective Gerechtigkeit ober 
auf den fubjectiven Glauben der Bürger an die Gerechtigkeit und 
auf die Sefinnung für fie. 


fleller! Vor Allem muß man jebem Gedanken, juriſtiſche Beamten ohne 
vollftändige flreng juriftifhe objective Beweiſe Griminals 
urtheile fällen zu laſſen, fletö neu entgegenfegen, was unfer Juſtus Möfer 
(I, 308) bemfelben mit entrüfteter Seele entgegenrief: „Die gefährlichfte Wen⸗ 
„nung aber, welche wir zu befürchten haben, ift nur biefe, daß Ungenoſſen⸗ 
‚Richtern die Macht gegeben wirb, welche vordem die Genoſſen hatten. — Wenn 
„diefen erlaubt wird, nad dem gewöhnlichen Ausbrude mit Hintanfegung uns 
„möthiger Kormalitäten gu entfcheiden, wenn diefe von dem bärren 
„Buhftaben ber Befege auh nur ein Haar breit abweidhen 
„dürfen, fo beruht Kreiheit und Eigenthum einzig und allein 
„auf der Gnade des Landesherren, fo kann er foldhe Leute zu Richtern 
„verfchreiben, die in dem Lande, wo fie nad) ihrer Weisheit und Billigkeit 
„verfahren follen, nichts Eigenes haben und Keinem Genoß find, die aus ber 
„Tuͤrkei und Zatarei zu Haufe find, und bie es nach unverwerflichen Gründen 
„darthun können, bar es vernünftiger fei, bie Beinkleider als den Hut unter 
„den Arm gu nehmen — — —“ 

Solche gerechte Empoͤrung gegen ben, allen Brundfägen vaters 
Ländifher Gerechtigkeit widerfprechenden, Bebanten aber ſprach — um 
diefes wieberholt hervorzuheben — der prattifche Mann fchon zu feiner Zeit aus, 
Schon bamals fah er barin eine Zerſtoͤrung aller gefeglihen Sicher: 
heit, aller bärgerlihen und politifhen Freiheit. Was aber 
würbe, aus feinem Grabe erſtehend, heute ber große Mann fagen, wenn unfere 
jest von den Machthabern täglich abhängigeren, unfere beliebig penflonirbaren 
und verfegbaren juriftifhen egierungsbiener nach ihrer unverantwortfichen 
fubjectiven moralifhen Weberzeugung ben Bürgern Ehre, Freiheit und Leben 
abfprechen, über fie bei politifchen Proceffen und gegen politifch Berfolgte allein 
richten, vieleicht gar nach geheimer Inauifition auf Actenrelation geheim richten 
folten? wenn fie mit biefer entfeglinen Gewalt auch noch bie bes furcht⸗ 
baren neuern Ermeffens in Beflimmung ber Strafgröße verbinden, unb 
fo entweder felbft zu despotifhen Herren ber Bürger ober zu 
abhängigen Werkzeugen ber NRegierungsbespotie werben 
müffen? Was würbe er fagen, wenn deutſche Zurifien ſolchen Rechtes 
zuftand ohne Befäht der Scham und der Empörung den ihrigen nennen Eönnten, 
ihn als einen der deutfchen Nation wuͤrdigen vertheibigen möchten? Gr würbe 
in Kummer fi zu feinem Grabe zurädfehnen, nachdem er alle Grundfäge 
früherer beutfher Freiheit und Gerechtigkeit felbft in bem Stauhe 
te und erlofhen fühe, der vorzugsweife ihr Erhalte un The G 
ollte 






150 Sum. 


* 
Die drei unentbehrlihften Bärgfhaften (& ob 
feetive Gerechtigkeit. 1) Das Schwurgericht wir 
Duttlinger (1, © 131) döhtig fi ausbrüdt, „die einheenkiche 
„Unabhängtgkeit gegen bie unfauteren Einflüffe von Außen bee mit 
„mer Sicherheit und Trefflichteit, wie es auf feinem andern 
Areichbar iſt.“ Es wirkt am Beſten gegen’ das Unheil, daE Die 
tichte und ihre Urtheite, ſtatt von der Gerechtigkeit und ihrer eigenen 
freien rechtlichen Webergeugung, vielmehr von dußerem WWilfen, kon 
fremden Einflüffen abhängen und zu deren MWerkjeugen erniebrige erben. 
&8 wirkt 2) am Bellen für die rihterlihe UnparteffichBeit, 
für vieffeltige, parteitofe Auffaffung der Sache und 3) für bie ri, 
terliche Fähigkeit, ober dafür, daß die Berichte nad) allen Wezie 
hungen das Alles, was für die Gerechtigkeit der Urthelle einfluifreich if, 
volftändig und richtig auffaffen und würdigen. Schon allein bat 
Bufammenwirten, bie natürliche, wech ſelſettige 
zung, Unterflüßung und Controle der Saatsrihter und 
ber Gefhmworenen gibt nothwendig ihrem vereinten Win 
Ten in allen drei Hauptbegiehungen Vorzüge ‚vor jebem Bias 
einfeitigen Beamten⸗ ober vor jedem reinen Buͤrgergericht. 
dadurch nothwendig eime größere Schugwehr gegen uͤngebuͤhtliche 
hängigkeit von der Regierung, ihren einfeitigen Richtungen mb 
wechſelnden politifchen Intereffen und Leidenſchaften, und eben fo 

die freilich ungleich feltenere Abhängigkeit von Veflehung und 
willkuͤt. Der eine Beſtandthell des Gerichts gibt dem andern Shus 
und Kraft, und warnt und bewacht ben andern gegen. S 

Beide find nicht abhängig von denſelben Einflüffen. Mer abe 
mödhte behaupten wollen, alle Gefdmworenen, alle die Erufenbe 








von Bürgern, die nach dem Loofe einmal zum Richter berufen find, 
feien ſo leicht feiner ober gröber, durch Belohnungen ober Machiheile, 





Jury. | 181 


gruͤndlich unterrichten, tie jeder vernünftige Geſchaͤftsmann und 
Familienvater felbft bei unendlich unmwichtigeren. Schon nad 
dem bier Angebeuteten müflen der Natur der Sache nad bie 
unter Mitwirkung gut ausgewählter Geſchworenen gefällten Strafurtheile 
im Durchſchnitt wirklich objectiv gerechter ausfallen. 

Die fubjective Gerechtigkeit oder bie heilfamere 
Wirkſamkeit des Schwurgeriht® für Erhaltung unb 
Beförderung des Glaubens ber Bürger an die Gerech⸗ 
tigkeit und ihrer Gefinnung für fie. — Das Schwurgericht 
würde von der Gerechtigkeit gefordert werden, weil es die befte, ſorg⸗ 
fältigfte, vielfeltigfte Einrichtung ift, in unfern befchränkten menfchlichen 
Verhaͤltniſſen objectiv gerechte Urtheile zu erhalten. Es wird aber 
doppelt nothwendig, weil feine Urtheile auch ſeiner Natur nad 
das größte Vertrauen ber Gerechtigkeit für fih Haben 
und fchon deshalb am Meiften günftig für die Gerechtigkeit wirken. 
„Bon Gott und feinem Baterlande gerichtet zu werden” — dieſes große 
Mort des Briten zur Bezeichnung des Gefchworenengerichts druͤckt 
Alles aus. Deutſche Gegner des Geſchworenengerichts, wenn fie 
nicht ableugnen Eonnten, daß bie Voͤlker, welche das Gefchwormens 
gericht befigen und im Leben erprobten, mit feltener Uebereinflimmung 
dieſe Gerichtseinrichtung jeder andern vorzogen, bebaupteten,, diefen 
fo großen Vorzug gebe man ihre nur megen ihres großen Schutzes 
der politifchen Freiheit. Nun, auch dieſer Schug kommt der Ges 
techtigleit zu Gute. Die gaͤnzliche Abfonderung ber politifchen Vor⸗ 
zuͤge des Schwurgerichts von den rechtlichen iſt eine Thorheit. Iſt 
denn für edle Menſchen und Völker die politifche, bie vaterländifche 
Sreiheit, der Schutz des Rechts und der Verfaffung gegen Willkuͤr 
und Despotismus, gegen ihre Ungerechtigkeiten und Verderbniſſe 
nicht felbft ein Recht und das edelfte von allen? Und 
wirft Ddiefelbe, wirkt der veredelnde Einfluß der politifhen Freiheit 
nicht für den Schutz, für die höhere Achtung alles Mechts und 
dee Geſetze überhaupt? Bewundert nicht die Welt bei den Briten — 
trotz aller ihnen eigenthümlichen Verfuchungen zum Gegentheil durch 
bie ſchon aus dem Feudalismus und Fauſtrecht flammende furchtbare 
Ungleichheit der Güter und zugleich durch die riefenmäßigen Handels⸗ 
und Fabrikverhaͤltniſſe — dennoh den geſetzlichen Sinn, bie 
- Hohe Achtung des Rechts? Werden nicht mehr als durch Strafs. 
urtheile durch Vaterlandsſtolz, patriotifchen Gemeingeift und Verfaſſungs⸗ 
treue die rohen und niedrigen, die felbfifühtigen und ver» 
breherifhen Triebe veredelt oder unterdbrüdt, und Ver—⸗ 
brechen alfo verhindert? Allein jene Behauptung iſt auch ganz 
erdichtet, denn bei weitem der größefle Theil aller Bewunderer des 
Schwurgerichts in England, Frankreich und in den beutfchen Rheinlanden 
— von welchen bie preußifchen fogar in politifhen Sachen des Schwurs 
gerichts beraubt find — die Schziftfleller, wie Hunberte von Bewohnern 
jener Länder, die ich befragte, zogen das Gelkwarenragriikt, dar ia 


153 gury. 


wie Hume und unfer Zuftus Möfer, wier@rolmann umb ie 
ganze preußiſche Immedlatjuſtizcommiſſion wegen feiner geredhteren 
Urtheile und wegen des Glaubens an diefelben vor. Wenn ſich abe 
bei der Unvolltommenheit aller denkbaren menſchlichen Berichtsekarid« 
tungen die Frage, weiche die gecechteften Urtheile, die wenigften unge 
rechten begründet, felbft nicht mit Sicherheit zu Gunften bes Schwan 
gerichts entfcheiden ließe, abfolut volllommene Gerechtigkeit aber wnadglih 
iR, fo ift doch ficherlich die Einrichtung die gerechteſte, und diejenige 
wirkt wohl am Beften für die Erhaltung der Gerech tig⸗ 
keit und ber Achtung berfelben, melde die Bürger, weiche Me 
Angektagten felbft für die gerehtefte halten und als ſolche 
wollen. Kann benn irgend etwas bie Achtung der Gerechtigkeit uns 
der Regierung, den wohlthätigen und ftolgen Glauben der Bürger au 
ein gerechtes, die Unſchuld — Verfahren toͤdtlicher laͤhmen, ai 
der Gedanke der Bürger, Criminalurtheile wuͤrden beftimme bach 
Regierungseinfläffe und durch Kaftengeift der Beamten? BDiefer Ge 
danke aber iſt unmöglich bei Mitwirkung der Geſchworenen. 

Das Schwurgericht wirkt ferner dadurch objectiv wie fubjectin 
unendlich heilfamer für die Erhaltung ber Gerechtigkeit, weil es alle 
Zaufende von fheußlihen langen Verhaftungen und Inquifitionss uud 
Kerkertorturen mit ihren Kerkers und Juftizmorden, bie Qı 


ungen und andere Verdaͤchtigkeitsſtrafen, meil es alle diefe Leibe 

ſelbſt für fo viele voͤllig Unſchul dige unndthig macht und abfdyafft. 

Es ift ein weiterer unendlichet Vorzug für eine gerechte Wi de 

Strafurtheile, daß fie moͤglichſt ſchnell der verbiecherifchen That anf 

dem Fuße folgen, fo bei Allen den Glauben an die Heiligkeit ber 
te erhalten und herftellen, während bei ung bie 





Jury · 1583 


jeber Bürger folle an der Steinigung des Abgoͤtters thaͤtigen Antheil 
nehmen, Aber nicht blos lebendigen Haß und Entruſtung gegen das 
Verbrechen — flatt der tödlichen Gleihgältigkeit — erweckt 
und naͤhrt das Schwurgericht; es bildet bei den Bürgern auch den 
Sinn und die Achtung für Leidenfhaftslofe Gerechtigkeit 
und gerechtes Maß und für die Sicherung der bürgerlichen Freihelt 
aus. Denn als felbfithätige Theilnehmer an gerechten”Urtheilen, als 
verpflichtet auf fie, verlieren fie diefe dumme, alle Gerechtigkeit und 
Kreiheit Preis gebende Stimmung fo vieler deutſchen Bürger, bei welcher 
fie nur blindes Wuͤthen der Strafuſtiz fordern und ihnen keine Strafen 
hart genug, keine Beweis⸗ und Steafurtheile formlos genug find. Im 
deutfchen Mittelalter ftanden und in England ftehen blos durch 
Schwurgeriht, trog fo vieler fonftiger Mißverhaͤitniſſe, doch die 
Vürger in wahrer Bürgerbildung ungleich höher, als fo 
viele unferer jegigen deutfhen Bürger! 

In Verbindung vollends mit folder thätigen Teilnahme der Bürger 
an bem Gericht erhält ihre fernere Theilnahme durch die Deffentlichkeit 
der Verhandlung erft ihren vollen Werth. Sie dehnt jene wohl 
thätige Wirkung von ben Gefchworenen auf alle ihre Mitbürger aus, 
In bee ganzen feierlichen, lebendigen Zuſammenwirkung der Eöniglichen 
Staatsanwälte und Ankläger, der präfidirenden Staatsrichter, ber Ges 
ſchworenen, der Zeugen, der Angeklagten und ihrer Vertheidiger und der 

ter, liegt etwas moraliſch tief Ergreifendes. Ein wuͤrdiger Praͤſtbent, 
feine und der Staatsanwälte und Vertheidiger feierliche Neden erwecken 
jest mehr, als man je hätte ahnen Binnen, die Stimme des oͤffent⸗ 
lihen Gewiſſens, bie Gefühle der Moralität und Humanität, der 
Scham und Scheu vor dem Nichtswärdigen, ben Abfcheu vor dem 
Verbrechen und zugleich bie gewifienhafte Sorge für unparteliſche, hu⸗ 
mane und vollsmäßige Gerechtigkeit. So wird wahrhaft die 
GStrafgerehtigkeit mit der Moral und moralifhen Ges 
rechtigkeit und der befferen öffentlihen Meinung ver- 
bunden, wie es niemals bei uns in Deutfchland ber Falt 
iſt. Sie wird ein wahrhaftes Sffentlihes Cenſurgericht *), 
allgemein ergreifend für die Zuhörer. &o oft ich auch in dem derſchle⸗ 
denften Ländern dem Schwurgericht beimohnte, erneuerte ſich lebhaft in 
mir vor Allem diefe Weberzeugung und die Beobachtung des gleichen 
Gedankens bei Andern. 

So gaͤnzlich Hohl und aus der Luft gegriffen iſt die naive Befürch- 
tung mancher deutſchen Theoretiker, die öffentliche Verhandlung 
ſchade der Moralität und Sicherheit. Als hörten etwa hier 
die Verbrecher zuerſt vom Böfen! Als wenn nicht auch alle Schaͤnd⸗ 
lUchkeiten der Verbrecher ſich hundertfady im Volke herumtrügen! Aber 
fie thun dieſes meift nur auf eine frivole Weife, während fie im 
Öffentlihen Gericht unter die Herrſchaft der höheren moras 


*) S. oben Bd. vhn. ©. 386, 








154 Jury. 


Ufhen Gefihtöpuncte geftellt erfheinen, mb Das h 
Gewiffen gegen. fie gewedt wird. Die in mißteauifchet und zu 
erwed endes Dunkel ey — und ng 
Beamten dagegen machen fo häufig flatt eines wohlthätigen, 
einen nmachtheiligen, nicht felten ‚gefährlichen Eindrud, Sam öffentliche 
—— — man ihre Gründe und ſicht ud bu 
itwirfung der Mitbürger und Die wuͤrdige, unpartelifpe Handlung 
meife bes Gerichts. 

4) Die politifhe Heilfamkelt des Schwurgerihn 
für den Schuß ber Berfaffung und ber aatsbärgeriidn 
Freiheit, für eblere Volksbildung und patriotifhe Br 
finnung, fo wie _beffen Ungefährlichkeit und doppelt 
Heilfamkeit und Nochwendigkeit in unfern monar de 
Berfaffungen. — In politifcher Hinficht iſt der Vorzug bes . 
gerichts augenfällig und felbft von den fonftigen Gegnern biefes 
anerkannt, Sogar die größten Gegner der englifchen Derfeffung m 
unter ihnen ber Nordamerifaner Pivingfton (im feiner Ungerfuhug 
der engl. Verf. &. 36) preifen doch Laut fein Schmwurgeriche fee 
Volksrepräfentation. „Nur diefe zwei einfachften Juflituter, 1 
Livingfton, „haben alle diefe Vorzüge, haben das 
„die Bewunderung des Weltalls, nur diefe beiden Anflitute 
„Englands großen Vorrang vor den übrigen Völkern bewixkg” 

Altes dasjenige, was etwa in Beziehung auf uns für bie 
Heilfamkeit, ja Nothwendigkeit des Schwurgerichts noch zur fe 
wird gefagt fein, und was etwa — werden möchte, merk 
mir befeitige haben durch die Miderlegung der Einwendungen, 





Entwidelung fih Feuer bach's glänzender Scharffinn gefiel © 
Härt das Schwurgericht in feinem Werke (S. 47) mefemtlih 
gemifhte und für bemoftatifche Berfaffungen. „In beim 


Jury. 155 


nicht mit vorherrſchender Gewalt über dem Gefehgeber. Der That⸗ 
eichter ift verborgen unter der Menge und verliert ſich nach abgeges 
benem Spruche wieber unter feines Gleichen. So laͤßt fich denn erwarten, 
daß die Heine, flille Verfammlung gut und unter Mitwirkung bes 
Angeklagten auserwählter parteilofer Richter nicht nut leidenfchaftslos 
das Urtheil fuche, fondern auch mit richtigem Verſtande das wahre Urs 
theit‘ finde.’ 0 

Unter einer gemifchten Verfaffung verſteht Feuerbah (S. 57) 
nur eine folche, wo die Sowuveränetät felbft zwiſchen dem Volk und 
einem Monarchen ober einem ariftofratifchen Körper oder zwifchen dieſen 
dreien materiell getheilt fei, fo daß jedem einzelnen mitherrfchenden 
Theile nur gewiſſe Beftandtheile der hoͤchſten Gewalt, fo wie in Eng⸗ 
land dem Parlament nur die Geſetzgebung, dem König nur die Volls 
ziehung zuſtuͤnde. „So wie alles Leben Kampf der Kräfte 
ift, fo auch das Leben einer folhen politifhen Maſchine. Durch bie 
Trennung feien die oberften Kräfte in mechfelfeitigen Widerſtreit geſetzt, 
fo daß aus dieſem Widerſtreite — der Geiſt alles politifgen 
Lebens und Wirkens und felbft das Princip der Kortdauer einer folchen 
Berfaffung hervorgehe. Auf welche Seite man bier das Gewicht der 
Griminalgewalt lege, werde ſtets das Gegengewicht /aufgehoben und die 
Berfaffung durch Ufurpation des UebergewichtE von einer ber getrennten 
widerſtreitenden Gewalten zerſtoͤrt. Werbe 5. B. ber Monarch allein 
Herr der Criminalgewalt, ſo waͤre er zugleich Herr uͤber jeden Willen, 
der etwas Anderes wollte, als er, mithin auch über Jeden, ber 
die Sonftitution buch Wort oder That gegen ihn zu 
vertheidigen wagt. Er würde mithin alsbald der Geſetzgeber 
fein, fobald er es werden wolle, und in folhen Dingen 
tommt flets das Wollen von felbft, fobald nur immer das 
Können in Richtigkeit gebracht if. Geſchworenengerichte find daher in 
einem folhen Staatsorganiemus der Schlußſtein der ganzen 
Berfaffung oder vielmehr ihr Grundftein, mit welhem 
fie ſelbſt ſteht oder fällt. Der König muß die Gewalt haben, 
die Verbrecher durch Anklage zu verfolgen und durch die von ihm ges 
fegten Richter zu beftrafen. Aber diefer Gewalt muß das Palladium 
einer magna charta mit dem Grundſatze 'gegenüberftehen: nullus liber 
homo capiatur vel imprisonetur aut exulet aut aliquo modo de- 
struatur nisi per legale judicium parium suorum vel per legemterrae. 
Alle Könige Englands, welche nad) der Alleinherefchaft ſtrebten, ſuchten 
baher durch Umgehung ber Jury die Verfaſſung, welche fie umſtuͤrzen 
wollten, an ihrer Wurzel anzufaffen”. — „Da nun (2) nad dem Ausge⸗ 
führten” — fo fährt Feuerbach fort — „die Jury blos (?) auf einem 
zepublicanifchen (7) Princip ruht, entweder zum Schug ber Volksfouveränes 
tät oder zum Schus des Volks antheils an ihr, zum Schuß der poli⸗ 
tifhen Freiheit gegen eine nach Alleinherrſchaft ſtrebende Monarchie 
ober Ariſtokratie nöthig iſt, fo Uegt die Jury nicht im Geift einer Re» 
gierungsform, welche, indem fie ale Gewalt in einem von bem Wolke 


156 Jury · 


verſchiedenen Regenten vereinigt, dieſen zum alleinfgem Depais 
aller Rechte der Nation erhoben hat. Man Tann fogar Kehaupm 
daß in einer ungetheilten, wenn glei conftitutionellen ad 
men befchränkten Monarchie oder Ariftoktatie das Imftitue dee 
dem Geift und Mefen diefer Verfaffung wiberfpreche (7). Denn ba 
politifche Sreiheit einer Nation eins ift mit ihrer Souveräneräe (f), f 
Eann fein (?) conflitutionelles Mittel zur Erhaltung jener palktifhe 
Freiheit gegen einen Negenten gedacht werden (?), deffen ver 
mäßiges Recht gerade datin befteht, daß er die ganze Souverii w 
getheift in fich vereinigt. Was in jeder andern Verfaffung gegen ia 
Regenten (?) durch bie Jury vertheidiget werden foll, ft in Diefer nis 
mehr vorhanden (). Die politifche Freiheit HE allem im im 
Negenten (?), und alfo wäre eine Vertheibigung derfelben moiber bike 
nur eine Vertheibigung des Negenten wider fich ſelbt ) I 
Lange fie befteht, ſchuͤtt die Jump zwetmäßig auch bie perfönlie: 
Kreiheit der Bürger gegen bie Allgewait des bödflem Meine 
Altein, daß fie beftehe, oder nicht mehr beftehe, hängt unter einer Tolda ” 
Reglerungsgewalt ento®ber mittelbar oder unmittelbar von eben ba 
Willen ab, gegen welchen fie die Schubweht ift (27). Sie 
alfo gegen die höchfte Gewalt nur fo lange als diefe mitt (2), W# 
gegen fie ſolche Vertheidigung beftehen folle, mithin nur dann — wem 
es bes Vertheibigungsmittels nicht bedarf (?). Denken wir und 
Jury ober irgend eine amdere (?) bürgerliche Einrichtung bewgeftalt # 
einer DVerfaffung garantitt, daß dem Negenten tweder Gemalt me6 
Recht (!) darüber zuftehe, fo müffen wir bem Willen bes Mi 


einen andern von ihm verfhiedenen Millen gegenüber benfen, Dex feine 
Zweck ala Rehtsanfprud behaupten und geltend machen Kinn 
und haben alfo dem hoͤchſten Willen einen andern Willen Bei- on 
übergeordnet, durch Abtöfung eines Theils der Souverdmetät (, 
0 wie durd) bie Idee eines rechtlichen Widerftandes gegen bei 








Jury. 17 


kann er die Jury tilgen, umgehen, außerordentliche Gerichte und beſon⸗ 
dere Commiſſionen ernennen, aber auch, ſtatt aller gerichtlichen For⸗ 
men, entweder durch lettres de cachet ober durch bereitwillige Werks 
zeuge ber Polizei erlangen, was er von der Jurp nicht hofft (2). Was 
nuste feibft den Engländern ihre magna charta gegen Heinrich VII, 
ihre Jury gegen die Sterntammer? Gegen ben volftändigen (2) Re- 
genten fhäst keine todte Gonftitution, die zulegt nur auf ihm felbft be 
ruht (7), Bein ſchwaches Geſetz — wohl aber die öffentlihe Mei— 
nung (?). Nur das macht den Unterfchied zwiſchen Despotie und 
Monarchie, daß bier eine sffentlihe Meinung lebt (?), 
dort aber der Sklave zwifchen loͤblicher und unlöblicher Handlung bes 
Heren Seinen Unterfchiedb mehr findet (?). In einer felbegründeten 
ungetheilten Regierungsverfaffung ift felbft die Gefahr, wogegen bie 
Jury fügen fol, entweder gar nicht oder nur gering und entfernt 
vorhanden.” Nach der Ausführung des juriflifchen Lobes ber abfoluten 
Monarchie im Herodot fährt Feuerbach dann meiter fort: „Wo ber 
Thron noch unbefeftigt, die Gewalt mit dem Volk getheilt oder durch 
ariſtokratiſche Anfprüche befchräntt ift, da reizen ihn zahllofe Aufforbe- 
rungen zu Derlegungen, da find ewige Gdhrungen und widerfireitende 
Intereſſen. In einer zufammengefegten Verfaffung, bemerft Delolme, 
kann die Gewalt der Nation, welche bie des Fuͤrſten befchräntt, nur 
durch einzelne Unterthanen thätig wirken. Bald ift diefes ein Bürger, 
der duch die Deffentlichkeit und Stärke feiner Klagen der Nation die 
Augen öffnet, bald ein thätiges Mitglied der gefeggebenden Verſamm⸗ 
lung, welches wider den Mißbrauch der monarchiſchen Auctorität ein Ge 
feg in Vorfchlag bringt. Gegen diefe Einzelnen wendet daher der Fürft 
feine Kraft und fucht die Anfprüce bes Volks zu vernichten, indem er 
auf deſſen Häupter die Macht feines Eigenmwillens lenkt." — ‚Das 
fonft entgegengefeste Intereffe des Monarchen und des Volle wird 
dagegen bei einer Verfaffung mit ungetheiltee Gewalt, fo wie feit ber 
anerkannten abfoluten Monarchie in Frankreich nah Ludwig XI. (?) 
nur Eins und der Reiz zu Gewaltthaten verfhmwindet (?). Er braucht 
bier nur verftändig zu fein, um in ber allgemeinen Gerechtigkeit feine 
eigene Sicherheit zu entdeden, denn wenn er nicht für die Gerechtigkeit 
ft, fo wird die Gerechtigkeit ſich wider ihn erheben nad) dem perfifchen 
Roſengarten.“ (Alſo doch Widerſtand und Furcht vor ihm.) „Da er 
Alles befigt, (auch alles Eigentum und alle Weiber?), fo braucht er 
nichte zu erobern.” „Durch feine Erhabenheit und die Niedrigkeit 
aller Unterthanen ift eine foldye Kluft zroifchen beiden,. daß keine feind- 
liche Berührung der Intereffen den Eigenwillen des Monarchen reizt, 
die Form der Juſtiz heimtüdifch zur Vernichtung einzelner Unterthanen 
zu mißbrauchen. In der Menge verloren, ohne Gewicht, Einfluß und 
Anfpruch gegen den hoͤchſten Willen hat jeder Einzelne fchon in feiner 
politifhen Nichtigkeit, in dee Dunkelheit, die ihm verbirgt, 
die Garantie feiner Sicherheit. Zwar gilt diefes nicht von denen, welche 
als Däupter Über die Menge hervorragen und weiche in ber Nähe bes 










158 Jury · 


Throns ſtehen. Dieſe ihre Höhe zieht nur am I 
Blige aufihr Haupt, und die Gefahr und bie be 
gegen fle It heilfam für'd Wort (2). Unter einer wı 
ungsgemalt fehle «8 Überdies an den Bedingungen 
Gebelhens einer Jury, an jenem fittlihen Gemeing, 
durch welchen jeder Einzelne fid felbfi nur fi 
zen fühlt, und wodurd er Altes, was ben Gtaat angı 
unmittelbar ſelbſt angehenb betrachtet. Hier, beſteht 
alles bürgerlichen Lebens darin; — ungeflört zu erwerben, | 
zu befigem und rubig zu genießen. Deffentiihe j 
ten, mithin das Geſchworenenarat, werden bier dem Bürger 
megen feiner Privatangelegenheiten übernimmt er fie 
nur durch Strafen geswungen, und wird fie fo fehleht vermuten, 
det Staat das Inflitue bald wieder aufgeben muß” (9). 
NRichtercollegien mit Richtern, die nicht nad dem Willen be® 
fondern nur nad collegialem Richterſpruch — 
ihrem Einfommen nicht gefhmälert werben Di 
des Inhalts ihrer Michterfprüche dem Regenten nich t 
Uch find, eben fo fehr (?) — denn mehr koolle er EeH 
fogen — als eine Jury fhügend für die pesfönliche Freibele 
Gollegien feien unabhängig vom Oberheren in ihrem Wirken IE 
baid fie entjtanden find (1), und far durch die Sffensi 
Meinung (?), um die Willkür in ehrerbietiger Scheu g 
halten oder ihrem Anbringen mit Muth su be 
„Stets den Augen bes Publleums blosgeftellt.(?), nme fir 
nem Verrath an der Gerechtigkeit fich befleden, ohne zug 
ſelbſt das Wrtheil der Öffentlichen Verachtung auszufprechen. 
Megenten ſelbſt auf die Gerechtigkeit verpflichtet, bürfem 
willtührlihem Anfinnen nicht meihen und gehorfamen, 
Fürft koͤnne die Richter wegen eines nicht twohlgefälligen U 
u no ihrsm [Finfommen en mau hisfad no 


et 


Sur. 189 


es blelbt traurig, einen Feuer b ach ſeine Regierung wegen Ihres dama ⸗ 
ligen Abſolutismus und ihrer Verweigerung des freilich auch dem des: 
potiſchen Kheinbundsprotectot hinlaͤngũch widerwaͤrtigen Geſchworenenge⸗ 
richts auf ſolche Weiſe rechtfertigen zu ſehen. Jedenfalls find die 
fon durch) Sragezeichen angedeuteten Begriffeverwechſelungen und 
Widerfpräche des großen SJuriften nicht würdig. 

1) &8 iſt gleich Anfangs eine gewiß feichte Anſicht: bie englifche 
Berfoffung in einen abfoliten Gegenfag nicht ‘etwa gegen despotiſche 
Mheinbunbszuftände, ſondern auch gegen andere rechtliche, ſelbſt freie 
und conflitutionelle Verfaffungen fegen und ihr Wefen dann in jener 
wölligen Trennung und lung der fouverdnen Gewalt finden zu 
“wollen. Der König von England iſt weſentllch Mitgefeggeber, und 
das Parlament wirkt auch bei der Vollziehung weſentüch mit. In 
einem gewöhnlichen theoretifchen Sinne iſt alfo eine folche Theilung im 
Gtaatsleben auch in England gar nicht wirklich und nicht durchführbar, 
und wird ebenfalld auch von dem bei Feuerbach felbft angeführten 
Livingflon verfpottet. In einem allgemeineren Sinne iſt fie, wie 


ſchon die Artikel „Cabinetsjuftiz” und „Jufizverweigerung“ 


nachweiſen, größer ober geringer überall vorhanden, fobald nur nicht 
abfolute Rehtlofigkeit in einem Staate anerkannt if, wenn 
alfo neben unb gegenüber der Regierungsbehoͤrde noch anderen Perfonen 
wahre, d. h. von ber Regierungẽwillkuͤt rechtlich unabhängige Rechte 
zuſtehen. Nach Hugo ift ſchon alles, wahre Privatrecht der Bürger, 
das des Eigenthums, der Ehe, der Familie, verbunden mit der recht⸗ 
chen Befugniß, unabhängig von Regierungsmilllür in biefen bes 
deutenden Kreiſen bes ſtaatsgeſellſchaftlichen Lebens über "Mittel für 
Zwecke deſſelben zu gebieten, eine wahre Theilung ber Gewalt. Vollends 
aber ift jede Befugniß der Einzelnen, der Gorporationen, ber Landftände, 
der Städte, der Kirche, ber unabhängigen patrimonialen oder Staats: 
gerichte, unabhängig von willfürlihem Belieben ber Regierung über 
Mittel und Rechte für den öffentlichen Befelfchaftszwed zu verfügen, 
eine Abtrennung eines Theil der feibftftändigen öffentlichen Verfügungs- 
gewalt über die ſtaattgeſellſchaftlichen Vechältniffe, eine größere oder ges 
ingere Theilung der Gewalt. Und wer nicht Angefichts der urkundlichen 
Sefchichte und des urkundlichen und neu anerfannten Rechts von ganz 
Deutfdland und von ällen deutſchen Staaten *) ſich offenbare Lügen eriau⸗ 
ben will, der muß zugeben, baf in dem Staatsrecht diefer Staaten Ein⸗ 
vu und Gorporationen der Regierungsgemwalt gegenüber und von ihrem 

egierungsbelieben unabhängig, alfo wahre und fehr bebeutende ſelbſt⸗ 
fländige Privats und öffentlihe Rechte hatten und haben, bie fie auch 
gen den Regenten auf allen allgemein rechtlichen 

egen, namentlich auch ducch Anrufung des Weiche, wie jegt des 
Bundesſchutes, der Reiche und jest ber Bundesſchiedegerichte geltend 


Pr Re Artikel „deut ſche Seſchichte und teatiärn 


160 Jury · 


machen und vertheidigen konnten und koͤnnen. Gleiches galt widjterid 
von jeher von allen germanifhen Staaten. Somit findet, 
ihren Verfaffungen und zwifhen der in folhem Sinn werkam 
denen Abtrennung und der Vertheilung des engliſchen Mecdhts an dm 
König, an das Oberhaus, am das Unterhaus und andere phufifche und 
moralifhe Perfonen, burhaus Fein abfoluter Grgenfag Star 
Auch in England erfennen die ftaatsrehtlichen Urkunden bem Mönis 
allein als ben fonveränen Regenten, als den Erdgerbn 
ganzen Majeftdt an. Erift, wie fein Minifter auf dem Wink 
Eongreß erklärte „unleugbar eben fo fouverän, als jeder 
andere Fürft von Europa”. Und jene Urkunden forschen Ami 
Wort von jener förmlichen Trennung oder Theilung der Gr 
malt. Jede von diefem Standpuncte ausgehende Deduction alfo, BE 
bei den Briten das Gefchtworenengericht, welches feibft alle Ihre abı 
bängigen Colonieen haben, nur durch Princip und Mefen ber iu 
tifhen Verfaffung als vortrefflic und abfolut nothwendig geboten, it 
den übrigen Staaten, namentlich den deutſchen, dagegen unzutäffie fd 
ift eine von dem vielen gehaftlofen deutſchen Schultheorieen, eine ber wie 
fen auf febfterfundenen Gegenfägen gegründeten Sophifteteien. 

2) Es find ferner abfolut falfhe und feichte Begriffe don Cr 


veränetät und politifcher Freiheit, daß beide eins und Dafpene 
ſeten, daß mithin die politifche Freiheit eines Wortes Ideruzifch fer mi 
Negierungsfouveränetät und mit Volfsfouveränetät, und dag alfe ah 
da, wo bie Berfaffung dem Negenten das Necht ber Soiveräneräe pe 
fchreibe, gar keine politifhe Freiheit ber Bürger Sat 





Jury. "100° 


Gewalt, d. h. alfo er habe das Recht, alle verfeffungsmäßigen öffentlichen 
und Privatzedhte, mithin auch eine verfafjungsmäßige Jury, aufzuheben 
und mithin audy alle Unabhängigkeit der Berichte: durch Cabinetsjuſtiz 
zu erfegen, überhaupt jedem Buͤrger geradezu fein Wermögen, Weib 
und Kind zu rauben und alle beſchworene Grundverträge und Verfaffuns 
gem jeben Augenblick beliebig aufzuheben. Nur die unglüdfelige Rheins 
bundsepodye und der Mangel wahrer Gründe gegen die von Feuer: 
bad felbft anertannte Nothwendigkeit des Schwurger 
richte für wirklich politifch Freie Völker verbiendeten hier den 
alu oft leider fophiftiihen Schriftfleller. So weit geht biefe Verbien« 
dung, daß er die erften Grundbegriffe eines Rechtsſtaates und recht⸗ 
lichen Buftandes aufgibt und Recht mit Gewalt vermiſcht! Gefegt 

auch, ein Monarch habe, zumal durch den Schut eines Napoleon, 
eine factifch unmiderftehlihe Gewalt, ift fie denn darum auch eine 

rechtlich umwiderſtehliche und unbegrenzte? Iſt das Recht der Buͤr⸗ 
ger, ja ihre Pflicht, alle ihre verfaffungsmäßigen Rechte auf 
ie rechtlichen Wege geltend zu machen und gefchügt zu verlangen, 
zerflört? 

4) Es iſt deshalb auch ein großer Irrthum Feuerbach's, uns 
täufhen zu wollen, als bebürfe man des Schutzes bes Schwurgerichts 
außerhalb der materiellen Theilung der Souveränetät gar nicht. Hob⸗ 
bes, beffen Grunbfäge von der abfoluten Gewalt und dem paſſiven 
Sehorfam Feuerbach früher fo kraͤftig beftritt, jest annimmt, 
fordert zwar auch blinden Gehorfam ; aber der Brite hatte die Männ- 
lichkeit, zu fagen, dag fein abfoluter Zürft die Natur einer Beflie 
habe gegen die Bürger und nur darum vortheilhaft fei, weil er fie von 
vielen andern Beftien (tie er fie aus dem Buͤrgerkrieg vor Augen hatte) 
befcete, welche Befreiung indeß die freie englifche Verfaſſung ſeitdem 
viel beffer bewirkte, als durch beftiale Despotie. Der deutſche Philofoph 
dagegen möchte uns von der Trefflichkeit feines abfoluten Herrſcherthums 
und der Rheinbundezeit überreden. Verſchwindet wirklich füs den Mes 
genten und für feine, ihm ſelbſt bekanntlich nur zu oft beherefchenden 
Suͤnſtlinge und Minifter in der Monarchie aller Anreiz zu Verfolgun⸗ 

en, zu Mißbräuchen und Gewaltthaten durch abhängige Gerichte u. f. w.? 
& conſtitutlonellen wie abfoluten Monarchieen folten fogar ſolche Maͤn⸗ 
ner ſicher fein, welche, nad, jenen Worten von Delolme, ben Macht 
habenden mädtigen Beamten und buch fie dem Regenten unbequem 
und gehäffig werden, teil fie in patriotifcher aufopfernder Beſtrebung 
für ihre umd ihres Vaterlands beſchworene Mechte, für diefe wahre, aber 
fo oft verlegte Grundlage auch der Throne in ober außerhalb der 
Wahl: und Ständeverfammlungen mandye Regierungsmaßcegel getadelt 
und befämpft, mandye Mißbraͤuche aufgedeckt und angellagt, die Bürger 
zur patriotiſchen Handhabung ihrer verfaffungsmäßigen Rechte geſtimmt 
haben? Dieſe für Vaterland und Fuͤrſt wohlgeſinnten Männer ſollten 
I ficher fein, nicht von der abhängigen Griminaljuftig um Einfluß, Ehre, 
1 Sreigeit und Leben gebracht ober, wie man fagt, „ankälhlin gender 
1 zu werden?” Wlide doch nur Jeder mit offenem Kuge won Gin ar 
Gtaath s Erpilon. IX. 0x 


160* Jury. 


eringere Widerſtand, den der wach fen de Uebermurh ber Mi 
Shen finden würde, wenn der kraͤftigere verbannt wäre, würbe 
gehaßt, ja mit doppelter Shonungslofigkeit verfolge merim 
Seuerbady ſelbſt aber weiß ja nur dadurch dem m 
ſiaat von ſcheußlichem Despotismus zu unterfdeiden, daß im jmm 
eine freie dffentlihe Meinung der Bürger. fi gegem alle um 
rechtliche und ‚verkehrte fürfttihe minifterielle Gewalzäbum 
geltend macht und den Fuͤtſten noͤthigt. Hierin ſieht er den 
gen wahren’ Schus, die Bürgfhaft, daß die Sewait ak 
mohlchätigen Inftitwtionen, die confitweionelle Werfalı 
fung, bie auch ihm fo mefentlihe Unabhängigkeit ou 
allein die Achtbarkeit der Richter fhügende Deffentlichkeit der Meridien 
umftoße, daß fie nicht die Iegteren zu bequemen Mitteln ber Mund 
und Privatrahe oder der Güterberaubung gebtauche. Run aber; mu 
denn ein Feuerb ach fo unfhuldig, midht zu wiſſen wenait 
diejenigen, welche eine folde wohlthätige, aber gervähmlich fahr 
unangenehme Öffentliche Meinung befördern oder. anadfpenie 
tödelich gehaft und als angebliche Verbtecher verfolge mmerbeal 
Haben wir ja doch in Particulargefegen, ja zum Theil im; 
Beuerbah's Namen tragen, fogar Strafbeftiimmungen g. Bi 
unebrerbietigen unhoͤflichen Zabel von Regierungsmm 
oder „über Aufcegung zur Unzufriedenheit”, welche ſich fo 
gebrauchen Laffen, um jene mwohlmeinenden Förderer ber 
Öffentlichen Meinung mit ihren Familien zu Grunde gm 





Juty · 160° 


leider nur allzu wenig. Er iſt hier eines Staatemannes ganz unwuͤr⸗ 
dig. Die Befchichte müßte nicht voller Belfpiele von’ Regierungen fein, 
die zuerſt Ehre, Tugend und Wohlſtand ihrer Bürger und dann ſich 
feldft culmicten, um fid durch ihn beraßigem zu laſſen. Fuͤr ale 
einzelnen Menfchen ift ja auch nur allein Weisheit und Tugend der 
wahre Wortheil. Aber hält fi) wohl ein vernünftiger Staatemann 
dadurch und ohne gute Staatseinrichtungen geſchuͤtt gegen ihre Thor⸗ 
heiten und Lafter? 

6) Es if aber auch ein neuer Ircthum, wenn Feuerbach in dem 
Staate ohne materielle Trennung der Gewalten deshalb 
den Schut des Schwurgerichtes wirkungeélos erklaͤrt, tell es bier 
nicht voliſt dndig gegen einen böfen Willen der Regierung ſchuͤte. 
Auch hier iſt fein Gegenfag gegen England gänzlich falſch. Auch dort 
®onnte, tie er felbft erwähnt, der Despotismus eines Heinriche 
VI. das Schwurgericht umgeben. Auch in unferen Staaten aber 
werden ja gänzlich dieſelben Schugmittel, welche, wie bie öffentliche 
Meinung, von gewaltfamer Zerftörung der übrigen Eonftitution 
und insbefondere der Unabhängigkeit der Richter abhalten ſollen, wohl 
auch eine verfaffungemäßige Jury ſchuͤtzen. Sie ift ja doch feibft für 
die öffentliche Meinung wirkſamer und durch fie kraͤftiget und weniger 
leicht abhängig zu machen, als ein bloſes Beamtengeridt, vollends ein 
gedeimes und inquiſitoriſches. Und body fol ſelbſt diefed nah Feuer⸗ 

ach gegen bie Gewalt fügen und ihr widerftehen. 

H So ergibt ſich denn auch im Allgemeinen auf's Neue die Seich⸗ 
tigkeit jener ſchon von Kant mit gerechtem Spotte gegeißelten politiſchen 
Weisheit, welche, weil Leine menſchlichen Inſtitutionen je vollko mmen 
fichern, die Bürger, ſtatt auf fie vielmehr, lediglich auf die ja ebenfalls fehr 
unvolltommene und unfichere Tugend einzelner Regenten ver« 
weiſen will, die diefen Schu unndthig made. Diefe aber wird oft 
fehlen und oft mißleitet werden, und wir fragen gerade darnach, welche 
Einrihtung der Natur der Sache nach bie befle Regierung 
bewirkt. Regeimaͤßig ſchuͤen gute Inftitutionen, welche [cher und 
nicht ohme offenbaren Verfaſſungebruch und bedenkliche Warnungen 
und Mifftimmungen der öffentlichen Meinung umgeftärzt werden koͤnnen. 

8) Es ifk aber aud ein fernerer Itrihum, dem ganzen politis 
fen Werth freier ſtaatsbuͤrgerlicher Inftitutionen, wie das Schwur⸗ 
gericht, Lediglich in ihrem unmittelbaren Schuge gegen Regen: 
tenmwilltür und insbefondere in ihrem Schutze der patriotifchen Beſtre⸗ 






1604 Jury. 


immer neue muthige Vertheidiger. Der Schut des Bebine, ber uk 
heit, ber Ehre und des Lebensglüdes von ſolchen 

iher am ſich keineswegs bie Hauptſache, obwohl auch 
gangnieberträchttgen Volke werthlos fein könnte 

ihre wohteHätige Wirkfamteie, «6 gilt darum 

Auftreten und Streben folher Männer verhindert, 

oder wirfungslos gemacht werde, 

lieben Deutſchland befonders leicht möglich. Denn 
ferer Nation, im den höheren wie in den niederen S ‚ bei unie 
ver Berfplitterung und bei langer Entbehrung ‘politifcher Weriheie nad 
etwas pofitifch feig und dumm iſt — wer kann diefes Teutgnene Se 
bald num durch einigermaßen ſchwere Verfolgungen pölitiihe Weiten 
gen für die gefebfiche Freiheit — und felbft auch die würbigften 
oben mit fo gehäffigemm Scheine umgeben und fo gefährkich fü a 
Leben und die Familien der Ucheber werden, alsdann, flärt bag eben 
freiere Völker fie nun doppelt preifen würden, erfeheinen fie beniinn 
fen bei uns als Thorheit oder als wirkliche Verbrechen, vom denn 
jeder „vernünftige”, jeder „gemäßtgte"" Wiegen ich make 
weit entferne zu halten habe. Bedentt man biefes, blicke nam Karim 
in Deutfhjland, tie Diele Männer feit den Anfängen aim 
neuen Staatsrechtes ſchon die Dpfer ihrer) polltifchen Weftrebuunge 
wurden, durch Verfolgung, durch geheime Proceſſe vand 
ihre Wirkfamkeit, ihre dußere Ehre , ihr Lebensgtte, Ge E07 
heit und Leben verlorem — wahrlich, dann wird man Viebemfkeiny 
Worten beiftimmen, daß Schwurgericht und Pregpeeisin 
bie ganz unentsehrlihen Pfeiler der Verfaffung Find: 
dann wird man die Behauptung nicht gewagt finden: ohne 

bes oͤffent lichen Shwurgerihts tft unfere Jehige pol 
tifche Sreiheit faſt nur eine gefährlihde Shtim b 
diejenigen, welche an fie, am ihre Bufage durch 







Jury. 160. 


- nahme an dem oͤffentlichen Rechte und ber Verfaſſung ihres Vater⸗ 
landes, wahren moraliſchen Gemeingeiſt erwecken und erhalten. Es 
iſt die herrlichſte politiſche Erziehung, die wirkſamſte Cenſur fuͤr das 
Staatsbuͤrgerthum. Es iſt eine weſentliche Ergaͤnzung des politiſchen 
Rechtsorganismus und die lebendige Vereinigung von Recht und Sitte, 
von Öffentlicher Meinung, Volk und Regierung. Wenn die Bürger 
in dee Ständeverfammlung in Verbindung mit den Organen der Res 
gierung zu ben Gefegen mitwirken, fo müffen fie eben fo in Verbindung 
mit den Organen der Regierung wenigſtens in ben wichtigften Sällen an ber 
Rechtsprechung Theil nehmen. Das Eine macht das Andere heilfam. Mit⸗ 
telbar bewirkt fo das Schwurgericht, indem es auf die angegebene Weiſe 
bie Nation moralifdy und politifch erzieht und ihre patriotifche Bürgergefins 
nung und ihre rechtliche Freiheit Träftigt, vor Allem auch Feuerbach's 
einzigen und in der That koͤſtlichen Schug jedes Rechtsſtaats 
und feines Charakters, nämlidy jene freie, verftändige öffent» 
lihe Meinung zum Heil bes Thrones und Volkes. 

Solche freie Inftitutionen aber haben als Veredlung und ale 
ebeifter Lebensgenuß tüchtiger Völker auch einen ſelbſtſtaͤndigen 
Werth, einen noch viel höheren, denn als blofe Schugmittel. Der 
befie Regent kann fie fo wenig überfiüffig machen, als 
Gott ‚die Freiheit und Zugend der Menfhen, als er ihre eigene Er: 
findung und tapfere Anwendung von Schugmitteln für ihre Beſtim⸗ 
mung überflüffig machen wollte. 

9) In der That denken wohl aud wenige Fürften und Bürger 
unſerer Motion fo niedrig, dab ihnen ein ſolcher monarchiſcher 
Staat ohne Theilung der Gewalt, und ohne politifche Steiheit, fo 
wie ihn Feuerbach will, gefallen möchte. Iſt ia doch auch ihm ſelbſt 
ber verfaffungsmäßige politifche Kampf freier Völker „Die Grund⸗ 

‚ bedingung ihres träftigen und würdigen Lebens und . 

Gedeihens, ihres fittlihen Gemeingeiftes, ihrer Ehre 
und Macht!‘ Und was iſt ihm nun das Wefen einer folhen Mon⸗ 
archie, wie er fie uns Deutfchen zufchreiben will, um uns das Schwur⸗ 
gericht abfprehen zu Finnen? Was Anderes, als Niedrigkeit und uns 
fittlicher Eigennug, als Mangel an allem edlen Gemeingeifte und Wi: 
berroillen gegen jedes Opfer für das Gemeinmwohl, ale eine unfittliche 
eigennüsgige Geſellſchaft mit natürlich flets wachſender Kraftlofigkeit 
für tüchtige Waterlandsvertheidigung und ehrenvolle Thaten. Es ift 
ein Zuftand — wie er die Auflöfung unferes Reiches, bie 
Fremdherrſchaft, die Öruberkriege, den Umſturz vieler 
Sürftentbrone — lurz den Rheinbund bewirkte — und — 
wenn er Wurzel faßte — morgen bei der erſten europdifchen Bewegung 
wieder bewirken würde. Der zweite Hauptzug in dieſem abfchreddenden 
Bilde ift die abfolute Rechtlofigkeit und Schuglofigkeit der Bürger, 
mindeſtens aller nicht in Niedrigkeit und Dunkel ſich bergenden, aller 
ebien Patrioten und aller Göherfichenden, welchen Feuerbach 
ſelbſt flete Gefahren von venetianifchen Inquifitiontareunte , ua Id 
und Juſtizmorden, von Gift und Doich zumeiiet. Baripa "ERk 





1601 Jury. 


nah Feuerbach der eble Lohn der feigen und niedrigen 

den Gefahren woͤrdiger Freiheit. Welder Water unter uns 

wohl fo nieberträchtig oder fo ſchwach fein, feinen Söhnen aus 

vor den Gefahren tüchtiger jugendlicher und männlicher Emtwidelin 

in feige Thatlofigkeit, in dunkle Niedeigkeit, in gemeine Seibfkfüdhtz: 

kelt hinunter zu drüden? Und ein Volt von noch nicht nieder⸗ 

trächtigen Buͤtgern und feine eigenen Fuͤrſten follten mi 

den Söhnen des Vaterlandes beabfichtigen ? Diejenigen, weiche ſich win 

zugsweife Väter des Volks nennen, die ſollten folch aermedichigs 

Streben hegen und begünftigen, die follten ihr eigenes Monk emtabrin 

und entmannen wollen? Wahrlich ihre Gefinnung und Ihre Ehre, 

Bürger uralte Natlonaltechte und ‚die Sicherung gegen brahende 

fahren fordern fie auf, eine abfolute Gewalt in jenem Bewerb, 

ſchen Sinne zu verfhmähen und vielmehr einen wahren 

und: die: patelotifche Kraft Ihres Volks — und' als deren 

mittel, dad Schwurgericht zu fördern. Es ift endlich Hohe Weit, ie 

forgen, daß die unnatürlichfte Gerichtsverfaſſung nicht ferner das gan 

Recht nur zum Privilegium einiger Wenigen und zum dem 

Unterdrüctung mache, die Bürger des Rechts aller Teilnahme, ja 

des Bufehens und Zuhörens an der Verhandlung über ihre 

Rechte beraube, den tiefgefuntenen Gemeingeift vollends erflidte. 7 
10) Ganz im Gegenfage von dee Bewerbacdh’fcem Anficye, meh 

cher das Schwurgericht um. fo weſentlicher hält, je bolläfreier aim 

Staatsverfaffung ift, erfcheint es nah allem Bisherigen gerade m [# 

unentbehrlicher, je monarchiſcher diefelberifk Im 


volkofteien Staaten ift ja ſchon durch andere Eräftige Inſtitute bie 
liche und politifche Freiheit gefehlt, Gemeingeift und politifche Bir 
dung befördert ‚und dev Despotismus ausgefchloffen. deden 


Jury. 160€ 


nad welcher man das Schwurgericht als ber Monarchie nachtheilig 
und gefährlich, als zu einer falfchen Wolksfouveränerät führend 
darzuftellen ſucht. Dazu hegte er ein zu gefundes Vertrauen, zu viel 
Achtung gegen unfere erbmonarchiſchen Regierungen und ihre Grundlagen. 
Nicht ihmen, fondern nur Stlavenherren kann eine Einrichtung 
ſchaben, nad) welcher bei den Staatsgerichten auf eine fo geordnete, 
jnoffenfine Weife eine kleine Zahl bürgerlicher Kunfl- 
verftändiger nicht als Ripräfentanten einer Buͤrgermacht, fondern 
des Bürgerfinnes von der Regierung mit erwählt und unter Vorfig und 
Leitung ber, Staatsbeamten zugezogen werden. Nicht ihnen kann das 
nachıtheltig fein, was das Geſchworenengericht wirkt, und was vielmehr 
ben Regierungen wie ben Ständen Kraft und Ruhm verleiht, nämlich 
das Bewußtfein rechtlicher Sicherheit, lebendiges Rechtsgefühl, lebendige 
thätige Achtung der Gefeglichkeit, thätiger Gemeingeift, Vaterlandsſtoij. 
Es ift auch felbft in der Gefchichte fein Scheingrund zu finden, daß 
ein Schwurgericht der Monarchie widerſtreite oder Gefahr bringe. Die 
noch im achtzehnten Jahrhundert in Deutfchland uͤberall beitehenden 
Schoͤffengerichte, die Benoffengerichte felbft für die Keibeigenen, haben 
nie ſich dem fürfttihen Rechte feindlich gezeigt, eben fo wenig ais bie 
Geſchworenen in den Mheinlanden oder in den Monarchieen von 
Schweden, England und von Frankreich, und faſt überall es jegt in 
bem Militär. B 

Vollſtaͤndig nachgewieſen aber wurde es oben (II, 2), daß in vielfacher 
Hinfiht das neuere Schwurgericht ungleich monarchiſcher, weniger des 
mokratiſch eingerichtet iſt, als die bis tief in's adhtzehnte Zahrhundert 
nad) der Carolina in Deutſchland beftandenen Schwurgerichte. Weit 
eher, als die neueren Schwurgerichte, koͤnnte man das Mitftimmen der 
Bürger bei der allgemeinen Beſteuerung und Landesgefepgebung, oder 
anderen Regierungsmaßtegeln, das Mitftimmen von Ständen, welche 
bleibender find und weniger unter Mitwirkung der Res , 
gierung erwählt werden, als unmonacchiſch verſchreien, als daß, 
daß für den einzelnen Straffall jene wenigen Geſchworenen das Zeugniß 
über die Thatſache der Schuld abgeben. Wer möchte davor erzitteen? 

V. Beleuhtung der Einwendungen gegen das Schwur« 
gericht; 1) folder, welche von einzelnen Mißgriffen her» 
genommen wurden. Ehrliche Deutſche, die zum Theil eben fo 
menig ein Öffentliches Schwuͤrgericht, als die Mängel und Greuel 
unferes geheimen Inquiſitionsproceſſes je mit Augen fahen und eine 
geündliche Vergleichung beider nie anftellen konnten, wagten in befonders 
Schriften ein Berdammungsurtheil des großen Inftituts, blos nach ben 
ihnen zufällig zu Gefiht getommenen, bekanntlich durchaus nie offis 
ciellen und nie vollftändigen, oft ſehr einfeitigen Zei— 
tungsnadrichten über einzelne Urtheile. Sie wagten diefelben in 
Beziehung auf ſolche Verurtheilungen, welche, wie 3. B. die gegen den 
Kaufmann Font von Cöln oder die gegen den Grafen La Ronciere 
von Paris, ihnen zwar bedenklich (dienen, deren Wociänken uber 
durch nichts in der Welt erwieſen if, und über werde ir aünaih 








160 Ium. 


gruͤndlichen wiffenfchaftihen Jurifien, die Augene- 

zeugen dee vollftändigen, mündlichen B— } 

fich völlig mit der gewiffenhaften Ueberzeugung der Gefdhtogremem sim 
verftanden ertären. Diefe Schriftſtellet verurtheilten gerade ſo 
unterrichtet das Inſtitut, als unfere Richter sim geheimen 

gerichte die von ihnen mit ihren eigenen Augen nicht gefehemen: 
Hagten, Ueber Fonk ſaßen in Trier neben fünf Obern: 

zwölf Geſchworene zu Gericht, uͤber deren, wie jener Räthe, mchkunse 
werthe, tüchtige' Perfönlichteiten und völlige Unparteilichkeit,feibik ka 
den Gegnern und ben Vertheidigern des Verurtheilten nur eine Sri 
war, Für Fonk's Mettung waren geofe Summen vermenber ie 
den. Seine liebenswärdige, ungtüdtiche Gattin war ammefend bei du 
Verhandlungen, Ihe und ihrer Kinder Schidfal rührten alle Gern 
Fonk wurde vertheidigt von ben zwei. erften Advocaten der 

wie durch felne eigene ſcharfſinnige, vorher gedruckte, und durch — 
jeglge mündfiche Vertheidigung und duch viele bejahlte Domemakarikl 
und Flugſchriften der verfchiedenften Art. Auferdem Hatte ich du 
Gerticht verbreitet, die dem Schwurgericht nicht geneigte MR in 
günftige, im Glauben an feine Unfhuld, ben Angellagten und meh 
bei deffen Veruetheilung den Nheinländern das ihnen fo theure uf 
des Schwurgerichts entziehen, fo daß Altes für ein Nihefchmibis 
zu beftechen ſchien. Dennoch — nachdem in der’ all 
mebrwähentlihen Verhandlung die Geſchworenen alle“ 

und Gegenzeugen, den Angeflagten und feine Vertheidiger felbfk 

und ſelbſt gehött hatten, ſprachen fie — unbeftochen ducch alle Augen 
Gründe für die Losfprehung — „mach ihrer innigen 

ide einffimmiges Schuldig. Zwar bei der erfien Feage ob, h 
Könen getöbter habe, hatten fie aus einem wenigſtens hier- ehe madke 
lichen Wunſche, die Staatsrichter in ihrem Sprucye mit ich nee 
einigen und ſie denſelben rechtfertigen zu laffen, nur mit einer ekehit 





Sur. 1001 
die zum Thell jenen großen Summen zur Rettung Fonk's 
the Dafein verdantten, bie Thatſache dee Schuld richtiger bes 
urtheilen zu koͤnnen glaubten, als alle jene einfiimmigen 12 Geſchwo⸗ 
renen und alle jene fünf juriſtiſchen hohen Staatsrichter? Wer hätte 
denken follen, daß fie nicht wenigftens, flatt der Gefhworenen, 
die Jursfen hätten angreifen mögen, ohne deren Schuld ja nie- 
eine ihnen falſch ſcheinende Verurtheilung vollziehbat wird (oben AI, 3), 
die aber hier einftimmig ausbrädiich verurtheilten? 

Faſt Gleiches gilt von der vor einigen Jahren in Paris wegen 
eines Nothzuchtangriffs erfolgten Verurteilung des Grafen von La Rons 
ciere, weicher, wie fo eben die neueften Zeitungen melden, nachdem er . 
mehr als fünf Jahre feine Gefängnißftcafe erflanden, trotz des natürlichen 
Antheils für feine geadhtete Familie und trog dem, daß ihn die Geſchwo⸗ 
renen nur „mit mildernden Umftänden ſchuldig“ erklärten, vergeblich 
von dem Könige einen Nachlaß der Strafe im Wege der Gnade erbat. 
Letzteres aber iſt wohl ein ficherer Beweis, daß man in Paris, wo man 
mit großem Antheil der ganzen gründlichen Verhandlung gefolgt war 
und geiwiffe, aus Discretion gegen das angegriffene unſchuldige Fräulein 
in den Öffentlihen Mittheilungen verhüllte Umflände 
eben fo Mar wie die Geſchworenen durchſchaute, trotz aller zu des Ans 
geklagten Gunften aufgewendeten Mittel, auch jest nody keinen Zweifel 

egen bie volle Gerechtigkeit feiner Verurtheilung aufzubringen weiß. 

[he Schriftſtellet gründeten ihn auf offenbares Mißverftändnig 
jener Mittheilungen. 

Noch lauter aber erwedkte die Straßburger Looſprechung der Ges 
bälfen des Prinzen Louis Napoleon ben Lärm unferer beutfchen 
Gegner des Geſchworenengerichts. 

Auch ein deutſches Zuriftengericht aber müßte ja, wenn es nicht 
rechtsverletend verfahren will, unter beflimmten Umftänden lediglich toegen 
des Mangels einer Form, auch bei Angeklagten, an deren Schulb «6 
nicht Im Windeſten zweifelte, dennoch ftatt der Verurtheilung die Loss 
ſprechung erkennen. Die Geſchworenen in Straßburg aber hielten «6 
aun nad) ihrem Proceffe für eine wefentlihe Bedingung und Form 
einer gerechten Verurtheilung gegen folhe, die als Gehülfen eines 
Hauptuchebers angeklagt find, daß nicht durch das gefegwibrige 
Belieben der höheren Gewalt ber Hauptucheber dem Procefic, 
als von jeder Anklage und Strafe befreit, zum Voraus entzogen und 
durch deffen gewaltfame Hinwegführung fogar die von ihm ſchon ans 

etändigten Zeugniffe und Auffhlüffe zu Gunften feiner Mit 
Psuligen unmöglid gemadht würden. Sie hielten «6 alfo für 
ungerecht, bazu mitzuwirken, daß nur allein diefe ihrer Entſchuldi⸗ 
gungsbeweiſe beraubten, weniger ftrafbaren Gehülfen im Namen der 
Öffentithen Gerechtigkeit ihres Vaterlandes verurtheilt 
würden, nachdem die öffentliche Gewalt des Landes den Haupt⸗ 
thäter beliebig feeigefprochen, entfernt und fo jene Entfhuldigunggiemitr 
unmöglich. gemacht hatte. Ein Skandal blieb jebenioße 
ſprechung; aber bie Schuid deffelben trug, vote {elhR der vuie aerel 









160% Jury · 


Staatsmann Lord Ruſſel im engliſchen ee erflärte, bie hösh 
Gewalt. Ein Skandal aber wäre offenbar auch die Wernetheilung 
wefen, und zu biefem wollten ihrerfeit bie Geſchworenen icye Names 
ihres Vaterlandes und feiner ordentlichen Gerechtigkeitäpflege mitteirkm 
Beſſer als ben fegteren ſchien es ihnen, der [chulbigem polätifäe 
Gemalt bie Verantwortlichkeit gugufchieben. Diefes follte bier, de 

die Form andere Worte unmöglich machte, ihr Nicht ſchuldig allein 
ausbrüden. Daß dabei im diefem au ßerordentlihften Fallı 
eine Ueberfchreitung dee buchftäbtich den Geſchworenen 

Grenzen vorfam, ift allerdings fehe traurig. Aber nochmals, bie Si 
liegt in bee Urſache. Dartber übrigens, daß von bios juriſtiſchea Do 
amtengerichten eine firengere Gefeglihkeit gwierwartenik 
als vom Schwurgericht, fpäter unten! (S. 1609) 

Auch Feuerbach hatte ſechs Geſchworenenurtheile gue Werhihr 
tigung des Schmwurgerichts zufammengeftellt. Allein das Gutahın 
der Pönigt. preuß. Immediatcommifftonc hat SS: 126 4 
geändlih mahgemwiefen, daß alle biefe ſeche wermeindih 
Thlimmften Urtheile, die Feuer bach aus allen flets —5 — 
kannt werdenden Schwurgerichtsurtheilen von England, Frankreich m 
den bdeutfchen Rheinlanden und aus den Sammlungen folder Uri 
aufteeiben konnte, und die faſt ſaͤmmtlich Losfprehungen waren, am 
‚gar ‚ feine Vorwürfe begründen. Im erften diefer feche Fäne 
foll der Skandal darin beftehen, daß in einem Nothzuchtsfalte Die ie 
ſchworenen losfprachen. Aber +8 war fein einziger dicectetr id 
Imwanges da; ein Beuge hatte bie Frau während des Acts Tachem — 





und fie hatte ſich durch ungeswungenes Eingehen in dae B 
welchem fie die Gefahr vorausfah, verdächtigt. Meldes Gericht bare 
hiet verurtheilen ? Gleich unſchuldig find die übrigen fünf Sale 

muß gut ſtehen mit einem Inftitut, von dem die Gegner nichs — 
meres aufzufinden wiſſen. Wahtlich alle jene oben (IE, 





Jury. | 1001 


An fi ſchon aber könnte man nimmermehr buch menfchlichen 
Irrthum zufällig veranlaßte ungluͤckliche Urtheile ber englifchen und 
franzoͤſiſchen Schwurgerichte, zufällige Mißgeiffe, wie fie bei jedem 
menfchlihen Inſtitute unvermeidlich fein werden, vergleichen mit 
diefen aus ber verdberblihen Natur unferer deutſchen Gerichtsein⸗ 
richtungen fo oft entftehenden Juſtizmorden, und noch viel weniger 
mit jenen nur Deutfchland allein angehörigen vielen fcheußlichen Kerker⸗ 
morden, tie fie oben erzählt und angedeutet wurden. Ja felbft wo 
jene obigen Mißhandlungen nicht Statt finden — und wo in Deutſch⸗ 
fand koͤnnen fie bei dee Ratur unferer Einrichtungen je ficher und 
gänzlih ausgefchloffen werden? — da wiegen fhon allein bie 
lange Dauer und bas Leiden des Unterfuhungsterkers 
und mindeflens die moralifhe Tortur auch für alle [päter 
fhuldlos Erklaͤrten alle irgend denkbaren Verirrungen der zehnfach 
kuͤrzeren, unenblid weniger qualvollen franzöfifchen und englifchen Cris 
minalprocefie überreihlih auf *). — Dabei aber können jene 


wurbe ber Ungluͤckliche dennoch von ber Staatsgewalt in Haft behalten. Gr 
mußte nunmehr einen neuen Griminalproceß aus anderem Grunde beftehen, bis 
auch in biefem fich endlich nichts finden wollte. Sein Referent bei dem erften 
jener Urthelle, vom oberften Gericht der Actenwibrigkeit gegen ben Angeklagten 
befchuldigt, wurde dem Vernehmen nach ſchnell in das Obergericht felbft und 
in den Senat vorgerüdt, ben das Volk, weil ihm piöglich die politifchen Proceffe 
zugewiefen wurben, den politifchen nannte. Unter den ſchon von Schlöger 
in feinen Staatsangeigen mitgetheitten Juſtizmorden verbient ber in Bd. III. 
©. 155 erwähnte vorzüglich deshalb Beachtung , weil hier das ſcheußliche uns 
gerechte, auch wirklich dlzogen⸗ Todesurtheil Lediglich durch den Terro⸗ 
rismus und die Mandores des Präfidenten gegen feine ſchwachen 
Kaͤthe erpreßt wurde, fo wie der in Bd. III. ©. 420 wegen der wahrhaft 
ſcheußlichen Behandlung der SInauifitn. Zu den obigen neueften, offenbar 
falfcheh WerurtHeilungen von Wendt u. f. w kommt nad dem neueften Städ 
ber Demme’fhen Annalen X, 2. bie fhaudervolle Geſchichte von einem 
Mädchen aus dem Braunfchweigifchen,, weiches durch Mißhandlungen bei der Arre⸗ 
rung in foldye bleibende Angſt verfegt wurde, daß fie in perl Inſtanzen bes 
Harrlich ſechs Brandfliftungen FAIFHhLich eingefland und hierdurch und durch 
unrichtige Protocollirung einem falfhen Todesurtheil entgegenging , hätte nicht . 
ein reiner Zufall ihre völlige Unſchüld enthüllt. 

*) Nur um an feine Schiußftelle eine wichtige Bemerkung zu knuͤpfen, theile 
ich Hier einen Gorrefpondenzartikel aus Berlin mit, welcher bereits in beutfchen 
cenfirten 3eitfchriften, namentlih im ſchwaͤbiſchen Mercur und aus ihm 
zuiegt in der Freiburger Zeitung vom 27. Aug. 1839 wörtlich fo lautet: „Bei 
„der jegigen Methode kommt es nicht felten vor, daß die Unterfuhung eines 
„Griminalfalles weit länger dauert, als die endlih dem Gefangenen zuer⸗ 
„kannte Strafe, und bei ber Menge ber Werhafteten ift es. überdies völlig un⸗ 
„möglich, die menfchenfreundtiche Vorſchrift unferer Befege zu befolgen, nad 
„welcher täglich in jeder Sache etwas gefchehen fol. Es vergehen vielmehr 
„oft Zage zu Wochen, ehe die Inquirirten weiter ruͤcken. Bei Gapitalvers 
„beechen liegen Sabre gwifchen den Urtheilen erfter und zweiter Inſtanz, und 
„note haben faft Bein Beifpiel, wo einer Mordtbat bie Strafe unter zwei 
„bis drei Jahren gefolgt wäre, wenn au das Beftändnif fofort ers 
„folgte. Wie viele Verbrecher flerben daher im Gefängniß 
„ober entleiben fi, und bie erfchütternde unb warnende Wirkung einer fchnellen 
Aerechtigkeit geht verloren. — Deshalb nun foll, wie verlautel, ein Theil der 






160" Sum. 


Mitglieder der Immediatcommiſſion, welche duch ange Sabre 
bie Schwurgerichte in den Rheinlanden genau kannte n, und 
der berühmte Daniels, ausdrüdtih erfläcm-(S, IE): Beh im 
auch noch nicht ein auffallender Mifgeiff-eimes cbeinide 
difhen Shwurgerihts bekannt geworden ober bei ihn 
genanen Nabforfhungen zu Ohren: ge men fei, # 
daß feibft die wiſſenſchaftlichen Richter noch nicht eim einzig 
Malinden . gefommen en wegen Ihres 
eine grundlofe etheilung der Geſchworenen iht Sußpemflsni 
zum Schuge der Unfhuld zu gebrauchen,  Wahrlich, Bas Ef ci 
ſtarkes Beugnift Won welchem gleih großen bemefdhen Bus 
kann e8 von fo langer Zeit ber Mechtsverwaltung durch 

gegeben werden, felbft troh des Dunfels, das bier» ſo Dieies Mamk 
verhält? Gleich herrlich ift das Beugniß, meides Mertim, 
Gegner des Schwurgerihts, (Bepert Bd. Vi. &.627) non dm 
ben ablegt: ,‚Rendons pourtant Justice aux erreurs, mdme äh 
prevarication des Jures: ils ont trop de fois acqmittek des me 
pables, mais il n’a pas encore 6dt& promva, gull 
eussent: jamais fait couler une gontte dm sm 
innocent!“ . 




















— 
BVerbrecher an die Polizei abgegeben werben”, — — Mär: u 
nicht unendlich beffer, fatt jenes kaum glaublichen, weder ber 
wahrer 3eit» und Xrbeitserfparniß förderlichen Worfhlage und + 
Schreibens und deſens dider unfiherer Acten und Mei 

fo unendlich Zeit erfparende als der richterlichen Erkenntniß der 

derliche Schtwurgericht mit feinen mündlichen öffentlichen Werbörem und) 
lungen, mit feinem Selbftfehen, Selbfthdren, Seibftfragen aller 

und Zeugen-vom Anfläger und Wertheibiger, von allen Richterm 

nen zu fegen ? Wird dann in den meiften Fällen wegen des-jept.fer 

zen erfien Gerichts bie ubende Appellation an ein 

fo ift diefes neuer Gewinn für bie Gerechtigkeit wie für die Any 





Sum. :1604 


2) Von den übrigen Einwendungen, außer den in bee 
vorigen Abfchnitten ſchon gnuͤgend befeitigten, möchten mohl nur tes 
nige die befondere gründlihe Widerlegung verdienen und bes _ 
dürfen, bie fie ſaͤmmtlich in bem trefflihen Butachten gefım- 
den haben. 

So wird fiher Fein edles Volk das .Schwurgeriht wegen ber 
Laſt zuruͤckweiſen, welche es für bie Bürger begründet, daß fie alle ans 
derthalb bis zwei Jahre einmal auf kurze Zeit diefes heilfame und ehren» 
volle Amt auszuüben haben. 

So hat ferner Feuerbach rüdfichtlich der Standesgleichheit fidh 
ſelbſt zuerft Lünftich Schwierigkeiten gebichtet,, welche er dann dem Sins 
ſtitut entgegengefegt. Er ſchiebt demfelben die Korberung einer abfor 
luten Gleichheit aller denkbaren Verhaͤltniſſe zwifchen dem Angeklagten 
md dem Belchworenen unter und tabelt dann, daß fie nicht Statt finde, 
Sie ſoll's aber auch nicht. Unter der Bedingung ber nöthigen Stan⸗ 
desgleichheit verftanden die Völker nur: 1) die gleiche Mitbürgerfchaft, 
fo daß fie vermittelft ihrer und nicht als vorgefegte bleibende Obrigkel⸗ 
ten entfchieden ; fodann 2) eine Gleichheit der poltitifhen Stans 
desrechte, fo daß die politifch privilegieten abelichen Pair und bie mit 
bleibender politiſcher Gewalt bekleideten Vorgeſetzten nicht bie übrigen 
Staatsbürger und ihre eigenen Untergebenen richten und nicht von 
ihnen gerichtet werden follten. Unter diefen Bedingungen fo viel als 
möglih aus allen verfhiedenen Bürgercelaffen unte 
Mitwirkung des Angeklagten, wie der Regierung erwählte Ges 
ſchworene fihern nun wirklich, fo weit es möglich iſt, eine par 
teilofe, vielfeitige gerechte Würdigung und Weurtheilung der Thatfachen 
und bee Ausfagen über fie. Sie geben dafür eine Bürgfchaft ganz 
ähnlich, wie die ähnlich ermählten Volksvertreter eine möglichft vielfeitige 
gerechte Berathung ber Geſetze verbürgen. Hier paßt noch immer ber 
Srundfag: der Menfh wird am Billigſten und Richtigſten von feines 
Gleichen beurtheilt, nicht von feinen Vorgefegten. Die doppelte poli⸗ 
tiſche Standesgleichheit mit dem Angeklagten haben alle Ges 
ſchworenen. Aehn liche befondere Lebensverhälmifie und daraus fidh 
ergebende Erfahrungen und Befihtspuncte haben fie mehr oder minder; 
Weder trennen fie zu große Gegenfäge, mie bei ben blos juriflifchen 
Staatebeamten und den Bürgern, noch find fie auf eine der Vielſei⸗ 
tigfeit und Unpartellicykeit ſchadende Weife zu fehr mit einander ver 
bunden, zu fehr nur einem einzigen Lebensverhäftnig angehoͤrig. Weber 
das Beſtmoͤgliche kann man auf Erden nicht hinausgehen. Feuers 
bach felbft mußte in Beziehung auf die Wahlbedingungen der franzoͤ⸗ 
fifhen Geſchworenen zugeltehen (S. 109): 

„Auf diefe Weife beruft das Geſetz nur die Einfichtsvoltften, 
„Gebildetſten und Wohlhabendflen ber Nation zu dem 
„Amte eines Geſchworenen, erhebt diefes Amt zu einer Art 
„von Ehrenftelle, welche die Eiferfucht dee Ausgefchloffenen fpomt und 
„die Erwaͤhlten durch Ehrgeiz befeuert, ſich ihres Berufes würdig zu 
„machen, fo daß ber alte deutiche Rechtsgrundſat bes Katferrechts- 





180° Jury. 


¶ 5): mund no Gericht üft, da ſoen bie 

Aſt.“ Dennoch fagt er fpäter im feinem Eifer, das een 
sicht weniger gut zu finden, hiermit Widerſprechendes. 

feitigkeiten einer Wahl 1) blos nah Vermögen, 2) blos madı 

hervor. Und dann, wer follte es möglich; halten — da mu im 

eich die Geſchwotenen mad) diefen zwei Gefie 

gefeht werden, mas bie Einfeitigkeiten ausgleicht, die Gelbgefichtspunin 
3: B. durch höhere Bildung, addiet er die befonderem —— " 
unter jene Gefihtspuncte gehörigen Claſſen gerade fo, als menu mn 
aus den zwei Sägen: einfeitige Lörperlihe Ausbildung. fyader, mi 
einfeitige Geiftesbildung ſchadet, den Schluß ziehen: wollte zer — 
Ausbildung verbindet, der iſt doppelt einfeitig. Noch 

aber hebt Feuer bach felbft vollends alle Vortheife der 

und der Vielfeitigkeit duch das ausſchließliche Richterrecht der — 
Beamtenkaſte auf. 

Auch noch ſonſt macht Feuerbach dem von Ihm ſed ſt veche 
ten Fehler deutſchet Juriften, daß fie bei Beurtheilung bifkorifder Ir 
flitute gerne mit Windmühlen kaͤmpfen, indem fie flatt mady dem mil 
lichen Grundlagen der Imftitute zu uerheiten, fi aus fogenammien 
nen Begriffen andere Grundlagen feibft erft ſchaffen, um 
widerlegen. So fhlebt er dem Schwurgerichte fälfchlich unter: ME 
dere einen von allem übrigen verftändigen praktiſchen Urthe 
verfhiedenen, fogenannten gemeinen Menſchenverſtand/ ber 
ſchluß vernünftiger Belehrung,’ Reflerion und Prüfung bios wie 
ſtinct nach einem Zotal-Gefühl, wie eine Art von Son 


ober von Drakel, entfcheiden follte. Er tabelt es dann(&. 4 
biefes natürliche Urt heil der Gefchworenen getrübt werde | 
Vorträge der Juriften, vorzüglich des Präfidenten, dem bie 

um fo mehr folgten, je mehr er Achtung und Vertrauen: 

Böker aber verlangten und erwarteten nach dem Obigen (Hil, 8%, 


Iury: 160? 


cRechtſchaffenheit und richterlichen Weisheit unterſtuͤtten Anſichten einen 
wercliichen Einfluß bei. der Prüfung der Geſchworenen, folten dann 
vollends diejenigen darüber Magen, die lieber Alles bios von den ſtaate⸗ 
uichterlichen Anfichten möchten abhängen laſſen ? Bllebe dann bie 
der Zeſchwereuen nicht immer noch vortreffliche Controle 
Mad eigener vieljaͤhriger Erfahrung bezeugten uͤbrigens die rheini⸗ 
fchen Mitglieder der preußiſchen Commifſion (6, 216), daß „die Ge⸗ 
Acqhworenen Werftand und Faͤhlgkeit genug befigen, um bie Vorträge 
‚im den mündlichen Verhandlungen zur volftändigeren Ueberficht zu bes 
wagen, ohne fid von ihnen irre leiten zu laffen, unb daß bie vom 
n&euerbady gefhliderten Gefahren ber Verwirrung ihres Urtheils von 
malter Realität entblöf’t und aus willkaͤrlich aufgeftells 
„ten Begriffen bergeleitete Luftgebilde find.“ Viele 
WBeifpiele zeigten ihnen: „daß ſelbſt die kuͤnſilichſten rechtlichen Aucfuͤh ⸗ 
zungen vechtsgelehrter Vertheidiger ober auch einzelner im öffentlichen 
Aniereſſe zu weit gehenber Staatsanwälte, und auch befangene und zu 
ntoeit gehende Aeußerungen eines Präfidenten nicht vermochten, fie von - 
ben richtig aufgefaßten wahren Geſichtspuncten abzubeingen.” 

Das Bisherige befeitigt dann auch die völlig grundloſen Einwen ⸗ 
ungen, namentlih aud von Feuerbach und Krefurt, als 
wenn die Geſchworenen bei ber nur nach aligemein bürgerlicher prak⸗ 
tiſcher Erkenntniß, Erfahrung und Beurtheilung zu gebenben Entſchei⸗ 
hung det Thatfrage mehr von Gefühl und Willkür beftimme 
werden oder gar werden follten, und weniger nad objectiver 
Wahrheit richteten als die Staatsbeamten. Der Gutsbefiger, der 
Kaufmann, der Notar urtheilen als Geſchworene über die Glaubwuͤrdig ⸗ 
Belt einer Thatfache, einer Ausfage eben fo wenig nad) einem bloſen 
dunklen Gefühl, als fie darnach ihre andern praktifchen Gefchäfte, bie 
Auswahl ihrer Leute u. f. w. beforgen. Weiſe man uns body vor 
Allem eine ihrem Weſen nady von ihrer allgemeinen Lebenserfahrung 
verfchtedene, wirkllch juriſtiſche Exkenngnigquele der Wahrheit nad ! 
Gelb die fogenannten juriflifhen Beweisregeln find ja nur aus ber 
aligemeinen Lebenserfahrung entnommene Wahrfcheinlichkeitsregein. 
Waugten aber die Feſſein juciflifcher Beweisregeln im Geiminalpreceffe 
Has, num dann koͤnnten natürlich auch die Geſchworenen darnach 
Eihten, wie es ja Sahrhunderte lang bie Gefchworenen nad) ber 
Barolina thaten, und noch heut zu Tage in England bie 
nen im Civilprocefie thun. Man denkt auch in England gar nicht 
basam, daß die Geſchworenen anders, als nady prüfender Wergleihung 
re en, fid aus der allgemeinen Erfahrung ergebenden allger 
meinen Refaltate und Regeln über bie Wahrheit ‚der Thatſachen und 
Kubfagen urtheilen ſollen, man feffelt ihre Ueberzeugung nur nicht durch 
ıhaafeitigen juriſtiſchen Zwang, mithin auch nicht durch ben Zwang einer befons 
vesem Recyenfcyaftsablegung über bie Beweife. Mur zum höheren Scuue 
vg Angeklagten, und zioar gerade da, wo der Dekyatkuanas am Kuiafiro 
yünt, bıi Sitaatsoerbrechen, fordert dab freie, grohhernar erulkän Dr 







Sehumgen der Gehe mn Der Mherfehen vum Den 
tungen und wenigftens einer Verhinderung gaͤnzlicher 
nicht einmal zu reden — wie oftmals fah ich 8 1 


Ja, es vermag es gewiß hoͤchſt felten ein Nicht 
da wo ihm die — wie Platon fagt, hoͤchſt eigen 
befondere Fälle oft Höhft unger⸗chten — pofitiden G 
— gegen feine feſte ſubjective Ueberzeugung 

einen Mitmönfchen uͤberbauvt oder auch nu 


— — 


Jury. 1607 


mit unumflößlicher Gewißheit die Losfprechung gebieten (in den Fällen 
bloſer Indieienbeweiſe nämlich). Aber fehe man doch nur in die beutfche 
Griminalpragis! Da haben bie Gerichte fogar durch fortgefegte Ge⸗ 
ſetzwidrigkeit gegen Mare Gefege die wichtigften Proceßeinrichtungen 
und Vergehen abgefchafft und andere new eingeführt. Abgefchafft 
haben 3. B. meift vor fpäterer gefeugeberifcher Beftätigung bie Gerichte 
die Deffentlichkeit, das Schwurgeriht, die Zuziehung von Schöffen 
und felbftftändigen Gerichtöfchreibern zu den Procephandlungen, bie rechte 
Trennung von Generals und Specialunterfuhung, eben fo ferner die 
Strafen des Ehebruchs, des Stuprums, der Gotteslaͤſterung, ber Hexerei 
wm f. w. Eingeführt haben fie eben fo ben geheimen Inquifitionss 
proceß, die Zortur, die Losfprehungen von der Inſtanz, die Verdaͤch⸗ 
tigkeitsſtrafen, die furchtbare Theorie ber delicta excepta, die Strafen 
blofee Körperveriegung ohne Klagen, die Strafen der Duelle, ber heim» 
lichen Niederkunft, des Vergehens der Aufreizung zum Mißvergnügen, 
bes Eonats des Hochverraths u. f. w. (&. Art. „Carolina’ ©. 275.) 

Soll man vielleicht auch ſolche Einwendungen noch tiderlegen, 
wie die von Graͤvell, durch die oben erwähnten gefeglichen Verſtaͤrkun⸗ 
gen der Bürgfchaften und Controlen für das Schwurgericht, z. B. 
jenes Suspenfionsrehts von Seiten der Staatsrichter, ſpreche ſelbſt 
bie Gefeggebung ihr Mißtrauen gegen daffelbe aus? Thoren, die ir 
gend eine menfchlihe Eintihtung für abfolut volllommen, für uns 
fehlbar in jedem einzelnen Falle halten! Verbrecher, die, wo es das 
Heiligſte gilt, nicht auch die Sicherung durch die möglichft befte Eins 
richtung fo meit gu vermehren trachten, als es die Natur der Sache 
erlaubt! Auch gegen das Koͤnigthum, auch gegen die wifjenfchaftlichen 
Gerichtshoͤfe fpriht dann die Gefeggebung Mißtrauen aus, wenn fie 
Stände, Miniſteranklagen, oder Appellationen anordnet. 

Oder foll man vollends Feuerbach's Tadel widerlegen, daß man 
bei dem Schwurgericht mehr Vorficht anwende gegen ungerechte Verurtheis 
lungen, als gegen unverbiente Losfprechungen? Er fügt (S. 113): „Der 
„Grundſatz: es ift beffer, daß Schuldige entlommen, als baß ein Uns 
„ſchuldiger geftraft werde, ift ald Marime der Geſetzgebung nicht mehr 
„werth, wie der entgegengefeste.” Das gefunde Rechtsgefuͤhl aber, die 
Volksſtimme aller gefitteten Völker verurtheitt im Vereine mit der heilis 
gen Schrift *) und mit dem claffifchen römifchen Rechte diefe neue Weiss - 
heit, nad) weldyer man auch confequent bei blofem Verdachte ftrafen müßte. 

Auch hier wurde der berühmte Gelehrte wieder von feiner Sophiſtik und 
durch allgemeine abftracte Begriffe verleitet. Freilich, nach ber Gerechtigkeit 
in abstracto gedacht, kann eben fo wenig ein Schuldiger freigefprochen ale 
ein Unſchuldiger verurtheilt werben. Weil aber die concrete menfchliche 
Gerechtigkeit und ihre Beweiſe unvollommen find, fo fol fie, mo fie 
ſelbſt die Mangelhaftigkeit und Ungemißheit in einem beftimmten Falle 
erkennt, nad jenem uralten, ehrmürdigen, eben fo gerechten als hu⸗ 
manen Grundfage. verfahren. Sie fol im Zweifel flets das Mit 


*) 1. Moſ. 18, 23—82. x . 
Gtaatösteriton. IX. 10b 





160s Jury. 


dere waͤhlen, die juriflifche Worausannahme der Unſchulb 

ten. Denn kann fie bei dem beften Willen u 

weifen, fo iſt das nit ihre Schuld. Wohl aber wi 

und ‚eine Berftörung des ganzen auf ber bona * un 

sumtio boni viri beruhenden friedlichen Rechtsyuflandes, ekmem 

fein Recht auf Leben und Freiheit zu vernichten, gegem 

möglichft vollgüftige Beweis der Schuld fehlt. Nach jemer mir 

getadelten Marime verwirft aud das gemeine deutſche 

Appelation in Criminalſachen eine Verfchärfung der Strafe, eime rel 

matio in pejus, und erlaubt dem dürften, Begnadigumg umb m 
Vermehrung der Strafe. 

Man hat getabelt, daß die Geſchworenen unmittelbar, alfo d 
genügende Prüfung das — fällen ir Allein — 
offenbar, eben ſo wie nach dem Obigen, ruͤcſichtlich der angel 
theile der. Inquiſition, ber Bewirkung moraliſchet und 
Bekenntniſſe, wieder. ber Vorzug auf Seiten des Schwurg } 
dem geheimen Juriftenverfahren entſcheiden, ohne felbjt zu ſehen und, 
hören, auf die Relation des Referenten die Richter meifk fchon, 
einer ober in einigen Stunden, nachdem fie bad rfte 
Sache erfuhren. Die Gefhworenen fehen und hören, nadh ber fu 
ven forgfältigen. Inſtruction des ganzen Proceffes, mim bie 
Verhandlung deſſelben Tage, oft Wochen lang feibfE vor 
Augen, und berathen fi alsdann auch in ihrem Berathfe 
mer bei irgend ſchwierigen Faͤllen oft nod mehrere, ofk hu) 
bis ſechs Stunden lang. 

Man tadelt ferner, Ya das Schwurgericht die Sich 
Gontrole durch Appellationen, neue Prüfungen des. Urtheil® % 
Allem die. Scheiftlichkeit ausſchließe. Diefes ſcheint eigeneiheh 
mand gegen bad öffentliche, und mündliche Verfahren, 
dungen, bie auf diefes gegründet find. Wo man nicht bie 


| 





Sum. 160% 


für den Angeklagten und für feine Befreiung ımb für ben Staat als 
überwiegend nachtheilig erfcheinen. In Schweden übrigens 
ift bei den Schwurgerichten fogar. doppelte Appellation zulaͤſſig an 
mittlere und oberfte Gerichte. | 
Unter jenen Controlen des Schwurgerichtes fehle auch ſchriftliche 
Aufzeihnung keineswegs. Diefe Controle iſt freilich an ſich unendlich 
unvolltommen und unficher, obwohl fie die weſentliche Bontrole bes ges 
heimen Beamtengerichtes bilden muß. Aber fie iſt fogar bei dem 
Schmwurgerichte in viel zutrauensmwärdigerem, vollfläns 
bdigerem Grabe vorhanden, als bei dem fchriftlichen geheimen 
Beamtengerichte. Die ganze Vorunterfuhung wird actenmäßig pro⸗ 
tocollirt, und zwar, bei der Selbſtſtaͤndigkeit des Actunrs, bei der beftäns 
digen Controle des Staatsprocurators und des Collegialgerichtes und 
der fpäteren der Anklagekammer über bie ——n der Unterſuchung 
und endlich bei der nothwendigen Scheu, daß die oͤffentliche Verhand⸗ 
lung jede Ungenauigkeit, Unvollſtaͤndigkeit, leidenſchaftliche Uebereilung, 
Befangenheit und Untreue zur oͤffentlichen Schande vor der Nation und der 
Megierung an ben Tag bringen koͤnne, läßt fie ſich hlerunendlich treuer 
und gewiſſer hoffen, alsinden Protocollen unferer ewig 
geheimen Beamtengerichte. Diefe Acten werben auch nad) 
ihren Ergänzungen auf Anordnungen ber Anklagefammer in der muͤnd⸗ 
lichen Verhandlung und beider Berathung der Gefchworenen zu Rathe 
gezogen und benust. Schon vor dem Anfange ber öffentlichen und muͤnd⸗ 
lichen Verhandlungen aber und vollends mit benfelben beginnt, neben 
deren unvergleihbar trefflichen Sarantieen, neue fchriftliche Aufzeichnung, 
die abermals ungleich voliftändiger, vielfeitiger und treuer, zugleich unends 
lich viel lesbarer und mehr gelefen ift, als die unferer unglüdfeligen, 
ſchlechtgeſchriebenen dicken deutſchen Proceßacten. Neben dem fortbaus 
ernden SProtocolle des Gerichtsfchreibers über das Michtigfte, theilen 
naͤmlich Tag für Tag verſchiedene öffentliche Zeitungen, nad) den 
wörtlichen Aufzeihnungen verſchiedener Geſchwindſchreiber, bie 
ganien Verhandlungen mit. Man gibt fie in directer Mittheilung ber 
orte der Angeflagten, der Zeugen, ber übrigen Theilnehmer an ben 
gerichtlichen Verhandlungen. Moͤglichſte Treue und Vollſtaͤndigkeit bes 
wirkt die Controle des ganzen Publicums, das Gericht mit einbe⸗ 
griffen, und der MWetteifer und die gegenfeitige Ergänzung ber verfchie: 
denen Gefhmwindfchreiber und Journale. Auch bier wieder drängt ſich 
unwillkuͤrlich des großen britifchen Geſchichtſchreibers Bewunderung über 
das Schwurgericht auf. Auch hier, wie faft In jedem Puncte, verhält 
fih bie Volftändigkeit und Güte unferes guten beutfchen Verfahrens 
zu bem der Briten und der Franzoſen ungefähr wie etwa unſere 
früheren deutſchen Reichspoſtwagen, oder wie bie alten Flußſchiffe zu 
den franzöfifhen und englifhen Diligencen, Dampffciffen und Eifen- 
bahnwagen. Die frohe Erwägung, daß in dem Meifes und Handels 
verkehr die Annahme der verbefferten Einrichtungen endlich auch bei 
uns entſchieden ift, und dag hier die Vertheidigung des Alten, felbft wo es 


N 


160= Sum. in 


von der Reaction gegen bie gefürchteten Fortfähcitte ber 
ging, doc vor dem gefunden Menfhenverftande bei 
lange halten Kann, gibt mie auch Hoffnung für den endlichen 
gefunden Vernunft in unferem Rechtsverkehr, Erlebe ih es 
febft, der ich nach den Freibeitäfriegen im Hannöterifdhen, io | 
damals aus alzu großer Anhänglichkeit an’ Alte bie ehemaligen 
phoͤliſchen Diligencen wieder durch die langfamen, unbe: 
Regen und. Wind nice fhügenden alten Poftwagen erfege 
traurige Fahrt mit denfelben beftand, daß fehon ein Fabe 
guten , ſchnellen Diligencen gefiegt hatten. Es fdhadete num 
daß, wie ich es ebenfalls felbit noch vernahm, einzelne alte 
ſter alles Ernſtes noch ‚unfere alten Reihspoftwagen 
neuen Eilwagen anpriefen. Hoffentlich fiegt ja auch bet 
nicht allzu fpät die gefunde Vernunft, fa daf, wenn erme 
ten alten deutſchen Procefwiberfian noch von einzelnen alten 
juftizmeiftern. preifen hört, man, eben fo gut dazu lächeln baef, 
damals Über ben alten beutfchen Neichspoftmeifter. Pd 
Ja ſelbſt bie lichtſcheue Reaction wird mit ihrem fatfehen 
fierungen endlich diefe unentbehrlihe Reform nicht mehr auf 
men. Der von ihr im Geheimen herumgetragene Gedanke, 
meinen vaterlänbifchen Werhäftniffe ftünden hier im Wege, 
an's Licht der Deffentlichkeit nicht hervorwagen. Mer mu 
fprechen ben. beleibigenden, den in gefährlicher Lage bes @ 
doppelt gefährlichen Gedanken, diefe vaterländiihen Merk, 
der Art, daß, fie unfere Nation unvermeidlich ausfeatön | 
wichtigſten Gütern der eucopdifchen Givilifation, bom Dem Berk 
Entreidelungsmitteln patriotifcher Bildung und Geftnmung 
der Art, daß fie uns bie zeitgemaͤße Wirderherftellung M 
ſten vaterländifhen Inſtitutes und durch daffelbe die 38 
in. ungtüdlihen, Zeiten uſurpatoriſch eingebrun, i 
Suci 













Kabinet. — Kemeralsiffenichaft. 161 

Kabinet, f. Gabinet. 

Kärnthen, f. Deſterreich. 

Kaiſer, f. Titulatur. 

Kameralwiffenfhaft. Die rirthfchaftliche Thaͤtigkeit, d. 6, 
die auf Dervorbringung, Erwerbung und zweckmaͤßige und ſparſame 
Verwendung materieller (fachlicher) Güter gerichtete Zhätigkeit der Men 
fhen, gründet ſich auf die unabmweislichen Webürfniffe der menfchlichen 
Natur. In dieſer natürlihen Nothwendigkeit der twirthfchaftlichen Be⸗ 
ſchaͤftigung der Menſchen und in ihrer Wichtigkeit fuͤr das unzertrenn⸗ 
liche materielle und geiſtige Wohl der Einzelnen, der Voͤlker und Staa⸗ 

tem liegt die Rechtfertigung einer wiſſenſchaftlichen Auffaffung 
jener Thaͤtigkeit: einer Wirthſchaftslehre*) oder, um fie mit dem⸗ 
jenigen Namen zu bezeichnen, der ſich aus deutſchen Staateverhaͤltnifſen 
gebildet hat: einer Kameralwiſſenſchaft. 

Die wirthſchaftlichen Verhaͤltniſſe laſſen ſich nad verfchiebenen Ge⸗ 
ſichtspuncten auffaſſen; nach ihrer rechtlichen, fittlichen, politiſchen, ober 
aber nach ihrer rein wirthſchaftlichen Seite; und es iſt klar, daß die 
Wirthſchaftslehre, je nachdem man ſie z. B. von dem rein wirthſchaftli⸗ 
hen oder von dem politiſchen Standpuncte aus behandelt, eine verſchle⸗ 
dene Stellung in dem Kreife der Wiſſenſchaften überhaupt und ein 
größeres oder geringeres Recht erhält, bei höheren gefelfchaftlichen Kragen 
fi) eine entfcheidende Stimme zuzueignen. | 

Geht man von dem rein wirthſchaftlichen Standpuncte oder von 
der Trage aus: welches find die Bedingungen des wirtbichaftlichen Woh⸗ 
les der Einzelnen und der Geſellſchaft? fo erfcheinet die Wirthſchafts⸗ 
lehre als ein felbftitändiges, in ſich abgeſchloſſenes Glied in der Kette der 
Wiſſenſchaften. Das Princip, welches innerhalb dieſes wiſſenſchaftli⸗ 
chen Gebiet alle Fragen entfcheiber, ift das wirthſchaftliche Wohl. 
An biefem Maßftabe werden alle wirtbfchaftlihen Beſtrebungen, felbft 
alle Maßregeln bes Staats, welche auf fie Einfluß ausüben, gemeſſen. 

Betrachtet man aber die wirthſchaftliche Thaͤtigkeit von dem polls 
tiſchen Standpuncte; fragt man, melden Einfluß fie auf das geſammte 
Staatsleben ausübe? fo bildet die Wirthſchaftslehre einen Theil der 
Staatswiſſenſchaft, und die mirthfchaftlihen Strebungen und Refultate 
find Hier nicht blos nach Preis, Maß und Gewicht zu beurtheilen, ſon⸗ 
dern die höheren ſtaatswiſſenſchaftlichen Principien machen ihre Der 

‚ Schaft geltend. 

Es ergibt fi) von felbft, dag alle wirtbfchaftlihen Fragen, ſobald 
fie in irgend einer Weife über das rein wirthſchaftliche Gebiet ſich hin⸗ 
aus erfireden und in das gefellfchaftliche Leben eingreifen, nach ihrer 
Beantwortung in der reinen Wirthfchaftsiehre noch einer höheren Revi- 
fion in der Staatswiſſenſchaft fih zu unterwerfen haben. , 

Die Behandlung der Wiffenfchaft auf die eine Weife fchließt die 


*) Wirth, vir, Mann, Hausherr, Anordner von Bermögensverbältnifien, 
olnovdpog. 


Staats : Lerilon. IX, 11 





162 ameralwiſſenſchaft. 
andere keineswegs aus. Es ſcheint vielmehr bie doppelte Weiſe ber 
Behandlung mannigfach foͤrdernd für dieſelbe zu fein. 

Wird in der Wirthſchaftslehre, wenn gleich einfeltig, dd wirth⸗ 
ſchaftliche Intereſſe allein als Princip aufgeſtellt, ſo wird dieſer Seite 
ungetheilte —— gewidmet, und es laͤßt ſich um ſo ſicherer 
eine erſchoͤpfende Behandlung derſelben erwarten. Ueberdies fuͤhrt eine 
tiefere Betrachtung der geſellſchaftlichen Entwickelung zu der Ueberzeu⸗ 
guns daß in den meilten Fällen das wirthfchaftlihe und das geiftige 

ohl und Wehe der Völker innig mit einander verknüpft find. 

Jene einfeitige Behandlung der Wiffenfchaft gibt ferner den Bears 
beitern Veranlaffung, mehr in die niederen Sphären des wirthfchaftlis 
hen Privatlebens hinabzufteigen, bie Gebiete der Privatwirthſchaftsleh⸗ 
zen zu durchforſchen und mit den baraus abftrahirten Sägen die allge 
meineren Disciplinen zu befruchten. Eben fo kann hieraus für die Pris 

vatwirthſchaftslehren Nutzen gezogen werden, indem die Grunbfäge der 
‚ allgemeineren Lehren auf fie übertragen und jene durch diefe auf eine 
höhere Stufe der wifienfchaftlichen Ausbildung gehoben werden, 


Die Bearbeiter der Staatswiffenfchaft aber erhalten eine Seite des 
Volkslebens auf eine Weiſe wiſſenſchaftlich beleuchtet, einen wichtigen 
Theil ihrer Miffenfchaft fo vorbereitet, daß ihnen faum welter etwas 
obliegt, als die theoretifchen und praftifchen Refultate der Wirthſchafts⸗ 
Iehre, fo weit fie das Öffentliche Leben berühren, in ihre Spitem aufs 
zunehmen, nachdem fie diefelben einer Prüfung vom ſtaatswiſſenſchaftli⸗ 
hen Standbpuncte aus unterworfen haben. 

Die Wirthfchaftslehre in ihrer einfeitigen Abrundung nun hat fich 
in Deutfchland unter dem Namen der Kameralwiſſenſchaft ausgeöilbe, 

Geſchichte ber Kameralwiffenfhaft. 

Die Wirthſchaftslehre kann fidy nicht rühmen, fchon in dem Bo⸗ 
den bes Alterthbums tiefe Wurzeln gefchlagen, aus deſſen Bildung reiche 
Säfte gefogen zu haben. Sie ift eine Frucht der neueren Zeit und der 
neueren Bildung. Zwar fehlt e8 nicht an griechifchen*) und römifchen **) 
Schriſtſtellern, welche namentlih den Aderbau behandeln ; auch allges 
meine Betrachtungen über Wirthfchaftsverhältniffe find von den größs 
ten Männern des Alterthums, von Platon, Ariftoteles, Cicero, in ih⸗ 
ren Werken über den Staat angeftellt worden. Allein der Lehre vom 
Ackerbaue fehlt die naturwillenfchaftliche Grundlage, die ihr in der neues 
ven Zeit gegeben worden ift, und die allgemeineren Betrachtungen koͤn⸗ 
nen kaum als ein ſchwacher Keim ber neueren national-sfonomifchen 
Lehren angefehen werden ***). Diefe Thatſache erregt Leine Verwunde⸗ 
zung, wenn man bedenft, daß auf der gewerblichen Zhätigkeit, "mit 

Ausnahme des Landbaues, die Verachtung der Öffentlichen Meinung 
laſtete, und daß fi mit anderen Dingen Lorbeeren erringen ließen, 


*) Zenophon. 
**) PYalladius, Sato, Varro, Plinius u. A 
*se) Bergl. Rau, Anſichten ber olkswirthfchaft. Leipzig, 1821, 1. Abhblg. 


Romerahiviffenfchaft. 168 


als durch bie wiſſenſchaftliche Betrachtung von Beſchaͤftigungen, bie ' 
meift dem Stande der Sklaven und den nieberfien Volksclaſſen über 
lafien waren. 

Auch im germanifchen Mittelalter erfuhr die Wirthfchaftsiehre Leine 
jorgfame Pflege. Der Geift der Zeit war in’s Jenſeits gerichtet, und 
das Reid) des Geldes galt als das Neid, des Satans. ' 

Erf nahdem der Seeweg nad Oftindien und Amerika entbedk, 
in den wirthſchaftlichen Verhaͤltniſſen der europäifhen Voͤlker wichtige 
Veränderungen vorgegangen, der Geift der Wiſſenſchaft durch die Me: 
formation wieder erweckt, und ber ZOjaͤhrige Krieg namentlid) dem Wohl: 
flande Deutfchlands tiefe Wunden gefchlagen hatte, hielt man es der 
Mühe werth, auch den wirthfchaftlihen Dingen, ſowohl im Staatsle⸗ 
ben als in der Wiſſenſchaft, größere Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Den 
deutfchen Regierungen namentlich mußte fich die Weberzeugung aufdrin⸗ 
gen, daß eine ihrer naͤchſten und wichtigiten Sorgen die Wieberherftels 
fung des öffentlichen Daushaltes und namentlidy die Verbeſſerung bes 
Wohlſtandes ber Unterthanen fein müfle, als der reichften und dauer⸗ 
hafteſten Quelle von Einkünften. In diefem Sinne wurden theils 
im Auftrage der Negierungen, theild aus eigenem Antriebe von einzels 
nen Staatsmännern die in den Kammercollegien (f. Art. „KRammer”) 
geltenden Gefchäftsregeln zufammengetragen, um durdy Verbreitung bes 
waͤhrter Grundfäge auf eine zweckmaͤßige Fuͤhrung ber Gefchäfte einzu⸗ 
wirken. Diefe Lehre „von den Kammerfachen” enthielt neben polizeilis 
hen Regeln hauptſaͤchlich die Regeln für die Bewirthfchaftung der Dos 
mänen, der Forſte, für den Betrieb der Bergwerke und für die Behands 
lung ber Regalien; in geringerem Maße die Grundfäge des Steuerwe⸗ 
ſens, weil baffelbe feiner ftaatsrechtlihen Natur nach den Geſchaͤftskreis 
der Kammerbehoͤrden nur auf untergeordnete Weife berührte. 

Die hervorragendften Männer, welche in der zweiten Hälfte des 
17. Jahrhunderts durch ihre fchriftitellerifchen Arbeiten den Webergang 
von der Praris zur Theorie vermittelten, waren Sedendorf, Schröder 
und Hornet. Ihre Schriften erlebten eine große Anzahl von Auflagen 
und dienten lange Zeit als Grundlage von Univerfitätsvorträgen. Zwar 
fehlte es nicht an Schriften in Spanien, Frankreich, England und 
Ftalien, melche privatwirtbfchaftlihe und finanzielle Gegenflände behan⸗ 
deiten; auch die Schriften der Alten über Landbau wurden aus bem 
Grabe gezogen: allein eine umfaffende Betrahtung der wirth: 
Thaftlihen Dinge von dem Gefichtspuncte der Kameraliften, wie 
die erwähnten Schriftfteller fie anſtellten, gab es nicht. 

Menn gleich von der Begründung einer Kameral:Wiffenfhaft 
durch diefelben nicht gefprochen werden kann, fo ift doch Thatſache, dag 
fie in hohem’ Grade anregend wirkten. 

Die Einfiht in den Nugen einer wiflenfhaftlihen Bildung ber 
Kameraliften veranlaßte Friedrich Wilhelm I. von Preußen an den 
Univerfitäten zu Halle und Frankfurt an der Oder Profeffuren der Ka: 
meralmiffenfchaft zu errichten. Diefer Vorgang fand, raſch zahlreiche 

1 








veranſtaltet igſtens 
Aufgabe der Finanzwiſſenſchaft endlich 
die Staats zwecke erforder! wirthſe 5 
Akswirthſchaft am Wenigften druͤckende Weiſe zu 
walten find. 
Ueber die Scheiftiteller, melde: um die. 
und Ausbildung ber Kameralwiſſenſchaft ſich B 
(Böllinger, Serger, Schmalz, Fulda, Oberndo: e 
* ee ſich verdienftlichen Schriften von Rau über die Mämeralı 
haft (Heidelberg, 1815), Er Baumſtark, tameratiftifche € 
& (Heidelberg , 1835) ©. 44. ff. PR 
Die Kameralwiffenfchaft, als Inbegriff fÄmmtlicyer auf — 
ſchaftsweſen eines Volks ſich beziehender Kehren, iſt 
eigenthümliche Wiffenfhaft. Was in England, g 
unter politifcher Dekonomie verftanden wird, umfal 
derfelben, nämlich die Volkswirthſchaftolehte, im 
Hauptgrundfägen der: in Deutfchland abgefondert 
fenfchaftlidy weiter atısgebildeten —— ft 
wiſſenſchaft, weiche drei Wiſſenſchaften in 
Deutſchland unter dem Namen der —5 
faßt worden find. Wenn gefagt worden iſt, ba 
eine ben Deutfchen eigenthümliche Wiſſenſchaft fei, ſo win 
lich nicht heißen, daß anderen Völkern die Landwirthſchaft 
nifhen Wiffenfchaften x. mangeln; die ſtuͤnde in W 
den offenkundigften Thatſachen: «8 fehlt ihnen nur 
Witthſchaftsweſen umfaffendes wiſſenſchaftliches Syſte 
Deutſchland find namentlich in der neueren Zeit die La 
die Forſtwiſſenſchaft, die Technologie und die politiſche 
ſelbſtſtaͤndig und unabhängig von einander. fortgebilder 





Eameralwiſſenſchaft. Kammer. 167 


iſſen worden iſt. Sie hat ihren Werth eben ducch die Aufzeigung jeme® 
ineren Zufommenhangs, durch Aufdedung von Mängeln und Lüden 
Em ben einzelnen Zehren, ober darin, baß fie Weranfaffung gibt, die 
Bortfchritte in der einen Miffenfchaft überzutragen auf die andere. Dieſes 
hri uns zum Schluffe auf eine Bemerkung über die Behandlung der 
Wrivatreicchfchaftsichren in der Kameralwiſſenſchoft. . 

Die hauptfächlichfte praktifche Tendenz der Kameralwiſſenſchaft war 
rem Urfprunge nad) die: dem Polizei: und Finanzbeamten des Staats 
de GBrundfäge für feine amtliche Thaͤtigkeit am die Hand zw geben. 
Diefer urfprünglihen Tendenz entfpricht derjenige Theil, den man auch 
ımter dem Namen der politifchen Oekonomie zufammenfaßt, heute in 
Inem früher ungetannten Grade. Nicht das Gleiche laͤßt fih von ben 
Drivatwirthfchaftsichten fagen. Sie mögen dem Privatwirth ober dem 
Staatswirih in feiner Eigenſchaft als Peivatwirthſchafter im Namen 
«6 Staats in der Art, wie fie in der Kameralwiſſenſchaft behandelt 
werden, mehr oder weniger von Nusen fein ; aber dem Staatswirthe, 
116 folhem, dem Wirthſchaftspolizeibeamten, als ſolchem, find fie fo 
‚ange von untergeorbnetem Werthe, als nicht anſtatt der technifchen Seite 
ver einzelnen Gewerbslehren die Seite des wirtbfhaftlihen Bes 
triebs in den Vordergrund tritt. Für den Staatsmann, ber bie Ges 
merbe zu unterflügen, zu fördern, zu befteuern hat, iſt micht ſowohl 
des techniſche Detail des Landbaues, der Forſtwirthſchaft, der Spinner 
jek x. von Wichtigkeit, als vielmehr die Innere Gliederung, die Form 

Betriebes, die wirthfchaftlichen Refultate jener Gewerbe. Die tech⸗ 
alfhen Grundfäge müffen diefen Bettachtungen ohne Zweifel zur Bas 
6 dienen; aber jene mehr national⸗oͤlonomiſchen Seiten find es, die im 
dee Kameralwiffenfchaft bis jest, wie uns feheint, noch nicht jene Bes 
rᷣckſichtigung gefunden haben, die fie verdienen. Es dürfte, wenn uns 
die Beichen nicht trügen, die Zeit nicht ferne fein, mo es moͤglich fein 
vird, der Kameralwiſſenſchaft auch nad) diefer Seite hin eine vervolls 
!ommnete und in wiſſenfchaftlicher und praktiſcher Hinficht vielfaches Ins 
ereſſe gewaͤhrende Geftalt zu verleihen. Wir hoffen und wuͤnſchen naments 
ich, daß der Verfaſſer des Auffages (deutfche Dierteliahrsfchrift vom 
Julius — Sept. 1838) „über gewerbliche Literatur” den Gedanken, den er 
safelbit (S. 154.) über die Bildung einer Gewerbe: Wiffenfhaft ges 
Imßert, und der, wenn mir ung nicht täufchen, mit demjenigen zus 
ammentrifft, den wie in Bezug auf bie Behandiung fämmtliher Pri- 
vatmwicthfchaftsiehren in der Kameralwiffenfchaft ausgeſprochen — wir 
vuͤnſchen/ daß er felbft jenen Gedanken recht bald tealificei’ möge. 

Dr. Wolfgang Shüs. 

Kammer (fürftliche oder Rentlammer). Das Wort „Kammer“ ift 
16 bee griedhifchen Spradye (xauaga) in bie römifdhe (camera) und aus 
niefee in die deutſche übergegangen. Geine Bedeutung ift im Wefents 
ichen in allen drei Sprachen diefelbe: ein gewoͤlbter Raum, Gewölbe, 
jebeimes Gemach. In der deutfhen Gtaatsipradye hat von wur Wem 
Kusbrude „fürftliche Kammer“ den xt, voo die Fürtäitgen Inasaurehr? 





. 3 
Kameralwiſſenſchaft. 
Einzelnen oder freler Vereine uͤberſteigen, odet aus 

finne der Einzelnen von — wen 
veranflaltet oder wenigſtens Übermacht werden Im 
—— der ——— — iſt es u 
für die Staatozwece erforderlichen wirthſchaftüchen Guͤter aa 
Volkswirthſchaft am Wenigften drüdende em zu — 
walten. find. 

Ueber die Schriftſtellet, welche um bie foRemarlfah 
und Ausbildung der Kameralwiſſenſchaft ſich Verdienſte er 
(Böllinger, Seeger, Schmalz, Fulda, DOberndorfer, Beier 
die für ſich verdienftlichen Schriften von Rau Über die Ki 
ſchaft (Heidelberg, u > Baum ſt ark, kameraliſtiſch 
die (Heidelberg , 1836) ©. 44. ff. 

Die ie Kameralmiffenfehft, als Inbegriff fÄmmtlicher au 
ſchaftsweſen eines Wolts ſich beziehender Lehren, ift eine d 
eigenthuͤmliche Wiffenfhaft. Was in England, Frankreich 
unter politifcher. Defonomie verftanden wird, umfaßt mu 
derfelben, naͤmlich die Volkswirthſchaftolehte, in Berbint 
Hauptgrundfägen der in Deutfchland abgefondert behandel 
fenſchaftlich welter ausgebildeten Volkswirthfchaftspflege ) 
wiſſenſchaft, welche, drei Wiſſenſchaften in der neueren 
Deutfchland unter dem Namen der „„politifchen Dekonomiet“ 
faßt worden find, Wenn gefagt worden iſt, daß die Kamel 
eine den Deutfchen eigenthmiiche Wiffenfchaft fei, fo milk 
uqh nicht t beißen, * daß anderen Voͤlkern die kLandwirthſchaftel⸗ 





* * 
_ . 
. . 
* 
" ⸗ 


⸗ 


eewesheiſeuſthaſt ¶ eineve. u? 


gerriffen werben iſt. Sie hat ihren Werth üben durch die Aufzelgung jenes 


inneren Bufanimenhangs, durch Aufdeckung von Mängeln und Lüden 
in ben einzeinen Lehren, ober darin, daß fie Veranlafſung gibt, die 
Fortſchritte in der einen Wiffenfchaft überzutragen auf bie andere. Diefeb 


führt uns zum Schluffe auf eine Bemerkung über die Behandlung ber 


Privatwirthſchaftslehren in ber Kameralwiſſenſchaft. a 

Die hauptſaͤchlichſte praktifche Senden; der Rameralwifienfchaft war 
ihrem Urfprunge nach bie: dem Polizei: und Finanzbeamten des Staats 
Die Grundfäge für feine amtliche Thaͤtigkeit an die Hand zu geben. 
Diefer urfprünglichen Tendenz entfpricht derjenige Theil, den man au 
unter dem Namen ber polltifchen Defonomie zufammenfaßt, heute in 
einem früher ungelannten Grade. Nicht das Weiche laͤßt fi) von bew 


—— eh pa fslabern fagen. Sie mögen dem Privatwirth oder dem 


atsſwirth in feiner Eigenſchaft als Privatwirthſchafter im Namen 
des Staats in der Art, wie ſie in der Kameralwiſſenſchaft behandelt 
werben, mehr ober weniger von Nutzen fein; aber dem Staatswirthe, 
als ſolchem, dem Wirthichaftspolizeibeammten, als ſolchem, find fie fo 
lange von untergeordnetem Werthe, als nicht anſtatt der ech ni ſche n Seite 


Ba 


dee einzelnen Gewerbslehren die Seite des wirthſchaftlichen ae N 


triebs in den Bordergrund tritt. Für ben Staatsmann, der die 

werbe zu unterftügen,, zu fördern, zu beftenern hat, iſt nicht ſowohl 
das techniſche Detail des Landbaues, ber Forſtwirthſchaft, der Gpinnes 
rei x. von Wichtigkeit, als vielmehr die innere Gliederung, die Form 
bed Betriebes, die wirthfchaftlichen Refultate jener Gewerbe. Die tech⸗ 
niſchen Grundfäge müflen dieſen Betrachtungen ohne Zweifel zur Bas 


fis dienen; aber jene mehr nationalsötonomifchen Selten find es, die in 


bee Kameralwiſſenſchaft bis jest, wie uns fcheint, noch nicht jene Bes 
ruͤckſichtigung gefunden haben, die fie verdienen. Es dürfte, wenn uns 


die Zeichen nicht trugen, die Zeit nicht ferne fen, wo es möglich fein 


wird, der Kameralwiſſenſchaft auch nad) diefer Seite bin eine vervolls 
Sommmete und in tmiffenfchaftlicher und praktiſcher Hinficht vielfaches Ins 
tereffe gewaͤhrende Geſtalt zu verleihen. Mir hoffen und wuͤnſchen naments 
lich, daß der Verfaſſer des Auffages (deutfche Vierteljahrsſchrift vom 
Julius — Sept. 1838) „über gewerbliche Literatur‘ den Gedanken, ben er 


bafelbft (&. 154.) über die Bildung einer Gewerbes Wiffenfhaft ger . 


äußert, und der, wenn wir uns nicht täufchen, mit demjenigen zu⸗ 
fammentrifft, den wir in Bezug auf die Behandlung fämmtlicher Pri⸗ 
vatwirthſchaftslehren in ber Kameralwiffenfchaft ausgefprohen — wir 
wuͤnſchen, daß er felbft jenen Gedanken recht bald realiſiren moͤge. 
Dr. Wolfgang Shäü;. 
Kammer (fürftliche oder Rentlammer). Das Wort Kammer“ if 
aus der griechifchen Sprache (xauapa) in bie römifche (camera) und aus 


dieſer in die deutfche übergegangen. Geine Bedeutung tft im Weſent⸗ 


lichen in allen dert Sprachen biefelbe: ein gewoͤlbter Raum, Gewölbe, 
geheimes Gemach. In der deutfchen Staatöiprache bat man mit dem 
Ausdrude „fürftliche Kammer” den Dirt, wo bie fürfitichen Angelegenhei⸗ 


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108 Berner. — Kammerherr. 


ten verhandelt wurden, wohin bie fuͤrſtlichen Eintünfte flofien, bie 
fuͤrſtliche Caſſe, endlich auch die den fürftiichen Haushalt leitende Be: 
hoͤrde bezeichnet. Der an der Spitze dieſer Behörde (Rammercolkegium, 
Rentkammer) ftehende Beamte wurde Kämmerer, Rammermeifter, auch 
ber Landfchreiber genannt ; bie Unterbeamten hießen Amtsverwwalter, Kell⸗ 
ner, Vögte xc. . 

Die Geſchaͤfte der Kammer beftanden urfprünglich hauptſaͤchlich in 
ber Beauffihligung und Leitung der Domaͤnenwirthſchaft, in der 
Einbringung dee herifchaftlihen Gefälle, twie Zehnten, Zinfen, ſo⸗ 
dann in ber Verwaltung dee Regalien, mie des Jagd⸗, Straßen⸗, 
Muͤnzregals etc.; endlich) in ber Verwaltung des Steuermwefens, fo fern 
nicht eine eigene unter ber Verwaltung der Landftände ftehende Steuer: 
caſſe vorhanden war. \ 
| Zwiſchen den Einkünften aus Domänen, Gefälln und Regalen 
und jenen aus Steuern beftand jedoch ein fehr wefentlicher Unterfchieb. 
Jene bildeten das regelmäßige, ordentliche, der Einwirkung der Landſtaͤnde 
mehr ober weniger entzogene, alfo hauptſaͤchlich in ben Berufs- 
reis der Kammer fallende fürfllihde Eintommen; bie 
Gteuern aber das außerordentliche unbebingt von ber Verwilligung der 
Stände abhängige, oft felbft von ihnen verwaltete Einkommen. 

An die wiethfchaftliche Thätigkeit der KRammerbehörbe knuͤpfte fich auf 
natürliche Weife eine polizeiliche an. Mit der Sorge Vermeh⸗ 
rung der fuͤrſtlichen Einkuͤnfte hing die Sorge fuͤr Verbeſſerung des Zu⸗ 
ſtandes der Unterthanen, mit der Verwaltung der Regalien, z. B. der 
Muͤnze ıc., in mannigfacher Beziehung eine polizeiliche Thaͤtigkeit zuſam⸗ 
men. Se unausgebildeter die Polizei, je enger ihre Geſchaͤftskreis war, 
defto Leichter ließen ſich verfchiedene Zweige derfelben mit ber natürlichen 
Thätigkeit dev Kammerbehörde in Werbindung bringen. Selbſt eine 
rich terliche Thaͤtigkeit fiel in ihren Berufskreis: die Entſcheidung 
von adminiſtrativ⸗ contentioͤſen Kammerſachen und bie Beſtrafung ber 
Uebertretungen von Finanzgeſetzen. (Vergl. namentlich Bergius, Po: 
lizei und Cameralmagazin. 1767. 1. Band. Art. „Kammer.“) 

Mit dem Anwachſen der finanziellen Geſchaͤftsmaſſe wurden die 
Kammern in eine Reihe verfchiebener Behoͤrden geſpalten. Aus ihr ha⸗ 
ben fidy die Kinanzminiflerien,, die Finanzkammern, die Steuercollegien, 
. die Zolldirectionen, bie Oberrechnungskammern ıc. entiwidelt; die poli- 
zeiliche Thaͤtigkeit iſt an die Behörden des Minifteriums des Innern 
übergegangen, und die Verwaltung der fürftlihen Privatdomänen iſt 
wenigſtens in einzelnen Staaten, mo eine Ausfcheibung des Staats⸗ 
und des fürftlihen Familienguts zu Stande gekommen ift, eigenen Hof: 
bomänenfammern übertragen morben. 
| Dr. Wolfgang Sduͤz. 


(st Kammer I. und II, f. Conſtitution und Zweilammer: 
yſt em. 


Kammergut, f. Domainen. 
Kammerherr, Kammerjunker, ſ. Hof. 


j 


Haut und bie Kantifche Baitefopitz — Sr Kanes 
Leben und Wirken überhaupt‘). Immanuel Kant, biefes 
—— hrs Diitofenbie ben man nicht mit Unrecht den Herkulee 

deu Denbern — 

—— bat, und weicher einen größeren Einfluß als irgend ein Andere, 
namentlich nun Philoſoph auf Mit» und Nachwelt ausgehbt, war zu 
in Preußen 1724 am 22. April geboren. Sein Vater (bee 

berflammmte, die in Schottland gelebt hatten, und fi Eant 


| —* war Sattiermeiſter und zeichnete ſich Durch feine — Rechtuch⸗ 


Beit eben fo ſehr aus, als feine Mutter in ihre innige Froͤmmigkeit. 
Kant feibft Hat fpäterhin beflimmt und dankbar dem toebiehätigen ia 
Auf diefes Gharakters feiner Eltern und feiner fa „pietiſtiſchen“ Er⸗ 
Ziehung auf feine ganze Entwickelung anerkannt. Im Sabre 1732 Um 
ex (von einem Oheime mütterlicher Seite, dem Schuhmachermeiſter Rich⸗ 
‘ter, unterflüst) auf das Königsberger Gymnaftum (Collegium Frideri- 
cianum), auf weichem er bi6 zu 1760 biteb, wo ee bamıi zur 


eine Fortſ 

Giaffiker aus. ( Unter feinen Mitſchuͤlern befand fich Damals ber nachema⸗ 
ige beruͤhmte Philolog Ruhnkenius, der mit Kant näher . 
war.) . Auf ber Univerfität widmete er ſich der Theologie, noch mehr aber 
dem Studium dev Phyfik, Aſtronomie, Mathematik und Philofepfe. 
In den beiden lektgenannten Disciplinen wr Martin Kunzen, ein 

außgezeichmeter Kopf, fein Lehrer. Wie außerordentlich thätig Kant in 
den 5 Jahren feines Univerfitäreflubiums — beweif’t am Welten 
ſein ſchon 1746 herausgegebenes ausführliches Werk: „Gedanken von dr 
wahren Schägung ber lebendigen Kräfte.” Nach Beendigung feiner Stu⸗ 
dien brachte er einige Jahre als Hausiehrer auf bem Lande zu. Er ver⸗ 


ſuchte auch einige Male in Dorflicchen zu prebigen, entfagte aber, ze 


bet Befegung ber unterften Schulcolegenfthe bei der Königsberger Doms . 
ſchule einem nem gewiß nicht Geſchickteren, .nachgefegt warb, allen Au⸗ 
forhchen auf geiftliches Amt (wozu aud wohl die Schwaͤche 

Duft mit PN haben mag) und wibmete fid) von feinem SO. ! 


5 an er! bem Doppelberufe bes akademiſchen Lehrers und bes 


Saite 

in welchem er (zumal in letzterem) ohne Frage das Größte erreicht 

2 was bisher von irgend einem einzelnen Menſchen darin erreicht wor⸗ 
ben iſt. Noch vor feiner Habilitation in feiner Waterftabt gab er (1706), 

außer einigen Eleineren in Zeitfcheiften eingerk@ten aſtronomiſchen und _ 

phyſikaliſchen Abhandlungen, eine „Allgemeine Naturgefchichte und Theo⸗ 

vie des Himmels oder Verſuch von ber Verfaffung und dem mechanifchen 


Te a BT —— 
Jahre —— ı und re I 


18 herich 
r Bert, 17 
* vr Kane uber Rofentrans * —* 





170 Aeant mad Die Kantifche Philofophie. 


Urfprunge bed ganzen Weltgebäudes, nad; Newton'ſchen Grundſaͤtzen ab» 
gehandelt” heraus, welche im Weſentlichen ganz diefelbe Theorie des Welts 
baues durch blofe Combination von Schlüffen enthielt, die 6 Jahre fpäter 
ber berühmte Lambert in feinen kosmologiſchen Briefen (ohne etwas von 
‚der Kant'ſchen Schrift zu wiffen) aufftellte, und die Herfchel SO Jahre 
fpäter durch feine Beobachtungen volltommen beftätigt fand*)., Am 
27. September 1755 vertheidigte er feine Dijfertation: „‚Principiorum 
primoraın cognitionis metaphysicae nova dilucidatio.“ In der zuerft 
genannten Schrift von der Schäsung der lebendigen Kräfte hatte er bes 
reits ſich als Achten Selbſtdenker gezeigt, indem er als 22jähriger Juͤng⸗ 
ling den berühmteften Männern feiner Zeit und Vorzeit, einem Leibniß, 
Wolf, Bernoulli und Anderen, zu widerfprechen wagte, fo wie er auch in der 
Vorrede im edlen Seibftgefühle die Worte ausfprach: „Ich habe mir die 
Bahn vorgezeichnet, die ich halten will; — ich werde meinen Lauf antres 
ten und nichts fol mic, behindern, ihn fortzufegen! 

Es ift in der That duferft merkwürdig, daß fich fhon in diefer Ju⸗ 
gendarbeit miehrere der eigenthuͤmlichen Grundideen der Vernunftkritik fin» 
den (fo 3. B. ſchon die Anficht, daß der Raum eine Anfchauungsform ſei, 
welche die Gefege enthalte, unter denen unfer Vorflellungsvermögen von 
den finnlichen Eindrüden afficirt werde; man findet dafelbft ferner auch die 
Anficht ausgeſprochen, daß es an ſich feiende Dinge geben koͤnne, welche nir⸗ 
gende und nie in unfer menfchliches Vorftellungsvermögen zu fallen vers 
möchten), fo wie, daß das, was ſich als Mefultat der Ueberzgeugung durch 
diefe Arbeit bei ihm feftfegte und er fpäter in feinen „metaphyſiſchen Ans 
fangsgründen der Naturwiſſenſchaft“ vouftändig entwidelte, von da 
in die Naturconftsuctionen der Schelling'ſchen Schule übergeflofien ift **). 
Noch deutlicher bezeichnete er den eigenen, von ihm eingefchlagenen Weg 
buch die gedachte Differtation, aus deren Thema feine Abficht deutlich 
hervorleuchtete, der Metaphyſik oder theoretifchen Philofophie eine Revo⸗ 
Iution zu bereiten, indem er fchon bier die erften Grundfäge derfelben einer 
unerbittlich ſtrengen Cenſur unterwarf. In den folgenden Jahren erfchien 
von ihm eine bedeutende Zahl kleinerer, theils philofophifcher , theils phy⸗ 
ſikaliſcher und vermifchter Schriften T), unter denen befonders der ‚neue 
Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe” u. f. w. (1758), die „falfhe Spitz⸗ 
findigkeit der follogiftifchen Figuren‘ (1762), der „einzig mögliche Beweis⸗ 
. geund zu einee Demonftration des Dafeins Gottes‘ (1763), fcdann die Ab: 
handlung „über die Evidenz in den metaphyſiſchen Wiſſenſchaften“ (welche 
das Acceffit zur Mendelsſohn'ſchen Preisfchrift hierüber erhielt, 1764 +}), 


2* bie deutſche Ueberſetzung von Herſchel's Schrift: „Vom Bau bes 
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**) S. Fortlage’s treffliche Abhandlung in ber beutfchen Vierteljahrs⸗ 
a Per die Stellung Kant’s zur Philofophie vor ihm und nach ihm.‘ 

9 Bonftändig aufgeführt in Boromsti’s Biographie Kant’. S. 53 ff. 

++) ueber die Wichtigkeit diefer Schrift hat ſich neuerdings Friſes ausge 
ſprochen. (&. Polemifche Schriften 182%. S. 158.) 


Kant und bie Kantiſche Phlloſophie. 11 


beſonders aber die Differtation:: „de mundi sensibilis atque intelligibilis, 
forma et principiis“ (1770) ebenfalls um deswillen merkwuͤrdig find, weit 

in ihnen die Grundzüge feines fpäteren Syſtems ſchon theilweife enthalten 

find. Eben fo bezeugen andere feiner: damaligen Gelegenheitsfchriften 

(3. B. die „Gedanken beim Ableben des Heren von Funk 1754” und an» 

dere mehr), daß Kant ſchon damals ſich mit fichtlicher Vorliebe für Reli⸗ 
gion und Moral nad) einer Anficht ausfprach, welche fid) weigerte, in den 

Meinungen über die Zwecke des Lebens und der Tugend Partei zu neh⸗ 

men, und fich im Gegentheil mit Hinwegmwerfung aller anderen Hülfe nad) 

den reinen Geboten der gefeßgebenden Vernunft richtet, im Vertrauen, 

daß, wenn der Menſch auf diefe Art nad) dem von Gott ihm auf feine 
Fahrt mitgegebenen Compaſſe feine Schuidigkeit thue, auf der anderen 
Seite der Beherrfcher der Meere und Stürme das Seinige hinzufügen 
werde, nach dem in einem jener Auffäge angeführten Verfe Pope's: „Daß 
Jeder feinen Kreis vollende, den ihm der Himmel auserfehn ” *). 

Diefer Punct, daß Kant auf die Grundgedanken ſowohl feiner theoretis 
ſchen als praktiſchen Phitofophie fo frühzeitig und durch ſich ſelbſt gekommen 
war, iſt wohl zu beachten; denn einerſeits muß eine Philoſophie, die aus einer 
ureigenen Anſchauung der Welt, ber Dinge und ber Gedanken entfpruns 
gen ift, zu ganz anderen Refultaten führen, als eine folche, die blos aus dem 
Studium fremder Lehren und Syſteme hervorgeht; anderfeite kann 
nur eine folhe Philofophie, die aus dem inneren Lebensborn hervorquiltt, 
auch felbft wieder auf das Leben wahrhaft probuctiv wirken, fo wie eine 
foihe auch ſich nie in der Darftellung des außern blofen Schulfuftems 
völlig erfchöpfen läßt, deffen Form ohnehin jedes Mal durch äußere zus 
fällige Umitände beftimmt wird, die oft dem Werfen der Sache felbft Eintrag 
thun **). Einer foichen Philofophie find endlich die Verirrungen der mit feis 
nem Buchſtaben Goͤtzendienſt treibenden blinden Nachbeter und Schüler eben 
fo wenig zuzurechnen, ale die der felbftdenfenden Nachfolger, die gleich 
wohl, ftatt ebenfalls aus ureigner innerer Weisheitöquelle zu fchöpfen, 
und über die Welt und das Menfchenteben felbftftändig zu philofophiren, 
dieſes Letztere nur über die Schriften des Meiſters thun; vielmehr geht 


*) Bortlagea. a. D. IV. S. 103. 

**) Auch diefes weift Kortlage a. a. O. in Bezug auf bie Kant'ſche Phi⸗ 
lofophie nah: „Die Kant'fche Lehre ift alfo gar nicht in dem Grade Sache ber 
blofen Berftandesberehnung, in weldem fie diefes, nah der Form 
der fpäteren Kant’fchen Schriften zu urtbeilen, wohl fcheinen kann, und in wels 
chem fie auch nach dem eingefchlagenen falfchen Begriffe des fogenannten trodenen 
und dürren Kantianismus gemeiniglich dafür gilt. Ihr Fundament iſt vielmehr 
eine Srundanfhauung des Lebens, welche fchon vom 22. Jahre an fo frifh und 
lebendig in Kant’s Adern pulfirte, ald nur der gleichzeitige Klopſtock von feinen 
poetiſchen Idealen als Zriebfedern des innerften Lebensblutes feinerfeits in 
Bewegung gefegt fein mochte. Aber indem biefe pofitive Kant'ſche Grundan⸗ 
ſchauung ſich als Maßſtab fowohl an die beutfchen als ausländifchen fpeculativen 
Syſteme anfeste, gebar fie eine fundamentale Kritik berfeiben, und trat fo in 
der Geſtalt einer Kritik der philofophifchen Speculation überhaupt, ober als eine 
Kritik der reinen Vernunft auf.” 





172 Kant und bie Kantiſche Philofophie. | 


fie wie ein Phöniz aus der Afche blofer Schulform mit verjüngter 
Kraft hervor, und es ift mit Recht bemerkt worden, daß erft, feit es Leine 
Kantianer mehr gibt, Kant’s Philofophie ihre zeitliche Bedeutung 
abgeftreift und ihre ewige erhalten hat*). — 

Um auf Kant felbft zuruͤckzukommen, fo hatte Derfelbe gleich beim 
Beginne feiner akademiſchen Laufbahn die großen Erwartungen erregt, 
die er während ber langen Dauer derfelben auf fo glänzende Weife er- 
füllte. Ex gehörte ohne Zweifel zu den ausgezeichnetften akademiſchen 
Docenten, namentlich in feinem Hauptfache der Philofophie, über deffen 
zwedimäßigite Lehr» und Lernmethode er ſich auch bereits im 3. 1765 
in einer eigenen, nur einen Bogen flarten, aber hoͤchſt gehaltvollen 
und lehrreichen Schrift ausgeſprochen but *). Kant las über Logik, 
Metaphyſik, Anthropologie, über Naturrecht, Moral, Religionsphilofo- 
phie oder fogenannte rationale Theologie und Pädagogik; ferner auch 
über Mathematik, Phnfit und phufifche Geographie. In den letzteren 
beſchraͤnkte ex fich übrigens blos auf die fogenannten Öffentlichen Vor: 
lefungen über Logik und Metaphufit, und auf die Anthropologie und 
phyſiſche Geographie, welche lebtere beide auch von zahlreichen Zuhoͤ⸗ 
tern ber nichtftudentifchen gebildeten Bewohner Königsbergs befucht 
wurden. Sein Vortrag war ganz frei, in jeder Beziehung hoͤchſt 
zwedmäßig, was auch noch ganz neuerlich von einem ehemaligen Bu: 
hörer Kant’s, dem berühmteften der deutfchen Giviliften, von Thibaut, aner: 
kannt worden ift}), und in allen ben Materien, in welchen es bei 
Gegenftand nur irgend erlaubte, hoͤchſt anziehend und begeifternd 4). 


. *) Kichte d. I. über Gegenfag und Wendepunct d. Phil. S. 11. 
Nachricht von der Einrichtung ber Vorlefungen im Winterhalbiahre 
+) ueber die fogenannte hiftorifhe und nichtshiftorifche Rechtsſchule. 1888. 


34. 
++) Den vollgültigften Beweis hierüber gibt Herder, betanntlid fpäter 
Kant’s ner, in feinen Briefen zur Beförderung der Humanität. (W. 1829. 
XIV &. 47) in folgenden Worten : „Ich habe das Gluͤck genoffen, einen Philoſo⸗ 
phen zu kennen, der mein Lehrer war. Cr in feinen blähendften Jahren hatte 
bie fröhliche Sunterkeit eines Juͤnglings, die, wie ich glaube, ihn auch in fein 
greifeftes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war cin Sit 
ungerftörbarer Heiterkeit und Freude; bie gedankenreichſte Rede floß von feinen 
Lippenz Scherz und Wi und Laune flanden ihm zu Gebot, und fein Iehrender 
Bortrag war der unterhaltendfie Umgang. Mit eben dem Geilt, mit dem er 
Leibnig, Wolf, Baumgartens Erufius, Hume prüfte, und die Raturgefege Kepp: 
lex’s, Newton's, der Phyſiker, verfolgte, nahm er auch die damals erfcheinenden 
Schriften Rouffcau’s, feinen Emil und feine Heloife, fo wie jede ihm bekannt 
ewordene Naturentdedung auf, würdigte fie und kam immer zurüd auf unbe- 
gene Kenntniß ber Natur und auf moralifhen Werth des Menfchen. Mens 
ſchen⸗, Boͤlker⸗, Naturgefchichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren 
bie Quellen, aus denen er feinen Vortrag und Umgang belebtez nichts Wiflene: 
würdiges war ihm gleichgültig; Leine Kabale, Leine Secte, kein Bortheil, kein 
Ramenehrgeiz hatte je für ihn den mindeſten Reiz gegen die Erweiterung unb Auf: 
hellung ber Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum @elbfibenten ; 
Despotisnus war feinem Gemäthe fremd. Diefer Wann, ben ich mit groͤßter 
Dankbarkeit ımd Hochachtung nenne, if Immanuel Kant.‘ 








Bent und bie Kantiſche Phllofophie. 178 


Auch in Hinficht der Pünctlichkeit im Halten ber Vorlefangen war Kant 
mußterhaft, fo wie er fid) auch ber Studitenden auf das Baͤterlichſte an⸗ 
nahm (moräber namentlid, feine Biographie von Jachmann viele interefs 
fante Züge enthält). Nichts defto weniger mußte er 15 Jahre hindurch 
biofer Magifter oder Privatdocent bleiben, obgleich bereits .1756 nad 
feines Lehrers Kunzen Tode eine Ertraorbinars Profeffur derPhiloſophle 
und 1758 die Profefiur der Logik und Metaphyſik erledige ward, unb 
obgleich er durch König Friedrich II., dem er feine allgemeine Natur: 
geichichte ded Dimmeld gewidmet, einen wiederholten Ruf nah Halle 
erhalten hatte, den er jedoch aus Liebe zu feiner Vaterſtadt (mie [päter- 
bin den Ruf nad) Jena, Erlangen und Mitau) ausſchlug. Friedrich Il. 
Hatte hierauf dem Univerfitäts- Euratorium in Königsberg aufgegeben, 
bei der erften erledigten Profefiur der philofophifchen Facultaͤt Feinen 
Andern ald Kant in Vorfchlag zu bringen. Aber Kant nahm bie erfle 
ertebigte Profeffur nicht an, weit fie für die Poefie beſtimmt war, ber er 
nicht genugfam gewachfen zu fein glaubte. Endlich wurbe 1770 die ordent⸗ 
Siche Profeffur der Mathematik vacant, die er annahm, aber fofort gegen 
Die Profeſſur der Logik und Metaphyſik vertaufchte. — Am Jahr 1781 
enblich (alfo im 57. Jahre feines Lebens) machte Kant fein Hauptwerk 
bekannt, „die Kritik der reinen Vernunft‘, welches ſpaͤter eime fo 
große Revolution in dee Philofophie hervorbrachte und einen unberechen- 
baren Einfluß auf alle Willenfchaften und das Leben felbft gewann, 
Anfangs aber mit großer Gleichgültigkeit aufgenommen ward und faft 
ganz unbeadhtet blieb. Man fah es (mie Nehberg bemerkt *) nur als 
eine neue Erklaͤrung und Werarbeitung von Begriffen, Lehrfägen und 
Schluͤſſen au, dergleichen feit dem erften Anfange ber abſtracten Spe⸗ 
culation fo viele in mannigfaltigen Seftalten erfchienen find. Es ward 
neben Lambert's Anlage zur Architektonik geſtellt und hätte mit andern 
Erzeugnifien eines unfruchtbaren Tiefſinnes in der dunkeln Ruͤſtkammer 
ber Metaphyſik bleiben mögen, wenn ber Verfaffer nicht im Untillen 
über das Mißgefchid feines Werkes einen neuen Verſuch gemacht hätte, 
feinen Ideen mehr Eingang zu verfchaffen. Worzüglich war er durch 
eine Beurtheilung der Kritik der reinen Vernunft gereizt, die in den 
Böttingifchen gelehrten Anzeigen erfhien und zur Hälfte von Garve, 
zur Hälfte von Feder herruͤhrte, ſchlecht zufammengefügt und innerlid) 
wiberfprechend,, dabei in einem Zone angemaßter Ueberlegenheit abgefaßt 
war, der den Schriftſteller um fo mehr verlegen mußte, ba die ganze 
Beurtheilung auf Mißverftändniffen beruhte. Garve hat fi in der 
That nachmals feines Antheils gefhämt. Kant warb durch jene durch⸗ 
aus verfehlte Beurtheilung veranlaßt, die Hauptideen feines Syſtems 
herauszuheben und unter dem Titel: Prolegomena zu jeber 
Metaphyſik, die künftig als Wiffenfhaft wird auftreten 
wollten (1784) zu eridutern *). Diefes Mat flellte er fie wirklich in 


*) Bermifchte Schriften I, 13. 
22) Ironiſch fagte Kant in der Vorrede: „Dieſes lange Schweigen (in Dinficht 
der Kritik der reinen Vernunft) bemweif’t doch einen Auffchub des Urtheils und alfo 





178 Kant und die Kantiſche Philofophie. 


das hellſte Lichte. Die kuͤrzere und leichter verftändliche Darftellung ber 
Brundzüge einer neuen Philofophie fagte dem allgemeinen Sinne beffer 
zu und leitete die Aufmerkſamkeit auf die Keitit der reinen Vernunft, 
die Anfangs einem todtgeborenen Kinde unfruchtbärer Speculation aͤhn⸗ 
ih ſchien; nunmehr aber plöglic eine nicht geahnete Herrſchaft über 
die Köpfe der jüngern Welt erlangte. — Diefes ging von Jena aus, 
indem die daſelbſt feit 1785 (unter des Philologen. Schäg Redaction) 
erfcheinende allgemeine Literaturzeitung gleich Anfangs die hohe Bedeu: 
tung ber Kant chen Philofophie anerkannte, bereits im 4. Monateflüde 
ihres erſten Jahrgangs (in der Anzeige von Kant’d damals herausge: 
kommener Grundlegung zur Metaphufil der Sitten) eine bevorftehende 
Revolution der Philofophie durch diefelbe verfündigte *) und ihre Abficht 
erklaͤrte, nach und nach eine vollftändige Weberficht der Kant'ſchen Lehr: 
fäge und der durch fie im Reiche der Philofophie bewirkten Veraͤnde⸗ 
rungen mitzutheilen, welcher Plan auch in einer ſehr beftiedigenden 
Weiſe zue Ausführung gebracht wurde **). Den größten Einfluß in bie 
fee Hinſicht hatte ohne Zweifel K. L. Reinhold duch feine ihrer 
gefhmadvollen, blühenden Sprache, ihrer Lebhaftigkeit und Klarheit 
wegen hoͤchſt anziehende Darftellung der Hauptrefultate. der Kant’fchen 
Kritik der reinen Vernunft in feinen ‚Briefen über die Kantifche Phi: 
lofophie‘‘, welche in dem von Wieland herausgegebenen viel gelefenen 
deutſchen Merkur feit dem Augufiftüde des Jahres 1786 zum Vorfcheine 
Samen, fpäterhin (1790 und 1792) mit Erweiterungen und Zufägen ber: 
ausgegeben wurden, einen ungetheilten, von vielen Seiten. ber ſich aus⸗ 
fprechenden Beifall gewannen, in welhen Kant felbft öffentlich mit ein- 
flimmte, und welche ſich gemeinfchaftlid, mit den Bemühungen der allgemei: 
nen Literaturzeitung das ruͤhmliche Verbienft-erwarben, in die Theilnahme 
an bem neuen Lehrgebaͤude, welche bis dahin auf den Kleinen Kreis der 
Philoſophen von Profeffion ſich befhränkt Hatte, das ganze literarifche 


auch einige Vermuthung, daß in einem Werke, welches alle gewohnten Wege 
verläßt und einen neuen einfchlägt, in den man ſich nicht fofort finden kann, boch 
vielleicht etwas liegen möge, wodurch ein wichtiger, aber jetzt abgeftorbener Zweig 
menfchlicher Erfenntniß neued chen und Fruchtbarkeit befommen könne, mithin 
eine Bebutfamkeit, durch Fein übereiltes Urtheil den noch zarten Pfropfreiß ab- 
zubrechen und zu zerftören.’’!! 

*) Nr. 80 den 7. April 1785, woſelbſt e8 unter Anderem heißt: ‚Dit 
Kant’s Kritik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erfchienen, ift 
eine neue Epoche ber Philofophie angegangen. Wir wiflen fehr wohl, daß das 
viel gefagt ift, behalten uns aber vor, es bei einer anderen Gelegenheit zu bewei- 
fen. Roc) wird diefes tieffinnige Wert von ben beften Köpfen der Nation ſtudirt, 
noch iſt es als neu zu betrachten, bie Revolution, die es ftiften wird und fliften 
muß, ift nur erft im Anfange begriffen.” Vergl. Ernft Reinhold, allg. 
Geſchichte der Philoſophie. IH. &. 14. 

+) Vorzügliches Verdienſt kommt in diefer Hinficht ohne Zweifel dem Su: 
riften Hufeland au (dem wahrfcheintihen Berfaffer der eben angeführten Re⸗ 
cenfion), welcher ebenfalls fchon 1785 in feinem Verſuche über den Grundfag des 
Raturrechts (beſonders &. 226 ff.) auf bie Wichtigkeit ber Kantifchen Philofophie, 
und namentlich auch auf ihren praftifchen Einfluß aufmerffam gemacht hat. 





| Kant und die Kantifche Philoſophie. 178 


Publicum Deutfchlands hineinzuziehen und einer bis dahin noch nicht 
erhörten Einwirkung einer philofephifchen Theorie auf ihr Zeitalter dem 
Weg zu bahnen. Da noch diefes hinzukam, daß Reinhold, der bad nach 
der Belanntwerdung biefer Briefe als Profeffor der Philofophie nach Jena 
berufen worden war, und ber im Herbſte des Jahres 1787 feine Vor⸗ 
lefungen daſelbſt eröffnete, mit dem gluͤcklichſten Erfolge feine Zuhörer 
u dem Verfländniffe der Kantifchen Lehrbegriffe anleitete, da in kurzer 

it dorthin von allen Gegenden Deutfchlands, feibft aus dem entferns 
teften Puncten, ftudirende Jünglinge und zum Theil aud) Männer, - die 
ihre alademifchen Studien bereit vollendet hatten, firömten, um duch 
Reinhold in diefes Verſtaͤndniß eingeweiht zu werben: fo wurde bie 
Univerfität Iena der Hauptverbreitungsort der. Kantifhen Philoſophie, 
und behauptete in diefer Hinficht eine weit größere Bedeutung für 
Deutſchland, als Königsberg felbft )). In der That konnte nur im 
Jena eine Phitofophie, wie die Kantifche, deren Grundgedanke die Frei⸗ 
heit und Selbſtſtaͤndigkeit des Geiſtes im Forſchen und Handeln, die 
Emancipation der Wiflenfchaft fomohl aus dem blinden theologifchen 
Auctoritäteglauben, als auch aus den dogmatifhen Feſſeln der bloſen 
Schulſyſteme, und deren Haupttendenz die Erhebung ber hödhften prak⸗ 
tiſchen Intereſſen über die blos fpeculativen war — eine mahrhafte 
Entwidelung finden ; benn die hohe Megentenweisheit Karl Auguft’s, 
weiche die größten Geifter der Nation um fich zu verfammeln mußte, 
anerkannte und fchirmte die Geiftesfreiheit als das höchfte dußere 
But aller aͤchten Jünger der Wiſſenſchaft; mährend gerade damals in 
Preußen die Berfinfterungsperiode der Wöllnerinde begann; fo wie 
überhaupt in Jena der innige Zufammenhang ber Philofophie mit allen 
übrigen Wiffenfhaften und dem Leben felbft zuerft mit voller Klarheit 
erfannt und praktifc verwirklicht ward **). Die meitere Darftellung 
des in der Sefchichte der Literatur ohne Stage einzigen „Jenenſiſchen 
Denkproceſſes“ (durch Weinhold, Fichte, Schelling, Hegel, Fries) 
kann natürlich hier nicht gegeben werden ***), zumal da Kant felbft an 
demfelben nicht unmittelbar Theil nahm (mit Ausnahme feiner berühmt 
gewordenen Aeußerung über die Fichtifche Wiſſenſchaftslehre im Intels 
ligenzblatt der allgemeinen Literaturzeitung 1799, in welcher ex diefelbe 
als ein gänzlich verfehltes Werk erklärte; ein Urtheil, deffen Richtigkeit 
ſich fpäter bekanntlich vollfommen bewaͤhrt hat und indirect von Fichte 
feibft fpäter anerkannt wurde, indem er in der neueften Darftellung 
feines Spitems feinen früheren idealiftifchen Standpunct mit dem realis 
ftifhen vertaufchte). — Nady einer Reihenfolge Beinerer Schriften, die 
meiftens in der Berliner Monatsfchrift 1784 u. f. w. veröffentlicht 
wurden, gab Kant 1786 feine metaphyſiſchen Anfangsgruͤnde der Nas 


*) 8. Reinhold, allgemeine Gefchichte der Philofophie. II. &. 137 ff. 
*%) Scheibler, die Idee der Univ. und ihre Stellung zur Staatsgewalt. 

©. 249 ff. Vergl. Troxler, bie Gefammthochtheile der Schweiz. &. 167. 
=) Bergi. Hortlage a.a. O. S. 122. 





176 Kant und die Kantifhe Philofophie. - 


turwiſſenſchaft und im folgenden Jahre die Kritik ber praktiſchen Ver⸗ 
nunft heraus; in weicher er auf biefeibe Weiſe, wie in der Kritik der 
seinen Vernunft die Nichtigkeit ber bisherigen Metaphyſik, fo jetzt bie 
Nichtigkeit der bisherigen Woralphilofophie, die man nur auf bie 
Strundfäge der Gluͤckſeligkeit oder Vollkommenheit gegründet hatte, nach⸗ 
wies, und an ihrer Stelle ein vollſtaͤndiges Syſtem aus den erſten Grund⸗ 
“ begriffen mit imponirender Confequenz entwidelter und mit ruͤckſichts⸗ 
Lofer Strenge bucchgeführter Sittengebote feßte, wodurch er freitich nicht 
“ weniger gegen die hergebrachten Anfichten anftieß, aber doch ebenfalls einen 
geoßen Einfluß auf die gefammte Denkart ber Ration ausübte. Den bei: 
den genannten Kritiken fügte er fpäter (1790) noch die „ber Urtheilskraft 
binzu und legte nad) feiner Anficht durch dieſe Werke das Fundament 
zu einem neuen Lehrgebäube der gefammten Philofophie, deſſen einzelne 
Faͤcher zum Theil noch von ihm felbft bearbeitet worden find*). In 
Hinficht feines aͤußeren Lebens iſt nur noch zu bemerken, daß es ruhig 
und ungeftdrt verfloß, und ihm im In⸗ und Auslande bie allgemeinfte 
gebührende Anerkennung zu Shell ward, mit einziger Ausnahme einer 
Differenz mit der preußifchen damaligen Regierung, wegen feiner „Re: 
ligion innerhalb der Grenzen ber blofen Vernunft‘, in Hinficht welcher 
Kant's Wirkfamleit als öffentlicher Lehrer der Philofophie verdächtigt 
wurde. Unter dem Wöllnerfhen Dinifterium erfolgte (unter'm 1. Octo⸗ 
ber 1794) eine Eönigliche Cabinetsordre, weiche Kant wegen jener Schrift 
zur Rechenſchaft zog und ihm verbot, fi) auf dem Katheber oder in 
Schriften über die Religion fernerhin auszulaſſen. Damals erfuhr man 
nichts weiter von dieſer Sache, bis Kant felbit in der Vorrede zu dem 
„Streit der Facultaͤten“ die Cabinetsordre und feine Verantwortung 
veröffentlichte. In legterer erklärte er, daß ex dem Königlichen Gebote 
gehorfam fein und ſich fernerhin aller Öffentlichen Vorträge, die Reli: 
ion betreffend, es fei die natürliche, oder die geoffenbarte, ſowohl in 
orlefungen, als in Schriften als Seiner Löniglihen Majeſtaͤt 
getreuefier Unterthan gänzlich enthalten werde; — ein Ausbrud, 
den er, wie er felbft fagt, vorfichtig wählte, bamit er nicht der Frei: 
heit feine® Urtheils in diefem Religionsprocefie auf immer, fondern 
nur fo lange Seine Majeftät am Leben wäre, entſagte. (Man bat 
diefes als eine fogenannte reservatio mentalis fehr anftögig und mit 
Kant’s fonftigem moraliſchen Rigorismus ganz in Widerftreit gefunden, 
aber dabei offenbar nicht bedacht, daß kein Regent in der Welt das 
Recht hat (wenn auch die Macht!), einem Schriftfleller kuͤnftige, 
no gar nicht vorhandene Werke zu verbietm, und dag Kant bierbei 
in gerechter Nothwehr ein angeborenes, unverdußerliches Menſchenrecht 
gegen den Machtſpruch eines abfolutiftifchen Gewalthabers vertheidigte, 


*) Die Religion innerhalb der Grenzen der blofen Vernunft. Königsberg, 
1798 verm. Aufl. 1794); metaphyſiſche Anfangsgründe der Tugendlehre. 
König ‚ 1797; metaphyſiſche Anfangsgründe ber Fechtslehre. Bar er 
1799; Anthropologie in pragmatiſcher Dinfiht. Koͤnigoberg, 1798. — die: 
fem Jahre erfchien auch Kant’6 lente Schrift: ber Streit ber ten. 


Lant und die Kantifche Philoſophie - 17% 


> gegen welchen, als ſolchen, er nur bie Klugheits⸗ und Rechtspflicht bes 
äußerlihen Gehorfams hatte, die, wie alle Rechtspflichten, ..nach 
dem DBernunftrechte nicht über die Grenze bed Lebens hinausgeht.) In 
den letzten Jahren feines Lebens, deſſen lange Dauer er freilich felber 
feinem urfprünglic, ſchwaͤchlichen Körper durch unausgefegte Aufmerffams 
Eeit und Sorge abgeswungen hatte, nahmen feine. Geiftesträfte nach 
und nad) fo bedeutend ab, daß er in der letzten Zeit völlig geiftes- 
ſchwach oder kindiſch ward. Am 12. Februar 1804 befreite ſich endlich 
diefer große Geiſt von den irdiſchen Banden und verließ bie Sinnen-. 
melt in Zeit und. Raum, deren Nichtigkeit in Vergleich mit dem wah⸗ 
ren, ewigen Wefen der Dinge er fo deutlich erfannt und gelehrt hatte. 
Ueber die fittliche Größe feines Charakters, feine große Kraft der Selbſt⸗ 
beherrſchung, feine firenge Rechtlichkeit, ungeheuchelte Frömmigkeit, fo 
wie über feine Zapferkeit im Forſchen, feinen ‚regen Antheil an allen 
großen Intereffen, namentlic des politifchen Lebens, ift nur Eine 
Stimme, und er verdient gewiß den ihn ſchon bei feinen Lebzeiten bei⸗ 
gelegten Namen des. Königsberger Weifen. 
Mir glauben diefe kurze biographiſche Schilderung Kant's nicht 
beſſer fchließen zu innen, als mit einer allgemeinen Charakteriftit 
Kants und feines Wirkens aus ber Feder eines Mannes, der als units 
verfellfter Gelehrter, namentlich Sprachforſcher, und als Selbſtdenker 
einen eben fo großen Ruhm ſich erworben hat, wie als Staatsmann, 
nämlich With. v. Humboldt's, ‚der in der Einleitung feines „Brief⸗ 
wechfels mit Schiller” (S.43) folgendermaßen ſich ausdrüdt: „Kant 
unternahm und vollbrachte das größte Werk, das vielleicht je die philo⸗ 
fophirende Vernunft einem einzelnen Manne zu banken gehabt hat. 
Er prüfte und fichtete das ganze philofophifche Verfahren auf einem 
Wege, auf dem er nothwendig den Philofophen aller Zeiten und aller 
Nationen begegnen mußte; er maß, begrenzte und: ebnete den Boden 
deffelben , zerflörte Die darauf angelegten Zruggebäube und ftellte nach 
Vollendung diefer Arbeit Grundlagen feſt, in welchen die philofophifcye 
Analyſe mit dem durch die früheren Spiteme irre geleiteten und übere 
täubten natürlichen Menfchenfinn zuſammentraf. Er führte im wahr⸗ 
ften Sinne des Worts die Philofophie in bie Tiefen des menſchlichen 
Bufens zurüd. Alles, was den großen Denker bezeichnet, befaß er in, 
vollendetem Mafe und vereinigte in fih, mas ſich fonft zu widerſtre⸗ 
ben ſcheint, Tiefe und Schärfe, eine vielleicht nie übertroffene Dias 
lektik, an die doch der Sinn nicht verloren ging, auch die Wahr: 
heit zu faffen, die auf diefem Wege nicht erreichbar ift, und das phis 
tofophifche Genie, welches die Fäden eines weitläufigen Ideengewebes 
nach allen Richtungen hin ausfpinnt und alle vermittelft der Einheit 
der Idee zufammenhält, ohne welches Eein philoſophiſches Syſtem moͤg⸗ 
lich fein würde. Bon den Spuren , bie man in feinen Schriften von 
feinem Gefühle und feinem Herzen antrifft, hat fhon Schiller richtig 
bemerkt, baß der hohe philofophifche Beruf beide Eigenfhaften (des 
Denkens und bes Empfindens) verbunden fordert. Verlaͤßt man ihn 
Staats = Leriton. IX. 12 


178 - Auut und die Kantiſche Philofophie:- 


aber auf der Bahn, wo fi fein Geift nad Einer Richtung hin zeigt, 
fo lernt man das Außerordentliche des Genies diefes Mannes auch an 
feinem Umfange kennen. Nichts, weder in der Natur, noch im Ge⸗ 
biete des Willens läßt ihn gleichgültig, Alles zieht er in feinen Kreis; 
aber da das felbfithätige Princip in feiner Individualitaͤt ſichtbar bie 
Oberhand behanptet, fo leuchtet feine Eigenthuͤmlichkeit am Strahlend⸗ 
fien da hervor, wo, wie in den Anfichten über den Ban des geflicnten 
Himmels, der Stoff, in fih erhabner Natur, der Einbildungstraft 
unter ber Leitung einer großen Idee ein weites Feld darbietet. Denn 
Größe und Macht der Phantafie ftehen in Kant der Tiefe und Schärfe 
des Denkens unmittelbar zur Seite. -. Ein großer Mann tft in jeder 
Sattung und in jebem Zeitalter eine Erfcheinung, von der ſich mei: 
ftencheil® gar nicht und Immer nur fehr unvolllommen Rechenfchaft 
‚ablegen (dit. Wer mödıte es wohl unternehmen, zu erfldten, wie 
Soethe ploͤtzlich daſtand, der Fülle und Tiefe des Genies nach, gleich 
groß in feinen früheften, wie in feinen fpäteren Werken! und doch 
ründete er eine neue Epoche der Poefie unter uns, ſchuf die Poeſie 
Überhaupt zu einer neuen Seftalt um, drüdkte der Sprache feine Form 
auf, und gab dem Geifte feiner Nation für alle Folge entfcheidende 
Smpulfe. Das Genie, immer new und die Regel angebend, thut fein 
Entftehen erft durch fein Dafein Bund, und fein Grund fann nidt 
in emem Fruͤheren, ſchon Bekannten gefucht werden; mie es erfcheint, 
ertheilt es fich felbft feine Richtung. Aus dem dürftigen Zuftande, In wel: 
hem Kant die Philofophie eklektiſch herumirrend vor ſich fand, vermochte 
er Beinen antegenden Funken zu ziehen. Auch möchte es ſchwer fein, 
zu fagen, ob er mehr den alten oder ben fpäteren Philoſophen ver: 
dankte. Ex felbft, mit diefer Schärfe der Kritik, die feine hervorſte⸗ 
chendſte Seite ausmacht, war fihtbar dem Geiſte der neueren Zeit nd« 
her verwandt. Auch war es ein charakteriftifher Zug in ihm, mit 
allen Kortfchritten feines Jahrhunderts fortzugeben, jelbft an allen Be⸗ 
gegniffen des Tages den lebendigften Antheil zu nehmen. Indem er 
mehr, als irgend Einer vor ihm, die Philofophie in den Tiefen der 
menfchlihen Bruſt ifolirte, hat wohl Niemand zugleich fie in fo man- 
nigfaltige und fruchtbare Anwendung gebracht. Diefe in alle feine 
Schriften reichlich verftreuten Stellen geben ihnen einen ganz eigens 
thuͤmlichen Reiz ).“ -— 
„Wie viel oder wenig ſich von der Kantiſchen Philoſophie bis heute 


- — — - 


*) Wir erinnern hierbei an das Lreffende Wort Klinger s (Werke Bd. XII. 
S. 208): „Wären die Deutichen fo gerecht gegen ihre großen Männer, als fie es 
gegen die großen Männer anderer Kationen find, fo würde man fchon Längft ges 
jagt und in Schriften erwiefen haben, dag kin Philoſoph der alten und neuen Zeit 
erhabenere Gedanken Aber den Menfchen , feine wahre Würde, die Welt und Gott 
gedacht, in der einfachſten, anfpruchtofeften Sprache auögchrädt hat, als Kant; 
und in ſoicher Anzahl), daß man erflaunen würde, wenn man fie in einem Aus: 
zuge zulammenläfe. Wan fpricht aber in Deutfchland noch immer lieber von den 
erhabenen poetifchen Gedanken Plato's, bie doch mehr durch Afthetitche Kunft: 





Kit und die Kantiſche Philoſophie 199 


erhalten Hat und kuͤnftig erhalten wird, maße ich mir nicht an zu 
entſcheiden; allein breierlei bleibt, menn man den Ruhm, den Kant 
feiner Nation, den Nugen, den er dem fpeculativen Denken verliehen 
hat, beflimmen will, unverkennbar gewiß. Einiges, was er zertruͤm⸗ 
mert bat, wird fich nie wieder erheben; Einiges, was er begründet 
bat, wird nie mieder untergehen; und was bas MWichtigfte ift, fo bat 
er eine Reform geftiftet, mie bie gefammte Gefchichte der Philoſophie 
wenige ähnliche aufmweift. So wurde bie bei dem Erfcheinen feiner 
Kritik der reinen Vernunft unter uns kaum noch ſchwache Kunde 
von ſich gebende fpeculative Philoſophie von ihm zu einer Regſamkeit 
eweckt, die den deutfhen Geiſt hoffentlich noch lange beleben wich. 
a er nicht ſowohl Philofophie, als zu philofophiren lehrte, meniger 
Gefundenes mittheilte, ale die Tadel des eigenen Suchens anzündete, 
fo veranlaßte er mittelbar mehr ober weniger von Ihm abweichende Sp: 
fteme und Schulen, und es charakteriſirt die hohe Freiheit feines Gets 
ſtes, daß er Philofophien, wieder in volltommener Freiheit und auf ſelbſt 
gefchaffenen Wegen für fi, fortwirkend, zu wecken vermochte. 

MH. Kant's Phitofophie. Es ift natürlich hier. nicht der Det, 
in eine ausführliche Darftellung und Prüfung des Kant'ſchen Syſtems 
einzugehen , fondern es koͤnnen hier nur deffen Grundzüge entwidelt 
werden, fo weit diefes nöthig ift, um die große, nicht blos volksthuͤm⸗ 
che, d. h. auf Deutfchland unmittelbar ſich beziehenbe, Tondern auch 
welthiftorifche Bedeutung defjelben zu verftehen *). 

Das Eigenthümliche der Kantiſchen Phitofophie befteht vornehmlich m 
folgenden drei Puncten : zunaͤchſt in formeller Hinficht in dem fogenannten 
Kriticiemus oder der Eritifhen Methode des Philofophirens, 
fodann in Hinficht des Gegenftandes oder Nefultates in dem Spftem 
des fogenammten transcendentalen Idealismus, und endlich 
in dem fogenannten Primat der praftifhen Vernunft und 
Philoſophie vor der theoretifhen. Um biefes Alles deutlich 
einzufehen, muß man nothiwendig auf das Wefen und die Probleme 
der Philofophie überhaupt, fo wie auf die gefchichtlich gegebenen Verfuche 
und Methoden ihrer Löfung zurüdgehen. In Hinficht des erften Punes 
te6 muß der Begriff der Philofophie natürlih nicht von dem Stand» 
puncte eines einzelnen Syſtems, fondern vom welthiftorifhen Ges 


— —z — — — 


griffe hervorgebracht find, als durch die hohe Kraft des Verſtandes, welche ben Kb⸗ 
nigsberger Weifen nicht allein bezeichnet, ſondern vor allen ſpeculativen Philoſophen 
alter und neuer Zeit auszeichnet.” 

*) Die Literatur ber Kantifchen Philofophie findet fih in Wachler's Hob. 
» Geſch. d. Lit. 1824.1V. ©. 168. Krug’s phil. Wörterb. sub „Kant; am 
Vollftändigften in Kiefewetter’d Darft. d. wichtigfl. Wahrh. db. Erit. Phi⸗ 
loſ. Berlin, 1824. Won neuern Schriften find zu vergleihen: Fichte (d. I.) 
Beiträge zur Charakteriftit d. Philof. 1829. &. 108 ff. Beyeke, Kant und 
d. philof. Aufgabe unfrer Zeit. 1832, W. Menzel, deutfche Literatur Bd. 1. 
S. 157. Stahl, Rechtsphiloſophie Th. J. S. 124. Rehberg, Verm. Schrifs 
ten. I. S. 14. 62 ff. Shalybäus, hiſtor. Entwickelung der fpeculativ.Philof. 
von Kant bis Hegel 1837 8.19 ff. Roſenkranz, Geld. d. .. Phil. 1840, 


⸗ 
4 





180 Kant und bie Kontifche Philoſophie. 


ſichtspuncte, d. h. ſie ſelber muß als Thatſache der Geſchichte auf: 
gefaßt, mithin nachgewieſen werden, was der Menſchengeiſt eigentlich, 
Indem er die Philoſophie hervorbrachte, wollte? Auf dieſe Weiſe wuͤrde 

man ſelbſt in dem Falle, daß die wahre Philoſophie noch gar nicht 
aufgefunden oder aufgeſtellt ſei, doch ihren wahren oder richtigen Be⸗ 
griff faſſen koͤnnen (oder genauer: ihre Idee); daher auch uͤber dieſe 
weſentlichen Probleme der Philoſophie ſo ziemlich alle Philoſophen ei⸗ 
nig ſind, ſo verſchiedene Wege ſie auch zu ihrer Loͤſung eingeſchlagen 
haben. Alles Philoſophiren überhaupt beſteht nun in einem ſelbſtſtaͤn⸗ 
bigen, von fremder Auctoritäe unabhängigen Nachdenken über die 
legten Gründe, Gefege und Zwecke im Sein ber Dinge 
überhaupt und des Menfcheniebens insbefondere, und Philofophie ihrer 
Idee nad) iſt nichts Anderes, als die Wiſſenſchaft von dem Räthfel 
der Welt und der Beſtimmung des Menfhen. As Wiffenfchaft kommt 
fie natürlich nur bei den Völkern vor, die ſich zur eigentlichen wiſſen⸗ 
(haftlihen Gultur erhoben haben, mithin fi nicht mehr damit be: 
gnügen, etwa In Bilderfpielen und Mythen jenes Raͤthſel der Dinge und 
des Lebens ſich zu deuten, fondern die denkend im beflimmten Ur- 
theilen und Schlüffen daffelbe zu ergründen ſtreben. Da ferner nicht 
blos Wiffen und Denken überhaupt, fondern Selbſtdenken weſent⸗ 
ich zum Philofophiren gehört, fo kann Philofophie fi nur da fin- 
den und entwideln, wo ber Geift der Forſchung fidy unabhängig von 
den pofitiven Religionen und deren bogmatifchen oder theologifchen Aus: 
fprüchen über jenes Raͤthſel fich emancipiet hat. Aus diefen Gründen 
datirt alle Philofophte vonden Griechen, indem bei diefen zuerft, im 
Gegenfas gegen bie mythologifhen Kosmogonieen und Theogonieen der 
Dichter und gegen die myſterioͤſe Priefterweisheit, wiffenfhaftlidye 
Syſteme von einer Reihenfolge von Selbfidentern aufgeftellt wurs 
den, was außer der glüdlichen geiftigen Organifation diefes Volkes bes 
onders in feiner freien republicanifhen Staatsverfaffiung und dem 

ichtvorhandenfein einer eigentlichen Prieflerkafte feinen Grund hatte*) 
während der allerdings früher gebildete, aber despotifch und theokratiſch 
regierte Orient nie über die Bilderfpiele der Mythologie und den blin⸗ 
den Glauben an die pofitiven' Priefterfagungen binauslam”**’) Es 
kann hier nicht näher erörtert, aber wohl als bekannt vorausgefegt wer- 
den, daß die Griechen in dem kurzen Zeitraume von etwa zwei Jahrhun⸗ 
derten (von Thales bis Arifloteles) in ihrer Philofophie eine fo große 
Melt der Gedanken erfchufen, daß an ihr, um fie in ihrem vollen 
Reichthume zu erfaffen und ſich anzueignen, die civilifirte Menfchheit 
ſich ſeitdem über zwei Jahrtauſende abgearbeitet hat ***). „Ohne in 
das Einzelne hier eingehen zu koͤnnen, nennen wir nur die drei Na: 


© 1. Sr Schlegel, Vorlefungen über die Geſch. d. Liter. I, (Werke 1822. 1. 
++) Seeren, Ideen Ab. d. Politik. Th. II. Scheidler, Idee ber 
univ. &. 138. Yol. ©. 180. 

er) Garone, Kosmorama ©. 182, 


l 


J 


Kant und die Kantiſche Philoſophie. 181 


men, an welche ſich die ganze und hoͤchſte Bedeutung aller Philoſophie 


knuͤpfen laͤßt: Sokrates, Platon und Ariſtoteles; wir werden 
jedoch die Nachweiſung, warum der Erſtgenannte Epoche gemacht hat, an 
einem andern Orte geben, und bemerken hier nur noch, daß Platon und 
Ariftoteles nicht nur den vollftändigen Umfang der griehifchen 
höhern Bildung bezeichnen *), fonbern das ganze Gebiet des menſch⸗ 
lichen Wiffens und Denkens gewiffermaßen erſchoͤpft und den größten 
Einfluß auf die Nachwelt gehabt haben. Insbefondere in Bezug auf 
die (wie bald näher gezeigt werden wird) Präjudicialz oder Cardinal⸗ 
frage aller Metaphyſik, nämlich die nad) dem Urfprung unferer Er⸗ 
kenntniß, find die genannten zwei großen Geifter vorzugsmeife die Res 
präfentanten der zweifachen Grundrichtung alles Philofophirens, die fich 
duch die ganze Gefchichte der Philofophie hindurchzieht und ale der 
Kampf bes Rationalidmus und Empirismus bezeichnet zu werben pflegt. 
Diefer Kampf liegt gewiſſermaßen in bem Weſen der Erkenntniß 
felbft gegründet, in fo fern er im letzter Inſtanz auf der zmeifachen 
Art unfers Abſtractions⸗ und Reflexionsvermoͤgens beruht, welches ent- 
weder von dem Allgemeinen, der Einheit, wie diefelbe in der Vernunft, 
als dem hoͤhern Erkenntnißvermögen, unmittelbar aufgefaßt wird, ober 
von dem Befondern, dem Mannigfaltigen der Sinneswahrnehmung oder 
Erfahrung ausgeht, und‘ entweder in dem Einen oder dem Andern da® 
wahre Weſen der Dinge zu finden meint. Schon in ber älteften 
griechifchen Phitofophie traten diefe beiden Grundrichtungen des philo> 
foppifchen Denkens aus einander, indem die ionifche Schule dem Em⸗ 
pirismus, die eleatifche und puthagoreifche dagegen dem Rationaliemus 
huldigte; noch entfchiebener aber in Platon und Ariftoteles, von de: 
nen der Erftere die Erkenntniß des wahren Seins allein aus ben reis 
nen angeborenen Ideen der Vernunft ableitete, fo wie dieſe legteren ſelbſt 
aus einem früheren Dafein ober göttlichen Leben, der Legtere dagegen 
dieſe höhere Einſicht durdy die reine Fgrm der allgemeinen Begriffe bes 
ſtritt, die Erkenntniß des Allgemeinen erft durch Induction und Abs 
ſtraction aus dem Beſonderen ableitete und allen Gehalt der Erkennt⸗ 
niß blos in der Erfahrung fand. So wurden Platon und Ariſtoteles 
für die folgende Zeit die beiden Anfangspuncte, von denen die fpäteren 
Spiteme bis auf die neuere Zeit in die getrennten Richtungen des Ra⸗ 
tionalismus und Empirismus aus einander liefen. Nachdem Anfangs 
der Platoniſche Rationalismus in der idealsteligiöfen Nichtung der 
neuplatonifhen Schule, unterflügt durch den hoͤhern religioͤſen Geift 
des chriſtlichen Dogmatismus, eine Zeitlang geberrfcht hatte, bemaͤch⸗ 
tigte ſich allmaͤlig der Ariftotelifche Empiriemus der Oberherrfchaft, bie 
in der Scholaftit des Mittelalters der Ariftotglismus felbft in einen 
leeren logiſchen Rationalismus ausartete. Baco von Verulam flürzte 
diefe Ariftotelifhe Scholaftit, indem er die Naturwiſſenſchaften durch 
den Grundfas der Induction reformirte, und wurde fo Gründer des 


*) Schlegel, a. a. D. ©. 82. WBgl. ©. 140. 


N 





182 Kant und die Kantifche Philofophke. 


neuern Empirismus, der in England, vornehmlih buch Locke, auf 
bie neuere Philofophie angewendet wurde, mwährend Descartes die 
Platoniſche Lehre von den angeborenen Ideen fefthielt, fein Syflem aus 
blofen Bernunftbegriffen entwidelte und fo der Anfangspunct bes 
neuen Rationalismus wurde, der hauptfädhlic in Spinoza, Ma: 
lebranche und Leibnig zur Ausbildung kam. Befonders feit Locke, 
ber auf dem Ariftotelifhen Standpuncte blieb, war entſchiedener 
als je vorher die bebeutende Frage in Anregung gekommen, welche ale 
dorbereitenbe Unterfuchung aller wiſſenſchaftlichen Philofophie allerdings 
vorerft entfchieben werden mußte: weldye® überhaupt ber Urfprung Ders 


jenigen Erkenntniffe fei, die vom Bewußtſein der Allgemeinheit und 


Nothwendigkeit begleitet werden? — Sind fie nur empitifhen Ur⸗ 
ſprungs, fo iſt auch Philofophie nicht eine eigenthümliche, vom ges 
wöhnlicyen Eriennen gefchiedene Wiffenfchaft — deren es dann überhaupt 
feine gibt; es wäre überall nur ein Quell, wie ein Element des Er- 
kennens, die Erfahrung; und das Wiffen, indem es ſchlechthin 
nur am Gegebenen haftet, wäre nur durch Stoff und Inhalt zu un⸗ 
terfcheiden, keineswegs durch feine Korm innerlich ſich entgegenzufegen; 
endlidy bliebe jede Bemuͤhung vergeblih, in ein Jenſeits für bie 
Erfahrung — denke man diefes, in welhem Sinne man wolle — 
überhaupt in ein dem unmittelbaren Bewußtſein fih Werbergen: 
des eins und hinuͤberzudringen*?). In der That läßt fic Leicht 
zeigen, daß es fidh bei der Frage nach dem Urfprung unferer Er: 
kenntniſſe um die Möglichkeit aller Philofophie überhaupt handelt, 
daß dieſe einzige Frage es ift, auf deren Löfung die Gewißheit aller 
Erkenntniffe beruht, deren Behandlung alfo den Inhalt aller eigentli- 
hen Philofophie ausmacht *). Sobald die Wahrheit aller unfrer 
Ueberzeugung zulegt auf finnlichen Einbräden, alfo auf aͤußerlicher Er⸗ 
fahrung beruht, wie das Syſtem des Empirismus behauptet, fo gibt 
es gar kein unumſtoͤßlich gewiſſes Wiſſen, gar Feine unerfchütterliche 
Zuverlaͤſſigkeit, keinen Punct im ganzen Umkreiſe unſers Bewußtſeins, 
der bleibend und feſt waͤre, ſondern Alles ginge ohne Ordnung und 
Geſetz in der bunten Reihe der Vorſtellungen, als ein zweckloſes Gau⸗ 
kelſpiel, an uns und in uns voruͤber. Wir koͤnnten mit jener Lehre 
nicht einmal Ordnung im Zuſammenhang in der wirklichen Welt mit 
Sicherheit vorausſetzen, geſchweige uns mit Zuverſicht zu dem Ueber⸗ 
ſinnlichen, zu den Ideen von Gott, Freiheit, Unſterblichkeit erheben, da 
dieſe Ideen gar nicht auf ſinnlichen Eindruͤcken beruhen, mithin nur 
als eine Fiction des dichtenden Verſtandes ohne alle aͤußere Berechti⸗ 
gung erſcheinen wuͤrden **). — 


”) Fichte, Beiträge z. Charakt. d. n. Philoſ. 1828. 

**) Shalybäus, hiſtor. Entwickel. S. 15. 

wer) GChalybaͤus a. a. O. S. 16. „Mannichfaltige Kenntniffe, Vorſtel⸗ 
lungen, been haben wir, das iſt factiſch; aber entſpricht dieſen Vorſtellungen 
auch etwas in der Wirklichkeit * Und wenn ihnen etwas entfpricht, ift es auch 
gerade fo befchaffen, wie biefe Worftellungen befagen? Won vielen, ia ben mei⸗ 





.. Kant und bie Kantiſche Philefoppie. 483 


Diefe Frage nah dem Urfprunge unferer Erkenntniſſe 
ift alfo die Grundfrage, von welcher alle Metaphyſik ausgehen muß, 
und welche baber die fämmtlichen neuern Philofophen vorzugsweife 
befchäftigt Hat. ode hatte die buch Descartes wieder aufges 
ſtellte Platonifche Lehre von den angeborenen Jdeen beitritten und 
verworfen, die menſchliche Seele für eine tabula rasa erklaͤrt, die erſt 
von der Erfahrung befchrieben werden müffe, und beflimmt bie Säge 
ausgefprodhen: alle unfere Vorflelungen ſtammen von den Gegenftän- 
den; aus den Vorſtellungen macht der Veritand feine allgemeinen Bes 
griffe, aus allgemeinen Begriffen werden Urtheile, Schlüffe, wird bie 
ganze Logik, wird zuleht das ganze Spftem unfers Denkens und 
Glaubens zufammengefest; das ganze Syſtem beruht alfo zufegt und 
im Ziefften auf der Mahrheit ber finnlihen Eindbrüde; laͤßt 
fi eine Annahme zulegt nicht auf einen folhen Eindruck zurüdfüh- 
ten, fo ift die Annahme felbft und Alles, was daraus folgen fol, eine 
Fiction. Daß 3. B. ein allgemeiner Zuſammenhang unter ben Din- 
gen und Vorgängen in der Welt, daß mithin eine allgemeine Verket⸗ 
tung von Urfahe und Wirkung Statt findet, miffen wir blos deswe⸗ 
gen, weil wir diefen Zuſammenhang in ber Wirklichkeit aufzeigen 
Eönnen und oft genug felbft erfahren. 

Leibnig trat, der Platonifchen Anficht folgend, Lode’n ſofort 
entgegen, indem er in feinen „neuen Unterfuhungen über ben menſchli⸗ 
hen Verſtand“ die Lodifhe Theorie Schritt für Schritt prüfte und wider⸗ 
legte, und gleich zu Anfang nachwies, daß die allgemeinen und nothwen⸗ 
bigen Wahrheiten nicht als ſol che (actuellement) da find und fi) uns 
darftellen , fondern nur der Anlage nad) (virtuellement) dem Bewußt⸗ 
fein gegenwärtig find, und fih nur im Einzelnen darftellen und darin, 


—— u EEE 


ften ſinnlichen Vorſtellungen lehrt ja fchon ein geringes Nachdenken, daß ihnen 
- die Wirklichkeit gar nicht fo entfpredhen kann, wie wir gemeinhin annehmen ; 
. B. die Karben, welche durch die Brechung des Lichte, die Töne, welche 
dur die Schwingungen der Luft erzeugt werben, Tonnen fie wohl außer uns 
auch als Karben und Toͤne exiſtiren, oder find fie diefes blos in unferm Auge 
and Ohr? Und nody mehr, die Süßigkeit und Saͤure, die Wärme und Kälte, 
die wir empfinden, find fie nicht offenbar blos fubjective Zuflände von uns 
fetoft? Exiftirt etwa bie Suͤßigkeit anderswo als auf unfrer Zunge, in unferm 
Schmeden, unb das Zrieren, ift e8 nicht offenbar ein Leiden, ein Verhalten 
unfer3 Körpers? Freilich mögen biefe Affectionen von irgend etwas Beſonde⸗ 
rem in der Ratur herruͤhten; aber das, was wir dabei an und in uns wahr: 
nehmen, ift nur unfer Verhalten zu jenen Rarurkräften‘, und was diefe Ras 
turbefchaffenheiten an fich, d. h. außer unferer Empfindung , find, das bleibt 
ung vor der Hand nody völlig unbekannt. Die Frage ift alfo immer die: wo⸗ 
ber fommen alle unfre Xorftelungen? Welches iſt ihr wahrer Urfprung? Wers 
ben fie in uns und von der Serie felbft nur etwa auf gewifle äußere Veran- 
laffungen erzeugt, ober ftammen fie — wenigftens zum Theil — wirklich fo 
von ten Geaenfänben her, daß wir an ihnen ein treffendes, volllommen ents 
fprechendes , d. i. wahres Ebenbild haben, ober nicht? Und geſetzt, eö wäre fo 
wie fommen wir dahinter, wie tönnen wir zu der KBemwißhrit gelangen, ba 


es. wirflich fo ift? Wo liegt die Würgfchaft bafür ?” 





.\ S . 


184 „Künt und bie Kantifche Philoſophie. 


wiewohl ohne deutliches Bewußtſein, unendlich angewendet werden. 
Eben deshalb koͤnnen fie nicht durch Induction hergeleitet werben aus 
dem Bewußtſein dieſes Einzelnen ; denn Induction vermag überhaupt 
nur Erfahrung zu erzeugen, Die nie aufhört, weiterer Berichtigung 
zu bedürfen, nicht aber ein fehlechthin in fich abgefchloffenes Bewußtſein 
abſoluter Allgemeinheit und Nothwendigkeit hervorzubringen. Alſo 
nur entwickelt, aus ihrer empiriſchen Umhuͤllung und Verflechtung zu 
deutlichem Bewußtſein gebracht koͤnnen die allgemeinen Wahrheiten 
werden; ihr Erkennen iſt ein rein aprioriſches, ſchoͤpfend aus dem 
Innern des Geiſtes, der das Maß und die Nothwendigkeit der Dinge 
in ſich ſelber traͤgt. Daher nach ihm die wiſſenſchaftlichen Definitionen 
- nur die zum Bewußtſein gebrachten urſpruͤnglichen Ideen der Dinge ſelbſt 
find. Auch Ieugnete Leibnig beftimmt, daß die Seele von Außendingen 
afficiet werde; denn die Seele fei Subftanz, lebendige Wirklichkeit, Ein: 
heit pofitiver Kräfte (monss), und mithin, wie alles wirkliche, ferbfttrdf: 
tige Dafein, fchlechthin in fich befchloffen und unangteifbar oder unberuͤhr⸗ 
bar durch Anderes. Daher er denn auch den gewöhnlichen Gedanken einer 

gegenfeitigen unmittelbaren Einwirkung von Geift und Körper ale eine 
rohe, unphilofophifche Vorftelung verwirft und durch feine Hypotheſen 
der präftabilirten Harmonte zu erfegen fuhht *). — Allein fo richtig biefe 
Leibnigifche Widerlegung Locke's (die übrigens erft 30 Fahre nad) dem Zode 
Leibnigens (1765) veröffentlicht ward **) auch an fich war, fo beging Leib⸗ 
nitz doch bei ber Entwickelung feiner Lehre ben Fehler, dag er feinem Sy» 
ſtem lauter identifche Säge als Grundſaͤtze an die Spige ftellte +), ſowie 
auch er und befonders Wolf, der Leibnitzens Lehre in ein ſchulgerechtes 
Spftem brachte, dem vationaliftifhen Vorurtheil huldigte, durch logifche 
Bemweife alle Wahrheit und Sicherheit in der Philofophie zu begründen. 
Man hat diefed Vorurtheil das der „mathematifchen Methode” genannt, 
eigentlich aber ift es nichts als bie allgemein logiſch⸗ dogmatiſche Me: 
thobe, d. h. das Berfahren, alle Begriffe einer Wiffenfchaft in Defini- 
tionen zu ſchlagen, daraus Ariome zu bilden und aus diefen Beweiſe 
zu führen. Indem man fo nad) und nad) Alles und Jedes dem Bes 
weiſe unterwarf, fo hing am Ende das ganze Syſtem menſchlicher Weis: 
heit nur an dem einzigen Ring logifcher Identität,’ des MWiderfpruches 
und zureihenden Grundes; denn es war hier der denkende Verſtand ganz 
ſich ſelbſt überlaffen, und der legte Grund, auf den es ſich flügen konnte, 
waren nur bie Regeln feines Denkens felbft * ). Darum blieb auch diefer 
Lehre David Hume’s Skepticismus überlegen; denn aus ibentifchen 
Sägen folgt nur, was ſchon in fie hineingelegt ift, und aus Beweiſen, 
was in ihren Prämiffen liegt. 


w) Fichte, Beiträge &. 41. 
IK. 2. Reinhold's Beiträge u. f. w. 1802. I. &, 53 
3 —8 — Don Kant in d. Krit. der B. (8. d. Amphibolie 
der Reflexionsbegriffe S. 235. 
+4) Zries, Kritik der "Bernunft I. &. 12. Deſſen pol. Schrift. I. 888. 


Kant! und die Rantifche Philoſophie. 185 


Locke's zulest erwähnten Gedanken nämlidy, daß unfre Vorftelungen 
einer allgemeinen Verkettung von Urſache und Wirkung nur aus Erfah⸗ 
rung, Induction ober Gewohnheit entfpringen, unterwarf David Hume 
vorzugsweife einer Prüfung. Er behauptete, pon dem urfächlihen Verhälts 
niffe fei uns weder a priori, noch a posteriori irgendwie eine Anfchaus 
ung gegeben; ber innere Zuſammenhang, die geheimnißvoll wirkende 
Kraft bei zwei Dingen oder Erfcheinungen, deren eines als Urfache, das 
andere als Wirkung betrachtet wird, entgeht nicht nur unferer Beobach⸗ 
tung, ſondern es gibt auch feinen Grund, der mit Sicherheit und Noth: 
wendigkeit bei jeder Erſcheinung die jedesmalige Urſache unferm Verſtande 
offenbarte. Ueberall liege une nur ein fletes Nach⸗ etwas, kein Durch⸗ 
etwas, Feine Nothwendigkeit der Verknüpfung oder kein innerer 
Zufammenhang zmifchen den wahrgenommenen Erfolgen vor. Die Vers 
brennung des Holzes zu Afche nennen wir eine Wirkung des Feuers; der 
Ernährung des menfchlichen Leibes legen wir den Genuß des Brotes und 
anderer Nahrungsmittel als Urfache zum Grunde, nicht deshalb, meil 
wir das Innere Werden des Einen durch das Andere nachzuweiſen im 
Etande find, fondern weil wir jenes beftändig nach diefem beobachtet 
haben. Die von ung angenommenen urfächlihen Verknüpfungen alfo 
feien ein Erzeugniß der Gewohnheit: was wir ſtets nad) einem Andern 
wahmahmen, gewöhnten wir uns als nothwendig mit biefem zufams 
mengehörig, oder als durch daffelbe gewirkt zu betrachten; und für biefe 
blos fubjectiv begründete Ueberzeugung laſſe ſich feine objective 
Gewähr geben *). 

Hume's Räfonnement gründet fi auf die Behauptung, daß es 
nur zweierlei Vorftellungen in unferm Geifte gebe, nämlich entweder uns 
mittelbare Wahrnehmungen (Senfationen) durch finnliche Eindrüde (im- 
pressions), oder frei erzeugte Gedanken, Begriffe oder Ideen (No: 

« tionen, thoughts), welche nur Copieen oder Abdrüde, Schattenbilder 
ber Impreffionen fein. Er gibt dafür zwei Gründe an: 1) Wenn 
wir unfere Gedanken oder Ideen analyfiren, fo laffen fie fi) immer in 
einfachere auflöfen,, wovon jede die Copie einer der Idee correfpondirenden 
Empfindung if. — Da Hume die Allgemeinheit diefed Sages nicht ber‘ 
meifen ann, fo forbert er diejenigen, welche ihn leugnen wollten, 
auf, einen Begriff, der nicht aus biefer Quelle, fondern a priori fel, 
anzugeben , dann wolle er den finnlihen Eindrud (die Erkenntnißquelle 
a posteriori) angeben, der ihm correfpondire. 2) Wenn ein Menfch 
megen eines Fehlers feiner Organe gewiſſer finnlichen Eindrüde (Ems 
pfindungen) nicht empfaͤnglich ift, fo fehlen ihm auch die Begriffe, die 
aus biefen Empfindungen entfpringen. Wie groß daher uns auch der 
Umfang und der Reichtum unſers Verftandes erfcheinen möge, fo bleibe 
er doch immer auf ben Stoff angemiefen, der ihm in den unmittelbaren 
Senfationen gegeben ift ; daher es natürlich gar Feine angeborenen Ideen 
geben kann, da alle Gedanken nur aus ber Trennung und Verbindung 





*) Berg, Beneke, Kant u. d. philof. Aufg. unfr. 3eit S. 34. 





186 Kant und die Kantiſche Philofophie 


der gegebenen Vorſtellungen zu neuen entflehen, welches Trennen und 
Verbinden das einzige Geſchaͤft des Verſtandes iſt, der daher in keiner 
Beziehung uͤber jenen Bereich des Gegebenen erkennend hinauszugelangen 
vermag. Iſt nun dennoch von wiſſenſchaftlichem Erkennen und nament⸗ 
lich von Philoſophie die Rede, ſo kann dieſe eigentlich nur beſtehen in 
einer eigentbämlihen Verknüpfung gegebener Vorftellungen zu 
‚neuen Ideen; betrifft num die Unterfuhuny Thatſachen, deren Sein 
ober Richtfein — ulfo unabhängig von aller Erfahrung - bier erfannt 
werden foll, fo bedarf es vor Allem eines untrüglihen Princips, nad 
welchem das Erkennen nit fiherem Schritte auch über das unmittelbar 
Gegebene fich erheben koͤnne. Wir kennen in diefer Beziehung nur 
das Princip von Urſache und Wirkung, wodurch überhaupt eine Reihe 
von Wirklichkeiten fol verbunden werden koͤnnen, die nicht .alle cegeben 
find: man Bann, wie man fi ausdrüdt, in jedem Kalle von der Ur: 
fache auf ihre Wirkung vorwärts — ſowie von der Wirkung auf ihre 
Urſache zuruͤck — ſchließen. Diefe Ausdrude erklärt nun Hume für 
Leere Worte, indem keine nothwendige innere Verknuͤpfung zwiſchen dem 
liege, mas wir in einem gegebenen Fall die Urſache, und dem, was 
wir die Wirkung nennen, und nicht der geringfte innere JZufammenhang 
zwifchen beiden, als Begriffen, Statt finde, da auch die fchärffte 
Analpfe des Einen und nicht den Inhalt des Andern auffinden lehrte. 
Hume zeigt, wie ſchon angedeutet, daf jene Ideen von Urſache und 
Mirkung nur Folge einer unmilltürlihen Gewoͤhnung find, 
und zwar eine ganz grundlofe, da die Erfahrung, die einzige Quelle 
umferer Erkenntniß, uns immer nur dae Zugleichfein oder die Aufein- 
anderfolge der Dinge, aber keinen innern Zufammenhang zwifchen bei: 
den lehrt. Conſequent entwidelt Hume dann meiter heiraus einen voll⸗ 
fändigen Skepticismus ( — nur die Mahrheiten der reinen Mathematif 
ließ Hume als » priori gültig, weil er irrig meinte, fie feien nur 
analytiſch aus dem Logifhen Sage des MWiderfpruchs abgeleitet — ), 
welcher Stepticismus fhon die Sinnenwelt in blofen Schein auf: 
Iöft, da dem Bewußtſein eigentlich nur Bilder und Vor ftellungen 
gegenwärtig find, nach der Hume’fchen Lehre von Urfahe und Wirkung 
aber der Schluß von denfelben auf Dinge eine ganz grundlofe Hypo⸗ 
thefe ift; noch weniger kann das Prineip der Gaufalität für die Philoſo⸗ 
phie zu Schlüffen dienen, die über alle Erfahrung hinaus: 
reichen follen, indem bier alle Analogie, fo mie jede Bedeutung unb 
Anmendung deſſelben durchaus verfchwinde. Woher nämlid ein Ana 
logon aus wirklicher Erfahrung, das 3. B. dem Schluffe von der Sin: 
nenmelt auf einen höchflen Urheber derielhen zu Grunde gelegt werden 
koͤnnte? Wiffen wir denn, mas die Sinnenwelt eigentlich fei, daß mir 
von ihre, als einer Wirkung irgend eines Andern, auf deffen Natur 
zurüdfchließen zu tönnen meinen? Was heißt „höchfter Urheber”? Mas 
iſt — zu denken bei dieſer Urheberſchaft, bei dieſem „Schaffen“ 
der Sinnenwelt, da uns doch die Erfahrung durchaus nichts von einer 
Schoͤpfung, ſondern nur immer ein Entſtehen aus Anderem, ſchon Ent— 


Kant und die Kantiſche Philofophie. ' -187 


flandenem, zeigt? Sind Obiges daher nicht. leere Worte? Und muß nicht 
die Urfache, auf bie wir aus ihrer Wirkung fchließen, .hiefer legten 
durchaus angemellen fein, fo daß mir jener Beine andern Kigenfchaften 
beilegen dürfen, außer denjenigen, welche nothwendig zur Hervorbrins 
gung der Wirkung erforderlich find ? woraus folgt, daß, felbft zugeftanden, 
eine Gottheit fei der Urheber von ber Kriftenz und ber Orbnung bes 
Univerfums, fie audy nur den beflimmten Grad von Macht, Verftand 
und Güte befigt, der in ihrem Werke fichtbar iſt, aber auch durchaus 
nichts weiter. Und da die Welt, die mir kennen, unleugbar unvoll- 
kommen ift, indem das Uebel und das Boͤſe in derfelben als gegebene 
Zhatfache feitfteht, fo wäre ein Schluß von ihr auf ein allervolllom: 
menftes Weſen, als ihren Urheber, wider alle Logik*). Weberhaupt aber 
enthält alles ſolches Raͤſonnement nur Schlüffe aus der Wirkung auf 
die Urfache, welche doch nad) Obigem nur grundlofe Sophismen find. 

So entwickelte Hume hieraus fein confequentes Spftem eines Stepti- 
cismus, welcher die Grundveften unferer hoͤchſten und wichtigſten 
Ueberzeugungen erfchütterte, zumal da Hume nicht, wie Rode gethan **), 
in dem Glauben an die pofitive Religion des Chriftenthums einen Er: 
fag für die durdy feinen Skepticismus zerflörte Metaphyſik oder Philo- 
fophie flehen ließ, fondern auch die Offenbarung auf alle Weiſe beſtritt; 
wie er benn überhaupt fehr reich an populären Auseinanderfegungen 
und Entwidelungen ift, um die Grundlofigfeit aller gewöhnlichen dog⸗ 
matifhen Anfichten über Gottes Dafein, über die Schöpfung, Vor⸗ 
fehung , Freiheit und Unfterblichfeit u. f. w. zu zeigen***). 


! 





+, Berge. Hume's Schrift: „Ueber den menfcht. Verſtand, über. von 
Zen .“ S. 319 ff. Fichte, Beiträge S. 90. 

He de fpriht feinen Dffenbarungsglauben ganz unverboblen aus: So 
unmoveable is that truth delivered by the Spirit of truth, that though 
the Light of Nature gave some obscnre glimmering, some uncertain hopos 
of a future State ; yet haman reason could attain to no clearness, no cer- 
tainty about it, but that it was Jesus Christus alone who had brought 
Life and Immortality to light through the Gospel. II. Timoth. 1, 10. ' 
(Essay. T.4. Ch. 3. $. 6 Note.) — (Auch bei Baco ift der Gedanke Bots; 
te8 als ber einer erften Urfache nur auf ber Betrachtung und Durchſicht der 
nicderen hergeleitet (e causarum dependentia, serie et concatenatione, Dign. 
et A, Sc. lib. 1.) Weil die Bernunft ficher bis dahin fchließe, nennt er (4, 10.) 
bad Dafein Gottes veritatem aliis omnibas, quae ratio tradit, manifestiorem. 
Dadurch wird aber der Gedanke nicht höher, er bleibt ein Anhang ber Naturs 
Fennis. (Baumgarten-Cruſius, das Menſchenleben und die Religion 


*5*) Er ſelber ſpricht das Reſultat feines Philoſophirens in dieſer Hinſicht 
mit folgenden Worten aus (Essay XII, ©. ): „Gehen wir, von der Rich⸗ 
tigkeit diefer Grunbfäge überzeugt, unfere Bücherfammlungen durch, welche Zer⸗ 

rung müßten wir in ihnen anrichten! Wir nehmen z. B. einen Band theo⸗ 
logifher Unterfuchungen oder Schulmetaphnfil in die Hand! Laßt uns fragen: 
enthält er abftracte Vernunft über die VBerhältniffe von Zahl und 
Groͤße? Nein! Enthält er Grfahrungsvernunft Aber wirkliche Dinge 
oder Zhatfahen? Nein! — Darum in’s Feuer mit ihm; er Tann nur Gopbis 
ferien oder Träume enthalten!‘ 





. . . \ 
188 Kant und bie Kantiſche Philoſophie. 

Hätte Hume Recht, daß es überhaupt keine Erkenntniß a priori 
in der menſchlichen Vernunft gibt, fo waͤre der Empirismus bie eins 
zige Quelle unferer Principien ; beruht aber die Wahrheit aller unferer 
Begriffe, folglich auch die ber Gaufalitdt,. allein auf der Erfahrung, 
fo gibt es keine ausnahmelofe Megel, Beine Zuverläffigkeit ; feine all 
‚gemeine, nothwendige Wahrheit iſt als ſolche erweislich; der Zuſam⸗ 
menhang in ber Natur, die Ordnung der Welt und mithin alle Ueber: 
zeugung, die fi darauf gründet, ift eine bloſe Angemöhnung des 
Denkens ohne Halt und Stüspunct, ein Traum, ber heute verfchwin- 
‘den kann; es gibt Überhaupt Leine wahre Erkenntniß ber Dinge, ihrer 
Natur und Gefebe an fi), d. i. Eeine Metaphyſik. Kant nun warb, 
feiner eigenen Aeußerung zufolge (in der DVorrede zu den Prolegomenen), 
Durch Hume zuerft aus feinem eigenen vieljährigen bogmatifhen Schlummer 
erweckt und hielt fich überzeugt, daß aller Dogmatismus oder vielmehr 
alle Philofophie in Empirismus und Skepticismus ausſchlagen muͤſſe, 
“ wenn es nicht gelänge, auf einem andern Wege, als dem bisherigen, 
das wirkliche Vorhandenfein allgemeiner und nothwendiger Wahrheiten 
in unſtrer Erkenntniß nachzumweifen und fo zugleich unfere heitigften 
und wichtigften Weberzeugungen in fittlicher und religiöfer Beziehung 
gegen den Skepticismus ficher zu flellen. Er verfuchte zuerſt, ob ſich 
Hume's Behauptung, daß ſich Peine Urſache a priori erfennen laſſe, 
nicht allgemein vorftellen laſſe? Da Hume die Nothwendigkeit der Syn- 
thefis (Verknüpfung) von Urfahe und Wirkung angegriffen hatte, 
alles Erkennen aber ein Syntheſiren ift (ein Beziehen einer Mannig- 
faltigfeit von Bellimmungen auf innere Einheit), und ba felbft das 
Analyſiren (das Sondern bes Mannigfaltigen) fchon gegebene Spnthefis 
vorausfegt, fo konnte der Hume’fche Imeifel in das allgemeine Pros 
blem gefaßt werben: wie ift überhaupt ein Spnthefiren moͤglich? Un⸗ 
mittelbar freilich bietet die Wahrnehmung fertige Spnthefen dar; 
aber von biefen kann in Bezug auf wahrhaft wiſſenſchaftliches Er⸗ 
Tennen nicht bie Rede fein. Hier ift die Syntheſis gegeben, erfcheint 
alfo als zufällig — auch anders fein koͤnnend. Jene Frage bedeutet 
baher nur, wie nothmwmendige (vom Bewußtſein ber Nothwendigkeit 
begleitete) Syntheſen möglidy feien, und welches das Princip berfelben ? 
Und hieraus erklaͤrt fi, mie Kant die Frage: wie find ſyntheti— 
[he Urtheile a priori möglich? als die Gardinals oder Lebens: 
frage der ganzen Metaphyſik bezeichnen tonnte. Um diefe genügend 
zu löfen, ſchlug er nun den kritiſchen Weg ein, indem er unſer gan» 
zes Erkenntnißvermoögen einer genauen und vollfländigen Unter: 
fuhung unterwarf. Kant felbft*) bezeichnet feine Methode als eine 
Nachahmung der in der Mathematik und Phyſik mit fo großem Er⸗ 
folg angemwendeten, Indem er dabei als das Kriterium der Richtigkeit‘ 
einer wiffenfchaftlichen Methode den Erfolg bezeichnet. Wenn fie nad) 
viel gemachten Anftalten und Zurüftungen, fobald es zum Zwecke 





*) Vorr. z. 2. Ausgabe d. Kritik d. x. Bernunft. 


4 


Kant und die Kantifche Philofophie. 189 


Sommt, in Stocken geräth, oder um biefen zu erreichen, öfter wieder 
zurüdgehen und einen andern Weg einfhlagen muß; ingleihen wenn 
es nicht möglich ift, die verfchiedenen Mitarbeiter in der Art, wie bie 
gemeinfchaftlihe Abficht verfolgt werden foll, einhellig zu machen: fo 
kann man immer überzeugt fein, daß ein folches Studium bei Weiten 
noch nicht den höhern Gang einer Wiffenfchaft eingefchlagen, fondern 
ein bloſes Herumtappen fei; und es iſt fchon ein. Verdienft um bie 
Vernunft, diefen Weg wo moͤglich ausfindig zu machen, follte auch 
Manches als vergeblich aufgegeben werben müflen, mas in dem ohne 
Ueberlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war. Die Metaphye 
fit habe nun, wie fehr offenbar, diefen fihern Weg nicht einzufchlagen _ 
vermocht und fei nur ein Kampfplag gewefen, feine Kräfte im Spiel 
gefechte zu üben, auf dem nod Niemand irgend als echter ſich auch 
den Heinften Platz hat erkämpfen und auf ſeinen Sieg einen dauer 
haften Beſitz gründen können. Auch bei ber Mathematik habe offen 
bar Anfangs ein folches blindes Herumtappen Statt gefunden, bis der 
gluͤckliche Einfall eines Griechen, deilen Namen uns die Gefchichte 
nicht mit Sicherheit aufbehalten bat, eine Revolution in einem ers 
fuhe zu Stande brachte, von welchem an bie Bahn, die man nehmen 
mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und jener fichere Gang für alle Zei: 
ten gefunden und vorgefchrieben war. (‚Dem Exften, der den gleichſei⸗ 
tigen Zriangel demonftrirte, er mag nun Thales oder wie man 
will geheißen haben, dem ging ein Licht aufs denn er fand, daß er nicht 
dem, was er in ber Figur fahe, oder auch dem blofen Begriffe der⸗ 
felben nachſpuͤren und gleihfam davon ihre Eigenfchaften ablernen, 
fondeen durch das, was er nad Begriffen felbft a priori hineindachte 
und darſtellte (durch Conftruction), hervorbringen müffe, und daß er, 
um ficher etwas a priori zu wiſſen, der Sache nichts beilegen müfle, 
als was aus dem nothwendig folgte, was er feinem Begriffe gemüß 
ſelbſt in fie gelegt hat.’) — Auch die Naturwiſſenſchaften erhoben ſich 
erft in Folge der großen Revolution ber Methode, welche Baco von 
Verulam in diefem Gebiete veranlaßte. Kant führt in biefer Hinficht 
Folgendes an: „Als Galilei feine Kugeln die fchiefe Flaͤche mit einer 
von ihm felbft gewählten Schwere herabrollen, ober Zoricelli die 
Luft ein Gewicht, mas er fi) zum Voraus dem einer ihm bekannten 
Waſſerſaͤule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder im noch fpäterer 
Zeit Stahl Metalle in Kalk und biefen wiederum in Metall verwan⸗ 
delte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab, fo ging allen Nas 
turforfchern ein Licht auf. Sie begriffen, daB die Vernunft nur das 
einfieht, was fie felbft nach ihrem Entwurfe bervorbringt, daß fie mit 
Principien ihrer Urtheile nach befländigen Gefegen vorangehen und die 
Natur nöthigen müffe, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber ſich 
allein gleihfam am Leitbande gängeln laffen; denn ſonſt hängen zu⸗ 
fälige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtun: 
gen gar nicht in einem nothwendigen Geſetze zufammen, welches doch 
die Vernunft fuhrt und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prins 








Kaut :und die Kantiſche Philoſoßhle. ‘19% 


Der Gang und fummarifhe Inhalt des Kantiſchen Kriticismuß 
ſeibſt IfE num folgender. Kant geſtand Hume’s Hauptfat zu, daß ber 
Begriff von Ur ſache und Wirkung als wahr und allgemeingüfs 
tig gar nicht aus der Erfahrung bewiefen werden koͤnne; aber er fol« 
gerte Daran, daß berfelbe doch allgemein und nothtvendig angenommen 
wird, daß er eben nicht aus der Erfahrung flamme. Diefer Begriff 
ift in uns; aber er iſt weder eine blofe Angewoͤhnung des Denkens, 
noch ein Refler aus dem Naturlaufe, fondern er -ift vielmehr ein ur 
fprüngfiches, angeborenes Eigenthum des Verſtandes; diefer trägt ihn 
vor aller Erfahrung, a priori, ſchon in ſich, und wendet ihn nur auf 
Altes, was Ihm finnlich erfchelnt, was er erfährt, an. Diefe Ueber: 
tragung eines fubjectiven Begriffes auf die Sinnenwelt ift aber Fein 
Ungluͤck für unfer Wiſſen; denn meit entfernt, daß es dadurch unjus 
verläffig würde, wird es vielmehr nur dadurch erfl fireng allgemein gültig, 
nothwendig und gewiß. Die Erfahrung kann uns überhaupt nimmermehr 
etwas durchaus Gewiſſes lehren. Auch nach einer noch fo langen und reifen 
Erfahrung bleibt immer ber mögliche Fall, — d.h. bleibt immer der Fall we: 
nigſtens denkbar, daß einmal gerade das Entgegengefeßte ſich ereignen koͤnne. 
Dasjenige, was unerfchütterlid; wahr, was abſolut nothmendig und 
allgemein bei allen und für alle Menfchen gültig fein foll, kann gerade 
auf nichts Anderem beruhen, als auf der urfprünglichen Einrichtung 
unfereseigenen Denlvermögens. Daher find 3. B. die ma: 
thematifchen Säge nicht deshalb von fo zwingender Gemißheit, meil fie 
etwa aus den Formen und Verhältniffen der Natur abilrahirt wären, 
fondern umgekehrt nur deswegen, weil fie auf unferer fubjectiven Denk⸗ 
nothwendigkeit beruhen. Was fih in der Natur Alles noch: ereignen 
£önne und merde, das läßt fih gar nicht wiſſen; gewiß wifſen laͤßt 
fi) blos, wie in alle Ewigkeit hin die Menfhen die Natur anfe 
ben, was fie darin im Allgemeinen für Geſetze erbliden werben, fo 
lange die Menfhen Menfchen find, d. b. ihre jetzige Verſtandes⸗ und 
forfhe: eine agnatihe Revolution mit derfelben vornehmen, befteht nun bas Ge⸗ 
fhäft diefer Kritik der reinen fpeculativen Vernunft Gi t 
ein Zractat von der Methode, nicht ein Syſtem der Wiflenfchaft ſelbſt; 
aber fie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derfelben, fomohl in Anfehung 
ihrer Grenzen, als auch ben ganzen innern Gliederban derfeiben. Dena has 

die reine fpeculative Vernunft Eigenthümliches an fih, daß fie ihr eigen 
ermögen, nach Derfchiedenheit der Art, wie fie fi) Objecte zum Denken 
wählt, ausmeffen, und auch ſelbſt die mancherlei Arten, fich Aufgaben vcrzules 
gen, vollftändig vorzählen, und jo den gangen Vorriß zu einem Syſtem ber 
Metapbufit vorzeichnen Tann und foll; weil, was bas Grfie betrifft, in ber 
GErlenntni$ a priori den Objecten nichts beigelegt werben Tann, ale was bas 
denkende Subject aus fich felbft hernimmt, und, was das Zweite anlangt, fie 
in Anfehung ber Erkenntnißprincipien eine ganz abgefonderte, für ſich beſte⸗ 
hende Ginheit ift, in melcher ein jcdes Glied, wie in einem organffirten Koͤr⸗ 
per , um aller andern und um eines willen da find, und Fein Princip mit Si⸗ 
cherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zugleich in ber 
duchgäng.gen Beziehung zum ganzen veinen Vernunftgebrauch unterfucht 
su haben.” (Vorr. 3. 2, Ana.) 








Kant und die Kantifche Philofophie. 198 


gibt, daß wir fie beide als unendlich ober grenzenlos uns vorftellen 
muͤſſen, alle Erfahrungserfenntniß dagegen immer nur'auf dad End⸗ 
liche und Beſchraͤnkte fich bezieht. Sie find ferner nothwendige Vor- 
ftellungen a priori, von denen wir gar nicht abſtrahiren Finnen, wähs 
rend alle Erfahrungserkenntniſſe nur zufällig find; wir Sinnen uns. gar 
kein Dofein ohne Zeit, d. h. ohne daß es in irgend eine Zeit falle 
und eine Zeitdauer habe, und insbefondere kein koͤrperliches Daſein ohne 
Raum, d. h. ohne an irgend einem Orte befindlich, vorftellen ; wir koͤn⸗ 
nen ferner und zwar eime leere Zeit (in der nichts gefchähe) und einen 
leeren Raum (in dem nichts angetroffen würde), aber nicht vorftellen, 
daß keine Zeit oder kein Raum fei, wir Lönnen die Zeit und ben 
Raum nicht wegbenten. Beide find nothiwendige Formen unferer Sinn⸗ 
lichkeit, d. h. fie geben unfern Anfchauungen mit Nothwendigkeit eine 
beftimmte Zorm, etwa wie eine Fluͤſſigkeit, die in ein Gefäß gegoflen 
wird, ihre Korm durch letzteres erhält. — Was fodann die Urtheile- 
oder Denkformen betrifft, fo ift ſchon von dem Begriffe der Caufalität, 
d. h. de Zufammenhanges vor Urſache und Wirkung, gezeigt worden, 
dag unfer Verftand ihn in die Erfcheinungen hineinzudenken fich gend» 
thigt findet. Allein diefe Verknüpfung iſt nicht die einzige, die wir 
unter ben, Außendingen wahrzunehmen glauben; fie verhalten fich auch 
z. B. als Weſen und Eigenfchaften (Subftanz und Accidenz) zu eins 
ander, und fo gibt es der Verbindungsmeifen und Verhaͤltniſſe unter 
den Dingen nody mehrere, die wir als fubjective Mebertragungen von 
unferer Seite auf jene anzufehen haben. Es ift von großer Wichtig- 
feit, diefelben alle zu Eennen, damit wir wiſſen, was an den verfchie- 
denen Vorflellungen eigentlich uns felbft, d. i. unferer Verftandesthä- 
tigtelt, und was ben Empfindungen oder Erfcheinungen angehöre und 
mithin von ben Eindrüden der Dinge herrühren mag. Die Empfin- 
dungen geben den Inhalt oder Stoff der einzelnen Worftellungen; ber - 
Verſtand gibt die Formen und Verhältniffe, in welchen jene unter ein⸗ 
ander in Verbindung gefegt und zu einem Ganzen ber Erfahrung vers 
einigt werden *). 

Wollen wir nun vollftändig wiffen, welche und mie viele ſolche 
Verbindungsweiſen der Verſtand in feiner Gewalt habe, und wie vide 
ſolche allgemeine Grundbegriffe demnach möglich fein werben, fo dürfen 

‚wie nur auf die verfchledenen Arten ober Formen bes Urtheils fehen, 
welche uns bie Logik aufzeigt; benn urtheilen heißt eben fo viel, als 
eine Vorftellung (als Subject) mit einer andern (als Prädicat) verbin- 
den. Nun zeigt die Logik, dag es im Ganzen nur zwölf verfchiedene 
Arten ober Formen von Urtheilen gibt; mithin hat der Verſtand zwoͤl⸗ 
fertei Weifen, feine zerſtreuten Voritellungen zufammenzufegen. Die: 
fes find alfo die urfprünglichen allgemeinen Handlungsweiſen oder Ge: 
feße des Verſtandes bei feinem Verfahren. Man kann fie leicht aus: 
finden, wenn man bei ben verfchiebenen Urtheilen von allen den Din: 


*) Ghalybaͤus a. a D. ©. 22. 
GtaatssLeriton. IX, 13 










ger $ 
38 


BEE EEE 
Er. 


— 


Kant und die Kantifche Philofophie. 195 


en ihr rigenthuͤmliches Schema findet, bei deſſen Erfcheinen fie eintritt. 
B. io etwas in immer gleicher Ordnung auf einander folgt, bit- 
‚bet dieſes ‚mfeinanderfolgen ein Schema für die Kategorien ber Ur⸗ 
ſache und Wickung; wo in einer wechfeinden Erſcheinung etwas Be: 
harrendes wahrgenommen wird, woran der Wechfel vorgeht, bildet bie: 
ſes Beharren ein Schema für die. Kategorie der Subſtanz u. f. w. 
Das Erkennen fit alfo nach Kant eine überaus Eünftlihe Mafchinerie, 
bei welcher viele Räder in einander greifen müflen, um das Productt 
beroorzubringen. Alles aber, was wir erkennen, ift ein durch dieſe Ma⸗ 
ſchinerie verarbeiteter Stoff, und wir erfennen bie Stoffe nur als ver: 
arbeitete. Denn die rohen Stoffe, d. 5. die Dinge an ſich ſelbſt, 
zu erkennen, ift darum nicht möglich, weil ein jedes Erkennen ſchon 
ein Werarbeiten des rohen Stoffes ift, welcher, fo lange er nicht un⸗ 
ter die Mafchinerie des Apriori gebracht wird, auch nicht erkannt wer: 
den kann; denn er kann doch unmöglich eher erfannt werden, als er 
erkannt wird, obgleich er vom verarbeitenden Erkenntnißacte immer: 
während im feiner noch umverarbeiteten Geſtalt als Stoff vorausgefegt 
wird*). Wir Sinnen überhaupt gar nicht aus unferm Erkennen ber: 
-außtreten und unſere Erkenntniſſe, um ihre Wahrheit zu erproben, 
„wit den Dingen felbft vergleichen, da wir lebtere ja nur. durch unfer 
| gen erkennen. -— Darum findet ganz baflelbe Statt: in 
Hinſicht der Höheren überfinnlichen Vorſtellungen einer abfoluten Bol: 
tommenheit imbd Unbedingtheit, welde Ideen oder Bernunftbe; 
‚geiffe heißen und ſich auf Gegenſtaͤnde beziehen, die gar nicht Ob⸗ 
jecte der’ Exfahrung, in der Wirklicykeit nie als vorhanden nachzuweiſen 
find, gleichwohl aber das hoͤchſte Intereſſe für unfere Vernunft haben, 
die ſich nicht Damit begnügen kann und darf, die „mannigfadyen (durch die 
Stimme erkannten) Erſcheinungen der Welt zu buchflabiren, um fie 
(durch die Kategorien bed Verflandes) als Erfahrung lefen zu Binnen“, 
fondern nechwendig nad) dem Abfoluten oder Unbedingten firebt ; daher 
denn auch gerade diefe Sdeen, und zwar die Ideen: Seele (nament 
lich, ihre Breiheit, und Unfterblichleit), Welt und Gott — es finb, 
‚weiche, den. eigentlichen Gegenſtand alier Metaphyſik ober fpeculativen 
Ydofophle überhaupt ausmachen **). Nun zeigte Kant, daß auch 
‚Mtfe Dosen: urfprünglih nur Formen oder Gefege unferer ſubjectlven 
‚Bermunftthätigkeit beim Erkennen bezeichnen, außer dieſem legifchsfors 
‚ „malen: Gebrauche jedoch keinen materiellen in der Theorie zulaflen, in: 
dem .wir, wenn wir ihnen Obiectivität beilegen, d. h. fie auf das Gen 
der Dinge: fetbft Übertragen oder ihnen entfprechende Gegenſtaͤnde an- 
:aehmen wollen, uns dabei unvermeidlich in Paralogiemen und Wider⸗ 
fpräcye, namentlidy in die fogenannten Antinomien der reinen Ber: 
nunft verieren , deren Nachweiſung das eigentliche Fundament des Kan- 


mgerttast a. a. O. S. Neff. Sigwart, Hbb. d. theoret. Philoſ. 
79) Kritik ber r. Bernunft, Cinleit. III. 


8. 
18° 





.196 Kant und die Kantifce Ppilofophie. 


tifchen tranfcendentalen Jbealismus ausmadıt *), die wir übrigens hier 
nicht weiter erörtern koͤnnen **). Dennoch find biefe Ideen keineswegs 
bedeutungslos In uns, vielmehr von der hoͤchſten Wichtigkeit, wenn 
gleich nicht brauchbar, um eine fogenannte rationale Pſychoiogie, Kos: 
mologle und Theologie zu begränden. Diefes führt nun auf den Kan 
tiſchen moralifhen Glauben und das Primat der prakti— 
fhen Vernunft, indem biefe legtere uns in das Gebiet bes Ueber: 
finntichen führt, welches der theoretifchen durchaus unzugaͤnglich ift. 
Kant weif’t naͤmlich nad), daß unter den genannten Jbeen der fpecu: 
lativen Vernunft der Losmologifche Begriff der Freihe it ber einzige 
ift, dem man objective Realität verfchaffen, oder den man als 
Thatſache aufreifen kann, waͤhrend die übrigen tranfcendentalen Ideen 
nur eine leere Stelle für reine mögliche Verſtandesweſen bezeichnen, 
aber den Begriff von ihnen nicht beilimmen koͤnnen; daher auch di 

Idee der Freiheit allein und eine Erkenntniß der uͤberſinnlichen oder in- 
telligibeln Welt verfhafft. Es handelt fi) darum, nachzuweiſen, dag 
getwiffe Handlungen eine unbedingte Caufalität vorausſetzen, d. h. 
eine folche, die nicht in der Erfahrung gegebene empiriſche Beſtimmungs⸗ 
gründe zuruͤckwies. Diefes konnte nur durch einen untiderfprechlichen, 
und zwar objectiven Grunbfag der Gaufalität geſchehen, in welchem bie 
Vernunft fid nicht weiter auf etwas Anderes, ais Beſtimmungs⸗ 
grund der Caufalität, beruft, wo fie alfo als teine Vernunft prak⸗ 
tifch fich erweife. Diefer Grundfag iſt nun bie Sittlichfeit, oder 
das moralifdhe Gefeg, welches nicht erft entdedt zu werben braucht, 
dem Wefen der Menfchenvernumft einverleibt ift, und eine Caufalität 


der reinen Vernunft, unabhängig. von allen empitifden. Bedingungen 





Kant und die Kantifche Philofophie. 197° 


fation und Eultur, oder die Gefchichte der Menſchheit überhaupt hervorge⸗ 
sangen iſt; ber Übrigens doch auch nur ein egoiftifcher Trieb tft, d. h. 
wobei der Menſch in defien Befriedigung nur ſich ſelbſt liebt, nur fein 
perfönliches Intereſſe ſucht. Wir finden jedoch noch einen andern Trieb 
im uns, den wir ben fittlihen, fo mie feine Anforderungen bie Stimme 
bes Gewiſſens nennen, welcher einen andern Urfprung haben muß, in» 
dem er oft unferm perfönlihen Intereffe gerabe entgegenzuhandeln fors 
bert, und deſſen Anforderungen in Rüdfiht einer Handlung immer 
buch em Sollen ober mit einer Unbedingtheit, Nothwendigkeit der 
Anforderung begleitet find. Jedes Bewußtfein, daß ich foll, jede Noth⸗ 
wendigkeit in einer praktiſchen Regel, db. h. jede Nothmendigkeit in der 
Anforderung eines Antriebes zur MWillensbeftimmung, fest die Freiheit 
meiner Willkhr voraus. Die Freiheit ber Willkuͤr befteht darin, daß 
fie in ihrem Entſchluſſe von irgend einem finnlichen Antriebe, fo ſtark 
er auch fein mag, doch nur afficirt und nicht beflimmt werben koͤnne. 
Die Freiheit der Willkür befteht in der ducchgängigen, abfoluten Au⸗ 
tonomie des Willens darin, daß er jedes Geſetz, welches für ihn gel⸗ 
ten foll, durchaus nur ſich felbft gibt, daß er in der Natur niemals 
zue Handlung beflimmt werden kann, durch irgend einen Außern An- 
trieb, fondern nur durch fich felbft*). Ein ſolches Vermögen der Frei⸗ 
beit oder der abfoluten Autonomie des Willens überfchreitet aber alle 
Schranken der Natur und ift in der Natur unmöglihd. Denn in 
ber Natur ift jede Kraft eine enblihe und kann alfo von einer grö- 
fern und ftärkern überwältigt werden. Daher werden in der Natur 
in jedem Entfchluffe aud nur endliche Kräfte der Antriebe mit einan- 
der ſtreiten, und dee fittliche Antrieb ber Tugend mag in der Natur 
eines Menſchen fo ftark fein, als er will, er wird dennoch einen noch 
flärkern finnlichen Antrieb treffen und von diefem überwältigt werden 
koͤnnen. Wenn wir uns alfo das Vermögen geben , uns dennoch von 
keinem Antriebe, fo ſtark auch er fei, übermältigen zu laſſen, fondern 
mit abfoluter Freiheit uns zu entfchließen, fo fegen wir unfre Kraft im 
Entſchluſſe im Berhältniffe zur Natur als unendli an und ers 
heben uns alfo in dem Bewußtſein unferer Freiheit über die Nas 
tur?*). An Gott und Unfterblichleit glauben, heißt demnach, ale 


*) Gin ſolches Vermögen wirb unmittelbar in bem vorausgefeht, dem ich 
füge: Du ſollſt. Denn in demjenigen , was er foll, 3. B. fein Berfprechen hal: 
ten , wirb angenommen, daß bie Unforberung diefer Vorftellung bes gethanen 
Berfprechens raus entfcheibend in feinem Entſchluſſe zur Handlung fein foll, 
welcher fremde Antrieb fich auch dagegen ſetze. Ich fchreibe alfo demjenigen, zu 
dem ich fo ſpreche, ein Vermögen ber Willtür zu, jedem Antriebe, ex mag fo 
ftark fein, als er irgend will, zu widerfiehen und fich für dasjenige zu ent- 
_ Scheiben, was mit Rothwendigkeit geboten if. Er wird alfo nur feiner eiges 

nen abfoluten Selbfigefeßgebung unterworfen ‚fein und barin die Kreiheit ber 
Willkür befigen. Vergl. Fries, Wiffen, Glaube und Ahnbung. &. 162 ff. 

”r) Wie Kan t be (am Schluſſe ſ. Krit. b. prakt. Bernunft) biefes fo 

ſchoͤn ausbrüdt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zus 
. nehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je dfter und anyaltender ſich das 





196 Kant und bie Kantifche Philofophie. 


Bürger der höhern überfinntichen Weltordnung handeln! Die 
Gegenftände des religiöfen Gtaubens fallen ſchlechterdings über bie 
Grenzen des Wiflens hinaus. Der Glaube beruht auf keinerlei Art 
von Einfiht, fondern auf einem moralifhen Willensentfhiug 
von eigenthiimlich dringender Art, Der Glaube ift nothiwendig immer 
mit einer moralifhen Gemüthsummandiung verbunden. Ex tft felbft 
eins mit der Richtung , die das Gemüth von feinem Streben nach 
unten, nach den Gütern der Erde, hinaufwärts nad) oben, nad) der 
eenfthaften Bollziehung des moralifchen Gefeges nimmt. Wie biefe 
Richtung ſchwindet, ſchwindet auch nothwendig der Glaube; mie fie 
wieberfehrt, kehrt auch nothwendig der Glaube wieder. Wer für das 
moralifhe Gefch ſich anſtrengt und in ihm ſteht, der iſt ein Gläubiger, 
indem der Glaube nichts ift, als die Gonfequenz diefes Geſetzes; wer 
hingegen den Gtauben annimmt und befennt, ohne ihn mit der mo: 
raliſchen That zu befiegein, deffen Glauben hat keinen größern Werth, 
als eine metaphofifche Einſicht von Gott und göttlihen Dingen, d. h. 
den Werth einer Selbfttäufchung *). Dagegen wird unfere wichtigfte Ange: 
Nachdenten damit beichäftigt: der beflirnte Himmel über mir und . 
das moralifhe Seſet in mir. Beide darf ih nicht als in Dunkelheiten 
verhält, oder im ueberſchwenglichen, außer meinem Gefichtätreife , ſuchen unb 
blos vermuthen, ich febe fie vor mir und vertnüpfe fie unmittelbar mit dem 
fein meiner Griften,. Das erfte fängt von dem Plage an, ben ich in 
ber äußern Ginnenweit einnehme, und erweitert dic Perfnäpfung, darin ich 
ftehe, in's unabſehlich Sroße mit Welten über Weiten und Gpftemen von So— 
ftemen, überbicg noch in grenzenlofe Zeiten ihrer periodifchen Bewegung, deren 
Anfang und Fortdauer... Das zweite fängt: von meinem unfichtbaren. Selbft 
meiner Perfönlichkeit an, und ftellt mich in, einer Welt dar, die wahre line 








Kant. und die Kantiſche Philofenbie. 199 


legenheit auf Erden, die Entwidelung unferer moralifhen. Kraft, durch 
den nachgemiefenen vernunftmäßigen Glauben an Gast und Unſterh⸗ 
Iichleit auf das Entſchiedenſte befördert, mwährenb fie mit zureichenden 
theoretifchen Beweiſen für beide Wahrheiten nicht mohl vereinbar fein 
mürde. Wenn Goͤtt und Ewigkeit in ihrer furchtbaren Majeſtaͤt uns 
unabläffig mit zweifelloſer Gewißheit vor Augen lägen, fo mürben bie 
meiften gefcehmäßigen Handlungen von uns aus Furcht, einige aus 
Hoffnung und gar feine aus Pflicht vollzogen werden, und fo müßten 
fie alle des moralifchen MWerthes gänzlich entbehren. Jetzt dagegen, ba 
nur in $olge einer thätigen und herrfchenden Achtung gegen bas Sit⸗ 
tengeſetz Ausfichten in das Meih des Weberfinnlidhen mit ſchwachen 
Biden uns vergönnt find, kann eine wahrhaft fittliche, dem Guten 
unmittelbar geweihte Gefinnung in uns Raum finden, und das ver 
nünftige Einzelmefen vermag eines Antheils an dem hoͤchſten Gite 
würdig zu werben, welcher der Guͤte feines Charakters und nicht blos 
der Regalität feiner Handlungen angemeffen iſt. 

In dem eben Erdrterten iſt zugleich das Hauptprincip der Kan: 
tiſchen praftifchen Philofophie angebeuter, deren nähere Betrachtung 
den Artikeln Moral und Praktiſche Philofophie, Natur: 





wie Urfache und Wirkung. Bon einem tugendhaften Menſchen urtheilt unfere 
praktiſche Wernunft, er fei ein Menſch, welcher verbient, wahrhaft glüdfellg 
zu fein. In den Fällen alfo, wo das moralifhe Belek mit unferm Streben 
nach Gluͤckſeligkeit im Einklang ſteht, hat bie Befolgung bes erftern keine Schwie⸗ 
tigkeit. Aber dieſer Einklang ifl nicht immer vorhanden. Wan nehme alfo von 
den Fällen des Gegentheils bie die Erfahrung bietet, einen heraus, welcher 
die That, woburdh wir erhöhte Gluͤckſeügkeit und Vervollkommmung verdienen, 
mit ungläd ober gar mit 3erflörung aller uns erivorbenen Wolllommenheiten, 
d. 5. mit dem Tode belohnt oder zu belohnen verfpridt. In diefem Falle ex» 
Scheint nothwendig das moralifhe Gebot als eine Abfurbität, welche im Ge⸗ 
e ber Leidenſchaften, bie ein folcher Zall mit ſich führt, uns nur noch ein 
achfelzudtendes Lächeln abndthigen kann, womit wir uns Aber das Gebot Hins 
wegfegen; Aubere aber, welche fich demfelben dennoch unterwerfen, als Thoren 
beritleiben. Und fo wird das moralifche Geſez zum Scherz, zu einer Wacke, 
die nur fo lange cine Bedeutung hat, als fic die Zwecke der Blüdfeligkeit und 
Bere sIfommnung zu ÜüberBleiden dient. Dies Verhaͤltniß weicht nicht eher , als 
wir uns entfchließen , die Zuſtaͤnde, welche uns bem moralifhen Geſet gu: 
folge blos des Gluͤcks und der Volllommenheit würdig machen, ohne fie zu Bes 
‚ für reelle Urſachen eines noch höheren Gluͤcks, einer noch höheren Wolls 
tommenheit in einer über biefem Leben ftehenden höheren moralifchen Weltorb⸗ 
nung anzufehben. Ohne diefen Slauben ift eine Willenskraft, welde in allen 
Bällen ausreiche, dem moralifchen Geſes nachzukommen, unmoͤglichz und wenn 
es uns daher wirklich Ernft ift, ohne Ausnahme au thun, was das moraliſche 
Geſetz gebietet, fo muß es und vor Allem mit diefem Glauben Ernſt werben, 
ohne welchen das moralifche Gele keine Kraft hat. In biefem Glauben an 
eine gerechte Vergeltung in einer Höheren Ordnung ber Dinge legt aber Beih 
eingefchloffen, der Glaube an die Fortbauer des Subjects, weichem vergolte 
wird, ber Blaube an eine Allwiſſenheit, Allgerechtigkeit und Allmacht, 
welche vergelten Tann unb will”, Man leiche hiermit —AA treff⸗ 
—— über Kant's Sittenleyre, Verm. Hehriften 1. &. 6i ff., bes 





> = 7 


200 Kant und die Kantiſche Philofophie- 

‚re un > 5 Staatslehre überlaffen bleihen muß, 

Kantiſchen in dieſer Hinſicht nur Im Zuſammenhange 

3 — i zu der —— gehörig, verftanden 
werben Binnen. Dort (namentlich im Artikel: prakuſche Phitofophie) 
wird auch der gerignetfte Ort fein, über den entf ibenden und höchit 
wichtigen. Einfluß Kant's und feiner Phitofophie auf das wirkliche Leben 
das Mähere zu entwideln. Mir befchränten, uns hier auf folgende 
Hauptpunete in Betreff des Kantifchen Bauen, auf die Se en» 
fh aft der Phitofophte, als folder. Daß Kant eine wirkliche Nevo- 
{ution in der de hervorgebracht und eine neue Epoche in 
derfelben, im melcher wir felber ung gegenwärtig noch befinden, begon⸗ 
nen hat, — * in 5* G if Schon MR. Si 
meller Bazii bat Kant ai ie in mehrfacher Hin 
fiöht auf das influpesiöfte und Wohtehätigfte gewirkt. Zundchjt dadurch, 
'dafi er dem feichten Efleftichemus der zu feiner Zeit fo — 
verbrelteten P —— ein Ende *) und an deſſen Stelle 
wiſſenſchaftlichen Ernft und Strenge, fowie die — aller phil: 
fophifchen Erkenntniß auf den legten und höchften Zweck des Menſchen ⸗ 
lebens geltend machte, wie diefes Deutfchen Geifte und deutſcher 
Volksthuͤmlichteit uͤberhaupt ziemt und entfpricht**). Sodann dadurch, 
daß er alle —— ſtuͤrzte, deren Weſen * darin beſteht, aus 
Biafen Begeifen, umabhängig von-aller Erfahrung, Miffenfchaften au 
conſtruiren, ‚namentlich mit blofer Logie — machen und Rn 
abftracte Begriffe das Mefen der Dinge erkennen zu wollen ***), was 
insbefondere von dem heile der Metaphufit gilt, welcher fpecula= 
tive Theologie Benanht wird, weiche Ihre: 3 Lehren von der 


MetelhAnfumar Em DE ai Ve sche Sr 


Kant und die Kantifche Philofophie. 201 


men paßt*). Aber ganz auf dieſelbe Weiſe wie den einfeitigen Ra: 
tionalismus oder Intellectualismus widerlegte Kant auch den 
einfeitigen Empirismus oder Senfualismus, indem er das Vor⸗ 
handenfein fogenannter rationaler, nicht aus der! Erfahrung flammenber 
Vorftelungen und Begriffe, namentlich in unferm Geifte als Thatſache 
ein Bewußtfein von Allgemeinheit und Nothwendigkeit nachwies, wel⸗ 
ches nad dem Grundfage des Empirismus ſchlechthin unmöglich fein 
mußte *). 

Der Kampf des Kriticismus gegen den Mationaliemus und Em: 
pirismus (oder wie man fonft die verfchiebenen Kormen des Dog ma⸗ 
tismus, zu dem auch der Stepticismus, als negativer Dogmatis⸗ 
mus, zu rechnen ift, nennen mag) betrifft eigentlich die Thaͤtigkeit des Ver: 
ftandes überhaupt, um Wiffenfhaft zu Stande zu bringen ; er betrifft 
die Negeln der Kunft, mie aus der gemeinen Erfahrung Wiſſenſchaft, 
als ein fuflematifches Ganzes, zu machen ſei. Der einfeitige Ratio- 
nalismus verlangt hier, daB man von der Einheit und Nothwen⸗ 
digkeit, als conflitutivem Princip, ausgehen follte, aus dem fich alles 
Wiſſen müjle entwideln laffen. Der Empirismus hingegen erkennt 
als einziges conftitutived Princip die Mannigfaltigkeit der finnlichen An⸗ 
ſchauung an. Beiden ftellt fih der Kriticismus entgegen, welcher 
von gar feinem Princip ausgeht, fondern durch bloſe Requlative als 
heueiftifche Ideen das Intereſſe der beiden entgegengefesten conftitutiven 
Principien vereinigt. Es ift allerdings Grundgefeb unſrer Erfenntniß, 
daß alles Mannigfaltige unter Gefegen der Einheit und Nothwendigkeit 
zufammengehört, aber unfre Erkenntniß geht einzig von ben vereinzelten 
Anſchauungen in der Empfindung aus, für fie ift die Erfahrung, und 
für die Erfahrung ift die finnliche Affection, alfo der Quell der Man 
nigfaltigkeit, das Exfte und Unmittelbare. Erſt in der Wiffenfchaft, d. h. 
unter ben logifhen Kormen der Meflerion, und mittelbar durch Be: 
geiffe, Urtheile und Schlüffe, innen wir dieſes mannigfaltige Einzelne 
unter die allgemeinen Gefege der Einheit befaffen. Es ift allerdings 
ein Gefes für alle unfere Erkenntniß: baß alles gegebene und irgend zu 
gebende Mannigfaltige unter Formen der Einheit und Nothwendigkeit 
zufammengehört. Aber diefe Einheit und Nothmendigkeit ift uns nicht 


- 9 „Die Kritik verhält fihzur gewöhntihen Schulmetaphyſik gerade 
wie Ghemie zur Alchymie, oder wie Aftronomie zur wahrfagenden Aftcologie. 
IH bin baflr gut, daß Niemand, ber die Grundfäge der Kritit auch nur in 
diefen Prolegomenen durchgedacht und gefaßt hat, jemals wieder zu jener alten 
und ſophiſtiſchen Schulwiffenfchaft „gurüdtchten werde, vielmehr wirb cr mit 
einem gewiflen Grgögen auf eine Metaphyſik Hinausfehen, bie nunmehr aller: 
dings in feiner Gewalt ift, auch keiner vorbereitenden Entdeckungen mehr be: 
darf, und die zuerft der Vernunft dauernde Befeiebigung verfchaffen kann. 
Alle falfhe Kunſt, alle eitele Weisheit dauert ihre Zeit, denn endlich zerftört 
fie ſich ſeibſt, und bie hoͤchſte Cultur derſelben ift zugleich der Zeitpunci ihres 
Unterganges”. Proleg. z. Metaphyſ. 


»*) Fries, pol. Schrift. I. S. 388. Krit. d. 8. I. 15. 





mi A In in 








bleiben, weiche nur eime ner Em ge Mar 

Einzelnen. b il, 

en — vn Bam — Be 
migaligen lien ia 


and vorauszufegenden: Productes der Speculätion;, durch 
metches die iſſenſchaft ze —— indem man davon ab⸗ 
litet geht ber —— Kun ‚einer Aunmittelbaren Beurtheilung 
dev Erfahrung ſabſt aus. : Auf * Boden! det erregen 
find mir Alte einheimiſch und bekannt, auf, dieſem find wir meiftentheifs 
einverftanden und wiffen uns einander. verflänblich zu machen. ı — 
gibt es alſo eine empiriſche Wahrheit, deren air‘ — ſind, und von 
der wir ausgehen koͤnnen / um zur Speculation zu gelangen. Dleſes ift 
zugleich das Ahr‘ Sotratifce Verfahren, deſſen Mefen —— 
in ber dialogifchen Fotm, = darin beſteht don dem unmittelbar 


Gegebenen der Erfahrung concteten Beutthellungen im 
— —— und durch — unſerer Fon rar 


Kant und die Kantiſche Philoſophie. 208 


remen Kantianismus zurkdzulommen*). Wir koͤnnen biefe kri⸗ 
tifhe Methode, ‚melde aller philofophifchen Geheimnißfrämerei, 
allem Monopol fpeculativer Großhändler ein Ende und die Philofophie 
zur Sache der inneren Erfahrung, mithin jedem Gebildeten zugaͤnglich 
macht, zugleich ale eine von dem Geiſte der neuern Zeit hervorgerufene 
und ihn felber mächtig fördernde anfehen, indem fie die große Sache 
der Emancipation, ober das aͤcht demofratifhe Princip (im 
Gegenſatz des autofratifchen und ariftotratifchen) auch in diefer Hinſicht 
geltend madıt, wie Kant felbft ausdruͤcklich von feiner Kritit der Ver⸗ 
nunft es ausgeſprochen **). 
Was fodann das Verhaͤltniß der Kantifchen Phitofophie zu dem Gange 

dieſer Wiſſenſchaft betrifft, fo zeigt fich auch hier eine durdhgreifende Ana- 
logie zwifhen Kant und Sokrates, wie biefed befonders neuer: 


) Sries, polemifhe Schriften &. 257. Bgl. deſſ. Sufl.d. Logik am Schluſſe. 
”*) ‚Bei diefer wichtigen Veränderung im Felde der Wiffenfchaften, und dem 
Beriufte, den fpeculative Vernunft an ihrem bisher eingebilbeten Befige er- 
leiden muß, bleibt dennoch Alles mit der allgemeinen menfdlichen Angelegenheit 
und dem Rutzen, den die Welt bisher aus den Lebren ber reinen Bern 208, 
in demfelben vortheühaften Zuftande, als es jemalen war, und der Berlu 
teifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Intereffe 
der Menſchen. Ich frage den unbiegfamften Dogmatiter , ob ber Beweis 
von der Fortdauer unferer Seele nach dem Tode aus der Ginfachheit ber Sub⸗ 
fang , ob der von der Freiheit des Willens gegen den allgemeinen Mechanismus 
duch die fubtilen, obzwar ohnmädhtigen Unterfcheidbungen fubjectiver und ob« 
jeetiver praftifcher Nothwendigkeit, oder ob der vom Dafein Gottes aus dem 
Begriffe eines allerrealftien Beſens (der Zufälligteit des Beränderlichen,, und 
der Rothwendigkeit eines erſten Bewegers), nachdem fie von den Schulen aus: 
gingen, jemals haben bis zum Publicum gelangen und auf deffen Weberzeugung 
den minbeften Einfluß haben können? Iſt diefes nun nicht gefchehen, und kann 
es auch, wegen der Untauglichkeit des gemeinen Meenfchenverflanbes zu fo fub: 
tifer Speculation niemals erwartet werben; hat vielmehr, was das Erſtere be: 
trifft, die jebem Menfchen bemerklihe Anlage feiner Natur, durch das Zeitliche 
(as zu den Anlagen feiner ganzen Beflimmung unzulaͤnglich) nie zufrieden ge: 
flellt werden » önnen, die Hoffnung eines Eünftigen Lebens, in Anfe: 
Yung des Zweiten die blofe Klare Darftelung der Pflichten im Gegenſatze aller 
Anforüche der Neigungen das Bewußtſein der Freiheit, und Arte was 
das Dritte anlangt, die herrliche Ordnung , Schönheit und Vorſorge, die aller: 
wärts in der Natur hervorblickt, allein den Blauben an einen weifen und gro: 
Sen Selturheber, die fi) auf's Yublicum verbreitende Ueberzeugung, fo: 
fern fie auf Sernunftgründen beruht, gang allein bewirten müffen : fo bleibt ja 
atcht allein diefer Beſitz ungeſtͤrt, fondern er geminnt vielmehr baburch noch 
an Anfehen, daß die Schulen nun mehr belehrt werden, ſich keine höhere und 
audgebreitetere Einficht in einem Puncte anzumafen , der die allgemeine menſch⸗ 
liche Angelegenheit betrifft , als diejenige iſt, zu der die große (für uns adhtungs: 
wuͤrdigſte) Menge auch eben fo leicht gelangen kann, und fich alfo auf die @ul: 
tur diefer allgemein faßlichen und in moralifher Abficht binreichenden Beweis: 
nde allein einzufchränten. Dic Beränderung betrifft alfo blos die arroganten 
nfpräce der en, die fich gern hierin (wie fonft mit Recht in vielen andren 
Stüden) für die alleinigen Kenner und Aufbewahrer folder Wahrheiten möchten 
alten laſſen, von denen fie dem Publicum nur den Gebrauch mittbeilen, den 
chläffel derfeiben aber für ſich behalten (quod mecum nescit, solus vult 
scire videri).“ Worr. 3. 2. Ausg. d. Krit. d.r. B. 





h 2 Sokratiſche darin bewies, 
fen, altes philoſophiſches Material zu neuen Zweden zu benugen und 
dadurch auch wieder neuen Stügen zu verfehen. Die 
Kantiſche Philofophie erfheintfhon jest als die Durdh- 
——— alte wa vor — nad ihm. 
u men ‚um entgegenge| chtungen wieder 

ufteömen. eriebifchen Jr 


einen Begriffen 
halb a lichen Erfahrung) zu begründen, umb ift 


in anderer „daraus wieder hervotgeſtrͤmt als eine aus Begrif⸗ 
fen conſtruirte Schelling’fhe J welche aus dem 
Utquell des hoͤchſten die 


eibung unferes Vorftellungsfages HE eingegangen in te als 
Em Sharing un Conny dr vefng Grant, 6 da 


BE... 


Kant und die Kantifche Hhiloſophie 205 


Abftoßungsfräften, unb ift wieber baraus hervorgegangen als eine 
Oken'ſche Naturphilofophie, welche von ben erſten Anziehungen ber 
Atome an bis in ben Organismus des denkenden Gehirns hinauf den 
Act eines einzigen ſich vollziehenden Selbftbewußtfeins nachweiftt. Die 
Lehren bed Grotius und Hobbes find in’s Kantifhe Syſtem ge: 
drungen. ald Idee zu einem Maturrecht, und find bereichert und ver: 
wanbeit wieberum daraus hervorgetreten als Staatslehren, durch welche 
Männer, wie Degel und Krauſe, das deal der Platonifchen Re⸗ 
publik zu übertreffen fuchten. Der mit Ab dlard angefangene theo⸗ 
logifche Rationaliemus, welcher den Glauben aus der aͤußeren Auto: 
rität in die innerliche Autorität des eigenen Gemuͤthes hinüberpflanzte, 
ift in die Kantiſche Philofophie eingekehrt als eine Religion innerhalb 
der Grenzen der blofen Vernunft, und ift wieder andersgeſtaltig dar⸗ 
aus hervorgetreten als ein Glaube, welcher feine Dogmen aus den Er- 
regungen und Empfindungen des eigenen Herzens empfängt, wie er 
von Schleiermacher am Gluͤcklichſten und Wirkſamſten ift vertheidigt 
worden. Mit einem Worte, das Kantifche Spftem ift bie Pforte, 
duch ‚welche Alles aus: und einftrömt, was die philofophifche Welt 
vor und nad in Bewegung gefest bat, die univerfelle geiftige Boͤrſe, 
wo ſich alle Ideencireulation concentrirt, um von dort fi) in aͤußer⸗ 
fin Weiten wiederum zu verlieren, das philofophifche London, welches 
feine Schiffe in alle Weitgegenden ausfendet und wieder zurkdinimmt, 
und für welches kein unbefuchter und unbenußter Drt auf dem Erb- 
ball. dee menfchlichen Begriffe eriftict, den es nicht bei feinen Weltum⸗ 
fegelungen und Irrfahrten begrüßt und colonifirt hätte.‘ 
In Beziehung auf die neueften Syſteme der Philofophie ins⸗ 
befondere iſt es ebenfalls eine ganz richtige Bemerkung, daß die Philo: 
ſophie des heutigen Tages einem mannigfachen Ausbau von Kammern 
und Bellen gleicht, die zufammen ein ſchwer Überfhaubares Ganzes 
bilden, von denen jeder der neuen Philofophen nur einen Slügel bes 
Gebäudes inne hat, das im Grundriß aber von Kant conſtruirt ifl, 
und daß fih Niemand nad ihm gefunden bat, der ſich als Derrfcher 
bes Ganzen gezeigt hätte, wogegen, leider! gerade die große Anſchauung 
dieſes Ganzen, wie fie Kant befaß, eigentlich verloren gegangen ift. Die 
Nothwendigkeit, auf die Kantifche Vernunftkritik zuruͤckzugehen, wenn 
man ſich in ber heutigen philofophifchen Welt gründlich orientiven will, 
braucht ‚nicht bewieſen zu werden; fie iſt jetzt allgemein anerkannt. 
Schon vor 30 Jahren fagte Fries*) — ber bebeutendite unter allen 
neuen Philofophen, die auf der von Kant vorgezeichneten Bahn ge: 
blieben und in feinem ‚Seifte, namentlih mit Anerkennung des Pri- 
mats ber fittlichen und veligisfen Intereſſen, die Philofophie ſelbſtſtaͤn⸗ 
dig fogtgebildet haben —: „Im. Kant wenbete feinen ausgezeichneten 
Zieffinn ein langes Leben hindurch auf die Kortbildung der Philofos 
phie — da verfteht es fich eigentlich von felbft, dag wir Züngeren bis - 


*) Am Schluſſe feines Syſtems der Logik, 





Kurt. und die Rewilche Philofophie. 809 
diam iheer Serie wich ſich immer von alten Serten.auf Kant 


seht gegen Kat. und 3 np für Lelbnig — erkennt dieſes in 


—2 der Meiſten, wenn wir mit Im. Kant den Brain ber: 
fegen. Denn indem zugeflanden werben muß, daß wir biefem 
gervaleigen Geiſte entfchieden die Richtung verdanken, die die Philboſo⸗ 
in neiserer Zeit genommen, fo tft eben damit zugleich bezeichnet, 
nur die in ihm niebergelegten Anfänge im weiteren Verfolgen aus: 
ibiidet terben konnten nach einer oder der andern Seite bin; daß 
alfo nothwendig von ihm auszugehen fei. Und in der That, Nachfol⸗ 
ger wie Gegner wurzeln in ihm, und 'auf Beide übt er auch je zt noch 
den: entfchiebeniten Einfluß; z am Meiften aber da, wo man, mit unbe: 
ſtimmtem Triebe irgend ein Beſſeres fuchend, oder auch blos aus Sehn⸗ 
des Neuen, überhaupt nur ſich ihm entgegenſtellen zu muͤfſen 
meint, - ohne durch ihn feiber ein wahrhaft Hoͤheres und wiſſenſchaft⸗ 
fidy Durchgebildetes erreichen zu koͤmen. Und fo iſt auch jebt noch ge: 
tade da Tem Einfluß am Staͤrkſten, wenn auch verborgener, wo man am 
'unbedingteften deifelben ſich entzogen zu haben ginubt.” 

Mit diefen legten Worten meint Fichte ohne Frage bie Be: 
gel'ſcher Schule, in der es biäher Mode war, auf den Kantiſchen 
Stundiiiniet, als ben unkergeordneten des blos Eritifirenden -abftratten 
Berffandee,. von dem angeblich hoͤhern der -fogenannten concteten 
Bernehftioahtheit vornehm :Sernbzufehen,, ja auf Kant ſelbſt zu ſchim⸗ 

Man ging unter Anderen in dieſer Schule fo weit, daß man 
die —* Philofophie für total beſeitigt und abgethan erklaͤrte, und 
den Umſtaud, daß der (allerdings geiſtreichſte und vielfeitigfte) Hegelia⸗ 
ner Rofenkranz an Herbarr's Stelle kam, dahin deutete, Herbart, als 
er ‚leute Kantianer,“ "habe durch Roſenktanz von Königsberg vertrie⸗ 
berz werden muͤſſen, auf daß wun die wmbebingte Dertfchaft ‘der neusten 
“ ofopbie bes Unbedingten auch auf dem eigenen Lehrſtuhle Kant's 
1 NG neiget 2 Aber dieſe Abſurditaͤt hat bereite ſich geraͤcht. Denn chen 


J 


*) Meiträge 3. Gharakteriſtik d. neuern Philoſ. 1829. ©. 29. | 
a 


—— Leben d ſ. Sohne 1825, ©. 41.: t zu Tage 
eutblddet ne Re tteimäßigteit nicht, gegen Kant’s beralunär: 
digend * einem vornehmen Zone von dem nicderen Stantpuncte, 
aut dem er Era geblieben, unb von dem Bielen, was er wie blind überfes 


keck auczuſprechen: kd Kant’ Bere l 
— en. Dh ER eine fo *umverfhämte Aeußerung —— be, Yas 
eros zu verkünden, welcher die Fortfchritte in ber intellectuellen "Sul: 
auch ber Mittelmäßigkeit zu Gute kommen, herbeigeführt und deflen 
Ki e die — — tt ‚mar Makler a ermödten, auf 
Biife ‘ er ihnen o e und jenes ein⸗ 
8* wird, was er dem lee ihres Führers um ' —* ſich noch verhuͤllt 





Roſenktanz*) hat ja bie seine der ‚beiden: jetzt ‚gleichzeitig: erfhienenen 
Gefammtausgaben ber Kantifhen Werke beforgt ‚und. hierdurch allein 
ſchon einen vollgältigen «Beweis feiner Anerkennung Kant's gegeben, 
und: nod) »beflimmter erkfdet -fich ganz meuerdings ein namhafter ji 

ger: Degelianer.**) in dem literariſchen Organ diefer Schule ing) 

chem Sinne über die. hohe, Bedeutung ‚dev Kantiſchen Philoſophie, in- 
dem er ſagt (S. 812), man thue derſelben fehr- untecht, ‚wenn, man 
fie in das kahle Reſuitat, daß das. Denken die Wahrheit ‚nicht erfen- 
nen koͤnne, zuſammenfaßt, und. hierüber den ‚Bang ber. Unterfuchung, 
die Fülle von fpeeulativen Gedanken, die Tiefe des Princips vergißt. 
Derfelbe fügt dann bei dev Nachweifung,, wie die Philofophie , ‚obwohl 
nothwendig auf, fubiectiver Freiheit. und: Selbftftändigkeit des Denkens 
beruhend, dennoch die objectiv göttliche Wahrheit fehr wohl in ſich auf: 
nehmen and. diefe dann mod) reicher enthüllen kann ‚und ſoll, die Worte 
hinzu, mit, deuen wir dieſe Exörterungen ſchließen wollen, da in 
ihmen ‚recht paſſend «zugleich «der allgemeinere Einfluß Kant's 
auf unſere Beit angedeutet ift: „Auch die Kantifhe-Phi- 
tofopbieift cin dieſem Procefje, bes, Erkennens eine wefent- 
tie Stufe; fie hat, mie fie vorbereitet war. durch die Vergangen- 








Kanzleifäffigkeit. 208 


Kanzleifäffigkteit (Schriferäffigkeit). Zu dm Ins 
flituten,, die manche Rechte des Adels einzelnen Stänbeclafien geben; 
gehört die Kanzleiſaͤſſigkeit. Man begreift darunter das Vorrecht, nur 
den höheren‘ Auftizcollegten des Landes unterworfen zu fein. Se nach: 
dem nun dieſes Vorrecht ſich auf dingliche (3. B. Güterbefig u. dergi.) 
oder perfönliche (Aemter, Stellen und Dienfte) Verhaͤltniſſe gründet, 
heißt die Kanzleiſaͤſſigkeit dingliche oder perfönliche. Der Gegen» 
fag der Kanzlei⸗ oder Schriftfäffigkeit ift die Amtsſaͤſſigk eit. Was 
amtsfäffig iſt, fleht unter dem gemöhntichen Richter, dem Unterrichten, 
dem Amtmann, Stadt: oder Lanbrichter. 

Das Inſtitut der Kanzleifäffigkeie ft fehr alt. Die im Lande 
wohnenden Edelteute fanden unter den Landgerichten, deren Bei⸗ 

ſitzer fie theilweiſe felbft waren, und aus welchen fpäterhin die Hofge⸗ 
richte wurden. Nachdem die Landesherren, wie der Kaifer den Reichs⸗ 
bofrath, Häufig noch neben dem Hofgerichte eine Juſtizkanzlei, Regierung, 
Regierungskanzlei eingeführt hatten, und biefen gleichmäßige Gerichte: 
barkeit beigelegt wurbe, waren die Edelleute dem einen ober andern bies 
fer Gerichte, worunter der Kläger die Wahl frei hatte, untergeben. 
Aber auch bie im Lande belegenen Güter theilten ſich in amtefdffige 
und Eanzleifäffige. Die eriteren beftanden aus folhen Gütern, melde 
nicht in der ritterfchaftlihen Matrikel verzeichnet waren, fondern , obs- 
gleich zeitweiſe von Edelleuten befeffen, von Bürgern ober Bauern her» 
rührten. Unter den Eanzleifäffigen Gütern dagegen verfland man die 
Ritterlehen oder auch die Erbguͤter, welche in der ritterfchaftlichen Ma⸗ 
trikel eingetragen waren. Nicht meniger waren in mandyen Städten 
einzelne Häufer — fogenannte Freihäufer — von ber Gerichtsbarkeit ber 
Magiſtrate ausgenommen. Ferner waren alle landesherrlichen Kammer: 
güter vorzugsweife Banzleifäffige Güter, es mußten denn diefelben ebens 
false von Bürgern oder Bauern angelauft fein. Wenn unmittelbare 
Reichsguͤter auch mitten in einem Gebiete eines beutfchen Reichsfürften 
lagen, fo blieben diefe doch eben ſowohl als bie fie befigende reichsfreie 
Ritterfchaft blos den Reichsgerichten unterworfen. Ein unmittelbarer 
Reichsadelicher aber, welcher fich in eines andern Landesherrn Dienft 
begab, war ein Unterthan und fand, wenn er gleich außer Landes wohnte, 
unter den Obergerichten des Landes. Gleiches gefchah mit dem unmit⸗ 
telbaren Reichsadelichen, der Lehengüter in einem fogenannten gefchlofs 
fenen Lande erwarb, nicht allein in Anfehung jener Güter, fondern 
auch in perfönlichen Klagen”). | 
| Noch mannigfaltiger entwickelte ſich die perfönliche Kanzleiſaͤſſig⸗ 
keit. Dem bereits Sanzleifäffigen Edelmanne ſchloſſen fich da die herr⸗ 


*) Zu den gefchloffenen Länbern gehörte: Defterreich, Böhmen, Schle⸗ 
fen, die Laufis, Baiern, die Obers und Unterpfalz, Sachſen die Mark Brans 
enburg und Braunſchwei ‚eünebung: Ungefhloffene Lande und Reiches 
arm der feäntifhe, ſchwaͤbiſche, vheinifche, wetterauifche Kreis uind 


Staats⸗Lexikon. IX. 1& 


210 Sanzteifäfigkeit. 


ſchaftchen, ſowohl wirklichen als titulirten Diener, die Doctoren und 
ya privilsgirte Perfonen an, deren Specification durch das Beſtre⸗ 

der Vormehmen, ben eigenen gerichtlichen Nimbus zu erhöhen, in 
dem fie ihre Untergebenen, vis & vis bem Bürgers und Bauerſtande, 
daran Theil nehmen ließen, bunt genug ausfiel. Go waren auch 
fopriftfäffig: die abelichen Gerichtshalter, Hausferretäre, Informatoren 
und Sranzöfinnen. Unterförfter, untere Gteuereinnehmer, Pächter von 
hertſchaftlichen Vorwerken, welche nicht charakterifist waren, und Pofte 
halte auf dem Lande ober in amtsfäffigen Städten, ausgenommen 
in Pofts oder Offictalfachen, waren amtsfäffig ; mogegen bie Poftmeifter, 
Gomptoicofficianten und Poſtverwalter in den Städten ſich ber Kanzleis 
fäffigtelt erfteuten. Eben fo ftanden die bei einem Obergericht in wirt: 
lichen Dienſten befindlichen Perfonen, vom Oberften bis zum Unterften, 
unter jenem Obergerichte. Die proteftantifchen Mediatſtifter waren den 
Dbrrgerichten unterworfen; bie einzelnen Glieder derfelben aber häufig 
den eigenen Stiiftsgerichten. Die Städte waren theils Fanzleis, theild 
amtsfäffigs das Exftere jedoch häufiger. Die Magifttatsperfonen ftanden 
unter dem Magiftratz der Bürgermeifter jedoch meift unter den Kanye 
lien. Die Advocaten und Procuratöcen waren bald Tanzleis und bald 
amtsfäffig. Desgleichen fand ſich bisweilen die Kanztifäfigeit durch 
befonderen Gnadenact ertheilt. 

Außer dem ausgezeichneteren Gerichtsſtande hatte bie Kanzleiſaͤſſigkeit 
aud wohl noch andere Vortheite im Gefolge (3.8. hinfichtlich der 
Steuerbeitreibung, der Heitathsconſenſe, der Confeription, der Bulaffung 
zum Stubicen u. ſ. w.). 


Man hätte annehmen fellen, baß die feit 1789 aud mehr und 
mehr in Deutfchland ſich verbreitenden Gleichheitsideen, zumal über bie 
Idee der Gleichheit des, Rechts, das Inſtitut der Kanzleifäffigteit in 
dee Wurzel hätten angreifen muͤſſen. Eben fo fonnte die Auflöfung des 





Karzleifäffigkeit. al | 


lich getbefette — Gerichtsſtand ber Dienftboten, in fo fern fie ſchrift⸗ 
ſaͤſſige Hertſchaften haben, fchon ſeit mehreren Jahren aufgehoben. 

&8 teischtet ein, daß ein vernunftgemäßer Mechtszuftand vom In⸗ 
ftitute der Kanzleifäffigkeit unmöglich etwas kann wiſſen wollen, und daß 
die 3 der meiften beutfchen Verfaffungen : Alle Staatsbuͤrger 
felen vor dem Geſetze gleich, auf fo Lange nur eine halbe Wahrheit tft, 
als die Peoceßordnung noch zroifchen den Perfonen Ausnahmen macht 
und nicht bios zwiſchen den Sachen (Proc: Dbjecten). Eben fo 
verlangt ber conflitutionelle Srundfag einer gleichen Befteuerung, ba im 
ben verſchiebenen Inftanzen verfchiedene Stempel ober Gerihtstaren gel 
ten, die Aufhebung einer Einrichtung, weiche die Meiſten, die fie begaͤn⸗ 
fligen ſoll, nicht einmal mehr in der Vorftellung gluͤckllch macht. Die 
Ausnahmen, die dabet Statt fänden, wuͤrden dann noch bie Mitglieder 
der fuͤrſtlichen Familie und, nach ber beutfchen Bundesacte, die Stan 
desherren uinfaſſen. Man wuͤrde fich damit aber Immer noch nicht voll 
ftändig den in Frankreich geltenden Principien angefchloffen haben, welche, 
obgleich die Pairs hinfichtlich ihres Gerichtsſtandes privilegirend, doch Die 
Herzogin von Berry 1832 eigentlicdy den Geſchworenengerichten bes Lan⸗ 
des zur Aburtheilung zugewieſen hätten. 


Die faſt völlige Aufhebung ber Kanzleiſaͤſſigkeit wuͤrde vorausfichtiich 
eine beflere Einrichtung und Belegung ber Untergerichte, fo mie ein geb» 
eres Raumgeben für Richters Collegien, je nad ber Wichtigkeit ber 
yor ihnen zu verhandelnden Sachen, zur Kolge haben und ſonach auch 
in diefen fo wichtigen Beziehungen vom weſentlichſten Nugen fein. Wirk 
lich find wir auch nicht ohne pofitive Spuren, daß die bevorftehenden beuts 
Then Gefesgebungen in jenem alten Wuſte mit ber Zeit gar nicht mehr 
barmonirenber Lächerlicher Standesvorurtheile bedeutend aufraͤumen wer⸗ 
ben. Wentoftens haben ſich die beiden Kammern des Großherzogthums 
Heſſen 1836 vereint und einflimmig bahin ausgefprochen, daß bas In⸗ 

itut der privilegirten Gerichteftände, „mit Beruͤckſichtigung erworbener 
te,” im. der neuen Gefeggebung aufgehoben werben folle, während 
man noch 1817 Seitens der Geſetzgebungscommiſſion und der Staatsregie⸗ 
ung beabfichtigte, das Privilegium der Kanzleifäffigkeit, „als Folge einer 
in der unterften Inſtanz nicht colleglalifch verwalteten Juſtiz,“ auch in 
ber Provinz Rheinheſſen demnaͤchſt einzuführen. Jenes „mit Berüds 
fichtigung erworbener Rechte“ Hatte der Ausfchußbericht der. großherzog⸗ 
lc, beffifchen erften Kammer dahin praͤciſirt, daß der privilegirte Gerichts⸗ 
fand der Prinzen bes Haufes und der auf befonberen erworbenen Rechten 
beruhenden Gerichtsſtaͤnde, „als der Standesherren u. ſ. w.“, beftehen 
bleiben ſolle; — wo dann möglicher Weife diefes „und fo weiter” und bie 
Begriffebefiimmung von ‚erworbenen Rechten” demnaͤchſt noch allerlei 
Schwierigkeiten unterliegen kann. 

Berwandt mit bem Inſtitute bee Kanzleiſaͤſſigkeid, obgleich auf ans 
deren hiſtoriſchen und rechtlichen menten berubend, find bie befrei⸗ 
ten Gerihrsftände: 1) in Anfehung der Pperſonen und 2) ganzer 








Mae 


 Kaften nenne man Stänbe, 


—— aan Bin Su — F 


ige u ee N 
* Di Saftene ntheif: — Voͤltern * Walt Ihr 
——— 
J—— mi dat je 


ber Unmädhtigen wi in Gefeb und Vor| 
"Stimm von Höhere Bildung ober g \ 
— Urbemohnern — And 
jafteneinrichtung zu gründen und die Urbewohner deren 
— einnehmen zu — entweder förmliche Unterjod ng, ober Cultur⸗ 








Diefer kam ih) dann ein verehrungsvolles und 8 — 
hen gern entgegen. east — 
Fan en 

igften in ——— bung — — 


tag, und der Volts-Wille faſt noch Beine Gelegenheit hatte 
Mat. 


— — in fo weit fie nicht dutch 
aa Ste a ES 
NE Bau sl Mohn rei 


Bas 





Kaſten, Kafteneinfheilung. 213 


irgend eine Hoffnung von Erfolg Hin, fich zu entfalten. Und fo fehen 
wie denn 3. 3. in Indien, wo die Kafteneinrichtung ſchon vor Jahr⸗ 
taufenden auf Zrabditionen hin beftand, noch heute theilweife ähnliche 
Verhaͤltniſſe forterben, mährend anderwärts, 3. B. in Aegypten, furcht⸗ 
bare Stürme ber Zeit nöthig waren, um mit ben Bevoͤlkerungen und 
ihren Verhaͤltniſſen auch den urfprünglichen Typus jener Kafteneinrich- 
tung um und um zu fehren. Nicht aber blos mit einer entfernte: 
ren Vergangenheit und demjenigen, was fie ber Jetztwelt an ſtklaviſch⸗ 
büfterer Erbſchaft hinterließ, haben wir hierbei zu thun. Wo keine, 
Kaften im engften Sinne des Wortes waren, fanden ſich body 
häufig kaſten maͤßige Einrihtungen felbft in Jahrhunderten vor, 
wo der Geift des Chriftenthums und eine fortgefchrittene Civilifation 
entfchiedenere Gleichheit, nicht nur vor Gott, fondern aud vor den 
Menfchen hätten predigen folen. Ja noch jest, und zwar mehr ale 
fhon zu anderen Zeiten Statt gefunden, macht ein Kaften-Geift in 
den, meiften Theilen Europas fich geltend, welcher wie ein giftiger 
Mehlthau entweder die. Blüthen am Staatenbaume unferes Jahrhun⸗ 
derts bedroht, oder wirklich diefelben bereits zum Wellen gebracht hat. 

Selbſt bei den Peruanern und Mericanern zeigen fi, nad) 
den von Clavijero gefammelten Nachrichten, einige Spuren ber Kaften- 
einrichtung; Im Driente hauptfächlich aber iſt fie feit den aͤlteſten 
Zelten gegründet worden. So gab es bei den Perfern fchon vor 
Zoroafter eine Atheilung in vier Kaften: Priefter, Krieger, Aderleute 
und Gewerbetreibende. Die Priefter oder Magier, mie fie bier bie 
fen, waren ein urfprünglich medifher Stamm und vom größten Ein- 
fluffe. Ihnen lag allein die Beobachtung der heiligen Gebräuche ob, 
fie allein waren im Befige der Gebetsformeln, mit denen Ormuzd ver: 
ehrt ward, und kannten die Opfergebraͤuche; nur durch fie Eonnte man 
daher Gebete und Opfer darbringen. Auch glaubte man, daß ihnen 
Blicke in die Zukunft vergönnt feien. Ueberhaupt fanden fie dem Koͤ⸗ 
nige als Rathgeber in feinen heiligen und weltlichen Verrichtungen zur 
Seite. — Aehnliches erzählt Herodot von den Medern. | 

Nirgends aber war die Kafteneintheilung fo ausgebildet und fo 
ganz die Grundlage der gefellfchaftlichen Einrichtung, als in Aegypten 
und Indien. 

An Aegypten zählte man urfprünglich fieben Kaften. Die Prie: 
fterkafte war die edelfte und reichfle; der größte und ſchoͤnſte Theil ber 
Ländereien Ihr Eigenthbum. Doch befchränkten fi Beruf und Beſchaͤf⸗ 
tigungen biefer Priefter keineswegs blos auf den Dienft der Götter, 
fondern umfaßten die ganze höhere Cultur ber Nation. Sie waren im 
Beſitze aller wiſſenſchaftlichen Kenntniffe, waren Richter, Aerzte, Bart: 
meifter, kurz Alles, was befondere Bildung des Geiftes und eine Aft 
von Gelehrſamkeit vorausfest. Auch ben Königen ftanden fie als Rä- 
the zue Seite, und da biefe in Zeit und Einrichtung der Staatsge- 
fhäfte, der gottesbienftlichen Gebräuche und bes häuslichen Lebens an 
ſehr genaue religioͤſe Vorſchriften gebunden waren, fo befanden fie Ti 





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Kaften, Kaſteneintheilung. sis 


and in bem Geſetbuche Menu's, werben die Kaften erwähnt. Es gibt 
bei den Indern vier Hauptkaſten: 1) die Brahmanen ober Priefterg 
2) die Kſchatrijas oder Krieger, auch Kettries und Tſchettries genanntz 
3) die Weisjas (Vaiſyas) oder Gewerbetreibenden, worunter Handels⸗ 
leute und Ackerbauer verſtanden werden, und 4) die Sudras oder Die⸗ 
nenden, wohin Handwerker, Aufwaͤrter und kleine Kraͤmer gerechnet 
werden. Die vierte Kaſte iſt wieder in viele Zuͤnfte getheilt; und durch 

eirathen ber Mitglieder verſchiedener Stände entſtehen eine Menge 

wiſchenſtaͤnde. Die Brahmanen, d. i. Abkoͤmmlinge und Verehrer des 
Gottes Brahma, bilden ben erſten und einflußreichſten Stand, deſſen 
Btieder heilig und unverleglih find. Sie find die Priefter, Lehrer, 
Wellen der Nation, Raͤthe des Königs, Richter, Aerzte. Ein ſtrenges, 
tabellofes Leben wird yon ihnen gefordert, fie follen oft faften und bes 
ten, nichts Lebendes tödten oder genießen, hoͤchſtens geweihtes Opfers 
fleiſch. Vor Atem follen fie fih dem Dienfte der Religion widmen, 
bie heitigen Bücher eifrig leſen und erklaͤren und bie Opferceremonien 
verrichten. Doch iſt dieſes nur ihe Hornehmfter Beruf, nicht ihr aus⸗ 
ſchließlicher. Vielmehr ift es ihnen erlaubt, fich durch jedes ehrbare Ges 
(häft ihrer Unterbalt zu erwerben; daher fie in großer Anzahl weltliche 
Beſchaͤftigungen ergreifen. Zu ihren anfehnlichften Vorrechten gehörte 
die Abgabenfreiheit für ihre Ländereien, während die aller übrigen Scänte 
bem Könige ſteuern mußten. — Die Könige der alten Inder waren 
aus dei Kriegerkaſte; aber das Geſetz fchrieb ihnen vor, Ihre vornehms 
ften und oberften Diener aus der Brahmanenkafte zu wählen. Durch 
die Priefler und bie von Ihnen ausgegangenen umfaflenden Gefege war 
die koͤnigliche Gewalt beſchraͤnkt. Wenn die Priefter und Krieger dfe 
mächtigften Kaften bildeten, fo twaren die Vaiſyas doch keineswegs zus 
ruͤckgeſezt. Beſonders enthält das indifche Geſetz für die zu ihnen ges 
hörenden Kaufleute und Aderbauer günftige Vorſchriften. Handet, 
Aderbau und Viehzucht find die vorherrfchenden Neigungen bed Im 
dere. — Dagegen waren die Sudras zwar nicht von ber Ausübung 
eines Gewerbes, Handwerks oder einer Kunft ausgefchloffen, jedoch wat 
zroifchen ihnen und jenen drei höheren Kaften eine wefentliche Verſchieden⸗ 
heit geſeßt. So war es ihnen z. B. unterfagt, bie heiligen Religions 
bücher zu lefen, ober dem Vorleſen bderfelben beizumohnen. 

Was die außerhalb der indifchen Kaften befindliche Abtheilung 
dee Paria's betrifft, fo hat namentlich Delavigne's Tragoͤdie: der 
Parta, und ein aͤhnliches deutſches Stud von M. Beer, fogar bie bel⸗ 
letriſtiſche und Theaterwelt auf diefe ſtaatsrechtliche Inſtitution In⸗ 
diens hingelenkt. Aber die mancherlei Unrichtigkeiten in jenem erſtge⸗ 
nannten Stuͤcke und in ben Urtheilen der Pariſer Journale darüber 
gaben zugleich einem alten Seefahrer, Hrn. Joſeph, Gelegenheit, in 
feiner Schrift: „Les oastes de l' Inde ou lettres sur les Aindous eto, 
Paris, 1822”, dieſelben zu berichtigen. Darnach HE die indiſche Eins 
wohnerabthellung, weiche auf der‘ Küfte von Coromundel Pariq, auf 
der Kuͤſte von Malabar Poulla ober Poulichi, und im Innern und 


im Norden Indiens, ſo wie an ben: Ufern des Ganges anders heißt; 
eine ‚erin, ———— Eben! ——— 
enge ae 6 mit den Angehörigen ber 


‚vier 
———— ann ein. Brahmane, * — andere Din 
bow, kn, ara (ine feiner Wohnung, mit —— —— in Benehmen tre⸗ 
gen, und, von da zurüdtehrend , iſt er unden, Ban 
(Das fpeiht-alfo doch. baflie,- daß die. ——* der 
ihr. biofer Anblick "verunseinige, heute mod) nicht Nob legal; — 
aud, ſoctal in Judien gilt): Eben ſo mag, nach Herrn Joſeph's 
vorkommen, daß ein Brahmane einen 


Verſicherung, ‚nie der, Fall 

umbringe, weil ber- fanfte Hinbow. im en 

verabſcheut z aber, das dispenfirt, bie, nicht von dem Vor⸗ 

wurfe graufamer Ungerechtigkeit, ‚wenn fie — was 

aodeheu vu hun, ebagrap bare eier iiae Safaätuchekue 
zu * 

durch Handel, Eroberet, und Luxus —— 


einticht d eben ee 
— Fee Geſtalt vor 
in 


p äftigungen.. Die Kafte der: Brahmanen 
liefert Soldaten, Kuͤnſtler, Handwerker und Sintger 6 Kaps 


a enge 
— — — —— ve viren 
und (Poucohita oder Pourowetn)s nd 


wu wife man doch auch ‚dergleichen in anderen Kaſten. Wenn 


amd han Balte han Menkmanan) Aains- ai 





Kaſten / Kaſteneintheilung. 217 


fi davon Handelt, zu efjen, zw trinken ober zu rauchen. Go weit 
die Notizen aus Herrn Joſeph's erwähnter Schrift, dieraber doch im 
Ganzen mit einigem Mißtrauen zu betrachten iſt; wenn auch nicht in 
Bezug auf die Wahrheitsliebe, doch auf die Prüfungskraft und Unpars 
teitichkeit des Herrn Sofeph, der 3. B. auf den Umftand hin, daß bie 
Reichthuͤmer und der Einfluß des Einzelnen ihre Ableiter in Werken 
für das allgemeine Befte oder für weniger begüterte Mitmenfchen ha⸗ 
ben und bie rechte Geltung dem Individuum allein verſchaffen, die in⸗ 
diſche Kafteneintichtung „ſeit einer Langen Neihe von Jahrhund 

das Gluͤck von 150 Millionen Menſchen machen laͤßt.“ 

Aber auch im Decibent, und zwar bei den aͤlteſten riechen, 
teat die Kafteneintichtung hervor, nur dag man ſich, der griechifcdhen 
Volksthuͤmlichkeit gemäß und bei mehr Freiheitsfinn, als jemals buch) 
bie Miedberungen des Ganges und über die Nilkatarakte raufchte, bie 
Grenzen keineswegs fo ſcharf gezogen und mit der Zeit immer mehr 
verfhmwindend denken muß. So machten die Priefter, beſonders die 
in ben Tempeln des Aesculap die Arzneikunde ausübenden, eine ganz 
abgefonderte und erbliche Kafte aus, und lange vorher, ehe Theſeus 
die Eintheilung aller atbhenienfifhen Bürger in drei Claſſen: Edle, 
Aderleute und Handwerker, vorgenommen, kannte mian eine Einthels 
lung in vier Phylen ober Stämme, welche mythiſch auf die Söhne 
bes Fon zurüdgeführt wurde, naͤmlich in Kriegsadel, zinsbare Aders 
bauer, Handwerker und Hirten. 

Strabo fagt von den Iberiern (Spanien), daß dort ganze 
Völker ſich in foiche erbliche Kaften getheilt hätten. Noch mehr find 
die drei Claſſen der Patricter, ber Ritter und der Plebejer, welche eben- 
falls etwas Kaftenartiges hatten, im alten Rom bekannt. Auch von 
den alten Deutfchen iſt es aus einzelnen Stellen im Zacitus wahr⸗ 
fcheinlih und von den Angelfahfen gewiß, dag fie eine ähnliche 
Einrichtung hatten. Und felbft dad, mas man bei ihnen Stände 
nannte und noch bei uns nennt, iſt eine Derivation jener Kafteneinrich: 
tung, nur in weniger abftracten und unbebingt gefchiedenen Formen: 
babei bucch die Verhaͤltniſſe begreifbae und möglicher Weife unſchaͤdlich. 
Uber noch weit möglicherer Weife das Gegmtheil. Adel, Geiftlichkeit 
und dritter (Bürger: und Bauer:) Stand, mie fie, vom Beginn un: 
ſerer Geſchichte und das zunftreiche Mittelalter hindurch in unfere land: 
ſtaͤndiſchen Verfaſſungen fich ſchlingen, treiben nicht nur ſtaatsrecht⸗ 
kich, fondern auch foctal Immer nody ihre gefchiedenen Knospen. Ja, 
faft noch tiefer ſchneidet dieſer fociale Unterfchled, als ber ſtaats⸗ 
rehtlihe. Wir wiſſen in der Wirklichkeit kaum noch von einem 
Bauerfiande, was aber die Adelskaſte fei, weiß nicht nur ber 
Prolstarier, fondern ber Abel felbft will umd weiß es feiner Mehrzahl 
nady ; nachdem bie berüchtigte Adels kette ſich durch ganz Europa: 
geringelt bat, iſt bie new erfchienene Adelszeitung (von Baron 
v. Fonquo redigirt) fein neueſt pusblicirtes literarifches Manifeſt. Aehnlis. 
ches beim Soldatenſtand, der, nach Organiſation (ſo lange man 








236 Satafter. 


politiſchen Stanbpuncte aus, worauf man geflellt war, mußte man viel⸗ 
mehr ben zweiten Hauptweg einfchlagen und ſich hiernach zum Zwecke 
der Befteuerung vorzüglich mur nach Äußeren und objectiven Merkmalen 
des Einkommens umfehen, die von den Regierungen felbft feſtgeſtellt 
und fortwährend überwacht wurden. So kam benn das Kataftertvefen 
mehr und mehr in Gang. Beſonders viel für diefe Löfung einer der 
ſchwierigſten Aufgaben der Staatswirthſchaft gefhah in Frankreich, 
mo die Idee der ftantöblirgerlichen Gleichheit die der Freiheit überlebte, 
und namentlich) unter ber Fatferlihen Regierung der Mechanismus ber 
Staatsverwaltung zu einem hohen Grade ausgebildet wurde. Noch jest 
Tann die innere und aͤußere Einrichtung ber franzoͤſiſchen Katafter für 
befonders empfehlenstwerth gelten. Bum Theil nach diefem Vorbilde 
richtete fich die Gefeggebung in mehreren beutfchen Staaten. Nament- 
uch ift in Baiern, Würtemberg und im Großherzogthum 
Heffen für die Vervolltommnung des Kataſterweſens viel gefchehen; 
mährend man ſich in anderen Staaten nod mit minder zunerläffigen 
Schägungen begnügt. , 

Für die Aufftellung eines Kataſters über das landwirthſchaftlich und 
forſtwiſſenſchaftlich benuste, oder body einer folhen Benutzung fählge 
Grundeigenthum iſt zunaͤchſt eine Bemeffung bes Bodens bis in feine 
einzelnen Parcellen erforderlich. Zu biefem Zwecke hat man ba und dort 
verfchtebene Methoden vorgefhlagen und in Anwendung gebracht, bie 
entweder wenig Zuverlaͤſſigkeit geben, ober andere zahlreiche Schwierig ⸗ 
Zeiten und Inconvenienzen zur Folge haben. Ais einfachſtes Mittel 
für die Ausmittelung der dan der Grundſtuͤcke, forderte man von 
den einzelnen Befigeen Declarationen über die Ausſaat, um darnach 


den Flaͤchenraum zu berechnen. Aber davon abgefehen, daß hierbei die 
Belchaffenheit des Bobens und die verſchiebenen Culturarten vom größe 
ten Einfluffe find , hatte man _fich zugleich zahllofer abfichtlicher Ti 








Kataſter. 231 


heit des Bobens und hiernach deſſen Ertragsfaͤhigkeit abgefchägt werben. 
Diele Bonitirung der Grundftüde ift noch viel unficherer, und vergebens 
fieht man ſich nad. einem feften Maßſtabe für die Vergleichung ihres 
Werthes um, mag man nun dafür die durchſchnittlichen Kaufpreiſe ober 
Pachtſchillinge, ober eine unmittelbare Schägung des cohen oder reinen 
Ertrags zu Grunde legen. Am meilten Anhalt gab nody die Boben- 
claffification, nach Maßgabe der forgfältig geprüften und erfahrungse 
mäßig bewährten Srunbfäge und Regeln dee Landwirthſchaft. Die Er⸗ 
gebniffe folcher Meſſungen und Schägungen für richtig angenommen, 
bat natürlich ihre Zufammenftellung im Katafter, fo wie die Liquidirung 
der von jeder Parcelle zu tengenden Laſten, keine befonderen Schwier 
rigkeiten mehr. 

Bei Gebäuden hängt das Einkommen, als ber Maßftab bes Wer⸗ 
the und ber Beiteuerung, in noch viel geringerem Maße, ale bei 
Grundſtuͤcken, von der blofen Ausdehnung ab. Auf dem Lande, wo 

“fie nur felten an und für fi) einen reinen Gewinn abwerfen, fondern 
nur zum Betriebe der Wirthſchaft dienen und als blofe immobile 
Merkzeuge derfelben zu betrachten find, follten fie wenigftens fo weit 
in gar keinen Anfchlag kommen, als fich ihr productiver Einfluß ſchon 
in dem anderwaͤrts gefhägten Ertrage des Bodens fund gibt. Im 
Städten dagegen bildet der wirkliche oder möglihe Miethertrag bie 
Srundlage bes Gebaͤudekataſters. 

Der reine induftrielle Ertrag ift das zufammengefegte Ergebniß 
des Lohne der Arbeit und des Gewinns von. dem auf die Arbeit ver 
wenbeten Betriebscapitale. Die Aufgabe für die Aufftellung eines Ge⸗ 
werbkataſters für jeben befonderen Zweig ber Gewerbsthaͤtigkeit ift 
die Feſtſtellung einer Verhältnißzahl, die als Simplum der Abgabe nah . 
bem Staatsbedarfe und nach ber Ausbehnung bes Gefchäfts im bes 
ſonderen Falle fich vervielfacht, oder entfprechende Zufäge erhält. Bei 
der Unmöglichkeit, den reinen Erwerb jedes Einzelnen im Voraus zu bes 
rechnen, hat man faft überall auch die Gewerbetreibenden in verfchiedene 
Glaffen eingetheilt und hiernach der Beſteuerung unterworfen. 

Im Artikel „Grundſteuer“ find bereits die Grundfäge ent- 
widelt, deren Anwendung Recht und Staatskiugheit bei der Beſteuerung 
bes Bodens und der Gebäude erheifchen, und die folglich auch bei ber 
Aufftelung der Kataſter, die folcher Befteuerung als Bafis dienen fol 
len, zu berüdfichtigen find. Um jene Anwendung im Einzelnen an- 
ſchaulich zu machen, it e8 am Imedimäßigften, die das Katafterwefen 
betreffende Geſetzgebung eines befonderen Staats näher in's Auge zu 
faſſen. Zu diefem Zwecke wählen wie die in dieſer Hinficht fehr aus⸗ 
gebildete Geſetzgebung des Großherzogthums Heffen, um fo mehr, als 
in diefem Staate die im Artikel „Grundſteuer“ aufgeftellten allgemeine⸗ 
ven Geſichtspuncte wenigftens zum größeren Theile eine fpecielle Beruͤck⸗ 
fihtigung gefunden haben. 

Im Allgemeinen iſt vorerft zu bemerken, daß fich während der 
neueren Zelt, beſonders in Folge ber Handelsvereinigung mit Preußen 





son e 
for nun en Immoblkiars ‚atafter 
alles Grundeigenthum enchalten; die Gebäude nebſt Bir 


te dingliche  fobanın bie ind 
Von bi Inden — d beſondets 
Sa —— 


unbewohnbaren 
tg des Aderbaus und Stallungen ie, Die 
= ee reinen Ertrag in 
Dieſer reine Ertrag wird bei 
* bei Sala und 


eg außer ——— 
ähigkeit des Bodens In Safe 
—— den ſie bei ihrer jegig 
heit fiefert. Bei den 





jerfaufsprelfe 
Geldanſchlaa aebracht: bie Kofınreife nacı den 





\ D 
« 
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Lataſter. 2 
ber Abſtand von ber einen zur anderer nie mehr Beträge‘, als 
vom Gtewerenpital eines Gebdudes bee nächft vorhergehenden, niedrigeren 
Glaffe. Fuͤr die Bonitirung wird im Wefentlichen auf folgende Art vers 
fahren: Die höhere Finanzverwaltungsbehörde (Ober⸗Finanzkammer) 
waͤhlt für jeden Steuerbezirk eine Normalgemarkung aus. In biefer 
werben burch drei Sachverſtaͤndige aus den drel Provinzen des Großher⸗ 
zosthums Haupt-Rormalftäde beſtimmt und bezeichnet, ſowohl 

jebe ‚ als aud für eine hinreichende Anzahl von Claſſen 
berfelben Culturart. Sammtliche Grundſtuͤcke der Normaige⸗ 
markung werden ſodann in dieſe Gaſſen eingereiht und der reine & 
trag: jeder Eulturart und Claffe durch die Sachverſtaͤndigen abgefchäßt. 
Aus den Varationen ber drei Sachverſtaͤndigen wird das arithmetifche 
Mittel genommen und diefes mit dem Namen „Rormals Steuer 
capital“ bezeichnet. In den übrigen Gemarkungen beflelben Steuern - 
bezirks werden fobann Örtliche Normalſtuͤcke für die verfchiedenen Cul⸗ 
turarten und Claſſen gewählt und genau bezeichnet. Die Abſchaͤtzungen 
bee HauptsNormalftüde in der Normalgemarkung werden den Orks 
vorſtaͤnden vorgelegt, welche diefelben entweder anerkennen möüffen, ober _ 
ihre Reclamationen gegen diefe oder die Zarationen anderer Normalge⸗ 
markungen der Oberfinanzlammer zur Entſcheidung vorlegen koͤnnen. 
Endlich werden die Normalftenercapitalien dee oͤrtlich en Normalſtuͤcke 
in den übrigen Gemarkungen bes Steuerbezirks benen der Rormalge⸗ 
markung gleichgeftellt und ben Ortsoorftänden wie vorher aufgegeben, 
diefe Anreihung an die Normalgemarkung entweder anzuettennen, ober 
Dagegen zu reclamiren. 

Zur Vollendung des befinitiven Katafter® fol eine allgemeine 
Landesvermeffung In der Art fortgefeht werden, daß in der erſt en 
Periode die Meflung dee Grundlinien, bie trigonometrifche Berechnung 
und die Ausfteinung ber Dreiedde bes erften und zweiten Rangs, bie, 
in allen Xheilen des Großherzogthums Hauptanhaltspunrte und Wer 
fiherungebafen Hiefern, vorgenommen wird. Die Seiten ber Dreiecke 
berfeiben Ordnung follen fich nicht fchneiden. Hiernach erſtrecken 
ſich die Dreiecke des erften Rangs, ats ein zufammenhängendes Net, über 
das ganze Großherzogthum; waͤhrend bie Dreiecke zweiten Range ein 
Zwiſchenglled bilden zwiſchen denen ber erften Ordnung und ben für bie 
Controle dee Detailmeffung beftimmten Heineren Dreiecken. In Ber 
zweiten Periode fol die Aufnahme und Ausfteinung ber Dreledle db eit> 
ten Range und der Gemarkungs⸗ und Flurgrenzen erfolgen; fo wie bie 
Zeichnung ber Flur⸗, Gemarkungs⸗ und Bezirkskarten und die Berech⸗ 
nung ihrer ſteuerbaren Grundflaͤche. Die Dreiecke bes dritten Range, 
dee Aufnahme der Gemarkungs⸗ und Flurgrenzen zur Grundlage bien 
nend, follen mit dieſen moͤglichſt viele Duncte-gemein Haben. Die Flu⸗ 
gen, als Unterabtheilungen der Gemarkungen, follen im Mittel 200 
bis 300 Morgen enthalten und ihre Grenzen, fo viel thunlich, entweder 

“- natürliche fein, oder aus Gewanngrenzen, die Grenzmale haben, beftehen. 
Endtich ſoll in dee dritten Periode die Aufnahme und Ausſteinung 


Frag a een Verlangen der Gemeinden, welche bie, 
Parcellens e en haben, enemmen 
Koften der —— Sb rain ber —æã* 


telung: des ataſters iſt verfügt, daß bei der erſten 
Aufftellung die Reinerträge, Behnten und. Grundrenten ganzer Gemein- 
den abgefondert zu behandeln find. Für die jaͤhrliche Fortführung der 
Subrepartitionsnormen (Beittagsverhältniffe der einzelnen Grundbefiger) 
follen die einzelnen ‚Refultate in ein Hauptgefcho$ zufammengeftellt 
werden. Zur Grundlage diefes Hauptgefhoffes dienen die einzelnen Ge— 
ſchoſſe eines jeden Steuerpflichtigen, die fich wieder in Güter, Behnt- 
und: Laſten⸗ (Gefaͤll⸗) Geſchoffe theiten. Außer dem Hauptgeſcho 
wird ein Klurb aufgeftellt, E3 enthält die Rein Erträge, bie Zeh 





’ 
* 


Kataſter. 422326 


Gewerbſtener, bie zum großen Theile blos auf dem Bauerſtande la⸗ 
ſtete, waͤhrend bie ſpaͤtere Perſonalſteuer hauptſaͤchlich bie Beſoldeten und 
Wohlhabenden trifft, aufgehoben und durch eine allgemeine Claſſenſteuer 
erfegt. Namentlich war früher auch der perſoͤnliche Verdienſt 
des Landmanns als ein Gewerbſteuercapital ſolcher, die 
außer ihrem eigenen Feldbaue kein ſonſtiges Gewerbe treiben, mit 24 
Sulden in Anfchlag gefommen. Diefe Abgabe fiel durch bie neuere 


Geſetzgebung gleichfalls weg. Weber die Beſteuerung der Gewerbe ber " 


flimmt nun das angeführte Gefeg vom 16. Juni 1827, daß jeder In⸗ 


länder im ganzen Großherzogthum ein Jahr lang dasjenige Gewerbe 


fol treiben koͤnnen, das in einem auf Stempelpapier vom Bürgermeis 
fer des Wohnorts oder der Gewerbsanlage ausgefertigten Patente ber 
zeichnet ifl. Davan treten Ausnahmen ein, wenn zur Betreibung bes 
Gewerbs erſt die Aufnahme in eine Zunft, oder die Einwilligung von 
Standbesherren und Patrimonialgerichtähereen erforderlich ift; wenn das 
Gewerbe zu ben von ber Staatsregierung bezeichneten gehört, bei wel: 
hen aus pöllzeilihen Ruͤckſichten, oder aus Rüdficht auf die beftehen- 
den Finanzgeſetze, ober wegen befonderer Gemwerbsberechtigungen bie 
unentgeltlich zu ertheilende Zuſtimmung der höheren Abminiftrativbe- 
börde vor ber Ausfertigung des Patents erfolgen muß. Zum Zweck 
der weiteren Befteuerung ber Gewerbe, find diefe in fieben Glaffen 
eingetheilt. Ihre Steuercapitalien richten ſich nad drei Rangſtufen 
der Orte. Außerdem erhalten dieſe Steuercapitalien, nad) dem größe: 
ren ober geringeren Umfange der Gewerbe von einer und derfelben 
Claſſe, einen verhältnigmäßigen Zuſatz, entweder nach der Zahl der Ge 
hülfen, ober nad, dem Miethwerthe des Gewerblocals. Kür einen 
Gehuͤlfen wird ein Deittheil zugeſetzt; bei MWittwen wird der erfte Ge⸗ 
hülfe nicht aufgerechnet, und da, wo die Zahl der Gehülfen periodiſch 
ift, oder im Laufe des Jahres ſich dndert, wird das Mittel genommen. 
Mo der Miethwerth des Gewerblocals für die Größe des Gewerbe in 
Anſchlag kommt, bildet bei Gaſtwirthſchaften, bei Muͤhlwerken und 
bei Fabriken, die über fünfzig Arbeiter befchäftigen, die Hälfte bes 
Miethwerths, bei ben übrigen betreffenden Gewerben aber ber ganze 
. Miethwerth des Gewerblocals den verhältnigmäßigen Zuſatz. Der Ge: 
werbfteuer find nicht unterworfen: die öffentlichen Beamten und befol- 
beten Angeftellten; die Grunbeigenthümer und Pächter landwirthſchaft⸗ 
licher Grundſtuͤcke für den Handel mit ihren toben Producten; Aerzte, 
Advocaten, Pofthalter, Künftler für den Verkauf ihrer Kunftprobucte; 
Geſellen ꝛc. Ausländer, im Beſitz von Gewerbsanlagen im Inlande, 
werden wie Sinländer behandelt. Diejenigen Ausländer, die ſolche Anlas 
gen nicht befigen, müffen von einer Provinzialtegierung ein für ein Jahr 
gültiges Patent loͤſen, wofür fie, nebft ber Ausfertigungsgebühr, zugleich 


für das ganze Jahr die Gewerbſteuer entrichten, die, ohne verhältniße 


mäßigen Zuſatz, mittelft eines Stempels für fieben. Claffen von 11 
bis zu 40 Gulden erhoben wird. 
Gleichzeitig mit dieſer Gewerbſteuer wurde eine fogemannte Perſo⸗ 





J 


a Aoataſter. Aathollcismuus. 


nal ſteuer eingefähet, „um ben Beduͤrfaifſen einer ‚gleichen and ger 
rechten ri Kara Steuern votitaͤadig zu entiprechen und 
die Seſetgebung für das Scohherzogthum in Beziehung auf bie dire⸗ 
cten Steuern zu vollenden.“ Die Perfonaifteure beſtimmt fi nach dem 
Mıtäwerthe der Wohnungen, webel das gefammmte Local, welches ber 
Steuerpflichtige für ſich und feine Familie als Wohnung benutt, in 
Anſchlag kommt. Bum Anhaltpuncte dienen die Steuercapitalien des 
Gebäudelatafter, denen, um fie dem wirklichen Diethwerthe gleihzus 
ſtellen, nad) teglementäten Beftimmungen ein ‚Deitehet zugefeht wich. 
Das allein zum Gewerbe dienende Eocal kommt etich bei der 
Perfonatfteuer nicht im Auſat. Sammtliche Perſonalſteuerpflichtige 
find in 9 Giaffen eingeteilt, je’ nachdem fie mit einem größeren oder 
geringeren Mieihwetthe der Wohnumgen (In ber teten Claffe, bei einem 
Miethioerthe von 1 dis 10 Gulden, mis 10 Bulden Normalſteuerca⸗ 
pital) in Anſat kommen. 

Den ſchon im Artikel „Grund ſteuer“ angeführten zahlreichen 
Schriften, die wenigftens zum größeren Thelle mehe oder minder auch 
in da6 Katafterwefen einfchlagen, find etwa noch beizufügen: Ben» 
zenberg, „Ueber das Katafter” Bonn, 1818. 2 Bde.) und „Ueber 
Handel, Gewerbe, Steuern und Zoͤlle“ (Eiberfeld, 1819), v. Groß, 
„Die Reinerttagsihägung des Brumbbefiges, nebſt Vorſchriften zw 
einer auf Vermeffung, Bonitirung und Kataſteirung gegründeten Steuer» 
tegulirung” (Meuftadt a. d. D., 1828), „Das Steueriwefen, nach 
feiner Natur und feinen Wirkungen, unterfucht von 8. Krönde” 
(Darmftadt und Biegen, 1804), fo wie deſſen „Ausführliche Anleitung 
zur Regulicung der Steuern“. (Gießen, I. Th. 1810 u. Th. 1811). 
Die zuerft genannte Schrift von Kroͤncke entwidelt bie Peincipien, 


die im Weſentlichen in der nad) ihren Grundzuͤgen dacgeſtellten Geſetz⸗ 
gebung des Großh. Heffen fpäter zur Anwendung gelommen find. ©. 
Katholicismus. — Wir mäffen, um den Begriff deffelben 


Katholicismus. 297 


lange fie fidy nicht in eine aͤußere Lebensgemeinfchaft ausgeſtaltet und 
im diefer veckoͤrpert hat. Der Menſch iſt Seele und Leib. 

ätte darum der Gruͤnder des Chriftenthums auch keine alle feine 
Bekenner verbrübernde äußere Gemeinſchaft und Einheit mit ausdruͤck⸗ 
lichen Worten angeordnet, fo hätte er ſolche um fo unbeſtreitbarer 
factifch geftifter, indem er den Geiſt der Liebe als ‘eine weltums 
geftaltende, allverbrüdernde Kraft vom Vater herab fendete. Mit dieſem 


Geiſte war weſentlich die äußere und fichtbare Einheit und Gemeinſchaft 


aller derjenigen gefegt, welche dieſen Geiſt in fich empfingen und Ihm 
gehorchten. Es bedurfte hierzu keines Befehles: wie fih denn auch 
ſolche Einheit und Gemeinfchaft nicht von Außen her befehlen läßt, ſon⸗ 
dern frei und freubig kommen muß von Innen. 
Ä Inden, eben weil der Gründer des Chriftenthums mit dem Geifte 
der Liebe, den er gab, factiſch auch die aͤußere Vereinigung und Ges 
meinfhaft der von diefem Geifte Getriebenen fliftete, fo mußte ihm 
diefe Vereinigung und Gemeinfchaft ald die weſentliche Frucht ſei⸗ 
ner Pflanzung von Anfang an vorfhweben, und wir müffen fchon jet 
Anordnungen von ihm erwarten für die Zukunft, mo eine von dem 
Geiſte der Liebe gefchaffene fichtbare Gemeinde feiner Bekenner In ber 
Melt da fein würde. In der That machte er ſolche Anordnungen. 
Dahin gehört 3. B. der Auftrag, der ganzen Welt das Evangelium 
zu predigen unb Alle, die an ihn glauben würden, auf den Water, 
Sohn und heiligen Geift zu taufen. Es ift diefe Taufe ein Ausfons 
berungsact feiner Belenner von der Welt und eine Einweiſung ders 
felben in ben Kreis feiner Angehörigen. Dahin gehört des⸗ 
gleichen die Stiftung bes heiligen Abendmahls. Es iſt diefes Mahl 
die fortdauernde fichtbare Darftellung der Gemeinfchaft Aller mit ihm 
und mit den Mitgläubigen. Bei diefem Mahle follte der allvereinende 
Geiſt der Liebe Alle, die mit diefem Geifte getauft worden, als Bruͤ⸗ 
der verfammeln und fie bis zu feiner Wiederkunft für und für als Der 
einte — als Glieder Eines Leibes — darftellen. Ein Geift, Ein Brot, 
Ein Leib. Dahin ferner gehört die Einſetzung des Apoftolates, d. t. 
die Ausfendung der heiligen Apoftel und Jünger mit dem Auftrage 
und ber Vollmacht, Gläubige um fich zu fammeln unb unter diefen 


ein geiftliche® Vorſteheramt (lehrend, leitend, weiſend ac.) auszuüben. 


Dahin enbdlich gehört eine gewiſſe organifche Einrichtung unter biefen 
Vorſtehern felbft, die Auswahl nämlich von Zwoͤlfen aus der Zahl ber 
übrigen Jünger, die Ueberordnung diefer zwoͤlfe über bie anderen, und 
‚ unter den Zwoͤlfen felbft die Obenanftellung eines Einzigen, daß in bie 
fem die Sefammtheit feiner Sünger und Apoftel einen Einheits⸗ und 
Mittelpunet hätte, durch den fie zu einem Ganzen organifch verbunden 
wäre. Diefe Einrichtung, d. h. diefe organifche Gliederung und Eini- 
gung, der Dirten unter einander z0g weiter von felbft die Einheit und 
Gemeinfchaft auch derjenigen nach fich, welche fi um fie, ale um ihre 
Lehrer, Hirten und Fuͤhrer, fammeln würden. 

Wir Haben gefagt: das Chriftentyum und ber Geil, der Liebe in 

1 


— 


238 Katolicismus. , 


ihm, indem er Alle, bie ihn empfingen, einigte, mußte fie 
unfehlbar auch zur Außeren Gemeinſchaft verbinden; und es waren 
dafuͤr von dem Herrn zum Voraus in dem Apoflolate die Vereinigungs⸗ 
und Einheitspuncte gegeben. In der That nun vereinten ſich an dem⸗ 
felben Tage, an weichem das Apoflolat feine Predigt eröffnete, und 
der heilige Geift der Liebe über die, welche der apoſtoliſchen Predigt 
glaubten, ausgegoffen, ward, an brei Taufende zuc Gemeinfchaft; in 
ihrer Mitte, als Sammel: und Einheitspuncte, die Apoftel und Jünger. 
„Sie waren‘, wie die Schrift fagt, „Alte Ein Herz und Eine 
Seele. Und wie fie Ein Herz und Eine Seele waren, fo auch 
Außerlic zu Einem Leibe verbunden. „Alle Gläubigen”, heißt es 
von ihnen,, „hielten ſich zuſammen, treu beharrten fie in ber Lehre der 
Apoftel, in gefellfhaftliher Vereinigung, im Brechen des 
Brotes (in der Feier des heiligen Abendmahle) und im Gebete. Sie 
hatten Alles unter fi) gemein. Hab’ und Gut Bertaufeen fie und 
theilten es unter Ale, Jedem nach feinem Bebuͤrfniſſe. lich fan: 
den fie fi) einmüchig zufammen im Tempel brachen das za auch 
8 Haufe und hielten ihre Mahlzeiten in Heiterkeit und Einfalt des 
jerzene.”' . 

So ift die erfte chriſtliche Gemeinde in der Welt da — hervor: 

gegangen aus dem Zuſammenwirken bes heiligen Geiſtes und des 
Apoftolates. 
Aber der Geift Gottes ift ein ewig bleibender, und das Apo- 
ſtolat gefliftet zum Ausgehen in alle Welt. Geift und Apoftolat 
werden alfo in der Melt protenfiv und ertenfiv fortwirken und Die 
erfte chriſtuche Gemeinde zu einer Kirche erweitern durch alle Zeiten 
hinab und über alle Länder der Erde dahin. 

Indeß werden ber Geift und das Apoftolat diefes thun unter Ver⸗ 
mittelung von 52 als welche uͤberhaupt zu allet — 









Kotpolicems. 220 


brachten fie zum lebendigen durchgreifenden Bewußtſein wie ihrer Eins 
heit unter fidy, fo ihres Gegenfabes gegen das Heidenthum. 

Die Eiferfucht der Juden gegen den Mitantheil auch ber Heiden 
an Chriſtus führte zu der Idee einer Vereinigung alles bis dahin Ge- 
trennten in Chriftus, zur Idee der Verſoͤhnung ber bisherigen Ges 
genfäge in ber Welt und zur dee einer ohne Unterfchied alle 
Völker umfchliegenden Semeinfhaft. (Man fehe z. 2. 
Eph. 2, 14 fig.) . 

Die verfchiedenen unter den Gläubigen ausgetheilten Wunbergas 
ben bes heiligen Geiftes, von denen der Eine diefe, der Andere jene 
erhalten hatte, erregten in Wielen ein neidiſches erlangen nad 
ſolchen, die ihnen verfagt waren. Diefem neidifhen Begehren gegen 
über machte ſich durdy den Mund des heiligen Paulus die ‚große dee 
geltend, daß die Kirche ein Leib fei, beſtehend aus vielen Gliedern, des 
ten jedes, zum Beften des Ganzen, wie feine eigenthümli» 
hen Gaben, fo feine befonderen Verrihtungen babe. Hierdurch 
wurde fofort die Kirche Chrifti zu einer großen, alle Gaben und Kräfte 
der Welt umfangenden und jebe bderfelden an Ihrem Orte zur Außs 
führung des Einen der Menfchheit aufgegebenen Werkes‘ einordnenden 
Gemeinfchaft. . 

Chriftus ift nur Einer, feine Lehre nur Eine, fein Heilsweg nur 
Einer. Alte ſonach, fo Viele deren an Chriftus glaubten, waren ver: - 
einigt um Einen Herrn, in Einem Glauben und Einem Lehrworte. 
Aber von Neuerern und Irrlehrern kam ed, daß diefe Lehrs 
und Glaubenseinheit von Allen recht ausdruͤcklich feftgehalten 
wurde, und daß das, was Lehre Chrifti und Inhalt des Gemeinglau: 
bene fei, Allen recht beftimmt zum Bemwußtfein fam. Wenn 
ndmlid) an irgend einem Orte ein Mann mit ungewohnter Lehre in 
einer chriftlichen Gemeinde auftrat, fo ward alfogleich gefragt: „Vertraͤgt 
ſich diefe Lehre mit dem von Chriftus durch feine heiligen Apoftel auf 
uns gebrachten Glauben?‘ Im Zweifel folgte Erkundigung bei den von 
Apofteln geftifteten Kirchen. Hier ja mußte man vorzugeweife wiſ⸗ 
fen, was Lehre der Apoftel geweſen. Dder man fragte: „Was ift dies: 
falls gemeinfame Lehre unter allen Kirchen aller Drten?” Was 
ſich bei den Kirchen der verfchiedenften Länder übereinflimmend 
vorfand, mußte wohl apoftolifcy und chriftlich fein. Auch kam es, wenn 
ein Irrlehrer Anhang fand, menn er es zweifelhaft zu machen mußte, 
ob fein Lehrweg nicht mit dem apoftolifhen übereinftimmend fei, und 
wenn er, trog ſich erhebenden Widerſpruchs, auf feinen Irrwegen bes 
barrte, daß fämmtliche Bifchöfe einer Provinz, ober auch der ganzen 
Chriftenheit zur gemeinfchaftlichen Berathung zufammentraten. (Pro: 
vinziale und Generalconeilien.) Die Bifhöfe nämlich, ald Nachfolger 
der Apoſtel (die erſten Biſchoͤfe unmittelbare Schüler der Apoftel, die 
folgenden Schüler von Apoftelfcyälern), waren bie. Depofitäre des ur: 
fpränglichen, d. i. apoftolifchen, Lehrwortes. Sie alfo mußten wiffen, 
was diesfalls die althergebrachte, in ihren Kirchen beitandene Lehre fei, 


HH hi 


Het 


de Biubjectt- 
dee Obj⸗ctivitdt 


der Geſammtkirche 
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mmten Bewußtſein. Au 


Gegenſate die ünglt 
en Ben aler Eine cut ausbrädiich und feierlich 


beaciffe 
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Einen 


Lehre, dor 
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Was chrifitich 


Über 06 trat 5 
ber 


sum beftt 


deſſen gewtß, baß ihre Entſcheldung nicht dem apa» 


widerſtrelten Fönne. 


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Slaubigen 





fef gebalten 
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aigemeinen won 
handenen Glaubens zuruͤck. 


wurde an 


*227 


Ketholiciämus: 2 


bee Kirchen von Anfang an gelebt und fich fortgeerbt habe, bie Wahre 
beit und ber Heilsweg fei, Dagegen im Abfalle von biefem allgemei⸗ 
nen Glauben ber Gefammtliche, Abfall von der Wahrheit. und 
dem chriſtlichen Heilswege. Mochten fi bei den Abtränuigen 
chtiſtliche Wahrheiten finden, fo doch nicht die Wahrheit. Im 
Gegentheite war jeber Abfall von der Objectivität des Gemeinglaubens 
eine Geitendmachung des Principe der Subjectivitäten, und 
damit eine- Auflöfung der Einen in die Welt bingeftellten Chriftuss 
wahrheit In fo viele Anfihten und Meinungen als Individualitaͤten. 
Daher bee Gap: außer der Kirche, d. i.im Principe der Sub⸗ 
jeetivitär, Bein Heil für die Menſchheit. 

Es verftcht fich weiter von felbft, daß die Kirche, im Bewußtſein, 
die von Chriſtus gefegte Bewahrerin der Wahrheit zu fein, Jeden als 
ausgefhieden von ihr betradhtete und von fih ausfchieb, 


N 


weicher fi, von dem Einen allgemeinen Glauben trennte und ber ſtets 


beftandenen und von Allen gemeinheitlich anertannten Lehre 
fene Privatlehre entgegenfegte. Schon bie Apoftel hatten ausdrüd: 


lich die Einheit der Lehre feftzubalten und von Irrlehrern zurüdzus 


treten befohlen. 

Doch follte die Glaubenseinheit ausſchließend für die von 
den Apofteln verkündete und von Anfang an in allen 
Gemeinden vorhandene und bewahrte Lehre gefordert werden. 
Was außerhalb dieſes Kreifes lag, follte der freien Anficht eines 
Jeden überlaffen fen. Auch felbft in dem, mas Gemeinglaube mar, 
Tonnte und mollte die Individualität der Gläubigen, d. i. die eigens 
thuͤmliche Anſchauungsweiſe eines Jeden nicht unterdrückt werden. Wohl 
war das Lehrmort und Slaubensbelenntniß Allen gemeinfam ; aber tie 
mannigfach mobdificiet dabei die innere Auffaffung, Verarbeitung ıc. des 
gemeinfamen Wortes! — 

Tun noch die Frage: wie verhielt ſich das gefchriebene Wort 
dee heiligen Apoſtel und Evangeliften zu der aller Orten gehaltenen 


and von fämmtlichen Kirchen angenommenen und bemwahrten Predigt. 


berfelden? — Die mündlihe Predigt und die Belchrung der 
Hirten und ihrer Gemeinden durch diefe war das frühere. Die Vers 
?örperung der Predigt im gefchriebenen Worte war das ſpaͤ⸗ 
tere. Allerdings alfo hatte man in lesterem (in dem gefchriebenen 
Worte), wenn man bie heiligen Apoftel aud nicht mündlih hören 
konnte, ihre Lehre fchriftlich; und dieſes fchriftliche Wort mar und blieb 
normgebend In den Kirchen für und für. Aber diefes fchriftliche Wort 
bob das muͤndlich gefprochene nicht auf. Im Gegentheile: ob ein ges 
fhriebener Auffag wirklich apoftolifches Wort fei, mußte fi be: 
währen an feiner Uebereinftimmung mit bem in den Kirchen bewahrten 
mündlichen Worte. ine den Apofteln untergefchobene Schrift ward als 
foihe erkannt an ber in ihr enthaltenen Abweichung von dem münbds 
lich empfangenen und im Gemeinglauben bewahrten apoftolifhen Worte. 
So wurde bie lebendig fortgepflanzte Lehre und das Epifkopat (als des 








ven Bewahren) der Kicht ex über die Kechtheit bee apoftelifchen 
Schriften. Achnliches galt in Bezug auf Unverfätfgeneit berfels 





Kirche 
sleger der apoſtoliſchen Schriften aner ⸗ 
-Diefes um fo mehr, als (mie ſchon oben ber 
merkt wurde) der Glaube feſtſtand, der heilige Seiſt (ausbrädkich -ges 
ſendet, um die Lehrer in alle Wahrheit einzuführen) werde 
die Gefammtheit der Lehrer im Geſchaͤfte bee Ausbeutung ber apo= 
ſtollſchen Worte leiten und in diefer Ausbeutung nie einen Abfall von 
bem Sinne: und Leheiwege Chriſti geftatten. ndlid), ba es bei der 
mehr und weniger bios gelegenheit lichen Abfaffung ber apoftoli« 
ſchen Schriften Leicht geſchehen mochte, daß einzelne Lehrpuncte in den ⸗ 
ſeiben gar nicht vorkamen oder doch nur ganz. obenhin und wie zu⸗ 
fällig berührt wurden, war es ber In ber Gefammtheit ber Kirchen fort« 
lebende voliſtaͤndige Lehrbegriff, welcher ergänzend zu bem fchriftlis 
dm Worte dee. Apoftel. binzutreten mußte. Ueberhaupt ſollte und 
wollte das ſchrift liche Wort ber Apoftel nicht etwa an die Stelle 
ber lebendigen Prebigt treten, vielmehr fort und fort durch diefe 
aus feiner Werfeftigung in Fluß und Leben umgefegt werben. 
Aus dem VBisherigen ergibt fi uns num ber richtige Begriff 
vom Katholicismus. Faffen mir. für's Erſte bie Kräfte in's 


Auge, aus denen er entfpeofien iſt und fortbauernb hervorgeht, fo iſt er 

das von Chriftus eingelegte Apoftolat, ausgegangen und ewighin 
ausgehend in alle Welt, umtingt von Millionen. Gläubiger. — Alle 
bin übrt ben In guusgeaofl eilt d abrhett 


t_burch Gi 





Katholicismus. 288 


gekommen und in die Welt eingeführt. — Faſſen wir ihn im Ge: 
genfage gegen den menſchlichen immer mehr und weniger für, 
fich und iſolirt fchaffenden, nie die Idee einer organiſch ſich einenden 
Thaͤtigkeit begreifenden Egoismus, fo iſt er | 

bie organifche Vertheilung und das harmoniſche Zu⸗ 
ſammenwirken der verfchiedenften Gaben und Kräfte zur 
Ausführung der Einen der Menfchheit geftellten Gefammtaufgabe. — 
Schauen wir auf die Organifation, durch welche eben die Allges 
meinheit und Einheit allee Gläubigen vermittelt wird, fo ifl er 

jene Einrichtung, nach welcher aller Orten von Chriſtus eingefegte 
Lehrer, Snadenfpender und Leiter ftehen ; um fie, ald um Mittelpuncte, 
Hörer, Gnadenbedürftige und Leitfame ; nad) welcher diefe Lehrer, diefe 
Spender der chriftlichen Heilsmittel und Leiter fammt ihren Angehö- 
eigen verfammelt find (als um Höhere Einheitspuncte) um Oberhirten 
oder Bifchöfe; und nad) welcher endlich die Gefammtheit der Bifchöfe 
fammt ihren Hirten und Gläubigen zu einem einzigen Körper orga⸗ 
nifch verbunden ift in einem oberften Bifchofe — dem Nachfolger des 
von Chriftus gefesten Hauptes der Apoftel — des heiligen Petrus. 
Dem Katholiten erfcheint daher der Gedanke an eine Ablöfung von 
dem kirchlichen Einheitöpuncte und an eine Vereinigung in Natio- 
nalkirchen als ein Abfall von dem eigenthümlihen Wefen des Ka: 
tholicismus, welches ja eben Einheit und Allgemeinheit ift. Nod 
mebr: jener Gedanke erfcheint ihm als Rüdfall von dem Univerfas 
lismus bes Chriftentbums zum Particularismus der vor= 
chriſtlichen Zeit. Wie einft, fo würde in Nationallichen auf’s 
Neue die Religion nicht das große, Gott und Menfchheit vereinigende 
Band, fondern ein Landesinftitut fein. — Uebrigens ifl die in 
dem Katholicismus liegende, eben gedachte durchgehende Unterordnung 
und Einigung mefentlid eine organifche, daher nicht die felbfi: 
thätige Kraft und Wirkfamkeit des einzelnen Gliedes 
an feinem Orte aufhebend oder hemmend, fondern nur hindernd, 
daß folche nicht etwa der allgemeinen Einheit des Glaubens und Lebens 
Zuwiderlaufendes ſchaffe. — Faſſen mwir den dem Katholicismus eigen- 
thümlihen Lehr: und Lernweg in's Auge, fo ift er 

der apoftolifhe Lehrbegriff in ununterbrodener, 
von dem heiligen Beifte gefhüster Vererbung. Es ift 
nach ihm hriftlich, mas katholiſch ift, d. bh. was von ben Apos 
fteln an zu allen Zeiten und in allen Kirchen als Wort, als Stif: 
tung und Anordnung Chrifli gegolten bat. Selbſt die heilige Schrift 
iſt nach ihm bie heilige, meil als ſolche zu allen Zeiten und in allen 
Kichen anerkannt und überliefert. Der Katholicismus ift der ausge: 
machte, der fertige, der ſtets beflandene, nicht erfi auszumit: 
telnde chriftliche Lehrbegriff; der Anſchluß aller Einzelnen an bdiefen 
und die Unterwerfung des Privaturtheil® unter den vom Geifte Gottes 
behüteten Gemeinglauben. — Iſt alfo (kann man fragen) im Katho: 
licismus uͤberall Fein Fortſchreiten, fondern geiftige Exftarrung? — Je 


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nichts mehr zu chun, denn ber Leht 


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welhe de m Princhpe des Privarurrheits folgen, fo ift er 








Katholicisnus. 285 
orientiren mögen. In der That, wenn es auch nit Ein Bud 
der Beiligen Schrift mehr gibt ,. deſſen Verfaſſer und Inhalt unanges 
fochten wäre, und wenn enblich felbft Chriſtus ats hiſtoriſche Perfon 
in Frage geftelle wird, fo ift es wohl einzig noch die Batholifche Kirche 
— diefes lebendige, von Anfang an durch die Jahrhun⸗ 
berte feſt gefhloffen herablaufende Zeugniß, was bie heis 
lige Schrift, was ben geſchichtlichen Chriffus und damit das 
Ehriſtenthum ſelbſt fiher ſtellt. — Faſſen wir den Katholle 
cismus endlich in feiner gefchichtlihen Entwidelung, fo iſt er 

das Chriſtenthum ale Sauerteig, gemengt unter drei Scheffel 
Mehl. Das Mehl ift die Menfchheit. Der Katholicismus, d. h. dab 
Apoſtolat, ging mit dem Worte und der Gnade bes Herrn, gefräftigt 
von dem heiligen Geifte, aus, die Menfchheit zu durchſaͤuern. Nas 
türlich gab der Durchfäuerungsproceß nach ber Verfchiedenheit des Durchs 
fäuerten Stoffes, d. h. nach der Eigenthuͤmlichkeit der Zeiten, Voͤlker 
und einzelnen Perfonen , bie verfchiedeniten Erfcheinungen; und wenn 
fit) in ihm oft das Chriftentbum zu einer Zeit nicht rein darftellte, fo 
trug wohl das Mehl, nicht der Sauerteig daran die Schutt. Man 
beurtheilt ben Erzieher nicht blos nach dem Erfolge, fondern auch nad) 
dem Charakter des Zoͤglings, und beurtheilt den Erfolg nicht nad) dem, 
was fich heute, fondern nach bem, was ſich im Werfolge und am Ende 
zeigt. Eine andere Beurtheilung iſt bornirt und ungereht. Wenn 
ba6 und bdiefes, was fi) aus dem Geifte und Bebürfniffe ber Jahr: 
hunderte berausgebitdet Hat, im Katholicismus noch erhalten wird, ob 
es fich gleich vielleicht überlebt hat, fo muß man nicht vergeffen, daß einer» 
ſeits das Urtheil über Abgelebtheit ein ſchweres ift, anderſeits das Prin⸗ 
cip dee Erhaltung zum Weſen des Katholicismus gehört. 

Vielleicht fragt man, wozu diefe ausführliche Erörterung bes Ber 
griffs des Katholicismus in einer Encyklopaͤdie dr Staatsmwiffen» 
(haften? Die Antwort lieat nahe. Die Staatswiſſenſchaften koͤn⸗ 
nen nur bie Wohlfahrt der Staaten befördern wollen. Nun hängt 
aber die Wohlfahrt der Staaten eng zufammen mit der Achtung, 
welche einer Confeffion und ihren Belennern von Seite ber Regierun> 
gen und der Mitbürger zu Theil wird. Es iſt hier folglich ganz an 
feinem Orte, ben Millionen, welche ſich zur katholiſchen Confeſſion bes 
kennen, durch Darlegung des Mefens diefer Confeffion, wenn auch 
nicht die Beiftimmung der Andersdentenden, fo doch die Achtung ber» 
felben zu vindiciren. 

Es fei nun noch geftattet, einen Blid auf den Einfluß zu wer 
fen, den der Katholicismus auf die Völker im Großen, dann auf bie 
einzelnen Staaten, ihre Verfaffung und ihre Wohlfahrt ausüben 
mag. Wir fagen nit: ausüben muß, indem wir wohl wiſſen, wie 
Vieles diefen Einfluß, fo unläugbar berfeibe auch im Weſen des Ka⸗ 
tholicismus Liegt, ganz ober theilweife hindern Tann. 

Im Katholiciemus liegt vor Allem die Idee eines allgemets 
nen reinen Voͤlkerrechtes und Volkerwohlwollens. Da 








286 Katholicimus. 

er nämlich das Chriftenehum tft, Glaͤubige aus allen Nationen ſam⸗ 
melnd und fie in Liebe vereinend zu Einer Familie, fo fteht nicht zu 
erwarten, daß er in der Entwidelung diefes feines univer: 
falten Charakters auf halbem Wege ftchen bleibe. Es liegt 
vielmehr weſentlich in ihm, daß er bald nicht mehr Gläubige aus 
allen Nationen, fondern bag er bie Nationen felbft fammle 
und diefe nicht anders betrachte, benn als Individuen neben einander, 
auf der Baſis gegenfeitiger Gerechtigkeit und Liebe zu einem großen 
iedifchen Gemeinwefen gehörig. — Allerdings hat das Chriftentgum zur 
Zeit den Nationalegoismus nody viel zu wenig überwunden. Nichts 
defto weniger liegt es ald geſchichtliche Thatſache vor, um wie 
viel daffelbe, namentli in der Form des Katholiciemus, bie Voͤlker 
einander näher gebracht hat. 

Wenn es jemals unter den Nationen zu einem Zufammenftehen 
für ein großes Gut der Menſchheit kommen folte, fo wäre ſolches Zur 
fammenftehen wohl nur durdy Vermittelung des Katholiciomus denkbar. 
Erſcheinungen, wie z. B. die Kreuzzüge, koͤnnen wohl nicht außer dem 
Katholieismus vorlommen. 

Was das Verhaͤltniß des Katholicismus zu den einzelnen Staaten 
betrifft, fo ift daffelbe in vieler Hinficht kein anderes, als das der Kirche 
überhaupt zum Staate. (Siehe darüber den einfchlagenden Artikel.) 
Dos verdient Einiges in dieſem Verhaͤltniſſe ausdruͤcklich berührt zu 
toerben. 

Der Katholicemus hat (meil lediglich praktifches Chriſtenthum) 
nichts mit der Werfaffung der Staaten zu ſchaffen. Er kann feine 
Aufgabe verfolgen und erreichen unter jeder Regierungeform, die dem 
Bürger ein rechtliches Dafein ſichert. Ex fordert nur und bittet zw 
Sott um jene Äußere Ordnung, bie nöthig it, „daß wir (wie der Apo⸗ 
fiel fagt) ein ftilles und ehrbares Leben führen mögen in 
Sottfeligkeit.”” Doc, _ift feine Verfaffung (mweil_ihrem Grundcharatter 


Katholicismus. 237 


Wenn ferner einer der Hauptzwecke des Staates die Sicherheit 
des Eigenthums und der Ehre iſt, ſo kann auch von dieſer Seite 
ber Katholicismus nur förderlich auf denſelben wirken: fo fern naͤmlich 
nach katholiſchen Srundfägen in ber Regel Beine Sündenvergebung iſt 
außer in Kraft der Beichte und priefterlichen Losfprehung, und feine 
Losfprehung außer in Folge gefchehener Wiedererflattung — ſei es 
der Ehre oder bes Eigenthums. 

Der Katholicismus betrachtet fich felbft als eine nicht von Men: 
fhen, ſondern von Gott gefliftete Anftalt, hat feine Verfaffung un- 
mittelbar von feinem Stifter und fpricht freies Leben unb freie Be⸗ 
wegung au. Dan hat ihm daher zumeilen aufgebürbet, daß er ein 
Staat fein wolle im Staate. Aber er wäre ein Staat im Staate nur 
- dann, wenn er JIntereſſen und Zwecke hätte, denen des Staates fremd 
ober gar zumiderlaufend. Da er aber nichts iſt, als das Chri⸗ 
ftentbum, in's Leben gefegt — wie kann er ein Staat fein im 
Staate und bem Wohl eines Volkes fremb oder entgegen? — Hödy- 
ſtens mag er mit ber Selbſtſtaͤndigkeit, welche er anfpricht, jenen zum 
Anſtoße gereihen, welche ber Anficht find, es dürfe nichts leben und 
fi vegen, das nicht von ihnen gefegt und regiert fei. In Wahrheit - 
ift dee Katholiciemus nicht ein Staat im Staate, fondern bie vom 
[H (mehr und weniger) durchdrungene Menfchheit im Staate. 

: Mebrigens laͤßt ſich der Katholiciemus von: jedem Staate, in wel: 
chem er lebt, willig beauffichtigen. Nicht als könnte er an ſich 
dem Voͤlkerwohle jemals nachtheilig fein, fondern dazu, daß nicht etwa 
Semand (feinem Geifte entgegen) angeblid in feinem Namen etwas 
in felbflifcher Anmaßung unternehme, fo der bürgerlihen Wohlfahrt 
zuwider. Wo er dagegen von einem Staate nicht blos beauffichtigt 
wird, fonbern wie eine Landesanftalt angefehen und behandelt werben 
wii, ba Hast er ob ſolches Webergriffs und fieht fih in feinem in: 
nerften Leben, d. i. in der von Chriſtus empfangenen Seibftftändigkeit, 
bedroht. — Auch des Schutze s ber betseffenden Regierungen mag er 
fi gerne erfreuen und wirb folchen überall dankbar anerkennen: wie⸗ 
wohl es ein ungerechtes Mißtrauen gegen feinen Stifter verrachen 
würde, wenn er nicht glaubte, daß er auch, blos dem @eifte Gottes 
und fich felbft überlaffen, blühen koͤnnte. 

Wenn etwa der Katholicismus auf die Wohlfahrt (auch die bür- 

erliche) irgend eines Volkes nicht fo wohlthätig einwirkt, als er feinem 
Weſen nach follte, fo liegt das nimmermehr in ihm, als ſolchem, ſon⸗ 
bern (mo nidyt in eigenen aͤußeren Verhältniffen und unglüdlichen Ein- 
flüffen) darin, daß feine Lehren und nftitutionen von feinen eigenen 
Bekennern vielfach nicht gehörig begriffen und noch weniger in feinem 
Geifte ausgeführt find; daß hier und dort eine Form geblieben, aber 
der urfprängliche Geift aus ihr entiwichen ift, und daß nicht felten 
jener Eifer, welcher dem inneren An = und Fortbaue der chriftlihen Wiſ⸗ 
ſenſchaft und des chriftlichen Lebens zugewendet fein follte, aͤngſtlich der 
Erhaltung alles und jebes Dergebrachten zugemwenbet wird. Wenn man 





i 
2 Kathofkeiäirne:i'n Kauf. 


daher den Karpolktuniiß' und deffen gefegneten Einfluß auf Bolker · und 
Bürgerwohl fbrdern WIN," muß man die Wiſſenſchaft und Liebe bes reis 
‚nen (nicht des tatkonaitfltfhen) Chrifterrthums unter feinen Bekennern 
pflegen; muß dadurch fein (des Katholicismus) Selbitbeiwußtfein mög 
tchft allgemein aufklaͤren und feine innerfte geiftige Lebens+ und Krieh- 
kraft heben. Was ihm der Durchgang durch die Tahrhunderte, war 
nicht in feinem Weſen, wohl aber in feinem Beiwerk Ungehöriges ange 
hängt Haben mag, wird fofort (fan Laffe ihm mir Seit) durch feine ger 
funde innere Kraft Son ſelbſt außgeftogen und abgeworfen werden. Yede 


eines Gemeindebezirks gelegenen unbeweglichen Gutes fei. Im alten 
Deutſchland war bdafke anerkannt, wer ein But untee Garantie der 
Gemeinde durch öffentliche Auflaffung bes bisherigen Inhabers: vor ders 
felben erworben hatte. Dieſe Form Sam wegen fhrer Läftigkeit mit der 
Zeit in Abgang, umb eine andere, leichtere, dabei zugleich zuverlaͤſſigere 
trat an ihre Stelle, beſtehend darin, dag die Käufe in öffentliche, unter 
der Garantie dee Gemeinde geführte Bücher eingefchrieben wurden, und 
nur derjenige für den rechtmäßigen Eigenthuͤmer und dinglich Werechtig- 
ten eines unbeweglichen Gutes galt, den diefe Beurkundung dafür ers 


Härte. Diefe Form befteht mitunter noch jest. Außerdem aber wird 
heut zu Tage theild nur zum Zweck des Beweiſes, häufiger jedoch zur 
zechtlichen Gültigkeit eines Kaufvertrags über Immobilien erfordert, daß 


i 


' Kauf. — Rinbermorb. a 


Sin. manchen Ländern iſt es den Beamten gefehlich verboten, inner» 
halb ihres Amtsbezirks unbewegliche Güter zu kaufen“), oder bei öffent» 
licher Verſtelgerung ſolcher mitzubieten**), wovon der Grund offenbar 
darin Gegt, zu verhindern, daß das amtliche Anfehen zur Bereicherung 
auf Koften Anderer mißbraucht werde, | 

In Beziehung auf Mobilien iſt insbefondere der Viehverkaͤufe zu 


erwähnen, mobei allgemein dee Verkäufer bem' Käufer für gewiſſe echeb> 


liche, nicht in die Augen fallende Fehler und Krankheiten, fogenannte 
Hauptfehler, während einer gefeglich beflimmten Zeit, gewöhnlid, von 
14 Tagen ober 4 Wochen (Währzeit), haften muß, fo daß der Käufer 
innerhalb dieſer Zeit wegen eines folchen entdedten Fehlers vom Ver⸗ 
teag abgehen kann, in fo fern die Gontrahenten nicht ausdruͤcklich etwas 
Anderes bebungen haben. Diefes findet Statt bei Pferden, Rindvieh, 
Schafen und Schweinen. 

Endlich iſt noch zu erwähnen bes in älteren Reichsgeſetzen (Reichs⸗ 
polizei⸗Ordn. von 1543 Fit. 10. und von 1577 Xit. 19) gegen den 
Wucher gerichteten Verbots, Früchte, die noch auf dem Halme ftehen, 
zu laufen, es wäre benn, daß ber Kaufpreis nach dem gemeinen 
Werth des Ertrags zur Zeit des Gontracts ober 14 Tage nach ber 
Ernte beſtimmt wird. G. Ruͤhl. 

Ketzer, ſ. Auto da fe und Duldung. 

Kindermord. Verheimlichung der Schwangerſchaft 
und Geburt. Abtreibung ber Leibesfrucht. Kinderaus⸗ 
ſezung. — Unter ben Verbrechen, weiche als Beraubung des Gutes, 
das als das hoͤchſte angeſehen wird, als Beraubung des Lebens ers 
ſcheinen, hebt ſich durch charakteriſtiſche Individualitaͤt der Kinder⸗ 
mordese) hervor, die von ber Mutter an ihrem neugeborenen lebens⸗ 
fähigen unehelihen Kinde begangene Xödtungr). Diefer Mifferhat 


*) 3. 8. in Braunfchweig. 
*0) In Heſſen. 
vr Burzer, Bemerkung über den Kindermord und deſſen Beſtrafung 
(eeipiig, 1822). Sans von bem Verbrechen des Kindermords. Hannover, 
1824, Mittermaier, Beiträge zur Lehre vom Verbrechen des Kindermords 
und der Verheimlichung der —— (im ſiebenten Bande des Neuen 
Archivs des Sriminalrechts, Halle, 1825). Moft, Encyklopaͤdie der Staatsarzneis 
kunde, Band 1. Leipzig, 1838, &.1001—1016 s.v. „Kindermord, In- 
fanticidium Te und &. 1016 
—1020 s. v „Kindermord (criminaliftifher). Brefeld, Beitrag 
Er Lehre vom Kindermord, befonders in Beziehung auf die Repifton der 
dnigl, preuß. GStrafgefede (S. 368-388 des 32. Bandes der Hentefchen 
Zeitſchr. f. d. GStaatsargneit, Grlangen, 1836). Henke, Bemerkungen zu 
biefem Beitrage (©. 426353 deff. Band. feiner Zeitſchr.). 
+) Spangenberg über den Begriff bes Kindermorbs (im zweiten 
und dritten Bande des Neuen Arch. d. Grim.sechts). Mehrere Strafrechts⸗ 
lehrer forbern bie berandgegangene Berheimlichung der Schwangerfchaft zum 
Begriff und Thatbeſtand; allein biefe ift, in Verbindung mit der Werhrims 
lichung der Riederkunft, nur die gewöhnliche vorangehende Begleitung der That, 
Bergi. übrigens Wäctes Über Werheimlichung der Schwangerſchaft und 


ga 


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240 —E— 


gibt ſich, vorzugewetſe aus dem publieiſtiſche n Geſichtopunete in's 
Auge gefaßt, befonders in drei Beziehungen bie Betrachtung hin: — 
GSefeggebung und Gefeggebungspolicit binfichtlich der Straſe, befonders 
der Größe derſelben. — Staatsarzneikunde, als gerichtliche Medicin, 
Lehrerin des Gefeggebers und ein wichtiges Hülfsmittel der Steafrechts: 
pflege. — Mittel, um dem Verbrechen vorzubeugen. 

ı Gefeggebung und Gefeggebungspolitit*). Das beutfche 
Mittelalter erfannte in der That der Mutter, welche fähig fei, das 
kaum aus ihrem Schooße in das Leben hinausblidende Kind, das 
fie unter ihrem Herzen getragen, mit eigener Hand oder durch Ver⸗ 
fagung der nöthigen Hälfsleiftung zu tödten, ein unnatuͤrliches Ver⸗ 
brechen, welches mit der Graufamkeit beſtraft werden müffe, mit wel: 
her es begangen worden fei; es vollzog die Strafe bes Lebendigbegra⸗ 
bens und Pfählens**). Die Strafgefeggebung- Kaifer Karl's bes Fünf: 
ten behielt diefe qualificirte Todesftrafe nur ausnahmsweiſe bei und droht, 
im Algemeinen milder, der Schuldigen den Tod durch Ertraͤnken. 
Artikel 131 der peinlichen Gerichte: Ordnung: „Welche Weiber ihre 
Kinder, fo das Leben und Gliedmaß empfangen haben, heimlicher, 
boßhafftiger, willlger Weiß ertödten, die werben gewöhnlich lebendig 
begraben und gepfäle. Aber barinnen Verzweiflung zu verhüten, 
mögen diefelbigen Uebelthäterin, in welchem Gericht bie Bequemlichkeit 
des Waffers vorhanden ift, -ertränkt werden. Wo aber foldyes Uebel 
offt geſchaͤhe, wollen wir die gemeldte Gewohnheit des Vergrabens und 
Pfaͤlens um mehr Furcht willen folder boßhafftigen Weiber auch zu 
taffen.” Der fpätere Gerichtsgebrauch behielt die Todesſtrafe bei, welche 
er in die Strafe des Schwertes verwandelte***); ließ ſich aber in neues 
ver Zeit von ber durch bie Wiffenfchaft nahe gerüdten Betrachtung der 


Niederkunft, als Erforberniffe des Thatbeftandes des Kindermorbs (Archiv des 





Kintermort. | 793 


zur That Eüheiuben Motlve, fo wie bes geifiigen und phyfiſchen Zuſtan⸗ 
des dev Gebaͤrenden, dazu befiimmen, von ber Todesſtrafe abzugehen*) 
und nur. auf zeitige, hochſten⸗ lebenẽewierige Freiheiteſtrafe zu erkennen. 
—— werde da, wo auf bie Todesſtrafe erkannt wurde, dieſe 

icht voltgogen**). Schon im vorigen Jahrhunderte erhoben ſich, un⸗ 
* derch das abſchreckende Beiſpiel graͤuelvoller Juſtizmorde, Stim⸗ 

gegen Die extreme Veſtrafung bes ſogenannten Kindermords. 
(Deus mit NRecht fagt Mittermaier a. a. O. S. 218: „Unrichtig iſt 
e6, wenn man den Kindermorb immer als eine Art des Mordes ans 
ſicht, da in den meiften Faͤllen gewiß mehr ein Zufland zum Grunde 
Itegt, ber dem Buftande des Tobtſchlags zu. Grunde liege”) Be ccaria***) 
gab fein von Anden unterftüßtes}) Votum ab, weiches aber von den 
Geſetzgebern fofort nicht beachtet wurde. Der Schöpfer des preußifchen 
Landrechts, das auch als Straf: Gefegbudy noch herrſcht, verordnet 
(X. 2. Tit. 20. $. 966-967) noch: „Eine Mutter, die ihr neuges 
borened Kind bei ober nach bee Geburt vorfäglich toͤdtet, foll mit der 
Todesſtrafe des Schwertes belegt werden tt). Jebe vorfägliche Unter 
nehmung oder Veranflaltung ber Mutter, welche den Tod ihres neu- 
geborenen Kindes, dem gewöhnlichen und ihr bekannten Laufe der Dirige 
gemäß, nad fi, gezogen hat, ift mit diefer Strafe zu ahnden. Wenn 
eine Wöcnesin ihr Kind durch umterlafiene Werbindimg ber Nabel⸗ 
ſchnur vorfägtich verbiuten läßt, oder demfelben bie nöthige Pflege und 
Abwartung vorfägtih entzieht, fo wird fie als bie Mörderin deffelben 
angeſehen PD." Ja ſelbſt dad bereits aus dem Schooße des neunzehn⸗ 


*) FJenerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts. Mit vielen Anmer⸗ 
en und au ſatparagraphen herausgegeben von Mittermaier. Gießen, 

1. Rote 1 des Herausgebers zu $. 236. ©. 217. 218. 
Pr So wurde 4. 8. im Sabre 1831 in Würtemberg in 4 Faͤllen auf die 
| —5* dieſe aber nicht vollſtreckt. Archiv des Eriminalrechts. 
Kr Fe. Sa 4 1834, ©. 10. Weber Hannover und Dänemark f. ebens 


**7) Abhandlung von Dertrehen und Gtrafen. Aus bem Stalienifchen von 
Bergk. Leipzig, 178. Th. 1. S 292. 

+) unterfu ‚ob der Berfchuldung einer Kindesmörderin die Todes⸗ 
Auafe angemeffen Bon on ©. U. D. Eeimia, 1798. 

+4) De Dalber g’fhe „Entwurf eines Gefehbuchs in Griminalfachen‘ 

(v. 1792) fehlug vor: „Kindermord im Augenblide ber Geburt, ohne vor⸗ 

Worfas, ift der Betäubung zuzufchreiben, wird mit 10 Jahren 

Bei vorhergehendem Vorſate aber ſteht 

Gehen tung auf u kant. Berbreden. Ausfegung der Kinder wird 


lein, & emein b einli 
ne 


nen * 4. a Griminalrechts. in, 1827. G. 614. $. 1084. 
Zum Bad, Aufichten und ——— über ga ände bes Gtrafs 
rechts mit einem Ruͤckblicke auf iſchen Fe — als Beitrag zur Re⸗ 
viſion ber 5* Bein, Ye, V. ueber Kinberr 


morb.” Hitzig chrift Sie —— — e in den preuß. 
Staaten. d 1. Berlin, 1825. ©. 120 — 132; —XR das WBer⸗ 
Staats s Lexikon. IX 16 


ten SJahrhunbert6 hervorgehende feangöfiiche Sstcafgefecbud behielt, dem 
eher an's Licht getzetenen öfterreichlichen. Gitrafcober (u... 1803) 
gegenüber, deſſen Exhöpfer ſich enefchloh, ſelbſt die Todtung neugebores 
ner ehelicher Kinder nicht mit Todedſtrafe zu bedrohen und iebens⸗ 
wierige Kerkerſtrafe zu fubftitwiren, und die Toͤdtung neugeborener un = 
ehelicher Kinder nur mit zeitiger Freiheitsſtrafe (Kerker) zu verpönen *), 
die Todesſtrafe (meiche auch der Entwurf eines Strafgefegbuches für das Kö⸗ 
nigreich der Niederlande aboptirt hat; f. Neues Archiv des Criminalcecht6, 
Bd. 10, &. 192) bei. Denn während e6 im Art. 300 heißt: „Der Tobt- 
ſchlag eines neugeborenen Kindes heißt Kindermorb” beftimmt ber Art. 
su, der Gegenftand fo vieler Kritiken, fehr lakoniſch und ſummartiſch 

weiter: „Jeder des Mordes, Eitern⸗, Kinder: und. Giftmordes Schul 


b des Kindermorbs nad preußifhen Gefegen.” (Aus 
—— —A an 2, 0 


rechene der Töbtun 
allge des zu (en Rechis Berlin, 1836. 
(®. jorofität diefer —ã— auch —8 fir bie 
Gegenwart ii in — 3 e se 8* (zugleich auf Gina dindeutend, wo ber Kinders 
mord, ai at, der eberobiterung zu fleuern, geftattet ift) es Wohi bes 
bhaupten wir, daß der Mord ein Berbrechen fei, welches Obrigkeit ohne 
fehwere Be ap ber Bere Ber: nicht geringer, als mit Ya Tode beficas 
fen bürfes ) vorfanben fein, beim SKindermorbe von ber 
einfachen Zobesflrafe abguacihen, wenn ber Thatbeftand beffelben volftändig 
hergeftellt iſtz daß auch das Leben des unehelichen neugeborenen Kindes benfelben 
Anfpruch auf den San der Landesobrigkeit Hat, wie jedes andere Menſchen⸗ 
leben, als foren, ba es unrecht und uncühmlic fei, aus furchtſamer (?) 
Milde gegen das Werbrechen jedem Kinde diefen Schub, deſſen es in noch weit 
größerem Maße bedarf, als das Leben ermachfener Menfchen, oder chelicher 
Kinder, fhmälern zu wollen, endlich — ba bei alternden Völkern die Gefegt 
eben fo Einfluß ar die Sitten, als im ——— der Nationen die 
bie 





Kindermord. 243 


dige, wird mit dem Tode beitraft*). Das von dem fpanifchen Cor⸗ 
tes berathene und am 9. Juli 1822 publiciete (von Ferdinand bem 
Siebenten nad feiner Reftauration außer Wirkſamkeit gefekte) Straf 
gefegbuch, weiches im Ganzen ben Code penal zum Muſter genommen 
hatte, wich in dieſer Beziehung von ihm ab, indem es (Art. 613) ben 
Kindermorb nur mit zeitiger Sreiheitsftcafe (fünfzehn bis fünfundzwans 
sigjährige8 Arbeitshaus) und Verweiſung aus dem Drt der begangenen 
That und zehn Meilen im Umkreiſe bedrohte”*). In Deutfchland ers 
fcheint als Uebergangsftufe die Griminalgefeggebung für das Koͤnigrei 
Baiern v. J. 1813, welche (Th. 1. Art. 157) den Kindermorb 
Zuchthaus auf unbeflimmte Zeit, wiederholten Kindermorb aber mit 
Todesſtrafe bedroht ***). Denn die neueften Strafgefegbücher und Ent⸗ 
würfe derſelben haben die Todesſtrafe ganz ausgeſchloſſen 7). So 


— — 





*) Gtreafeoder für das franzbfifche Reich, uͤberſegt und mit Anmerkungen ze. 
verfehen von &. Hundrich. odeburg, 1811. &. 115. 116. Wergleiche 
noh Wildberg, Jahrb. der Staatsarzneitunde. Band 3. Leipzig, 1837., &, 
576-5: „Sommentar zum 300. Art. bes Code penal, enb ben 
Kindermord, der an einem Kinde begangen worden if, das noch 
nicht geathmet bat.’ Haas, observations sur le projet_ de revision 
du Code penal, presente au chambres beiges. Gund. Vol, II. 1836. p. 
180—191, wo ber Werfafler diefen Gober in Bezug auf Kindermord beu 
und Berbefferungsvorfchläge macht, Weber die Rechtsſprechung des Cafſations⸗ 
hofs, wornach beide Gitern und auch Dritte fich des Kindermords Tchuldig 
machen Eönnen, f. Dullez, jurisprudence generale de Royaume. Tom. 
XIL p. 1 Rote. > 

"r) GSriminaliftifche Beiträge, herausgegeben von Hudtwalker unb 
Trummer, Band 1. Hamburg, 1825: „Die Strafgefeggebung der 
Cortes.“ S. 34. Als nach der Iulirevolution ſich die Stimmen Die 
Berbefferung ber GStrafgefehgebung immer lebhafter ausfprachen, und man fors 
berte, daß auch der Kindermord nicht mehr abfolut mit der Todesſtrafe bedroht 
werbe, wurde biefes Botum von der diefe Revifion vornehmenden Geſetzge⸗ 
bung vom 28, April 1832 nicht beachtet, indem man, da das Geſet ben 
fhworenen bie Befugniß einräumte, auczuſprechen, daß Milderungsgruͤnde vor⸗ 
lägen, fih begnügte, auf biefe Befugniß hinzugeigen, welche die Todesſtr 
abmwenben inne. ©. Mittermaier, das franzöfifhe Belek v. 23. 
1832 über die Verbeſſerung der Criminalgeſezgebung, geprüft. (S. 319— 
des 13. Bandes des Neuen Archivs des Sriminalrechte. Dalle, 1832, S. 340. SA4. 

) Steafgefeggebung für bas Königreich Baiern. München, 1813. ©, 66, 
Die Revifionen diefes Gefehbuhs haben die Tobesftrafe als Strafe des Kins 
dermorbs verworfen. Vergl. übrigens noch Gens, mebicinifche Bemerkungen 
über das neue Strafgefegbuch für das Königreich Baiern. Nürnberg, 1817,6.8 ff. 

+) Shen das im Jahre 1816 für ben Canton Zeffin erlaffene, im 
Jahre 1822 revidirte Geſetzbuch ſchloß, zeitige Freiheitsſtrafe fubflitufrend, bie 
Todesſtrafe aus, während noch im Jahre 1823 ein Geſet für ben Canton 
Bern (abgebrudt im Neuen Archiv bes Eriminalrechts, Band 7, &. 45—52), 
in Beruͤckſichtigung befonderer Verhältniffe (die Motive hoben hervor , daß die 
leidige Sitte bes Kiltgange die Schärfe des Gefuͤhls für Geſchlechtsehre fo fehr 
abgeftu babe, daß die Abſicht der Rettung derfelben- nur fehr felten noch 
dee Antrieb gur That fei, und die höchft graufame Art ber Toͤdtung bes Kin⸗ 
bes eine Rohheit beurkunde, die nur durch Androhung ber Todesſtrafe Inigens 
maßen zurüdgebrängt werben koͤnne) dieſe ertremfte Strafe fanctionirt as 
Strafgeſetrebuch für den Ganton Zürich v. 3. October 187 gaßt ſechs⸗ dis 








= 


—5 


Kinbermprd. 2% 


haften Handlungen, oder Unterlaffungen der Mutter, in Folge ber 
Härflofigkeit bei der Niederkunft allein um das Leben gelommen tft 
($. 196). Hatte fich die außerehelich Schwangere ohne bie Abſicht, bas 
Kind zu tödten, in folhe Lage verfegt, und iſt fobann das Kind in 
Folge ber Hülftofigkeit bei der Nieberkunft allein, ohne Mitwirkung ans 
derer fchulbhafter Handlungen ober Unterlaffungen ber Mutter, um das 
Leben gekommen, fo wird fie mit Gefängniß oder Arheitshaufe bis zu 
zwei Jahren beftraft ($. 197). Iſt in den Fällen des $. 195 Nr. 2 
und des $. 196 das Kind nicht in Folge der Hürflofigkeit bei der Nies 
derfunft allein, fondern unter Mitwirkung anderer, ber Mutter zur 
Sahrläffigkeit zuzurechnenden Handlungen oder Unterlaffungen um das 
Leben gelommen, fo Finnen bie dort gedrohten Strafen um bie Hälfte 
erhöht werden*).” In verwandtem Sinne find die für das König: 
reich Hannover**) und fürdas Großherzogthum Heffen**) 
berechneten ntwürfe von Streafgefesbüchern verfaßt. Alle diefe Er: 
ſcheinungen der neueften Zeit find Urkunden der fie beherrfchenden 
Geſetzgebungspolitik, die ſich nach allen Seiten hin geltend gemacht hat 
und auch bie Redaction des für das Königreich Griechenland erlaffenen 
Strafgeſetzbuchs beherrſchte. (S. Maurer, das griechifhe Volk ıc. 
Band 3. Heidelberg, 1835. S. 415. 416.) 
Staatsarzneitunde. Diefe, welche in neuerer Zeit, beſon⸗ 
bers in Deutfchland, ſich einer forgfältigen Pflege erfreut, macht, 
fo wie fie überhaupt eine praktiſche Wiffenfchaft iſt, welche die Staats: 
verwaltung für Gefeggebung, Adminiſtration und Rechtspflege verwen⸗ 
det, ihren Einfluß auch in einer Beziehung geltend, in der fie eine bes 
fonbers wichtige Aufgabe dienend zu Iöfen hat. Den Gefeggeber, ber 
zu der Stelle feines Werks gekommen ift, wo er fich über das Verbre⸗ 
hen und die Strafe der Tödtung neugeborener Kinder ausfprechen foll, 
fest die Staatsarzneitunde, in ihrem Charakter als gerichtliche Mebicin, 
in ben Stand, den rechten Weg einzufchlagen, indem fie ihm ihre Erfah⸗ 
rungen und Beobachtungen über den fomatifchen und geiftigen Zuftand 
einer Gebärenden hingibt; fie zeigt ihm, daß dieſer Zufland als ein 
Eörperlich krankhafter anzufehen ift, der nicht felten fogar Ehefrauen als 


*) &. Annalen ber deutſchen und ausländifchen Griminalrechtspflege , bes 
gründet dom Griminalbirector Dr. Higig in Berlin und fortgefeht don ben 
chta⸗Directoren Dr. Demme in Altenburg und Klunge in Beik. 
Bande Torigefepten Eetifäen Bemehungen ———— 
e " en Bemerkungen e96’6 au adiſchen ⸗ 
wurfe ara) ©. 286. 2897. sn 
Spangenberg, einige Bemerkungen über die Strafe bes Kinder: 
morbs in auf den Artikel 225 bes Entwurfs eines Strafgeſetzbuchs für 
das Königreidh Hannover (&. 631 ꝛc. des 8. Bandes des Neuen Archivs des 
Griminalrchts. Halle, 1826), Mittermaier, über ben neueften Zuſtand 
der Erinrinalg — in Deutſchland. Bit Prüfung ber neuen Entwuͤrfe 
für die Königreidhe Hannover und’ Sachen.’ Seibelberg, 1825. &. 38. 
vr) Get eines Steatgef budis Für bas_@roßfergogthum Seffen, 
- übergeben bet zweiten Kammer ber Staͤnde. Harmſtadt, bin 22. April 1886. 


246 Kindermorb. 


Erftgebärende in einen Zuftand . vorübergehende Geiftesftörung verſetzt, 
und Iehet, daß die Maſſe von Gefühlen, welche auf eine außerehelich 
Gebärmde, vermöge ihrer befonderen Lage, einftürmen, bie neruöfe 
Reizbarkeit fteigert,, weiche der Geburtsact erweckt*). „So hat daher”, 
fagt Mittermaier a. a D. (N. Arch. d. Er.“R. Bd. 7) ©. 23, 
nber Geſetzgeber die Pflicht, als den Grund für die milbere Anfiche 
bes Kindermords bie durch dem Act ber Geburt erhöhte Reizbarkeit des 
Gemüthes und bie krankhafte, das Nervenſyſtem ergreifende Veränderung 
zu berüdfichtigen, in welcher mit der hoͤchſten Kraft die Vorftelungen 
der Zucht vor Schande und ber Armuth auf die Seele der Gebärenden 
einftärmen und den Enefchluß bes Mordes entweder erzeugen, ober zur 
Reife bringen.” Der Strafrechtöpflege dient die Staatsarzneitunde in 
ihrer Verzweigung ale legale Medicin zur Feſtſtellung wichtlger Vor⸗ 
fragm**). Schon darum, weil der Geburtsact felbft das Leben des 


*) Henke S. 219 1c. bes zweiten Heftes ber Naffe’fchen Zeitfchrift für 
ea & Aerzte v. 3. 1819. Mende, dandbuch ber den Mebiein 
jand 4. 617 ıc. Slarus, Beitedge ger Sztenntnip pi eifelpafter Serien: 
uftände, ne 1828. 8. 821 27. Wigand über einen wich en 
Ynet bei Unterfuchung bes Kindermorbs (im 9. Band des Kopp ’fchen 
buche der Gtaatsarzneitunde, &. 116 ıc.) Derfelbe, die Geburt des 
Denfchen, Perantaegehen von Nägele. Band 1. Berlin, 1820, ©. 68 1. 
Platner Lipothymia parturientium quantum ad excusationem infan- 
tieidit, Lips. 1801. ade, die —— biget der Schwangeren und 
Gebärenden, beleuchtet ıc. king, 1 SHreyer, Gutadten 
über eine ——— hwangesfhaft und Geburt, ein 
getras sur Beurtpeilung ber Burehnungsfäbigkeit der 


Schwangeren unb Gebärenden. (©. 1% zıc. bes 23. Grgänzungss 
beftes der Henke’ Zeitſchr. fär bie Staatsergneit. Erlangen, 1887. 
Moft a. a. D. Band 2. Leipzig, 1839. =. v. „Mania“ ©, 170. 171, wo 
ber Berfaffer (Dr. To tt) unter Anderem vorträgt: „Daß in Folge der Aufregung 
* Anſtrengung, worin. ſich waͤtrend bes Geb —* das Steromfoften oft be⸗ 

Hi in_Kolae der das 





SKindermord. 247 


Kindes gefährdet, kann es nicht als gewiß angenommen werden, daß es 
nach dee Geburt gelebt habe; beflimmte Merkmale müffen fich bafür 
bingeben, daß biefes der Fall geweſen*). Das Erkennen und Würs 
digen" diefer Merkmale ift die Aufgabe der Staatsarzneiltunde, der Be 
ruf ihrer Beamten, der Gerichtsärzte. Als ein wichtiges, aber nad 
ben Zugeftänbnifien der Pfleger diefer Wiſſenſchaft nicht ganz untrüg: 
liches Mittel zur Erforfhung erfcheint die fogenannte Lungen oder 
Athemprobe**), welche, erſt feit dem Jahre 1683 in Uebung”***) und 


lichen Rechtspflege.“ S. 603—625. Pet. Kemper’s Abhandlung von den 
Kennzeichen des Lebens und Todes bei neugeborenen Kindern. Aus bem Hol⸗ 
laͤndiſchen. Frankfurt, 1777. Riemann, Taſchenbuch ber Gtaatsarzneis 
tunde. Band 1. Gerichtlihe Arzneiwiſſenſchaft. Leipzig, 1827. $. 32 ıc. 
Mende, Handbuh Bd. 3, Gap. 235—27. Metsger, Syſtem der gericht: 
lichen Arznetwiffenfhaft, 4. Ausgabe von Gruner. Königsberg und eipg ‚ 
1814. Dritter Abfchnitt S. 272—377; „Zweifelhafte Geburtsfaͤlle.“ Henke, 
Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Neunte Auflage, Berlin, 1838. $. 506 
—605 : ‚‚Unterfuchungen über zweifelhafte Todesarten neugeborener Kinder.‘ 
Schwärer, Beiträge zur Lehre von dem Thatbeftande bes Kindermorbs Über: 
haupt, und ben ungewiflen Zobesarten neugeborener Kinder insbefonderez nebft 
Mittheilung eines Falle von tödtlihem, während der Geburt, ohne Einwir⸗ 
rung Außerer Gewalt entflandenen Schaͤdelbruche eines Kindes. Freiburg, 
1836 (verglichen mit ber Beurtheilung diefer Schrift &. 314324 des 25. Er: 
gänzungsheftes der Henke'ſchen Zeitfchrift f. d. Staatsarzneikuͤnde. Erlangen, 
1838). Mittermaier, die Lehre vom Beweiſe im beutfchen Strafproceffe. 
Darmflabt, 183. ©. 211. 212. Denke, Abhandlungen aus dem Gebiete 
der gerichtlichen Medicin, Band 5. Leipzig, 1834. Abb. II: ‚Zur Lehre von 
ben rüfungemetoben und Kennzeichen zum Behufe der gerichtöärztlichen Ent⸗ 
ſcheidung über Leben ober Zobtgeborenfein der tobtgefundenen neugeborenen 
Kinder. G. 115—157. 

*) Mittermaier a. a. D. Beiträge ıc. „J. 10. Crforberniß, daß 
das Kind lebend zur Welt gekommen ſei.“ S. 493—522. Bünther, Re 
viſion der Kriterien, deren ſich gewöhnlich die gerichtliche Arzneiwiffenfchaft zur 
Entfcheidung der Frage bedient, ob todtgefundene neugeborene Kinder eines nas 
türlichen ober gewaltfamen Todes verflorben. Gbln, 1820. 


Banb 2. Aufl. 2. Geige, 1823. S. 83 1. Mende, Handbuch. 
3, Sap. 26: „Von der Athbem-: und Lungenprobe” ©. 475-515. 
Wildberg, Lehrbuch der Staatsarzneitunde. Band 4. Leipzig, 1838. &. 192 — 
202: „Ueber den nicht zu beffreitenden Antheil ber vollftändigen 
Lungenprobe an der fiheren Beweisführung des Statt gehabs 
ten oder niht Statt gehabten Refpirationslebens‘ und 304326. 
574—612. Dr. Kriemer, welchen wiffenfhaftlihen und legalen 
Werth Hatdbiekungenprobe in Beziehung auf bie Ermittelun 
von Statt gehbabtem Leben eines Kindes nah ber Beburt?” 
Moft, Encykiopädie. Band 2. Leipzig, 1839. ©, 117—142. 3. v. „Lungen: 
probe. Dr. Gleitsmann, aur Lehre von der Lungenprobe und beren Werth 
als Beweismittel in gerichtlichen Fällen 3 nebft Anfichten über den Thatbeſtand des 
Kindermordes. (&. 239—270 des 36. Bandes der Hente’fchen Zeitfchr. f. d. St. 
A.⸗K. Grlangen, 1838.) Dr. Hohnbaum, „Fundſchein und Butachten über 
ein angeblich todtgeborenes Kind, nebft Bemertungen über fich widerfprechende Er⸗ 
gebniffe der Lungenprobe.” (S: :288 :c. des 26. Ergaͤnzungsheftes der Hente- 
chen Beitfchr. Erlangen, 1839.) 

‚) Mende, Handbuch. Band 1. &. 1466. Kurze Geſchichte ber 
gerichtlichen Medicin. ©. 175 ıc. Kriemer a. a. D. ©. 308. 309. 





248 . Kinbermorb. 


ben Satz lehtend, das Schwimmen ber Zungen eines neugeborenen Kin⸗ 
des thue dar, baß das Kind nach ber Geburt gelebt und geathmet 
habe, das Niederſinken derſelben aber zeige, daß «ed ſchon vor der Ge— 
burt geftorben fei, fich darauf ftügt, daß durch das Achmen bes Kindes, 
welches mit dem Augenbiide beginnt, wo es geboren wird, in deſſen 
Körper bedeutende Veränderungen vorgehen*), daß ber vorher flache 
Thorar (Bruftlaften) ſich mehr wölht, daß bie Lungen, welche vorher 
den Bruſtkaſten nicht ausfüllen, fondern zufammengehalten nad hinten 
zu in einem befchränften Raume liegen, nun ausgedehnt find, bie 
Bruſthoͤhle mehr ausfüllen und ben Herzbeutel mehr hebeden. Als ein 
anderes Mittel erfcheint die zuerſt von Autenrieth in feiner Schrift: 
Anleitung für gerichtliche Aerzte bei Legalinfpectionen und Sectionen.” 
(Tübingen, 1806) empfohlene Leberprobe**) zwar felbftftändig nicht 
von Gewicht, aber in fo fern von Werth, als fe andere Beweiſe unter- 
ftügt ober ſcheinbare Beweiſe widerlegt. Auch die fogenannte Harn» 
blafenprobe**) und Kindespehprobe }) kommen in Be 
tracht. — Iſt ermittelt, daß das Kind nad der Geburt, wenn auch 
nur ganz Burg, gelebt hat, fo hat bie Staatsarzneikunde noch zu erforfchen, 
ob das Kind eines natürlichen oder eines gewaltfamen Todes geftorben fei, 
und auf welche negative }}) ober pofitive Weife, ob an Erſtickung, Vers 
biutung duch bie Nabelſchnur, Entziehung der Wärme, Verlegung 
u. f. 1. — eine Exforfchung , die nicht felten ſeht ſchwierig if. Ferner ift 
es, wenn fid) Bmeifel darüber erheben, ob bie Angefchuldigte geboren 
babe, Sache der Stantsärzte, diefe Thatſache zu ermitteln. Zulegt find 
diefe berufen, gu unterfuchen, im welcher Lage ſich die Mutter im Mo— 
mente der Geburt befunden, ob die Wehen fehr ſchmerzhaft waren, und 
. die Geburtsperioden länge dauerten, zu ermitteln, wie ihr koͤrperlicher 
und geiftiger Zuſtand bamals war, und bie Frage ber Zurechnungsfähigkeit 
moͤgũchſt erfchöpfend zu beantivorten. 
erhü i 








Kinbermorb. 248 


bie Geifter und Gemuͤther beſchaͤftigt. An Rathſchlaͤgen und Werfuchen 
hat es nicht gefehlt. In Preußen glaubte man ſchon bald nach der Mitte 
bes vorigen Jahrhunderts das Ziel auf dem Wege der Geſetzgebung zu er⸗ 
reichen. Unter'm 8. Februar 1765 wurde ein Geſetz wieder den Mord 
neugeborener unehelicher Kinder, Werheimlihung der Schwangerſchaft 
und Niederkunft erlafien*), welches ber ſpaͤteren Geſetzgebung zu Grund 
gelegt wurde. Das preußifche Landrecht**) verordnet nämlih (Ih. 2. 
Tit. 20. 6. 888—932): „Ss. 888. Um ben Kindermorb möglichfl zu ver- 
hüten, haben bie Geſetze unbefcholtenen ledigen Weibsperfonen , wenn fie 
unter dem Verfprechen der Ehe geſchwaͤngert worden, bie Rechte und 
Wuͤrden einer Ehefrau, oder wo bie Ehe nicht Statt finden kann, einer 
Hausfrau beigelegt (Zit. 1. $. 1047 sqg.). $. 889. In jeglichem Falle 
haben Weibsperfonen, welche außer der Ehe gefhmängert worden, bie 
Tit. 1. $. 1044 sqq. ober doch die $. 1023 sqq. beftimmte Entfchä- 
digung von dem Schwängerer zu erwarten. $. 890. Auch für das Belle 
der aus einem unehelihen Beiſchlafe erzeugten Kinder ift durch die Vor⸗ 
fchriften des neunten Abfchnitts ins zweiten Zitel geforge***). 6. 891. &o- 
bald die Schwangerfchaft angezeigt ift, muß der Leibesfrucht ein Vor⸗ 
mund beflellt werden, welcher beren Rechte wahrnehmen , und für bes ' 
Kindes Verpflegung und Erziehung forgen mug (Tit. 2. 6. 614 sqq.). 
$. 892. In welchen Fällen die Verwandten ber Mutter und des Schwän- 
gerers unb zulegt der Staat bei Verpflegung bes unehelihen Kindes zu 
* Hülfe tommen muͤſſen, ift ebenfalls am angeführten Orte verordnet. 
$. 893. Befonders ift jedes Orts Obrigkeit bie Vorforge für dergleichen 
Kinder zu übernehmen ſchuldig. 6. 894. Wo keine öffentlichen Gebaͤr⸗ 
bäufer vorhanden find, muß bie an jebem Orte zur Hülfe ber unchelich 
Geſchwaͤngerten beftellte Hebamme ſchwangere und ber Entbindung nahe 
Perſonen, bie ſich bei ihe melden, ohne Widerrede aufnehmen und mit 
der erforderlichen Pflege verforgen. F. 895. Die Obrigkeit jedes Orts 
muß bafür forgen, daß ben Hebammen, welche zu dieſer Werpflegung be: 
ſtimmt find, eine binlänglidy geraume Wohnung verfchafft, und fie mit 
dem nöthigen Vorſchuſſe, zu Beſtreitung der Miebertunftss und Ver⸗ 
pflegungstoften, verfehen werben. 6. 896. Kann bergleichen Vorſchuß 
von dem Schwängerer, ober denen, welche bei beffen Ermangelung oder 
Unvermögen dazu verpflichtet find, nicht fofort beigetrieben werden , fo muß 
die Obrigkeit felbigen aus einer dazu angemwiefenen oͤffentlichen Caſſe neh: 
men. $. 897. Iſt die Geſchwaͤngerte den Vorſchuß aus eigenen Mitteln 
zu leiften im Stande: fo ſoll ihr dazu durch bie bereitefle Erecation gegen 
den Schwängerer wieder verholfen werben. 6.898. Auch ift jeder An: 


*) Peter Frank Hat biefes Belek, weil es „einen fo einen Bei: 
fall’’ verdiene und „ber allgemeinen Rothwen der Sache fo angemeffen‘ 
fei 5* 7 des Bernd —— * einer —V me⸗ 
dicini o , vollſtaͤndig mitgetheilt. Vergl. 
daruͤber: Bum Bach a. a. O. ©. 219 ıc. . si nor 

or Grundſaͤte. ©. 251 ıc. 

" Moſt, Encyklopaͤbie. Band 1. ©. 1002. 








250 Kindermord. 


verwandte, und uͤberhaupt jeder wohlgeſinnte Bürger bes Staats berech⸗- 
tigt, ſich der Geſchwaͤngerten anzunehmen, ſie zu verpflegen und die 
Auslagen von demjenigen, welcher eigentlich dazu verpflichtet wäre, zus 
rüdzufordern. $. 899. Zur Seftfegung ſolcher Forderungen (6. 897. 898.) 
fol kein förmlicher — verſtattet, ſondern die obrigkeitlich ermaͤßigte 
Summe von dem eigentlichen Schuldner, ſobald derſelbe ausgemittelt iſt, 
unverzüglich beigetrieben werden. 6. 900. An Orten, wo zur Geburts⸗ 
huͤlfe dec unehelich Geſchwaͤngerten keine eigenen Hebammen beftellt find, 
muß diejenige, bei welcher fi) die Schwangere meldet, mit deren Anver⸗ 
wandten, Herrſchaft oder Hausgenoffen den Drt der Niederkunft und 
die Verpflegung während ber Wochen verabreben; wenn biefes aber nicht ge: 
ſchehen ann, ber Obrigkeit den Fall zur weiteren Verfügung anzeigen. 
5. 901. Jede Srauensperfon, die eines unehelihen Beiſchlafs ſich bewußt 
iſt, muß auf ihre koͤrperliche Beſchaffenheit und die bei ihr fich ereignen= 
den ungewöhnlichen Umftände forgfältig Acht haben. $. 902. Mütter, 
Pflegerinnen und Andere, die in Ermangelung ber Mutter an deren 
Stelle treten, müffen daher ihre Töchter ober Pflegebefohlenen, nad) zus 
ruͤckgelegtem vierzehnten Jahre, von ben Kennzeichen der Schwangerfchaft, 
und den Vorſichtsregeln bei Schwangerfhaften und Nieberkunften, bes 
fonders von der Nothwendigkeit der Verbindung ber Mabelfchnur, jedoch 
mit Vorficht unterrichten. $. 903. Sobald eine Geſchwaͤchte aus folhen 
ungewöhnlichen Umftänden eine Schwangerfhaft vermuthen kann, muß 
fie davon ihrem Schwaͤngerer Nachricht geben, auch ſich den Eltern, 
Vormuͤndern oder, bei deren Ermangelung, einer Hebamme, oder einer 
andern ehrbaren Frau, welche felbft ſchon Kinder gehabt hat, entdedten, 
und fich deren Unterrichts bedienen. $. 904. Frauensperſonen, welche 





ſich nicht unter Aufſicht ihrer Anverwandten oder Vormünder befinden, 
oder ſich dieſen ſogieich zu entdecken Anftand nehmen, müffen, fobalb 
fie ihrer Schwangerfhaft gewiß find, nothtwendig einer Hebamme oder 


N Kindermord. 351 


bei herannahender Niederkunft ihre Pflicht erfüllt, bleibt von aller Vers 
antwortung frei, felbft wenn ein tobte® Kind zur Welt kommen follte. 
$. 910. Gefchieht die Entbindung im Beiſein zweier Frauen, unter 
welche auch die Mutter zu rechnen ift, fo Tann bie Geburt, außer 
dem Kalle einer richterlichen Nachfrage, gegen Jedermann verfchiwiegen 
werden. $. 911. Wenn ber Geburtshelfer oder bie Hebamme gegen- 
waͤrtig iſt, fo ift die Anmefenheit einer einzigen ehrbaren Frau hinrels 
hend. $. 912. War aber nur die Geburtshelferin oder eine andere 
Perſon ganz allein bei ber Miederkunft zugegen, fo muß biefe, wenn 
das Kind todt zur Melt gefommen, ober binnen vierundzmanzig 
Stunden nach der Geburt geftorben ift, einen folhen Vorfall bei Ver⸗ 
meldung breis bis fechsmonatliher Gefaͤngniß⸗ oder Zuchthausftrafe, 
dem Richter ohne Zeitverluft zue nähern Unterfuhung anzeigen. $. 918 
Ueberhaupt muß außer dem Falle des 8. 910. 911 die todtgeborene, oder 
binnen vierundzwanzig Stunden nah der Geburt verftorbene unehe⸗ 
liche Leibesfrucht dem Richter allemal binnen vierundzwmanzig Stun: 
den nach der Geburt, ober dem Tode des Kindes vorgezeigt werben. 
$. 914. Jede Mannsperfon, die fi) eines außer der Ehe gepflogenen 
Beifchlafs bewußt ift, muß auf bie Folgen, welche dieſe Handlung bei 
ber Gefchwächten hervorbringen kann, aufmerkfam fein. $. 915. Sos 
bald er durch die Entdeckung ber Gefchwächten, oder fonft, bie vor; 
bandene Schwangerfchaft vermuthen kann, muß er darauf dringen, bag 
bie Geſchwaͤchte den geſetzlichen Vorſchriften ($. 901—913) gehörig 
nachkomme. $. 916. Berabfäumt er diefe Pflicht ($. 915): fo madht 
er fih in allen Fällen, wo die Geſchwaͤchte zur Strafe gezogen werden 
muß, einer zwei⸗ bis viermonatlichen Gefängnißftrafe fhuldig. 6. 917. 
Auf die einer Schwangerſchaft verbächtigen Meibsperfonen muͤſſen bie 
Eitern derfelben, befonders die Mutter, oder bie an deren Stelle teitt, 
genaue Obficht nehmen. $. 918. Eine gleiche Pflicht liegt den Dienft- 
berefchaften ober denjenigen Hausbebienten ob, benen die Auffidht über 
das meibliche Geſinde aufgetragen iſt. F. 919. Auch Haus: oder Stu: 
benwirthinnen , bei melden ledige Weibsperfonen gemeinen Standes 
ohne ihre Eltern fich eingemiethet haben, Binnen ſich diefer Obliegens 
‚beit nicht entziehen. $. 920. Alle vorftehend benannte Perfonen muͤſ⸗ 
fen, fobald fie zum Verdachte einee Schwangerfchaft Anlaß finden, bie 
Verdächtige zur Rede ftellen; und nad erfolgtem Eingeftändniffe, das, 
was zur Verhütung eines beforglichen Verbrechens dienen kann, veran- 
ftatten. $. 921. Wollen fie dergleichen Vorhaltung nicht felbft uͤberneh⸗ 
men, ober leugnet bie Verdächtige eine vorhandene Schwangerfchaft be 
harrlich, ohne die Gründe des Verdachts durch mahrfcheinliche Gegen: 
gründe zu heben, fo müffen fie ihren Verdacht, nebft ben Gründen bef: 
felben, der Obrigkeit zur weitern Unterfuchung anzeigen. $. 922. Jede 
der Schwangerfchaft Verdaͤchtige muß fich, bei beharrlichem Leugnen, 
auf Verlangen ber Eltern, Dienftherefchaft oder Obrigkeit, und nad) dem 
Befinden zweler ehrbaren Frauen, ber Unterfuchung einer vereibeten Hıb- 
amme unterwerfen. 5. 928. Findet biefe keinen Grund zum Verdacht: 





asa Kinbermord. 


fo müffen Eiteen, Dienſtherrſchaften und Obrigkeit bei ihrem Zeugniffe 
fi berußigen. $. 924. Die Hebamme felbft aber muß nody ferner auf 
dergleichen verbädhtig gewefene Perfon ein wachſames Auge richten und, 
bei fid) ereignendem vermehrten Verbachte, die Unterſuchung wiederholen. 
$. 925. Wird die Verdächtige bei der Unterſuchung wirklich ſchwanger be⸗ 
funden, fo muß bie Hebamme entweder mit ben Eltern ober fonfligen 
Vorgefegten ber Schivangeren, wegen ber Art ihrer Niederkunft, das 
Nöthige verabreden, ober den Fall ber Obrigkeit anzeigen. 6.926. Im 
letztern Sale muß die Dirigfelt die Schwangere einer genauen Aufficht 
unterorbnen, und zur Verhütung eines Kindermordes zwecmaͤßige Ver⸗ 
fügungen treffen. 6. 927. Wenn bie $. 917—919 und 924 benannten 
Perfonen ihre Pflichten vernachlaͤſſigen, und dadurch zu einem Kinder 
morde auch nur entfernten Anlaß geben: fo haben fie dadurch zwei, 
vier: bis ſechsmonatliche Gefaͤngniß⸗ oder Zuchthausſtrafe verwirkt. 
$. 928. Mütter und Pflegerinnen, "die ſich einer ſolchen Verabſaͤumung 
ihrer Pflichten ſchuldig machen, ſollen mit der haͤrteſten im $. 927 be⸗ 
ſtimmten Strafe belegt, faumfelige Obrigkeiten aber, nach Verhaͤltniß 
ihrer Verſchuldung, mit Suspenſion oder Caſſation beſtraft werden. 
$. 929. Auch ſolchen Perſonen, welche mit der Geſchwaͤngerten in kei⸗ 
ner beſondern Verbindung ſtehen, liegt dennoch ob, diefelbe, wenn fie 
ihnen ihre Schwangerfchaft anvertraut oder eingefleht, zu Beobachtung 
der gefeglichen Vorfchriften ($. 901 sqg.) auzumahnen. $. 930. Neh⸗ 
men fie wahr, daß fie ihre Schwangerſchaft auf eine gefegwidrige Weiſe 
zu verheimlichen Millens fei, fo müffen fie ſoiches ihren Eltern, Vor— 
münden, ober andern Perfonen, unter deren nähern Aufficht fie fi 


befindet, oder auch der Obrigkeit ungefäumt anzeigen. $. 931. Die 
unterlaffene Beobachtung biefer Vorfchriften fol, wenn bie Leibesfrucht 
duch Schuld ber Geſchwaͤchten verunglüdt, mit einer vierwoͤchentlich— 
Gefaͤngniß⸗, oder fünfzig Thalern Geldfteafe geahndet werden. 6. 932. 
PN hi allen olla hisisninsn solche ih 244 hi un an 





den Alabennoch und Worfärtäge, demſelben beſonders bir Auſtalten 
für Wr unehellcher Kinder zuvorgulommen (im Jahrg. 1778 
dee Behffägchfe: Ephemeriben der Menſchheit), — Bölkerfam, Pils 
uſcher Berfach, den Kindermord ohne alle Strafen und ohne daß der 
si tüte Sindeihäufererbaunmg beſchwert wird, ſicher vorzubeugen, 
—5E Heß, ee —5 —ã— en 
die atieflihebaren ‚ bem Kindermorb alt zu th? 
1780. — Urber den Kindermord. (©. 5% ic. des neunten Bandes 
von Schtözer’s Briefwechſel. Der Verf. ſchlaͤgt vor, ein Gefeg zu 
erlaſſen, weiches den Vater des Kindes noͤthige, daß er „die Gefchwächte 
eratfje, ober bei gar zu ungleichem Gtande morhdärftig dotire und die 
urt älkmentice,” und das auch die Ehe bei ihrer Eingehung zum Bu⸗ 
dung eines Fonds für bie Ernährung unehelicher Kinder befteuere)*). — 
Uber den Kindermord. (S. 198 1c. deffelben Bandes des Schlöͤz. 
Brtefwechſels. Der Verfaffer ertheilt den Rath, befonders durch Unter» 
sit, dahin zu wirken, daß „nach umd nach der Begriff von Schande,” 
ber atıf dem witehötichen Finde und deffen Mutter ruhe, fid) Yerflere, 
und dakur zu forgm, daß Erſteres auf öffentliche Koſten verforgt 
werde) — Gpöris, Beantwortung ber Mannheimiſchen Frage: 
Meldhes find die beften ausführbarften Mittel, dem Kindermorde Ein 
halt er eh 7 I En en I ae 
über dieſelbe Preisfinge an ten 7t., welche ig, 
die neuere Literatur der Polizei und Cameratiftit. Th. 2. ©. 21. 22. 
verzeläpnet find). — Veantwortimg der Frage: Weiches find die beſten 
ausrührbaren Mittel wider ben Kindermord? Frankfurt und Leipzig, 
1782. (Huch diefes Jahr war gefegnet an Schriften zc. über daffelbe 
Thema, |. Röffig a. a. O. ©. 22. 23.) Knippel, freimthige 
Gedanken, Wünfhe und Vorfchläge eines vaterländifhen Bürgers aͤber 
den Kindermord. Germanien, 1783. — Schlegel, Mittel zur Ver— 
19 bes Kindermords, bei Gelegenheit der Mannheimer Aufgabe. 
Leipgig, 1783. — Ueber Empfindelei und Rraftgenie. 1783. Heft 1. 
Me. 8: „Bom Kindermord.“ — H. Peftalozzi über Geſetgebung 
und Kindermord zc. Deſſau, 1785. — Drei Preisfchriften über bie 
Trage: Walches find die beften und ausführbarften Mittel, dem Kin⸗ 
dermorbe abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünfligen? Mannheim, 
1784. — Unvorgreiflihe Betrachtungen über die drei zu Mannheim 
gekronten Schriften von ber beiten ausführbaren Verhütung bes Kinder 
mords. Leipzig, 1785 — Scloffer, die Wubblaner, eine nicht 
gekzönte Hreloſchrift: Wie ift der Kindermord. zi verhindern? Bafel, 
1785. — v. Bint, Abhandlung über die beten und ausführlichen 
Mittel, den Kindermord zu verhüten (in Poffelt's wiſſenſchaftlichem 
'87 


Magazin für Aufklärung. Band 3. St. 2. Nr. 13. 1787). — 


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in Feruben vi Yäykhe Baht beruhen cima 30 Danne —— 


254 Kindermord. 


Servin über die peinliche Geſebgebung. Aus dem Eranzöfiichen 
von Gruner. Nürnberg, 1786. ©. 176 x. (Der en 
dachte ſich nicht, als Mittel zur Werhinderung bed Kindesmords bie 
Verftümmelung der Schuldigen vorzufchlagen, ihr 3. B. „die Nafe oder 
die Dberlefze abzufhhneiden” und ihr mit einem glühenden Eifen ein 
Zeichen, welches auf Ihe Verbrechen Hindeutet, auf die Stirne zu 
drüden, indem er meint, daß nichts geeigneter zur Abſchreckung wäre.) 
Dr. Pfeil, Preisſchrift von ben beiten und ausführbarfien Mitteln, 
dem Kindermorde abzubelfen, ohne bie Unzucht zu begünftigen. Leipzig, 
1788. — Rathlof, vom @eift der Criminalgefege. Bremen, 1790. 
Erfter Anhang. Der Kindermord und feine Strafen, nebft den Mit⸗ 
tein, demfelben vorzubeugen. &.147 ıc. (Der Verf. glaubt, das befte 
Mittel beftehe in Anflalten zur Aufnahme Schwangerer zum Zwecke 
ihrer Niederkunft, unter Bewahrung bes Geheimnifies für ſolche, weiche 
ihre Schande verbergen wollten)*). — Der Kindermord zur Beherzigung 
am alle meine Mitmenfhen. Roſtock, 1792. — P. Frank a. a. D. 
(Spftem) Band 4. S. 145 ıc,**)— Sreimäthige Gedanken, Wuͤnſche 
und Vorſchlaͤge über den Kindermord und bie Mittel, denfelben zu hin 
dern. Stendal, 1793. — Ueber den Kindermord, feine Quellen und 
feine Verhütung. Baireuth, 1799. — Weber, ſyſtematiſches Hands 
budy der Staatswirthſchaft. Band 1. Abtheilung 1. Berlin, 1804. 
$. 52: „Won dee Fürforge der Polizei um unehelih Schwangere und 
von Verhütung des Kindesmords“ S. 198—201. — Spangen- 
berg über die Vorbeugungsmittel zur Verhütung bed Kindesmords 
(&. 165—176 des dritten Bandes ber Zeitſchrift für die Criminalrechts⸗ 
pflege in den preußiſchen Staaten, herausgegeben von Higig, Berlin, 
1826. (Der Verf. ſchlaͤgt unter Beurtheilung der preußiſchen Geſet⸗ 
gebung ***) vor, den Verführer, die Hebamme, den Arzt, Apotheker, 





SKindermord. 255 


Eiteen Kunb Pflegeeltern, Vormuͤnder u. f. w. durch Strafandrohung 
anzubalten, bie vermuthete ober entdeckte Schwangerſchaft ber Orts⸗ 
obrigfeit anzuzeigen, bie Sefchwächte vor Beleidigungen und Vorwuͤr⸗ 
fen zu fügen und, im Halle ihrer Dürftigkeit, ihr und ihrem Rinde aus 
ber. .Semeinbecaffe Dülfe zu gewähren.) — Mohl, Syſtem der Praͤ⸗ 
ventivfufliz ober Rechtspolizei. Tuͤbingen, 1834, ©. 275—277. — 
Zum Bad a. a. O. ©. 206. — Meyer a. a. O. S. 71. 


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gen Perfonen, welche bie Geſchwaͤngerte auf die Schwangerfchaft anzureden 
und fie darum gu befragen, gefeglich befugt und verpflichtet find, allein 
angemeffen. Sch verfenne es nicht, daB biefer meiner Anficht bedeutende Aus 
to entgegenflchen ‚ indem feit dem preußifchen Edicte vom 8. Februar 
1765 alle mir belannte neuere Gefehgebungen,, mit Ausnahme einer einzigen, 
die Gefchwängerten zur Selbſtanzeige verpflichten, und man daher die Zweck⸗ 
maͤßigkeit derſelben, als durch die Erfahrung bewährt, anzunehmen geneigt 
fein muß. Außer der preußifchen, in dem angezogenen Edicte und bem 
allgemeinen Landrechte ausgefprochenen GBefeggebung , verpflichten auch die ol⸗ 
denburgifche Berorbnung vom 25. November 1776, die walbedifche 
Verordnung vom 3. Januar 1780, und bie heffenscaffelfche Verordnung 
vom 10. Geptember 1765, welche unter dem 22. Zuni 1787, den 2. Auguft 
1803 und noch neulih am 2. Auguft 1815 erneuert ift, die unchelich Ges 
ſchwaͤngerten unbebingt zur Selbſtanzeige; wogegen die einzige anhalt⸗ 
berndurgifche Werorbnung vom 9, September 1799 eine ſolche Verpflichtung 
nicht ausfpricht, fonbern es bei einer Gontrole von außenher beenden läßt. 
t6 ' erlaube ich es mir, gegen eine ſolche Verpflichtung Fol⸗ 
genbes bemerklich zu machen. Es ift zwar gewiß, daß ein verführtes Mädchen 
keinen beſſern Beweis feiner unfträflichen Abfichten in Bezug auf das zu ges 
bärenbe Kind barbringen kann, als wenn fie ſelbſt ihre Schwangerfchaft anzeigt. 
Es lehrt jeboch die tägliche Erfahrung, wie ſchwer eine ſolche Seilbſtanzeige 
von einer Geſchwaͤchten zu erhalten iſt. In ber Regel find, wie jeder aufs 
mertfame Griminalrichter einräumen wird, diejenigen Sefchwächten, welche ihre 
Schwangerſchaft verheimliht haben, keineswegs liederliche Dirnen, fondern ges 
woͤhnlich chwaͤngerte gefallene Maͤdchen, welche theils mit den Kennzei⸗ 
chen der angerſchaft, worin ja oft die groͤßten Aerzte ſich geirrt haben, 
und ſich feibft Ehefrauen noch taͤglich taͤuſchen, unbekannt geblieben find, theils 
ein hohes: Gefuͤ chande befigen und eifrig nach der Erhaltung ihres 
Ramens und der Ausficht, durch eine Heirath ihr Gluͤck zu machen, 
Unterlaffen fie, im erſten Kalle, aus Unbelanntfchaft mit den Kenns 
der Schwangerfchaft,, die Seibſtanzeige, fo koͤnnen fie der Uebertretung 
des Geſetzes nicht für ſchuldig geachtet werben. Das allgemeine Landrecht 
($. MR) Hat zwar diefen Fall vorgefehen, und verfügt, daß jede Frauen 
fon, die eines unehelichen Beifchlafs fich bewußt fei, auf ihre Törperliche 
ſchaffenheit und die ſich bei ihr ereignenden Eörperlichen Umftände forgfältig 
Acht Haben folle, ja fogar, um den Geſchwaͤchten bieferhalb alle Entſchuldigung 
abzuſchneiden, die Mütter, Pflegerinnen und Andere, die in Ermangslung. ber 
Mutter an deren Stelle treten, verpflichtet, ihre Töchter und Pflegebefohlenen 
nah zurüdgelegtem” viergehnten Jahre von den Kennzeichen ber Schwangere 
f und ben Worfichtöregein bei Schwangerfchaften und Niederkunften, bee 
fonders von der Nothwendigkeit der Unterbinbung der Rabelfchnur, genau zu 
unterrichten. Indeſſen möchten doch biefe Borfchriften ſchwerlich auf allgemeis 
nen Beifall rechnen dürfen. Es iſt fehr leicht zu fagen, daß Geſchwaͤchte auf 
thre Törperlichen ‚umftände Acht Haben follenz ber jener anbefohlenen Aufs 
merkſamkeit aber ſehr ſchwer zu erreihen. Dergleichen Geſchwaͤchte, befonders 
ba das Borurtheil auf dem Lanbe fo tief eingewurzeit iſt, der erſte Beiſchlaf 





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Kindermord. 257 


tenswerther Geſichtspunct) und in einer firengen Gefeßgebung gegen 
ben Water des unehelichen Kindes, wegen der Pflicht der Sorge für 
daffelbe befteht. In letzter Beziehung Hat mit Recht ein ftrenger 
Zabel die ben Kinbermord fördernde Gefehgebung getroffen, welche 
durch das Werbot ber Erforfhung der Vaterſchaft dem Erzeuger einen 
Freibrief gefchrieben hat, alſo bie feanzöfifche Geſetzgebung, welche im 
Artikel 8340 des Givilcoder ein ſolches Verbot ausgefprohen hat, und 
die Gefebgebungen der Staaten, weldye fogar ohne das Auskunftsmit: 
tel Frankteichs, die Sindelhäufer, zu adoptiren, aus deſſen Legislation 
geſchoͤpft Haben, alfo z. B. die von Baden *), vom Großherzogthum Hef: 
fen**)u.f.w. Vergleiche Pfeiffer, Ideen zu einer neuen Civilgefehge- 
bung für beutfche Staaten. Göttingen, 1815. $. 39. „Unehelidhe 
Kinder. Erforfhung der Baterfhaft.” Mohl a. a. D. 
S. 277 Note *’**). Es ift nicht zu leugnen, daß die Errichtung von 


*%), Zaharid: „Zur Bergleihung bes franzdfifhen und 
englifhen Rechts mit dem gemeinen deutſchen Redte in ber 
gebre vondem Rechte uneheliher Kinder, die Paternitäts: 
und Baterfhaftsflage anzuftellen” (&. 1—46 des zehnten Bandes 
der kritiſchen Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft und Geſetggebung des Auslan⸗ 
des. Heidelberg, 1838) leugnet (S. 41 — 43) mit Mittermaier: „Be: 
trahtungen über bie Bermehrung der Zahl ber une helichen 
Kinder’ (im Juliheft der Pblig’fchen Jahrbücher für Geſchichte und Staats: 
tunft v. 3. 1835), daß biefe Befeggebung den Kindermord befördere, indem er 
fih befonders auf die Erfahrung im Großherzogthume Baden, in wels 
chem Jahren 1829 — 1835 42 Unterfuchungen wegen biefes Verbrechens 
verhängt wurben, auf welche in 13 Fällen Freiſprechung erfolgte, bezieht. Die 
Grfahrung im Großberzogthume Heſſen bezeugt das Gegentheil. &iche meinen 
Beitrag zum britten Bande des A. Müller’ fchen Archivs für die neuefte Ge⸗ 
feggebung aller beutichen Staaten. Mainz, 1882: „Die Civil- und Gri- 
minalgefeggebung des Großherzogthums Heffen feit der 
Zeit, da daffelbe zu den conflitutionellen Staaten gehört.“ 
Viertes Sapitel: „Geſetz über die Aufhebung der fogenannten 
Kornicationsftrafen.” (S. 439— 476) ©. 464 — 466. Anmeri. 

++) S. Bloret: ‚‚Diftorifchskritifche Darftellung der Berhanblungen ber 
Stänbeverfammlung des Großherz. Heflen im Jahre 1820. 1821.” &. 262-269, 
Allg. Iufligs, Samerals und Polizeiffama v. 3. 1830, Nr. 59. 60: „Weber 

cationsproceß und Fornicationsitrafen im Groß. Heflen’’ meinen gen. Beitr. 
m Müller’fchen Archiv, und Röder: „Kritifche Beiträge zur Wergleichung 
merkwuͤrdiger beutfcher und auslänbifcher Geſeggebung und Rechtspflege über die 
außereheliche Geſchlechtogemeinſchaft, Vaterſchaft und Kindſchaft, zunaͤchſt in 
Bezug auf den Art. 340 des Code Nap. etc. Darmſtadt, 1837. 

) Der Verf. macht darauf aufmerkfam, daß zu den Mitteln, dem Kin⸗ 
dermorbe vorzubeugen, gehören „die Rötbigung des Waters, ſich aud bes uns 
ehelichen Kindes nach allen Kräften anzunehmen“, und fügt in der Note hinzu: 
„Dieſe Borfchläge find dem Grundfage mancher Zheoretiter, und namentlich auch 
der frangöflfchen Geſetzgebung gerabezu entgegen, nach welchem nämlich jede Un⸗ 
terfuchung der Waterfchaft und noch vielmehr alfo jede mißbeliebige Folge der⸗ 
felben unbevingt unterfagt wird. heile follen hierdurch falfche Anklagen und 
Mißgriffe verhindert, theils dem weiblichen @efchlechte weitere Gründe zur Zu⸗ 
rüdhaltung gegeben werben. Allein offenbar wird dadurch eine große Unbillig« 
Eeit gegen Mutter und Kind begangen, bei dem Manne eine tiefe Unfittlichkeit 
jogar bervorgelodt und ſchließ lich zum Kindermorde faft genöthigt.“ 

GStaats⸗Lexikon. IX, 17 





\ . 
258 Kindermorb. 
Findelhaͤuſern ein fehr wirkſames Mittel iſt *); die Erfahrungen der 
Staaten, welche ſolche Anflalten befigen, iſt Lehre. So ift z. B. bie 
Zahl der Kindermorde in Preußen, wo Leine ſolchen Inſtitute beftchen, 
die ſechsfache gegen bie in Frankreich **), wo bekanntlich laͤngſt ſolche Fine 
delhaͤuſer beſtehen. Allein abgeſehen davon, daß in dieſen Verwah⸗ 
tungsanftalten bisher eine ſeht große Sterblichkeit herrſchte, ſprechen 
gegen ſolche Inſtitute wichtige Gründe, befonders ſolche, welche ſich aus 
der Nothwendigkeit der Auftechthaltung und Bewahrung der Sittlichleit 
ergeben, deren Werlegung ſich keines Privilegiums erfreuen darf. 
Nach dem gemeinen beutfchen Strafrechte iſt Berheimlichung 

ber Shwangerfhaft und Riederkunfe***), bie, wie ſchon bes 

«merkt, nicht zum Begtiffe und Thatbeſtande des Werbrechens des Kins 
dermordes gehört, Sein felbftftänbiges Vergehen; es erkennt darin nur 
die Begruͤndun des Verdachts des Kindermordes, wenn das Kind tobt 
gefunden wird — Indeſſen hat die Rechtsſprechung (die Mutter neue ⸗ 
ser Theotie) ſich daran gewöhnt, auch in biefer Verheimlichung (als einer 
einen gefährlichen, polizeilichen Geſichtspunct barbietenden Handlung ) 
ein felbftftändiges Vergehen zu erkennen, und auch dann Strafe eintres 
ten zu laffen, wenn der darin wurzelnde Verdacht des Kindermordes 
nicht zum Beweiſe erhoben wird, alfo wegen beffelben nicht auf Strafe 
erfannt werden kann, oder biefe Verheimlichung nicht als (firafbarer) 
Ver ſuch des Kindermordes erfheint Ft). Neuere Geſetzgebungen find 


dieſes Leriton Band V. ©. 573 fi. ». v. „Bindelhäufen“ 
me, St eiwiſſenſchaft. Band I. ©. 836 ff. 

Moll a. 0. D. (Syftem ber Präventivjuftiz) ©. 276. Note, Julius, 
Bocfingn über Gefängnißkunde. Berlin, 1828. &. KXXVII, und LIE. 








Kindermord. 259 


diefem Impulſe gefolgt. Noch dem preußiſchen Strafrechte find Ver⸗ 
heimlichung dee Schwangerſchaft und Geburt an und für ſich ſtrafbare 
Vergehen; die Strafe beſtimmt ſich darnach, ob die Verheimlichung 
ſich auf beide Thatſachen erſtreckt, oder nicht, das Kind am Leben er⸗ 
halten worden iſt, oder nicht. Das Geſetz ſpricht ſich naͤmlich dahin 
aus: „H. 988. Eine Geſchwaͤchte, weiche die Entdeckung ber Schwan⸗ 
gerſchaft an die Eltern, Vormuͤnder, Dienſtherrſchaften, Hebammen 
oder Obrigkeit laͤnger als vierzehn Tage, nach dem ſie dieſelbe zuerſt 
wahrgenommen hatte, verſchiebt, macht ſich einer ſtrafbaren Verheim⸗ 
lichung der Schwangerſchaft ſchuldig, und wegen aller daraus entſte⸗ 
henden nachtheiligen Folgen verantwortlich. $. 934. So bald die Lei⸗ 
besfrucht das Alter von dreißig Wochen erfuͤllt hat, kann ber Vor⸗ 
wand, daß die Geſchwaͤchte ihre Schwangerſchaft noch nicht wahrgenom⸗ 
men habe, oder die zu deren Anzeige beſtimmte Friſt noch nicht abge⸗ 
laufen ſei, ferner nicht Start finden. $. 936. Wird eine Geſchwaͤch⸗ 
te, die ihre Schwangerſchaft nicht vorfchriftsmäßig angezeigt hat, von 
eine ungeitigen Leibesfrucht entbunden: fo begründet biefes wider fie 
eine Anzeige, daß fie die Frucht vorfäglich abgetrieben habe ($. 986. sqq.). 
6 936. Wird diefer Verdacht durch die darauf gerichtete Unterfuchung 
nicht beftätigt, fo wird file wegen verheimlichter Schwangerfhaft nach 
den folgenden Vorſchriften beftraft. $. 987. Wenn fie jedoch die uns ' 
zeitige Leibeöfeucht binnen vierundzwanzig Stunden nad ihrer Eut» 
bindung ben Gerichten vorzeigt; und weder bei der Obbuction, noch 
bei der vorläufigen Vernebmung ber Gebdrerin felbfi, fo wie derjeni⸗ 
gen, weiche zur Zeit der Entbindung um fie waren, einige weitere vers 
daͤchtige Umstände wegen etiwaiger Abtreibung ober Vernachlaͤſſigung der 
Frucht fi) hervorthun, ſo fol die Gebaͤrerin mit dee förmlichen Cri⸗ 
minalimenifiiion und allee Strafe verfhont und nur mit ben Koſten 
der ufigen Unterfuchung belegt werden. 6. 938. Faͤllt ihe nur 
eine Vernachlaͤſſigung der Leibesfrucht zur Laſt, fo bat fie eine vier 
bis acht Gefaͤngnißſtrafe verwirkt. 9. 939, Hat fie bie 
Leibesfrucht vorgugeigen unterlaſſen; 46 findet fich aber, daß felbige noch 
nid Wohn alt geweſen fei, fo hat die Geſchwaͤchte, wenn 
fie einer im $. 933 befchriebenen Berheimlichung der Schwangerfchaft 
ſchuldig befunden wird, je nachdem bie Leibesfrucht ſich diefem Alter 
mehr ober weniger genähert hatte, eine ſechsmonatliche bis zweijährige 
RBuchthauoſtrafe verwirkt. 6. 940. Iſt die nicht vorgezeigte Leibesfrucht 
wahrfcheiniicher Weile todt zus Welt gekommen; es kaun aber nicht 
ansgemittelt. werden, baß felbige unter dreißig Wochen alt geweſen fel, 
fo hat die Gebaͤrerin eine zwei» bis dreijährige Auchthausitsafe zu ger 
toärtigen. F. 941. Iſt es gewiß, bag das Kind bei der. Geburt gelebt 
babe, oden daß es zwar tobt geboren, aber ſchon dreißig Wochen ober 





— — 


meinrechtif bart Mitgetheitt | ‚Ratho. 
Ita Runbars itgusüeilt non Derem geh Ward m 
verneinte bie Frage. 178 





Anzeigen des gefliffentlichen Mifgebärens \] ‚u mit 
weiterer Untsefuchung gegen’ die Gebdterin —— in 
$. 948. b. It lt, daß Die Frucht ſchon uͤber 3: Monate, 
aber noch nicht 80 Mochen alt'gewefen, und —* die Gebaͤrerin nicht 


. 
li it der Geburt keine 
— Bean era, mb: and He mm ep — 
bei zugezogen worden. &. 946. Doch ſoll bie 


ten hat. 6. 946. 
ihre Schwangerſchaft bis zur Niederkunft verheimlicht hat, die Entſchui- 
digung, daß fie von der Geburt dibereilt worden, niemals zu Statten 
tommen. 6.947, Wenn wider die Verordnung des. $ 912. 913. 
Bat geben og Binnen, 20 Eitunden mad dr Genus neochme 


ee Sn ma a Ann 





Kindermord. 261 


mittelt werden, fo bat die Gebärerin eine zweijaͤhrige Zuchthausſtrafe 
verwirkt. 6. 954. Iſt der Zufall, wodurch das Kind dem Begraͤb⸗ 
niffe, oder der richterlichen Unterfuchung entzogen wird, durch bie 
Schuld der Gebärerin veranlaßt worden, fo bat fie, wenn ihre Unſchuld 
an dem Tode des Kindes ausgemittelt ift, eine einjährige, bei dem 
Mangel dieſes Beweiſes aber eine zwei⸗ bis breifährige Zuchthausftrafe 
zu gewärtigen. $. 955. Hat die Sebärerin die Leibesfrucht vorfäglich 
in den Zuſtand verfegt, daß ihre Verſchuldung oder Unfchuld an bem 
Tode des Kindes nicht mehr ausgemittelt werden kann, fo bat fie, ber 
angezeigteh Schwangerfchaft ungeachtet, nad, Verhaͤltniß der wider fle 
- flreitenden Vermuthung einer böfen Abficht, eine 4 bis Gjährige Zucht 
hausſtrafe verwirkt *). $. 956. SSft fie einer vorfäglihen unnatürlis 
hen Behandlung des Kindes verbädhtig, fo foll fie, je nachdem bies 
fee Verdadyt mehr oder weniger dringend ift, mit einer ſechſs⸗ bis zehns 
jährigen Zuchthausftrafe belegt werden. 6. 957. Hat die Gefchwächte 
Schmwangerfhaft und Niedertunft verheimlicht, fo fol fie, wenn fie ein 
volftändiges Kind tobt zur Welt gebracht hat, mit 4 bis G6jähriger 
Zuchthausarbeit geftraft werden. $. 958. Einem vollftändigen Kinde 
wird eine Leibesfrucht, welche ſchon Uber breißig Wochen alt ift, gleich 
geachtet; doch foll, wenn das Kind nicht völlig ausgetingen geweſen, 
nur ber niedrigfte Grad der gefeglichen Strafe Statt finden. $. 959. 
Hat das Kind, nad dem Befunde der Sachverſtaͤndigen, in der Ges 
burt noch gelebt, fo wird bie $. 957 beflimmte Strafe auf 8 bis 10 
Jahre erhöht. F. 960. a. Zeigen fid) aber an dem Körper des Kin⸗ 
bes tödtliche Verlegungen, ohne daß ein von der Mutter verübter Mord 
vollftändig ausgemittelt ift, fo fol diefelbe dennoch mit öffentlichen 
Staupenfchlage und lebenswieriger Zuchthausftrafe belegt werden. 6.960. b. 
Iſt zwar Leine Spur tödtlicher Verlegung, wohl aber der Verdacht 
einer ſonſtigen unnatürlichen und lebensgefaͤhrlichen Behandlung gegen 
die Gebärerin, welche Schmangerfhhaft und Geburt verheimlicht hat, 
vorhanden, fo findet gegen fie zwoͤlf⸗ bis funfzehnjährige Zuchthaus⸗ 
firafe nebft Willkommen und Abſchied Statt. $. 961. Iſt ein Kind, 
welches nad) $. 958 für volftändig zu achten, von einer Geſchwaͤch⸗ 
ten, welche die Schwangerfchaft nicht entdeckt hatte, heimlich geboren, 
defien Körper aber von ihr dergeftalt behandelt, ober mweggefchafft wor: 
den, daß die orbnungsmäßige Unterſuchung der Sachverſtaͤndigen: ob 
das Kind bei der Geburt gelebt habe? nicht mehr erfolgen kann, fo 
bat die Gebärerin gleiche Strafe ($. 960. b.) verwirkt. 6. 962. Iſt 
ausgemittelt, daß das Kind in ber Geburt gelebt Habe; die Mutter 
leugnet aber den Vorſatz, zu tödten, und Bann deſſen auch fonft nicht 
überführt werden: To fol die $. 960. a. beftimmte ordentliche Strafe 
wider fie Statt finden. $. 963. Der Beweis des Umftandes, dag 


*) Bergl. den III. Band von Hitzig's die Griminaleschtes 
in Draußen. ©. 259 — 264. anne Anfichten über 
die beftehenden Strafgeſetze.“ 3u 5. 955 ff. | 





263 Kindermord. 


das, erweiolich ohne Schuld der Gebaͤrerin, in ober nach ber Geburt 
geſtorbene Kind der richterlichen Unterſuchung durch einen von ihrer 
Seite unverfchuldeten Zufall entzogen worden, kann biefelbe, wenn fie 
die Schwangerſchaft nicht angezeigt und heimlich geboren hat, von 
der 5. 959 beftimmten acht» bis zehnjährigen Zuchthausftcafe nicht bes 
freien. $. 964. Werm es andy noch ungemiß ift, ob bie Gebärerin 
das tobte Kind vorſaͤtlich der richterfihen Unterſuchung entzogen habe, 
fo hat fie dennoch eine zehn» bis zwoͤlfjͤhtige Zuchthauoͤſttafe mit Will» 
tommen und Abſchied verwirkt, wenn fie ſowohi die Schwangerſchaft 
als Geburt verheimlicht hat.“ Dieſe Geſetzgebung bietet der Kritik 
vielen Stoff dar *), beſonders auch in fo fern, als fie es fuͤr unmoͤg⸗ 
lic) erklärt, daß die Geſchwaͤchte nach 30 Wochen ihren Zuftand nicht 


*) ©. Meyer a. a. D., wo ber Verf. im Allg. fagt: „Wie Id 
die vom — — gr 


mords, Berheimlicung 


erden 





Kindermord. 263 


folte erkannt haben, da die Erfahrung lehrt, daß das Gegentheil aller« 
dings möglich ift *). 

Unter den Gefetgebungen des neunzehnten Jahrhunderts (die 
Otrafgefetgebung von Frankreich beobachtet Stillſchweigen) hat bie 
Strafgefeugebung von Baiern die Verheimlichung der Schmangerfchaft 
und Geburt zwar für Bein felbftftändiges Verbrechen erklaͤrt, aber dieſe 
Handlung doch bedingt mit Strafe bedroht, namentlid dann, wenn 
„bucch diefe Verheimlichung felbft die todte Geburt oder das Abfterben. 
des Kindes fahrläffiger Weiſe veranlaßt worden iſt“, oder baraus Vers 
muthungen zu Ungunften der Mutter des Kindes hergeleitet **). Nach) 
der Geſetzgebung für den Canton Zürich (v. 3. 1835) „ift blos Vers 
heimlihung der Niederkunft an und für ſich ftrafbar ($. 155) 
und mit eins bis breimonatlichem Gefängniffe verpönt. Auch die Straf: 
gefeggebung für das Königreih Würtemberg***) bat nur bie 
„Derheimlichung der Geburt‘ in's Auge gefaßt, indem fie fid) unter 
diefer Ueberfchrift im Artikel 252 dahin ausfpriht: „Eine Perfon, 
welche ihre Niederkunft verheimlicht, ift 1) wenn fie biefes in der Abs 
fiht gethan hat, um ihre Kind zu tödten oder auszufegen, bie Auss 
führung dieſes Vorſatzes aber wegen dußerer Hinderniffe unterblieben 
tft, mit Arbeitshauſe zu beftrafen; follte jedoch die Verheimlihung nur 
in dee Abficht gefcheben fein, das Kind ohne Gefahr für daſſelbe aus: 
zufegen, fo kann auf Kreisgefängniß erkannt werben. 2) Iſt eine 
huͤlfloſe Niederkunft erfolgt und hierdurch allein oder unter Mitwirkung 
anderer fahrläffiger Handlungen ober Unterlaffungen die todte Geburt 
oder das Abfterben des Kindes veranlaßt worden; fo foll die Mutter, 
wenn fie bei der hülflofen Niederkunft bie Abjicht hatte, das Kind zu 
tödten, mit einjährigem Arbeitshaufe bie achtjährigem Zuchthaufe, falle 


*) Bum Bad a. a. D. S. 2112 ff. Knebel: „Zeichenlehre der Ent⸗ 
binbungstunft. Breslau, 1798. S. If. Mittermaier: „Weber die Hers 
Relung bee Tpatbeftantet des Kindbermorbes in Bezug auf bie Todesurſachen. 
(S. 024 — 661 bes VII. Bandes des Neun Archivs bes Criminalrechts. 
Halle, 1825.) &. 654. 655, mo ber Berf. u. A. fagt: „Schon das Obermes 
bicinalcollegium In Berlin (Gutachten in Palzow's Magazin der Rechtsgelehrſ. 
in den preuß. Staaten. Band J. S. 349) Hat bemerkt, daß oft Kalle eintres 
ten, in welchen die Schwangere bis zum legten Augenblicke entweber wegen 
allgemeiner gewöhnlicher Kraͤnklichkeit die Zeichen ber Schwangerfchaft nicht des 
achtet, ober bie apnehin oft ſchwachen Bewegungen bes Kindes für Blähungen 
oder krampfhafte Bewegungen Hält. Auch die Mebicinaldeputation von u 
(80 gr ® Lehrbuch ber Staatsarzneilunde. Wand IX. &. 44 ff.) verfickert, 
daß Beiſpiele von erfahrenen Frauen, die mehrere Kinder geboren, In fpäterer. 
Schwangerfchaft über ihren Zuſtand in vol Ungewißhelt blieben 3c. 
—— „Zur Lehre von der Moͤglichkeit einer der Schwangeren un⸗ 

ewußten Schwangerſchaft is ur ueberzafhung durch bie Geburt. Grfahruns 
gen aus meiner Praxis.” (S. 290 — 296 bed KXXVI. Bandes ber Henke'⸗ 
ſchen Beitfcht. f. d. Staatsarzneik. Griangen, 1839.) S. auch noch Mende, 
— — — 
. er und Aber bie onen biefes buchs Mittermai 
*8*) Abegg a. a. O. (Beitraͤge ꝛc.) G. 74. 75. 


264 Kindermorb. 


nur eine Ausfegung beabſichtigt war, mit Arheitshaus, 

auch eine ſolche Abficht nicht vorhanden war, mit —E — 
unter 6 Monaten, beſtraft werden. Die Niederkunft iſt verheimlicht, 
wenn die Gebaͤrende unter Umſtaͤnden, wo ſie zu der Entbindung den 
Beiſtand einer anderen Perfon haben konnte, entweder ohne Beiſein 
Anderer, oder nur in Gegenwart mit ihr einverflandener Perfonen ges 
boren hat.” Der Entwurf eines Strafgeſetzbuchs für das Großherzogs 
thum Heſſen ſchmiegt ſich diefer wörtembergifähen Gefeggebung ganz 
an. Ueber den Entwurf für Baden f. oben *). 

Dem Verbrechen des Kindermordes fteht nahe die Miffethat der 
Abtreibung der Leibesfruht**). Die mofaiihe Gefeugebung 
bedroht bloß den mit Strafe, meldyer durch mechanifhe Gewalt die 
Behlgeburt der Schwangeren verurſache, und übergeht die Bewirtung 
“ felben durch dynamiſche Mittel und durch die Mutter ſelbſt. Die 

Griechen erachteten, davon ausgehend, daß das Kind erfi nach der Ges 


= Wert. auch noch Abegg a. a. D. (Annalen. Bb. IV. &. 237. 238.) 
*) Schröder, vermifchte juriftifche ‚Abhandlungen. Band II. &. 431 ff. 
„Bon ber Abtreibung der Kinder,” Spangenberg: „Ueber 
"daB Verbrechen ber Abtreibung der eikesfeng 1” (im Neuen 
Archiv des Criminairechts. Band II. &. 1 — 58. 173 — 1! Servina. 
a. ©. &. 176— 181. ‚Won Abtreibung, Berlaflung und Aula 0 der Sr 
burt.“ Fe uerbach, Lehrb., Ausg. u. Mittermater S. 253—: 
ziaetigemedicinifa: Mo, Enchkiopädie. Kan I. 
S. 11 — 30. Megger, Suftem ıc. ©. 28; Unreife Geburten. '' 
Mende, „Hanbbudy der gerichtlichen Mebiein.” Dr W. 6. 537. Bert, 
„Elemenie der gerichtlichen Bedien. Erſte Hälfte. Weimar, 1827. ©. 217 ff. 
Henke, „Echrbuh” ıc. S. 600 — 605. Riemann, „Zafdenbuc  ıc. 
©83f. Fabrieius, „Kritit der kchre von der Abtreibung 
2 im XXXI. Bande der Henke'ſchen Zeitſchr.f. d. Staatsarznei⸗ 
tunde. Erlangen, 1836, S. 101 — 111. (Der Berf. ſucht darzuthun, daß die 
‚Theorie von den ſogenannten Abortivmitteln auf fchwantenden Füßen ſtehe und 








Kindermorbd. 265 


burt befeelt werde, das Abtreiben ber Leibesfeucht als erlaubt. Ertheilte 
ja Arifloteles felbft den Eheleuten, welche nicht im Stande fein, 
mehr Kinder zu ernähren, den Rath, zu biefem Mittel zu fchreiten 
(Holit. VIL 16.), defien fih, zu den Zelten des Sittenverfalls, bie 
Griechinnen (gleich den Römerinnen nad) dem Zeugniſſe Ovid's und 
Tertullian's) bedienten (jenes Peſſarium berüchtigten Andenkens). 
Bei den Römern herrſchte die gleiche Anſicht. Selbſt als der Sitten» 
verfall die Abtreibung der Leibesfrucht häufig werden ließ, wurde darin 
nur eine unmoralifhe Handlung erblidt, weiche zwar von ber Geifel 
Martial’s und Juvenal's, aber nicht von dem Strafgefege verfolgt 
wurde. Nur einmal murde, fo weit die Beurkundungen reichen, 
eine Frau wegen Abtreibung ihrer Leibesfrucht beftraft, aber nicht we⸗ 
gen diefer Handlung an und für fi, fondern wegen ihrer boshaften 
Abſicht; aus Haß gegen den Vater ihres Kindes, von welchem fie ge⸗ 
ſchieden war, trieb fie daſſelbe ab, um ihn der Vortheile zu berauben, 
welche ihm durch die Geburt eines Sohnes erwachfen waͤren; fie ward 
auf Anklage des fo Beeinträchtigten mit Verbannung beftraft-. (Cicero 
deutet außerdem in einer Rede auf bie Befltafung einer rau mit 
dem Tode hin, meil fie, ducch entfernte Verwandte ihred Gatten be⸗ 
ftochen , ihre Leibesfrucht abtrieb, um bdenfelben deſſen Vermögen zuzu⸗ 
wenden.) Nur unmittelbar fuchte der Geſetzgeber durch das Verbot ber 
Darreichung abtreibender Träne entgegenzumirten ; er geflattete außers 
dem demjenigen, welchem durch eine gewaltfam verurfachte Fehlgeburt ein 
Schaden verurfaht wurde, eine Klage auf Schabenerfat , ein Princip, 
welches auch in den Mechtsbüchern der Alemannen, Saalfranken, Ris 
juarier u. f. w. (die auch Kindermorb und Kinderausſetzung nicht vers 
pönten) berefcht *)., Erſt die päpflliche Geſetzgebung erhob in ihrem 
Geiſte die verabfcheute Handlung zur ſtrafbaren und bedrohte fie, wenn 
fie an einer fhon belebten Leibesfrucht begangen werde, mit dem Tode, 
- fonft mit Geldbuße. Die Gefeggebung Kaifer Karl’s des Zünften *), 
. auf welche die Lehre der Kirchenväter, daß das Kind durch die Toͤdtung 
im Mutterleibe der chriftlichen Taufe und ihres Segens beraubt werde, eine 
wirkte, fand (Art. 133 der peinl. Ger.⸗Ordn.) in der abfichtlichen Handlung 
ein fchweres, im Fall die Leibesfrucht fchon befeelt fei, mit dem Tode 
zu beftrafendes Verbrechen, möge es die Mutter oder ein Dritter be 


*) Dagegen verpönte das weftgothifche Geſetzbuch, welches fchon die Abtrei⸗ 
bung der Leibesfrucht durch dynamiſche Mittel Eennt, biefes Attentatz es 
verurtheilte Jeden, der einem Weibe einen abtreibenden Trank gegeben, zum 
Zobe und die Schwangere, die fich deffelben zum Abtreiben bedient hatte, zum 
Auspeitfchen, wenn fte Sklavin war, fonft zur Sklaverei. Bewirtung der 
Fehlgeburt durch äußere Gewalt hatte Geldfirafe, und, war der Schuldige ein 
Unfreier, Auspeitfchen zur Folge. Der Sachſen⸗ und Schmabenfpiegel ſchweigt. 
In England wird ſchon zur Zeit der Sachen die Bewirtung des Abortus, wenn 
der Foͤtus ſchon gebübet war, als Zöbtung beſtraft. Unter Eduard dem 
Dritten wurbe der Grunbfag herrſchend, daß die Zerflörung eines Kindes im 
Mutterleibe darum nicht frafbar fei, weil es noch nicht exiſtire, es alfo nicht 
Gegenſtand einer Zödtung fein könne. Crabb a. a. D. S. 297. 


266 Kinbermorb. 


gangen haben. Die Gefehgebungen der Neuzeit find auch Hier wenl⸗ 
ger rigorss. Awar bedrohte noch die Strafgefeggebung des Großher⸗ 
3096 Leopold von Toecana vom Jahre 1786 die Mutter und alle 
ihre Gehälfen und Mitfchuldigen mit dee Strafe des Mordes; allein 
dieſe Legislation hatte zugleich bie Todesſtrafe ausgefchloffen. Die preu⸗ 
giſche Strafgefengebung verhängt zeitige Zuchthausftrafe und nur bei 
Wiederholung lebenswierige Feſtungeſtrafe *). Der franzeſiſche Erimis 
nalcoder ſpricht ſich im Artikel 317 dahin aus: „Wer durch Rahrungs⸗ 
mittel, Getränke, Arzneimittel, Gemwaltthätigleiten, oder durch jedes 
andere Mittel die Abtreibung der Frucht einer Schwangeren mit ihrer 
Zuftimmung,, oder ohne fie betwirkt, wird mit der Einfperrung beffraft. 
Gleiche Strafe wird gegen bie Srauensperfon, welche die Abtreibung 
felbft betoirkt, ober welche bie Anwendung der ihr nachgewieſenen und 
ihe für diefen Zweck zugetheilten Mittel verftattet hat, ausgeſprochen, 
menn bie Abtreibung daraus erfolgte. Die Aerzte, Wundärzte und 
andere Gefundheitsbeamte, fo tie die Apotheker, welche diefe Mittel 
nachgetviefen oder zugetheilt haben, werden zu Bmwangsarbeiten verurtheilt, 
wenn die Abtreibung Statt fand **).” Das Öfterreihifhe Strafe 
geſetbbuch ($. 128— 132) droht mit zeitiger Kerkerftrafe von kuͤrzerer 
oder längerer Dauer, je nachdem bie Abtreibung bloß verfucht oder 
bewirkt worden, oder wenn nicht die Mutter die Schuldige ift, biefe 
dadurch an ihrer Gefundheit befchäbigt oder im Lebensgefahr gerathen 
mar. Im Wefentlichen übereinffimmend ift die baterifche Legislation 
(Artitel 172. 173), welche mit mehrjägriger Arbeits⸗ oder Zuchthaus 
ſtrafe droht +), das ſchon genannte Geſetz für den Eanton Bern ($. 24. 
27), die Gefeggebung für den Canton Zuͤrich ($. 157 ff.) und 
die Franzöfifche Legielation (6. 340 — 353), welche ein Kind von 
noch nicht fieben Jahren fordert und neben der Freiheitsſtrafe Geld⸗ 
ſtrafe eintreten läßt }}). Das neuefte deutſche Strafgefehbuch, das für 








Kindermord. 267 


WBürtemberg, handelt von der „Abtreibung ber Leibesfrucht” in ben 
Artikeln 253 — 255. Der Artikel 263 bedroht die Mutter, welche 
mit einem untelfen ober mit einem todten Kinde niedergefommen iſt, 
und zuvor aͤußere oder innere Mittel, welche eine zu frühzeitige Ent: 
bindung oder den Tod ber Frucht im Deutterleibe bewirken innen, in 
der Abficht angewendet hatte, um einen ſolchen Erfolg herbeizuführen, 
mit Atbeitshaufe nicht unter drei Zahren‘, eine Strafe, welche auf bie 
Hälfte herabſinkt, wenn es gewiß tft, baß die vorzeitige Niederkunft 
oder ber Tod der Frucht im Mutterleibe nicht durch jene Mittel hers 
beigeführt wurde. Nach Artikel 254 trifft gleiche Strafe den, welcher 
eine ſolche Handlung von einer Schwangeren mit deren Einwilligung 
vornahm. Wer aus der Abtreibung der Leibesfrucht ein Gewerbe 
macht, wird mit acht⸗ bis zwoͤlfjaͤhrigem Zuchthauſe beftraft. Gleiche 
Strafe von laͤngerer oder kuͤrzerer Dauer trifft nach Artikel 255 den, 
welcher ohne oder wider den Willen der Mutter handelte, je nachdem 
deren Tod bewirkt oder ihre koͤrperliche oder geiſtige Geſundheit verletzt 
wurde u. f. w. Der Entwurf eines Geſetzbuchs für Baden ſtellt 
ſich — Legislation des Nachbarſtaates nahe: „XIV. Vom Verbrechen 
der Toͤdtung im Mutterleibe und der Abtreibung der Leibesfrucht“ 
($. 218 — 222 *)). Gleiches gilt von dem heffiihen Entmurfe 
(Kit. KXXIV. $. 259 — 262), der fogar die Todesſtrafe vorfchlägt, 
wenn der Tod der Mutter Folge des angewandten Mittels war, unb 
ber Thaͤter wußte, daß bdaffelbe diefen Erfolg haben konnte. — Ueber 
bie Mittel zur Verhinderung bes Verbrechens ſ. bef. Frank a. a. D. 
6. 17: „Wie diefem Lafter füglicher zu begegnen ſcheine“, S. 139 ff. 
Ueber Gefepgebungspotitit f. Feuerbach. Kritik des Kleinfchrodifchen 
Entwurfs zu einem peinlihen Geſetzbuche für die kur⸗pfalz⸗ baierifchen 
Staaten. Th. I. Gießen, 1804. ©. 1% ff. 


Eben fo mehr, als die Miffethat der Abtreibung der Leibesfrucht, 
ſtellt fi dem Verbrechen des Kindermorbes das Vergehen ber Kin 
besausfesung**), defien ſich bie Eltern eines hülfsbedürftigen Kin- 
bes dadurch ſchulbig machen, daß fie fi von bemfelben in ber Abficht 
trennen, um bie Sorge für bafjelbe überhoben zu fein. Die Strafe der 
Verlegung der von dee Natur und dem Geſetze bictirten Pflicht der 
Sorge für ein durch die engften Bande verbundenes Wefen ift nad 
dem Erfolge der That verfchieden, fo wie nad) den Umſtaͤnden, unter 
benen fie verübt wurde. Die Gefesgebung Karl's des Fuͤnften (bei den 


*) Demme, Annalen. Band IV. ©. 406. 407. ab - 
©. 25 —u. und Abegg, ebendaf. 


**) epangenberg über das Berbrechen des Kinbermorbes und ber 
Ausfegung ber Kinder (&. 1 ff. des Reuen Arch. des Gr. Rechts Band III.) 
Heffter, Lehrbuch des gemeinen beutfchen Griminatrechts mit Rüdfiht auf . 
die nicht ven Landesrechte. Halle, 1833. &. 290 — 293. geutrba R 
Lehrbuch des peinl. Rechts. Ausg. v. Mittermaler, &. 47— 351. Moft, 
Encyklopaͤdie. Band I. ©. 1021 s, v. „Kindesausfegung” 


268 Kinbermorb. 


Römern mar im Anfange die Kinderausfegung nicht verpoͤnt ), bis 

das im Verfalle der Gitten iwuchernde Ueberhandnehmen Strafgefege 
provociete) läßt im ertremften Falle, wenn bie Ausfegung des Kindes 
deffen Tod zur Folge hatte, die Gapitalftrafe eintreten. Das preußiſche 
Strafrecht (und das [don erwähnte Geſetz für den Canton Bern) droht 
mit gleicher Strafe, wenn die Mutter ihr Kind an einem Drt aus: 
fegt ober ausfegen läßt, two es nicht leicht aufgefunden werden Bann, 
und deffen Tod die Folge ift, während es im allen übrigen $ällen 
zeitige Zuchthausſtrafe eintreten 1äßt**). Das baierifhe Straf: 
geſebbuch, dem die Gefeggebung für Zurich ($. 160— 161) und 
Griechenland (Maurer a. a. D. ©. 418) gefolgt iſt, und wel⸗ 
ches der Kinderausfegung duch die Eltern den Fall gleichſtellt, da an: 
dere Perfonen Kinder, Kranke oder Gebrechliche, zu derem Verpflegung 
fie verbunden find, in einen hülflofen Zuftand verfegen, bictirt gleiche 
falls zeitige Freiheitsſtrafe, und ftellt das Ertremfie: „wenn bie Aus: 
fegung auf folhe Art, an einem folhen Ort oder unter ſolchen Ums 
fänden geſchehen ift, wo die Rettung des Ausgefegten mit Wahrſchein⸗ 
lichkeit nicht erwartet werden konnte, und der Tod die Folge war”, uns 


Pr Roch jegt ift die Kinderausfegung im himmlifchen Reiche, in ahtns, 
gebräuchlich. Die neueften Rachrichten Daräber enepät tin Schreiben eines kas 
— Simenoe⸗ in Ehina vom 7. März 1838, welches in der Nr. 105 
des Beitblatt6: Ausland v. 1839 abgebrudt if. a heißt darin : „Man hat viel 
über bad Ausfegen von Kindern in Ghina geferieben, und bie Häufigkeit biefes 
Verbrechens feht übertrieben, obgleich es allerdings esiftirt. Dieſe unglüdlichen 
Greaturen machen jedoch zum großen Theile nicht zu Grunde; denn es gibt in allen 
Städten Denfchen , ‚e fie auffuchen und, Hei es aus Menfchlichleit, fei e6 
aus Habfucht , ernähren. Ich habe oft auf meinen Reifen auf dem platten Tanbe 
—* gefehen, welche 6 8 Kinder in zwei Körben trugen. — Diefe 

Kinder werden von ihren Gtiefoätern auf dem unbe verkauft, die Knaben an 
Leute , bie keine. Söhne haben und einen Erben wünfchen, die Mädchen an Kas 
milien, die fi) Schwiegertdchter zu erziehen wünfchen, wenn fie vorausfehen, 





Kindermord. Kirche; Kirchenrecht. 269 


ter feine Gefebgebung wegen Beſtrafung der verurfachten Toͤdtung. 
Gleichfalls mit zeitiger Freiheitsſtrafe verpoͤnt das würtembergifche Cri⸗ 
minalgefegbuch (Art. 256 — 269) die Kinderausſetzung ſelbſt in dem 
Falle, wenn die Rettung unwahrſcheinlich war und der Tod erfolgte. 
Im Banzen hat denſelben Weg die Redaetion des heffifhen Ent: 
wurfs (Tit. XXXVII. „Von der Ausfegung huͤlfloſer Kinder oder ans 
derer huͤlfloſer Perfonen.”) eingefchlagn. Noch umfichtiger ift der 
Entrourf des für Baden beftimmten Strafgeſetzbuchs*) redigiet, daher 
competente Richter ihm ben Kranz gereicht haben. Bopp. 
Kirche; Kirchenrecht, allgemeines ober natürliches. 
Innres Kirchenrecht. Aeußeres Kirchenrecht. Rechte der 
Staatsgewalt gegenüber der Kirche. Garantieen der kirch⸗ 
lichen Rechte gegenüber ber Staatsgewalt. — Die allermeiſten, 
in der Schule wie im Leben vorkommenden Lehren und Vorftellungen von der 
Kirche und ihrem Verhältniffe zum Staat ruhen auf den biftorifch gege- 
benen Zuftänben beider, wornach, wechfeind nad Ländern und Zeiten, die 
Kirche, Iinbbefondere die hriftliche Kirche, als einedem Staat bald über: 
geocbnete, bald untergeordnete, bald beigeord nete Gefellfchaft 
ober Corporation gedacht wird, überall aber der innere Kirchenver: 
band, ungenchtet ber anerkannten Berfchiebenheit feiner Zwecke von 
jenen des Staatsverbandes, als ein dem Wefen nad oder dem 
rechtlichen Fundamente ber Vereinigung nah dem letztern 
ähnlicher, namentlich als mit. einer der Staatsgewalt analogen Ge⸗ 
fellſchaftsgewalt befieideter und ale ein durch bie Vernunft all⸗ 
gemein gebotener, mithin felbfl die Unwilligen oder Abtrün- 
nigen mit Auctorität in feinen Schooß rufender oder darin zurüd: 
haltender, wohl auch: biefer Abtruͤnnigkeit oder überhaupt des Ungehors 
ſams wegen mit Recht beftrafender Verein erfcheint. Von biefen 
Vorſtellungen und Einfegungen des hiftorifhen Rechts muͤſſen 
wir durchaus wegblicken, mindeftens von der dee, als wäre nur auf 
ben Grund foldyer Hiftorifchen Verhoͤltniſſe ein. Kirchenrecht zu erbauen, 
uns voͤllig frei machen, wenn wir für ein natürliches, d.h. vefn 
vernünftiges Kirchenrecht bie wahren Principien auffucheh, d. h. 
ein über den vielfach wechſelnden Exfcheinungen in dee Geſchichte ſtehen⸗ 
des, ihnen allen aber nis Prüfftein ber Rechtmäßigkeit dienendes Lehr⸗ 
gebäude des Kirchenrechts errichten wollen. in folches hier vollſtaͤndig 
zu errichten, iſt allerdings nicht unfere Aufgabe. Doc, kann, wegen 
der vielfachen unb hochwichtigen Beziehungen ber Kirche zum 
Staat, das Stantsleriton die Zeichnung wentaftens einiger Grund: 
Linien zu jenem Lehrgebäube und zumal die Aufflellung der für das 
Wechfelverhältnif der Kirche und des Staates maßgeben: 
ben vernunftrechtlichen Principien nicht als außerhalb feinem Zwecke 





*) Tit. 15: „Son der Kusfehung huͤlfloſer Kinder oder anderer duͤlfloſer 
Seelonen. ‚Demms, Annan ac ee ech 





270 rlecheʒ Kiechenrecht. 


gelegen betrachten. Deßhalb die madfehne — auf die dautſache 
chunlichſt beſchtaͤnltte — Ausführung 

IL Begriff der Kirche. — De Kirche, in weiteſter Bedeutung 

des Worts, ft der Inbegriff der Genoffen eines und defs 
felden (zumal pofitiven) veligiöfen Glaubens oder aud der 
vermöge folder Genoſſenſchaft berechtigten oder berufenen Theilneh⸗ 
mer an ben Wohlthaten einer zur Pflegeund Forterhals 
tung jenes Glaubens errichteten Anftalt (bie Leiter und 
unmittelbaren Diener folcher Anftalt oder bie Ausfpender jenes Wohl: 
Ihaten natuͤtlich mit eingefchlofen, ja vorzugsmweife dazu gerechnet). 
Diefer ganz einfache und allgemeine Begriff muß und zum Leisfaben 
dienen, am bie ſchon vernunftrechtlich anzuerkennenden Geſetze für bie 
Wechfelverhättniffe der Kirchenglieder unten fid and zur —— ſo wi 
für jene der Kirche zum Stoate, aufjufinden und von dem, was 

pofitio ober Ka it, ‚gehörig zu unterſchelden · Dei unferem — 
meinen Begriff haben wir, was zur Vermeidung von —— 
wirrung en nothwendig —X abgeſehen von dem, was durch pos 
ſitives ober hiſt oriſch es Recht, oder überhaupt bios eharfeg- 
lic), zu jenem einfahen und urfprünglihen Verhaͤltniß binzulonmen 
Tann, ober hier oder dert, namentlich bei uns, ober insbeſondere bei 
ber heiligen Kirche, hinzugelommen ift (woraus nämlich Kid 
ein pasticuläres und yofitives Kirchenrecht entfieht), und unſern 
Bid nur auf das Wefen ber Kiche, auf das, mas nothwendig gu 
ihr gehört und allein ſchon fie ausmacht, gerichtet. Hat man ſich über 
diefen reinen — —Se dann tet kann man die poßliven 
Kirchenverhaͤltniſſe und Einfegungen würdigen, ihre Rechtmaͤßigkeit ader 


Rechtswidrigkeit (mach ber Austorität, von weicher fie herruͤhren, ad 
nach ihrem Inhalt) erkennen und die Korberungen der Reform auf eine 
feſte ger bayens 4 


Kirche; Kirchenrecht. 2371 


Kirche gerirt, ober diefe Kirche als blofe Dienfimagb zu politifchen 
Zweiten mißbraucht. Und noch andere Dale hat ſich eine Art von Gleich⸗ 
gawichs ‚ber beiden Gewalten, d. 5. das Princip eines folchen, hervor⸗ 
gethan; und es haben ſich die Häupter des Staates und der Kirche in 
die Beherrſchung ber Volksheerde getheilt, einander wohl auch werhfels 
feitig Beiſtand geleitet zur Erhaltung bes gewuͤnſchten Geherfams, 
zwifchen fich ſelbſt aber mit diplomatifcher Kunſt gezeichnete und wohl 
verwahrte Grenzmarken des jedem zukommenden Gebietes errichtet. In 
dem Maße nun, als eines oder das andere dieſer Verhaͤltniſſe ſich far 
tifch ausblibete und durch Geſetze oder kuͤnſtliche Einzichtungen befeftigte, 
oder rinalificenb eines auf Unkoſten des anbern emporrang oder das 
gegenuͤberſtehende feindlich ‚befämpfte, hat dann auch bie Wiffenfchaft 
ober die Schule bie Wertheidigung bed einen oder des andern uͤbernom⸗ 
men, es zum Spſtem erhoben bber gar zu einer Act von Glaubens 
artikel geftempelt. So hat namentlid in der chriſtlichen Welt, abwech⸗ 
ſelnd ober gleichzeitig, je nach Ländern ober Gonfellionen , die Schule 
den beiden Mächten, bes "Staates und ber Kirche, ihren Beiſtand ges 
leiſtet, für den jeweils ſtaͤr kern oder fiegenden Theil die Herrſchaft, 
für den ſchwaͤch ern ober unterdruͤckten mindeftens die Selbftfiän> 
dig keit in Anfpeuch genommen, im Mittelalter namentlich die Kirche 
oder das Papftthum taufendfiimmig über alle Erdenkoͤnige erhoben; 
in ber weuern Zeit dagegen bie irdiſche Macht auch mit Herrſcherrechten 
in deu Kirche bekleidet, waͤhrend dort bie Vertheidiger des Thrones und 
hier isme des Altars fich ‚anf. die beſcheidene Forderung ber GSelbfifiän- 
digkeit ober gegenſeitigen Unabhängigkeit beider beſchraͤnkten. So mußte 
dann :faeilich die: Heflfebung des ber einen und der anden Macht na- 
türlich zufichenden Bebietes ein Gegenſtand bes Haders bleiben, und 
Sonnte «in aufrichtiger Friede zwiſchen beiden Parteien niemals zu 
Stande Iommen. Daher auch noch heute, ja heute wieber mit erneuter 
Heftigleit dee Kampf um Herrſchaft und Frelheit fortdauert. 
Ä Bur Schlichtung ſolches — in feinen Wirkungen meiſt unfeligen 
— Streites iſt vor Allem bie möglichft allgemeine Verſtaͤndigung 
Aber bas urfprängliche und fortbauende Wefen oder den wahren 
Begriff der, Kicche noͤthig, weil nur hieraus ihre vechtliche Natur und 
Stellung mis Klarheit erfannt, und ſowohl für das innere als das aͤußere 
Kicchenrocdgt eine fefle Grundlage gewonnen werben kann. Wir haben 
bie Kicche dabei blos als: menſchliche Einſchung, und welche unter 
Rechtsgeſetzen flieht, zu betrachten, bliden daher weg von ihres 
höheren Weihe, als berufen zur Heiligung ber Erdenpliger, als 
große Erzieherin. bes Menſchengeſchlechtes. Das Recht, deſſen Gefet 
wie auf. Eischliche Dinge hier anwenden follen, bat blos die Harmo⸗ 
nie ber äußern Wechfelwirkung dee Menſchen zum Zweck; alles 
Höhere, Ueberirdiſche, Heilige gehört anderen Gebieten, namentlich 
jenen bee Moral, ber Bortfeligkeit, des Glaubens u. f. m 
an, und ſteht nicht unter Rechtsgeſchen. 

Drei Hauptgrundſaͤe oder Hauptvorſtellungen walten vor in De . 


972 Kirche; Kirchenrecht. 


bisher aufgeftellten Syſtemen eines allgemeinen — ober angeblich na⸗ 
türlihen — Kirchenrechts. Bon ihrer Wahrheit ober Falſchheit hänge 
natuͤrlich auch die Wahrheit oder Falſchheit der von ihnen abgeleiteten 
einzelnen Lehren oder Rechtöbehauptungen ab. Es thut alfo Noth, fie 
mit voller Aufmerkfamleit in's Auge zu faflen. 

Diefe drei Vorftellungen find: 1) Die Kirche iſt eine Gefelt: 
ſchaft; in ihrer Mitte waltet alfo das natürlihe Geſellſchafts⸗ 
weht; namentlich; befigt fie, gegenüber ihren Mitgliedern, eine Geſell⸗ 
fhaftsgewalt, melde Folgeleiftung als Rechtsſchuldigkeit anſpricht 
und diefelbe auch durch (phpfiichen ober pſychologiſchen) Zwang fich zu 
fihern berechtigt iſt. 2) Die Kirche hat aber nicht bloß die Rechte einer 
gemeinen ober einfachen (Privat=) Geſellſchaft, fondern fie befigt, wegen 
der Heiligkeit und Erhabenheit ihrer Imede und wegen ber (in der 
Negel) fehr großen Ausbreitung ihres Wirkens nach der Zahl ihrer 
Mitglieder und nach Raum und Zeit," ganz eigenthümliche Rechte, 
namentlich eine weit größere Selbftftändigkeit gegenüber dem Staate, 
welchem fie, gewiſſermaßen als Schweſtergeſellſchaft, zur Seite ſteht, 
und mit ihm ſich in die Beherrſchung der Völker theilt; und ganz bes 
fonders findet 3) diefes Statt ruͤckſichtlich ber hriftiihen Kirche, als 
einer bie ebeiften Nationen. der Welt unter ihre Angehörigen und bie 
Gewaltigſten der Exde unter ihre Unterthanen (als Gläubige und Laien) 
zählenden, auch durch den Inhalt ihrer Lehren, fo wie durch die Befchichte 
ihrer Gründung ſich als göttliche Einfekung, al6 Bewahrerin der ger 
offenbar, mithin wahren und allein wahren Religion barfteenden 

Inigung. " 

Bei allen diefen - Borftellungen nun, fo bürfte nicht ſchwer zu ers 
weifen fein, walten manderlei Verwechſelungen der Begriffe oder Bes 






fangenheiten des Urtheil6 vor. Keine beefelben ift haltbar; mindeſtens 
kann ohne wefentlihe Beſchraͤnkung nicht eine gerechtfertigt werden. 
Zur Begründung, diefer Behauptung mögen/nachftehende Bettachtungen 


Kirche; Kirchenrecht. 273 


flimmenden, beren Summe zwar wohl.idealifch als eine &efammt- 
heit gedacht werden kann (wie man z. B. auch die Summe ber 
irgend einem phüofophifchen, aͤrztlichen, politiſchen u. ſ. w. Lehrſyſtem 
Anbängenden ſich als eine Geſammtheit vorftellt), darum jedoch 
eine jur iſtiſche Geſammtperſoͤnlichkeit noch keineswegs bildet. 
Wohl koͤnnen aus ſolch' einer Summe oder Geſammtheit bloſer Ge⸗ 
noſſen einer und derſelben Ueberzeugung mehr oder weniger Theilneh⸗ 
mer ſich im Geiſt oder Intereſſe derſelben zu einer wahrhaft juriſtiſchen 
Sefammeperfönlichkeit unter rechtlichem Titel verbinden, z. B. eine 
nſtalt zur Ausbildung, Erhaltung oder Fortpflanzung eines Lehr⸗ 
ſyſtems gründen, auch Behufs der Erſtrebung ſolches Zwecks eine wahr: 
haft geſellſchaftliche Vereinbarung unter ſich eingehen; aber we⸗ 
ſentlich gehoͤren ſolche Vereinbarungen zum weiteſten Begriff 
einer Kirche (oder Schule) nicht; und wo ſie auch beſtehen, da um⸗ 
faßt in der Regel der Kreis ihres Beſtehens und Wirkens nur einzelne 
Theile des ber großen Gefammtheit angehörigen Gebietes; fie find 
dann Geſellſchaften oder Anftalten,. die wohl in dem Schooße ber 
Kirche (oder Schule) errichtet wurden, doch im allgemeinen Begriffe ders 
feiben keineswegs enthalten find. Wo finden wir z. B. die juriftis 
(he Geſammtperſoͤnlichkeit, oder gar die wahrhaft geſell⸗ 
fhaftlihe Vereinigung unferer großen und allgemeinen chriſt⸗ 
lichen Kicche? Weber unzählbare Länder und über alle Welttheile aus⸗ 
gebreitet fleht der große Tempel der im Chriſtusglauben vereinigten 
Bekenner. Aber von einer Vereinigung berfelben zu einer juriftifchen 
Befammtperfönlichkeit, - oder gar zu einer wahren, durch einen 
rechtlich verpflichtenden Sefammtmwillen verbundenen Gefell: 
fhaft kann durchaus keine Rede fein. Nicht ein Gefammtredht, 
nicht ein Sefammtbefisthum hat fie aufzumweifen. Nur in ber Idee, 
als Inbegriff von Belennern, ſtellt fie als ein Ganzes fi) 
dar, ja mag -felbft als ein Geſammtleben lebend betrachtet werben; 
das Surikif he aber — und nur von biefem kann im Kirchen⸗ 
Recht die Sprache fein — kommt nur theils ihren einzelnen. 
Mitgliedern, als individuellen Perfonen, die da die Freiheit bes 
Glaubens und Gottverehrens in Anſpruch nehmen, theild den in ihrem 
Schooße auf mancherlei Weife und unter bunt verfchiedenen Rechts: 
titeln entflandenen größeren ober Eleineren, immer jedoch nur parti- 
eulären Vereinen zu, zwiſchen welchen unter ſich dann gleiche 
falls Beine juriſtiſche oder gar gefelfchaftlicdye Wereinbarung befteht, fon- 
bern abermals, fo wie unter der Summe der einzelnen Gläubigen, blos 
eine Vereinigung, b. h. factifche (mehr oder minder vollftändige) Ueber: 
einflimmung im Glauben oder in religiöfer Gefinnung 
oder auch in religiöfen Uebungen, Gebraͤuchen und Anftalten. 
Man wird vielleicht biefes zugeben in Bezug auf die Kirche (im 
weiteften Sinne dieſes Wortes genommen , d. h. in Bezug auf die 
biofe Summe der einem beflimmten religiöfen Glauben angehörigen 
Individuen, und auch auf den Inbegriff aller unter den Ges 
Staats⸗Lexikon. IX. 18 


274 Kirche ; Kirchenrecht . 


noffen ſolches Glaubens wo immer auf der Erde geflifteten befon- 
deren Vereine oder Anftalten); nicht aber in Bezug auf ehen 
diefe befonderen Vereine oder Anftalten felbft, weichen man daher ben 
Namen der Kirchen im engeren Sinne beilegt. Diele teten wenigſtens 
wird man als wahrhafte jurifkifche Gefammtperfönlicfeiten 
und als eigentliche Geſeliſchaften geltend machen. Wir be 
baupten dagegen: auch diefe engeren ober eigentlichen Kirchenvereine 
koͤnnen den Charakter juriftifher Geſammtperſoͤnlichkeiten 
nur durch pofitives Gefes oder Anerkennung von Seiten einer 
Staatsgewalt oder Stantsgefellfchaft erhalten, und jenen 
dee Gefellfhaft nar durch ein hinzulommendes, dem Weſen ber 
Kirche fremdes Factum, welches, eben weil nur zufällig und daher auch 
in bunter Verſchiedenheit nady Inhalt und Umfang vorfommend, für 
den Grundbegriff der Kirche ohne alle Entfcheidung ift. 

Nur im Staate laffen juriſtiſche Gefammtperfönlichkeiten, wie 
überhaupt mpftifche Perfonen, naͤmlich in der Sinnenwelt nicht er- 
ſcheinende, fondern blos auf pofitiver Statuirung oder Anerkennung 
beruhende Subjecte von Rechten und Schuldigkeiten ſich denken. Ein 
Kichenverein, wenn er nicht zugleich ein Staat felbft iſt und in 
der legten Eigenfchaft ſich durch eigene Auctorität geltend made, ift 
für die ihm nicht angehörigen Perfonen blos eine Summe von 
Einzelnen. Niemand ift ſchuldig, noch außer den diefen Ein 
jelnen, als ſolchen, zuftehenden Rechten welche anzuerkennen, bie ber 
— von der Summe folder Einzelnen verfhiedenen — Geſammt⸗ 
beit, als einer bloß idealen Perfon, zuftänden. Dan ift gar nicht 


fhuldig, auch nur Notiz zu nehmen von dem Vorhandenfein eines 
Kirchenvereins, und alles nach Außen wirkſame Recht des Iehteren iſt 
lediglich abhängig von r_pofitivem Geſetze. 

Daſſelbe finder Statt, auch wo die Kirche ſich als Gefetifgaft 
geltend macht. Auch eine Sefelfchaft nämlich, bedarf in ihren aͤnß e— 





Kirche; Kirchenrecht. 275 


pflihtung ber Mitglieder zur Erſtrebung eines Geſammtzwecks 
amd. ein biefe Erſtrebung leitender, rechtlich verbinbliher Geſammt⸗ 
wille. Von Beidem kann in der Kitche, nad) ihren wefentlihen | 
Chauatteren, keine Rebe fein. 

Was iſt der Zweck der Kirche? Sicherlich die Schaltung und Pflege 
— ewa auch Verbreitung — eines religidfen Glaubens, bie ben Glaͤu⸗ 
bigen zu bereitende Gelegenheit ober barzubietende Hülfe zu erbaulicher, 
die tugembhafte Gefinnung erwedender oder flärtender oder die Ausſicht 
auf bad dunkle Jenſeits erheiternder, Das etwa beängftigte Gewiſſen beru⸗ 
bigender Andachtsuͤbung und bie geregelte Ausipendung ber eben die 

Gläubigen Eoflbaren geiftlihen Güter und Wohlthaten ; dann audy 
wohl, als letztes Ziel, die allgemeine Beförderung der Gittlichkeit und 
Humanität in moͤglichſt zu erweiternden Kreiſen. Von allen biefen 
Zwecken nun iſt Seiner geeignet, ald Geſellſchaft s⸗Zweck, db. h. als 
ein ſolcher anerkannt zu werden, zu deſſen Erſtrebung ſich alle Mitglieder 
der Kirche gegenſeitig verpflichtet haben, oder als dazu natuͤrlich verpflich⸗ 
tet koͤnnten betrachtet werden. Jeder Einzelne mag wohl fuͤr ſich 
felbſt die Theilnahme an jenen geiſtlichen Gütern und Wohlthaten 
verlängen ; aber er begehrt nicht nothwendig, duß auch bie Uehrigen 
berfelben theilhaft werben, und iſt auch nicht ſchuldig, ſolches zu be 
gehren. Eben ſo mag jeder Einzelne ſich der durch gemeinſames Gebet 
oder uͤberhaupt durch gemeinſamen Gottesdienſt Allen dargebotenen 
Gelegenheit zur Erbauung freuen und fie eifrig für ſich ſelbſt benutzen; 
doch achtet er fich keineswegs für rechtlich verpflichtet, durch, Anmohnung 
beim Gostesbienfie oder durch Mitmachen der Ceremonieen auch bie 
Uebrigen zu erbauen, obfchon er aus moraliſchen oder veligisfen Gründen 
Beides mit Freude thut. Er empfängt alfo zwar mit Dank, was 
‘ ihm dargeboten wird, erfüllt wohl auch die Bedingungen, unter 
weichen das Darbieten gefchieht, und enthält ſich — was übrigens 
auch der Krande thun muß — jeder pofitiven Störung bes Gottes; 
dienfles oder überhaupt der von ber Anftalt in dem Kreife bes ihr recht: 
lich zuftehenden Wirkens ausgehenden Anordnungen: aber er denkt nicht 
an eine Rechtspflicht, die ihm nur perfönlich werthvollen und darum für 
fich ſelbſt von ihm erſtrebten Wohlthaten der kirchlichen Gottesverehrug 
als einen gemeinichaftlichen oder Geſellſchaftszweck auch für die Uchrigen 
zu erfieeben. Auch wird ihm bie Theilnahme an jenen Wohlthaten ohne 
weitere Bedingung , als daß er fie für fich begehre, fortan gewährt; man 
verlangt von ihm durchaus Bein als NRechtspfliche zu leiftendes Zuſammen⸗ 
wirken mit Anden. Ja, es ift, um als Kirchenglied geachtet zu werben, 
nicht einmal nothwendig, daß man für fich perfänlich jene Zwecke 
der Erbauung, Gemuͤthserhebung, Gewiſſensberuhigung, oder was fonft 
noch für Wohlthaten die Kirche ihren Angehörigen fpenbet, begehrte: 
Man kann fich ihrer — zeitlich oder fortbauernd — auh entfchlagen 
und gleichwohl Kirchenglied fein ; denn es genügt zum Aufgenommenwer: 
ben und zum: Verbleiben in dem Schoeße ber Kicche die aus ber (er⸗ 
ſcheinenden oder vorausgefeßten) Genoſſenſchaft des eligiöfen Gtaws 

1 R 


276 Kirche; Kirchenrecht. 


bens hervorgehende Berechtigung zur Theilnahme an ben von ber 
Kirche alten Gläubigen bargebotenen Hülfsmitteln der Andacht und 
Gottſeligkeit. 

Noch viel weniger aber, als die bisher beſprochenen kirchlichen 
Zwecke, welche, wenigſtens in der Regel, Jeder fuͤr ſich ſelbſt, wenn 
auch nicht für Andere erſtrebt, kann man die übrigen Zwecke der 
fichlihen Anftalten (fo wie wir oben fie andeuteten) als Zweck der 
einzelnen Kichhenglieder, und zwar als von ihnen vermöge gefell: 
ſchaftlicher Rechtspflicht, zu erftrebende geltend machen. 
Forterhaltung eines veligiöfen Glaubens oder feine Ueberlieferung an 
die nachkommenden Geſchiechter, fo wie bie Ausbreitung deſſelben 
unter den bisher noch Ungläubigen Tann — ob auch als natürlicher 
Wunſch der Gläubigen — nimmer als von Allen fammt und fonders 
zur felbftehätigen Erſtrebung ſich gefegter Zweck, und zu deſſen Erſtre⸗ 
bung man felbft eine Rechts verbindlichkeit auf fid genommen, 
betcachtet werden. Eben fo die mittelft der kirchlichen Mirtel gu be- 
fördernde allgemeine Moralitit und Veredlung der Menfchheit. Bu Ex: 
ſtrebung folder hohen, auch allerdings von den gelftig und moraliſch 
höher Stehenden mit Eifer verfolgten, ja felbit duch moral iſche 
wpflicht zur Erſtrebung empfohlenen Zwecke kann man eime von 
allen Angehörigen einer Kirche übernommene Rechts: oder eigent» 
lich gefellfhafttiche Pflicht durchaus nicht vorausfegen. er es 
thäte, der befände fi im Lande der puren Dihtung; unb es if 
nicht erlaubt, aus ſolchen Dichtungen wahre Redyts = Verbindlichkeiten 
abzuleiten. Aus dem Umftande, daß Einer einem gewiffen Fix 
tigen Glauben zugethan ober in den Schooß einer gewiſſen 
kirchlichen Gemeinde ober Anftalt aufgenommen, daher zur Theilnahme 










Kirche; Kirchenrecht. 277 


feitige Vertragepflicht vereinigte Gefammtperfönlichkeiten und für 
welche ein allgenreines oder vernunftrechtliches Geſetz aufzu- 
ftellen wäre, nimmer. In ber Kirche nun, menigftens in den Haupt: 
richtungen ihres Lebens und Wirkens, herrfcht in der Regel keineswegs 
ein Geſammtwille, ſondern zuvoͤrderſt ein von der Willensrichtung 
der jeweiligen Mitglieder unabhängiges, höheres — auf himm⸗ 
tifche Auctorität, d. h. religiöfen Glauben, gegründetes — ober 
auch ein- von längft verftorbenen Stiftern vorgefchriebenes ſtatutari⸗ 
ſches Gefeg, und fodann innerhalb des durch folhe unantaftbare Nors 
men gezeichneten Kreiſes gewöhnlich nicht der Wille der Geſammt⸗ 
beit, fondern ber einer eigens mit geiftlicher Würde bekleideten Prie⸗ 
ſterſchaft. 

Freilich Tann auch ein wahrer Geſammtwille in einer 
Kirchengemeinde walten; doch gehoͤrt er nicht zum Begriffe einer ſolchen, 
ſondern iſt ein zufällig Hinzugekommenes (wenn naͤmlich die 
Kirchengemeinde oder ein Theil derſelben ſich zugleich eigens zu einer 
Geſellſchaft gebildet hat); und felbft dann ift, wenn naͤmlich auch 
die Laien dazu gehören, feine Herrſchaft gewöhnlich auf außerwe⸗ 
fentlihe Dinge — z. B. Herbeifchaffung der Unkoften für die Er: 
haltung der Anftalt, Ernennung ber Beamten oder Diener berfelben, 
Abſtellung von Mißbraͤuchen, Pflege der dußeren Ordnung u. f. w. — 
beſchraͤnkt, während die reinreligtiöfen, die Seele des kirchlichen 
Lebens sausmadyenden, Dinge, Glaubensiehre und Gottesdienft, ihr 
Sefeb theils Bon hoͤherer Auctorität empfangen, theild den, vermöge 
eben dieſer Auctorität (oder befonderer Weihe), zu Vorſtehern und 
Verwaltern berufenen Prieftern überlaffen bleiben. Wo aber biefe 
Driefter ganz allein, nämlich mit Ausfchließung der Laien, [ämm t: 
Liche Kichhenangelegenheiten beforgen: da mag zwar. unter ihnen 
ſelbſt gleichfalls ein gefellfchaftliches oder der Geſellſchaft ähnliches 
Verhaͤltniß beftehen, und folglich ein Gefammtwille herrfchen; doc, neh: 
men baran dann die Laien, b. h. die Grundmaffe der Kirchenge: 
meinde, durchaus feinen Theil, und auf fie alfo erſtreckt das ger 
feltfchaftliche Band fih nicht. Ä 

Man wirb vielleicht einwenden: aud dee Staat wird ja für 
eine Gefelfchaft erkannt, obſchon auch bei ihm der Geſammtwille 
meift nur durch Wenige, ja oft durch einen Einzigen repräfentirt ober 
ausgefprochen wird, und obfchon überall — felbft in den freieften Res 
publiten — gar Viele, die ihm doch wirklich angehören, find, welche 
(wie 3. B. Srauen, Kinder, Dienftboten u. f. mw.) weder mittelbar 
noch unmittelbar an der Bildung oder am Ausdrud de Gefammt- 
willend Xheil nehmen. Und auch im Staate wird Mandyes als Zweck, 
und zwar ald von ſaͤmmtlichen Staatsangehörigen demeinſchaftlich (wäre 
es auch nur mittelft der Steuern) zu erfirebender Zweck aufgeftellt, 
was — wie namentlid) wieder die Beförderung der Humanität und 
eblern Gefittung — von fehr vielen Mitgliedern gar nicht gewollt, ja 
nicht einmal gefannt if. Warum follte man alfo der Kirche folches 


378 Kirche; Kirchenrecht. 


Umftandes willen ben Charakter der Geſellſchaft abfprehen? Wir ant ⸗ 
worten darauf wie folgt: Auch im Staate beſteht die wahre Gefells 
fhaft nur unter jenen, melde zu mittelbarer oder unmittelbarer 
Theilnahme an Darflellung des Geſammtwillens berufen oder geeignet 
find, .alle Uebrigen find blos Angehörige oder Schußgenoffen, zur 
Theilnahme an den Wohlthaten des Staatövereins Berufene, nicht 
aber Gefeltfhaftsglieder. Kür fie iſt der Staat blos eine An= 
falt, auf deren Wohlthaten fie nach dem Stiftungegefege derfelben, 
d. h. nach dem Staatszwecke, einen rechtlichen Anſpruch haben, nicht 
aber eine Geſellſchaft, welcher fie als wirkliche Mitglieder an- 
gehörten. Was fodann bie Staatszwecke betrifft, fo iſt unter 
ihnen der erſte und oberfte, nämlid die Gründung eines geſi— 
Herten Rechtszuſtandes oder die gegenfeitige Gemwährleiftung 
eines ſolchen, ein durch die rechtliche Vernunft Allen und Jeden, die 
nicht aller Wechſelwirkung mit andern ſich entſchlagen wollen, gebo= 
tener, und melden daher jeder im Staate Lebende — wenn er nit 
als Feind ber Uebrigen angefehen werden fol — wollen muß. Ein 
anderer Zweck: „Beförderung aller erlaubten Privatlebenszwecke mittelft 
Hintegräumung der ihrer Erreichung entgegenftehenden Hinderniſſe 
und mittelft zwanglofen Darbietene von geeigneten Hülfsmitteln,” if 
fo beſchaffen, daß die Einwilligung in deſſen Erſtrebung bei allen Vy 

ſtaͤndigen und mit den natüclichen Trieben Verfehenen als zweifellos vOrs 
handen angenommen ober vorausgefegt werden kann. Und nicht mins 
der natürlich ift die Annahme, daß die dergeflalt bereits unter 
ſich gefeltfhaftlih Werbundenen und in folder Eigenfchaft 


bloß ihrem eigenen Gefammtwillen Gehorhenden auch 
bie allgemeinen Humanitätszwede — in fo weit deren Er: 





Kirche; Kirchenrecht. 279 


dem Begriffe der Kirche abzuleitenbes beftimmtes Rechtsverhaͤltniß, 
fondern es kann ein foldhes blos hiſtoriſch Hinzulommen und nur 
burch pofitive Statuirung eine fo oder anders geartete Geſtaltung 
erhalten. Die Aufgabe bes VBernunftrehte befchränkt fich dabei 
auf Zuruͤckweiſung aller unter dem mißbraudhten Titel feiner Geſetz⸗ 
gebung von einer oder ber andern Seite erhobenen Anfprühe und auf 
Anerkennung oder Nichtanerkennung der Vereinbarlichkeit irgend welcher 
pofitiven Satzungen mit feinem eigenen, allgemeinen und ewigen Ge⸗ 
feße. 

Wenn die Kirche eine Geſellſchaft it, mas ift fie denn? 
Wir fagen: die Kirche (nämlich der befondere, in dem Schooße der 
allgemeinen, b. h. ſchlechthin die Summe ber Bekenner eines beſtimm⸗ 
ten religiöfen Glaubens in fich faſſenden, Kirche errichtete und wahre 
Rechte und Verbindlichleiten begründende Verein) ift eine — fei e6 von : 
Bekennern ſelbſt, fei e8 von Fremden, etwa felbft von der Staats: 
gemalt, gegründete — Anſtalt zur Pflege und fortbauernden Erhal⸗ 
tung eines religiöfen Glaubens. Eine folhe, mit den Nechten einer . 
anerkannten juriffifhen Perföntichkeit verfehene und für 
ihre Fort dauer nicht nur gegen Außen, fondern auch gegen etwaige 
Untreue ober Wantelmüchigkeit ihrer zeitlichen Verwalter oder Benoffen 
geficherte Anftalt nun Bann offenbar nur gebacht werden als flehend 
unter de Schuthertlich keit eines Staates oder auch als zu: 
gleich feluft Staat; und es iſt diefe Betrachtung von fehr großer 
Bedeutſamkeit nicht minder für das innere als für das Äußere 
Kirchenrecht. 

Mir Eönnen, mas die Rechtöverhältniffe betrifft, die Kirche -— fo 
erhaben und heilig fie nad) ihren Zwecken, oder um fo viel höher 
ftehend fie immer als die blos zeitlichen Intereſſen gewidmeten Anftal- 
ten fei — ohne Anftand vergleihen 3. B. einer Unterrichts: oder 
einer Kranken: oder einer VBerforgungs: m. f. w. Anftalt. Eine 
folche kann errichtet werden von eben benfelben,, deren Frommen fie 
gewidmet ift, oder von Genoſſen derfeiben Bedürfniffe. Sie kann es 
aber auch und wird es in der Regel von Andern, fel e8 von einzel 
nen 'mohlthätigen Stiftern oder von zu foldhem Zwecke ſich bildenden 
Privatgefellfchaften, fei es vom Staat. ine foldye Anftalt, 3. B. 
eine Schule (im engern Sinne; denn wie die Kirche wird auch die 
Schule mitunter In weiterem Sinne genommen, naͤmlich für den 
blofen Inbegriff der einem gemwiffen Lehrſyſtem Anbän: 
genden), alfo eine als eigene Anftalt errichtete Schule bat zuvoͤr⸗ 
derſt den Charakter der juriftifhen Perſoͤnlichkeit, vermöge deffen 
fie — getrennt von der Perfönlichkeit ihrer Mitglleder oder Angehoͤri⸗ 
gen — ale eigenes Subject von Rechten und Schuldigkeiten ge: 
achtet wird, und als ſolches fortdauern Bann nicht nur unter allem 
Wechſel ihrer Angehörigen, fondern felbft bei zeitlihem Ermangeln 
derfelben. (Wenn nämtich auch zeitlich Beine Schüler und Peine Lehrer 
da find, kann die Schule — fo wie ein Krankenhaus bei zeitlichen 


280 . Kirche; Kirchenrecht. J 


Ermangeln der ———— Anftalt nich, 

daher ihre, jueifläfche beibehalten; und ſchon hieraus. 

der ‚große Unterfchledb einer ſolchen Anſtalt oder Stiftung von. 
Gefettfchaft hervor, welche lehtere nämlich aufhört, ſobald 
Mitglieder mehr. da find.) Sodann find: in dee Schule, wie gie 

in der Kicche, zwei. Hauptelaffen von Angehörigen zu unterſchei⸗ 
ven, einmal die Glaffe der. Lehrer (hberhaupt der An 

oder auch, Beamten und Diener) und dann bie der Lernenden. 
Beide Claffen gehören zufammen der Anftalt anz aber unter ihnen 
fetbft befteht Keine juriſtiſche Gefammtperföntichkeit (denn biefe kommt 
nur ber Anftate felbft, als idealein Weſen oder myſtiſcher 

zu), und nod viel iweniger eine Gefellfchaft. Ihre Rechte und 
Schuldigkeiten nämlich find verfcjieden, fo wie ihre Zwecke, indem bie 
Mitglieder. der einen den Zweck und zugleich die Schuldigkeit des 
Gebens oder Mittheitens, bie der Anderen den Zwe und bas 
Recht des Empfangens haben. Auch zwiſchen den Schhälerm 
unter fich befieht Reine Geſellſchaft; dem jeder verfolgt blos feinen 
eigenen Zweck und iſt den Mitfchitern. oder ber Schule kein Zufammen- 


wirken zu einem gemeinſamen Zwecke (mit Ausnahme ber allgemeinen, . 


blos negativen Pflicht des Nihtftörens, und dann ber Veo! 

der etwa als Bebimgung der Aufnahme oder des Verbleibens in der 
Schule erlaffenen Disc tinarvorfhriftem) ſchuldig. Die 
Lehrer unter fid) aber eg zwar eine Geſeliſchaft bilden ober 
in einem der Geſellſchaft ähnlichen Verhäftniffe zu einander ſtehen; 
doch iſt auch dieſes nicht mothwendig und darum oft gar nicht: vorhanz 
den. Das Gefez für ihre Wirken zum Anftaltspwec erhalten fie ges 
wöhnlich durch, die pofttiven Statiten der Stiftung oder aud dueh 
einen auswärtigen, Höheren— erwarben Regierungs-—Bil- 
ten, mit nichten alſo durch ihren eigenen Gefammtwillen, 
als. für. melchen nämlich in ber Megel nur ein flatutarifch beftimmter 
und.enger Kreis des ‚übrig bleibt, es ſel denn, fie feien ſelbſt 
Die Gtiftor und Finsnthlimor her Mnftalt sinh Adttom nm Amer nam 


Kirche; Kirchenrecht. 281 


äußere dagegen gründet ſich zumal auf die zwei weiteren Säge: 
1) Die Kirche, fei fie eine Geſellſchaft oder nicht, hat wegen der Hei⸗ 
tigkeit oder’ Erhabenheit ihrer Zwecke nad ſtrengem Recht nichts 
Mehreres oder Anderes anzufprechen,. ale was aus ihrer allgemei⸗ 
nen Redhtseigenfhaft und aus dem allgemeinen Rechte ber 
Einzelnen fließt. Die ihr hiernach zulommenden Rechte mögen 
zwar heiliger, d. h. die Verlegung derfelben einer ſchwereren Zurechnung 
oder Verantwortung unterliegend fein, ale bei minder heiligen Inſti⸗ 
tuten von gleicher Rechtseigenfhaft; aber der Wefenheit nach bleibt 
dort wie hier Alles gleih; nur pofitive Einfegungen können eine 
Verfchiedenheit begründen. 2) Eben fo hat auch die hriftliche Kirche, 
als folhe, ihrer innern Vortrefflichkeit und aͤußeren Majeflät ungeachtet, 
nach allgemeinem und firengem Rechte Beinen Vorzug oder kein befonderes 
Recht anzufprechen vor allen übrigen (verfteht fih, dem Staate nicht 
etwa feindfelig gegenüberftehenden oder nach Lehren und Uebungen ges 
fährlihen) Kirchen; wiewohl die ihr von ben ihr felbft zugethbanen 
Machthabern und Völkern erwiefene ausgezeihnete Gunſt ganz 
natuͤrlich und — wofern nicht mit Verletzung ober Kraͤnkung der den 
übrigen Kirchen zuftehenden ftrengen Rechte verbunden — aud) preis: 

wuͤrdig iſt. | Ä 

Wir gehen, nach folcher Feftftellung des Grundbegriffs zur 
Zeichnung bes natürlihen Rechtes ber Kirche über. 

Die Kirche iſt — wie ausgeführt morden — eine Anftalt zur 
Dflege und Erhaltung eines religiöfen Glaubens und mittelft folcher 
Pflege zur fittlihen Veredlung allernächft ihrer Angehörigen und, wenn 
man will, mittelbar auch der gefammten Menſchheit. Welche Rechte 
und Schuldigkeiten nun (von blos moraliſchen Pflichten fpre: 
hen wir nicht) fließen aus diefem allgemeinen Begriffe, und zwar 
fowohl in Bezug auf das innere Leben ber Kirche, d. h. bie Wech⸗ 
felwirtung ‚ihrer Glieder unter fi, als in jenem auf ihre Stellung 
zur übrigen Gefellfhaft und namentlih zum Staate? — Rad 
ſtehende Säge enthalten bie Andeutung (die umſtaͤndliche Ausführung 
würbe ein Buch erheifhen) der für die Kreiheit, deren Intereſſe 
mit jenem des Rechtes identifch ift, michtigften Kolgerungen aus unſe⸗ 
rer Grundanſicht. 

1. Bon dem inneren Kirchenrecht. Die Licchliche 
Anftalt kann naturrechtlich nur gedacht werden ale eine freie, 
d, h. als eine folde, zu deren Errichtung einerfeit® zwar ein na⸗ 
türlihes Recht, nicht aber eine Schuldigkeit befteht, und 
welcher anderfelts beizutreten oder in ihr zu verbleiben, von 
dem freien Willen jedes Einzelnen abhängen muß, endlich ale 
eine folche, die auch über bie bereitd Beigetretenen, d. b. ihr An: 
gehörigen, durchaus Feine vehtlihe Gewalt oder Herrſchaft 
befist, fondern bei ihrer — eigentlich kirchlichen — Einwirkung auf 
dieſelben lediglich auf die zmanglofen Mittel der Lehre, bes Ras 
thes, der Gemwiffensrührung u, f. w. beſchraͤnkt ift. 





288 Kirche; Kirchenrecht. 


Schon ans dem Imede der Kirche, Erweckung und Erhaltung 
eines beflimmten religiöfen Glaubens und feommer Gefinnung, geht 
hervor, daß bei ihr von einem Zwange ober Zwangerechte die Rede fein 
Zann. Der religioſe Glaube, tie bie religisfe und moralifhe Ge— 
finnung, iſt nichts Erzwingbares; und ber Vegriff eines Kirchenan⸗ 
gehörigen führt die Worausfegung feiner Glaͤubigkeit, folglich feiner ' 
freien Ueber zeugung ober feines innen Dafuͤrhaltens mit fid. 
Ueberzeugung und Dafüchalten aber find keine Handlungen und fine 
Willensacte, fondern lediglich Seelenzuftände, melde eben fo 
fehr jebem feemden Zwange unzugänglic als der Herrſchaft des eigenen 
Willens enträdt find. Ein Recht, Jemanden zu zwingen, daß er in 
die Reihe der Stdubigen trete, oder daß er ein Gläubiger bleibe, 
erfcheint hiernach als ein Unding; und bie Anmafung eines ſolchen. 
welches dann ein Recht wäre, ein heuchlerifches, folglich fünd- 
baftes, äußeres Bekennen eines innerlich, nicht vorhandenen Glaubens 
zu erzwingen, als etwas bem Begriffe der Kirche ſelbſt, bie da jebe 
Sünde verabfcheut, völlig Widerfprechenbes. 

Wäre jedoh dem auch nicht alfo, wären witklich Glaube und 
Gefinnung erztwingbar, oder wäre da6 Erzwingen dußerer religidſer 
Handlungen, welchen die Ueberzeugung des zu Zwingenden widerflrebt, 
moraliſch erlaubt: fo wuͤrde gleichwohl der Kirche Fein Recht zukommen, 
jemals folhen Zwang auszuüben. Worauf follte fie diefes Zwangétecht 
gründen? Welchen rechtlichen Anſpruch auf irgend Jemandes Beitritt 
Zönnte fie aufftellen? Die Kirche iſt errichtet theils zu Zwecken, melde 
blos für den Eintretenden perfönfich eine Wohlthat fein follen, theils 


zu folhen, welche zwar auf’s allgemeine Wohl der Menfchheit gehen, 
R un N 





Kirche; Kirchenrecht. 288 


als ſei er wirklich gefchloffen ober dem verftändigen Willen des Einge⸗ 
tretenen gemäß, rechtfertigen? Der Gläubige iſt Kirchengenoſſe auch 
ohne Vertrag, wenn man nicht etwa feinen durch die That erklaͤrten 
Wim der Annahme ber ihm von der Kirche dargebotenen Wohls 
thaten einen Vertrag nennen mill, ber jedoch ſtets nur ein ein: 
feitiger, d. b. unbeläftigter, ‚bliebe, weil der ingetres 
tene nur zu empfungen, nicht aber zu Leiften, zumal aber feine 
geſellſchafttiche Pfliht zu erfüllen hat. Es verhäte ſich hier mit 
ihm, wie 3. 3. mit dem in ein Krankenhaus aufgenommenen 
Kranken. Derfelbe ſchließt weder mit den übrigen Kranken beffelben 
Haufes, noch mit der Anftaltsdirection einen Gefellfchaftsvertrag, ja 
überhaupt Beinen ihn zu irgend etwas verpflichtenden Vertrag; fenbern 
er meldet fidy lediglich zur Aufnahme, unter Darlegung ber nach dem 
Stiftungsgeſetze dazu erforderlichen Eigenfchaften, und wird fodann, wenn er 
diefes gethan, von der Dospitalvermaltung als qualificirt anerfannt und 
unter die Pfleglinge aufgenommen. Seine ganze Verpflichtung beftcht 
jest darin, daß er die Orbnung des Haufes nicht flöre (eine 
negative, daher auch den Fremden obliegende Schuidigkeit), auch etwa 
einige ihm ald Bedingung der Aufnahme gefegte Disciplinarvor: 
ſchriften beobachte. Aber von einer Pflicht "des pofitiven Zuſam⸗ 
menwirkens mit ben übrigen Kranken oder Überhaupt Angehörigen 
der Anftalt zu einer gemeinfamen Zweckerſtrebung ift bei ihm 
keine Rebe, oder kann es wenigſtens nur in Folge eines weitern, eigen? 
eingegangenen (3. B. Dienft » oder auch Zahlungs =) Vertrages — der 
aber blos etwas Zufälliges, mit dem Hauptact der Aufnahme und 
der daraus folgenden rechtlichen Stellung in gar Feiner nothmendigen 
Verbindung Stehenbes wäre --- fein. 


Es fei uns erlaubt das Gleichniß des Krantenhaufes noch etwas 
meiter zu verfolgen. So mie der Eintritt in baffelde dem — gehörig 
qualificirten — Candidaten frei fland, fo fleht aud dem Aufgenomme- 
nen der Austritt jeden Augenblid frei. Nicht nur nicht zum Mit: 
wirken zur Heilung der Mittranten hat er fic verpflichtet, fondern 
nicht einmal zum felbfteigenen DVerbleiben in der Anftalt oder zu pofl- 
tiver Erſtrebung der eigenen Heilung. Go wie er etwa bus Vertrauen 
in bie Güte der ihm dargebotenen Arzneimittel und Pflege verliert, 
oder aus welch' anderem Grunde fonft ihm der Aufenthalt nicht mehr 
behagt, kann er austreten, und nimmer hat die Anftaltsdirection eine 
rechtliche Gewalt, ihn gegen feinen Willen (es fel denn, er wäre 5.8. 
mwahnfinnig oder als Fieberkranker keines verftändigen Willens mächtig) 
zurädzuhalten.e Ducd das Verlaſſen der Anftalt fügt er derfelben 
durchaus keine Beleidigung oder Rechtsverletzung zus denn er ijt blos 
Empfänger oder Befchenkter, nicht aber zur Annahme Verpflichteter. 
Ja, nicht eimmal die Arzneien oder die Speifen, die man ihm darreicht, 
ift er zu nehmen verpflichtet, wiewohl die Anftaltsdirection ihm erfid: 
ven kann, daß, wenn er die Mittel der Heilung beharrlich von fich 





284 Kirche; Kirchenrecht. 


weißt, er aufhoͤre, qualificirt zum PVerbleiben in ber Anflalt zu 
fein, und dieſelbe baber zu verlaffen habe. B 

Die der, Anftaltsbirection zuftehende Gewalt ift daher befchränkt 
theils auf die Vermögensvermwaltung, theils auf Exlaffung alls 
gemeiner Vorfchriften für die Hausordnung und auf Handhabun: 
derfelben, theils endlich auf die bienftherrliche Auctorität über bi 
ducch befondere Verträge angeftellten Beamten und Diener des Haufes. 
Auf die Perfonen der zum Zwecke ber Heilung darin aufgenommes 
nen Kranken erflvedt fie ſich nicht weiter, ald eben die Hausord⸗ 
nung erheifht, und das — ihr Mag und Richtung vorſchrei⸗ 
bende — Stiftungsgefes mit ſich bringt. Jedenfalls kann fie 
blos über die willig in der Anſtalt Verbleibenden ausgeübt werben, 
unb niemals ein härteres Mittel, als die Ausfchließung aus der⸗ 
felben, gegen bie Ungehorfamen anwenden. Die unmittelbaren Kran⸗ 
Eentoäcter und Aerzte haben aber noch weit weniger Rechte; kenn mit 
Ausnahme des auf bie nothwendige Hausordnung (zu deren Hand: 
habung etwa ihre befondere Dienftpfliht fie verbindet) ſich Beziehenden 
haben fie nur Hülfe anzubieten oder Rathſchläge zu ertheilen, 
nicht aber Befehle zu geben. Es ift dem Kranken erlaubt, ſolche 
Hülfe, wo er fie nicht nöthig findet, auch abzulehnen, und die Rath: 
ſchlaͤge, wenn er ihnen mißtraut, zu -verwerfen. 

Nicht anders bei der Kirche und den Kirchengenoſſen. Auch 
bier hat die aufnehmende Anftalt durchaus kein Recht weder auf ben 
Aufzunehmenden, nod auf den Aufgenommenen. Diefer 
befigt nur Rechte ober empfängt Wohlthaten, if aber — bie bloß 
negativen Schuldigkeiten und bie in ber Beobachtung der Hausordnung, 





Kirche; Kirchenrecht. 285 


hengemalt und der Staats- oder irgend einer andern Geſell⸗ 
[haftsgewalt. Die des Staates zumal erſtreckt ſich über alfe 
innerhalb ihre® Gebietes ſich Aufhaltende ; die Kirche hat — mit Aus: 
nahme etwa des ihr privatrechtlich zuftehenden Grundes — Fein ande: 
ve6 Geblet, ale Geiſt und Gemäth der Gläubigen, und eine Verpflich- 
tung zum Eintritt und zum Verbleiben in ihrem Schooße kann nie 
mals auf einem Rechte der Kirche, fondern hoͤchſtens auf einem etwa 
rechtsbegruͤndeten Befehl einer andern Auctorität, namentlich jener des 
Staates (von deren Umfang wir fpäter fprechen) beruhen. 

Ueber bie freiwillig Eingetretenen und freimillig Verbleibenden 
äußert dann auch die — fogenannte — Kirchengewalt fih ganz an: 
ders, als eine wahre Gefellfchaftsgewalt. Wo fie — in eigentlich 
religiöſen Dingen — gefeßgebend, befehlend oder frafend auftritt, 
da thut fie es gemöhnlih aus einer an ihr anerkannten höheren 
(himmtlifchen oder auch durch befondere heilige Weihe erlangten) Aus 
ctorität, welche natürlich mit dem Rechte gar nichts gemein hat, fons 
dern lediglich auf dem Glauben und der Gefinnung oder bem 
Gewiffen ber ihr Gehorchenden beruht. In diefer Sphäre alfo 
kann — wenn nicht eine widerrechtliche Anmaßung factifch durchgefuͤhrt 
wird — nur von freiwilligem, aus innerer Ueberzeugung oder Vers 
trauen fließendem Gehorfam die Rede fein. Nur eine außerhalb 
der Kirche beftehende, atfo namentlich wieder die Staat6 = Gewalt kann 
(fol jebody in ber Regel nicht) den ihr felbft untergebenen Kirchen⸗ 
äliebern die Folgſamkeit auch in dieſer Sphäre (3. B. die Heiligung 
des Sonntags, die Unterwerfung unter eine auferlegte Kirchenbuße 
u. f. w.) anbefehlen oder zur Bedingung gemiffer bürgerlichen 
Nechte fegen. Der Kirchengewalt, als folcher, fteht bier nur ein rechtlich 
unverbindlicher Ausſpruch, der im Wefen nichts Weiteres als Lehre 
oder Rath ift, zu. 

Indeſſen gibt es für die Kirchengewalt auch mehrere Sphären 
des Wirkens, worin fie als wirkliche und mit Zwangsrecht verfehene 
Gewalt — ob aud nit eben Geſellſchafts⸗Gewalt — auftritt. 
Dahin gehört zumal die über die eigens angeftellten Kirhenbeam- 
ten und Diener, welche nämlich, wenn fie die vertragemäßig über: 
nommenen Pflichten verlegen, nach Maßgabe der Anftaltöflatuten mit con- 
ventionellen oder auch richterlich erkannten Strafen belegt oder des Dienftes 
entlaffen werden koͤnnen. Dahin gehört überhaupt alle in dem Begriffe 
einer Anftaltsdirection oder Stiftungserecutorte liegende Ge⸗ 
walt, theils die auf Anordnung oder Vollzug der durch die Statuten vorge: 
fchriebenen oder fonft als nöthig zur Imederftrebung erfcheinenden Verrich⸗ 
tungen fich beziehende, theil® bie polizeiliche, auf Abhaltung der von 
Seiten Fremder ober Einheimifcher etwa zu beforgenden Störungen gerich- 
tete, theils die mit der Bermögensverwaltung befchäftigte und uͤber⸗ 
baupt die juriftifhe Perſoͤnlich keit der Anftalt gegenüber von 
Anderen vertretende. Alle diefe Gewalten mögen ganz unbeſchadet ber 
jedem gemeinen Kicchenmitglied zukommenden vollen perfönlichen Frei⸗ 





2 Sicäe; ircheueht. 


heit und Ungebundenheit beftchen. Auch fegen fie durchaus Beinen Ge⸗ 
fellſchaftsvertrag voraus, und gründen fi — ſowohl in ber Perſoni⸗ 
fication als in der Ausübung — keineewegs auf einen Gefammt: 
milten jener Mitglieder, fondern entweder auf wirklihe Glaubens: 
artikel (wie 3. B. in der katholiſchen Kirche die päpftliche Gewalt), 
in weichen Zalle fie, fo lange der Glaube ſelbſt nicht geändert wird, 
unantaftbar find, oder theils Sat pofitives Stiftungsgefeg, theils 
ſchlechthin auf hiſt oriſch aufgekommene Verhaͤltniffe, welche dann 
auf gleiche Weiſe, wie fie entſtanden, auch wieder abzudnbern find. 
Was hier üben die Ausfchliegung des Gefammtwillens von 
der Leitung der Kirchenangelegenheiten gefagt ward, gilt wenigitens als 
Regel, und zumal von: ben großen, über weite Länder und ganze 
Nationen ausgebreiteten Kirchen. In Fleineren kirchlichen Auſtalten, 
welche etwa für einzelne bürgerliche Gemeinden oder von diefen felbft 
errichtet wurden, ober deren Gründung von einer Anzahl Bidubigen, 
die fich zu dieſem Zwecke eben näher vereinigten, ausging, mag jedoch 
allerdings wenigſtens ein Theil ber der Kirchengewalt zuftehenben 
Zunctionen duch, den Geſammt willen der Gemeinde, welche näms 
ti in ſolchem Falle als wirkliche Geſell ſchaft erſchiene, oder durch 
von jenem Geſammtwillen ernannte, ihn alſo natuͤrlich repraͤſentitende, 
Organe ausgeuͤbt werden; oder auch es mag ſolcher Gemeinde (ben 
Laien) wenigftend eine Mitwirkung, eime mehr oder weniger zaͤh⸗ 
tende Stimme, bei Verwaltung der Kirchenangelegenheiten eingeräumt 
werden. in allgemein gültiger Grundſatz jedoch ift dafuͤt nicht aufzu⸗ 
ſtellen. Alles hängt von den befonderen ſchen Verhaͤltniſſen ab, 


und das Vernunfitecht muß ſich darauf tänfen, unter Anerken- 
nung der Gittigkeit einer jeden redjtgemäi Dafein gerufenen Form, 





Kirche; Kirchenrecht. 287 


fon eigenen Rechte und ntereffen betreffen, nicht aber die Glaͤu⸗ 
bigen, als folche, oder den Glauben felbft angeben: fo mögen fie 
allerding® auch als wirklich rechtsverbindliche Vorſchriften gelten, 
und entweder bucch Befehle der durch die Statuten der Stiftung ein- 


gefegten Vorſtaͤnde oder au duch Majoritdtsbefhlüffe der i 


Geſellſchaft zu Stande kommen. 

Diefelbe Unterfcheidung gilt auch für die auf beſtimmte Faͤlle 
oder Perſanen fich beziehenden — adminijtrativen oder richterlihen — 
Acte der Kirchengewalt. Auch diefe nämlih, je nad Beſchaffenheit 
ihres GBegenflandes und Inhalte, find entweder blos rechtlich unver: 
bindliche, daher nur auf freitillige Unterwerfung berechnete Ausfprüche 
oder Rathſchlaͤge der für inſpirirt oder für kundig Geachteten, ober. 
aber wirkliche, und — wofern in der Sphäre der Gompetenz erlafs 
fen — mit Rechtskraft verfehene Befehle oder Anordnungen einer 
beftehenden Anſtaltsdirection ober auch Geſellſchaftsgewalt. In bie 
erfte Claſſe gehört z. B. die einem Sünder auferlegte Kirchenbuße, dus 
Erkenntniß über facenmentale Gültigkeit oder Ungültigleit einer Ehe u. ſ. w., 
in bie zweite die Verfügungen über weitliches Kicchengut, die Beſchluͤſſe 
über Kirchenbau und Kirchenbenutzung, die Anftellung und Entlafſung 
von Kirchenbienern, die Aufnahme von Profelpten ‚unter die berechtige 
ten Kirchengenoſſen u. ſ. m. — Ob auch die Ausſchließung mirk 
licher Kirchenglieder wegen Abtruͤnnigkeit oder Suͤnde? Allerdings! wie⸗ 
wohl nicht eigentlich zur Strafe oder vermoͤge einer uͤber die Per⸗ 
ſon ſich erſtreckenden Gewalt, ſondern blos als Erkenntniß des Stif⸗ 
tungs⸗ oder Anſtaltsvorſtandes, der Betreffende beſitze die zum Genuſſe 
derſelben (in Gemaͤßheit des Stiftungsgeſetzes) noͤthigen Eigenſchaften 
nicht mehr. — In wie fern, wenn die Betheiligten vermeinen, daß 
durch ſolche Erkenntniſſe ihnen Unrecht geſchehen, dagegen an die 
Gewalt oder die Gerichte des Staates appellirt werden koͤnne, wird 
ſpaͤter zur Sprache kommen. 

1. Aeußeres Kirchenrecht. So wie beim innern, fo 
gehen wir auch beim äußern Kirchenrechte allererft vom Rechte der 
Einzeinen aus, weil überall dieſes lehte die Grundlage und ber 
Prüfftein der Rechtmaͤßigkeit aller, auch in den Sphären des äffent: 
lichen Rechte zu gründenden Verbättniffe und Einrichtungen iſt. Und 
gleichfalls beim“ dußern, wie beim innern Kirchenrecht halten wir an 
dem Grundfase feit, daß, in fo fern in der Kirche eine wahre juri: 
ftifhe Perföntichkeit oder auch eine wahre, rechtlich beftehende, 
Geſellſchaft zu erkennen ift, für fie in Bezug auf alle ihre Wedh- 
felwirtungen, fei es mit eigenen Angehörigen, fei e8 mit Fremden, daſ⸗ 
feibe Rechtsgeſetz wie für alle Uebrigen gilt. Wir ſtellen daher 
ruͤckſichtlich des bier ganz vorzugsmeife zu betrachtenden Verhaͤlt— 
niffe® der Kirche zum Staate den Grundfag auf, daß bie 
Kiche, in fo weit fie die Mechte der Perfönlichleit oder der Gefell- 
(haft anfpricht, aud in Bezug auf jenes hochwichtige Verhältnig, vor 
anderen zu gemeinen (veriteht ſich rechtlich erlaubten und dem Staate 


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288 . Reh 


Bremen sachen er, — * — ar te ine \ 
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der Sphäre: folcher Pole 
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eben bie Regierung, d.h. diertegierenden —* 
aber — die Gefammeheit oder die Mm 
menigfteng ein bedeutender Thetl der Nation 

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J——— tar Fan vnakiet We =. 
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Mifbraud jener, Gunſt von Seiten dev Kirche oder ber 2 
ter —— nee ia — — 

der haupteten ober 

tiche Einwirkungen auf den Staat ober auf beffen 

gehen; und es liegt baber der Staatsgewalt ob; dagegen, 





Kirche; Kirchenrecht. 280 


ben, was er eben glaubt, das dürfte wohl in unferer Zelt. fo wenig 
eines Beweiſes bedürftig erfcheinen, als daß er das Recht hat, groß ober 
Hein, blauaͤugig oder ſchwarzaͤugig, gefund oder krank zu fein, überall 
nämlich fo mie er ifl. Das Recht des Glaubens ober Denkens aber 
kann anders nicht ausgeübt ober als wirkliches Recht geltend gemacht 
werben, als buch Kundgeben deſſen, was man glaubt oder denkt; 
und e& iſt alfo das Recht der Slaubens- Mittheilung in dem Rechte 
des Glaubens felbft ſchon enthalten oder identiſch mit ihm; und zwar iſt 
es ein in dem Maße heilige Recht, als die Gebankenmittheilung zum 
Weſen des menfhliden Lebens gehört, und als zu Beiner andern 
Mittheilung der Drang ſtaͤrker und zugleich, achtungswuͤrdiger iſt, als zu 
jener in cefigtöfen Dingen. Der Menſch auf jeder Culturſtufe fühlt 
ih, zumal in den Momenten ber Geiftes- und Gemüthserhebung, 
durchdrungen von der Ahnung bed Himmels, und aus ihr allein ſchoͤpft 
er Troſt unter den Drangfalen bed Lebens und Bekraͤftigung zu tugends 
baftem Thun. Er ift mit Nichten in den Staat getreten, um ſolchen 
verebeinden religiöfen Gefühlen unter dem Titel eines erdichteten Ges 
meinwohls ober einfeltigen Regierungsintereſſes Zwang anthun zu laffen, 
fondern vielmehr, um bier, wie überall in den natürlichen Lebensrich⸗ 
tungen und Zwecken, ſich ber möglichft größten Freiheit zu erfreuen, 
ia dafür eigens noch befonderen Schu und Befoͤrderung vom 
Stagte zu erlangen. Mindeſtens fordert er alfo von biefem bie Ge⸗ 
währung voller Freiheit in Ausübung "der natürlihen — alfo 
namentlich auch. ber auf Belennen und Ausüben eines religiöfen Glau⸗ 
bens gehenden — Rechte, in fo meit fie irgend vereinbarlich find mit 
ben eden auf die größtmögliche Kreiheit Aller gehenden Staatszwecken. 

So wie alfo die Aeußerung religiöfer Gedanken und Ueberzeus 
gungen, fo muß auch bad Handeln darnach, d. h. der durch biefels 
ben beftimmte SG ottesdienft ober bie Ainbachesübung einem Jeden frei 
fiehen ; verfteht ſich in fo fern bie unter ſolchem Titel geichehenden 
Handlungen nicht an und für ſich dem Rechte Anderer ' zumwiderlaufend 
ober der oͤffentlichen Sicherheit und Wohlfahrt gefährlich find. Es hat 
ſonach Jeder im Staate das Recht der freien Religionsüäbung 
für ſich felbft und für feine Familie, und nicht minder für einen. Kreis 
von Freunden und Bekannten, überhaupt Sinnesgenoſſen, mit welchen 
er gemeinfchaftlich ſolche Privat⸗ oder fogenannte Hausandaht zu 
verrichten geneigt fi. 

Eine zu ſolcher gemeinfchaftlihen Andachtsuͤbung eingegangene, 
auf Uebereinftimmung in einem veligiöfen Glauben beruhende Verei⸗ 
nigung mag [don als Kirche, im meiten Sinne des Wortes, gelten; 
und in diefem Sinne kann Jeder im Staate das ‚Recht anfprechen, 
in Semeinfhaft mit anderen Gteichdentenden eine Kirche zu gründen. 
Der Staat, wenn er diefem natürlichen Rechte eine andere Schranfe 
feßt, als weiche durch die etwa rechts⸗ oder polizeiwidrige Eigenfchaft 
der angeblich religiöfen oder gottesdienſtlichen Handlungen geboten ift, 
überfchreitet die ihm rechtlich zuftehende Gewalt und ftellt ein Princip 

Staats ⸗Lexikon. IX. 19 





Becher Kirchenrecht. 291: 


gaͤngliche Sentflätte haben, und — wit Ausnahme befien, was an und 
. für ſich sches» ober polizeiwidrig iſt, wofuͤr nämlich auch die angeb⸗ 

Itche Gewiſſenspflicht keinen Freibrief gibt — foll jedes aus religiäfer 

—— fliegende Thun und Laſſen ben Bekennern erlaubt fein, 
‚Dem Staate, tie wir fpäter zeigen werden, bleiben Mittel und Wege 
genug, um, auch ohne Machtgebot und. Zwang, gegen das ihm etwa 
nachtheilig Scheinende ſich zu verwahren. Selbſt die der Kirche etwa 
erzeigten Wohlthaten (mie wenn ber Staat etwa ben pecunlaͤren 
Fond zu ihrer Gründung hergegeben, oder wenn er die Kirche mit bürs 
gerlichen oder politifchen Vorrechten und Ehren begabt bat) können kein 
Recht zur Herrfchaft geben. Der Staat, wenn er eine Kirche gründet, 
wie wenn er eine Gemeinde oder eine Familie ‚gründete, foll der von 
ihm in's Lehen gerufenen Anftals die ihe nach ihrem Begriffe zukom⸗ 
mende Selbſtſtaͤndigkeit des Seins und Wirkens eben fo gewähren, als 
wenn fie. ohne ihn, von: felbft ‚oder durch irgend andere Stifter ents 
flanden wäre, Und nicht nur das Mecht, fordern auch bie Politik 
erheiſcht dieſes. Die fegendreichen Wirkungen, welche ber Staat von 
ſolchen Einfehungen erwarten mag, werden nur al&dann eintreten, wenn 
fie ein. freie® Leben entfalten und naturgemäß wirken dürfen. ine 
der weltlichen Macht. unterthane Kirche tft gar Beine Kirche im—⸗ ebleren 
Sinne, naͤmlich keine Achte Religionsanftalt mehr, fo wie eine 
Schule, welche nad, Gewaltsdietaten Ichren müßte, keine rein wifs 
ſenſchaftliche, fondern eine bloß polizeiliche, und darum ihrer 

hen, ebleren Natur beraubt ‘wäre. 

Mit Gewaͤhrung ber hier geforderten Freiheit des Glaubens unb 
Gewifſens, nebſt der damit verbundenen freien Ausübung des Privat⸗ 
"gotteädienftes., find die ficengen und allgemeinen Rechtsanſpruͤche ber 
Bürger in der Eigenfchaft als Bekenner irgend einer (verſteht fich durch 
Lehrfäge oder Uebungen nicht feindfelig gegen den Staat ober bie Rechtes 
ordnung auftsetenden) Kirche befriedigt. . Ein Mehreres kann nur in 
Solge befonderer Rechtstitel oder wohlerworbener pofitis 
ver Rechte vom Staate gefordert, gleihwehl aber aud) ohne fie, 
je nach Umfländen, von einer weifen Politik befielben erwartet wer⸗ 
den. Zwar ber. Staat, ala foldyer, oder die Staatsgewalt, als folche, 
bat Peine Religion oder foll Teine haben, d. h. bie zufällige Con⸗ 
feffionseigenfchaft der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt foll auf ben 
Rechtszuſtand der Kirchen im Staate von durchaus keinem beflimmenden 
Ein fein. Wenn eine Regierung, von dem. allgemeinen 
Staatsintereffe megblidend, blos aus perfönlicher Anhänglichkeit 
oder Vorliebe ihrer Mitglieder für eine oder die andere Religion berfels 
ben oder ihrem, Bekennern eine partelifche Gunſt zumendet, namentlich 
um ihr bie Alleinherrſchaft oder das Uebergewicht über bie anderen zu 
verfchaffen odes zu erhalten, ober wenn fie zu ſolchem Zwecke gar bie 
anderen. Confeſfionen mit ihrem Haſſe verfolgt und ſie in natuͤrlichen 
oder wohlerworbemen Rechten ſchmaͤlert, ba hat ſie eben ihre Gewalt miß⸗ 
braucht und Unrecht begangen. Wohl aber [ol und wisd. eine 












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Kirche; Kirchenrecht. a8 


erkennen; daß, da einmal bie Pflege ber - Relisiofität überhaupt, als 
eine: dem Staate obliegende Pflicht anzuerkennen iſt, die Confeffiog der 
großen oder gar der Geſammtzahl ber Bürger ſich nähernden Mehrheit 
die naͤchſte Beruͤckſichtigung verdiene, indem ja bie. Kirchenanſtalt nur 
für die Btdubigen wirkſam, und daher, je größer die Zahl ber Letz⸗ 
‚ten, deſto lohnender und alfo aud dem Geſammtwohle frommender 
des Einfuß folcher Anſtalt iſt. Entgegen wird aber auch bie einm be bes 
ſtimmten Gonfeffion anhaͤngende Mehrzahl anerkennen, daß, wenn 
‚eine nur irgend bedeutende Zahl von Bürgern einer anderen als ber 
herrſchenden Confeſſion anhängt, zur Vollſtaͤndigkeit der Zweckerreichung 
nöthig ſei, auch ihr die Errichtung einer Kirche zu geſtatten, wafern 
zumal... bie Grundlehren der. Diffidenten, insbeſondere ruͤckſichtlich ‚her 
Moral, -von jenen der herefchenden Kicche nicht weſentlich abmeichen, 
‚oder. übeehaupt vereinbarli mit der Rechts: und Staatsordnung find. 
Es ‚wird diefe Mehrzahl feibft geneigt fen, zur Errichtung und Un- 
—— einer Kirchenanſtalt für ſolche Diſſidenten wealgftene in 
| Verhältuiffe beizutragen , als von diefen zum Unterhalte ber herr 
—— etwa aus Stantsmitteln fundirten — Kirche beigetragen 
wird: : Im-Zalle jedoch, daß die letzte auf felbfleigenem, von S * 
beiteägen.-amabbängigem Vermoͤgen ‚begründet wäre,: wird freill 
Doticung der neu zu errichtenden diſſidentiſchen Kirche ben —2 — 
derſelben allein zu uͤberlaſſen ſein, und die Gunfibezeugung Gi anf 
Biefes Beftatten der Errichtung befchränfen bürfen. 
+ Unten: Worausfehung ſolcher vernünftigen, dulbfomen, von gan⸗⸗ 
tiamm seinen Geſiunung ber Staatsbuͤrger (oder ber in deren wohrem 
pe. handelnden Regierung) Tann bie  Berleipung ſelbſt. ausge 
ter. — und bürgerlicher, wie politiſcher Rechte an bie 
Kirche dev Mehrheit (mißbraͤuchlich die herrſchende genannt), ober 
Fr an mehrere, für anſehnliche Volkstheile ober Summen 2 
Bekermern ‚errichtete. Kirchen, rechtlich nicht mehr bedenklich fein, 
Verleihung gefchieht einmal ohne Beeinträchtigung ber ne 
and, finengen Rechte aller übrigen Confeſſionen und ihrer Angehs 
sam fle .gefchicht ferner bios im vernunftgemäß anzuerkennenden 
‚der Gtaatsgeſammtheit, und bleibt endlid in Anfehung Fe 
* petbauıse (wofern nicht eine kuͤnſtliche —— — —* 
ward) immerder abhaͤngig von der Fortdauer deſſelben G fammttwillens, 
dee ſie in's Leben rief. Zu folchen, ben Kirchen ohne Anſtand ar 
nach Umſtaͤnden fehr zweckmaͤßig zus verleihenden, befonderen, b. $. 
Noch außer dem ihnen überhaupt ale juriftifchen Derfönlihkeiten, — 
„allgemeinen gerichtlichen und polizeilichen Schutz zu 
leihenden, Berechtigungen oder Vorzuͤgen gehoͤren z. B. das Det auf 
sffentiie und feierlich zu baltenden — bie Erhoͤ⸗ 
hung von deſſen Feier durch die Theilnahme der Staatsbehoͤr⸗ 
den, ein ben Dienern des Altars ertheilter — etwa jenem, ber 
Staatediener analoger — höherer bürgesliher Rang, ein ihrer 
Perfon und ihren Threnrechten etwa durch ſchwerere Gtrafandrohung 





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Seas tie — Sa ‚eben (6° une 


$ Metal nr heit — * 
— Vin den 

beſonderen md paſſwen 
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ten! in fo fern es 
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gehalt an⸗ — Bunctionen am die Diener ante zB. 
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an fie wegen Eint der Geburten und Ehen 


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— Kirchenrecht. 





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Kirche; Kirchenrecht. 299 


Händen beus -fruchtbriugenben :Werlehre entzogen ſind, theils durch Ab⸗ 
hamgigkeit von: auswärtigen, vielleicht: ein · verberbliches Beh :nerfelgenden 
Hötpteen ; und Konfl noch auf: mancherlei Weiſe. Dem Allen nen 
Lolt unbsbasf daher aud His Staatsgewalt hemmenheoder heilend 
vontgegentreten; "und. banakt :befigt ‘fie. beigrroligältigen; wenigſtens den 
ſcheinbaren. Titel zu faſt jeder: beliebigen Veſchraͤnkung, 2*5* 
‚der Unterbruͤckung des Kirchetilhums. Freilich wenn eine der Kicche 
iſouſt —— ober der: Coufeſfion nach de eh. auge» 
Hörige: Staatsgetdalt ſolche —— übt, ſo iſtfuͤr ſie wenigern zu 
beſorgen. Menn aber die. Machthaber einer andern, vielleicht dieſer 
—**8* tobrfeinblihen Goufeffiom awgehören, .. wer. wirh ‚dawn: eine 
für die Kirche ſichernde Greuge ber weitlichen Machegeichnen ind 
"it erg. Duskber ſchreiben: Bis Hischer and nicht mein iR ri. 

—3) Es zeigt ſich dieſes ſchon bet bein als allgemeines: Borbengungs» 
mittel gegen verberdliches oder gefährliches Meinten ber indie. aber ihrer 
Häupter vieiſtimmig 'einpfohlenen and in der Schule faſt ald!nin Mes 
ſtulat anginemimenen F des ſogenanaten Tiniglichen Pla oen: Kaine 
allgemeineerorbnung, Bapuay,: Belehtung, Ermahmng :öber- tie 
Ammer (2.8: Misc, Hirtenbeief)ibenaunte Mittheikitug tor Rigchen: 
—— ande ihnen ! untergebenuh erg toben - * hurfm 
det werben, ‚ohne zuvor vingeholte⸗ IB den: Stantöggs 

Bo Exi gehubes:fich: ſolches Recht ınber-folcher Anſpruch  eimlerfalts 
auf die. Boeeracſetzung,ba bie: ueche anuwenw · ſie Ahi aichti an: einen 
Aiegoſtanbee gegen ben Staat gefchti hat, run weichen Galle ibinfern ohre⸗ 
hin *** gufichen Muß dem. Watften iger unlin haben koͤnge, 
den Rochten bet: Zutereſſen des Staates durch ihre Verorhnungen gu 
nahe zu treten, daß alſo, wenn —— te dieſer: Art. ie der 
‚WBerorbuiung! läge, es nur aus Jarthum⸗. ober Unbefanntſchaft 
zit den obwaltenben:Berhättniffen oben: Intarefien bes Mitantpt: Heflef- 
fen fein mäffe, wornach bie ber: Kirche durch die ABerveigemung.: hrs 
Maacet daruͤber ertheiite Belehrung ven ihr wur. wit Dank „merde 
angenehmmm werbenz. anb :andeufelts auf 6a8 beliebte: Mrincip aß es 
beſſer fei, derw/Usbel yuvorzaasfonmımiew uni‘ edſt, wenn es ich ein⸗ 
getreten, nach Boll neit ein: ſich: umzufchhen. Aber jene Mgraniiies 
wung an mur in:fo. for n von Vedendung fein, oe: eon ſich aa 
wahrhaft: dem Staatsinterefſen nachtheilige Biverbuumgen :hanhalt, 
"nicht Aber auch.alebann , wenn ſolcher angebliche Nachtheil ven: her etwa 
einer boftimmten Kirche aus confeſſioneller: Befungenheit;. jahr! bein 
Seaatsgewnit blos aſls Vorwand zur Nuterhrädungseitwnräge wißs 
fälligen Verordnung gebraucht: wird.In dieſem lehzten sr igetwäß 
nicht eintretenden — Falle wird’ dieKirche volig we hrlpoo ge⸗ 
macht durch das koͤnigliche Pladet, und es wird der Staattgewalt bas 
durch ( ſo wie in baͤrgerlicher Gphärei durch die enger). bie: Macht 
verllehen, die Stimme ber Wahrheit und des KRechtes völlig zu erſticken. 
Bergebens wird dann bie Kirche, wenn einmal das Princip der prä: 
venttven Maßregeln, anftatt ber zepreffiven, auch an biefe kirch⸗ 











Kirche; Kirchenrecht. 301 


Staatsgewalt  ausäbt. Won ber Nichtung der Haͤupter ober Hirten. 
hängt natutgemaͤß auch jene der: Heerden ab; und es kann einer. Res: 
gietung) weiche —— Di PM ane gegen eine Kirche hegte, deren Dafein, 
als. einmat rochtüch ‚begründet, fie nicht offenbar amgeeifen barf, nie⸗ 
mals: ſchwer: werben, unter ben Gliedern bes Clerus einzelne ehrgeizige, : 
dee Goreuption zugaͤngliche Männer zu finden, welche die Erhebung, 
z. B. 4 einen Biſchofsſitz, mit Hingabe eimiger- dem Regenten ver: 
haften Glaubens⸗ oder Disciplinarartibel zu erkaufen geneigt ‚find. 
Der erſt Ahsft durch Die fuͤgſamen Prälaten bewirkte Uebertritt der 
(mit Rom) ‚unieten griechifchen Kirche in Rußland zur herrſchenden 
nicht unisten,. dem -Willen des Zaars unterworfenen zeigt in einem. 
auffallenden Beifpiele, wie viel ein König vermag, wenn er ernſtlich 
will und bie Erfolg verheißenden Mittel anzumenden nicht verfchmäht. 
5) Das Kirchenvermägen betreffend hat der Staat unzwei⸗ 
feihaft das Hecht, dem etwa. unverhältnigmäßigen Anwuchs beffelben) 
wodurch nicht. nur die nationaldlonomifchen Intereſſen benachtheiligt, fons. 
dern auch. politifche Gefahren (weil Reichthaim zugleich Macht verleiht, 
erzeugt: werben koͤnnen, die ‚gehörigen Schranken zu ſetzen, was zumal 
durch die ſogenannten Amortifationsgefese geſchieht. Auch ver 
ſteht es ſich von ſelbſt, daß das Kirchengut gleich dem weltlichen be⸗ 
ſte uert werde, weil ihm, ‚wie dieſem, der Staatsſchus zu. Theil, wird, 
und überhaupt. bie Kirche als Gutsbefitzerin gleich allen anderen Bes 
fisern dem Staate unterthan und zur Theilnahme an ben Staatsla⸗ 
fien verbunden iſt. Eine wichtigere und ſchwierigere Stage aber if: 
ob ber Staat fih al® Obereigenthuͤmer des Kirchengutes betrach⸗ 
ten, und daher in Nothfaͤllen auf den Stamm deſſelben greifen oder 
gar das geſammte Kirchenvermoͤgen zur Beſtreitung ber Staatsbeduͤrf⸗ 
niſſe einziehen koͤnne? — So viel iſt richtig, daß die Kirche, als mo⸗ 
raliſche oder myſtiſche Perſon, nur vermoͤge Staatsbewilligung 
erwerben und beſitzen kann, und daß beim Aufhoͤren einer Kirche (wo⸗ 
fern nicht beſondere Rechtstitel vorliegen, vermoͤge welcher ihr 
Vermoͤgen beſtimmten anderen, individuellen oder Geſammtperſoͤnlichkeiten 
zufaͤlt), wie beim Erloͤſchen irgend einer anderen Stiftung, der Staat 
in das jetzt herrenlos igewordene Vermögen als Erbe eintritt. Auch iſt 
klar, daß, wenn der Beſchluß der Einziehung des Kirchenvermoͤgens 
(oder eines Theiles deſſelben) von ſolchen politiſchen, d. h. an der 
Staatsgewalt Theil habenden Stimmfuͤhrern ausgeht, welche zugleich 
Mitglieder der betheiligten Kirche, ſonach ideale Miteigen⸗ 
thuͤmer, wenigſtens Mitnutznießer des Kirchenvermoͤgens ſind, der Be⸗ 
ſchluß keinem rechtlichen Bedenken unterliegt. Dieſe Stimmfuͤhrer naͤm⸗ 
ih, als zugleid, Mepräfentanten der idealen Kirchengemeinde, ‚mögen 
vernünftiger Weiſe erwaͤgen, daß ohne den Staat die Kicche ale Ans 
ſtalt keinen Boden mehr hat, Baß alfo die Erhaltung und Bekraͤfti⸗ 
gung des Staates mittelbar auch den Fortbeſtand der Kirche, fichert, 
und. daß folcher Vortheil wohl auch eines. Opfers werth iſt. Sa, fie 
mögen wohl: audy bie Betrachtung anftellen, daß die Kirche, weit eber 





oder Natur Die) + je nachdem ; 
See —— 
G den, oder blos von den Inha⸗ 

der Regierumgsgewalty' und) eben —* 1 —— 

der Machthaber auf! bie Beſchiafe won Eine 
—— — nt 42 um BUELL 


6) Abe und N f’ 
nr ————— — er fogenannten 
——— naͤmlich beſteht im 


Krcheʒ Kirchenrecht. 308 


jches Staategenoffen, ſel es für allein, —— mit 
feiner Kamille aind feinen Siaubencfreum 
—5 uns Kl, daß bas —— ——— 





einer 4 a einer Hfentiigen —* oder aber ber — 
See a ober Denn ai 
einet des Widerruſo einer er ertheilten Ge 

keine tößen Bedenken mehr entgegenſtehen. Es iſt nicht zu verke⸗ 
nem, »das Borhanbenſein gat zu vieler: Kitchen in emen 
Stante nicht eben zu wuͤnſchen Mt, daB alſo bie Geſanmutheit, wenn 
fie nicht jeder Schaar von atiſten ſofort eine Kirche, als anerkannte 
—— Anſtalt, zu errichten gehati, —* vernänftig panda 


heit darckus ein Geund erwaͤchſt 5* — angst 
teen md wohl auch dieſelbe mit ähmtichen Rechten, wie 
im Staate, auszuſtatten. Daß Re ſolches auch in unglei« 
ek Maße thün, and dag'fie der Aufnahme auch Bedingungew 
oder Befgräntun gen beigeben koͤnne, haben wir im Artikel Dul⸗ 
dung“ gezeigt. Hier blos noch die Bemerkung, daß bie, ſchon na 
vtohotsgiihem Befeye, von Seite einer verftändigen und ihren 
Willen durch verftändige Organe ausfprechenden Geſammtheit gar keine 
Medkrfchreitunig "ber theils vom firengen Mechte, theils von WBlligkeit 
und Humanitat für die Ausübung der In Frage flehenden — 
—5 —— zu befuͤrchten iſt. Eine verſtaͤndige Geſammtheit naͤm⸗ 
(ich wi jedem Beſchluffe über:einen vorliegenden einzelnen Fas 
bie Ku eime in’6 ine Aug faffen, woraus folder Beſchluß ꝓu oder 
wohin er zuruͤckfuͤhrt, und jedes ſtimmende Micglied wird erkennen, 
daß, was es Hartes, Unbilliges ober gar Ungerechtes gegen irgend eine 
— tert auch nur kleine — Zahl von Mitbuͤrgern beſchibſſe, durch bie 
—— ſoiches Berufes rachoitt end auch Ihm feibf die ‚sehe Wen 
iung bereiten koͤnne 

Aber freitich geftaltet die Sahıe ſich anders, wenn * die Wehr⸗ 
beit in einer — Ausſprechen eines: GSeſammtwillens vetfafſunzemaßig 
—— gten oder Gemeinde fanatiſch geſinnt oderſanatiſchen 

eift —— am ee ea * Urtheit iR 
g gegen verfkänbigäees" 3 
umb wieder anders, tvenn man das en reformandi —- und zivar felbfl 
ohne Vorbehalt‘ der freien Hausandacht — gar als ein Tanbesherts 
lichee, foiglich der Indivieten Petſon des. Regenten 





heit aus eat x 
des (oder auch 
er 


der“ ve Srantssefummthelt Mit, [2 — — 

der — ——— ſo jer nach dem 
Feffionseigenfep aft der Machthaber auf" die eſchtuſe won Eins 
up war" +8 —— en —— —— 


an De nn al A 


Sircher. Kiekharvecht. 308 


‚te ne 1 ai, at alt mit 
u feinen unden. a oben 
—* ad, daß. bab ——— — 
ib jebet — mu a* 
nicht Pi Pa beipflichtet;; - 555* it ODiiſes —— 
koͤnnen dem von der Staats» Getammtheit: ——— —— NRechtr 
der Seſtaktung! oder -der ſelbſteigenen Andchwung owed.:öffentlichen- 
Eunitus atfoi ber: Aufnahme" ober'der feibfieigenen —— 
einer — ‚060 einer einer öffentlichen Anftalt ober :aber der : Ridtaufe 









Leheen ——— ar ohne aͤußere ober 
Kerit dee Better ſich To —— hat, daß der —— 
heit dardtis ein Grund ‚ fle'nun als e un; 
Peumen "nd Er us dieſelbe mit ähnlichen Rechten, wie bie &6 
Stuate, auszuſtatten. Daß fie auch in unglei⸗ 
"ade tun, ans daß fie- der er Aufnahme and) Bedingungew 
obrt ——— beigeben koͤnne, haben wir tm Artikel Dul⸗ 


Uederſchreitung der theils vom ſtrengen Rechte, theils von Bulligkeit 
und Humanitaͤt für die Ausuͤbung der in Frage ſtehenden Vefugniß 
gezogenen —— zu befuͤrchten iſt. Eine verftändige Geſammtheit nam⸗ 
lich wich 'bA: ſedem Beſchlufſe über einen vorllegenden einzelnen Bas 
die Marime in’6 Auge faffen;' tworaus ſolcher Beſchluß abfließe ober 
wohn: er’ ——— und jedes ſtimmende Mitglied wird erkennen, 
daß, maß e 6 Harted, Um Unbifligeß ober gar Ungerechtes gegen Ingend eine 
— wenn auch nur kleine — Zahl von Mitbhrgerm ‚buch bis 
Marime fotdyes: Befchtufies racheintend auch Ihm feTbf die Beide Pen 
banbiang bereiten koͤnne. 
Aber freilich geſtaltet die Sache ſich andere, wenn 8 die Mehr⸗ 
heit in einer det Kutfpreiem eines Gefammtwiliend verfofiungemdfig. 
oder Gemeinde ſananſch ** ‚oder fanatifchen 
Aechltichen Partei⸗ 


— 
ohne Vorbehatt der freien? Hausandacht — gar als ein be Fri 
res, foigllch der Inbiofiireken Petſon des. Regenten 





a Brcheʒ Nirchemecht. 


des, aufſtellt. miOcios oit reclo:llina eat cũam religio,“ lautet ·die 
unfeliga Formal, mit welcher, in ben Beiten der. angeblich der Getolfe 
fensfreiheit Huldigenden Reformation, das Leite gefhab;;- eine Formel, 
modurch — nach ihnen: buchſtblichen und auch allzu häufig praktifch gel 
tend gemadten Bedeutung — die Fürftenmacht eine. jedem. vernänfti- 
gen Redyrsbegiffe: Hehn ſprechende Ausdehnung gewann... Nicht nur 
die dußeren Handlungen und Unterlafjungen, die da auf. die Rechtes 
orbnung oder das zeitliche Staatswohi ‚von Einfluß find, ſollten derge⸗ 
flalt dem Willen des Fuͤrſten gemäß eingerichtet, werden; fonbern auch 
die innere, naturgemäß freie Lebensthätigkeit des Geiſtes und Ges 
müthes, ja ſelbſt die unwillkuͤrlichen Auftände deſſelben, Gedanken, 
Gefühle, ‚Glauben. und. Gewiſſen ſoliten unterthan fein der zufaͤlligen 
Geſinnung, :ja- der augenblicklichen Laune des Herrſchers. Nicht nach 
felbfteigener Innerer Ueberpeugung fondern aus ſtlaviſcher Unterwuͤrfig⸗ 
keit follte die. Sefammtheit des Volkes und jeder Einzelne in bemfelben 
bald ein Giaubensbelenntniß-ablegen, hald wieder es abſchwoͤten, bald 
in die Meſſe geben, ‚bald unter ſchwerer Sttafe fie meiden, bald Luther, 
bald Calvin, bald das Concil von Trident zur Glaubensricheſchnur neh ⸗ 
men, Alles; fo wie «6 bes durch Geburt, Heicath, Erbvertrag, Heims 
fall, ober was immer. für andere Titel zuc Beherrfch: eines Landes 
gelangte Regent begehrte. Wahrlich tiefer ann die Religion, . tiefer 
auch ber Menſch und Bürger nicht herabgewuͤrdiget werden, als duich 
einen. —S dieſet Art; “und nirgends auffallender als ‚in ber 
kirchlichen Sphäre zeigt es ſich, daß man durch eine ſtrenge Durchfuͤh⸗ 
rung des angeblich im monarchifchen Principe enthaltenen Sabes: 
alle ‚Stantegewatt muß in der Perfon des Suyhen ver⸗ 
6 8) 





Kiche; Kirchenrecht. 305 


fpäter, bei etiwa veränderten Umftänden, auch gegen fie koͤnnte ans 
gewenbet werben. Uebrigens befteht, wegen ber nicht zu verfennens 
den Gefahr des Gewaltmißbrauchs, bier wie bort eine beingende Aufs 
forberung, durch kuͤnſtliche Garantieen berfelben zu begegnen. Welches 
Sinnen biefe fen? — 

Bieles würde ſchon bewirkt werben durch Zefthalten an dem im 

den Friedensinſtrumente aufgeftellten Grundſatze von ber bei 

—— — eintretenden „itio in partos.“ Bei einer 

Religionsangelegenheit nämlich iſt in ber Regel der Verdacht begründet, 
daß nicht, rein vom Standpuncte des Staatsbärgers ober bes Theil⸗ 
habers an ber — Feiner beſtimmten Religion angehörigen — Staats⸗ 
gemalt, fondern vielmehr von jenem des Confeffionsgenoffen 

ber abgeftimmt, ja, baß fie gar nur vom legten aus in Sprache 
gebracht werde. Es tft alsdann wirklich eine gemeinfhaftliche, 
der Entſcheidung des durch die Mehrheit fich ausfprechenden Ges 
ſammtwillens rechtlich unterliegende, fondern eine den betreffenden 
Meligionslörpern eigene oder particuldre Sache vorhanden, dhns 
ih dem „jus singulorum‘“, worüber gleichfalls der Geſammtwille 
nicht zu entfcheiden hat. In einer jeden gewalthabenden Verſammlung 
von gemifchter Mei —— ſei es eine Landesgemeinde, ein 
großer oder kleiner Rath, eine Staͤndeverſammlung u. f. w., ſollte das 


. ber der Grundſatz gelten, daß in Religionsangelegenheiten bie Mehrheit 


der Stimmen — es wäre denn auch die Mehrheit bes kleineren Theils 
rin mit begriffen — Seine hie, Entſcheidungskraft habe, fondern 
daß In ſolchen Fällen nur durch gütliche Vereinbarung die Sache könne 
gefchlichtet werben. Wir Haben biefe Behauptung ſchon oben rüdfichts 
uch des Kirhengutes aufgeſtellt, und fie erfcheint wohl nicht 
minder begründet in Sachen bes felbft über Sein oder Nichtſein ber 
Kicche die Entfcheibung anfpeechenben „Reformirungsrechtes.“ 
Ein anderes, auch gewoͤhnlicher vorkommendes Sicherungsmittel 
beſteht darin, daß die Rechte einer aufzunehmenden oder bereits beſte⸗ 
henden Kirche nicht blos durch gemeines Geſet — als welches naͤm⸗ 
lich der Zuruͤcknahme durch eben jene Auctorität, die es erließ, natuͤr⸗ 
lich unterliegt — fondern duch Grundgeſetz, welchem auch bie coms 
Rituirten Gewalten untertworfen find, oder auch durch förmlichen Bers 
trag mit den betheiligten Religionstörpern, welche man 
dergeſtalt als felbfiftändige Geſammtperſoͤnlichkeiten rechtes 
verbindlich anerkennt, oder mit fremden Mächten feſtgeſetzt werben. 
Viele Beifpiele von Beidem enthält die Befchichte. Häufig wurden, zu⸗ 
mal in Briebenef@läffen, bie Rechte ber verfchiedenen Kicchen in 
ben abgetretenen oder überhaupt gegenfeitigen Ländern ausbrädiich ges 
wahrt ober beftimmt, fonady den einheimifchen Ktechenrechten eine v (e 
kerrechtliche Stüge Pünftiich verliehen. Daffelbe geſchah nicht felten 
durch bie von einer fremden Macht eigens Abernommme Garantie 
jener’ Rechte. Diefe Iehtbemerkten Mittel jedoch find von einer zwei⸗ 
beutigen © atur; auch gewähren fie der Ride Sein fei6fftändigee 





befteg: 

felbſt gefchloffen,. fo erhält zwar dieſe ein jegt unantaflbares Recht; aber 

es wird baducch getoiffermaßen ein Staat im Staate gefhaffen, mas 
gegen bie Principien des inneren Staatorechto anfiöft. Das 

Serguetfie bleibt daher bie Aufnahme ber —— in de Con⸗ 
flitutionsurtunde und bie Bewahrung. berfelben durch eine- bag 
Volt in Wahrheit vertretende ae Verfaffungsartikel 
unterſtehen der Abänderung ober Abſchaffung duch die eonflituirs 
ten Auctoritäten rechtlich nicht; nur ber conflituirenden, zu bes 
ven Anzufen jedoch ſchon außerordentliche Umſtaͤnde noͤthig find, fteht 
ſolche Aenderung zu (f. ben Artikel „Senitution‘), und biefelbe 
wird fie. wohl nie verfügen ohne den triftigſien Grund. 

- Fe a iz der Oranisgeale n 
fügenden Reform iſt alfo- das aͤffentliche Recht ber Kiche.nies un] 

* ein Anderes wäre au nicht gut. Im Laufe der- Zeiten dndern ſich 

die —— bie allgemeinen und beſonderen Zuſtaͤnde, die Sc 
BVBedürfniffe, Denk ⸗ umd Hanblungsmweifen ber Völker und Einzelnen 
fo fehr, daß wie teefflich, mohlberedhnet- und den bamaligen Beitverhäite 
niflen anpofiend eine vor Jahrhunderten getroffene Einrichtung senefen 
ſei, diefelbe.jegt gleichwohl eine Veraͤnderung dringendſt fordern kar . 
Kein pofitive® Recht, alfo and) jenes ber Kicche nicht, fell oder * J 
unbedingt ſtahil oder durchaus jeder Reform für fmmer und ewig ent⸗ 
ruͤckt fein. kann Im. Safe ber Zeiten eine früher bie Mehrheit 


der Nation und ihre edelften Claſſen umfaffende Kirche durch —* Auf⸗ 
fommen eines neuen Glaubens oder bilt: * 








Kirche; Kichentet 507 


eigneten Reformen oder Werbefferungen anzuorbnen, jur Abs 
fhaffung von Mißbraͤuchen oder dem Gemeinweſen Nachtheil oder Bes 
fahr dringenden Einrichtungen, Geſetzen und Anflalten. In wie weit 
tommt ein ſolches Recht dem Staate zu? 

Daß, zumal wenn von einer vermöge felbfiftändigen (etwa grunds 
gefehlich ober vertragemäßig feftgefesten) Rechtes beftehenden Kirche bie 
Rebe ft, der Staat in Sachen des Glaubens oder des Gewiſ⸗ 
fen 6 ſich gebieterifch einzumifchen durchaus keine Befugniß hat, bedarf 
kaum eined Beweiſes. Das Recht einer Kicche, zu beftehen, fchließt 
das Mecht in fih, fo zu beflehen, mie bad Glaubensbekennt⸗ 
niß der Kirche es fordert oder mit fi) bringt; und wohl Tann einer 
etwa erft aufzunehmenden Kirche bie Bedingung geftellt wers 
den, ſich in gewiſſen Dingen den Landesgeſetzen zu fügen, nicht 
aber kann einer bereits aufgenommenen ober Längft mit vollem Rechte bes 
ftehenden zugemuthet werden, ſich in Sachen des Glaubens, oder Ges 
wiſſens den erft ſpaͤter erlaſſenen Landesgefegen zu unterwerfen. Solche 
dem Glauben einer berechtigten Kirche zumiderlaufende Geſetze können 
vechtlich gar nicht erlaffen werden, d. h. ihre verbindende Kraft Bann 
fi) nimmer auf jene Kirche erſtrecken, deren Glauben oder Gewiſſen 
dadurch In ihrer Freiheit gekränkt würden. Hieruͤber kann nicht mohl 
ein Streit fein. Nur mag in Bezug auf. gerviffe Dinge ein Zweifel 
erhoben werden, ob fie wirklich Glaubens⸗ oder Gewiſſensſachen feien 
oder bloſe Disciplinarvorfchriften, welche nämlich unbefchabet 
des Glaubens fo oder anders Iauten können, ober noch minder weſent⸗ 
liche Einrihtungen und Anftalten. In eine umftändliche oder in's 
Einzelne gehende Unterfcheidung ber angebeuteten Gattungen kirch⸗ 
licher Dinge uns hier einzulaffen, würde zu weit führend fein; es 
möge daher die Aufftellung der allgemeinen Regel, und etwa einiger 
weniger Beiſpiele genügen. Ä 

Diejenigen, welche das placitum regium für die Gültigkeit jeber 
kirchlichen Verordnung, ja fchön für die bloſe Zulaͤſſigkeit ihrer Verkuͤn⸗ 
dung, als Erforderniß anſehen, müffen natürlich, wofern fie confequent 
find, der Staatsgewalt auch das Recht einräumen, ſolchen bereits 
verfündeten Verordnungen, wenn etwa fpäter erſt ihre Schaͤdlichkeit 
erkannt wird, oder wenn fie, bei etwa veränderten Umftänden, erſt 
ſpaͤter fchädlich werben, das placet wieder zu entziehen und daher ih: 
een Widerruf zu verlangen. Wer aber das vorher einzuholende placitum 
regium auch verwirft, wird gleichwohl anerkennen müffen, daß bie 
Kirche kein Recht haben Tann, jenfeit des durch Ihre weſentlichen 
Staubensartitel gezogenen Kreifes verbindliche Verordnungen zu erlaf- 
fen, d. 5. Handlungen oder Unterlaffungen zu gebieten, oder Anftal- 
ten zu gründen, welche — abgefehen von blos confeffionellen Intereffen, 
mithin ſchon aus allgemeinen rechtlichen oder polizeilichen Ständen — 
als dem Gemeinwohle widerftreitend erfcheinen, und dag der Staat 
Alles, was dergeſtalt gemeinſchaͤblich oder gemeingefährtich ift, unterfagen 

. ober hindern darf, ohne Unterfchleb, ob es kirchliche son Fituche Zwecke 





308 ; Kirche; Kirchenrecht. 


feien, melden es bienen fol. Ohnehin kann es nie eine Gewiſſens⸗ 
pflicht geben, dem Staatöwohle entgegenzutreten, und Feine ber Aner- 
Eennung und des Schutzes würbige Kicche kann es mollen. Der Staat 
alfo hat das Necht, jeweils zu erflären, daß gewiſſe kirchliche Satzun⸗ 
gen oder Anftalten überhaupt ober in befonderen Fe und in gewiſ⸗ 
fem Maße ihm nachtheilig und daher abzufchaffen oder abzuändern  feien, 
daß 3. B. bie allzu große Baht der kirchlichen Seiertage, als den Mür 
Figgang befördernd und der Nationatwirtbfchaft ſchaͤdiich, oder daß ein 
allzu ftrenges Faftenmandat, als aus Gefundheite- oder felbft Humani⸗ 
tätscheffichten verwerflich, oder daß der Prieftercötibar, als die Moralis 
taͤt gefähtdend und eine Menge der fchlimmfien Folgen herbeifuͤh— 
end u. f. w. von ihm als verbindliche Verordnung nicht koͤnne gedul⸗ 
det werben, daß er demmach die kitchliche Auctorität zuc Abſchaffung 
oder Mobdifieirung. der betreffenden Vorfchriften auffordern und daß er 
im Meigerungsfalle aus eigener Auctorität ihre“ Unverbindlichleit aus: 
fprechen oder ihre Handhabung durch bie Kirchengewalt nicht dulden 
werde. Eben fo kann er bie Abftellung gewiſſer der Sittlichkeit oder 
dem XArbeitsfleife nachtheiliger, oder ben eraffen Aberglauben befördern- 
der Geremonieen und Gebrdudye, wie das allzu häufige Wallfahren, 
und dergleichen befchränfen, die Inſtitute der Bertelorben aufheben, 
dem Moͤnchsthume Überhaupt durch Berminderung der Kloͤſterzahi einen 
Damm entgegenfegen oder buch zwedmäßige Werordnungen eine ges 
meinnügige Richtung geben u. f. ws; uͤberau jedoch wie bereits oben ber 
merkt worden, ohne im jenes ſich einzumifchen, was reine Glaubend- 
oder Gewiſſensſache, 3. B. ſacramentaliſch, Überhaupt mit anerkannten 
Gonfeffionsartifein im Zuſammenhange it. 

Uber auch hier wieber. nämlich bei ieder einzelnen Reform in Kir- 


Kirche; Kirchenrecht. 309 


terdruͤkung unter Prieftern und Laien, die Gewährung allgemeiner 
Denk: und Lehrfreiheit, die Pflege der Wiffenfchaft Aberhaupt und bie 
insbefonbere der Bildung tüchtiger, aufgekläcter und patriotifcher Seel 
forger zugemenbete Sorgfalt. rei bleibe allerdings auch die Lehre ber 
Kircht, und die Staatögewalt maße fich nicht an, in ſolches rein gels 
ftige Gebiet einzugreifen mit profanen Machtſpruͤchen. Aber entgegen 
werde auch der Kirche nicht geftattet, ihre Angehörigen, ob Priefter 
ober Laien, abzuhalten von den Quellen einer freien Erfenntniß, von 
dem Beſuche profaner Hörfäle und der Leſung profaner Schriften. Das 
allgemein menſchliche und bürgerliche Mecht des Forſchens nach Wahr: 
beit werde Niemandem verfümmert durdy Mißbrauch, fo wenig der kirch⸗ 
lichen als der meltlihen Macht. Hat die Staatsgewalt aufrichtig und 
beharrlich diefe Richtung genommen ; alsdann kann fie — ohne Unters 
ſchied, welcher Sonfeffion fie felbft, d. h. ihre Inhaber, angehören — 
der von Innen fommenden und fortfchreitenden Verbeſſerung bes Kir⸗ 
henthums mis Juverficht entgegenfehen Der die Kirchengemeinde als⸗ 
dann durchwehende freie und Lichte Geift wird in Baͤlde bie Abfchafs 
fung ber dem Staate nachtheiligen Mißbraͤuche zu bewirken wiſſen, ohne 
weiteren Beiſtand ober gebieterifches Einfchreiten der bürgerlihen Ges 
walt; und es wirb jedenfalls die Kirche geneigt fein, allen billigen For⸗ 
berungen, allen wahren Intereſſen des Staates von ihrer Seite thuns 
lichſt zu entfprechen. Wo dagegen bie Richtung ber Staatsgemalt ſelbſt 
auf Verfinfterung und Geiflesunterdrüdung geht, mo fie das lebens» 
Eräftige Walten einer freien und aufgellärten Öffentlichen Meinung 
ſcheut, wo fie, um das traurige Ziel einer gedankenlofen Unterwürfigs 
Leit unter jegliches Machtgebot zu erreichen, zelotifhen Kirchenhäuptern 
ihre eigene hülfteihe Hand zum Bunde wider freies Denken, Sin 
nen und Empfinden reicht: da muß fie eben aud bie bittern Früchte 
fhmeden, bie fo unfeliger Saat entfprießen ; fie muß bie durch fie 
feibft erhöhte Prieſtermacht und die durch fie felbft gehegte Bigotterie 
des Volkes auch wider fich gerichtet fehen, fobalb fie im Einzelnen 
etwas zu beffern, oder des eigenen Intereſſes willen in einzelnen Räus 
men, inmitten der allgemeinen Dunkelheit, ein Licht aufzufteden, zus 
mal zwangsweiſe unternimmt. 

Bei den voranftehenden Ausführungen iſt auf die befondere Erha⸗ 
benheit und Heiligkeit dee hriftlihen Religion und daher aud) 
der zu bderfeiben Pflege errichteten Kirche Leine Rüdficht genommen 
worden. Auch Eonnte diefes bei Aufftellung von blofen Recht 8: Grund: 
fügen nicht wohl gefchehen, da einerfeits folche Säge eine allges 
meine Gültigkeit anfprechen follen, und anderfeits bie Innere Vor⸗ 
trefflichkeit einer Religion und Kiche nur mit dem Glauben ober 
bee individuellen Ueberzeugung und dem individuellen _ 
Gefühle erfaßt, keineswegs aber ale juriſtiſch ermwiefener ober 
erweislich er Thatumſtand geltend gemacht werden kann. Die chriſt⸗ 
liche Kicche beſitzt keine Rechtsforderung, d. h. keinen rechtlich 
gültigen Anſpruch auf Anerkennung als goͤttliche Stiftung ober 








310 Kirche; Kirchenrecht. Kirchenverfaſſung, katholiſche. 


als ausſchließende ober vorzugsweiſe Pflegerin der aͤchten Humanitaͤt und 
einen Gottesverehrung ; fie kann ihre Anſpruͤche nur an bie glaͤubi⸗ 
gen Gemüther richten und bie gebührende Verehrung nur von 
jenen erhalten, welche im Innern durchdrungen find von ihrer Schar 
benheit und befeligeriden Weihe. Auch bedarf fie einer firengen 
Rechtsforderung nicht. Sie hat ſich, trotz ber Ungunft der Weltherr⸗ 
ſcher, trog des mannigfaltigften Drudes und graufamer Verfolgung, 
die Herefpaft über ben ebelften Thell des Menfchengefchledhtes errungen, 
und wird fie — ohne auf ein Rech t zu pohen — am Sicherſten bes 
haupten durch biefelben Mittel, wodurch fie fie errang. 

Auf das Rechtsverhaͤlt niß ber chriſtlichen Kirche zum Staate 
bat alfo das Weſen ober bie Beſchaffenheit der chriſtlichen Religion nur 
in fo fern Einfluß, daß, bei ber unverfennbaren Lauterkeit ihrer 
Moral und bei der Unmöglichteit, in ihren Glaubens» und Sit: 
tenlehren irgend einen dem Rechtsſtaate nachthelligen oder gefahrbrin- 
genden Puntt aufzufinden, bie Schuldigkeit ihrer Anerkennung von 
Seiten jenes Staates um fo einleuchtender und die Widerrechtlichkeit 
ihrer Unterbrüctung um fo ſchteiender iſt. Und da alle Haupteonfeſ⸗ 
fionen, in welche die Chriftenheit fich theilt, jenen Charakter der Vor: 
trefflichkeit und Reinheit unter fid) gemein haben und nur in Nebendin= 
gen von einander abweichen: fo kann auch eine vernünftige, von eng⸗ 
herziger confeſſioneller Befangenheit freie Staatsgewalt eines ch riſtli⸗ 
chen Volkes durchaus keinen Grund haben, eine oder bie andere der⸗ 
felben mit Ungunft zu behandeln ober Anerkennung und Schuß nicht 
allen gleichmäßig zu verleihen. Auch kann ber Umftand, dag bie Macht 
haber felbft, in der Eigenſchaft als Gläubige und als Laien, der geift- 


Kirchenverfaffung, Patholifche. 311 


tigeren Vorſtellungen von den Rechten ber Kirche und der Staaten feſt⸗ 
baltend, und dem friedlichen Mebeneinanderbeftehen aller chriftlichen 
Gonfeffienen günfligr. Das entgegengefehte Syſtem, eine Frucht bes 
finſterſten Deittelaltere, noch vor menig Jahren in Deutfchland ganz 
verfchollen, wird zu nicht geringem Erſtaunen ber Verſtaͤndigen von 
Vielen wieder erweckt, begünftige von eigenthümlichen Zeitrichtungen 
und mächtigen Verbindungen. Nebſt Anderem follen liſtige Vorſpie⸗ 
gelungen jenem Zwecke dienen, zu melden gehört, die Gegner der Un⸗ 
wiffenfchaftlichkeit, Unkirchlichkeit, des Indifferentismus und Rationa- 
lisnrus zu befchuldigen. Ja, man heut ſich fogar nicht, fie politifch 
gefährlicher Tendenzen zu verdaͤchtigen*). Es fcheint zeitgemäß, bei 
Darftellung der Latholifhen Kirchenverfaffung durch einiges Hinweiſen 
auf die VBeweisführung vorzüglich die Grundloſigkeit dieſer Beſchul⸗ 
digungen herbortreten zu laffen, und mie die beften Freunde bes Chris 
ſtenthums und der Kirche unter den Katholiken den Ultramontanismus, 
wie für nicht chriftlih, fo auch für unkarholifch erklären müffen, wie 
ihre Anfichten fo alt, als die chriftliche Kicche find, und nur auf wiſſen⸗ 
ſchaftlichen hiftorifchen Korfchungen ruhen. 

1. Die Latholifche Seite dee zwar noch unfichtbar, aber unzerſtoͤr⸗ 
ih ſchon gegründeten wahrhaft allgemeinen Kirche naͤmlich, welche felbft 
die Fortſchritte der legtverfloffenen Jahrhunderte in Erforſchung bes dch- 
ten Geiſtes des Chriftenchums und feiner Gefchichte als Gemeingut ber 
Gebildeten betrachtet, auch namentlich für bie Patholifche Kirche moͤg⸗ 
licht viele Theilnahme daran fordert und dem Müdfchritte zu bem, 
was fie von den kirchlichen Vorſtellungen des Mittelalterd als wahr⸗ 
heitswidrig verlaffen hat, widerſtrebt, fo fehr fich aucd in unfern Tagen 
Viele bemühen, das laͤngſt widerlegte Veraltete, kuͤnſtlich verhält, an- 
maßungsvoll als ‚neue Wiſſenſchaft“ darzuftellen — jene Seite ober 
Partei, fage ih, glaubt im Allgemeinen ben Gedanken fefthalten zu 
muͤſſen, daß die Kirche von allen Katholiken nicht als eitel Menfchen: 
werd, fondern ale auf göttlihen, daher im Wefentlichen unabänber- 
lihen Grundlagen ruhenb zu betrachten ift. Sie erforfcht daher ſorg⸗ 
fältig, welche Theile ber Licchlichen Einrichtungen, und wie weit fie Ihr 
als unabänderliche gelten müflen. Dafür gelten ihr ale jene, und nur 


*) „Es warb eine Beitungscorrefponbeng organifirt und ben Affiliirten be- 
„fonbers empfohlen, als argumentum ad hominem ben Sag aufzuftellen, daß 
„ide Bei tung und Hemmung der kirchlichen Auctorität, To wie die Auf: 
‚„dfung des Bandes des unbebingten Gehorfams gegen Biſchdfe und Papft bie 
„Grundfeſten des Staates unteroraben müfle. Daß man in biefer Beztehung 
„nirgende Läffig geweſen, liegt feit Jahren vor Aller Augen; bie Ausführung 
„war Zenbenz aller, als ber Partei der Jeſuiten angehörig befannten Blaͤt⸗ 
„ter, — und daß jenes Hülfsmittel der Werbächtigung noch je&t nicht vergeflen 
„iſt, beweit der Notbfchrei der neuen — Zeitung, in welcher alle, — 
„weiche gegen jenes Treiben mit ber Wahrheit kaͤmpfen, als ber Revolution 
‚‚dienend, furchtfamen und ummebelten Staatsmännern benuncict wurden.“ 
So eine bedeutende Stimme aus Anlaß ber Unterfuhung gegen Binterim. 
Ag. Zeitg. 18838. N. 104, Beil. " 





312 Kirchenverfaffung, katholiſche. 
jene, welche vr die von ——— Se 
Vernunft oder bes Herrn und Mi 


gelegten Gefehe duch Gebote 

begründen laffen. Die Gebote des Heren findet fie in ben er 
Schriften, zu deren Auslegung und Ergänzung fie jedoch, getreu der 
tatholiſchen Lehte von ber Tradition, ſich an bie übereinftimmenden 
iffe der Lehrer der erften Jahrhunderte bindet. Was nach diefen 
Grundfägen ſich als Unabaͤnderliches ergibt, das erſcheint ihr fogar als 
Glaubenslehre und ſteht unter dem Scuße ber Getoiffensfreiheit, 
menſchlichet Willkür nicht unterworfen. Sind je kirchliche Einrichtuns 
gen entftanden, bie mit biefer Grundverfaffung ſich nicht vereinigen 
taffen, fo koͤnnen fie nicht als vechtsbeftändig, fondern nur als factifch 
beftehend angefehen werden. Im der Kirche hat aber natürlich das blos 
faetiſch —— nicht unbedingt dieſelben Anſpruͤche auf Fortdauer, 
wie eiwa im Staate. Wenigſtens fo lange die Mitglieder einer Kirche 
göttliches Geſetz für die Verfaſſung derſeiben annehmen, koͤnnen fie 
confequent baffelbe nicht als — — Willkür gänzlich und für 

immer abgeſchafft (abrogict) fih den! 

Im Einzelnen fodann ee "alle katholiſchen Parteien barin 
überein, daß das kirchliche Vorſteheramt — worunter fie nicht nur Lehr: 
amt und Verwaltung der Sacramente, fondern auch bie gefeggebende 
und vollziehende Gewalt in ber Meligionsgefellfchaft verſtehen — goͤtt ⸗ 
Uchen Urfprungs ſei. Diefen Glaubensfag vorausgefegt, muß über bie 

) — jenes Amtes und die Befugniß, daſſelbe zu verwalten, bie Aus- 
van ber —— des Heren entſcheiden, in welchen die auf jenes 

—— — machten der Apoſtel von den Katholiken gefunden 
merben. Fuͤr die Auslegung der Schrift aber find nach Latholifcher 
Lehre von der Tradition Ge inſichten der erften Jahrhunderte entfcheis 





Kicchenverfaffung,, Tatholifche. 318 


„dem Maße entisideln und verändern, mie durch Angriffe tiber bie 
„Einheit fefteres Zufammenhalten Bedärfniß und bie in ihn nieberges 
legte Lebenskraft hervorgerufen wird. Auf biefelbe Weiſe iſt in 
„ben Anfängen bes Staatsiebens, in ben patriarchaliſchen Verhaͤltniſſen, 
„Bes ganze monarchiſche Princip enthalten, ohne body ſchon das, 
„was wie Koͤnigthum nennen, zu fein.” Berner $. 121 mit der Ueber 
ſchrift: Inhalt des Primats: „Es ift alfo der Papft bie hoͤchſte 
„Auctorität in der Kicche, und als folche hat er Außerlich keinen Rich⸗ 
„tee über fi) — mit anderen Worten: bie Perfon des Papftes, wie 
„die der Könige, ift heilig und unverleglih. Ohne biefe Wahrheit 
„kann keine Monarchie beftehen.” — Doch e8 genügt fchon, daß im 
6. 122 aus jenem befruchteten Keim, ohne weiter das Recht ber Ges 
feggebung, das Recht, die andern Kirchenoberen durch Strafen zur Er⸗ 
fuͤlung ihrer Pflicht anzuhalten, das Recht, in höchfter Inſtanz über 
vorgebrachte Beſchwerden und Appellationen zu entſcheiden, unter den 
Rechten des Primats entwicelt wird. Aber wenn in ben erften Jahr⸗ 
hunderten der Biſchof von Rom einen Verſuch machte, einen Keim 
der geringſten Obergewalt über andere Bifchöfe zu entwideln, fo wurde 
ihm von allen Seiten ablehnend entgegnet, folder. Keim fei feiner 
Vollmacht fremd, ſolche Lebenskraft fei keineswegs in berfelben nieder 
gelegt. So entſcheidend iſt bie für Katholiken verbindliche Tradition 
gegen jene ulttamontane Deutung ber Vollmacht. Beweiſe werden zu 
litt, ©) vortommen. 

B) Sogar läßt fi) aud für Katholiken keineswegs ein geoffens : 
bartes göttliche® Gefes darthun, nach welchem zwei Stufen ber Vor 
ftehee zu allen Zeiten, daher auch gleich von Anfang und alfenthalden, 
hätten errichtet werden müffen: presbyteri, d. i. Aeltefte, und episoopi,  _ 
d. i. Auffeher, im heutigen Sinne dieſer Worte. Vielmehr wurden 
die beiden Benennungen für das Vorfteheramt ber Apoftel und der von 
biefen ernannten Genofien und Nachfolger Anfangs unleugbar als 
gleichbedeutend gebraucht. Es eigneten fi zur Erhaltung der Ges 
ſchaͤftsorbnung nur Männer von gereiftem Alter, Befonnenheit, Maͤ⸗ 
Higung und Würde. Um fo paffender mußte bie Beibehaltung ber in 
ber Synagoge gewoͤhnlichen Benennung Aelteſte ben übergetretenen 
Juden fcheinen, während von ben Griechen wohl bie anfpruchlofe Bes 
nennung Aufſeher herrührte. Alles deutet Anfangs darauf, daß 
nicht zwei Stufen im Vorfteheramte unterfchieden wurden, obgleich bie 
Unterfheidung ſchon im Beginne bes zweiten Jahrhunderts entfchieben 
und allgemein fich findet, daher fhon im erften Jahrhunderte fich vor⸗ 
bereitet haben mag*). Der Epiftopat im heutigen Sinne iſt menfchs 

* 20, 17. 28. 2Zit. 1, 9. 
1.8. ehe ber befimmteflen n Hieronymus nureines, 
a lee ift al elbe. Und ehe buch Ein⸗ 


‚ des Geiſtes in der entſtanden 
—— — ——— 8 des Paulus, ich des Lehrers Apollo, 
bh des Kephas, wurden bie Kirchen durch gemeinfame Beſchlaͤſe ber Prieſter 





Phil. 1, 1. — 1 Zim. 8, 


233 





314 Kicchenverfaffung, Batholifche. j 


liche Einrichtung. Merkwuͤrdig iſt es, wie lange man. bie Anficht yon 
der urſpruͤnglichen Identitaͤt des Presbyters und Epifcopus feſthielt. Der 
H. Iſidorus (im 7. Jahrh.) nimmt die Hauptſielle darüber von 
Hieronymus unbebenliih auf. Bernhard von Gonflanz (um 
1088), ein eifeiger Vertheidiger Gtegor's VIL., beruft fid darüber auf 
das neue Teſtament und Hieronymus, und fährt alfo fort: „Da 
„man alfo lief’t, daß im Alterthum Presbyter und Eptfcopus baffelbe 
„war, fo iſt auch kein Zweifel, daß fie biefelbe Gewalt, zu binden und 
am loſen, und die übrige den Biſchoͤfen eigenthümliche Gemalt befaßen. 
„Nachdem aber die Presbyter unter die Obergewalt der Bifchöfe geftelle 
waren, fingen einige frühere Befugniffe an, den Erſtern entzogen zu 
„fein, jene naͤmlich, deren Ausübung die Kirche den Biſchoͤfen allein 
überteug.” Dee Moͤnch Gratlanus (um 1150) nimmt die Haupt: 
ftellen von Hieronymus und Iſidorus unbedenklich in feine 
Sammlung ber Kirchengefege auf, die bald allgemein angenommen 
wurde. Der berühmte Kanonift, Abt Nicolaus dv. Palermo (um 
1428), fagt: „Ehemals vegierten die Presbpter in Gemeinfchaft bie 
„Kirche, und weihten Priefter.” Sogar bie päpftiche Partei auf dem 
Concil von Trient behauptete, daß ber Epifkopat im heutigen Sinne 
menfchliche Eincihtung fei. (Art. Curie S. 135.) Erſt feit der 
Reformation fielen die Katholiken 'gewoͤhnlich — audy die englifchen 
Epiftopalen — die Behauptung der urfprfnglich göttlichen Unterfchel- 
dung zwiſchen Biſchof und Presbpter auf. Die Furcht, dem nahen Bi: 
ſchof zu mißfallen, überwog*). So wieder Walter ($. 9). Wenn 





„geleitet. Nachdem aber Ieder bie, welche er taufte, für feine Angehörigen 





Kicchenverfaffung, katholiſche. 815 


auch In mebreren Gemeinden ganz frühe Hauptvotſteher erfcheinen, in 
einer bem heutigen Epiftopat ähnlichen Stellung, fo fehlt es doch gänz- 
ih am Beweiſe, daB nicht perſoͤnliches Uebergewicht, fondern die Bes 
deutung eines höhern Amtes fie ausgezeichnet habe; auf jeben Kal 
aber, daB durch göttliches geoffenbartes Geſetz folche Stellung in der 
ganzen Kirche nothwenbig geworden ſei. Daß die XAelteften Anfangs 
auch Auffeher genannt worden, gibt Walter zu, aber nach ihm würde 
biefee Sprachgebrauch nichts entfcheiden,, weil auch für die Apoftel beide 
Benennungen vortommen, und doch ihr Amt gewiß weſentlich von 
bem ber Presbyter verfchieden geweſen. So foll mittelft diefer letztern, 
ganz grundlos vom Apoftelamte angenommenen Vorausfegung einer un- 
ferer. Hauptbeweife den Gegnern dienen, und zugleid das fo beflimmte 
Zeugniß der Alten, namentlid) des Hieronymus, als auf Irrthum 
berubend (!), befeitigt werben. 


C) Jede Gemeinde und ihre Vorfteher waren von jeder andern : 


Gemeinde und deren Vorftehern im Wefentlichen unabhängig und ihnen “. 
gleich geſtellt. Dafüe und befonbers gegen Unterwerfung ber übrigm 
Apoftel und Kirchen unter Petrus und die Kirche von Rom, und gegen 
monarchiſche Gewalt ber letzteren fpricht jedes Blatt der Gefchichte der : 
erften Jahrhunderte. Bekanntlich wollen die Ulteamontanen bie Voll: : 
macht zu folher Gewalt in ben Worten bes Deren finden: „Auf diefen 
„Seifen werde ih) meine Kirche erbauen u. f. w., die merde ich die 
„Schtäffel bes Himmelreichs geben; was du auf Erden binden 
„wirſt, fol auch im Himmel gebunden fein; meide meine Schafe.” 
Alteln biefee Auslegung widerſpricht Schrift und Zraditioen. Paulus: 
„Ih bin um nichts geringer, als die vorzäglichften Apoftel. Ich wi: 
„derftand ihm (dem Petrus) in's Angeficht, weil er tadelnswerth war.‘ 
Der alte, unter die Werke des heil. Ambrofius aufgenommene Com: 
mentar zu obiger Stelle (Bat. 2, 11) bemerkt: „Wer anders konnte es 
„wagen, dem Petrus, bem erften Apoftel, dem der Herr bie Schiüffel 
„des Himmelreichs gab, zu widerftehen, als ein &leichgeftellter, der, 
„auf feine Berufung vertrauend, ſich als jenem nicht nachitehend er 
„kannte?“ Cyprianus zu jener Stelle bei Matthäus: „Dennoch 
„gibt Chriflus alten Apoſteln nah feiner Auferfiehung die naͤm⸗ 
„che Gewalt und fpriht: wie mic) der Water gefendet, fo fende 
‚ih euch u. ſ. w.“ Johannes 20, 21. 23. „Was Petrus war,” fährt 
Eyprianus fort, „find wahrlich auch bie übrigen Apoftel gemefen ; 
„fe befoßen gleiche Würde und gleihe Gewalt.” Augufti: 
nus: „Damit ihre wiffet, daß die Kirche bie Schlüffel bes Himmel: 
„reichs empfing, fo Höret, was der Here an einem anderen Drte zu 
„alten feinen Apofteln fpricht: empfangt ben heiligen Geifl. Wenn 


‘von XAlliaeo umb Andere vor ben A ber gangen Belt t und 
gerieben gaben. 2 Bietet —*— * PH yudor — 
n ee geſunden Gernun dichte und ben Ketzern zu 
&coh, als ae EBahrheit verkaufte N sen zum 





sı6 Sßaweefing, bitte, 


‚ie Einem bie Cihuben exlaffen werdet u. ſ. w Gogar verſteht Au⸗ 
Sehe aka —— 5 — —A nid de 
eg D riſtus 
trus ſich unmittelbar vorher 





Bm unter allen —A hervor. 
Andern voranzuſtellen ſei, iſt ungewiß.“ An einem andern Orte ſo⸗ 
gar: „Petrus war der —* im Bekennen, nicht Im Range, im Glau⸗ 


„ben, nicht im Amte.“ Augufinus: „Weide (den Petrus und Pau⸗ 

Aut) zeichnete ber Herr auf gleiche Weiſe aus (ambos ditavit honore 

nano). 9— —— in Tank Re von — 8 und Deck; 
Pitt ci 2 ul in ich 





Kirchenverfaſſung, katholiſche. 817 


Hieronymus, indem er die untergeorbnete Stellung ber Diakonen 
vertheidigt, fagt: „Wenn du Auctoritaͤt verlangſt, bie Kirche iſt größer, 
„als Rom (deſſen Auctoritaͤt ihm entgegengehalten war). Wo immer 
„ein Biſchof ſeinen Sitz haben mag, in Rom oder Eugubium, in 
„Conſtantinopel oder Rhegium, in Alexandria ober Tanis“ (es werden 
hier den drei erſten Staͤdten des Reichs unbedeutende gegenuͤbergeſtellt), 
„ſein Gewicht, ſein Prieſterthum iſt daſſelbe. Dort Macht durch Reich⸗ 
„thum, bier Beſchraͤnktheit ducrch Armuth, macht den Biſchof nicht zum 
„Hoͤhern oder Geringern. Alle ſind Nachfolger der Apoſtel. Aber du 
„wendeſt ein: wie kommt es, daß in Rom auf das Zeugniß des Dia⸗ 
„conus der Prieſter ſeine Weihe empfaͤngt? — Warum haͤlſt du mir 
„die Gewohnheit einer einzigen Stadt entgegen? Warum willſt du jene 
„Wenigen, von welchen der Hochmuth ausgegangen iſt, gegen die Ge⸗ 
„ſetze der ganzen Kirche geltend machen?“ 

D) In der Vollmacht der Vorſteher fanden bie erſten Jahrhun⸗ 
derte keine unbeſchraͤnkte, von Beiſtimmung der Untergeordneten unab⸗ 
haͤngige Gewalt. Dafuͤr das Wort des Herrn: „Die Koͤnige der 
„Voͤlker herrſchen uͤber ſie, und die Gewalt uͤber ſie ausuͤben, laſſen ſich 
Agnaͤbige Herren nennen; aber fo ſoll es unter euch nicht fein, 
„fondern ber Größte unter euch fei mie der Kleinfte, und ber Oberſte 
„wie dee Diener ;” „wie auch des Menfhen Sohn nicht gelommen ft, 
„fich bedienen zu laſſen, ſondern zu dienen.’ Luc. 22, 25 ff. Matth. 
20, 25 ff. Dafür das Wort des Apoftels Petrus: „Weidet die euch 
„amvertenute Deerbe Gottes, und führer die Auffiht — nicht als Ge: 
„bleter, ſondern ein Vorbild der Heerde zu werden.“ 1. Petr. 5, 2 ff. 
Dafür die Geſchichte der von den Apofteln veranftalteten Berathungen 
mit den Aelteften und Laien. Apofteigefh. 1, 15 ff. 6, 2 ff. 15, 22. 
Diefe Beweife müßten fchon allein genügen. : Doch enthält die Ges 
ſchichte noch fo viele andere. (Man ſehe 3. B. den Art. Ballican. 
Kirche. Bd. VII. ©. 224 ff.) 

Der Proteftant braucht dieſes Alles zum Beweiſe, daß felbft die 
Regierungsgewalt ber ganzen Gemeinde zuſtehe. Aber ganz fo weit zu 
gehen, enthaͤlt fich ber Katholik, welcher ben Glaubensſatz nicht antar 
ften will, daß jene Gewalt durch bie fraglichen Vollmachten des Herrn 
den Apofteln für fih und ihre Nachfolger übertragen fe. Doch liegen 
die Mefultate dee beiden Anfichten fich nicht fehr ferne. 

E) Vor Allem kann auch der Katholik in jenen Vollmachten keine 
Gewalt finden, das heiligfte Recht jedes Menfchen, feine Gewiſſen⸗ 
freiheit, zu beeinträchtigen. Was er ale von Ewigkeit her in feine Ver 
nunft gelegte Offenbarung, und mas er als pofitive verehrt, flimmt 
darin Aberein. Aus letzterer Duelle genügt es fchon, an folgende Stel⸗ 
len zu erinnem: „Prüfet Alles und das Gute behaltet.” — „Nicht 
dag wir Herten ſeien über euern Glauben, fondern wir find Gehuͤlfen 
eurer Freude, wenn ihr flehet im Glauben.” 2. Kor. 1,24. — „Als 
mit Klugen rede ich; richtet ihre, was ich fage.” 1. Kor. 10, 16. — 
nBlaubt nicht jeglichen Geiſte, fondern prüfet die Geiſter.“ 1. Joh. 4,1. 


mit jenem Principe vereinbaren 
feinem andern als: ‚ber Erſte 


jr Beldusfrfäer spe apne Ausnahme. Auf biefen Scundlas 
Abweichung des di 


em tuht 

— nun bie ganze eutſch⸗ katholiſchen Solms von 

arm — ie wine es Benfbar —* zen heutige western 
3* 2 4 z 





Kirchenverfaffung,, katholiſche. 319 


nee ernannt*). 2) Bald überliegen die Aelteflen einem aus ihrer 
Mitte, als dem Erſten unter Amtögenoffen, zur Erhaltung ber Einheit 
. and Ordnung bas Ganze zu überwachen und zu leiten. Yon jenen in 
Alerandein iſt biefe® ausbrüdlich bezeugt **). Diefer Erſte wurde nun 
vorzugsweiſe und zuletzt ausfchließlich Auffeher (episoopus) genannt; 
doch behielten die XAelteften ihre Theilnahme. Er führte den Vorſitz, 
und obne feine Zuſtimmung durfte feine Neuerung befchloffen werden ***), 
Diefe Stellung führte bald darauf, ihn beſonders dazu einzumeihen, 
unter größeren Feierlichkeiten, als ben gewöhnlichen Aelteflen. Die 
geoße Zahl der Bifchöfe in mancher Gegend noch im Anfange bes 4. 
Jahrhunderts beweiſ't, daß darunter blofe Öbergeiftliche einer Stadt 
Eiche, ohne weiteres Gebiet, zu verfiehen find. Bald wurde dem fo 
an die Spige Geſtellten allen durch bie übrigen Aelteſten die Befugniß 
übertragen, angehende Geiftliche zu weihen, auch jedes neue Mitglied 
des Vereins duch Confirmation zu flärken, ferner die Weihe der Kir 
hen und Kirchengeräthfchaften, endlidy die ganze Kirchenregierung, fo 
weit fie in Vollziehung der Spnobalbefchlüffe und Gewohnheitsrechte bes 
fand. 3) Die Gemeinden in der Umgegend einer größern, volkreichen 
Stadt waren, von biefer aus gegründet, Toͤchterkirchen im eigentlichen 
Sinne, oder auch urfprünglic mit dee Stadt gu einer Gemeinde vers 
einigt gewefen; und aus diefen oder andern Gründen entftand Abhäns 
gigleit von dem Aufſeher ſolcher Stadtgemeinde und ber größere biſchoͤf⸗ 
liche Verwaltungskreis (Discefe ins heutigen Sinne)... Anfangs ift für 
die Bezirke noch der Ausdrud Parochia uͤblich, ohne: Unterfcheidung 
biſchoͤflichen und priefterlichen Wirkungskreifes, und noch im fünften Jahr⸗ 
hunderte findet man diefes Wort als gleichbedeutend mit Diöcefe ges 
braucht. Abermals Beweis für die urfprängliche Identität bes Priefters 
und Biſchofs. 4) Auch unter den Bilhöfen in dieſem neuen Sinne 
landen jene dee Mutterkirchen in hoher Achtung, und, gewiffe Rechte 
über die Toͤchterkirchen wurden ihnen eingeräumt; gewiß das Recht, den 
Weihungen aller ihnen untergebenen Amtsgenoffen durch Auflegung ber 
Hänbe vorzuſtehen. Die größere Erfahrung der Mutteranftalt flößte 
den Ablömmlingen das Vertrauen ein, fi dahin zu wenden, um bie 
Löfung vorkommender Zweifel ober die Mittheilung früherer in ähnlichen 
Ballen erlaffener Gutachten zu erbitten. Bald warb angenommen, daß 
wichtige Anorbnungen, die fich nicht auf den einzelnen bifchäflichen 
Sprengel beſchraͤnkten, nicht ohne Berathung mit bem Biſchof der Mut⸗ 
terkirche gemacht werden durften. Diefes führte zu Kirchenverſammlun⸗ 
gen, die von eben dieſem Bifchof berufen, gewöhnlich in der Mutter⸗ 

X .6,1 ff. Tertullianus de cri al. 
tian. Fe Fl 23. . prasseript. e. 41. Gra 

**) Hieron. ep. 101.ndE ium. @iche auch Rote *) S. 313. 

47) G. Note *) ©, 313. Canon. Apost. 31. 32. 34. Concil. Antioch. 341. 
c. 24. 25. Die Belege des Folgenden gibt forgfam Hüllmann, Urfprünge 
ber Kirchenverfaffung bes Mittelalters. Bonn b. Marcus, 1831. 8. Gieſe⸗ 
ler's Kirchengeſch Bd. I. $. 62. 66. 9. 119. 

Ä 


_ * 

Kirchenverfaſſung, katholiſche. 
und Leitung gehalten wurben. Schon unter 
— —— ſcheint 32 Ce der Wifchöfe von Mutterkicchen 
au jenen dee Toͤchterkirchen auf. dm hanptfläbtifhen Biſchof 
\ Copkoopus metropolitanus) im Werhältniffe zu ben übrigen WBifchöfen 
derfelben Provinz fibertengen worden zu fein, Über weiche jener allmätig 
bie. Oberbehörde zu, bilden begann. Als Brand wird angegeben, baf 
bie Haupeftadt ber Meittelpumet iſt, zu weichem alle durch Beichäfte hin⸗ 
gezogen werdn*). Die Verfammlungen ber Biſchoͤfe der Provinz 
mußten jaͤhrlich zweimal unter .Worfig und Leitung bes Metropoliten ges 
halten werden. Bu den Befugniffen diefer Verſammlung gehörte Bei⸗ 
legung von Streitigkeiten unter ben Biſchoͤſen und Erledigung von Ber 
ſchwerden dee untergeordneten gegen fie. Aber der vorfigende 
hauptſtadtiſche Viſhof —8 ee —— des ealſeruchen 
Statthaiters gewiß hatte den bedeutendſten Einfuß. 6) In einem 
Theile des roͤmiſch⸗ byzantiniſchen Reiche eigens um biefelbe Beit vorüber» 
gehend noch eine Hy D Oberbehorde. wie nämlich mehrere roͤmb 


fje Provinzen und deren Paiferliche —8 is police dioecesis 
unter einem Oberflatthalter vereinigt waren, fo wurde bort ber haupt» 
flädeifche Vifchof am Sire des Oberflarthalters Oberbehörhe ber übrigen 
hauptftädeifchen WBifhöfe jener Provinzen. In biefer Eigenſchaft Fl 
derfelbe Oberbiſchof (archiepisoopus), auch exarchus, eparchus, 


Beduͤrfniß größerer Werfammiungen, weil größere —E& 

im Stande waren, maͤchtigen, oft von bee weltlichen Gewalt un 

ten. Slaubensgegnern zu wiberflehen, mag wohl dahin geführt haben. 
Diefer Oberbiſchof hatte gegen die ihm unterftehenden. hauptſtaͤdtiſchen 
Biſchoͤfe ungefähr diefelden Befugniffe, welche biefen gegen die Bifchöfe 





Kirchenverfaffung , Tatholifche. 821 


feinem Detropolitm und durch biefen feinem Epaschen untergeordnet. 
Enblid das Concil von Chakedon (uns 461, das vierte allgemeine), 
befhloß: „Dem Stuhle des alten Rome haben die Väter mit 
„Recht, weil diefe Stadt des Reichs Hauptfladt war, 
„Vorrechte ertheilt. Aus demfelben Grunde hat das Goncil von 
„Gonftantinopel dem Stuhle des neuen Roms bie gleichen Vorrechte 
„verliehen (aequalia privilegia tribuerunt), indem bie Wäter mit - 
„Recht wollten, daß die Stadt, welche als Sig bes Herrſchers und bes 
„Senats Ausgezeichnet ift und diefelben. Vorcechte, wie bie Herrſcherin 
„Rom genießt, auch in kirchlichen Dingen nicht weniger, als dieſe er 
„hoben umd ausgezeichnet werde, als die erfte nach dieſer. Daher fol 
„der Bifchof von Gonftantinopel Metropolitanrechte über bie Eparchen 
„von Thracien, Pontus und Kleinafien haben, doc diefen ihre Ober 
„gewalt über die untergeordneten Metropoliten bleiben. Es fcheint, 
daß ber Titel Patriach, der früher allen Biſchoͤfen von Mutterkirchen, 
ja auch wohl überhaupt allen Bifchöfen gegeben wurde, von jeßt nur 
für die fünf erften Biſchoͤfe vorbehalten, und in fo fern eine neue Kirchen: 
würde eingeführt wurde, um jene drei Eparchen weniger zu kraͤnken. 
Wir fagen: den fünf erften Bifchöfen, denn auch der Bifchof von Je: 
enfelem erreichte auf diefem Eoncit das Biel feiner in langen Kaͤm⸗ 
pfen geltend gemachten, Anſpruͤche. Ihm trat dort der Eparch von Ans 
tiochia einen Theil feiner Didcefe ab, Palaͤſtina nämlich, und er wurde 
nun Yen Patriarchen beigezählt. Zwar gehört die Stellung der Epar⸗ 
hen ind Patriachen im angegebenen Sinne nicht mehr der Verfaffung 
der katholiſchen Kirche an, feit der Lostrennung ber Orientalen, unb 
ſeitdem das Patriarchat von Rom zu viel bedeutenderen und über bie 
‚anze Siehe fich erſtreckenden Vorrechten ſich erweiterte. Der Titel 
Exzbifchöf wird jest dem Metropoliten gegeben. Aber gerade über bie 
Keime ſolcher Erweiterung verbreiten biefe gefchichtlichen Momente das 
sichtigfte Lichte. Wer kann namentlid mit ben erwähnten Beſchluͤſſen 
der erften allgemeinen Goncilien Anerkennung einer Herrſchergewalt 
Roms Über die ganze Kirche vereinbar finden? Dagegen der erſte Platz 
wurde, wie wir fehen, dem Biſchof von Rom, als es noch Hauptſtadt 
ded Reiche war, eingeräumt, und blieb unbeftritten. 6) Offenbar war 
Rom der Drt, von wo aus ſich die Verbreitung bes Evangeliums nad 
alten Gegenden am Wirkſamſten fördern und das Band der Einheit im 
ganzen Vereine am Leichteften erhalten ließ. Auch Petrus ſtellte füch 
an die Spige jener Gemeinde und vollendete dort durch heidenmüthigen 
Tod für feinen Slauben. Zwar kann auch von Katholilen bie im 
der Schrift für Petrus bemerkliche Auszeichnung nur als Anbeutung 
betrachtet werben, daß die Kicche zur Erhaltung der Einheit einen Mit 
telpunct anerkennen müffe, und daher ift göttliche Anordnung nicht 
ausgebehnter anzunehmen, namentlich nicht für Entfcheibung ber Frage, 
wo der Sitz des erſten Biſchofs aufzufchlagen fei, und wer nad) Pe 
trus dieſe Stelle bekleiden folle, da Petrus, als ihn ber Herr aus⸗ 
zeichnete, an Beine Particularkicche gebunden war. Daher fagt ber ars 
Staats⸗ Lexikon. IX, 21 


——— — —— — — — 


322 urn 


„um Haupte der ganzen Kirche bezeichnet wurde, an keine Particular- 
„fteche gewieſen war, fo gibt es Keinen Grund, jenen Sitz an bie roͤ— 
„mifche Kirche gebunden zu — Es "läßt ih daher — von 
der ping he der Geſammtkirche die Beftimmung — ———— 

Biſchof die erſte Stelle bekleiden, und wo. derfelbe . * Sig haben 
folle. 7) Als die böchfte Autorität Über die ganze Kirche kann der 
Kathollt nur die Gefammtpriefterfhhaft erkennen. Nur ihre Ueberein- 
fimmung in Glaubens! und gefeplichen Anordnungen — vorausge: 
fest, daß es an der möthigen- Beiftimmung der Lalen nicht fehle — 
erſcheint ihm als allgemein’ verbindliche Norm. In den von dem 


Erife; Daher feit ber SEheilung. in —* — 
ftehe; die Leltung des großen Bundes aller Partieularkirchen in, Seiner 
Gefammtheit aber dem übereinftimmenden Zuſammenwirken aller Vor— 
— unabanderlich anheimgeſtellt. Die Theilung in größere und Flei- 

jere Bezirke und die Mebertragung vorzüglicher Rechte an die Vorftiper 
Berfeiben Beides menſchliche Einrichtungen, Können ihm nicht fün guͤl⸗ 
tige völlige —— die jedem Priefter durch göttliche Miffion 
gewordenen Rechte ehe gelten, fir das Heil der Gefammts 
Biche nach Kraͤften beforat zu fein. —* ſolche Entſaaung laͤßt ſich 





Kicchenverfaffung, Tatholiiche, 338 


herleitet, find an alle Apoſtel und ihre Nachfolger auf gleiche. Weiſe 
gerichtet ). Daraus, daß fo der Katholit als geoffenbarte göttliche 
Wahrheit, d. h. Glaubenslehre (Dogma), annimmt, was die Ge 
ſammtkirche dafür erkennt, folgt übrigens nicht, daß er Gewiſſensfrei⸗ 
heit verfhmähe. Denn ter der Kirche folhe untrügliche Auctoritaͤt 
zuſchreibt, wird durch nichts Anderes, ale feine Ueberzeugung von ber 
Richtigkeit der dafür gebrauchten Gründe geleitet. 8) So gewiß Ueber 
einfimmung ber Geſammtkirche die Quelle und Grundlage ber Ent: 
fheidung über Glaubensfrages und allgemeiner Gefeggebung für bie 
ganze Kicche ift; fo gewiß fteht der Oberbehörde jeder Particularkicche, 
dem WBifchofe, dem Erzbifchofe, das Recht zu, unter der für jede Kir⸗ 
hengewalt erfocderlihen Mitwirtung der Priefterfchaft und Laienge: 
meinde feiner Diöcefe oder Provinz, den Verhaͤltniſſen angemefjene 
eigenthümtiche Gefege zu geben, auch gefeglihen Anordnungen, die für 
die ganze Kirche beilimmt find, feine Beiflimmung zu verfagen und 
ihre Bollziehung abzulehnen, Autonomie. Die Gewalt des einzel: 
nen Vorſtehers über feinen Bezirk und jene der Gefammtpriefterfchaft 
über die ganze Kirche beruhen auf demfelben Grunde, den urfprüngli- 
hen Vollmachten und beten richtiger Auslegung ; auch iſt fie duch un⸗ 
unterbrodhene Gewohnheit beftätige **). So befolgt bie orientalifche 
katholiſche Kirche eine Geſetzgebung, von welcher bie occidentalifche in 
vielen Theilen der Liturgie und Difciplin abweicht, 3. B. in Dinficht 
der Kirchenfprache und des Coͤlibats. So werden die Biſchoͤfe in vies 
len occidentalifchen Kirchen von den Monarchen ernannt, in andern von 
den Domcapiteln gewählte." Zu dem ift es ausgemacht, daß die meiften 
Geſetze, roelche jet in der ganzen Kirche gelten, urfprünglich von einzelnen 
Particularkirchen herruͤhren und allmälig in den übrigen angenommen 
wurden. So eine Reihe von Beſchluͤſſen der afiatifhen Synoden von 
Ancyra, NeusCäfaren, Gangra, Antiochta , Laodicen, der Synode von 
Sardica, afeitanifcher, gallifcher und fpanifcher Spnoden, bie wir im 
allgemeinen Geſetzbuche der Kirche finden. Weberhaupt berechtigt bie 
Amtsgewalt des Biſchofs denſelben in feiner Didcefe zur vollſtaͤndigen 
Ausübung aller aus jenen göttlichen Vollmachten abgeleiteten Befug⸗ 
niffe. — 9) Dagegen die Obergewalt des Metropoliten oder Erz» 
bifhofs (im heutigen Sinne dieſes Wortes) über die übrigen Bi⸗ 
ſchoͤfe feiner Provinz (feine Sufftagane genannt, meil fie Stimm 
vecht auf ber Provinzialfpnobe haben) ift befchränkt auf einige einzelne 


*) „ben fo wenig”, fagt Hug (Beitichrift des Erzbisthums Freiburg, J. 
210), „konnte es gem v. Spittler unbekannt fein, daß die Unträglichkelt 
„bed Papftes Bein Beftandtheit des Latholifchen Lehrbegriffes fei, daß fie nicht 
„einmal Gregor VII. behauptet habe.’ S. die Stellen von Augufinus 
und Ambeofub, oben bei litt. C. Rech berger a. u D. 5. 85. Sauter 
.1. 8. 70 499. 

P.Y Riegger, institt, jar. ecel. I. 254. „Pehem |. I. I. 202. 
2 nehberger a. 0. D. I. 116. 158. 186. 188. Sauter I. 1, $. 76. 


21” 








324 Kigenserfffung, kotholſche. 


Vortechte, welche ihnen von der Kicche mach menſchlichem Ermeffen und 
mach den Zeitumftänden in größerem A — zuge⸗ 
fanden wurden, und von welchen gegenwaͤrtig, nebſt ben Ehrenrech- 
ten, nur übrig iſt das Mecht, die Provinzialfpnode zu berufen und zu 
leiten; dann das Recht, die nächite höhere Inftanz über den Suffen- 
ganen zu bilden und ihr ordentlicher Richter zu fein, ausgenommen in 
eigentlichen Strafſachen, welche einen anderen © jofe vorbehalten 
find. In Deutjchland naͤmlich follen, zufolge des Frankfurter Concor- 
dats, diefe Sachen durch ein Collegium entfchieden werben, welches 
wenigſtens aus vier von der Provinzlalz oder Discefanfpnode zu waͤh⸗ 
lenden Mitgliedern befteht und im Namen des entſcheidet 
Gudices delegati in partibus) *). 10) Bet der Frage: melde Ge⸗ 
walt in dem Primate über die ganze Kirche liege, etſcheinen zuerſt 
gewiffe Rechte als unmittelbarer uß jener Glaubenslehte, daß, zur 
Erhaltung der Einheit unter allen Didcefanvereinen der Erbe, Einer der 
Vorfteher der Exfte fein müffe, fo weit man der Exfte fein kann unter 
Gleichgeſtellten. Diefe Rechte werden natürlihe, weſentlich e 
oder Altefte Rechte des Primats genannt. Als ſolche laffen ſich nedft 
dem erften Range nur das Oberaufſichtorecht, die Directorialgerwalt und 
das Recht elmer nicht ausfchließtichen Iniative oder Propofition ich⸗ 
nen, mit dem Umfange, der im Artikel „Eurie” beſtimmt iſt. Dort 
find auch die zu dieſen natürlichen hinzugefommenen übrigen Primats« 
achte or weiche ſammillch zum Rechtögrunde das Bugeftänd- 
niß der jewtarkicchen haben, woraus ſich der Hauptgefihtspunet für 
die Beurtheil der natürlichen ſowohl als der Binzugefommenen 
Rechte von ergibt, der dort ebenfalls angebeutet ift. Bu ber let⸗ 
ten Claſſe wären noch zu zählen gewefen die hinzugelommenen Ehren: 
rechte. So, daß eine Neihe von Titeln, welche fämmtlic bie in’s 
neunte Jahrhundert‘ jedem Biſchofe gegeben wurden, zufeßt nur dem 
orfton Bifchofe und feinem Stuhle vorbehalten find. namentlich sum- 





Kirchenverfaffung,, katholiſche. 325 


bie ganze Kirche iſt feit der Wiederherſtellung der Wiffenfchaften, als auf 
Jerthum berußend, weggefallen *). Die Kirche hat fich hierüber auf ben 
Goneilien des 15. Jahrhunderts durch Wort und That entfchieden aus⸗ 
geſprochen. Wohl aber hat bas Zugefländniß eines Theils der einft aus 
jenem Irrthume abgeleiteten Worrechte aus anderen Gründen fortges 
dauert, body weder in allen Particularkirchen, nody zu allen Zeiten in 
gleichem Umfange. — 11) In den erflen. Jahrhunderten der Kirche 
galt gemeinſchaftliche Beſchlußfaſſung von Seiten der Bifchöfe, ihrer 
Geiſtlichkeit und der Laiengemeinde in Verfammlungen (Kirchen ver⸗ 
fammlungen) wohl mit Recht für die VBerfahrungsmeife, welche bet 
Srundverfaflung am Volllommenften entfpräche. Das allgemeine Conci⸗ 
Um von Nicaͤa (c. 5) beſchloß, jährlich follte zweimal Provinzialfgn» 
ode gehalten werden. Noch öfter hielt man urfprünglid Didcefan- 
fonode- Später wurden beide Synoden jährlich einmal gehalten. Das 
vierte allgemeine Concilium verordnet diefes für die erfte, und ſetzt es 
für die zweite voraus (um 1215). Noch das letzte allgemeine Conci⸗ 
lium beſchloß, jaͤhrlich follte Didcefanfpnobe, und menigftens alle brei 
Jahre Provinzialfpnode gehalten werden rg — Der Generalvicar bes 
Erzbiſchofs von Freiburg fchrieb am 27. März 1833 an das Decanat 
Vöringen: „Ueber bie Vorſtellung, betreffend die Einberufung einer 
„Discefanfpnode,, koͤnnen wir die Verficherung geben, baß Se. erzbi⸗ 
„ſchoͤflichen Snaden unfer heiliger Detropolit (Bernhard Boll) jemals 
„(jeweils?) geneigt waren, ihre Geiſtlichkeit ſobald möglich um fic zu 
„verfammeln und fich gemeinfchaftlid) mit ihr über geeignete Gegen: 
„ſtaͤnde zu berathen. Allein über die Zeit, wann bie Ausführung bies 
„ſes Vorhabens möglid) und thunlich it, auszufprehen, fehen Hoch: 
„diefelben als ein Ihnen zukoͤmmliches Vorreht an.” (S. Kanon. 
Wächter 1834. No. 6.) 

Wenn das Beduͤrfniß dazu vorhanden fehlen, wurden aus allen 
Discefen einer Nation Stimmführer zufammenberufen,, National s auch 
Meicheconcilien (concilia nationalia, auch oecumenica, im alten Sinne 
dieſes Wortes), Später firebte man fogar nad) Verfammlungen von 
Stimmführern aller Particularkicchen der ganzen Erbe, nad allges 
meinen Kirchenverfammlungen. — Das Recht, ein allgemeines Con⸗ 
clium zu berufen und zu Leiten, befonderd den Berathungsgegen- 
fland zu wählen, muß als Ausflug der natürlichen Primatsrechte dem 
hoͤchſten Biſchofe zugefchrieben werden, in Bezug auf Meinere Verſamm⸗ 
lungen dem Erſten unter den Verfammelten, obgleich bie älteften Con⸗ 
cilien, welche man jest als allgemeine betrachtet, weder durch ben römis 
fhen Biſchof berufen, noch erweislich Durch diefen geleitet wurden. 


*) Daß fpäter auch die Forſchungen proteftantifcher Gelehrten viel beitrus 
gen, im Ganzen die Ruͤckkehr bes Irrthums unmöglich zu machen, iſt bankbar 
anzuertennen, obgleih Walter ($. 109) gegen Febronius als KBorwurf 
erwähnt, feine Schrift fei aus den Werken ber Proteftanten sufammengelefen. 

”*) C. 25. de accusat. — Concil. Trident, Sess. 24. c. 2. de reformat. 
V. Espen, jus ooeles. univ. P. I. tit. 18, c. 1. P. TIL, tit- 10. c. 4.. 


326 Kirchenberfaſſung/ katholiſche. 


Kt jeben Ball konnen alle jene Mechte nicht als —— it die 
a! Biſchofe gelten. Da bie Pflt ch Kräften für das 
er Kirche beforgt zu fein, diefen ni "ten obliegt, fo me 
® ben Fällen, wenn fir diefe Pflicht zu erfüllen außer Stande fein 
ober ſich meigern follten, wenigſtens jedem Priefter vermoͤge feiner kirch⸗ 
Kt iffion zufommen, In einem folhen Nothfalle zu handeln. Auch 
der Staat vermöge feines oberſten Schuhrechtes —— dazu berechtigt 
fein. So wurde das Concilium zu Pifa, um 1409, nachdem das 
von Einzelnen ausgegangene Verlangen bie öffentliche Meinung altmd- 
ig gervonnen, durch einen Theil der Carbindle zuſammenberufen *). 
r 28 an N auf den — in auf —* 
eſonderen Concillum hat an jeder Priefter, vermöge feiner goͤttli— 
Gen Miffion.‘ Bei © ſen über Claubensfachen- forbert die Con⸗ 
feaueng fogar, diefe Mechte amöfchliehfich dem Priefter zuzuſchreiben, 
daher höhrten Geil hen, auch Bifhöfen, Cardindten, welche die Prie- 
fferweihe noch nicht erhalten Nee abzufpredjen. Ueber alle anderen 
Begenftände die — je Geiſtlichteit, auch Laien, mitſtimmen zw laſſen, 
indert nichts #*), _ Vielmehr muß man — eines unabanderlichen 
incips (litt. D.) eigentlich fordern, daß dabei namentlich auch die 
jalengemeinde vertteten ſei, wie fie e8 in den erften Jahrhunderten 
war””*, Daß auf den meiften größeren Concilien nur Bifchöfe entſchei ⸗ 
dende Stimme fuͤhrten, laͤßt fich einzig mit bee Genehntigung der Kirche 
rechtfertigen. Goncilienfchlüffe Uber andere Gegenftände ats den Gtau- 
ben nannten die Alten cananes A ‚zum Unterfchtede vom Ger 
fege bes En A A DE Kr * re 
fo jedes Kix eſetz Über ſolche en] 7 jet aus weicher 

Quelle, In Zelt kommt das Wort auch bei ———— von — 
Bon den Befhlüffen allgemeiner Eoncilien behaupten mehrere Theo⸗ 
retiter, fie hätten hon von fih aus verbindliche Kraft für die 
annıe Kirche, und felen in Glaubensrahen untrikalich. Zu einem ” 





Kirchenverfaffung, katholiſche. 837 


niemals ſolche Gewalt angemaßt. In Glaubensfachen behaupten fie 
das feflhalten zu müflen, wag immer, allenthalben und von Allen uͤber⸗ 
liefert ift*). So fprechen fie aus, daß die Kraft ihrer Entſcheidung 
nicht fowohl auf ihrem eigenen Urtheile und ihrer Gewalt, als auf der 

der gefammten lehrenden Kirche ruht. In anderen Dingen 
ft es bekannt, daß bie Beſchluͤſſe der allgemeinen Concilien von der 
Annahme ber Particularficchen abhängen, welche fo vielen derfelben 
nicht zu Theil wurde. Die von uns beftrittene Anficht geht davon 
aus, daß ein allgemeines Concilium die ganze lehrende Kirche repraͤſen⸗ 
tive. Allein folches Tann mit Wahrheit nur bei jenen Belchläffen ge: 
fagt’ erden, die im Sinne und nad dem Willen biefer Kirche gefaßt 
find. Daher wird bie verbindliche Kraft der Beſchluͤſſe allgemeiner Con⸗ 
cifien einzig von ber Genehmigung diefer Sefammtlicche bedingt, fo bag 
nichts Anderes zu dieſer Wirkung erforderlich iſt. Auch bie Kicchenväter 
legen entfheibendes Gewicht nicht auf die Zahl der bei einem allgemei- 
nen Concilium anmwefenden Stimmführer oder bie Korm ber Bufam- 
menberufung und die Verhandlungsweiſe, wohl aber auf bie Annahme 
der Beſchluͤſſe von Seiten der ganzen Kirche **). Das Exforberniß bie: 
fer Annahme der Beſchluͤſſe ift im Leben fo anerkannt, daß es auch bie 
Schule nicht leugnen kann. Nur ſetzen Manche beweislos voraus, ver⸗ 
bindfiche Kraft hätten die Beſchluͤſſe ſchon durch fih, unb die Annahme 
berfelben fei blos dazu nöthig, damit Gewißheit daruͤber vorliege, bag 
dem Conchium gehörige Berufung, Zufammenfegung und Verhandlungs⸗ 
weiſe nicht gefehlt habe. Allein mehreren, bie zu den allgemeineren ges 
zahle werden, fehlte ausgemacht bald das eine, bald das andere dieſer 
Erfordernifie. Soll die Annahme ihrer Beſchluͤſſe beweifen, daß nicht 
gefchehen fei, was geſchah? Mit Recht hat man darauf aufmerffam 
gemacht, daß bie Eurialiften ebenfalls behaupten, das allgemeine Con⸗ 
cilium, welches die Genehmigung einer gerifien dußern Behörde nicht 
erhielt, fei in Slaubensſachen nicht untruͤglich. Blos darin weichen fie 
ab, daß ihnen diefe aͤußere Behörde ber Papſt if, weip fie ihm, nicht 
aber der Sefammtlicche, die hoͤchſte Gewalt zufäpreiben ***). Q. 


*%) Quod apud omnes unum invenitur, non est erratum, sed tradi- 
tum. Tertullian. de praescript c. 37. Quod universa tenet ecclesia, 
nec a conciliis institutum, sed semper retentum est, non nisi au- 
ctoritate apostolica traditum rectissime creditur. Augustinus contra Do- 
natist. IV. 24. Hoc semper, neque quidguam praeterea — condiliorum 
saorum decretis catholica perfecit ecclesia, nisi ul, quod prius a majori- 
bus sola traditione susceperat,, hoc deinde posteris etiam scripturae chiro- 
graphum oonsignaret. Vincent. Lerin. Commonitor. c. 32. 

*) Ta non Nicaenos patres, sed et orbem terrarum condemnas, gni 
sententiam illorum comprobavit.e. Chrysostom. Homil. 52. Selbſt Yapft 
@elafius fagt: cuiusque Bynodi constitutum, quod universalis probavit 

ine asSonaus, primaın prae caeteris sodem exzegui debere. Gratian. 
c. 1. XXV. q. 1. Gben fo Papſt Gregor I. Id. c. 2 dist. 15. 

*#%) Sauter 1. |. $. 101— 108. ©. no: „Kirchen recht, na⸗ 
türliches“, „Surie”, „Soncilien"”, „Runtien”, „Stifter“, 
u. a. auf Kirchenverfaſſung bezuͤgliche befonbere Artikel. 





328 Kirche, Kitchenverfaffung, evangeliſche. 


Kirche, Kirhenverfaffung (evangelifhe). — I. Einlei— 
tung. Die Batholifche Kirche hat fic nirgends und. auch nicht in dem 
Goneit von Trient Liber den Begriff der Kirche ausgefprochen, aber fie 
behauptet ſich in ihrer empirifchen Geftaltung zu einem äußerlichen Reiche 
als die wahre Kirche, in welcher das, mas bie Kirche zu werden be 
fimmt it, als Wirkliches und die That Chrifti als vollendet betrachtet 
wird. Dieſe Weife der Anfhauung hat als Gegenfab die buch alle 
Bekenntnißſchriften der Evangeliſchen hindurchgehende Auffaffung hervor 
gerufen, nach welcher ber Kirche als dem duferlichen Reiche oder, was 
daſſelbe tft, dem Papftthume die Kirche als innerliches Reich des Glau- 
bens und der. Frömmigkeit ‚gegenUbergefegt wird. Es ift die Sache 
dee theologifchen Wiffenfchaft, die Bedeutung diefes in der Negation bes 
tatholiſchen Dogmas von der alleinſeligmachenden Kirche wurzeinden Be— 
griffes einer unſichtbaren Kirche aufzuzeigen und die Mare Auffaſſung ſei— 
nes Verhaͤltniſſes zu dem Leben zu vermitteln; aber geſagt muß es doch 
hier werben, für bie Entiwidelung bes evangeliſchen Kirchenrechts hat 
ex ehr bedeutende, nadhtheilige Folgen geäußert; denn, ungeachtet der 
Begriff der Kicche mit Nothiwendigkeit ein Sichtbares- in ſich aufnimmt, 
wiewohl der Zweck der Kirche nur durch eine fichtbare und in Sichtba- 
rem fich fortbifbende Gemeinfchaft erreicht werden kann, wurde doch ber 
dem Streite wegen bes Dogmas diefe, Seite und mit ihr der Boden 
völlig vernachläffigt, in weichem das Recht allein fein Beſtehen hat. 
Daraus, erklärt es ſich, weshalb die Bekenntniſſe gerade nach dieſet 
Richtung hin einen fo duͤtftigen Stoff darbieten, und wie die Juriſten, 
und leider auch die Theologen, als fie den Begriff, das Weſen und 
die Verfaffung der fihtbaren Kirche fo zurüdgeftellt fahen, zu ben be 


Fannten halts und ashaltlafen Nuffaftıınaon asfammen find. melche nach 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 329 


voraus, bis es von dieſer als Träger dee Idee und darum in feinem 
Rechte erkannt wird. 

Indem wir verfuchen bie evangelifche Kirchenverfaſſung von dieſem 
Standpuncte aus barzuftellen, mäffen wir zuvoͤrderſt über die Grund⸗ 
anfhauungen der evangeliſchen Bekenntnißſchriften, als bes unmittel- 
baren Ausdrucks des Glaubens s und Rechtsbewußtſeins ber Kicche, uns 
Har zu wegen fuchen. 

U. Die Srundanfihten der Symbole über die Ver: 
faffung ber Kirche. — Die Symbole faffen die Kirche als die Ge 
meinſchaft dee Heiligen in Chriſto. Aber diefe Gemeinfchaft, diefes in⸗ 
nerliche Reich der Anbetung im Geifte und in bee Wahrheit, muß ſich in 
einer dußerlihen Gemeinfchaft barftellen, da fie an ber reinen Predigt 
bes göttlichen Wortes und der fchriftmäßigen Verwaltung der Sacra⸗ 
mente, nad, Ealvinifcher Auffaffung auch an ber rechten Kicchenzucht, 
erfannt werden fol. (Augsb. Conf. X. VII, Apot. IV., Angl. Conf. 
4. XIX., Belg. Conf. A. XXIX.) Die Träger dieſer $unctionen und 
des mit dee Spendung des Abenbmahls zufammenhängenden Amtes der 
Schluͤſſel find die Bifchöfe ober Pfarrer, welche, da ber Kern und Mit⸗ 
telpunct ihres Amtes nicht das Opfer, fonbern die Predigt iſt, nicht als 
die priefterlichen Vermittler zwiſchen Gott und der Kirche, fondern als 
die Diener des göttlichen Wortes betrachtet werben. (Augsb. Conf. 
XXVII, I, Helv. Conf. XVIM., Angl. Gonf. XXII., Belg. Conf. 
XXX., Böhm. Conf. IX., Conf. Totrap. o. 13.) Ueber den Umfang 
der Kirchengewalt fprechen fi) die Symbole mehr nur von ber ne 
gativen Seite aus, indem fie bie bifchöflihe Jurisdiction im Sinne 
bes kanoniſchen Rechts verwerfen, und dem Grunbzuge des Katholicis- 
mus, nad) welchem durch den heiligen Geiſt bie Kirchengewalt in dem 
Klerus in ununterbrochener Kette ſich forterbt, die Berufung auf die 
gleiche Berechtigung aller Kirchenglieder gegenhberfegen. (Schmalk. Ar 
titel, A. XII. von dee Kirche.) Dabei tritt aber dody wieder die Exin- 
nerung an das biſchoͤfliche Amt und deſſen Geſtaltung in urchriftlicher 
Zeit hervor, und es werben bie Drdinationen ber von ber Kirche gewaͤhl⸗ 
ten Glieder des Lehramtes, die Aufrichtung chriftlicher Eeremonieen, die 
Verwerfung falfcher Lehre und die Ausübung des chrifllihen Bannes 
als Rechte der Biſchoͤfe bezeichnet. (Augsb. Conf. XVII. XXVIN. 
Schmalk. Art. von der Gewalt der Biſchoͤfe). Mit den Biſchoͤfen aber 
wird das Lehramt identiſch gefaßt, deſſen Thaͤtigkeit in dieſer Beziehung 
theils aus evangeliſcher Anordnung, theils aus der wiſſenſchaftlichen Be⸗ 
faͤhigung, theils endlich, wie bei der Excommunication, aus dem unmit⸗ 
telbaren Zuſammenhange dieſer mit dem Sacrament des Abendmahls 
und mit der Abſolution ſich erklaͤr. Im Uebrigen halten es die Be⸗ 
kenntniſſe fuͤr den Beruf des Regenten, der ſelbſt dem evangeliſchen 
Principe ſich angeſchloſſen, daß er die aͤußere Ordnung der Kirche hand⸗ 
habe und ihre dadurch Freiheit ihrer Entwickelung bereite. (Apol. IX. 
Schmalk. Art. Vom Papſtthume. I. Helv. Conf. XXX. Angl. Conf. 
XXXVII., Schott. Conf. XXIV. Belg. Conf. XXXVI u. a.) Hier 


als nothwendig an; ben Vie Ästraditen bie. 
Wahl der Diener des göttlichen Wortes als ein Boche b Gemeinden 


nf. XIXIV. Det. yI) * 

IH. Die biſoriſchen Seſtalta age n. — Daß diefe Auffaffun⸗ 
gen der Bekenntniffe über die kirchliche Verfaſſung weber luͤckenlos feien, 
noch eine tiefere Ahfehauung ausfchliefen, wollen auch wir fofort zus 
geftehen ; yugleich/aber müffen wie hervorheben, daß in ihnen, wenn 
aud) nur in ‚gegenftändticher Beſtimmtheit, nicht in_der Vermittelung 
aum Begriffe, die innere Nothwendigteit einer Geftaltung anerkannt 





[4 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 381 


welche aus jeber der einzelnen Nichtungen beflimmte Theile ſich aneig- 
net und zu einem Ganzen verbindet. Ein Gemeinfames aber müffen 
wir fchon Hier ausdrücklich hervorheben, was für die Beurtheilung jeder 
diefee Verfaffungen von unmittelbarer Bedeutung ift, die Verwerfung 
des Unterfchiedes zwiſchen einer regierenden und gehorchenden Kirche 
und bie Anerkennung bes Satzes, dag das kirchliche Bewußtſein in der 
Gemeinde, nicht in dem Klerus ſich concentrire. Hieraus erflärt ſich 
die überall anerkannte Zuläffigkeit einer Xheilnahme der Laien an bem 
Megiment und die weitere charakteriſtiſche Erfcheinung, daß in allen 
evangelifhen Kirchen eigentliche Eicchliche Gemeinden mit einer bald er- 
weiterten, bald befchränkten Theilnahme an einzelnen Verfügungen der 
Kirchengewalt beftehen, während nad dem kanoniſchen Rechte bekannt: 
lich berechtigte Pfarrgemeinden in diefer Bedeutung gar nicht eriflicen. 

A. Die Confiftorialverfaffung. — Abmeihend von den Re: 
formationsverfuchen des 15. Jahrhunderts, welche dem verweltlichten 
° Sottesreiche durch Heilung feiner dußerlihen Gebrechen wieder zu feinem 
Rechte verhelfen zu tönnen glaubten, wandte ſich die Kirchenverbeſſe⸗ 
rung bes 16. Jahrhunderts unmittelbar an das Pfarramt und die Ge- 
meinden. Hierdurch war ber Zufammenhang mit der Hierarchie geloͤſ't, 
und der Entwickelung eines neuen kirchlichen Lebens aus ſich felbft Her: 
aus der Boden bereitet; aber ob auf diefem das Leben werde Wurzel 
ſchlagen und fid entfalten bürfen, hing zunädft von den weltlichen 
Negenten ab, ba ber Wormfer Reichsſchluß von 1521 durch die Aech⸗ 
tung Luther's und feiner Anhaͤnger die neue Lehre und den auf ihre 
Grundlage errichteten Gottesdienſt in die Reihe der bürgerlihen Wer: 
brechen geftellt und dadurch die Unterdrüdung derſelben in bie Hände 
jener gelegt hatte. In der Thassbefland auch ber Schug, welchen die 
Landesherren ber Reformation ertheilten, in der erften Zeit faft überall 
zunächft nur In der Suspenfion jener Verfügung und im flillen Ge: 
waͤhrenlaſſen. Als jedoch die neue Lehre mit zwingender Gewalt ſich 
weiter Bahn gebrochen hatte, wandten einzelne Reichsflände und Städte 
ihe ihre Sorgfalt zu, Indem fie fih an die Spitze der Bewegung flells 
ten und die Eirchlihen Verhättniffe auf den Grund der neuen Lehre 
ſelbſtthaͤtig durch Weftellung tauglicher Seelforger, durch Einrichtung des 
Gottesdienſtes, durch Uebernahme ber kirchlichen Güterverwaltung und 
endlich durch Einführung einer Behörde ordneten, welche zur Aufſichts⸗ 
führung über Lehre und Wandel der Geiſtlichen beftimmt war (Super: 
intendenten zuerſt in Kurſachſen 1528, aber gleichzeitig unter dem 
Namen von Decanen oder Erzprieſtern auch im Derzogthume Preußen). 
Ihr Beruf, den Widerftand ber Biſchoͤfe zu brechen und der Kirche zur 
Ordnung und dadurch zur Freiheit zu verhelfen, Tag unmittelbar in der 
oben angeführten Srundauffafiung, auf welche auch die diteften Kirchen: 
ordnungen uͤberall ausdruͤcklich Bezug nehmen. Wo aber auch die welt: 
liche Obrigkeit ordnend eingriff, wurde ihre Thaͤtigkeit immer nur ale 
Vollzieherin deſſen betrachtet, was die neue Lehre von der ihr zugetha- 
nen Obrigbeit fordere. Hieraus erklaͤrt fich Die unmittelbare Theilnahme 


welche 
Gewalt, als folder, betrachtet 
Sefiättpunct if and) nicht verändert, fat 
in den Tenbesteräihen Genfiloden ihren Eins 
Beʒlehung iſt 
jegangen, wo, durch provifocifhe Einrichtung einer 
fachen vorbereitet, in Bemäßpeit eines Gutachtens 
das Conſiſtorium zu Wittenberg im 
diefe Einzichtung in ben mei⸗ 


- fpeint, da fie, 
allgemeinen Titel 


gegeben werben fol, daß fie . 

meinfamen Sicchlichen Bewußtſeins erſcheint, 

Princip der Verwaltung werde erhalten werden. Dagegen hat die dußere 
Geftaltung der Confiftorien mehrfach gewechfelt, namentlich findet ſich 
in der diteren. Zeit oft die Einrichtung, daß fie durch Zuziehung geiit- 








Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 338 


ſetzung, daß bei Verfügungen im Gebiete des inneren Bicchlichen Lebens 
der Landeshere durch das Lehramt berathen werde, als eine den Grunde 
anfichten dee Reformatoren entfprechende rechtfertigt: — Insbeſondere 
hat die Geſeßgebung nie zu dem Wirkungskreife dee Confiltorien gehört, 
ſondern uͤberall iſt diefe dem Landesheren felbft vorbehalten geblieben, 
für welchen es dann feine andere Schranke gibt, als die, melde in ber 
Bedeutung ber Reformation und in dem Gage gelegen ift, daß bie 
Eehre keinem Zwange unterliege, fondern eben in dem freien Bewußt⸗ 
fein ber Gemeinde ſich entwideln muͤſſe. — Um biefe Säge durch ein 
- dem Leben entlehntes Beiſpiel zu erläutern und zu belegen, entwerfen 
wir (nad) Spangenberg in Lippert's Annalen des K⸗R. Band. IH. 
S. 14 ff.) einen kurzen Abriß der noch jebt in urfprünglihem Um⸗ 
fange beftehenden Hannover’fchen Eonfiftorialverfaffung, der wir dann 
ein Beifpiel einer anderen Geftaltung gegenüberfegen.e Wir befchräns 
ten uns dabei zunaͤchſt auf das Confiflorium zu Hannover. Auch hier 
wiederholt ſich der allgemeine Grundſatz, daß die kirchliche Geſetzgebung 
von dem Landesheren, und zwar durch das Cabinetsminiſterium geübt, 
und nur bei liturgifchen Angelegenheiten das Ganfiflorium zu 
gezogen wird. Das Dispensrecht iſt nicht minder ein landesherrliches, 
body darf das Eonfiltorium von dem Eheverbote während des Trauerjahres 
und ber gefchloffenen Zeit, von dem Aufgebote und dem erforderlichen 
‚Confirmationsalter dispenfiren und Haustrauung und ſtille Beerdigung 
geftatten. Hiernaͤchſt ift dem Landesheren die Confirmation ber von 
dem Conſiſtorio, beziehfungsmweife dem Cabinetsminifterio, vorgefchlagenen 
Prediger und Superintendenten, die Beftätigung der von dem Confiftos 
rio ausgefprochenen Remotionen und die Entfchließung in einzelnen Vers 
waltungsangelegenheiten (Errichtung, Unton oder Dismembration der 
Kichen« und Schulämter, Einführung neuer liturgifher Einrichtungen, 
Verlegung und Abänderung ber Infpectionen, Anorbnung neuer Feier⸗ 
tage, Vornahme aller über 100 Thlr. ſich belaufenden Neubauten und 
Reparaturen Lirchlicher Gebäude, Veräußerung oder Verleihung der Kir 
hengüter nad Meierrecht, Verwilllgung beträchtlicher Ausgaben aus ben 
Kirchendrarien) ausbrüädiid, vorbehalten. Alle anderen Regierungscechte, 
insbefondere die Oberaufſicht Über Kirchen und Schulen und deren Guͤ⸗ 
tee und Rechte, fo wie die Disciplinaraufſicht über Geiſtliche und Schul⸗ 
lehrer find dem Gonfiftorto zu ſelbſtſtaͤndiger Ausübung uͤberlaſſen. Seine 
Civigerichtsbarkeit befteht noch ganz in dem durch das Eikenifche Recht 
beflinnmten Umfange, und erſtreckt ſich aus diefem Grunde auch nament- 
lid) (mit den fchon Im gemeinen Mechte geordneten Ausnahmen) auf 
die perfönlichen Angelegenheiten bee Geiftlihen und der ben olerus mi- 
nor bildenden Schullehrer, Cantoren, Küfter und Organiften. Die dings 
liche Jurisdiction umfaßt bie fich unmittelbar auf Lehre oder Religions⸗ 
&bung beziehenden Verhaͤltniſſe, die Streitigkeiten uͤber die aus kirchlichen 
Geſellſchaftseinrichtungen entfpringenden Rechtsverhaͤltnifſe (Patronats⸗ 
rechte, Parochialgrenzen u. ſ. w.), die Realklagen gegen Kirchen, Pfar⸗ 
ein, Schulen und milde Stiftungen und die Eheſachen. Die Straf⸗ 








as Rirde, Kichenverfaffung, evangellſche. 
gerichtebarkelt enblich erſtreckt ſich auf die Simonie und Amtövergegen 
dee Geifttichen, während bürgerliche Verbrechen nur von den weltlichen 
Gerichten geahndet werden. Zu felbfifländiger Anwendung find dem 
—2 “die ker and * Kichenbuße, an die 

ganz außer ‚die ai nicht mehe durchg prattiſch 
iſt, und die Verweigerung des chriſtüchen Wegräbniffes übertragen ; bie 
Vollziehung der gegen Geiſtliche erkannten Strafen der Verſehung, Sus ⸗ 
peufion oder emotion bedarf jebodh, wie wir bereit® bemerften, zus: 
voͤrderſt dee Iandesherrlichen Beſtätigung bes Exkenntniffes. 

Die neuere Befeggebung enangelifcher Länder hat diefe Verhaͤltniſſe der 
Gonfiftorien nicht unberuͤhrt gelaffen, vielmehr ift in mandyen Ländern 
durch bie "Aufhebung der kirchchen Gerichtsbarkeit und die Uebermeifung 
der ihe früher unterworfenen Werhäitniffe an Die weltlichen Behoͤrden, 
ferner duch Beſchraͤnkung auf das reingeiſtuiche Gebiet der Wirkungs ⸗ 
kreis derſelben vereingert worden. Ein denkwuͤrdiges Beiſpiel gewährt 
in dieſer Beziehung bie Geſchichte der preußiſch en Kirchenverfaſſung, 
welche, nachdem fle alle einzelne Phafen ber Eutwickelung durchſchrit⸗ 
ten, endlich in ber folgenden Weiſe ſich abgeſchloſſen hat, an der wir 
(nad) Jacobfon, Geſchichte des preuj. ER. Bd. II. S. 210 ff.) 
ein anfhaulidyes Bud einer neweren Gonfifisralverfaffung entfalten. 

Der unmittelbaren Entfcliefung des Könige vorbehalten find: 
1) der Gonfens bei Werabfolgung von Geſchenken und Legaten an aus: 
ländifche Kitchen ſchlechthin am Inländifche, wenn die Bumendung mehr 
als 1000 Zyie. beträgt, 2) bei jeder Annahme und Veränderung von 
Stiftungen für veligköfe umd Schulzwecke, fo wie bei jeber ſtiftungewi⸗ 
drigen Verwendung, 8) bei Verleihung der, erften geiftlichen Stellen in 





Sruen —444 





Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 833 


und Dispenfationen, welche nicht dem Minifterium und den Regieruns 
gen zuftehen. 4) Genehmigung , wenn ein evangelifcher Geiftlicher eine 
religiöfe Handlung bei einem Katholiten verrichten fol. 5) Sorge für 
Errichtung der Provinzials und Kreisſynoden, Aufſicht über dieſelben 
und Prüfung der darin gefaßten Befchlüffe, welche aber nur mit Ge: 
nehmigung des Miniſterii zu beflätigen find. 6) Die Prüfung der 
evangelifhen Candidaten pro ıninisterio, das colloguium bei deren 
Anftellung oder Beförderung, und bie Ordination bderfelben. 7) Er: 
theilung eines Gutachtens vor der Beſtaͤtigung eines Geifllichen , weis 
cher vor einem Privatpatrone von außerhalb Landes her vocirt wird. 
8) Vorfchläge an's Minifterium bei Wiederbefegung einer Superinten- 
dentur und Einführung des Superintendenten. 9) Auffiht über die 
Amtes und moralifhe Führung ber Geiltlihen, dabei Veranlaſſung 
außerordentlicher Vifitationen, Einleitung des Strafverfahrens in rein. 
ticchlihen Angelegenheiten und dergleichen. Den Regierungen flieht da⸗ 
gegen zur Behandlung in der für bie Kirchenverwaltung und das 
Schulweſen errichteten Abtheilung zu: 1) die Belegung fdämmtlicyer, 
dem landesherrlichen Patronatsrechte unterworfenen geiftlichen und Schuls 
lehrerſtellen, fo wie die Betätigung der von Privatpatronen und. Be: 
meinden dazu erwählten Subjecte, 2) die Urlaubsertheilungen, 3) bie 
Beobachtung der Amts⸗ und meoralifhen Führung der Geiſtlichen, 
4) die Aufcechthaltung der Außeren Kirchenzucht und Ordnung, 5) die 
Auffiht und Verwaltung fämmtlicher dußeren Kirchen s und Schulan⸗ 
gelegenheiten, alfo auch die Regulirung des Stolweſens, Zufammen- 
ziehung und Vertheilung der Parochieen, wenn die Gemeinden und bie 
Patrone darein willigen, und, unter gleicher Bedingung, Umpfarrung 
einzelner Dörfer, 6) die Verwaltung und beraufficht über das ge: 
fammte Kirchen⸗, Schuls und Stiftungsvermögen, 7) die Dispen- 

. fation und Gonceffion zu Haustaufen, Daustrauungen, vom britten 
Aufgebote und von den verfafjungsmäßigen Erforderniſſen ber Cons 
firmation. 

Minder ale bie Gonfiftorien tft ein anderes Element der Confiftos 
tialverfoffung, die Superintendenten, in feiner urfprünglichen 
Seftaltung berührt und verändert worden. Wir finden fie ſchon feit 
der erfien Vifitation in Kurfachfen als Behörden für bie unmittelbare 
Beauffichtigung der Lehre und des Wandels der Geiſtlichen; fpäter faſt 
in allen evangelifhen Ländern mit einem im Ganzen fich gleichbleiben: - 
den Wirkungskreife, als defien beide Hauptbeftandtheile die Aufſicht über 
den kirchlichen Zuftand ihrer Didcefen und die Sorge für die Aufrecht: 
erhaltung ber Gelege, für welche Thätigkeit überall die Kirchenvifita⸗ 
tionen das Mittel bilden, dann die Ausübung beftimmter Mechte der 
vollziehenden Gewalt in unmittelbarer Unterordnung unter die Confi⸗ 
ſtorien ſich unterfheiden laſſen. Auch in biefer letzteren Beziehung bat 
fi) die Verfaſſung im Einzelnen fehr verfchleben entwickelt, doch lafs 

ſen fi) im Allgemeinen als Gegenflände, weiche ben Superintenden⸗ 
ten gewöhnlich befonders übertragen find, die Ordination und Einfüh- 





336 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 


rung ber Prediger, die Einweihung neuer Kirchen und bie Direction 
der Prebigerwahl, wo die Gemeinden zu diefer bereditigt find, und Für- 
forge für die Verwaltung bes Gottesbienfted bei eingetretenen Bacan- 
zen bezeichnen. Oft gehört in biefen Kreis auch die Prüfung ber 
Schullehrer, bie Erthellung der Erlaubniß zu predigen an Candidaten 
und Studicende, die MRegulirung der Verhältniffe new angeftellter Geift- 
licher zu dem Amtsvorgänger ober deſſen Erben, das Dispensrecht in 
Faͤllen, in denen immer gegen Erlegung von Gebühren dispenfirt zu 
werben pflegt, wie bei Haustaufen, Haustrauungen u. f. w. Selte⸗ 
ner dagegen ift den Guperintendenten ein unmittelbarer Antheil an ber 
Ausübung der geiſtlichen Gerichtsbarkeit uͤberwieſen, und two fie auch 
nad) dieſer Richtung thätig werden, befleht ihr Antheil im der Negel 
nur In dem Verſuche gätlicher Wermittelung namentlich in Eheſachen 
und bei Streitigkeiten zwiſchen ben Geiſtlichen und ihren Gemeinden. 
Das Verhättniß der Superintendenten zu ben Gonfiftorien ift bald ein 
unmittelbares, bald flehen zwiſchen beiden noch die Generalfuperinten- 
denten, bie jedoch öfter nicht eine Zwiſcheninſtanz bilden, fondern als 
die mit der befonberen höheren Aufficht über das kirchliche Leben beauf⸗ 
tragten Mitglieder der Gonfiftorien find. Endlich iſt in manchen Län- 
dern das Verhätmiß fo geordnet, dag in Unterordnung unter die Su: 
perintendenten beftimmten Geiftlihen unter dem Namen von Metropo: 
litanen (wie in Kucheffen), Pröpften (mie in Medlenburg), 
Decanen (mie im’ Großherzogtfume Heffen, Baden) die Aufficht 
über beftimmte Pfarreien übertragen ifl. 

Nachdem wir folchergeftalt den Organismus ber landesherrlichen 
Kirchenbehoͤrden in Burzen Umriffen dargeftellt haben, müffen wir noch 





auf die Form einen Blid wenden, in welcher die Theilnahme ber Ger 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 337 


bei der Befegung der dem Iandesherrlichen Verleihungsrechte unterlie: 
genden Pfarrämter keine Mitwirtung zugeftanden wird, fo beflimmt 
auch die Älteren Kicchenordnungen eine ſolche fordern. Aus dieſem 
Grunde erflärt es ſich, weshalb wir früher auch einer Organifation ber 
Kirchengemeinden nur felten begegnen, wenn nicht bie fat überall vor⸗ 
Eommende Einrichtung, dag mit der unmittelbaren Verwaltung be6 
Kirchenvermoͤgens einzelne Gemeinbeglieder unter dem Namen der Al- 
tarleute, Juraten, Gefchworenen, Opfermänner u. f. m. beauftragt 
find, oder die in ben dlteren Kirchenordnungen oft erwähnten, zur 
Sortbildung ber Geiftlichen oder für die Ausübung der Cenſur beſtimm⸗ 
ten, noch neuerdings 5.8. in Medlenburg:Strelig (Verord. v. 
14. Auguft 1839) unter diefem Namen eingeführten Synoden hierher 
gezogen werben follen. Am Wenigften aber koͤnnen wir es gelten laf- 
fen, baß bie oft vorkommende Theilnahme der Landftände an der kirch⸗ 
lichen @efeggebung bier aufgerechnet werde, denn diefe ift, mie unten 
im Bufammenhange nachzuweiſen fein wird, nicht ein Merkmal der 
Selbftftändigkeit der Kirche, fondern der Beweis, daß das Firchliche Le⸗ 
ben von feiner Richtung nad) der dee abgelenkt ſei. Erſt der neue- 
ten Belt gebührt der Ruhm, ben feit der Keformation beftehenden Ver: 
bältniffen eine dem Geifte der evangelifchen Kirche entfprechende Rich⸗ 
tung gegeben, oder body das Recht der Kirche anerkannt zu haben, 
Hierher gehören die Beſtimmungen der neueren Verfaffungsurfunden, 
welche bald im Allgemeinen, wie in Württemberg, die Anorbnun- 
gen in. Betreff der inneren kirchlichen Angelegenheiten der verfaffungss 
mäßigen Autonomie der Kirche vorbehalten (Verf.⸗Urk. 6. 71.), bald 
ausbrädiih, wie in Kucheffen (Verfaff. Url. $. 134.), verfügen, 
daß in Liturgifchen Sachen Feine Neuerung ohne Zuziehung einer Syn⸗ 
ode Start finden folle. Befondere Erwähnung verdienen in diefer Be⸗ 
ziehung die Beflimmungen des Sachſen-Altenburgiſchen Grund: 
gefeßes, welche für die Ordnung der öffentlichen Gottesverehrung, und 
für die Beſtimmungen in Beziehung auf den öffentlichen Lehrbegriff 
und die allgemeine Kirchenverfaffung die Mitwirkung von Vertretern der 
Kirche fordern ($. 134.). Freilich hat man auch hier nicht zu einer 
vollfländigen Vertretung der Kirche fich zu erheben vermodht, denn bie 
im $. 135 angeordnete Spnode befteht nur aus Gliedern des Lehrftan- 
‚des, und es ift nicht ganz der richtige Geſichtspunct, wenn $. 137 
beſtimmt ift, daß ein von ihr und den Landſtaͤnden beifällig begut- 
achteter Geſetzentwurf von dem Landesherrn als bindendes Geſetz für 
alle Mitglieder dev Kirche erlaffen werden könne. Aber dem gegenüber, 
was anderwaͤrts gethan, ober richtiger nicht gethan worden ift, mag im⸗ 
merhin auch eine Beſtimmung folcher Art als Fortfchritt bezeichnet 
werden. Eine vwollfiändig das Recht der Kirche wahrende Werfaffung 
verlangt jedoch zuvörberft ihre Begründung von unten auf durch die 
Organifation ber Gemeinden, auf welche dann die Vertretung der Kirche 
ſelbſt geflügt ift, alfo Presbpterien und Spnoben. Diefe hat 
man oft als ber reformirten Kirche eigenthuͤmlich betrachtet, ja es kann 
Staats⸗Lexikon. IX. 22 


338 Kirche, Kirchenverfaſſung, evangelifche. 


behauptet werden, daß diefe Anfiht in dem Gefolge der dogmatiſchen 
Streitigkeiten zwiſchen biefer und der lutheriſchen Kirche bie Ent 
widelung in der letzteren nach bdiefer Richtung hin gehemmt habe» 
Sie ift jedoch offenbar unrichtig, denn auf der einen Seite ift «6 
gewiß, daß die Conſiſtorialverfaffung unter gleichem Werhätmiffe auch 
in der ceformirten Kirche zum Beſtehen gelommen, mie z. B. in 
Kusheffen, und auf der anderen Seite muß zugeftanden werben, daß 
aud die lutheriſchen Belenntniffe jene Organe für die freie Aeuße- 
rung des kirchlichen Bewußtſeins nicht ausfchliegen, da fie ja eine 
Mitwirkung der Kirche zu beflimmten Verfügungen des Kirchentegis 
ments ausdrädlic fordern. In der That treffen wie auch in ein- 
zelnen lutheriſchen Landeskirchen neben der Gonfiftorialverfaffung mans 
ches freie Element, wobei wir denn auf. die in Heffen ſchon feit 
1539 beftehenden Presbpterien und berufen koͤnnten, welche noch in 
der Presbpt.= Dxd. von 1659 als Repräfentanten der Gemein 
den bezeichnet werben. 

Dürfen wir hiernach nicht behaupten, daß die nach Luther’s 
Anfichten verbefferte Kirche die ceine Confiftorialverfaffung, die refor⸗ 
mirte Kirche dagegen die Spnobalverfaffung zu ihrem Wefen babe, 
fo müffen wir doch ſogleich zugeftehen, daf in der fegteren in Folge 
der Verhaͤltniſſe, unter denen fie erwachſen, die Spnobal» und 
Presbyterialverfaffung vorzugsweife entwidelt und erft in der neueren 
Zeit im Geleite der Union (f. d. A.) zu einem Gemeingute der evan⸗ 
geliſchen Kirche geworden ſel. Bevor wir daher die neueren Geſtal⸗ 
tungen darlegen und ihres Grundes und bewußt werden koͤnnen, be 
datf es einer Darftellung ‚der Entftehung jener, Verfaffung -felbft, für 











sie, Kircpenoerfaffung, evangeliſche. soo 


O6 Bernääden der Wi autfärleben, traten fie, als bie Ee⸗ 
Sud Me enden br Hatte a — in das m wie diefes 


Gem: ertanı Gergl. Kirh⸗ 
fiſchen Gemeinden den jener Verfaffung int hatte u % 


wommene, auch In ben reform Bebenntniſſen Immer als weſent · 
—— Drganifation nat 8a England in die Gemeinden der 
ale ſchen und frangöftfchen Flüchtlinge verpflanzt, zum heil buch 
dem € ger Theologen Bucerus, zum Theil durch den aus 
Kr = a ‚gel une — — En 1 
mene mordnung durchaus ai terialverfaffung baflrt 
* Us in Foige der in Eng fand Fr die proteftandifhe Kira ⸗ 
— Berfolgungen nad) dem Tode Eduard's VI. (1558) vlele 
lieder jerter Gemeinden flüchteten , wurde bie fo eben bezeichnete Ver⸗ 
faffung aut Er Eh Boden heimiſch. So finden wir ß in Hei⸗ 
deiberg und Srankfurt (1555) und insbefondere am, hen, 
wo die Reformirten im Jaht 1568 zu Wefet, im Vereine mit niederläns 
hen Abgeordneten, eine Gensralfpnobe hielten, deren Beſchluͤſſe die 
jrumblage ber Kirchenverfaffung in Jaͤlich, Eleve, Berg und der 
(haft Mark geworben find. Won .biefen Ländern fielen im Jahre 
Ele ve und bie Grafichaft Mark an das reformicte 
ülte) und Berg an Das Lutherifche, fpäter (1614) toieber Tatholifch ger 
morbene Pfolz- Neuburg, und es findet fich nuumeht bie Erfcheinung, 
daß auch die hutherifchen Kirchenordnungen jenes Element der 
fi) aufnahmen (vergt. für die beiden erfteren u * Kirchen⸗ Ord. 


340 Kiche, Kirchenverfaſſung, evangeliſche 


nung von 1662, lutheriſche Kirchen · Ordnung von in, und fuͤt die bel⸗ 
den Iegteren bie Kirchen⸗ Otdnung von 1604 und 656, in der. weiter 
unten ‚anzuführenden Ausgabe von rn. — Für bie Ent 
widelung derfelben in den nieberländifchen zeformirten Gemeinden 
wirkte nach der angeführten Synode von Wefel bie im Sabre 1571 ge= 
haltene Generalfpnobe von Emden, deren Beifpiel auch auf die luthe— 
riſche Kirche ber Niederlande von mafgebendem Einfluffe-gewefen iſt. Bu: 
test haben wir noch einen Blick auf —— und Schottland 
zu werfen. , Indem erften Lande wurde mit der Meformation auch die 
Spnodals und Presb ;pterialvetfaffung unter dem unmittelbaren Beiftande 
Ealvins, Farel — durch Vire in das Leben gerufen und von der 
erften Generalfpnode,von Paris (1559) durch eine Reihe von Synodal⸗ 
beſchluͤſſen entwidelt, aus der das Fundamenaljtatut der —— 3 — 
teformirten Kirche, die discipline des eglises reformees de France, 

vorgegangen ift, Die IE arten Grundptinciplen * 11 
in Deurfeland ihre Rüdwirkung, indem fie von den am Ende des 17. 
und am Anfange des 18, Sahıpundes ausgewanderten Franjoſen bei: 
behalten und dadurch in Länder verpflangt wurden, in denen fonft das 
ticchliche Leben nach einer gang anderen — hin ſich entfaliet hatte. 
Diefes iſt unter Anderem mit Hannover, BraunfhmweigundBüde: 
burg ber Ball, deren teformicte Kirchen, durch gemeinfchaftliche Synoden 
verbunden, im Ganzen bie „Discipline” als ihr fichtiches Grundgefes an 
erkennen. — In Schottland endlich wurde die Presbpterialverfaffung 
im Jahre 1560 unter befonderer Mitwirkung bes Refotmators Bes 
Kor in einer im Wefentlihen auf die Genfer Verfaffung ge 
Kichenordnung, bem fogenannten erſten Disciplinbuche, ac. = 
Nach diefer allgemeinen Meberfidht bleibt uns nun mod die Pflicht, die 





"Kirche, Kirchenverfaſſung, ebangeliſche. 841 


ein aus dem Prediger und einer %ı von Aelteſten bes 
Ras fiftorium hat, und daß fünf folder einden ben Bert 
einer Spaode (als der Auffichtebehörde für bie Liturgie, ben Beligionsuns 
— sind bie kirchliche Verwaltung) bilden, zu ber jede Gemeinde einen 
Gelfllihen und einen Jelteſten (endet. Im ähnlicher Weiſe Haben die 
Seinönden augsburgifäer Confeffion ihte Localconfiftorien, von benen 
Fünf a der Arvonbiffement einer Infpection fich vereinigen. Zu den Ver⸗ 
fanintluugen derfelben: fendet jede Gemeinde einen Beiftlichen und Kin 
Adteflen,, die wiederum aus ihrer Mitte einen ftändigen Infpector aus 
den geiftlichen Döitgliedern erwählen. Endlich beftehen, als hoͤchſte Ber 
waltungsftellen, zwei Generalconfiftorien, beten jedes aus einem weltlichen 
—— Er an un —I jeder 
—— "Bea oheitsrechten des 
Gr Gerichtsbarkeit zu ihren 
rg — ——— ladet fidy die hier in volllommener 
Reinheit beftehende Presbpterialverfaffung nach —8 Stufen: 1) der 
Kicchentath, oder das Presbyterium (Kirksession), 2) die Krelsſynode 
(Presbytery), teldje ſich alle Monate einmal verfammelt, 3) bie jähes 
Lid) zweimal zufamnientsotende Provinzlalfynobe (Synod), 4) die jährliche 
gefeßgebende Generals ober Nationalfpnode (General-Assembly), weide 
durch einen vom Könige ernannten Präfdenten birigiet wird und nur 
durd) das tönigliche Veto befchränkt iſt (Bemberg, bie ſchottiſche Mar 
tionallicche, Hamburg, 1828). — In den Niederlanden hat ſich bie 
Derfafjung zu dem, verfchledenen Beiten verſchieden geſtaltet. Mach ben 
Beftitellungen der oben ſchon erwähnten und anderen Synoden hatte jede 
Genieinde ihe Preehyterlum (Kerkenraad), beſtehend aus den Predikasi- 
ten,, Ouderlingen (Xelteften) unb Diaken. Ueber benfelben ftanb bie 
Kreisfgnobe (Classical - Vererdeing), zu welcher innerhalb eines gewiſſen 
Wegitkes jede Gemeinde einen Kerle und einen Geiftlichen aborbnete. 
" Die höchfte dermaltende Behörde und Appellationsinftang bitbete, da bie 
Raiiinalfpnobe feit der Dortrechter —8 1619 2 nice wieber zufammen» 
trat, bie jährliche Provinzialſynode (allgemeen kerkelyke Vergadering), 
aus der von den Glaflen jeder Provinz deputirten Ouderlingen und 
Pred Die laufenden Gefcyäfte wurden von einer jedesmal bis 
zur Sonode erwaͤhiten Deputation erledigt. Seit dem Jahre 
‚1816 iR disc) das, die frühere Seibftftändigkeit vielfach mobifiisende 
„Allgemeen ‚Reglement voor het Bestuur der Hervormde Kork in 
ik der Nederländen’ die Verfaſſung dergeſtait geregelt, daß * 
‚Gemeinde einen Kirchentath ober eiu Presbyterlum hat, das aus dem Pad- 
dicanten umd gewählten Aelteften befteht und die Genfur der Gemeinde⸗ 
glieder und Auffiht\über den Gottesdienit und die Verwaltung des Kir 
hengutes ausübt. Nach Detögebraud ift ben Diakonen die Gorge für 
die Arten. befohlen. —— Die 3 Stufe in dem Drgantemus bildet 
die Ciaffical + Kiechentegierung ( ical- Bestuur ), weiche. ducch einen 
"Ausfhuß,von Moderatoren veriwaltet tmicd; diefe Lebteren ernegmf ber 
König; mur ein Rate ift Mitglied, "Der Wirkungskreis der orbnunges 


342 Kirche, Kichenverfaffung, evangelifche. 


mäßig ſechsmal im Jahre zufammenttetenden Claſſenregierung ift bie Ins 
fpeetion über die Gemeinden, Kirdyenvorftände und Prediger des Bezirks, 
die Aufficht über die Wahl und Einführung der Prediger, die Entſchlieſ⸗ 
fung auf bie gegen kirchenraͤthliche Entſcheldungen eingelegten Appellatio- 
nen, die Genfur über Prediger, Kirchenräthe und Candidaten. Daneben 
gibt es aber namentlich für beftimmte oͤkonomiſche Angelegenheiten noch 
eine jährliche Clafficalverfammlung von allen Predigern der Claffe und 
einer Anzahl von Aelteften. Die fogenannten Bing -Vergaderinge, in 
welche die Claſſen zerfallen, find durchaus unferen Prebigerconferenzen 
zu vergleichen und dienen bem praktifhen Leben unmittelbar nur in fo 
fern, al6 fie für die Amtsverwaltung während der Wacanzen forgen. Ueber 
der Glaffenregierung fteht die dreimal im Jahre ſich verfammelnde Pro: 
vinzlals Kichentegterung (Provincial- Kerkbestuur), die Behörde für die 
kirchliche Auffiht und Verwaltung eines beftimmten Kreifes und letzte 
Inſtanz für die bet der Claffe angebrachten Sachen. Sie kann zugleich 
gegen Prediger, Candidaten unb Aeltefte nach geführter Unterfuchung bis 
auf Abfegung etkennen. Auch ihre (11) Mitglieder werden aus den 
Geifttichen der (11) Claſſen von dem Könige ernannt, und audy hier find 
die nicht geiftlichen Glieber der Kirche nur duch einen Xelteften aus 
einer jährlich wechſelnden Claſſe vertreten. Der Schlußftein der Ders 
faſſung ift die jährlich im Haag ſich verfammelnde Synode, für welche 
von jeder Provinzial Infpection ein geiftliches, von allen nad) einem be: 
flimmten Turnus ein weitliches Mitglied abgeorbnet, vom Könige aber 
der Präfident, Vicepräftdent und Secretär, fo wie mehrere Commiſſarien 
ernannt werden, fobald der Chef des Mintfterialdepartements für den Cul⸗ 
tus entweder nicht det reformirten Confeffion angehört, oder fonft den 








Sigungen beizumohnen verhindert iſt. Die Berathung der Synode 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 848 


keit umtergeorbnet war, und auch nach der neueren Verfaſſung vom Jahre 

‚1814 don bem Staatsrarhe abhängig geblieben ift. Deshalb muß bie 

Annahme, daß die Genfer Kicchenverfaffung die evangeliſche Obrigkeit von 

jeber Mittoitfung ausfchliege, und daß eben hierin der Differengpumet 

yoifchen Calviniften und Zwinglianern gelegen fei, fehon für die fruͤhere 
als ein Irethum bezeichnet werden. 

ben deutfchen Ländern, in benen die Spnobal+ und Presbys 


4 affung ins Leben getreten War, nennen wir zuvötderſt Baden, 
deifen feit der Union im Jahre 1821 folgendergeftalt geregelt 
4." Die Grundlage der Verfaffung bilden freigermählte Rathe von Kir⸗ 


Genätteften ober Presbptern, als Organe und Mittel zur Verwaltung 
- berfittlichen, religiöfen und Eichlihen Angelegenheiten der Gemeinden. 
E — Stufe der Verfaſſung find die Specialfpnoden, welche in der 
gel am Wohnotte des Drcans fid) verfammeln und ‚durch die ſaͤmmt⸗ 
Midjen Pfarrer des Bezirks ober ber Didcefe und durch eine ber Hälfte 
ber —5 Mitglieder gleichtommende Deputation weltlicher lie: 
ber ber Desiefskicchenvorfteher gebildet werden. Sie treten in je drei 
ten zufammen, und werden in Gegenwart eines landesherrlichen Commiſ⸗ 
id gehalten. Die Generalfphobe repräfentict die geſammte Lanbes« 
R amd wird durch freie Mahl dergeftalt gebildet, dag aus je len 
er 28 Mahibezieke ein Geiſtlicher und je vieren ein weitliches Mit 
hodhle wird, zu denen ein geiſtliches und weltliches Mitglied der Evans 
gelifcyen Miniiterialkicchenbehörde, ein von dem Großherzog ernanntes 
Mit ber theologiſchen Sacultät ju Heidelberg und ein ‚land 
edangellfcher Eommitfat als Präfident binzutreten. Die Synode vers 
ſammelt fich nach dem neueren Beftimmungen ordnungsmäfig in je fles 
den Jahren (vergl. bie landeshertliche Genehmigung ber von der Generals 
Tonode gemachten Anträge vom Jahre 1835, bei Rheinmald: Acta histor. 
ecel, Bd.1. ©. 417). Ihren Wirfungskreis bezeichnet die Unionsurkunde 
folge alt: „Sie hat a) über Erhaltung der Kirchenverfaſ⸗ 
fung, der barauf ruhenden Autonomie und wuͤrdigen Stellung ber Kitche 
im Einklang mit der Unionsacte im Allgemeinen und Einzelnen zu wachen ; 
‘b) über die allgemeine Befolgung der Kirhenorbnung zur ‚Erhaltung 
* wlinfehensrberther Gfeichheit der Landegticche in Lehre, ‚Eultus, Discipun 
und anderen ‚Eicchlichen Anſtalten gebeihliches Auffehen zu ‚tragen; c) 
“auf das Amtsverhaften und Privatleben der Landesgeiſtlichkeit ein’ wach: 
fames Auge zu tichten und im geeignetem Wege zu verhüten, daß durch 
i Glieber derfelben ‚weder das innere Wohl, noch die ‚äußere Khre 
‚der‘ "gefährdet und das Amt des Geiftlichen verläftert werde; ch nad 
den im offenen Zeitraume gemachten Erfahrungen hat fie im reifliche 
ig zu ziehen, wie die Kirchenverfaffung in’s Leben einge 
welchen Zheilen fie etwa noch einer höheren Wolendung brbdıfeg 
könne, ob und welche Modificationen in der Ricchenorbnung mothwens 
ber räthlich feien ; ‚endlich ob und welche Winfche in Verwaltung und 
bung Der allgemeinen und Localvermögen — die zwar ame Da 
Raate qufſicht der ‚Kicche zuſteht, deren Art und Weſſe aber. b 










344 Stche, Kirchenverfaſſung / ebangelifche. 


ſondere organifche Gefeße, bie Verwaltungs und "Almofenorbnung, übe 
beftimmt Er To wie ber 6 befonberen Witten» und Hülfe: 
caffen zur gedelhllchen Berůckſichtigung kommen mögen,, wobei immer die 
Rechnungen vor find; 5) feBeandem on rdneligum 
aus ben Protocollen ber Beziekefpnoden enchobenen, zu Ihrer Bera 
ausgefegten und ihr nebſt (Emmtlihen Ptotocollen Men, mitzutheifenden. 5 
fe und Beat fo tie O bie —— Erfal und Wuͤnſche 
ihrer Gfieder, bi — fifchen . Landes 
betreffend, zu reden kam du und Anteäge zu prüfen; g) 
über alles — —— — au faffen, oder, wo bie 
Sache dazu noch nicht geeignet: m an? Vorſchlage zu Bade 
und ent, B) über ine m as Aa dere duch bie Kandesherslichen Co 


mifferien bie — 
gane der Ve b Med bie 
dem Minifterto des Innern 


von 1809). — Von biefer as reußen und 
der Kirhenorbnung für die Nheinprovinzen Ur eftphalen 
5 — u 1 ee Da — — IR F 
egierung bee Entwurf ei al wi we 
wnodal- und Presbpterialordnung vereinigen follte. Die Ausführung 
diefes, ungeachtet feiner Mängel (vergl. Schletermacer, über die flr 
die proteftantifche Kirche des preußifchen Staates einzurichtende Synodal⸗ 
verfaffung. Berlin, 1817), zu jener Zeit von Vielen mit Theilnahme ver⸗ 
Kan &he Be — Ganzen nicht Se wohl aber it Fr ben, a 
en Thei auf den d der dort entwi 
haͤltniſſe eine Verfaſſuna aearuͤndet worden, welche, das Geaengeſchenk 








Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 345 


preußiſchen Beſitzergreifung nie als Grundlage anerlannt worden (vergl. 
von Oven, die Presbpterial= und Synobalverfaffung in Berg, Jülich, 
Gleve und Mark. Eſſen, 1829). 

Im Fahre 1835 wurde nad) längeren Verhandlungen zwifchen ber 
Staatsregierung und ben für Weftpbalen, Sülih, Cleve und 
Berg zufammenberufenen Provinzialfpnoden die neue Kirchenordnung 
für die evangelifhen Gemeinden beider Gonfeffionen in der Provinz 
Weftphalen und den Rheinprovinzen erlaffen, durch welche mit⸗ 
hin bie Presbpterialverfaffung zu einem Gemeingute auch anderer, früher 
in abweichender Weiſe organifirten Gemeinden geworden iſt (Sneth> 
Lage, die Alteren Presbpteriallichenorbnungen der Länder Juͤlich, Berg, 
Steve und Mark, in Verbindung mit der neuen Kirdjenorbnung u. f. w. 
Leipzig, 1887). In der That ift in ihr das Princip ber Selbſtſtaͤndigkeit 
ber Kirche mit der Zheilnahme dere Staatögemwalt an dem kirchlichen Leben 
in fo glüdlicher Weife vermittelt, daß fie unter allen Kirchenordnungen 
neuerer Zeit fchlechthin als die vollenderfte betrachtet werden muß. Auch 
hier find die Presbpterien der einzelnen Gemeinden der Grundflein, auf 
welchem das Gebaͤude der Berfaffung ruht. Sie beftehen aus dem Pre: 
biger, als Präfidenten, und einer Anzahl frei gewählter Aelteflen, Kirchen: 
meifter und Diaconen. Neben ihnen ift aber eine größere Repräfentation 
der Gemeinden bergeflalt angeorbnet, daß fie in Gemeinden unter 200 
Seelen durch alle fimmfähige Gemeindeglieder, in hrößeren von einer 
beftimmten progreffiven Anzahl derfelben bewirkt wird. Das Verhaͤltniß 
zwifchen beiben regelt ſich dergeftalt, dag zu dem Wirkungskreife der Pres- 
byterien gehören: 1) die Handhabung ber Kirchenzucht in der Gemeinde; 
2) die Einleitung zur Predigermahl; 3) die Wahl ber unteren Kirchendiener, 
die Theilnahme an der Wahl dee Schullehrer und Presbyter in Gemein: 
ſchaft mit der größeren Repräfentation, fobald die Gemeinde über 200 
Seelen zählt, während dagegen im entgegengefesten Kalle das Wahlrecht 
durch die flimmfähigen Glieder dee Gemeinde felbft geübt wird; 4) die 
Aufnahme ber von ihm und ber Gemeinde durch den Prediger geprüften 
Confirmanden; 5) die Ertheilung der Zeugniffe an die aus ber Gemeinde 
entlafienen Mitglieder; 6) Sig und Stimme in der Kreisfpnode (vergl. 
unten) durch ben Prediger und einen von ihm deputirten Aelteſten; 7) die 
Verwaltung des Kicchens, Pfarr:, Schuls und Armenvermögens. Außer: 
dem liegt ben Aelteflen die Auffiche über religiöfes und fittliches Leben 
und die Sorge für die gehörige Wahrnehmung des Gottesbienftes wäh: 
rend der Pfarrvacanzen, den Kaftenmeiftern die unmittelbare Beauf⸗ 
fihtigung und Verwaltung des Kirchenvermögens, den Diaconen die Ar: 
menpflege und Verwaltung des Armenfonds ber Gemeinde ob. Zu ben 
Rechten der größeren Nepräfentation gehört dagegen zuvoͤrderſt: 1) die 
Predigerwahl, ein Recht, welches ſich jedoch nad) ber Cab.⸗Ordre vom 
25. September 1836 (bei Rheinmwald a.a. D. Bd. I. ©. 495) auf 
die früher ſchon wahlberechtigten Gemeinden befchränke, während den 
übrigen nur die im allgemeinen Landrecht den Gemeinden bei Patronats- 
ficchen verwilligte Mitwirkung mit einiger Erweiterung zugeflanden fein 





346 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 


folt; 2) die Berathung und Beſchlußnahme über Veränderungen in der 
Subftanz des Srundeigenthums der Gemeinden, über Erwerbung und 
Beräußerung deffelben mit Einfluß der Vererbrechtungen und Eonceffio: 
nen gegen Erbzins; 3) die Beſtimmung ber Gehalte und Gehaltszulagen 
für die Kichenbeamten; 4) bie Beſchlußnahme über die Dedung der 
tirchlichen Beduͤrfniſſe bei vorhandener Unzuiaͤnglichkeit des Kirchenver⸗ 
moͤgens, und die Umlage auf die Gemeindeglieder, welche dann durch die 
Regierung vollſtreckt wird. Den Vorſitz führt auch Hier regelmäßig der 
Pfarrer, bei den Kirchenviſitationen aber und in einzelnen Fällen der 
Superintendent. — Ueber ber Gemeindevertretung fteht bie jährliche 
Kreisfgnode, welche durch die Pfarrer des Kreifes und einen Xelteften 
aus jeder Gemeinde gebildet und durch ein von ihr aus Geiftlichen auf 
ſechs Jahre gewaͤhltes Directorium, den Superintendenten, Affeffor und 
Scriba geleitet wird. Ihre Vefugniffe find: a) die Berathung der an 
die Provinzialfgnode zu beingenden Anträge; b) die Aufficht über die 
Pfarrer, Sttsptesbyterien, Candidaten, Schullehrer und Kirchendiener 
des Kreifes; c) bie Handhabung der kirchlichen Dißciplin; d) die Aı 
ſicht über die Verwaltung des Kirchen» und Armenvermögens ber 
meinden bed Kreifes; e) die Verwaltung der Prebigerwittivencaffe bes 
Kreifes und ber Synodalcaſſe; f) die Leitung ber Wahlangelegenheiten 
der Pfarrer des Kreifes, fo wie die Ordination und Introduction berfelben ; 
g) die Wahl des Directoril dee Synode und der Deputicten zur Provin⸗ 
zialfgnode- Die auffehende und vollziehende Behörde, das Organ ber 
Synode, fo wie ber Löniglichen Kirchenbehörbe ift der Superintendent. — 
Die Vertretung ſchließt ſich endlich in der Provinzialſynode ab, welche 
aus dem Superintendenten der Provinz und aus den von jeber Kreisſyn⸗ 





ode gewählten geiftlichen und weltlichen Deputicten unter einer aus den 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 347 
di d Ar iten, dem Pı le 
von Im un — KL N 3 m Posten 4 


aus einigen frei ge⸗ 
und ben Ottsvor⸗ 








348 fihe, Miorhemverfaffung, ebangelſche. 
®B r da ung Da 
553353 — 


ine Nude a; liſche 

er. evan⸗ 
— ee at ri und Enke Gen als auf 
die Berechtigung des —— RS er ſich für die lebe 
tere des. im ber — amens eines 
jus episcopale bediente, auf re jet. Zwiſchen 


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licher Beiſiher aus Sale, ebildet toude, Au dieſes 
bältniffe_ ertannte der oe eiede im 
fie unter Garantie des Meic 


es. 
Uſcher Uni ie den Fall, daß ber Landecherr kuͤnfti— 
ai ge Sein 1, oder 2 und Kan 


‚Andi 
dieſen — — ——— uuwen 


ham Aahor umrer ha Endahanale naher 


Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche, 349 







herrn auch als hm an und für ſich berechtigten: Inhaber der Kirchengewalt 
über bie 9 leten, und umgekehrt, nur in fo weit befchränkt. betrachte, 
daß er en duch geifttiche —— Berfeben zarte, befege 
und bi in — Grenzen halte, welche durch 
die N eit und di ——— überhaupt gezogen 
ſind. Ein Beiſpiel gewährt ——— — J—— 
wenn fie beſtin ar die eubung der 
Kircheng 98 ei — Kerr dem Lanz 


alt über 
. Besheen me ße werke, ba 5 jedoch bel dem Uebertritte bejfetben zur 

einer « als der ei —8 — die — g die⸗ 
—9— mit den en ſichetgeſteut en. mil | Pi 


zu ber Iutherifchen Kirche die Kirchengewalt dien 


a Ueberteitt 
die Reformirten beibehalte, Nat) dem feit us Ediet von 1821 ber 
| bie ©: ü Ba und sn 


& Beau "nein 
— hm hen. Du One m 
1818 ein unictes. — um 






fifkorlum: —* it m 

ni annover n teformirten au Cell, Gdt- 
fingen, Hannover und unter. der. bereits ecwähnten 
Spnode, für den hanndverifchen Antheil dem Gabinetsmini» 
fterio ı 1c ungergeben iſt. rigen aber find thelis den Pro» 


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der MReformatoren te Sirchenverfajlung hatte überall 
das gleiche Betennini Der anbröerien "an, Iheer Doranffehüng, 


tkannte auch ber 5 p d 
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bie Verord⸗ 






Seafang den Gonfecn ufhene Orc 
— 
* 


I 
Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 353 


im, wo es Beſtimmung der Verhaͤltn katholi und 
5 Pfarreien und einzefner a foksmen —** | 





fionen vom Amte, Penſionirungen, Entfegungen oder Ausfhliefungen . 
vom geifllichen Amte; f) bei Eintheilung ber. Pfarsfprengel und 
Vereinigun Bemeinden 


g mehrerer 
Pfarrei; g) bei Anordnungen außerordentlicher ——— —j ˖ù — 


zu kirchlichen 
behalt ber Competenz der Kreisregierungen in Anſehung ber abminiſtra⸗ 
tiven Beziehungen; k) in Faͤllen, wo ein Benehmen mit anderen 
Gtaatöminifterien erforderlich ifl. Eine ſtreitige Berichtöbarkeit haben 
. die Gonfiftorlen nicht, insbefondere nicht im —— weiche von dem 
n0e 


werben. Doch: wohnende 
— —— dem 
e vermittelnden Stellen zwi⸗ 
een und bilden bie 
— beren durch 3* Inſtructionen (8. September 1800) 
ber in andern Län» 
Kirche wirb durch Synoden 
Landeöthellen diefieit des Rheins 





und durch ſaͤmmtliche 
Candidaten, aber auch durch Laien dergeſtalt gebildet werden, daß jeder 
Pfarrer ein. Mitglied feiner Gemeinde in — bringt, das Ober⸗ 
confiftortum aber die Hälfte der Gewaͤhlten als Mitzlieber ernennt. 
Dieſe Synoden greifen aber doch in ben kirchlichen Organismus nicht 


d. i. Fed Pfarrer des Decan etragen und Di 
nr Wahlen der — — ea). 


uirks, aus einem abpuorhnenben Geiſtlichen von jedem Decanate und 
GStaats⸗ Lexikon. IX 28 


854 Niche, Kirchenverfaffung, evangeliſche. 


aus einem weltlichen Mitgliede von je ſechs Decanaten, welche der 
Aonig aus den von ben CTonſiſtorien ausgewählten 16 Individuen er⸗ 
nennt. Die Drganifation ber Gemeinden iſt nur unvoliftändig georb- 
met. Bereits im Jahre 1821 wurde ‘die Einführung der Presbpterien 
mit einem fehe umfaffenden Wirkungskreife in Beziehung auf bie Kir- 
chenzucht beabfihtige und im Jahre 1822 von den Eonfiftorien ange 
orbnet. Der in vielfachen Protefiationen ausgefprochene Widerwille ber 
Gemeinden veranlaßte jedody die Zuruͤcknahme des Entwurfes, weshalb 
aus bort die Presbyterien beftehen, wo fie früher von den Gemeinden 
bereit® gewählt waren. (Bergl. Nietbammer, öffentliche Nachricht 
von der erſien Verſammlung der Generalſynoden der proteftantifchen 
Rice in Baiern dieſſeits des Rheine. Suizbach, 1824.) Die ver- 
eingelten reformicten (Bemeinden haben Presbpterien mit einer mehr 
feibfiftändigen Wermögensuerwaltung. — In veränderter Form erſcheint 
die Verfaffung jenfeit des. Mheins, wo unter ber franzoͤſiſchen Herr⸗ 
ſchaft die Articles organiques die Grundlage gebitbet hatten. Seit ber 
union im Jahre 1818 ift das Verhaͤltniß folgendergeftalt geordnet: Das 
Üichlihe Regiment wird durch die Decane und das Gonfiflorlum in 
Unterordnung unter das Oberconſiſtorium gehandhabt. Daneben befteht 
aber eine Vertretung ber Kirche in drei Abflufungen: In jeder Gemeinde 
beſteht umter dem Vorſitze des Pfarrers ein freigemähltes Presbyterlum 


als Behörde für die Verwaltung des Kirchengutes und die Beaufſichti- 

guug bes fittlichen und eligidfen Zuſtandes dee Gemeinde, Das zweite 
Su dee Mepeäfentation ift die jährliche Diöcefanfpnode, deren geborene 
Mitglieder die Geiftlichen find, während bie weltlichen bucd das Con⸗ 
ſiſtorium auf-einen von jebem: Presbyterium erfolgten Dreivorfchlag er⸗ 





Kicche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 355 
md 5 bi Entfheitung * —F Rellgionsfaͤue, Bud 
——— —— —— — | 


—— — bie Verwaltung ben Tender rien —— — 
tragen, haben bie Gonfiforkn weder Reetige m nod) freiiiiiige 






e Verbindung ber 
td Dutch w Ertperntendenten und Gentoren 2 von denen 
bit: Eeptedem in der Regel über zehn Bemeinden eine untergeschnete 
% WE den Wandel und bie Amtsfährung der Prediger und 
unb Aber bie Ktechenzuche führen, während den Erſteren das 
de Canbidaten des Predigtanıtes, die Ordination, SInveflitue 
und: Eiehkfeung bee Prebiger, die Einweihung neuer Vethdufer mb 
bie —— find. (Vergl. die von ber k. k. —— — im 
Enverſtaͤnduiſſe mit der Studtenhofeommilfion an die niederoͤſtetr. Mes 
gierung dm 26. Sanmar 1830, an die Abrigen Laͤnderſtellen am 28. 
Senmat 1881 erlaffene Inflenction bet Lippert, Annaten Des KR. Bo. 
W. S. 191.) Die Drganifatton der Gemeinden b —— — 
Tenahe⸗ an der (der politiſchen Landesſtelle in hoͤherer 
Pe Guͤrerverwaltung, für welche jede Gemeinde einige Eeten 
tet Die — iſt gegenwaͤrtig dergrſtalt geordnet, daß 
die: Gemeinden drei Gandidaten dem Eonftſtorlo praͤſentiren und aus 
biefen wählen, fobald gegen keinen eine Einwen folgt iſt. Khein⸗ 
wald, Meer XVII. 88.) — die Möglichkeit dee Synoden 
— und beſtimmt, daß das in dem geeigneten 
Falle von der —— die Genehmigung zu erbitten, dann aber 
Rede ns er im At, In in —— — —— 
aaten, 
Aufl. Wien, 1827.) Eine fehr eigenthümtiche Verfafſung hat die evan- 
36 Kicche in eiebenbärs en. Auch bier I} der oben angeführte 
Srundfas aber die Verfaffung iſt confoltbieter und ents 
halt will wiehe: ſa feele Bewegung. (WBergt. bie Notizen bei 
RheinwWeaid. Sb. XXUE S. 81. 178.) Fir Ungarn endifdh befiche 
ein. Generalinfpectoran in Peſth für die augkburgiſchen Gonfelfionsver- 
wänbtin ; bie h [hen Jaben bagegen keint Gontroiftelle, fondern nur 
er Obercon "Hit jedem ber vide MWegiefe. Eudüch fügen wir am 
Saar Vieles Abſchnittes (nach Rbeinwaib im angef. Repert.) 
Wh inlge Nachwriſungen über die gegenwaͤrtige Verfaffung ber evan⸗ 
—— in —— 2 — wie dieſe durch die Kirchenord⸗ 
9 R 





* ſig — ale —** : Daffetbe —* feföftftän» 


356 Kirche, Kirchenverfaſſung, evangeliſche. 


Liturgie Sachen, und über Caſſation, Remotion und Guss 
penfion der Prediger, während es in Adminifkativangelegenheiten von 
dem Minifterium des Inneren, in pecuniären Sachen von dem dirigirenden 
Senate abhängt, Alle Mitglieder der Conſiſtotien werden auf den 
Vorſchlag der Confiftorien felbft (Petersburg umd Moskau) oder ber 
Notabeln und der Geiftlichleit der Provinz duch; das Minifterium ber 
ſtaͤtigt; die Präfidenten ernennt der Kaifer auf einen: dhnlihen compli> 
cirten Vorfchlag, ‚eben ſo wie die Superintendenten, Die dem Lepteren 
untergeordneten Pröpfte werden dagegen don den Predigern des Be— 
stets gewählt. Für die Fortbildung der Geiftlihen beſtehen Spnoden 
in den. Gonfiftorialfprengelnz von Zeit zu. Zeit follen jedoch auch Gene ⸗ 
salfpnoben von geiſtlichen und weltlichen Mitgliedern gehalten werden, 
damit die Regierung zuverläffige und ausführliche Kenntniffe von den 
Beduͤrfniſſen dee Kirche und den möglichen Mitteln der Abhülfe er» 
halte. — Ein Wahirecht der Gemeinden beſteht nicht, wohl aber iſt 
den Iegteren geflattet, innerhalb wiergehntägiger Friſt einen für fie err 
nannten Geiftlihen zu tecuſiten. Endlich beftehen in den ſtaͤdtiſchen 
Gemeinden für die Vermögensverwaltung befondere Kirchenvorfkinde, in 
ben Landgemeinden fogenannte Bauerkirchenvormiinder, deren Beſtimmung 
namentlich auch die fittliche Controle der Gemeinde ift. Die litthau⸗ 
iſchen reformitten Gemeinden haben ſchon feit dem 16. Jahrhunderte 
eine Synodalv⸗ 19- Jaͤhrlich werden eime ober zwel Spnoden ger 
halten; ein die Verwaltung leitender Ausfhuß iſt feit 1831. zugleich 
tichterlihe Behörde für die Eheſachen. Die reformitten Gemeinden in 
Riga, Mita, Petersburg und Moskau find den Gonfiftorien unterges 
benz doc werden im ihren Angelegenheiten anftatt der (uthecifchen Geifts 
len, rormisegeti unb. meiste: Beifker beigonen. 





| Kirche, airchenverfaffen, evangeliſche. 87 


einen Biſchof mit beſtimmten kirchlichen Functionen. Auch hier iſt bie 
kirchliche Berwaltung und Geſetzgebung in ben Händen Iandesherdicher. 
. Behörden, ohne eine andere Vertretung dee Gemeinden als bie, welche 
in den im Jahre 1818 für die Theilnahme an der Vermoͤgensverwal⸗ 
tung und Mitforge für das Aeußerliche des Gottesdienſtes und ber Kir⸗ 
chenzucht errichteten Kirchenvorſtaͤnden fich Außer. Der Landesregierung 
aber iſt der Landesbiſchof beigegeben, als correfponbirendes Mitglied und 
fländiger Referent für ale Disciplinarfachen und die Beſetzung ber 
geiſtlichen Aemter. Sein Wirkungskreis befteht nach dem Edict von 
1818 im der obern Aufſicht auf die evangeliſche Geiſtlichkeit, fo wie 
alle kirchliche Inſtitute, und in der Mitforge für die Erhaltung und . 
zweitmäßige Verwaltung des kirchlichen Vermögens, Beziehungen, in 
denen er theils felbfiftändig verfügt, theils an bie Landesregierung, als 
bie ihm unmittelbar vorgefegte Behörde, berichtet. Diefes Legtere gefchieht 
namentlich in folgenden Verhaͤltniſſen: 1) bei beabfichtigter Veränderung 
der beftehenden Pfarrbezirke; 2) wegen Errihtung neuer Pfarreien; 
9) bei Befegung erledigter Pfarreien, Decanatsfiellen und der Profeſ⸗ 
furen am theologifhen Seminar; A) bei außeorbentlichen Befoͤrderun⸗ 
gen oder fonftigen perfönlihen Auszeichnungen für folche- Beiftliche, 
welche ſich durch ausgezeichnete Standesbildung und tadellofe Pflicht 
treue berfelben wuͤrdig machen; 5) bei Penfionirung dienſtuntauglich 
gewordener Geiſtlichen und der Anftelung und Beſoldung von beren. 
Vicarien ; 6) bei Ausweifung unmwürbiger Canbidaten aus dem theologts 
fhen Seminar und dem geiftlichen Stande; 7) bei Suspenfion unb 
Dienftentfegung der Geiſtlichen wegen Dienfts ober Standesvergehun⸗ 
sen; 8) bei Zufammenberufung von Generals und Gpecialfpnoben ; 
9) bei Veränderungen in der Liturgie und ber Einführung neuer all» 
gemeiner Religionslehrbuͤcher. Nach der eingeführten Praris werden in 
Betreff dieſer Gegenſtaͤnde auf Befehl des Landesheren eigene Commiſ⸗ 
Bonen nach vernonnmenem Gutachten des Biſchofs von ber Landesre⸗ 
sierung ernannt, und deren ebenfalls von dem Biſchofe begutachtete 
Arbeiten von berfelben bem regierenden Herzoge zur weiteren Entſchlie⸗ 
ung vorgelegt. (Otto, Nafl. KR. ©. 38 ff.) | 
Durch die Vergleihung dieſer Verhältniffe mit benen anderer evan 
gelifcher Ränder ergibt fi, daß der bifchäfliche Wirkungskreis hier jenem 
bee Beneralfuperintendenten faft ganz analog ift, während bie naufs 
Pe Decane durchaus die Superintendenten anderer Länder repraͤ⸗ 
entiren. ' 
Viel mehr In den Lanonifhen Kormen hat ſich dagegen das 
ſchoͤſtiche Amt in ber .anglicanifchen Kicche erhalten. Hier ift ber 
nig das Oberhaupt der Kirche, welches, als Stellvertreter Bottes auf 
Erden, in bem Eicchlichen Gebtete für feine Gewalt keine anderen 
Schranken hat als das Wort Gottes, die Bewohnheiten und Gefehe 
bes Reiches. ‘Seine Gewalt tft der päpftlichen ganz analog und ver» 
breitet fich nach allen den Richtungen, in welchen bie letztere zur Zeit 
Der Reformation ausflcahlte. In ihe alfo iſt begriffen Die gefehgebende 





* 
= 
. 
* 


860 Kirche, Kicchenverfaflung, evangeliſche. 


Franeof., 1611), dann bei Carpzov als entſchieden zur Grundlage 
einer beinahe zu kanoniſchem Anfehen gelangten Darftellung des Kir 
chenrechts gebraucht, endlich namentlich in ben angeblid von Fr. & 
v. Mofer, in Wahrheit von bem fürftlich » veußifhen Regierungsrathe 
Bretfchneider verfaßten vertrauten Briefen über das proteilantifche 
geiftliche Recht (Srankfurt, 1761) und neuerdings wieder in der Schrift: 
Ueber das bifchöfliche Recht In der evangelifchen Kicche in Deutfchland 
(Berlin, 1828) vertheidige. In der That findet fie einen Außerlichen 
Haltpunct in dem flehenden Sprachgebrauche der Reichs⸗ und Landess 
gefege, welche den Umfang ber landesherrlichen Kirchengewalt mit dem 
Namen eines jus episcopale bezeichnen. Aber weder über den Umfang 
noch über den legten Grund biefes Mechtes ift man ſich genügend klar 
geworden, ein Urtheil, welches auch bie erwähnte neueſte Vertheidigung 
trifft, die zunaͤchſt nur durch den Erweis der Thatſache geführt wird, 
daß das Epifkopalrecht durch die Reformation in die Hände ber Re: 
genten gelommen und als ein von der Landeshoheit verfchiedenes Recht 
betrachtet worden fei. Zuvoͤrderſt nun muß in diefem fogenannten Sys 
ſtem das Vorhandenſein eines Grundirrthums anerkannt werden, wel⸗ 
cher darin gelegen iſt, daß der Grund und das Weſen der landesherr⸗ 
lichen Kirchengewalt durch die in dem kanoniſchen Rechte geregelte Ge⸗ 
walt der katholiſchen Biſchoͤfe erklaͤrt werden ſoll. Die Lebensordnung 
der evangeliſchen Kirche beruht auf ſo ganz verſchiedenen Grundanſich⸗ 
ten, daß ſie da, wo es ihrem Kern und Mittelpuncte gilt, durchaus 
nur aus ſich ſelbſt erklaͤrt ſein will. Aber weiter iſt noch dieſer Vor⸗ 
ſtellung entgegenzuhalten, daß aus der Suspenſion der biſchoͤflichen 
Gewalt nicht die Devolution auf die Landesherren gefolgert werden 
darf, und daß zu einer Uebertragung des Epiſkopalrechtes auf die Letz⸗ 
teren dee Kaiſer und die katholiſchen Reichsſtaͤnde niemals für berech⸗ 
tigt gehalten werden konnten. So laͤßt es denn gerade das, um was 
es ſich zuletzt handelt, den Grund der Berechtigung ber Lanbesherren 
voͤllig unerklaͤrt, und wenn auf der einen Seite zugeſtanden werden muß, 
daß es ein Moment der Wahrheit in ſo fern in ſich traͤgt, als es das 
Verſchiedenſein der landesherrlichen und kirchlichen Gewalt behauptet, 
ſo iſt auf der anderen doch wieder anzuerkennen, daß die Begruͤndung 
dieſes auf dem unmittelbaren Bewußtſein der Wahrheit ruhenden Sa⸗ 
tes nie mit feiner Huͤlfe gelingen wird. In der That iſt dadurch, 
baß man dieſes Mangels inne gerworden, ein anderes Syſtem hervor» 
gerufen worden, das wir, weil ed die Zerritorialgemalt als Quelle der 
a nBewalt betrachtet, mit bem Namen des Territorialſyſtems bes 
zeichnen. Ä 

Von Spinoza abgefehen, deſſen ber chriftlihen Gemeinfchaft 
entfrembeter Standpunct uns ein näheres Eingehen verbietet, finden 
wir diefe Vorftelung tm Gefolge einer. eigenthümlichen philofophifchen 
Auffaffung des Rechtes bei Hobbes, der, ausgehend von der Unums 
ſchraͤnktheit der koͤniglichen Gewalt, auch das geiftlihe Regiment als 
in diefem mit Nothmendigkeit . begriffen. betrachtet. Won dieſem Ges 


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360 Kirche, Kirchenverfaſſung , evangeliſche. 


Francof., 1611) dann bei Carpzon als entſchieden zur Grundlage 
einer beinahe zu kanoniſchem Anfehen gelangten Darftellung des Kir 
chenrechts gebraucht, endlich namentlich in den angeblid von Fr. C 
v. Mofer, in Wahrheit von dem fuͤrſtlich- reußiſchen Regterungsrathe 
Brerfhneider verfaßten vertrauten Briefen uͤber das proteftantifche 
geiſtliche Recht (Frankfurt, 1761) und neuerdings. wieder in der Schrift: 
Ueber das bifchöfliche Recht in ber evangeliſchen Kirche in Deutſchland 
(Berlin, 1828) vertheidigt, In der That findet fie einen aͤußetlichen 
Haltpunct in bem ſiehenden Sprachgebrauche ber Reichs- und Landes- 
geſebe, welche den Umfang ber landesherrlichen Kirchengewalt mit dem 
Namen eines jus episcopale bezeichnen. Aber weder. über den Umfang 
noch Über den letzten Grund dieſes Rechtes ift man fich genügend ar 
— ein Uttheil, welches auch bie erwaͤhnte neueſte Vertheidigung 
teifft „. die nut durch dem Erweis ber Thatſache geführt Bahr 
daß. das Epiſtopaltecht ducch die Reformation in die Hände der Ri 
genten gekommen und als ein vonder Landeshoheit verſchiedenes Recht 
- betrachtet worden ſei. Zuvoͤrderſt nun muß ‚in biefem fogenannten Sp: 
ſtem das Vorhandenfein eines. Gtundirrthums anerkannt werden, wel ⸗ 
hen, datin gelegen iſt, daß der Grund und das Weſen der landesherr⸗ 
lichen Kirchengewalt durch die in dem kanoniſchen Rechte geregelte Ges 
walt der kathollſchen Biſe erklaͤrt werden ſoll. Die Lebensordnung 
der evangeliſchen Kirche beruht auf fo ganz verſchiedenen Grundanfichs 
tem, daß ſie Da, wo es ihrem Kern und Mittelpunete gilt, durchaus 
nue aus ſich ſeloſt erklaͤrt ſein will. Aber weiter iſt noch dieſer Vor⸗ 
ſtellung entgegenzuhalten/ baf aus ber Suspenfion der biſchoͤflichen 
Gewalt nicht. bie-Devolutiom auf die Landeshetren gefolgert werden 
darf, und daß u ‚einer, Urbertragung bes 3 Epiftopalcchtes auf die Letz⸗ 


ic Uran BL ns Ben 





Kirche, Kirchenvetfafſung, evangelifche. 861 


fichtspuncte aus ſtellt er das Anfehen ber heiligen Schrift auf das 
Adgerkenntuiß des weltlichen ‚ und macht dieſen zum (Ber 
fegncber Im Biaubonsgehistn,, fo bet ihm fi E Dann geherät been 
> meilberee Mädhtnng begränbete Das Zerrftriaifoftem Hugo de Grow. I 


nad) göttlichen: IB 
Wille in dem Dienfchen ein einheitlicher fei, fo muͤſſe auch in dem 
Staate nur Ein al 


echte feibfl , nicht aus dem Begriffe und Weſen ber Kirche, ein Mer 
fahren, durch weiches diefe Theorie in die Lage verfegt worden ift, fich 
Pr Zerſtoͤrerin als kirchlichen Lebens bezeichnen laſſen zu mmäflen. 
ligionis 


E 
& 
3 
2 
3 
3 
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& 
5 
5 
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ts . 
me Büz Deutſchland eröffnet Thomafius (von dem Bechte 


—155 


feibe ft das Gollegialfpfkein, -meldes bie Kiche als: eine von 
dem Staate verfhiebene, auf freie Willkaͤr gegränbete Geſellſchaft ber 
trachtet. Im dieſer ruht alle Gewalt, als Collegialrecht (jas in sacra), 


mur die Hoheitsrechte, jure eiren secra, zuſtehen. Die Grundzüge die⸗ 
fex Ant Anden wir fühon im Sabre 1688 tn einem —ã 





862 Kirche, Kirchenverfaffung, evangelifche. 


Wittenberger Theologen (bei J. H. Böhmer, J. E. P. I. 31.85.49), 
dann aber namentlich bei reformirten Schriftſtellern, insbefondere bei 
dem Genfer Prediger Blondel in einer Schrift de jure plebis in 
‚regimine eccles. (Paris,, 1648), und in den Scholien zu der oben an- 
geführten Schrift des Hugo de Groot. Gpäter ift'e6 von Jäger, 
aber nody umfaffender von dem beshalb zuweilen mit dem Namen bes 
Erfinders geehrten Pfaff in ben „Orgines juris eccl.“ (1720) behan- 
deit worden, unb ſeitdem hat es nicht allein unter ben Philofophen 
und Theologen, fondern auch, wiewohl nicht in gleichem Maße, bei 
den Juriſten oft als eine über allem Biwelfel erhabene Wahrheit gegol⸗ 
ten. Im feiner ganzen Nacktheit und Duͤrre liegt e6 unter Anderem i 
dem, man weiß nicht warum, noch immer nicht vergefienen Kicch 
von Wiefe, und in dem gar nicht ſehr philofophifchen, na⸗ 
türlichen Kiechenrechte⸗ eines bekannten Phitofophen vor. Einen Mer- 
theibiger Hat es zulegt noch in Scheidler gefunden (in Pölig’ 
Zaprbücern 1885. V). Aber man follte von biefem Syſteme dedy um 
dee Wahrheit willen ſich abthun; bemn wenn es auch gefagt werben 
muß, daß die ihm unterliegende Anfiht von ber Gelbfiftänbigkeit ber 
Tichlichen Lebensorbnung bie rechte fet, fo muß doch zugleich auch zur 
gegeben werden, daß es ber Kirche ihren Lebensgeund entziehe, indem 
«6 biefelbe aus der menſchlichen Wilikuͤt hervorgehen läßt, da fie doch 
ihre göttliche Sendung hat, und daß es außerdem auch auf einer Noth- 
tüge berube, indem ‚die behauptete Uebertragung ber Gewalt von 
dem Staate auf bie Kirche noch niemals hat Lönnen erwiefen werden. 
Die zerfahene Ratur des evangelifhen Kirchenrechts iſt durch dieſe 
Auffaffung, bie freilich nicht Holtet, fondern mit einer analogen Ent- 





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Kirche, Kicchenverfaffung, ewangelifche. 





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eine Mirwirkung 


—— — 
ſſe zu den Leeteren 7 sim 


tung bes 
) Petsanıen Presbyterien oder K 


ae bei dee Wahl. ber 
it bat zur Einführen 


nismus ſchon bebeusenbe 


‚tt in ihrem Verhaͤltni 
volles Vertrauen und Hingeben voransſetzt, 


Uenden. 
—— 


eiferung auffordere, daß die Kirche a 


Rechte allmaͤlig koͤmmen werde 
hingeben, wollen wir doch nicht 


——ã— 
Allem 


Ari} 


2 


366 Kirche; Kiehenverfaffängewängeifgpe Kirchenſtaat. 


Presbpterien micht allein getham iſt, daß vielmeht der rechte chriſtliche 
Stmr, die Wal es iſt, welche frei macht. 

* Bullegt "wie noch die Frage nach dem Verhättniffe der Kirche 
zu dem wicht in Ihr ſtehenden Landesherrn einer kurzen aͤgung zu 
unterſtellen Eine tn der neueren Zeit hin und wieder gangbar gewor⸗ 
dene Auffaſſung ſchreibt / wie wir oben anführten, auch hier dem Lane 
desheren das biihöfliche Recht zu. Aber abgefehen von den Einwuͤr⸗ 
fen, welchen diefelbe von der hiſtoriſchen Seite her unterliegt (vergl. 
DU. „Biſch of“) iſt diefelbe mit dem Wefen ber Kirche völlig uns 
vereinbar, denn dies menſchliche Ordnung, deren die Kirche bedarf, iſt 
von ber Lehre micht 1 wenn fie nicht ein Auferliches und 
darum bedeutungeloſes fein fol. Sie ſebt alſo da, wo fie in 
ihrer Höchften Spige ausgeht, das Bekenntniß zu dieſer mit Mothe 
wendigkelt voraus: Der katholiſche Landesherr alfo, der die ewangeli: 

’ feinem Standpunete aus verdammt, kann 
r die bewußte Vermittelung der 
Staates iſt im feiner Perfon nicht mög: 

üſſe ſollte daher die Kirche in die Reihe der 

Corporatlonen treten und ihre Ordnung durch ihre eigenen frei gewaͤhl⸗ 
ten’ Mitglieder handhaben duͤrfen, das Recht des Staates abet auf die 
befcheänke fein, ein Begriff, der 





das 8 haͤt iſch anders entwickelt, wie im einzelnen deut: 
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368 Kirchenftaat. 

eine vergleichende Statifti der Bewegung der Bevölkerung von 1829— 
1838 ergibt für diefe Stadt ein durcfchnittliches Werhältnig der Ger 
burten zu den Todesfaͤllen wie 10: 26 oder monatlid etwa 389 Ges 
burten und 711 Todesfaͤlle. Hauprfächlic iſt dieſes die Folge ber 
mal’ aria ober aria cattiva, der befonder6 vom Juni bis Ende Aus 
gufts hoͤchſt verderblichen Luft, die nad) der gewöhnlichen Meinung in 
den benachbarten den und fumpfigen Gegenden, in ben fogenannten Das 
remmen, ſich erzeugt. Diefe moͤrderiſche Luft, wodurch das weltbeherts 
chende Rom zu einem langfamen Tode, zu einem gliederweiſen Abs 
ſterben beftimmt ſcheint, dringt von Jahr zu Jahr immer tiefer in das 
Innere der Stadt. Es fehle an Menfchen, um durch Urbarmachung 
der Umgegend ihren Fortſchritten zu wehren; und daß es daran fehlt, 
iR die Schuld der geiſtlichen Gorporationen und ber weltlichen Ariftos 
®ratie, die ſich weit umher in den Beſitz alles Grundeigenthums gefegt 
hat . Schon in der vordprifttichen Beit, fo wie im Mittelalter, trat 
das Beſtreben der roͤmiſchen Ariſtoktatie ſichtbat hervor, durch Auskauf 
der aͤrmeren Beſitzer immer größere Güter an ſich zu bringen. In der 
neueren Zeit iſt diefes Im tweiteften Umfange gelungen. Wenig geneigt, 
auf eigene Rechnung und durch größere Sorgfalt eine beffere Gultur 
bes Bodens herbeizuführen, hielt fich vielmehr biefe Ariſtokratie an die 
bequemfte Art der Benugung und verwandelte die Gegend ringe ums 
her in Weideland, worauf fi wenige Hirten in wildem und hafbnos 
madiſchem Leben umbertreiben. So wurde das Land zugleich dde, uns 
gefund und entvoͤlkert, weil mit der abnehmenden Zahl der Grundeis 
genthümer auch bie de übrigen Bewohner ſich verminderte. Und fo 
ift es gelommen, daß in den vier naͤchſten Provinzen um Rom, auf 





einem Flaͤchenraume von 1000 iralleniſchen Quabratmellen, bie Be 


Kirchenftaat. | 869 


Kirchenſtaate. Das weife päpftliche Decret blieb unvollzogen, und aud) 
fpäter war. man forglos genug, nicht die geeigneten energifchen Maß⸗ 
. segeln gegen das tiefer einreißende Werberben zu ergreifen *). 

Unter. bie Latholifche Bevoͤlkerung bes Kirchenflnates zerſtreut, 
hauptſaͤchlich aber in einigen größeren Städten und nahe zur Hälfte im 
Rom felbfl, leben eima 10,000 Juden, gegen bie ſich die Politik des 
heiligen Stuhles meift duldfam bewieſen hat. Verhaͤltnißmaͤßig ziem⸗ 
lich ſtark iſt die ſtaͤdtiſche Bevoͤlkerung des Landes. Der Kirchen⸗ 
ſtaat hat 8 Staͤdte und 190 Marktflecken. Neunzehn Staͤdte haben 
mehr als 10,000 Einwohner; naͤchſt Rom find Bologna, Peru: 
gia und Ravenna, mit nahe 30,000 bis zu 70,000, am Stärkiten 
bevölkert. Bei einer Gefammtpopulation von 2,471,600 im Jahre 
1827 wurde, nach Abzug von etwas über 624,000 Kinder beiderlei 
Geſchlechts, die Claſſe der Aderbau und Viehzucht Treibenden auf 
1,176,000 geſchaͤtzt; bie der Induftriellen und Commerciellen auf etwa 
692,000. Hierzu famen etwa 25,000, die freie Künfte und Profeſſio⸗ 
nen trieben; 21,500 Soldaten und Seeleute; und endlich bie fehr 
zahlreiche Weltgeiftlichleit und Ordensgeiſtlichkeit beider Geſchlechter mit 
mehr als 53,400 Individuen. Noch in der neueften Zeit fcheint ber 
Clerus im Zunehmen; wenigſtens gilt diefes, nah Bowring’6 Ta⸗ 
beilen, für die Stadt Rom, wo im jahre 1825 die Geiſtlichkelt 
4,938 Individuen zählte, im Jahre 1835 aber 5,273 **). 

Die Berge bes Landes haben noch hier und da reihe Waldungen, 
die aber nur wenig benußt werden. Sie liefern, ſchoͤnen Marmor; auch 
zeigen fie Spuren von Metallen, aber von eigentlihem Bergbaue weiß 
man nichts. Ein Theil des Bodens ift feuchtbar an Getreide aller 
Art, feinem Obſte und Suͤdfruͤchten, Dliven, vielen und guten Wels 
nen und Maulbeerbaͤumen. Aber der Landbau, ob Ihn gleich die Roͤ⸗ 
mer, wie ihre Vorfahren, noch immer jeder anderen Beſchaͤftigung vor« 
ziehen, iſt vernachlaͤſſigt. Nur in den nächiten Umgebungen größerer 
Drtfchaften wird bie Fruchtbarkeit des Landes fo benugt, wie fie es 
verdient, und von künftlicher Bewaͤſſerung, die Im füdlicheren Klima 
fo befonders nothwendig ift, weiß man wenig oder nichts. Bon bem 
gefammten Areal ift nur etwa ein Drittheil angebaut. Den Werth 
dieſes Culturlandes fhiägt Bowring, fo wie Serriſtori In feiner 
neuen Statiſtik der italienifchen Staaten, auf etwas über 164 Millios 





*) 3u . DE ’ER b die © Italien se. b. 
Gamıpe, —S — a one Ki sur —— gl 
tigue, T. 2. 1838, wo ber Werfafler zugleich feine Worfchläge für Beſei⸗ 


— de instte mie a zo 
n er wird auf 1824 und bie ber Nonnenkid 
auf 612 angegeben. — ſteigt der Iefuitenorden, thaͤtiger als Fehler, 
wieber empor. Doc find Ihm ſowohl bie Weltgeiſtlichen, als bie Drbensgeift- 
lichen, unter biefen befondess bie Dominicaner‘, nicht fehr freundlich gefinnt, 
und die Jefuiten bei der Maffe bes Volkes nicht fehr beliebt, während ihnen bie 
Weltieute aus den höheren Ständen befonders anhängen. 

GStaats⸗Lexikon. IX. 





. Kicchenfaat. 


nen Scudi an*). Am Sorgfättigften wird Diivenbau, fodann Rinde 
viehzuche und Schafzucht betrieben. Zum Zwecke der legteren bleibt 
der größte Theil des Landes brach liegen und wird zu Biehweiden ber 
nugt. Und weil meiſt fehr toeite Strecken zu einem Gute gehören, 
findet man auf dem Lande Feine eigentlichen Dörfer, fondern bios eins 
zelne Rittechöfe (Casali) zwiſchen Einoͤden **). Der Gewerbefleiß ſtehet 
auf niederer Stufe und der Handel iſt nicht ſeht bedeutend. Der Werth 
der jährlich eingeführten Waaren belduft ſich nach den Regiftern der, 
Dogana auf 6,986,000, der Werth der Ausfuhren auf 5,088,000 
Seudi. Bei legteren find indeß die Einnahmen aus dem Verkaufe 
von Kunftfahen nicht in Anfchlag gebracht. Erſt feit einigen Jahren 
ift in Rom einer Handelskammer, der erfien und einzigen im 
Rande, die befondere Ueberwachung der commerciellen Angelegenheiten 
Übertragen. Sodann ift dafelbft durch eine auf eine gewiſſe Reihe 
von Jahren privitegiete Gefellfchaft eine Bank errichtet, die mit Pris 
vatcapital Wechſelgeſchaͤfte treibt, fo wie gegen Pfänder von Gold, 
Silber x. Darlehn vorſchießt. Auch befinden’ ſich Pfandhäufer in den 
größeren Städten, von denen ber roͤmiſche Monti di Pieta, ber jaͤhr⸗ 
lich über 250,000. Scubi disponiet, das bedeutendfte iſt. Eine reihe 
Quelle des Einkommens, befonders für Rom felbft, ift die große Baht 
dee jährlich zuftchmenden Fremden aus allen Ländern Europas, wie fie 
theils müßige Neugierde, thells höhere Motive dahin führen. Noch 
jegt ift Rom, mo befonbers in veligiäfer Mufit und in Bildnerei das 
Höchfte geleiftet wurde, die erfte Kunftfchule Europas und mit feinen 
unermeßlichen Schägen der Vergangenheit ein weites Geld für die wifs 
fenfchaftliche Forfchung: Aber die Römer, die früher mit der Weit: ihr 





Kirchenſtaat. 371 


betrieben. In der Stadt Rom gibt es jet gegen 50,000 Eigenthum ⸗ 
lofe. Das Beduͤrfniß ſelbſt hat zahlreiche Hilfsanftalten entfliehen lafs 
fen; aber bie ungemeine Ausdehnung berfelben zeige nur und erhöht 
fogar bie Größe des Uebels, ohne ihm abhelfen zu Lönnen. Die Sums 
men, worüber bie Wohlthaͤtigkeitsanſtalten in Rom verfügen, uͤberſtel⸗ 
gen beträchtlich diejenigen, welche Paris zu ähnlihem Zwecke ver- 
wendet. Der Stadt ftehen dafür 820,000 Scudi, theild aus froms 
men Stiftungen, theil® aus ber Teforeria, zu Gebot. Davon koms 
men 132,000 den breisehn Geſellſchaften zu Gute, welche von 1400 
Maͤdchen, bie ſich jährlich in Rom verheirathen, nicht weniger ale 
1000 ausfteuern. Auch der Papft laͤßt jährlih 30 — 40,000 Scubi 
unter die Armen vertheilen. Die 22 Krankenhaͤuſer, von denen 11 Prie 
vatanftalten,, faſſen 4,000 Perfonen. Faſt eine gleiche Anzahl kommt 
in den Sindelhäufern unter, wo aber dad Verhaͤltniß ber Todesfälle 
zu ben Aufnahmen aͤußerſt ftart und wie 72: 100 ift. 

Wenn Rom nod immer eine Schule der geiftigen Bildung iſt, 
fo ift es dieſes mehr doch für das Ausland, als für das Inland, und 
aud in intellectueller Beziehung ſcheint endlich bie frühere Weicherrfches 
sin der Welt zum Sühnopfer fallen zu müffen. Am meilten Regfams 
kelt herrſcht noch in der Kunſt; aber auch auf dieſem Gebiete It die 
Schoͤpfungẽkraft mehr und mehr verfiegt und zur blofen reproduciren⸗ 
dem Kunftfertigkeit, fo wie ber Kunftfinn zuc weſentlich paffiven Faͤ⸗ 
higkelt geworben, mit feinem Tacte und richtiger Unterſcheibungsgabe 
das einmal Begebene in's Auge zu fafien. Noch weniger vorwärts 
dringend iſt bie Literatur, die weſentlich nur auf Betrachtung der Ders 
gangenheit gerichtet bleibt. Am Schlimmften fieht e8 mit der periodi⸗ 
ſchen Preffe aus. Won allen Städten Europas hat Rom verhältniße 
mäßig bie wenigſten Beisihriften; es befige erſt feit 1834 eine Are 
Mennigmagazin und hatte bis in die neuere Zeit nicht einmal ein um« 
fafſendes Intelligenzblatt. Doch wird in den legten Jahren audy hier 
meh gefefen als fonft, and wo man früher nur eine Beitung in den 

fand, werben: jegt mehrere theils italleniſche, theils frans 

aufgelegt. Der Volksunterriht im Kirchenſtaate iſt 

Ale Nachtheile, die ſchon unter „Italien“ an dem 

Schyulmwefen: diefes Landes gerügt wurden, finden 

Grade. Sehr charakteriſtiſch iſt es für den 

em Oberhauptes der. Sacholifchen Kirche, deſſen 

en auch eine geiftige war, bag im 

nieht, mehr als 110,000 Scudi, ettoa 7, der 

Öffentlichen Unterricht, Künfe und Handel aus: 

"bfeibt dieſes ein auffallendes Mißverhaͤltniß, 

mſtalten mit befonderen Dotationen 

Elementaruntereicht liegen Feine genaueren 

allen in Rom 372 Elementarſchulen mit 482 

bie Zahl der Schuͤler auf etwa 14,000 belau⸗ 
bemerki richtig, wer den Auftend der unteren 








873 Kirchenftaat. 


Volkoclaſſen im römifhen Gebiete kenne, muͤſſe mit Grund ſchließen, 
daß es um das Schulweſen ſchlimmer fiehe, als in den anderen italie⸗ 
nifden Staaten. Fuͤr den Secunbärunterricht kennt man 21 Colles 
gien, unter der Leitung geiſtlicher Gorporationen; berfelbe Unterricht für 
das weibliche Geſchlecht iſt ausſchließend den Nonnen anvertraut. Die 
7 Hochſchuien des Kirchenſtaates haben eine Frequenz von je 200 bie 
660 Stubirenden; dieſe legtere auf der in der Mitte des 13. Jahrhun⸗ 
ders vom Papfte Innocenz IV. geflifteten Univerfität zu Rom. 
Die Mehrheit der Studenten find Juriſten, wie an den meiften Hoch— 
ſchulen Itallens. Unter diefen fieben Univerfitäten, von denen nicht weni: 
ger als 4 erft im Jahre 1824 gegründet wurden, ftehen denjenigen von 
Rom und Bologna ſeht beträchtliche Bibliotheken von je 700,000 und 
200,000 Bänden zu Gebote. 

Vielleicht noch in höherem Grade, als bie anderen Völkerfchaften 
Itallens, find die Römer mit Geiſtesgaben ausgeftattet. Vor Allem ift 
ihnen ein lebendiger Schoͤnheitsſinn angeboren. Das Gewoͤhnlichſie 
gefchieht mit Grazie- Bekannt ift, daß da und dort auf dem Lande 
in der Nähe von Rom ein ausgezeichneter Menſchenſchlag und hoͤchſt 
maleriſche Trachten zu Haufe find. Doch hat man bemerkt, daß feit 
etron dreißig Jahren, mit dem fteigenden Elende unter den arbeitenden 
Gtaffen , diefe Nationaltrachten und felbft die koͤrperliche Schönheit und 
der Frohſinn des Volkes, fo wie feine Liebe zur Heimath, mehr und 
mehr verſchwinden. Selbft wenn man Sonntags die Strafen von 
Rom durchgeht, wo ſich hauptſaͤchlich die Landleute verfammeln, glaubt 
man unter einen Haufen von Bettlern gerathen zu fein. Das Ber 


wußtfein feiner Sähigkeiten, der Stolz auf feine Vorfahren, die Ber 
trachtung der gewaltigen Werke bes Geiſtes und der Kraft ſeinet Ah⸗ 





Kirchenſtaat. 373 


hauptung ihrer religioͤſen Wuͤrde der roͤmiſchen Hierarchie ſtets die Beob⸗ 
achtung gewiſſer Formen der aͤußeren Sitte vorgeſchrieben hat; ſo iſt 
dieſes ſelbſt bis in die Maſſe des Volkes hinein nicht ohne Einfluß ge⸗ 
blieben. Die Sittenlofigkeit beobachtet wenigſtens einige Zuruͤckhaltung; 
während in Neapel das Cicisbeat offen und ohne Scheu auftritt, wird 
es in Rom verhüllt getrieben, und fo mag man überhaupt eine dußer: 
lich anftändige Selbftfacht als die Seele des römifchen Volkslebens 
bezeichnen. In den Gefängniffen des Kirchenſtaates befand ſich im Des 
cember 1832 die nicht fehr beträchtliche Zahl von 2,708 Individuen. 
Zum großen Theile erklärt fich diefes aber aus ben unvolllommenen pos 
lizeilichen Anftalten, und um fo meniger wird man barin einen Maßftab 
ber fitflichen Cultur fuchen dürfen. 

Dem Stande und ber politifchen Bedeutung nach verfällt bie Bes 
voͤlkerung des Kicchenftaates in Clerus, Adel, Bürger und Bauern. Der 
eigentlich regierende Stand iſt die Geiftlichleit und in dieſer die im 
Kirchenſtaate mwohnenden Mitglieder des Gardinalcollegiums, an ihrer 
Spige der Papft, als der aus ihrer Mitte ernannte Wahlfuͤrſt. Das 
Gardinalseoliegium beftand 1838 aus 5 Garbinalbifchöfen, 41 Cardi⸗ 
nalprieftern und 9 Gardinaldiatonen *). Das jegt vegierende Oberhaupt 
des Kicchenftaates ift Gregor XVI., Papſt feit dem 2. Februar 1831. Dies 
fe8 Oberhaupt vereinigt zwar alle Majeftätsrechte in feiner Hand; allein 
jebee Cardinal, und folglich auch dee Papft, muß gewiffe Säge bes 
ſchwoͤren, die zum Theil auf die Staatsregierung Beziehung haben und 
hiernad als ein Staatsgrundgeſetz betrachtet werden koͤnnen. Ohnehin 

iegt es in der Natur der Sache, und die Erfahrung hat es beitätigt, 
daß faft immer die Päpfte dem politifchen Corpsgeiſte des Wahlkoͤrpers, 
woraus fie hervorgegangen, unterworfen blieben. Darum bat ihr Xi: 
tel: „servus servorum “* zugleich eine politifche Bedeutung, und die 
Verfaſſung iſt als eine geiftliche Ariſtokratie zu charakterificen , die nach 
dem Geſetze bes Coͤlibats nicht durch Geburt, fondern duch Wahl und 
Weihe, eine Art von Adoption, nad) Unten und Oben ſich ergänzt und 
gliedert. Auch die Vertheilung dev politifchen Gewalten, wenn fie gleich 
nicht ganz genau nad) den Abftufungen der geiftlihen Würden ſich bes 
mißt, laͤßt fih im Wefentlichen einer Pyramide vergieihen, die mit 
ihrer Baſis ftets aus dem Volke ſich erneuert und dann bis zu ihrer 
Spige, ber dreifachen päpftlihen Krone, aus fich felbit heraus im bie 
Höhe fleigt. Denn weit die mwichtigften hohen und nieberen Staats⸗ 
Amter find im unmittelbaren Befige der Cardindle oder ihrer kirchlichen 
Vaſallen. Namentlich ftehen die Cardinaͤle, als Präfidenten, nicht blos 
den hoͤchſten Lirchlichen , fondern eben ſowohl ben oberften Verwaltungs: 
und Juftizbehörden vor. Die jüngften ummdlzenden Ereigniſſe find in⸗ 
deffen auch für den Kirchenftant nicht ganz fpurlos vorübergegangen, 
und befonders iſt feit der Sranzofenherrfchaft eine etwas genauere Schei⸗ 


m. — — — 


*) Genealog.⸗ſtatiſt. Almanach. Weimar, 1839. Im Laufe bes Jahres 
1838 kamen noch vier weitere Ernennungen hinzu. 





374 " Kirchenftaat. 


dung bes Geiſtlichen und Weltlihen eingetreten. Wenigftens fieht man 
jest nicht mehr die Cardinaͤle unter hochrothen Schirmen und auf tvei- 
sen Maulthieren die Truppen muftern, nicht in Gold und Scharlach 
dem Lottofpiele vorſtehen. Durch dieſe Veränderungen hat ber früher 
zuruͤckgeſetzte roͤmiſche Adel wieder einige pofitifche Wichtigkeit erlangt. 
Biele Mitglieder beffelben befteiden jegt höhere Staatsämter. Unter 
dem roͤmiſchen Adel befinden ſich mehrere Hauptfamilien, in Folge ber 
Fideicommiſſe, noch jegt im Beſitze des größten Theites ihrer Ländereien ; 
aber viele andere Familien find ſehr herabgekommen, und hiernach ift 

der Adel, zugleih mit dem von ihm fo fehr beeinträchtigen Bauern: 
flande, in Armuth und Unwiſſenheit verfunten. Won bem alten, auf 
feine Abftammung hoͤchſt eingebifbeten, eigentlichen Feudaladel datiren 
viele Familien, wie die Drfint, Colonna und andere ihre Ent: 
ſtehung aus einer viel früheren Zeit, als ber Abel ber anderen europe 
hen Staaten. Neben biefem Feudaladel bitben bie verſchiedenen päpft: 
lichen Familien, als das Erzeugnig des Nepotismus, eine zweite, fo 
wie die Emporlömmlinge des Hanbelsreihthums eine dritte unb bie 
zahlreichſte Claſſe, die ſich jedoch meift mit der zweiten Glaffe ver» 
ſchmolzen hat. 

Zum Zwecke der Verwaltung ift der Kirchenſtaat in Delegatio- 
nen getheilt, bie, wenn ein Garbinal für bie Regierung der Provinz 
abgeorbnet iſt, Legationen heißen. Außer der Provinz Rom hat jest 
der Kirchenftaat 6 Legationen und 13 Delegationen. Jedem Legaten 
oder Delegaten if ein vom Papfte ernannter Adminiſtrativconſell vor 
vier weltlichen Mitglledern, doch mit blos berathender Stimme, 
beigegeben. Unter dem Delegaten fiehen in Polizeis und Verwaltungs: 
ſachen die Goverwatoren der einzelnen Bezirke, Jede Gemeinde hat 







Kirchenftaat. Kirchenvermögen, Kirchengüter. 375 


richten beftehen noch in fünf größeren Städten befondere Handelstri- 
bunale, ein jebes duch 2 Kaufleute und 1 Rechtsgelehrten gebildet. 

An der Spige des in drei Divifionen getheilten Mititärflaates 
fteht ein Kriegsminiſterium von 3 Generalen, unter dem Präfidium 
eines Prälaten. Die Gefammtzahl der päpfllichen Truppen beträgt 
gegen 19,000 Bann, morunter etma 4,000 fremde Soͤldner, befon- 
ders Schweizer. Eine päpftliche Kriegsmarine exiſtirt nicht mehr. 

Sn ſehr trauriger Lage befinden fich die Finanzen des Stanteb. 
Nach einer Durchſchnittsuͤberſicht der lezten Jahre betragen die Koften 
ber Finanzverwaltung beinahe 4 der DBruttoeinnahme, fo daß ſich das 
veine Staatseinkommen nicht höher als 7,080,000 Scudi beläuft. Die 
wichtioften Queilen deſſelben find die Landſteuer (3,280,000 Scubi 
drutto); Monopole, Mauth und Tare für Lebensmittel (4,120,000 &c. 
brutto); Lotterie, im Wruttoertrage von 1,100,000, im Meinertrage 
aber nur von 350,000 Scudi (!). Die Ausgaben fteigen auf 7,934,000, 
und das jährliche Deficit auf 354,100 Scudi. Won den Ausgaben 
kommen auf das Militär gegen 2 Millionen ; auf bie öffentliche Schuld 
nicht weniger als 2,680,000. Diefe Staatsfhuld, die ſich auch unter 
Der Regierung bes jetzigen Papſtes wieder ſehr betraͤchlich vergrößert hat, 
wird auf mehr als 83 Miliionen Gulden angegeben. Im Durd; 
ſchnitte kommt jährlich die Auflage von 3 Scudi auf jeden Kopf, Ivo: 
bei die Gommunal: und Provinzialtaren nicht in Anfchlag gebracht find. 
Unter ber eben bemerkten Eingabe befinden fi nicht die zum größten 
Theile aus fremden Ländern fließenden reingeiftlihen Einkünfte des 
Oberhauptes der Eucholifchen Kirche. Allein auch diefe Geldauelle, die 
noch im verfloffenen Sahrhunderte etwa 3,500,000 Franken abwarf, 
fol jegt nicht mehr als etwa 14 Million ertragen. 

Auch an die Spige der Verwaltung der Finanzen, der Polizei, 
‚fo wie der auswärtigen Angelegenheiten find regelmäßig Prälaten ge: 
fell. Der Geiſt der päpfttichen Politik dem Auslande gegenüber, felbft 
die aͤußeren Formen bes diplomatifchen Verkehrs, find noch biefelben, 
wie. vor Jahrhunderten. Aber die Waffen, momit fie tämpfte, Bann 
und Inberdict haben, vom Mofte der Zeit angefreffen, ihre Schärfe 
verloren. Man ift in Rom Hug genug, ihre Stärke nicht Teiche mehr 
auf bie Probe zu fleflen. Und wenn gleich die Blitze des Vaticans 
noch nicht völlig zu Theaterblitzen geworden find, fondern unter be: 
fonderen. Umftänden wohl noch zu zünden vermögen, fo wird doch 
jet eine umfichtige Politik Leicht den Ableiter entdecken, um fie un: 
ſchaͤblich zu machen. | ©. 
Kirchenvermögen, Kirhengüter. — I. Erwerbsfaͤ— 
higkeit der Kirche*). So lange die chriſtlichen Gemeinden als Er: 
zeugniß fremdlaͤndiſcher Superflition dem Geſetze fiber die verbotenen Col: 
legia anheim ftelen, waren fie von dem Rechte, auf dem Boden des ih: 
nen feindlichen Staates Vermögen zu eriverben , ausgefchloffen. Doch 


*) Helfert, von bem Kirchenvermoͤgen. 3. Aufl. Prag, 1834. 2 Wbe. 


376 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 


finden tie ſchon im dritten Jahrhunderte das firenge Gebot durch die 
Beit, oft wohl auch ducch die anbrechende Ahnung eines -großen Sies 
ges bes Chriſtenthumes über die alten Götter gemildert; denn das Ebdict 
des Licinius vom Jahre 313 befiehlt bie Zuruͤckgabe der chriſtlichen Kir⸗ 
hen und anderer ben Gemeinden gehöriger Güter (Lactant. de 
mort. persec, 48). Später wandte der dem Chriftentyume mehr und 
mehr ſich erſchließende Sinn Conſtantin's des Großen der Kirche reiches 
Sut, namentlich auch eingegogene Güter heidniſcher Tempel zu; und 
feit im Jahre 321 ein Gefeg das früher einzelnen heidniſchen Tem⸗ 
peln durch Senatsbeſchluͤſſe und kaiſerliche Gonftitutionen ertheilte Pris 
dilegium der Exbfähigkeit audy Sen chriſtlichen Kirchen ertheilt hatte, 
tar die Quelle erfhhloffen, aus welcher über das nun dußerlidy ges 
wordene Reich ber weltliche Segen in reichen Maße herabftrömte. 
Bon biefer Zeit an ift der Satz, daß die Kichen und Licchlichen Inftis 
tute als juriſtiſche Perfonen bes Vermoͤgenserwerbes fähig feien, ein 
anerkannter, auch in die neueren Gefeggebungen aufgenommene Theil 
bes Rechts. Preuß. A.8:M. Il. 11. 193. — Baier. Concord. 
%. VIII B.:U. Tit. IV. 59 und Edtet über die aͤußeren Verhältniffe xc. 
Gap. IL $. 28. 31.44. — Bad. Gef. v. 1. Mai 1807. 6.9. u. a.). 
— FSreilich hat es zu aller Zeit nicht an Stimmen gefehlt, welche zum 
Theil unter Berufung auf eine bekannte Stelle der Schrift die Auss 
ſchließung ber Kirche, als des innerlihen Reiches des Glaubens, von 
weltlichen Beſitzthume gefordert und jene Verfügung bes Rechts ald den 
Anfang einer durch alle Jahrhunderte fid, Hindurchziehenden Depravation 
ber Kirche bezeichnet haben. So fehr aber auch die Geſchlchte zur Ans 
erennung ded Moments ber Wahrheit zwingt, welches in biefer und 





ähnlichen Behauptungen gelegen iſt, und fo wenig geleugnet werden 


Kirchenvermögen, Kirchengüter. 377 


fche Recht angeorbnet, indem es beftimmt, daß ber Erbe von den einer 
frommen Anftalt binterlaffenen Legaten nicht bie fogenannte Falcidiſche 
Quart abziehen bürfe, daß bei ſolchen Vermächtniffen bie Nachtheile des 
Verzugs, alfo namentlich bie Pflicht ber Zinſenzahlung, von felbft eins 
treten, fobald ber Exbe innerhalb fechsmonatlicher Friſt von der Teſta⸗ 
mentseröffnung an die Auszahlung nicht bewirkt bat, und dag enblich 
der mit dem Legate befchwerte Erbe das Doppelte leiften muß, wenn er 
das Vermaͤchtniß entweder ableugnet, oder ohne Grund es zur gericht 
lichen Klage kommen läßt. : Das kanoniſche Recht hat hierzu die weite⸗ 
cn, auch in dem bürgerlichen Leben gnerkannten Vergünftigungen ge⸗ 
fügt, daß ein Vermaͤchtniß zum Bellen ber Kirche vor zwei oder Drei 
Zeugen gültig errichtet, und die Vollziehung, fo bald nur die Summe 
feſtſteht, ganz in den Willen eines Dritten geftellt werben kann, und 
ein ferneres, durch die Praris eingeführtes Vorrecht ift, daß, ſobald 
ein Zeftament nichtig wird, dennoch die der Kirche hinterlaffenen Legate 
aufrecht erhalten werden. (Vergl. Walter K.⸗R. 8. Aufl. $. 247.) 

Auf der anderen Seite ift es jedoch möglich, daß, wie das übers 
fließende chriſtliche Bewußtſein des Staates bie Wermögenserwerbung 
durch bie Kirche nicht nur geſchehen läßt, fonbern felbftchätig fördert, 
fo die Ruͤckſicht auf das Wohl des Staates eine Beſchraͤnkung ber Kir⸗ 
he berbeiführe. Verfuͤgungen ſolcher Art, welche bald für den Erwerb 
beftimmte Grenzen ziehen, bald ihn von der Erlaubniß bed Staates ab- 
haͤngig machen, finden ſich fhon im 13. Sahrhunberte; wie denn 5.2. 
Kaifer Heinrich von Conftantinopel im Jahre 1208 verbot, daß bie 
Kirche durch Kauf, Schenkung oder Vermaͤchtniſſe ıc. Grundſtuͤcke an 
fidy bringe (Raumer, Gefchichte ber Hohenftaufen. VI. 135.). Aehnli⸗ 
hen Beflimmungen begegnen wir 3. B. für England im Jahre 1205 
von Heinrih III., 1279 und 1285 von Eduard I, 1392 von Ri⸗ 
chard IL, für Flandern im Jahre 1293 von dem Grafen Guido, für 
Brabant im Jahre 1312 vom Herzoge Johann, 1451 von Philipp 
dem Schönen; in Deutfchland in einigen Städteprivilegien im 14. Jahr: 
hunderte (3. B. fhon im J. 1306 in Augsburg, welchem das Pris 
vilegtum verliehen wurde, daß bie Grundftüde dev Profehleiftenden nicht 
dem Kloſter zufallen, fondern binnen Jahresfriſt an andere Bürger ver: 
äußert werden follten [vergl. Mofer, von der Reichsftädtifchen Regiments⸗ 
verfaffung. 1772. S. 241 ff. und Hahn de eo, quod justum est 
circa bonorum immob, ad manus mortuas translatione , mit den 
Anm. des Derausg. in Schmidt Thes. jur. eccl. V. 664)). Sie füb- 
ten feit dem 16. Jahrhunderte im Allgemeinen den Namen Amortifa- 
tionsgefeße, weil durch fie bie Veräußerung an die „„tobte Hand“ (ad 
manum mortuam) geregelt wird, ein Name, ben die Kirche deshalb 
führt, weil in Folge der Verdußerungsverbote ihr Gut für ben allge: 
meinen Verkehr abflicht. Das Moment, aus dem fie hervorgegangen, 
iſt die Forderung dev Kirche, jebe neue Erwerbung fleuerfrei benutzen 
zu dürfen. Aber auch jest, mo das Privilegium der Immunität we⸗ 
nigftens für neusrworbenes Gut als Regel hinwegfaͤllt, haben fie doch 





380 Kirchenvermögen, Rirchengüter. 


dem Miniſterlum des Inneren und der Juſtiz dann einzuholen, wenn 
—— — 
Erwerbungen ‚geringere Betrage Entſchließun er 
eren ——— Kiechenrecht verbi⸗ Mr etet 


34 —* fe. — Im Großhergogehum Wet 
N — ſthum eis 
—— = ke, 


y nach dem Geſet vom 7. Detober 1823, — Dagegen bedarf 
es a Herzogthum —— ngen u. 8.35 ber Ver. 
faffungsurtunde zu, Annahme von und Stiftungen Bei: 
ner ner Lnbeberiden Genehmigung , und dr en 


undftücken und verforbechich 
Ber die, altenburgiſche —— daß die Kirchen 
liegende Gruͤnde von bebeutendem umd- binglihe Gerechtig⸗ 
maͤcht * 


‚ken wir noch der Geſtaltungen des franzoͤſi— 

ce Bean. —— —— vom Jahre 1749 hatte, wie es in dem 

berühmten Gutachten d Staatsrathes Portalis über bie — 
organiques heißt, (bei Dekan ‚Euftusgefeßgebung. Bd. I. 

371), beftimmt: que toute fondation,. quelgue  favorable que 


Kichenvermögen, Kirchengüter. 381 


Gisung bed gefehgebenden Corps vom 2. Flor. A. d. durch bie Er⸗ 
wägung metiniste, daß zwar das Bouvernement von ber Maſſe bes 
Kirchengutes Kenntniß zu nehmen und jeben exces oomdamnable 
ne — berechtigt ee, daß es jedoch wünfchenswerth ſei: que 
Vesprit de bienfaisance r&epare lea pertes, que. oes #lablissemens 

ont faites pendant la revolution. — Die Aufzählung der auf bie 
fer Grundlage erlafienen: Geſetze, welche darlegen, baß die Articles 
ihre Wirkſamkeit in dieſer Beyiehung fhon früh. verloren haben, lies 

ft Hermens a. 0. D. © ASnsbefondere beitimmte das 
de imperial conoernant in & v. 80. December 1809. 
Les fondations, donations ou legs faits aux eglises oathédrales, 
seront —— ainsi que ceux faits aux séminaires, par Pe 
veque dioodsain, sauf notre autorisation donnee en conseil d’s- 
tat sur le rapport de notre ministre des oultes. 

I. Die Vermsgensſubſtanz. Die Kirchenſachen (im Als 
gemeinen res ecclesiasticae) werben nach dem katholiſchen Kirchenrechte 
in geweihte und in kirchliche Sachen im engeren GSinne geſchie⸗ 
den. Die erſten dienen zum unmittelbaren Gebrauche beim Cultus 
und empfangen ihre Beſtimmung durch eine ſatramentaliſche Hand⸗ 
Img, weiche bald eine Conſecration iſt, wie bei Kicchen, Altaͤren, 

Keichen und Patenen, bald eine Segnung, wie bei ben Bottesädern, 
Stoden, Meßparamenten u. f. w. Begenftänden folcher Art legt das 
Kirchenrecht den Charakter der Heiligkeit bei,‘ in befien Gefolge fie 
aus ben Verhaͤltniſſen des weltlichen Verkehrs Heraustreten. Die 
fogenannten Bichlichen Sachen im engeren Sinne find dagegen dem 
Kirchenzwecke in mittelbarer Weiſe bienfibar, indem fie zur Beſtreitung 
der dußeren Bebürfniffe der Kirche beftimme find. Die Rüdficht auf 
dieſen Zweck bat zu mancherlei Beſchraͤnkungen In Beziehung auf die 
Veräußerung geführt, aber nur in biefer Beziehung unterfcheiden ſich 
die eigentlichen Kicchengüter von jedem anderen weltlichen Beſizthum. 
Nach der befonderen Beſtimmung laffen fi unter ben legteren wie⸗ 
derum das — (peculium ecclesiae), aus dem ber eigentliche 
lrchliche Aufwand beflzitten wird, und bie Güter und Einkünfte unter 
fheiden, bie inebeſondere zum Unterhalt ber für ben Dienft ber Kirche 
bleibend angeſtellten Geiftlichen beſtimmt find. Diefe bilden dann in 
Ibert Totalitaͤt das Beneficum , bie Pfruͤnde (vergl. d. A.). Einzelnen 

ber zu ihnen gehörenden Rechte, insbefondere dem Zehntredhte, fchreibt 
allerdings das Eanonifche Recht die fpirituelle Natur zu, vermöge deren 
fie von dem weltlichen Verkehre ſchlechthin ausgefchloflen, bie Laien zum 
Erwerbe „unfähig fein follen; doch ift, wie im dem Artilel Behnten 
——— ſein wird, dieſe Auffaſſung nie zu allgemeiner Anerken⸗ 
Pr elommen. — Die evangelifche Kirche hat Beinen facramentalis 
itus, buch weichen bie unmittelbaren Werkzeuge bes Gottess 
ir geheiligt werben, wenn fchon auch fie fr die letzteren bie ges 
bührende, durch die Ahndung bed Staates geficherte —— fordere 
Dagegen bat fie jene Verfügungen des kanoniſchen Rechts Aber bie 





382 Kirchenvermögen, Kirchenguͤter. 


Veräußerung des Kirchenguts beibehalten. — Zu den kirchlichen Sachen 
werden endlich oft als dritte Art bie Güter ſolcher Stiftun— 


Schulen und 
Verhättniffes zu dem Stante, In deffen Folge monde Mobifis 
eationen im der Verwaltung herbeigeführt worden find, ift auf die ber 
treffenden Artikel ſelbſt zu verweifen. - 
1. ‚Subject des Eigenthums. Rechte des Staates 
aufdas Kirhengut. ‚Die wenn das Eigenthum am dem 
zuſtehe, iſt eine der im Gebiete des kirchlichen 
Rechts, und ſchon vor es man darüber im Bivrifel, 


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Deeföntichteit. 
ften, hierher ‚gehörenden Befehle betrachten als das Subject, 
beigelegt ‚wid, b die einzelnen kiechlichen Gemeinden (5 


diefe 
Thand 


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AR ON m nich Ale Atsanam 


Kirchenvermögen, Kirchengüter. 383 


ftändig auf, fondern fie werben in diefer Beziehung duch bie ihnen 
vorgefegten Geiſtlichen repraͤſentirt. Ein aͤhnliches Verhaͤltniß findet 
auch in ber evangeliſchen Kirche Statt. Mehr als in der katholiſchen 
Kirche bat man. inmitten diefer bie Idee eines: Staatseigenthums ber 
Kirchenguͤter geltend zu machen verfucht, wie es benn zu allen Zeiten 
das Unglüd der evangelifchen Kirche geweſen ift, fofort jede ſubje⸗ 
ctive Anficht als bie ausſchließlich berechtigte auf ſich anwenden lafien 
zu müffen; aber das Leben hat body die Wahrheit faft überall treu bes 
wahre: Der Sag, daß das Eigenthum der Kirchengüter ben Gemein: 
den und feldftfiändigen Inſtituten zuftehe, ift ein Theil des gemeinen 
Rechts geblieben. In gleicher Weiſe iſt jedoch aud bie Regel aner⸗ 
kannt, daß das Recht der Gemeinden von dem Kirchenoberen ausge⸗ 
uͤbt werde. Haben aber hierin die Ideen des kanoniſchen Rechts ihre 
Herrſchaft behauptet, was durch die Geſchichte der Reformation ſelbſt 
in der einfachſten Weiſe ſich erklaͤrt, ſo dringt doch wiederum auch hier 
der Grundzug der evangeliſchen Kirchenverfaſſung hindurch, denn uͤberall 
werden die Gemeinden fuͤr berechtigt gehalten, ihr Recht am Kirchen⸗ 
gute felbſtſtaͤndig zu vertreten. Daß ſie ein ſelbſtſtaͤndiges Ver⸗ 
waltungerecht unter Aufficht ber landesherrlichen Behörden üben koͤn⸗ 
nen, ift unbesweifelt und in ben neueren Geſetzgebungen thatfächlid ans 
erkannt (vergl. unten und den Artikel ‚„„Kirchenverfaflung, evangelifche‘‘), 
weiche oft, wie wir unten zu erwähnen haben werben „ audy ben Rech⸗ 
ten ber Latholifchen Kirchengemeinden einen’ weiteren Spielraum eröff 
net haben. Der Behauptung endlich, daß das Eigenthbum an bem 
Mrchengute nicht ber Eirchlichen, fondern ber Civilgemeinde zuſtehe, 
krauchen wir wohl nicht erſt befonders als einer unhaltbaren zu geden⸗ 
ten. Unter anderen finden wir fie in dem Avis du conceil d’Etat vom 
2-6 Piuv. a. XIII., meiches die Stage: si les communes sont devenucs 
proprietaires des eglises et presbytöres, qui leur ont et€ abandonnes 
en exdcution: de la loi du 18 germinals a, X entſcheidet: que les dits 
dglises et presbyteres. doivent @tre considerdes comme proprietes com- 
munales (Dermens a. a. D. Bd. I. ©. 315). Aber fchon früher 
hatte in Frankreich die Theorie der Kirche das Eigenthum an ihnen 
abgeſtritten (vergl. 3. B. die Ausführungen in 1'’Esprit ou les prin- 
dpes du droit canonique. Avign., 1760). | 

Viel mehr beſtritten it die Frage über das: Eigenthum an den 
Gütern. erloſchen er geiftliher Stiftungen, denn nicht weniger ale 
vier Anfichten. kreuzen ſich bier, von denen bie eine jene Güter fort 
während als kiechliche betrachtet wifjen will, die andere den Ruͤckfall an 
die Stifter ober deren Nachkommen verlangt, bie dritte das fogenannte 
Miteigenthum des Staates: in Alleineigenthum übergehen laͤßt, während 
bie vierte. wie bei erblofen' Gütern den Deimfall an den Staat als die 
rechtliche Folge behauptet (vergl. die literariſchen Nachweiſungen bei 
Kluͤber, Staatsrecht $. 533). Bei der Entfcheidung diefer, nament⸗ 
lich bei Gelegenheit der Aufhebung bes Jeſuitenordens vielfach) durch⸗ 
geftrittenen Frage iſt zuvoͤrderſt von der Anficht, welche ein Eigenthum 


m 





384 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 


der Lanbesliche oder ber algemeinen Kirche behauptet, völlig zu abs 
ſtrahiren, da biefe, wie Eihhorn mit Recht fagt, als juriſtiſches Uns 
ding betrachtet werben muß. Deshalb wird, da auch die zuerſt von 
Hugo be Groot de jure belli et pacis II. 3. 19. aufgeftellte, dann 
3. B. von v. Stock, Ausführung einiger gemeinnägigen Materien (Halle 
1784) ©. 22 vertheidigte Theorie des Diteigenthums weder geſchicht ⸗ 
lich, noch auch aus dem Weſen des Staates fich rechtfertigen laͤßt, 
zunaͤchſt hier wieder zum Grunde zu legen ſein, was oben uͤber das 
Eigenthumstecht der geiftlihen Inſtitute und Gemeinden geſagt worden 
if. So wird denn alfo hier bie Regel gelten müffen, weiche auf das 
Vermögen erloſchener Gorporationen überhaupt in Anwendung zu bins 
ven iſt; die Güter erloſchener kirchlicher Juſtitute ſollen, fobald die 

uͤkgabe an bie Erben des Stifters fundationsmäßig nicht vorbehalten ift, 
unter die Verfügung des Staates, in welchem fie belegen find, kommen. 
Diefe tft jedoch nicht eine unbeſchraͤnkte; denn bee befondere, bei ber 
Stiftung zundchft beabfichtigte Zweck fol ja zugleich auch dem allger 
meinen Zwecke ber Kirche dienen; deshalb befteht für den Staat bie 
Verpfliptung, jene Güter nunmehr biefem zugumenden, besiehungss 
weife bie Innovation dee Stiftung zu verorbnen. Diefen Grundfag 
haben denn auch viele neuere Gefehgebungen anerkannt, indem fie bald 
die Einziehung bes Vermögens eingegangener Kirchen und Stiftungen 
zu einem allgemeinen Kirchenfonds ordnen, wie das naffauifche 
die Bildung des Gentrallichenfonds betreffende Ediet vom 9. Dctos 
ber 1827, die fahfen-meiningenfhe Werf.e Ur, $. 33, bald 
im Algemeinen die Verwendung zu ähnlihen Zwecken vorfchreiben, wie 
die Berfaffung von Kucheffen F. 138, von Altenburg $. 155. 161, 





Kirchenvermögen, Kirchengüter. 388 


Staategut ober ber Saͤculariſation und des fogenannten Obereigen⸗ 
thums jm gedenken, in weichem ihre Berechtigung 6 zu werden 
9* BR behalten für dieſe einen beſonderen Artikel vor; doch 

unen mitt nicht ſchlleßen, ohne die Bemerkung, baf 
das VNechtebewußtſein In’ ben neueren dent ſchen Geſetzgebungen 

füpnend dee Kirche die Erhaltung ihres Gutes verduͤrgt hat (vergl. 
baleriſche B.⸗U. Tit. IV. 6.9, 10, bad iſche B.-U. 6. 20. vergl. 
mit dem angeführten Ediet von 1807 6. 9, wärtembergifhe B.-U. 
6.77, 82, gtoßherz. Heffifche B.-U. 6. 43, 44, Tahfenscoburs 
giſche B.⸗u. 5. 29, 30, fahfensweimarifhe B.:U $. 33, 
surbertifhe V.⸗U. 43138, fahfensaltenburgifhe V.⸗U. 
$. 185, konigl. ſachſ Eche B.-U. 6. 60). 

- W. Die Verwaltung und Verwendung. 1) Geſchicht⸗ 
Lie Umriffe. Der Grundſatz, daß bie Verwaltung und Verwen⸗ 
bung bes Kirchengutes dem Wifchofe 3 ‚ tt durch die aͤlteſten Klr⸗ 


ber Subſtanz des Vermögens im Kernen erhalten werden fol. Die _ 
—— "ber Einkünfte, und zwar im Fall des Bedarfs au zu 


Biſchoͤfen befohlen hatte; aber daß fchon früher es in vielem Kirchen 
Beamtete ſolcher Art gegeben haben muͤſſe, zeigt uns die Faſſung des 


- Kanone ſelbſt und iſt auch aus früheren Urkunden zu erweiſen. — 


worden, daß den Dienern der Kirche und ben Armen, Muͤh⸗ 
felgen und Beladenen ein Anſpruch zuſtehe. Später finden wir eine 
durch bie Obſervanz heilung aller Einkuͤnfte in brei 


Gierus, ein beittes den Unterhalt ber ebäube und bie 
Ari 1 Get yes) ven 
—— o iſt es, 0 von Braga abre 563, 


gebalten worden. In Ballen dagegen’ mar für die Armen, denen uns 
mittelbar beizuftehen Biſchof und Glerus nach jener Geſtaltung für 
verpflichtet gehalten wurden, ein befonderer Theil ausgeworfen, fo daß 
mithin bie fte in vier Theile gefondert wurden (vergl. Gonch 
von Orleans I. vom Jahre 511). Diefeibe Einrichtung wird ſchon im 6. 
GStaats⸗ Lexikon. IX. 25 


—E 


Jahrhunderte für die sömifche Kirche als allheiliger Gebrauch erwähnt, 
und ift (vergl. die Stelle aus einem Briefe Gregor’s\d. Gr. im Decre⸗ 
tum Gtatian’® e.30, C. XII, qu. 2) von dieſer aus namentlidy dadurch 
verbreitet worden, daß ben in Rom. ordinicten Bifhöfen bie Einführung 
in ihren Kirchen anbefohlen zu werben pflegte- Später, als die Pa- 
rochialverhäftniffe mehr und mehr ſich confolibirten, wurde ber Grund: 
faß, daß der Biſchof das Kirchengut dispenfire, zwar ‚fort und fort 
anerkannt, aber das Mecht ber. einzelnen Kirche auf die Einkünfte des 
von. ihr erworbenen Gutes trat mehr in ‚den Vordergrund, denn zus 
naͤchſt folten..diefe zu ihrem Velten, und erft im Falle ber Ent: 
behrlichkeit fir andere bedürftige Kirchen vertvandt werben (vergl. 3. B. 
den Beſchlug der Spnode von Carpentras v. 527). Mit der Ent- 
ſtehung der, Pfruͤnden ift diefe Scheidung vollendet; die Einkünfte aus 
den ber einzelnen Kirche angehörenden Grundſtuͤcken, die Zehnten und 
DOplationen, welche die Patochianen darbrachten, wurden ais einheits 
liche Maſſe betrachtet, und als ſolche mit dem geiſtlichen Amte in 
eine Verbindung gebracht, in der ſie in den Begriff des Beneficiums 
uͤbergehen. Seit dieſer Zeit mußte das Dispenfationsrecht, wie dieſes 
die älteren Quellen auffaſſen, in der Regel als aufgehoben ‚betrachtet 
werden, Dem Bilchof ſtand fortan nur die. allgemeine Aufſicht über die 
Verwaltung des Beneficiaten zu, waͤhrend es biefem uͤberlaſſen blieb, 
nad feinem, Gewiſſen wohlzuthun und mitzutheilen, anftatt daß früher 
für diefen Zweck ein. Theil der Kiccheneinkünfte ausfchließlich. beſtimmt 
gewefen ‚war. Eben ſo ging mit dieſer Geftaltung oft auch. der befon: 
dere Sonde für die Kirchenfabrike verloren, und es tritt an feine Stelle 
die Beitragspflicht ‚des ‚Beneficinten und der Gemeinde, mo nicht ents 











weder neue Stiftungen ber Kleche ein für biefen. Zweck beſtimmtes 


Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 887 


liche Sorge überließen. Nachdem wir folchergeftalt die geſchichtlichen 
Geſtal kuͤrzlich erwogen, laſſen wir 
2) bie Grundſatße des geltenden Rechte über bie 
Vexwaltung her Kirchenguͤter folgen. 
a) Katholiſche Rice. a) Gemeines Recht. Die Ber 
be8 KRirchengutet, mit Ausnahme ber der unmittelbaren Ab⸗ 
miniftcation der Beneficiaten unterworfenen Pfrändgüter, iſt in bie 
Hände des Biſchofs gelegt. Ueber das Stifte und Kioflergut üben 
bagegen bie Verwaltung unter bifchöflicher Aufficht die Prälaten, welche 
die Stelle des Eigenthuͤmers vertreten, und denen bie Geſctze ein nur 
durch bie verbotene Veraͤußerung (vergl. unten) unb die nothwendige 
Verwen zum ‚Bellen ber Kirche beſchraͤnktes Dispenſationerecht 


8 


( 

fi ;_ 2) bie Verpachtung der Kischengrumdflüde ; 3) die SBeitreibung 
er 

und ung des Capitals, wo dieſes gefährdet iſt; 4) dee Quit⸗ 


auc fo weit, als die Verwendung in dan Mugen der letzteren erwieſen 
„ jeden. kann. Gegen autoriſirte Geſchaͤfte hat bie Sicde ‚nur... die 
2 % 


BD 
3 Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 

Mechtswohlthat ber Wiedereinfesung. Abfolut’ ausgenommen aber iſt 
von den Befugniffen der Verwalter bie Verduperung ber Vermoͤgens⸗ 
ſubſtanz, uͤber welche Kirchliche und melttiche Geſebe fehr früh ſchon 
mancheriei beſchraͤnkende Verfuͤgungen getroffen haben. Aus dieſen iſt 
der allgemeine Grundſatz entwickelt, daß jede Verdußerung in weiteſten 
Sinne (alfo nicht blos Verkauf, Tauſch oder Schenkung, fondern 
auch die Einrdumung einer Speeialhppothet oder Servitut, die Ins 
feudation, die Vererbpachtung bereits cultivister Grundflüde) eine ges 
techte, gehörig comftatiete, von dem Kirchenoberen anerkannte Urſache 
und die —— ber Berechtigten vorausſetze. In erſterer Wer 
ziehung ren die Geſetze die Veräußerung, zuvoͤrderſt der beweglichen 
ohne Ausnahme, dann der unbeweglichen alddann für ftatthaft, wenn 
gültige. Schuden der Kirche bezahlt werden müffen, oder wenn «8 gilt, 
in-allgemeiner Noth die chriſtliche Liebe zu erweiſen. Aber auch ber 
Nusen ift als hinkängliches Motiv der Aftenation, wiewohl nicht ges 
beitigtee Sachen, anerkannt: Die Prüfung biefer Gründe ift die 
Sache des Kicchenoberen, det feine Zufimmung in einem förmlihen 
Verdußerungsdserete ausfpricht, nachdem die Eintollligung der Bethei⸗ 
ligten, alſo insbefonbere bei der Veräußerung von Stiftsgut die des 
Capitels, bei der Alienation des Vermögens von Patronatkirchen jene 
des Patrons, erfolgt iſt ( ſ. d. Art. Patronatredht). Eine Vers 
ordnung von Paul U. (c; un. Extr. comm. de rebus ecel, non 
alien.) fpreibt zwar in allen wichtigeren Fällen die Einholung des 
päpftlichen Gonfenfes bet fchweren Strafen vor, doch iſt fie in Deutfchs 
land überhaupt nicht recipiet worden, und aud der von manden 
Schriftſtellern aus dieſer Decretale abgeleitete, in Wahrheit aber viel 
‚ältere Eid (vergl. Devoti institt. canon, I. 726 der Genter Ausg. 





Kirchenvermögen, Kirchengüter. 389 


Gute das Eigenthum zuftehe, fo wird ihr Recht, die Verwaltung felbft 
zu führen, nicht bezweifelt werben Finnen, mas aud neuere Geſetze 
bald ausdruͤcklich, bald mittelbar anerfannt haben (vergl. bie Nachweis 
fungen bei Droftes Hülshoff, Grundſaͤtze des germ. K.⸗R. I. 208). 
Auf der anderen Geite bat der Staat aber auch den aus feinem Mas 
jeſtaͤtsrechte unmittelbar abfliegenden Beruf, bie Verwaltung feiner 
Dberaufficht zu unterwerfen, und bie Verwendung zu ben von ihm 
anerkannten fliftungemäßigen. Zwecken zu controliren, ein Grundſatz 
bem insbefondere auf bie Verwaltung des eigentlichen Kicchenfonde 
in vielen Ländern umfaffende Anwendung ‚gegeben worden iſt. Hier» 
bei ift der leitende Geſichtspunct in der Regel der geweſen, daß zunaͤchſt 
der Pfarrgemeinde eine lebendigere Zhellnahme an ber Verwaltung ers 
effart werden muͤſſe, ba diefe, mie wir oben ſchon nachgewieſen, ale 

ubject des kirchlichen Eigenthums zu betraditen iſt. Diefem Zwecke 
dienen z. B. m Wuͤrtemberg bie unter Leitung bes erſten Orts⸗ 
geifttichen und bes erſten Ortsvorſtehers geftellten, mit dem Gtadts 
oder Gemeinderathe identiſchen Stiftungsräthe, beziehungsmweife die mit 
ber Beſorgung ber currenten Geichäfte beauftragten Kirchenconvente, 
als ftändige Ausſchuͤſſe derſelben; in Baden die Kirchenvorftände, 
welche aus ben von den Kirchengemeinden gewählten Ditaliedern bes 
fliehen und von bem Ortspfarrer und den erften meltlihen Vorgeſetzten 
geleitet werden ; im Großherzogthum Heffen Collegien gleiches Namens, 
weiche aus dem Pfarrer, dem Bürgermeifter, beziehungsweife dem Bei⸗ 
geordneten und einer Anzahl unftändiger Mitglieder beftehen; in Bai⸗ 
ern befondere, aus dem Pfarrer, einem Abgeordneten des Magiſtrats, 
auf den Dörfern des Gemeindeausſchuſſes, und einer Anzahl befonders 
gewählter Mitglieder beftehende Kicchenverwaltungen (vergl. Habers 
ftumpf, die neue ‚Kicchenverwaltung nach dem Gefeg vom 1. Juli 
1834. Sulzbach, 1838). Hiernaͤchſt iſt den weltlichen Behörden eine 
Controle der Verwaltung, gewöhnlicher bie letztere felbft in zweiter Ins 
ftanz, nur unter Mitauffiht des Biſchofs, übertragen (vergl. 6 37, 38 
ber in den Staaten ber obercheinifchen Kirchenprovinz am 30. San. 
1830 erlaffenen Verordnung, das Iandesherrliche Schugs und Auffichtes 
recht Über bie katholiſche Kirche betr.); endlich ft die Genehmigung 
von Verdußerungen der Subftanz von Seiten der weltlichen Behörden, 
oft des Regenten felbft, neben ber Zuftimmung bes kirchlichen Oberen, 
als abſolutes Erforderniß bezeichnet worden. Der befchräntte Raum 
verbietet uns, in eine Darftellung der in den einzelnen Ländern feft 
geftellten Verhaͤltniſſe hier einzugehen, weshalb wir uns begnügen 
möffen, ſowohl ruͤckſichtiich der bezeichneten Puncte, ale in Beziehung 
auf den buch das Territorialrecht nicht felten verengerten Wirkungs⸗ 
Preis der Verwalter des Kirchenvermögene, auf die von Andreas 
Müller in dem Leriton des Kicchenrechtes unter dem Artikel Kir⸗ 
henvermögen“ über die Beflimmungen des Öfterreichifchen, preußts 
ſchen, baterifchen, wuͤrtembergiſchen, fächfifhen, hannoͤveriſchen, badis 
Then, großherzoglich heffifhen und weimariſchen Kirchenrechts, fo wie 





390 Kirchenvermögen , Kirchengůter. 

auf Lonamer’s Darſtellung der Mechtsverhättniffe der Biſchöfe in ber 
oberrheinifchen Kirdenprovinz (Tübingen, 1840) zu verweifen. Min- 
dee als das eigentliche Kirchengut iſt dagegen das Pfeündgut von bies 
fen Gefegen berührt worden, deffen Verwaltung mit Vorbehalt der 
Aufficht der weltlichen Behörden faſt überall den Beneficiaten ſelbſt 
überlaffen geblieben ift (vergl, 5. B. dem $ 88" der angeführten Wer, 
ordnung vom 30. San. 1830). — Eine hier"einfchlagende, fehr con: 
teoverfe Frage, deren wie zuleht noch gedenken müffen, betrifft das 
Recht des Staates, die Innovation, das iſt die Umwandlung 
beftehender kirchlicher Stiftungen von dem Kirchenoberen zu fordern. 
Durch die befonderen Verhaltniſſe kann bier eine Schranke gezogen fein ; 
aber Im Allgemelnen wird das Recht des Staates nicht bejweifelt wer 
den innen, daß er die klechlichen Inſtitute auf der wiſſenſchaftlichen 
und fietlichen Höhe erhalte, Wir führen in diefer Bezlehung ein treff- 
liches Wort Schleiermacher”s am, der in ben Eirchenrechtlichen Unter- 
fuhungen (Berlin, 1829) fagt: Auch mas gewiſſe aus alter Zeit 
hertuͤhrende firchliche Stiftungen betrifft, deren Zwecke der Zeit micht 
mehr angehören und mit dem Geifte der een Erkennt: 
ng, mit der erlangten firtlihen Einficht in Widerſpruch find, To 
wird man wohl ‚Kaum forbern Bönnen, fortdauernd bei dem todten, 
oder doch bereits abgeftorbenen Buchſtaben flehen zu bleiben; und 
obwohl ſich ein biofes Einziehen von Seiten des Staates, fo baf 
der Ertrag nur den Staatöbebürfniffen im engeren Sinne zufallen 
fol, nicht rechtfertigen laͤßt, ſo wird doch gegen eine Verwandlung 
und Umbildung oder — um uns fo auszubrüden — gegen eine Um—⸗ 
deutung der alten ober veralteten Stiftung, fo daß fie als eine er- 
neunte, bem fortgeſchrittenen geifligen und fittlihen Standpunete und 


Kirchenvermögen, Kirchengüter. 391 


liſche“ gelieferte Darftellung der Verfaſſung, welche zugleich über ben 
ben Gonfiftorien tn Beziehung auf das Kirchengut eröffneten Mir: 
kungskreis und die biesfallfigen Deodificationen einzelner neuer Ge⸗ 
feßgebungen, z. B. in Preußen, die nöthigen Mittheilungen gewährt. 

V. Vorrechte der Kirhengüter. Bewogen durch die Rüd: 
fiht auf die Beſtimmung des Kirchengutes, hat der Staat baffelbe 
mit manchen allgemeinen Vorrechten ausgeſtattet. Hierher gehört zu⸗ 
vörberft 1) die Beſtimmung, daß gegen eine geiftlihe Anſtalt, welche 
ihr entzogene Grundftüde oder Rechte zurüdforbert, nur eine vierzig: 
jährige Verjährung ſchuͤtzen fol. Nach einer auch auf dus Abendland 
und bie römifche Kirche ausgedehnten Verordnung Suftinian’s Sollte 
fogar ein Zeitraum von 100 Sahren erforderlih fein (c. 23. Cod. 
de sacros. eccl. I. 2); doch wurde biefe Aeußerung überfließen: 
der Liberalität von dem Kaifer felbft in der bezeichneten Weife befchräntt 
(Nov. 111. c. 1. 131. o. 6). $ür die römifche Kirche aber, auf 
welche die Beſchraͤnkung fich nicht minder erftredtt hatte, war doch ſpaͤ⸗ 
ter, wiewohl von den Nechtsiehrern nicht unbefkritten, das Privilegium 
wieder geltend gemacht worden. Unter Anderem wird es als fortwährend 
praktiſch bezeichnet in einer Conſtitution Benedict's XIV. vom Jahre 
1752 (Bull. magn. XVII. 287). Ueber die Verleihung bes Rechts 
der bundertjährigen Verjährung an Klöfter vergl. Raumer a. a. O. 
VI. 343. — Wichtiger ift 2) die Steuerfreiheit, bei deren Urfprung 
und heutiger Geftaltung wir mit um fo größerem Rechte länger ver: 
weilen, je mehe bie (im Art. „Steuerfreiheit‘ zu Iöfende) Frage 
nach ber, Zulaͤſſigkeit dieſes angeblich von Gott ſelbſt geordneten Privis 
legiums bie Wiffenfhaft wie das Leben befchäftigt hat und noch bes 
ſchaͤftigt. Die erfte hierher gehörige Urkunde ift eine Conftitution Con⸗ 
ſtantin's d. Gr. vom Sahre 315 (c. 1. Theod. Cod. de annon. et 
trib. XL 1), welche die Güter dee Kirche gleich jenen bes kaiſerlichen 
Haufes audı von ben gewöhnlichen Steuern befreit. Diefes Privile⸗ 
gium bat ‘jedoch ſchon unter des Kaifers unmittelbaren Nachfolgern fich 
nicht behauptet; vielmehr wird in fpäteren Gefegen immer die Kirche 
al8 ber ordentlihen Grundfleuer unterworfen bezeichnet, und nur aus 
nahmsweiſe murde einzelnen, bebürftigen ober beſonders begünftigten 
Kirchen die Eremtion. zugeflanden. Befreit war dagegen bie Kirche 
regelmäßig von den außerordentlihen und gemöhnlid auch von ben 
meiften niedrigen Zaften, ben fogenannten muneribus sordidis. Ein 
hierher gehoͤriges Gefeg des Kuifers Honorius vom Fahre 412 (c. 40. 
Tiheod. Cod. de epp. et cler. XVI. 2) beftimmt in dieſer Beziehung, 
dag zwar die Kirche frei fein ſolle, ſowohl von niedrigen Dienften, als 
von dem Brüdens und Wegebaue (die beide früher auch als munera 
sordida betrachtet wurden), von außerordentlidhen Abgaben und Steuer: 
auffhlägen, von Vorſpann für kaiſerliche Transporte u. f. w.; ba- 
gegen erkennt es bie Verpflichtung der Kirche zu Leiſtung der orbentz 
lihen Steuern, der canonica illatio, ausdrüdlic an. Sn der fpäteren 
kaiſerlichen Geſetzgebung iſt dieſer Gefichtspunct immer fefigehalten ; 





392 Kirchenvermögen, Kischengüter. 


doch iſt 3. B. die Verbindlichkeit zum Bruͤcken⸗ und Wegebaue von 
Theodoſius IL, Valentinian II, und aud von Juftinian feſtgeſtellt. — 
Im fräͤnkiſchen Reiche begegnen wir ähnlichen Begünftigungen. Daß 
in ber früheren Beit die Kirche fteuerpflichtig gemwefen fei, folgt ſchon 
daraus, daß fie nach roͤmiſchem Rechte lebte, mithin allen von Römern 
zu leiftenden Abgaben unterlag. Später wurde einzelnen Kitchen von 
ben Königen oft die Freiheit von auferordentlichen Steuern, den ſoge⸗ 
nannten angariae und parangariae, der Verpflichtung, ben reifenden 
koͤniglichen Beamten freie Wohnung (mansiones), Zehrung (paratas) 
und Vorfpann (parareda) zu geben, zuweilen auch von allen Abgaben 
verliehen; doch ſcheint diefes Privilegium zuvoͤrderſt nur als indivi⸗ 
duelles gegolten und deshalb bei jedem Regentenwechſel der Erneuerung 
bedurft zu haben. Grundſtuͤcke, melde der Regent der Kirche verlies 
hen hatte, waren aber wohl von jeher von allen Steuern frei, und feit 
Karl dem Großen galt e6 als feftftehender Grundſatz, daß jede Parodhlalkiche 
ein beftimmtes Maß von Ländereien (mansus) abgabenftei befigen, 
ober Kom Staate angewieſen erhalten folle, während dagegen die Vers 
pflichtung zur Leiſtung des Binfes von dem durch Schenkung an bie 
Kirche gefommenen zinsbaren Gute feſtſtand . Daneben war jedoch die 
Kiche auch in Beziehung auf ihr fteuerfreies Gut dem Einlager des 
Königs (jus gistii sive metatus) unterworfen, bie jaͤhrlich von Stif⸗ 
tern und Kiöftern dem Könige zu zahlenden dona gratuita wurden zu 
einer gefeglichen Abgabe, und von den Krongätern leiftete bie Kirche 
die gewöhnlichen Kriegs» und Reichsbdienſte — Thatfachen, ruͤckſichtlich 
deren bier auf Hällmann’s Finanzgefchichte Bezug genommen wers 


den Tann. Endlich erhielt ſich duch das ganze Mittelalter hindurch 
der Gebrauch, daß die Könige in auferordentlihen Fällen das Kirchen: 


SR = 





Kirchenvermoͤgen, Kirchengüter. 893 


vielmehr frei in ihrem göttlichen Berufe waltend, nicht ber Welt die: 
nen ‚und darum mit ihren Söhnen zur Hagar werden dürfe, fprachen 
die Comdilien ben Baunfludy über bie Laien aus, welche das Kirchengut 
mit Steuern belegen würden (Concil von Avignon, bei Manfi XXU); 
und felbft die Forderung von Beiträgen zu dem beiligen Kriege murbe 
einmal vertweigert, weil ein frommer König folche Räftungen nicht aus 
dem Raub ber Kirche, dem Schweiße der Armen, fondern aus eiges 
nen Mitteln, ober aus Feindesbeute beftreiten werde (Petr. Bles. 
Ep. 112. 121; bei Hutter a.a. O. S. 407) War in biefer 
Weiſe das Recht ber Fuͤrſten und Städte, das Kirchengut eigenmaͤch⸗ 
tig zu belaften, in Abrede geftellt, fo war doch auf der anderen, ben 
nationalen Grundfägen gemäß, zugleih anerkannt, baß bie Kicdhe, 
wo fie mithelfen folle, auch mitberathen und mitbemwilligen müfle. In 
Diefee Beziehung erklärt die 3. Synode vom Lateran (1179), daß keine 
Gewalt auf Erden berechtigt fei, die Kirche willkürlich zu befteuern, 
und daß die Kirche nie zu Subfidien gezwungen werben könne, wenn 
nicht die Biſchoͤfe und der Clerus felbft die Forderung als dem Drange 
ber Umſtaͤnde angemefien, alfo als billig und nothwendig anerkennen 
würden. Später feste die 4. Lateranifhe Synode (1215) an die 
Stelle der Biſchoͤfe und des Clerus den Papft. Beifpiele folcher Ab⸗ 
gaben find bie Zehnten, welche al& Beifteuer zu ben Kreuzzügen in das 
heilige Sand (Decimae Saladini, zuerft in Frankreich 1188) oder ge: 
gen die Albigenfer, oder au in anderen Nothfällen von ber Kirche 
auf Zeit zugeſtanden wurden (vergl. die reichhaltigen Notizen bei Tho- 
massin vet. et nor. eccl, disc. III. 1. 43). &o finden wir denn, 
als inzwifchen auch die Eaiferliche Geſetzgebung die Immunität beftätigt 
hatte, und das bekannte Geſetz Friedrich's II. v. 10. Novbr. 1220: 
Nulla communitas vel persona, publica vel privata, collectas sive 
exactiones, angarias vel parangarias ecoclesiis aliisque piis locis, 
aut ecclesiasticis personis imponat aut invadere ecclesiastica bona 
praesumat. Quod si fecerint, et requisiti ab eoclesia vel imperio 
emendare contempserint, triplum refundant et nihilominus banno 
imperiali subjaceant (Pertz Mon. IV. 243), ſchon von Donorius III. 
auf eine völlige Abgabenfreiheit der Kirche bezogen worden mar (vergl. 
Raumer a. a. D. ©. 152), und nachdem Friedrich UI. von dem 
Banne im Jahre 1230 fi) durch das feierliche Verfprechen gelöf’t Hatte, 
dag fortan Niemand der Kirche Abgaben auflegen folle, wiewohl mit 
Vorbehalt der Verpflichtungen, zu denen ihm beflimmte Kirchen fpes 
ciell verbunden feien (Pertz IV. 273), in der Mitte des 13. Fahr: 
hunderts das Princip des kirchlichen Bewilligungsrechtes ausgebildet, 
während im Uebrigen die päpftliche Gefeggebung immer und immer 
wieder auf die Immunität nicht nur der Kirche, ſondern auch des Pri⸗ 
vatgutes der Geiftlihen, von dem wir hier nicht zu handeln haben, 
ale von Gott geordnetes Vorrecht ſich bezieht. Eine der mwichtigfien 
ber hierher gehörigen Verordnungen iſt, nächft einer von Alerander IV. 
nach Frankreich erlaffenen (c. I. de immun. in Vito 111. 23), die Des 





394 alchentecndgett/ Mrhemgtiit 


ctetale Clericis Taioos von Bonifaz VII. (v. 8 ib,), melde, zunaͤchſt 
jegen die 79 Zuſtande gerichtet, alle Kaiſer, Könige oder Fuͤr⸗ 
Ba Herzöge, Grafen oder Batone, fo wie die fldtifchen Mägiftrate, 
mit dem ipso jure eintretenden, nur in Rom tösbaren Banne, alle 
Gemeinden mit dem Interdict belegt, die ohne päpfttihe Genehmigung 
den Kirchen oder kirchtichen Perfonen, welche Steuern oder Subfidien 
abforbern wuͤrden, aber auch bie Bifhöfe und Prälaten der Strafe des 
Barnes unterwirft, ſobald fie dem freventlichen Ermeffen ſich zu fügen 
magen follten, Später wurde jedoch dieſe Decretale von dem unter 
frangöfiichem errufe ſtehenden Clemens V. twiberrufen, und die von 
den Eoncillen von Lateran erlaffene Beſtimmung wieberhergeftelft (c. 
un. h. t. in Clem.), während freifih nun zugleih, ais unmittelbare 
Folge des über dem römifhen Stuhl hereingebrohenen Verderbniſſes, 
bie Erſcheinung hervotttat, daß die Päpfte mit den Rönigen Über die 
Vertheilung der von ber Kleche zu entrichtenden Summe fi verttugen, 
wechalb Marin V. auf dem Gonftanzer Concil feierliche Zuſicherung 
ertheilte, daß fortan jedes Fand tur mit Bewilligung ber einheimifchen 
Prälaten belaſtet twerden fol. Auch in der fpäteren Zeit begegnen 
wir unzähligen Verwilligungen, aus denen in Frankreich, nachdem fie 
vom Zahre 1561 an zuerft auf Belt ertheilt wurden, endlich eine or⸗ 
dentllche Abgabe umter dem Namen der decimes du olerge geworden 
ift, fo jeboh, daß neben iht die dous gratuits oder decimes extra- 
ordinaires noch fortbeftanden (vergl. Recueil des ae ee | 
edicts, contraots, reglements, lettres, arrestes et autres chosı 

concernants le dlerge de France, ä Paris, 1626. 3. Voll IT. 14 f,). — 
In Deutfhland, zu welchem mic jet übergehen, indem wit wegen 


Kirchenvermögen, Kirchengüter. 395 


des Staates alle Bürden allein, und die anderen entweder gar keine, 
ober 1a n geringerem Verhaͤltniſſe, als es ihr Deutung der mit 
en verpflichtet wuͤrben (otsgt, Betrachtung ber gel 
z Görelden von Churtrier burg . . . wegen 
cimatiomöftenern: in ben pfalzbalerifchen Ötaaten. Mambem, 1788). 
| ——— war ftellich die Frage unter ben. Staatsrechtslehrern ſeht 
ana fir. ob. die —— — —— ein (ee ba Sadule * 
nigſtens⸗ den voransieße (wie denn z. a 
en ber Decimation on on ” zu 10 Jahren witklich bie päpftliche Betolls 





Hadpäfuen plug):  Dod raiiieh De eißtigeee Anfiht — 

de ee Ban A bes Lanbeöheren (vergl. Sattori, 

a Th. 1. Abſchn. 1. S. 635 ff.), und gegenwärtig iſt bie 

—— ge Überall durch die That verneinend entſchleden. — In der 

neueren Sehe bat bie Sieneefreibei bes Kicchengutes in vielem Länbein 
fee bedeutenden Mobificationen unterlegen. In Defterreich, wo 

die Immunität durch Sofeph I, aufgehoben wurde, haben bie —* | 

von ihrem Vermogen entliche und — Staa 


8 

feel, und o dafjetbe iſt für die Pfarrguͤter verorbnet A 775). Dod be: 
filmmte ber $: 166, daß die Kicchengefellfchaften, welche, vernidge 
befonberer iellegim ober VBerorbnungen, von gewiffen Laften in. 

ehung ihrer liegenden Gründe frei find, dennoch dieſe Be⸗ 
* auch ruͤckſichtlich nachher erworbener Grundſtaͤc⸗ nicht anſpre⸗ 

chen duͤrfen, wofern dad Privilegium' oder die Verordnung dieſes nicht 
ausbrikdkiich feſtſegßt. In Rheinpreußen gilt das Geſeß vom 3. Frim. 
a. VII. 6. 105. 110, nah welchem bie etäblissements dont la de- 
stination a pour oben Putilit6 generale, fe in naͤherer Beziehung - 
auf unferen bie Kichen, die Öffentlichen Gapellen und 
Kicchhöfe, bie nd bifchoͤfli alaͤſte, bie Semlnarien 
und Pfarrhaͤuſer fammt ben daran und dazu gehätigen 
Gärten geumbfteuerfrei find, während bagegen bie nicht uns — — — 
oͤffentlichen Dienſte ober allgemeinen Nuten geiib 
ber Kirche dieſe Eremtion nicht genießen. An rer ——— 
auch durch das Belek vom SO. Mai 1820 über bie Einttich 


EX nichts gender: war worden. — Batesn IE * 
ict Aber die dufßeren —— * 
6. 8 ber B.u., a e ee 


tet erklaͤrt, und alle ältere —— aufgehoben worden, 
—— uͤl ler, Repertorium —— 1829) u. . Abgaben.“ — 
In In Börtemberg ift nicht minder die Freiheit vn —8 feom- 
men Anſtalten von koniglichen und allgemeinen La 
hoben, und eben fo verordnet das babifäe Ss —8* "17. 





\ 


BEE 


896 Kirchenvermogen, Rirchenghter. Kicchenzaub. 


1807 , daß die Kirche für kein von ihr erworbenes Vermögen eine Bes 
frelung von der Steuerbarkeit erlange. Im gleicher Weiſe endlich hat 
ſich das Verhaͤltniß im Großherzogt hum Heffen geftaltet (Gef. 
v. 8. Juni 1821), während es in der V.⸗U. bes Kurfürftenthums 
($. 149) Heißt: „Die Güter der Kirchen und Pfarreien, der Öffentlichen 
Unterrichtsanftalten und der milden Stiftungen bleiben, fo lange fie 
ſich in deren Eigenthume befinden, von Steuern befreit. Diefe Steuer 
freiheit erſtreckt ſich jedoch nicht auf diejenigen Grundftüde, welche bis⸗ 
her ſchon fleuerpflichtig waren, ober nach ber Verkündigung der Vers 
faffung von ihnen erworben worden”. Zuletzt gedenken mir noch der 
den Kichen, Schulen und milden Stiftungen im Großherzogthume 
Weimar duch die Steuerverfaffung vom 29. April 1821. und das 
Seins vom 7. October 1823 gewährten Befreiung. Ueber ein weiteres 
recht, 

3) das Aſylrecht, find unter dieſem Art. die nöthigen hiſtoriſchen, 
rechtlichen und politifchen Erwägungen angeftellt. Zur Wervolftäns 
digung Finnen wir hier nachttagen, daß einzelne beutfche Geſetzgebun ⸗ 
gen ausbrüdiid gegen die Anmenbbarkeit biefes Rechtes ſich erklärt 
haben, wie das preußifde &.:R. II. 11. 175, das k.⸗ſaͤch ſ. 
Mandat vom 19. Behr 1827 und das "angeführte weimarifche Ges 
feg vom Jahre 1823. In Defterreich ift daffelbe durch Gefeh vom 
16. Sept. 1775 ſo eingeſchtaͤnkt, daß es feine Bedeutung völlig vers 
toren hat. Im Kichenftaate aberift es, wie Andre. Müller im 
Lexikon des Kirchenrechtes berichtet, im Jahre 1826 zwei dem Gapitel 
der Petersliche und dem Inquifitionstribunal gehörigen Kichen auf’s 
Neue verwiliget worden. Ar Re. 





Kirhenraub 


Kicchenraub. 397 


gehörigen profanen Orte auch Kirchenbiebftahl fein, was nad) den 
beftimmteften Duellenzeugniffen gänzlich unftatthaft iſt). Und in 
diefee Behauptung flimmen bie bei Weitem meiften Strafrechtslehrer 
mit nur unbebeutenden Abweichungen überein”). 


Zwei Momente find es hauptſaͤchlich, von benen die Entſchei⸗ 
ding unſerer Streitfrage ausgehen müßte, und worüber hier einige 
Andeutungen gegeben werden follen. Wann ift der Raub vollendet? 
und welche Zwecke hat in der Regel der Raͤuber? Seine Abficht 
ift ficher eine andere, ale buch Vergewaltigung von Perfonen frems. 
des, bewegliches Gut fich zuzueignen. Alfo nicht vom Zufall, nicht 
von- der biofen Möglichkeit eines Widerfiandes läßt der Räuber bie 
Gewaltanwendung abhängen, fie iſt ihm nicht blofes Mittel ***) zur 
Erreihung feines Vorhabens, fein Zweck ift vielmehr auf Gewalt 
und Entwendbung zugleich gerichtet. Diefer Zwed fest nothivendig das 
Bewußtſein voraus, daß man MWiderftand gewiß finden, und biefen 
befeitigen müfle. Iſt nun dieſer Widerftand nur In bewohnten 
Gebäuden vorauszufehen und denkbar, fo begreift man das Gegen: 
theit von felbft bei Entwendungen aus Kichent). Demnach müßte 
man nimmermehr von Kirchenraubtr), fondern nur ausſchließlich von 


*) 9. 8.:D. Art. 171. „Stehlen von geweihten Dingen oder Stätten ift 
ſchwerer, denn andere Diebfläle, und gefchicht inn breierlei.weiß: zum erften, 
wenn einer etwas heyligs ober geweichts flielt an geweichten Stätten, zum ans 
dern, wenn einer etwas geweichts an ungeweichten Stätten flielt, zum britten, 
wenn einer ungeweichte Ding an geweichten Stätten ſtielt.“ Bergl. audh Caus, 
XVII. quasst. 4. can. 21. $. 2. 

) Srolman, Brunbfäge ber Griminalrechte:-Wiffenfchaft 5.193. Abegg, 
Lehrbuch der Strafrechts⸗Wiſſenſchaft 5. 865. Martin, Lebrbuh $. 159. 
Heffter, Lehrbuch 2. Aufl. 1840. $. 50%. Bauer, Lehrbuch $. 255, 

**9) ©, dagegen Roß hirt, Lehrbuch bes Griminalrchhts $. 133. Rot. 1. 
Freilih ganz und gar feiner früheren Meinung entgegengefeht, erklaͤrt fidh 
8 berfelbe in f. Geſchichte und Syſtem bes beutfchen Strafrechts Th. II. ©. 


+) Hiervon koͤnnte nur die Entwendung geweihter Dinge aus ungeweihten 
@tätten ausgenommen werben, bie aber dennoch beftimmt Diebftahl genannt 
wird, f. 9. &.:D. Art. 172. Ginen abweichenden Begriff , den aber die Gas 
roline gar nicht Eennt, ſtellt überbied noch auf Car. Sebast. Berard. oommen- 
tar. in jus ecclesiasticam universum, T. IV. p. 82., wo es heißt: „‚Eccle- 
siastico jure sacrilegium etiam admittitur in personas Deo sacras, veluti 
cum adversus episcopos, vel majores praelatos, sacerdotes, et omnes ia 
eloro — injuria infertur caedendo, vulnerando, aut contumeliis 
afßciendo, 


.+}) Bann Martin a a. ©. Not.2 behauptet, daß bie Caroline Kirchen⸗ 
taub vom Kirchenbiebftahle abgefondert nenne, fo muß man erſt beweifen, baf 
Art. 174. in den Worten: „in folchen Kirchenrauben und Diebftälen” eine Ber⸗ 
fhiebenheit der Begriffe andeute. Diefe bedingen aber weder der ganze Inhalt 
des Artikels, noch die Ueberfegungen von Bobler und Remus. Den Beariff, 
worauf ed ankommt, hebt Remus durch ancriegia, uae contentum religion 
habent‘, hervor. J. Gobleri In C.C.C. et F Remi Nemes in Karul., 
vulgav. J. F. H. Abegg. Heidelberg, 1837. p. 198. 





endichflapt * Dede und fobatd » thätlihe Gewalt ‚gegen: eine 
ra ‚ober 3 ungen auf Leib und Leben gegen dieſelbe zufäl- 
ũger Weiſe ommen, ein Zuſammentreffen aan Verbrechen anneh⸗ 
we gerade wie das oft fireng genommen bei bem Raubmorde ber 
all iſt. J 
— leuchtet die Wahrheit dieſes Begriffs durch die Rich: 
tung hervor, wodurch ſich der Kicchendiebſtahl Als ein qualificirter 
ermeit. Die Kalte und Gefliffenheit, womit ber Thäter jede Mahs 
nung des Gemwiffens, jede Scheu und Ehrfurcht vor gemeihten Stär- 
tem und Dingen unterbrüdt; die Tuͤke und Willkür, womit er Ge⸗ 
enſtaͤnde, melden vorzugsmelfe ber Stantsfchug zugefihert ſt, ‘als 
iet feiner Habfucht fegt — das find im Allgemeinen bie Gründe, 
weshalb alle gebildeten und mamentlich die dhrifktichen Völker den 


fegyorfchlages sur le snorilöge angegriffen und widerlegt. Was war 
der Zweck des Entwurfs? Die Religion follte in das Geſetzbuch auf: 


Sicenraub. 39 


buche abhängig zu made, Indeffen feltfamer noch war bie Art der 
Begründung in. dem Entwucfe. Denn nur bann follte die vorges 
nannte @tzafe daten, wenn bas Verbrechen Öffentlich, unb her 
fondes aus Hof und Weradtung gegen bie Meligion verübt wor⸗ 
‚Mein nur Felge w Pre fredt bie auf offener 

* + aufgeflellte. Scheuche, bie. Milenskcäftigen zeigt fie gu Hohn 
peti Waprfheinlikh an die Jury zu Muchmafungen, zur 
Eu zu Minfchränkungen des fehr ſtrengen @eleges, hätte «6 
Beifel ‚, ihre Bufludt genommen, wovon die Geiminals 


Ned ecta naar jo ai nis anltle mar ale 
ine sam die Be un ee babe en — 
enannt unb verworfen, und n legiumtges 
fe, welches die Todesſirafe anbrohte und Yin decide annahm, wenn 
Iemand ein Ciboriüm entwenhete, Im Frankreich gänzlich: aufgehoben **). 
Feüherhin maren' die Gtrafen, namentlich nach dem Eatholifchen 

- Kichenthume, fehr eng und in ihrer ganzen Ausdehnung anwend⸗ 
bar ***), Indeſſen in ben fen Gerichtehoͤfen, welche frühe 
zeitig bie fchweren Straf emarfen, Teint es Praris 
zu fein, bei einem in Kitden ober in heiligen Sachen vorgefalles 
zu —— die bi ef Strafen‘ des weltlichen Diesfkahe —9— 


gen} 

— en war ee en Bein wi wir den Begriff u She 

foflen, wie er im ben di uns in Haren Zügen ent 
a a a en daß die Kirche die Ber 
Rimmung babe, ihre Vakenner zu chriſtlichem Glauben und Leben 
— und daͤdurch für das ci Sottesreich zu erziehen, 
h kann ;für ums ihre Werechtigung, jedwedes ſuͤndliche Element ale 
übten aus ſich ausju boder mit andern Morten das 

Recht. der ut, feinem” Bweifei unterliegen. Diefes Redits 





— Tele L Va len lage mat 
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Handſchrift (in Waſſer⸗ 
vorgratlaniſchen 


u Gefälle de 


dieſem 


Poͤnitentlalbuches. 


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—A 
— IF 
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1249; AH= 3°, 
ä I re: 
Fr ji 

HL la 











toheden. Ein 

en hindeutendes, gleich den vorhergehenden auch von Regino (am 
des zweiten Buches) aufgenommenes Ftagment gibt über die 
in weicher die i Buße duch Gebete und Meffen in 
Jahre abgethan werden koͤnne, die nöthige —— Nach 
Abbeten vom 120 Pfeimen ſo viel alt eim — u, 

‚vom men ſo 18 ‚tägige 
men und 5 Pı die Buße eines Tages auf, 
„Beati immaculati* , oder ein 


8 


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3: 

as! z 
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wenn 
zur Exde wirft und eben fo oft das —— und „Di- 
mitte, Daher peccata men’ herfagt. Eine —* aber er fuͤt 12 Ta- 
ge, 10 Meſſen für 4 Monate, 20 Meſſen für 3: Monaie, 80 Meſſen 
für —— ſ. Kenn, au Sn — um —— in die 
Bußwelſe ve aus m Regino nach einem wohl 
dem 9. Jahrhunderte ang renden fraͤnkiſchen Concilienkanon die- fol: 
an Srlinmunaen = — —— —— die kanoni⸗ 
—— AR, De ol ge-lang bie Kirche nicht: betse: 
—* barfuͤßig und und im Wolle gefeidet, ohne Beinkleider einhergehen, 
feine Waffen tagen, nur Brot und Salz und Waſſer geniefen und 

jeglicher Semeinſchaft namentlicy ber gefchlechtlihen, ſich entſchla 
An den Pforten der Kische erfleht er Vergebung 40 Tage und M 


| Kirchenzucht. 408 

nachdem Die Buße in biefer Befe Poliradt iſt, tritt er wieder In die 

chriſtüche Gemelnſcha Dieſes ganze Syſtem ber Redemtio⸗ 

| dieben beurtbeilt won worden, und aud wir ers . 
aſſelbe die ſchon am Eingange dieſes Artikels gemachte 


} 
I 
3 
24 





zugeſtanden 

—** das Bewußtſein der Kirche ſich nicht gegen den Gebrauch, 
ſondern gegen den Mißbrauch deſſelben geaͤußert, und die Buͤßenden an 
die eigene fittliche Beſſerung, als bie Hauptbedingung der Loͤſung, 
gemahnt babe (vergl. fchon Fond —— aus d. J. 747. o. 27 


ehrung willkuͤriich 

——* und‘ Ungleichheit des Rechts entſtanden, welche zur: Ertoͤd⸗ 
tung. des Vertrauens im Wolke nicht minder beitrug, als bie Verwen⸗ 
dung ber Sündentaren zum Beſten ber Kirche, anflatt zur Erleichte⸗ 
zung und zum Troſte der Mühfeligen und Beladenen. Ducch alle diefe 
Abirrungen war der Verfall der alten Bußdisciplin fchon im 11. und 

12. Jahrhunderte entfchleden, und es tritt an ihre Stelle ern 
Juſtitut des Ablaffes, den die Kicche aus dem reichen habe ihrer 

Gnaden — (ſ. d. A.), theils die geheime Buße, welche nach dem Suͤn⸗ 
e von dem Prieſter im Beichtſtuhle aufgelegt wird. Ge⸗ 
wis if, daß im 13. Jahrhunderte in ben Sendgerichten die von welt: 
lichen ‚Gerichten bereits geflraften, ober doch zur Unterſuchung gediehes 
nen Verbrechen nicht mehr mit „öffentlicher Buße belegt wurden (vergl.. 
Benifa; VII. in o. 2. de except. in Vito. 2. 12. und bie auf 
dieſe Sri je Bepehung nehmende Blofie zum Sachfenfpiegel L 2% und 

da, a Bean GStrafrechte des Sachfenfpiegels, alle Verbrechen im welt⸗ 
lichen Berichte dann geruͤ gt werden mußten, wenn fie mit Beides. oder 
Lebensſtrafe bedroht waren, fo blieb den Gendgerichten zuletzt nichts 
übrig, als bie eigentlichen Werftöße gegen die kirchliche Ordnung und 
die leichteren fleifchlichen Vergehen, welche ger ge adezu mit Setbbufen, As 
ſtatt mit einer durch Geld ablösbaren Pönitenz, geſtraft zu werben 
Hflegten (vergl. Alex. IU. in c. 3. X. de poen; V. 37, Ueber diefen 





“0 Sirhenyudk. 


ißbrauch Magten noch ber Carbinal d’Ailly auf der Eonftanzee Syn: 
ode (bei v. A. Hardt Concil. Constantiens, I. 8. 421) und em 
Jahrhundert fpÄter die Gravamina nationis German. v. J. 1522; 
und noch im Jahre 1549 verbot Erzbiſchof Sebaſtian von Mainz ſei⸗ 
nen Suffeaganen: „Ne ungusm crimina subditorum per se aut suos 
sabstitntos mulota peeuniaria punire praesumant, sed aliis debi- 
tis et a jure constitutis poenis co&rceant (Statt. Synod. c. 77 im 
Cod. Dipl. zu Falckengtein Antiqu. Nordgaviens. im Anhange 
p. 106). — Almätig hat fid aber bie Ausübung ber geiftlichen Die: 
eiptin auf ben Beichtfluht beſchraͤnkt, Sffentliche Bußen find ganz außer 
Gebrauch gefommen, und auch die Ercommuntcation bat in fo fern 


nd die Goncurrenz der 
'dzlige zu einer Wereinba- 





Kirchenzucht. | 405 


GSeraftecht des Biſchoſs vom 3. Augufi 1829 dahin ausgeſprochen, daß 
auch ‚gegen Lalen, welche durch bebarrliche Widerfeglichkeit gegen die 
Vellziehung einer gejekmägigen Anoroniung, buch Dee, Fe 


ernſie 
behoͤebe ſelbſt wicht zur Beſſerung führen, angemefiene weitere kirchliche 
Genfusen und ſelbſt bie Excommunication ausſprechen koͤnne. Dech 
ſei Werken auf die beſonderen Verhaͤltnifſe dee Perſonen und anf bie, 
dem Bann entſtehenden buͤrgerlichen Wirkungen kiuge unb 

ſchonende Ruͤckſicht zu nehmen und bei gaͤnzlicher Ausſchließung aus 
Gemeinſchaft dem landesherrlichen Bevollmaͤchtigten vor⸗ 
Mitthelluung zu machen. Man kann vielleicht dieſer Ver⸗ 


*3* 
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der richtigen Grundlage und -auf einem Baren Bewußtſein von 
Rechte der Kirche, gegem jede ſuͤndige hat in die Schranken 
feiner unmittelbaren Bedeutung für das füttliche Leben, 


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e Schuld, in deſſen Hände nad dem Grundzuge 
en Kirchenverfafiung die Kirchenzucht gelegt iſt; zugleich 
aber. nicht vergeffen werden: bie Richtung der Beit ferbit iR 
in beren Folge das füttliche Urtheil, die abfolnte Verwerfung 
Schlechten . nicht mehr in bem Leben des Staates wie der Kirch⸗ 
herrſcht, und durch die That fi) beurkundet. Wenn in biefer Bes 
ziehung «von Stahl im der Philofophie des Rechts (II. 3. 283) ges 
fagt wird: „Die jept herrfchende Aufichnung gegen das Sittenge⸗ 
richt, gegen alle Bucht über den Menſchen in feinem Privatleben, 
bamit er Altes aus feibflerrungenem Werbienfte und ame eigenem 
Ebxelmuthe vollbringe, kommt aus der ererbten fündieen Matur bes 
| , einer Bergefienheit, bie der duarakterifiiiche "Bug 
Beitalterd iR. Allerdings fol Alles vom Inneren, von free 
(dliefung und der Liebe zum Guten felbft ausgehen; aber der Bo⸗ 
„arf welchem ſolche Entichliefung und Liebe allen if 
fehle Orbuung und Zucht”, fo wird das in dieſen Worten ent« 
große Moment ber Wahrheit auch vor benen nicht verkamnt 
werben, deren religioͤſe und philofopbifche Uebergeugung ſich auf einen 
anderen Stanbpunct geflelit bat. Im ber That, der Staat, welcher 
der Kirche bier wicht foͤrdernd zu Hälfe kommt, entäußert fich eines 
wefentlichen Cheiles feiner Beſtimmung, die. Kicche vergißt ſich ſabſt, 


zegseT 
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406 Kirchenzucht. 

wenn fie der Suͤnde im Leben freien Raum laͤßt und mit ber 
Hoffnung auf die Bekenntniffe im Beichtſtuhle und bie Uebernahme 
der in dieſem auferlegten Bußwerke fih gettöfter. Aber die Grenze 
muß gefunden werben, in der bie Kirche hier ſich zu halten hat, 
meil dann zu unertraͤglicher Priefterherrfchaft nur Ein Schritt ift. 
Afo einmal, nur bie offentundige Abweichung von dem Gebote der Re— 
—* nur das öffentliche Aergerniß rüge und ahnde die Kirche in ihrem 
en ‚te, waͤhrend fie den geheimen Sünder der Disciplin im 
Beichtſtuhle überläft; und dann, nicht Öffentliche Büßungen, gegen 
welche der Sinn aud der Beften im Wolke ſich erklärt, ſondern 
die Ausſchließung Laffe fie in den der Schuld angemeffenen Graden 
eintreten, wo bie Herzenshärtigkeit durch Ermahnung und Warnung 
nicht uͤberwunden werben Tann. Endlich erkenne fie an, baf jede 
Bucht nur da gefegnete Wirkung äußern wird, mo fie Als ber Aus- 
‚ deu des fittlichen Bewußtſeins der Edleren im Volke erſcheint, daß 
nur durch die febendige Theilnahme des Volkes ſelbſt das gemein- 
fame fittliche Bewußtſeln wieder gefchaffen werden kann, deſſen Ver— 
iuſt wir beffagen. Deshalb möge fie den Gemeinden ſelbſt eine Mit⸗ 
wirkung gewähren und ben Beſten aus diefen unter ber Leitung 
des Pfarrers die Aufficht über fittliches und religioͤſes Verhalten uͤber⸗ 
tragen. Mird fie diefe Forderungen erfüllen, dann, es iſt nicht zu 
zweifeln, aber auch nur dann wicd es gelingen, das ſittliche und 
teligißfe Leben im Wolke zu heben und den vom den Organen der 
Kirchengewalt ausgefprodhenen Genfuren wiederum Ehrfurcht zu verſchaf⸗ 
fen. Dann wird auch der Staat ihr feinen Beiſtand zu gewähren 
nicht anftehen können, und «8 wird wiederum ein einhelliges Bufamz 
menwirken nach dem einen, großen Biele ſichtbat werden, dem Reiche 


Kirchenzucht. 407 


fonoben umb Srtengerichte in der fulbaifchen Didcefe. Unter Be⸗ 
erichte und bie Bebeutung dieſer Ins 
ſtitutien fuͤr bie — des ſittlichen Lebens ** dieſelbe 
im. allen: Pfarreien bie Einführung von Pfarrſynoden und Sittenge⸗ 
richten, weiche nad) der beigefhgten; durch die Staatoregierung ges 
nehmigten Inftruction aus dem Pfarrer, dem Gaplan und einer 
entfprechenben auah! für das erſte Mal von dem Pfarrer, in ber Folge 
von von in Gemeinſchaft mit der Synode gewählter Paien (foges 
nannter Sischencenforen) beftehen follen. Diefeiben find rein kirchliche 
Anſtalten unb ſollen bas chriſtliche Leben, religiös fittlichen Sinn und 
Wandel durch ihre Aufficht und ihren Einfluß, bucch Belehren, Bits 
ten, Ermahnen, Waren und Anzeigen und Anrufen bei geiftlichen 
und‘. en Behörden fördern. Entfprechend der oben ausgeſpro⸗ 
chenen Forderung ziehen fie nur in ihren Kreis, was Öffentlich als 
Mißklang das fittlihe Leben der Gemeinde der. Zur —— 
von Strafen ſind ſie nicht ermächtigt, aber ihre Thaͤtigkeit hat im . 
dem geifllichen Gorrectionscechte bes Biſchofs, an weichen reg 
halbjaͤhrig, bei wichtigeren Anlaͤſſen fofort zw berichten iſt, ihre Uns 


biefen G@eflaltungen wenden wir uns zu der evanges 
liſchen Kirche. Bier var zumal begegnen wir einer Richtung, welche 
Kicche bie Zuchtgewalt abfprechen zu muͤſſen fich felbfl "bbertebet, 
ja das Wein der evangelifchen Kische im völlige Freiheit uiche 
bes GSlaubens und —— — ſondern auch des aͤußerlichen Le 
werden muͤſſe. Solche Aeußerungen 8* 
namentlich in dee von der Staatsregierung Beabfichtig- 
Einrichtung von Presbpterien ober Kirchenv ben entgegenges 
(vergl. Le ehmus,. Entwurf einer Presbyterialverfaſſung. Nuͤrn⸗ 
‚1821: — Kaifer, über die Presbpterien überhaupt, und ihre Ein 
führung in Balern insbefondere. Erlangen, 1822. — Fuchs, be 
ber Kircchenvorflände oder Presbpterien — mit befonberer 
Küdficht auf die psoteflantifche Kirche in Baiern. Nürnberg, 1822.— 
Bogel, —— —— Daſelbſt, 1822. — Dertel, die * 
der Herren Lehmus, Fuchs, Kaiſer u. ſ. w, 
Schrift und Vernunft, Geſchichte und Recht gepruͤft. Dafeb, 1822) 
unb es war nicht eine vereinzelte Anficht, wenn bei der erften Generalſynode 
im Jahre 1823 der Ausſchuß der Synode zu Baiteuth erklaͤrte: Pre iR. 
der peoteftantifchen Kirche, als einem Vereine felbfiftändiger M 
zum gemeinfchaftlichen Gottesdienfte unter einem feſtbeſtimmten ee 
—2 kann es weder ein Aufſichtsrecht uͤber Perfonen, noch ein Daraus 
hergeleitetes Diseiplinarftrafbefugnig geben. ben Antheil, weis 
chen Jeder an dem Äußeren Gottesdienſte nimmt, a er nur nehmen, 
um dadurch feinen inneren Gottesdienſt zu befördern, feine eigene Res 
—— wo möglich zu berichtigen und zu beleben. Thut er - 
‘+ biefes. nicht, fo mn! er dieſes bei feinen Gewiſſen verantworten. Es If 
nicht bie Sa | er  Mitgenofien. Dean er die Weranflaltungen, 





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Srbnung und Bucht haben zu Schulden kommen laffen, den melt- 
lichen Kom der ae zur Handhabung ber —— zu 
Hülfe rufen, 9: zen gegen bie Diener: ber Kirche ſteht derfelben 


weiche bie Kicche.ihre® göttlichen Moments entkleidet , indem fie dieſelbe 
lediglich aus dem Geſich einer aus freiem Willensact ereichteten 
5* bettachtet. ie haben bier auf dieſe troſtloſe, nun zum 

® von Vielen fehon uͤberwundene Anficht nicht noch einmal einzu⸗ 
geben; wohl aber müffen wir ausdruͤcklich bemerken, daß auch bie Bes 
tenntniffchriften , und zwar nicht nut die reformicten, als beren chatak- 
teriſtiſches Unterfcheibungszeichen diefes oft betrachtet wird , fondern auch 
die tutherifhen das —— ausſprechen daß der Kirche gegent offen⸗ 
kundige und unbußfertige Sünder die geiſtlichen guchtmitiel zuſtehen 
(Scmalt. Art. IX.), alſo der Bann, nicht die Buße im Sinne der 
fpäteren Eathotifhen Kiche, gegen welche das evangelifce Bernuftfein 
vom Anfange reagirt hat. Im der That beruht auch die Eincihtung 
der Gonfiftorien aundchjt auf diefer € ‚Extenntniß, amd im alten ‚Ölteren 








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410 aleinkinderſchulen. 


und dadurch verhindert werben, ihren unerwachſenen Kindern bie er⸗ 
forderfiche Sorgfalt zu widmen. Die Kleinkinderſchulen follten foldyen 
Eitern ein ficherer Port, ein Aſyl für ihre Kinder twährend ihrer Ab: 
wefenheit von Haufe fein. Aber regelmäßig hat man nun biefe wohl⸗ 
thätigen Anftalten auch den Kindern folher Eltern geöffnet, welche 
durch ihre Arbeiten verhindert find, die gehörige Aufficht über dieſelben 
zu führen, wenn auch die Eltern ihre Arbeiten im Haufe felbft ver- 


richten. 

Die Kieinkinderſchulen beabfichtigen ihrer Natur nach keineswegs 
eine birecte Unterflügung der Eitern in Bezug auf bie Erhaltung ihrer 
Kinder, und koͤnnen nicht ald Armenanftalten der gewöhnlichen Art an⸗ 
gefehen werden. Die Aufnahme beſchraͤnkt ſich dAher regelmäßig nicht 
auf bie Rinder armer Eltern, fonbern fie findet auch für ſchutdeduͤrf⸗ 
tige Kinder bemittelter Eitern Statt. Daß in fehr vielen Sällen hier⸗ 
durch bewirkt werden wird, was durch die gewöhnliche Armenpflege er⸗ 
reicht werben foll, iſt nur zufällige wohlthätige Folge ſolcher Anfalten. 
Bon höherem Intereſſe erſcheinen ihre Leiftungen: I) für die Kin: 
der ſeld ſt durch die fruͤhzeitige Angewoͤhnung zur Orbnung und Rein» 
lichkeit; durch bie ungeftötte und Beinen nacıtheiligen Einflüflen unter 
worfene Entwidelung und Ausbildung ihrer Törperlihen Kräfte; durch 
die Entfernung von dem böfen Beiſpiele roher aͤlterer Geſchwiſter und 
Spielgenoffenz; durch einen flilen freundlichen Anreiz zu Gehorſam, 
fittlichen Vetragen und zu einer ihren Kräften angemeffenen Beſchaͤf⸗ 
tigung; durch die Bewahrung vor dem Zufalle der Gefahren, denen 
dee Mangel an Aufficht bie Kinder fo leicht ausfegtz durch Bildung 


zum gegenfeitigen Wohltwollen und zu einer vertrauenvollen Lieber gegen 





aleinkinderſchulen. al 

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ober, boch darum 

Dies gefunde, ae ii pn nicht 


einer 

——— — —— S dh —— 
umb foldhe, weiche wegen Schwaͤche oder Kraͤnklichkeit nicht ohne Bes 
fahr über bie —2* gebracht werden duͤrfen, regelmaͤßig der Aufnahme 
nicht faͤhlg find. Wenn bereits aufgenommene Kinder erkranken, ſo 
bleiben Teiche Dit zu ihrer Wiederherſtellung · lediglich ber Pflege ihrer 


menen: Audern, bei'welchen eine autkranfheit fich zeigt, in fo fern 
die Beſtimmung des untsefuhenden gruree "dahin lautet. Begreifli 
Belle find von der Aufnahme in Kleinkinderſchulen alle Kinder aus: 

gefchloffen,, die an anfteddenden Hautkrankheiten leiden, und von benen 
nicht :beftinumt nachgetwiefen werden Bann, daß fie bie Dienfchenblattern 
gehabt Haben ober mit Erfolg vaccinirt worden find. Ueberall wirb 
wohl — und mit Recht! — keine Ruͤckſicht barauf genommen, zu 
weichen Glauben ſich die Eltern befennen, und ob die Kinder chellche 
—— find. 2 Die Zeit bes Auszeit ber Air a Kleins 
kinderſchulen wird dann eintreten,‘ wen fie die geſetzlichen nücen Bcraljahee 


fen bat man —8 darauf Bedacht genommen, oder follte es 


ihnen dann bafelbft ber mia Unterricht wie in ven Rädtifchen 
Schulen ertheilt werben, unter Ueberwachung befielben Seitens ber 
— und von ihr vorgenommener öffentlicher Pruͤfung dieſer 


En in Steintinderfchulen zugelaffenen Kinder werben barin vor 


er — — und a ann Io ci malt voßs 
Berhdfichtigung ih zarten ohne 5* 
chraͤnkung ihrer freien koͤrperlichen Bewegung. Man wird fich aber 





413 Meinäinberfihuten. 
lendern faſt nur ſpielend ga verfahren 





zu gründen. 

Die Kleinkinderſchulen werben für biejenige Beit des Tages geöff« 
net fein müffen, für welche ihre wohlthaͤtige Wirfamtet beftimmt if; 
alfo während ber Monate November bis Februar Morgens um 7 
Ude, in ben Monaten März, Apcit, September und Detober Mor: 
gens um 6 Uhr, und im den Monaten Mai dis Auguft Morgens um 


Die Schule tird in den Sommermonaten länaftens um 7 


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44 Sieinfinberfehulen, 
Local, ber Gehalt des Lehrers, der Auffeherin und ihrer drei Gehäl⸗ 


finnen xc. 

So viel uͤber Natur, Bedeutung und Einrichtung ber 
Kleinkinderſchulen. Es iſt ſich dabei abfichtlich zunächft an eine beutfche 
mittlerer Größe gehalten worden, melde ohne fehr anfehnlidhe 
Unterftägungen body ſchon daran hat denken dürfen, ein eigenthuͤm⸗ 
liches Haus buch Ankauf fi zu verfhaffen, und (allerdings unter 
der Obhut trefflich forgender Männer und Frauen) ausgezeichnet gedeiht. 
Sie wird am Leichteften als Anhaltspunct bei ber tung ähnlicher 
Anftalten dienen innen. Aber auch die Gefhidhte der Kleinkinder⸗ 
ſchulen bietet intereffante, für deren Gründung und Einrichtung eben- 
falls Höchft wichtige Momente. Wie der menfchenfreundiiche Binzendorf 
feine Fürforge ſchon den Kindern zumanbte, die noch unter dem Her 
zen ber Mutter lagen, fo nahm Rouſſeau fi der Säuglinge an, bie 
fremden Ammen übergeben waren, und trug fie zurüd auf der Mutter 
Schooß. Um biefelbe Beit wurden in Holland an einigen Orten foge: 
nannte Spielfhulen für die einen Kinder errichtetz der eble Pfarrer 
Oberlin im Eiſaß und fpdter die großherzige Fuͤrſtin Pauline zu Lippe⸗ 
Detmold (1802) gründeten ähnliche Anftalten, in denen bie Kinder 
der Eltern, die dem Broterwerb nachgehen mußten, Pflege und Unter- 
richt in den Anfangskenntniffen fanden. Der Gedanke ſprach an, und 
es wurden (feit 1824) in England, Deutfchland, Scankreih, Belgien, 
der Schweiz, Ungam, Dänemark und Italien eigentliche Kleinkinder ⸗ 
ſchulen "eingeführt. Die Gründung von Kleinkinderſchulen in Maffe 
und nad) würdigen Begriffen iſt eine Ehre, welde vorzugsweiſe den 
Engländern gebührt. De. auch ‚ jenfeit des atlantiſchen Sceans, in 

1 ii Bi 





gleintinderſchulen. 415 


Staus (dames —— Dieſer Ausſchuß ernennt dann noch 
eine von, ihm zu beſtimmende Za bt Dom auffehenben Frauen —37 


‚um jenes 
hoͤchſt wuͤnſchenewerth fel, wenn für bie Kinder, bie nach. Vellendung 
bes Tuch Jahens — | und ander 


len — 1807 beabſichtigten der Localwohlthaͤtigkeitsverein und 
die Privatgefellichaft freiwilliger Armenfreunde in Stuttgart, ein neues 

Gebaͤude deſelbſt —— das zugleich die noͤthigen Räume ent: 
. halten follte, um chule den unteren Theil der 
Stadt darin aufzunehmen. — 78* nämlichen. Sabre errichtete eine An⸗ 
zahl von ‚rauen in Münden, die regierenbe und die verwittwete Koö⸗ 
nigin an ihrer Gpige, in ber Vorſtadt Au eine Kleintinderbewahren: 
kalt, unb ein Ausſchuß von 0 Frauen machte ed.fich zur Pflicht, ab» 


je 
ficht uͤber fie u führen. Diefeb war bis bahn 6 die vierte Anftalt dies 
nchen zu Beſtand und Biäthe gekommen, und 
den angrenzenden Ortſchaften — und Gieſing waren aͤhu⸗ 
che Anſtaiten im Gange. — Zu Brescia endlich, wo 1057 eine'sola 
d’asilo — * 170 Kinder aufgenommen, war mit Anfang 
eine zweite geflifter worden, bie febr bald 70 Pfleglinge ber 


Achalich anderwaͤrts. Der Friedenszuſtand, hoͤchſt üblicher Wohl⸗ 
thaͤtigkeltoſtan, bie guͤnſtige Lebenslage vieler Einzelnen und ba und 
dort aus dem Mangel ſolcher Anflaiten auftauchendes furchtbares Uns 
gluͤck waren der Errichtung derfelben guͤnſtig. Jedem politifchen Mei⸗ 
nungelampfe entnommen, von Oben und Unten gern gefehen und bes 
fördert, pflüdten fe blos die Bluͤthe der geiſtig erregteren und mate⸗ 


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Stöften, 47 
der Aemuth/ Keuſchheit und des. Gehocſams gegen die Dedens· oder 
Kiofteroberen, 


lahin HERTe weine Busiennn —— dm Ge 
I E * 
bieten der Seelſorge, des Diffiensmefens, ‚bye Erziehung, Armen 


TEH 


ober ung. 9 
‚Bei der ungemein ausgedehnten Elnvirkung, welche das Kloſter⸗ 
‚oder, was hier daſſelhe iſt, das Mindhswefen mwährmd 
Jahrtauſenben oder Wehe nur mancher Millionen 
feines ‚unpnittelhauen ‚Angehdeigen, fonbern der 
felsen malt neuerdings vergrößerte Eifer baräher wieber vorgebracht wer⸗ 
wornach die Einem diefer- Inflitutien unſchatbare Werbienfie wähe 
ber Wergangenheit. beieneffen und in. ihe ein hauptfäclices Mit 
dee Heles fs die Bufuufe erbliden,. die Mnbeven aber nicht 
fine. amgeblichen. Wexbienfe maps »adex- minder ls überiääut oder 
gang erdichtet halten, ſondern ImSbafonbere ein’ Möieberherfielen des 
Monqhthums als durchaus, Schaden bringenb, darum vermerflich, wehl 
im. Wefentlichen auch als ‘gar nicht mehe möglich anfehen — bei dies 
ſer Sachlage, fagen wir, duͤrfte 6 ſewohl far Diſſenfchaft als prak⸗ 


der Religiofen ſeibſt, als auch der Gefammtheit, des Sta⸗es, 
ya Menfchheit; 4); die Erörterung : ber Brage,. ob 
ufhebung diefer Iaftitute berechtiger fel. 
or 1. Befhintliher Ueberbijd bes. EntKehens und 
ber, Ausbreitung bes Mönhswefene — Beben 
fern des. Alterthums, den Griechen und den Römern der 
lichen ‚Zeit, finden wir. feine Spur einer mit dem Möndchume 
wandten Einrichtung. Dagegen bietet uns das greuelvolle Pin! 
(ferden Art, „Bramanen“ im 2. Bte S. 6P1— 706, beſonders 
Be in —— und Gyun damit veri audte 
ſcheinui dar. Dieſe ihrem ganzen en ach. 6 ſehr 
————— — mochte bei-Wielen in 
‚sen jenen, duſtern, der. ganzen. Natur Hohn ſpeechenden, 
wildeſte Raſerei qusartenden Fanatismus erwecden, welcher ui 
Staat » &erikon. IX. Paar : | 


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418 Aloͤſter. 

bar bie u Selbſtvernich⸗ 
pr ——— —— — 
— — ve. 
daß der Wahn: durch {A on Wehe 


durch 3 Senn ER en re we 

ei en welter anftedend, 

= ji dh den‘ den dir "Pikwimterss ——— 

Bay, — menen⸗ u 3 airabifchen teibens zu 
Wie dont * bas Ehei — — = 

Möncsnefen; BR u Sm mn ums Be. 

— en; —— len von Äh, gibt Aegndne 

ii 6 ‚Stiftun. . Iahehundert 

aber peak Bd — Tang t das Gpeiftenchum 





einer nicht gu (cilbern 
Be — 
ander ji 
uchſten au morden und zur VERLORENEN in jener Epoche, 


Klöfter. 419 


waren, fo müßte man bie auf uns gelommenen Angaben von ber Ver: 
mebrung ber Mönche und Nonnen gleich in den erften Decennien nad, 
dem Auftreten bed Antonius, befonders aber unter feinem Schuͤler 
Pachemins, wo nicht für eine reine Exbichtung, doch ‚jedenfalls für 
eine Uber alles Maß hinausgehende Mebertreibung: halten. - Die Rilinfel 
Tabenna, amf welcher Pachomius feinen Hauptſitz aufgefhlagen, fol 
mehrmals (au Ofterfeſten) der Wereinigungspunct von ungefähr 50,000 
Moͤnchen und Monnen geweſen fein. j 

Alsbald aber breitete ſich das Moͤnchsweſen weiter und weiter aus. 
Es fand, durch Athanaflus daſelbſt eingeführt, ungeachtet des Anfangs 
erregten Ekels und Abfcheues, bald in der Stadt Rom ſelbſt Eingang 
und Nachahmung (fchon im Jahre 341); überdies, theil® zuvor ſchon, 
theils in der naͤchſten Bolgezeit, in Palaͤſtina, in Pontus und in 
Gallien (zwifchen 328 und 370); bald aber aud in allen anderen 
Theilen des römifhen Weltreichs — Der glei unmittelbar nach 
feinem Tode (im 3. 379) als Deiliger verehrte Baſilius war es, 
welcher die erften Geſetze und Regeln für die Kloͤſter verfaßte. 

. Die Mehrzahl der Mönche, zumal in Aegypten, wo fie weitaus 
am Zahlreichſten waren, befland aus Leuten aus den tiebrigften Stän- 
den; aus armen Bayern, Dirten, verachteten Handwerkern und Skla⸗ 
ven. Sie hatten im Ganzen wenig zu entbehren, ja Viele von ihnen 
mochten als Moͤnche, frei von Arbeit, noch ein bequemeres Leben füb: 
sen, als ihr vorhergegangenes geweſen war*). Wer ſich ber immer 
unerſchwinglicher werdenden Laſt der Auflagen, den mannigfachen Be⸗ 
druͤckungen, oder auch den Gefahren des Kriegsdienſtes gegen die das 
Reich unausgeſetzt anfallenden Barbaren entziehen wollte, flüchtete ſich 
in ein Kloſter; „ganze Legionen begruben ſich in dieſe heiligen Zufluchts⸗ 
oͤrter“ (Gibbon), zum augenſcheinlichen Nachtheile des Staats, deſſen 
Vertheidigungsmittel an Mannſchaft und Geld dadurch ſehr bedeutend 
62 wurden. Hier, in den Kloͤſtern, waren ſie nicht nur vor 

ahrungs⸗ und andern derartigen Sorgen — obwohl zum unmittel⸗ 
baren Nachtheile des Gemeinweſens — geſichert, ſondern es umgab ſie 
in dieſer Lage auch ein ſolcher Nimbus, daß z. B. Chryſoſtomus kein 
Bedenken traͤgt, in einer‘ witzig fein ſollenden Vergleichung zwiſchen 
einem Könige und einem Moͤnche geradezu vorauszuſetzen, ber Erſte 
— ya Sarger belohnt und firenger beflzaft werden, als der 

te? 
Aber nicht allein durch foiche Lebensverhaͤltniſſe, ſondern auch durch 
mannigfache andere Veranlaſſungen wurde die Zahl der Religiofen uns 
gemein vermehrt. „Die bei dem Wolke beliebten Moͤnche,“ fchreibt der 
große Geſchichtoforſcher Gibbon (History of the Decline und Fal 


*) Der tier, ber ben ins tabelte, ab, da 16 Md in 
—** een Ye, benn —— (G. ne? M&moires ae 
slastiques tome XIV.) 

5 Lib, IU. 


27* 


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2 I» rei 
—— ee —* en Hieronpmus nicht en, 
der profaine — germutter Gottes’ vet ·⸗ 
* diefes ihn ch — ſchaft ihrer Tochter dem 
— — ee ln — 


Kama, ci 6 Ba, inte fh ein 

Theil der Binde, de © Strenge der Diseiplin insgehelm zu mildern **), 
* BET ganz zu verlegen. erſt im Be fondern gleich 
eim Beginne des —— finden wir "für diefen Satz. 
Shen die 6. allgemeine Kicchenverfummlung (das fogenannte Quini- 
sextum in’ Trollo) nöthig, den MWeibern zu unterſagen, die 
Nacht in einem‘ und eben ſo den ——— ‚in einem 


2, mie (Pieijenverfammbung veranlaße, die. Grihkang doppeiter 
eritmun Stiher Air ande Befhiehte mu omsimenn Allen 16 


Klöfter. 421 


immer weiter zu treiben. Sie erlagen unter der drüdenden Lafl von 
Kreuzen und Ketten; ... mit Verachtung warfen fie alle Kleidung von ſich, 
und einige wilbe Heilige beiberlei Geſchlechts, deren nadte Körper von 
nichts als ihren Haaren bebedit wurden, erregten bie Bewunderung 
bee Welt! Sie gingen darauf aus, fich in jenen rohen und elenden 
Zuſtand zu verfegen, in welchem ber Thiermenſch fi) kaum über feine 
vierfüßigen Mitbruͤder erhebt: und es gab eine zahlreihe Secte von 
Anadyoreten , die ihren Namen daher trug, daß ihre Angehörigen fich 
nicht fchämten, mit der gemeinen Heerde in den Gefilden Mefopota- 
miens zu Grafen (die Bosxol oder grafenden Moͤnche). Sie nahmen 
oft von bem Lager irgend eines wilden Thieres Beſitz, dem fie ſich 
gleichzuftellen fuchten ; fie begruben fich in irgend eine Höhle, die 
Kunft oder Natur in dem Felſen gebildet hatte. Der .Anblid eines 
Achten Anachoreten erweckte Abſcheu und Ekel; jede Empfindung, welche 
den Menſchen zuwider ift, warb für wohlgefällig in. den Augen der 
Gottheit gehalten. Selbſt die ‚‚englifche” Regel von Zabenna ver: 
warf die heilfame Gewohnheit, den Körper mit Waſſer zu reinigen’ *). 
— Manche erfannen ſich Acht fakirartige Bußuͤbungen, wie der heilige 
Simeon, der 30 Jahre auf einer Säule zubrachte. Es ward für ver: 
dienftlich gehalten, wenn der Moͤnch feine Verwandten — eine zaͤrt⸗ 
liche Schweften oder bejahrte Eitern — durch hartnädige Verweigerung 
eines Wortes oder eined Blickes betruͤbte. (Der aͤgyptiſche Moͤnch 
Dior erlaubte zwar feiner Schwefter, ihn zu fehen, hielt aber während 
ber Dauer des Befuches feine Augen feft gefchloffen.) 


Nicyt völlig in gleicher Weife wie im Driente, entwidelte fi, das 
Moͤnchsweſen im Decidente.e Sind die Bewohner des Abenblandes 
ohnehin am fi ſchon weniger leicht in gleihem Maße, wie bie Orien⸗ 
talen, zu fanatificen **), fo machte auch fchon das rauhere Klima manche 
jener fonderbaren Bußuͤbungen unausführbar. Benebict von Nur: 
Tia (geboren um das Jahr 480, geftorben 543) war es, ber im 
Abendlande die erfien Regeln für das Kloſterweſen feſtſetzte. Sie er 
Iangten hier fchnell allgemeine Geltung, und man traf bald in ganz 

efteuropa Seinen anderen, als den Benedictinerorden. Venedict war 
es auch, ber die förmliche Verpflichtung auf bie drei allgemeinen Klo: 


95) GSibbon, im 37. Capitel ſeiner Geſchichte des Sinkens und Falles 
des roͤmiſchen Reiches. — Die Schweſter bes Rufin, Silvania, welche zu Je⸗ 
ruſalem lebte, iſt in der Kloſtergeſchichte berühmt: 1) weil fie fünf Millionen 
Zeilen in den Schriften ber Kirchenväter geleſen; 2) weit fich dieſe reine Seele 
in einem Alter von 60 Jahren rühmen konnte, daß fie nie ihre Hände, ihr 
Gefiht oder fonft irgend einen Theil ihres Leibes gewafdhen habe, ausgenom: 
men die Kingerfpigen, um bie heilige Gommmunion zu empfangen. 

**) Die ftärkere Eßbegierde der Gallier machte es ebenfalls unmoͤglich, es 
ben Aegyptiern an GEnthaltfamkeit in der Nahrung gleichzuchun. Auch be; 
klagte es Benedict, daß er feinen (occibentalifchen) Mönchen täglich eine roͤmi⸗ 
fhe hemina Mein zugugeftehen fich genöthigt gefehen habe, 


Kloͤſter. 423 


guſtinus diejenigen, welche behaupteten, die Ehe der Religioſen ſei 
nicht eine Ehe, ſondern ein Ehebruch (de bono viduitatia Cap. 10). 
„Dieſe unbeſonnene Behauptung,“ ſagt er, „kann großes Uebel ſtiften. 
Indem man verlangt, daß dieſe Frauen in ihre Kloͤſter zuruͤckkehren, 
macht man aus ihren Gatten wahre Ehebrecher, indem man fie er: 
mädhtigt, während des Lebens ihres erſten Weibes eine zweite Ehe ein: 
zugehen. Ich kann daher nicht beiftimmen, daß ſolche Verbindungen 
feine Chem fein.‘ 

Dos Coneitium von Chalcedon verbietet mar denen, welche Pro: 
feß gethan, das Eingehen der Ehe bei Stenfe ber Ercommunication; 
doch Eonnte der Biſchof diefe Strafe erlaffen. Das Concil felbft er- 
MAärt die: Ehe keineswegs als nichtig; es verfügt nicht, daß fich die 
Gatten einander verlaffen müffen, fondern untertoirft nur den fchulbi: 
gen Theil den kanoniſchen Strafen, von welchen überdies ber Biſchof 
gleichfalls zu dispenſiren ermächtigt ift. 

Erſt Gregor IX. war es, welcher zu Anfange des 13. Jahrhun⸗ 
derts verfügte, daR die Meligiofen aus dem Kloſter weder austreten, 
noch daraus fortgefhidt werden koͤnnten. Obwohl dieſer Grundſatz 
Anfangs lebhaft beſtritten ward, erlangte er doch in der Kolge unbe⸗ 
dingte Geltung, und es flimmten ſeitdem alle kanoniſchen Geſetze dem 
Princip der Irrevocabilitaͤt der Kioftergelübbe bei. 

4) In früherer Zeit verzichtete auch der Mönch oder die Nonne 
nicht auf das Privatvermögen. Nachdem Kaifer Zuftinian, mie oben 
bemerkt, im Jahre 532 den Austritt aus dem Kloſter verboten hatte, 
verfügte er durch ein nachfolgende® Decret die Confiscation desjenigen 
Vermögens bes Fluͤchtlings, welches zer zur Zeit dee Entweichung be⸗ 
feffen hatte, zu Gunſten bes beteffben Kloſters. 

5) Was die eigenthuͤmliche Kleidertracht der Moͤnche be: 
trifft, fo ward ein phantaſtiſcher Anzug zwar vielfach durch Schwaͤr⸗ 
merei, durch Eitelkeit ſich auszuzeichnen, und durch Aberglauben erſon⸗ 
nen, — nicht ſelten aber wechſelte er auch blos nach den befonderen 
Verhaͤltniſſen des Himmelsſtriches und des einzelnen Landes. So ſah 
man namentlich im Oriente die Moͤnche bald in das Schaffell bes 
aͤgyptiſchen Bauern, bald in den griechiſchen Phitofophenmantel gehuͤllt. 
In Aegypten mar ihnen ber Gebraud) der Keinwand, als eines wohl: 
feiten einheimifchen Productes, erlaubt, während ihnen biefelbe in ben 
Abendländern, als eine theuere auständifhe Waare, als Lurus ver: 
boten warb. 

6) Der unbedingte Gchorfam, melden Möndje und Nonnen 
ihren Oberen zu leiften verpflichtet waren, wurde duch Strafen auf: 
recht erhalten, die mit der Rohheit jener Zeiten im Einklange flanden. 
„Die Handlungen des Möndys, feine Worte und felbft feine Gedanken 
wurben durch eine unabänderliche Ordensvorſchrift, oder die Yaune feine® 
Vorgefesten beſtimmt.“ Die geringfte Webertretung zog Schande und 
Strafe nach fih. „Die in ben Abendlaͤndern weit verbreitete Regel bes 





424 Kiöfter. 


Columbanus beſtimmte 100 Geifelhiebe für ſehr unbebeutende Ver⸗ 
gehungen. Vor ben Zeiten Karl’6 bes Großen erlaubten fid die Achte, 
ihre Mönche zu verſtuͤmmeln, oder ihnen die Augen ausſtechen zu laffen; 
eine Strafe, die aber nod) lange nicht fo graufam war, als das fpätex 
aufgelommene ſchreckliche Vade in pace — das unteritdiſche Befäng- 
niß oder Grab, in das man fie oft einmauerte.” (Bibbon.) 


Der Benedictinerordben verbreitete fi) ungemein. Die Moͤnche 
erlangten einen ungeheueren Einfluß in allen Vorkommniffen des Lebens. 
Mehr und mehr brachten fie auch das Exziehungswefen faft ausſchließ ⸗ 
lich in ihre Hände. Wie aber ihr Wirken in dieſer Beziehung war, 
davon gibt die in jenen Zeiten allgemein herrſchende Rohheit und Un: 
wiffenheit wahrlich kein ehrenvofe® Zeugniß. Sie gelangten überdies, 
befonder® in Zolge des Aberglaubens und ber Geiftebefchränktheit, der 
Vornehmen nicht minder als der Menge des Volkes, oft unter Be: 
nugung der unntgealifheften und gehäffigften Mittel, zu enormen Meich- 
thümern. Dadurch wurden um fo mehr Mißbraͤuche und Ausſchwei⸗ 
fungen aller Art begünftigt. Die Gittenlofigkeit feste fich ſehr frühe 
in einem Saum glaublihen Maße in diefen Inſtituten fefl. (Näheres 
datuͤber in ben folgenden Paragraphen dieſer Abhandlung.) Die Fürs 
ſten und bie anderen weltlichen Großen, bie fo oft den ſchlauen Möns 
hen zum Spielball dienen mußten, benußten ihrerfeits die Miöfter auch 
mieber zu mandherlei nicht zu vechtfertigenben Zwecken. Es war etwas 
Gewoͤhnliches, daß die Hertſcher ihre befiegten Gegner, oder die Bor: 
nehmen, überhaupt ihre Verwandten (befonders die Nachgeborenen ihres 
Gefcjtechtes). kurzweg in die Convente ſteckten. ‚(Man erinnere ſich in 
erfter Beziehung nur des Verfahrens Pipi— d Karl 
De& Großen.) uukerd bie Hsreich 





Klöfter. 425 


müffe *). Diefe Anflalten mußten von Anfang an Bereinigungsorte 
der unwiſſendſten Menfchen, Hauptfitze jeglicher Beſchraͤnktheit und des 
allergraſſeſten Aberglaubens merben ; : Vereinigungen von Leuten, tie 
man fie von gleicher Unwiſſenheit ſchwerlich auf andere Weiſe hätte 
zufanımei tönnen. 

Zuletzt entſtand ber furchtbare Jeſuitenorden (f. den Artikel ‚Ie 
fuiten‘‘). 

Das Licht der Aufklärung, welches fich nach ber Erfindung ber 
Buchdruckerei wieder mehr und mehr zu verbreiten begann, Tonnte un» 
möglich dem Kloſterweſen Mugen bringen. Der erfte Schlag warb aber 
durch die Seformation und in Folge berfelben wider jenes Inſtitut 
geführt. Die weltlichen Herrſcher fanden es um fo zuträglicher, die 
Grundſaͤtze der neuen Lehre hierüber anzunehmen, je größer die von den 
Kıöftern angehäuften Reichthuͤmer waren. Eine Menge Convente 
der verfchiedenfien Orden wurden in den proteflantifhen Ländern auf: 
gehoben. Indeſſen läßt es fidy doch nicht verdennen, daß deren Ber: 
mögen faft fämmtlich den Alteren oder (meiſtens) neu gegründeten 
Bildungsanflalten als Dotation zugewiefen, Weniges nur uns 
mittelbar zu Staatszwecken verwendet ward. 

In den fämmtlihen katholiſchen Ländern befanden inbefien die 
Kiöfter, obwohl bald vielfady mit ſehr geſunkenem Anfehen, ungehindert 
fort, bis Kaiſer Joſeph, kuͤhn voranfchreitend mit dem Geifte der 
Zeit, verfchiedene Orden in den äfterreichifchen Staaten ganz aufhob, 
andere weſentlich befchränkte und insbefonbere viele hundert Convente 
fäcularificte. Ä Ä 

Viel entfchiebener aber trat bie franzoͤſiſche Revolution auf. Schon 
im Februar 1790 decretiree bie Nationalverfammiung: „Das conflitu: 
tionefle Geſetz des Königreichs erkennt keinerlei Kloftergelübde an: bie 
religiöfen Orden und Songregationen find und bleiben daher in Frank⸗ 
reich aufgehoben, ohne jemals wieder eingeführt werden zu innen.” — 
Die Kloftergüter wurden zu Rationalgütern erklärt, den Angehörigen 
diefee Inſtitute aber lebenslängliche Penſionen ausgefest, doch bei dem 
bald eingetretenen allgemeinen Geldmangel nur felten wirklich entrichtet. 

Dem Beifpiele Frankreichs ahmte man in der Folge (obwohl nicht 
mit gleicher Ausdehnung und Strenge) in vielen anderen Ländern nad; 
fo 3. 8. in-Oberitalien; unter dem Miniſterium Montgelas in Baiern; 
unter König Joſeph's Regierung und fpäter unter ben Cortes in Spa⸗ 
nien ; 1810 in Preußen ; dann in Rußland, wenigſtens bezüglich ber 
kathollſchen Kloͤſte. Doch wurden nur in Baiern dieſe Sinftitute 
ſaͤmmtlich mit einem Schlage wirklich aufgehoben. 


*) Selbſt das Kioftergebäube ſollte nicht bas Eigentfum ber Anftait fein, 
fonbern es follte biefer nur eine Art RNutungsrecht zuftehen, fo lange der 
wahre Gigenthümer,, nämlich der päpftllihe Stuhl, nicht anders barüber 
verfüge! (Wenn man heute irgendwo auf Staatskoſten Mendicantenkloͤſter wie: 
derherſtellt, bärfte auch biefer Unſtand gu beachten fein.) 


öfter. 427 


- den, unwirthlichen und wenig oder gar nicht bewohnten Gegenden, und 
fobann vor Allem die Erhaltung geiftiger Cultur, insbefondere bie 
Aufbewaleung dee Ciaffiter bes alten Griechenlands und Roms — 
BVerbienfte, bie allerdings als in hohem Grade wichtig und preiswür- 
dig anerkannt werden müjfen, wenn biefe Anfprüche ſich vor einer 
fritifhen Prüfung, zumal in der gewöhnlid angenommenen Ausdeh⸗ 
nung, als ber Wahrheit gemäß erproben. 

a) Die angeblihen Verdienfte der Mönche um Ur—⸗ 
barmahung des Bodens. Begreiflicher Weile waren die Mönche 
nicht in allen Ländern im alle, den Boden erſt urbar machen zu 
müffen. Als das Moͤnchthum in Aegypten auflam, mar das dortige 
Land, unter der civilifirten Herrſchaft der Römer ftehend und von 
feinem auswärtigen Keinde angegriffen, fortwährend in einem culti⸗ 
vieten Zuſtande. So auch in anderen Gegenden, und zwar des Oe⸗ 
cidents nicht minder als bes Orients. 

Hauptfächlich foll man nun den Mönchen ben Anbau des Bodens 
in Deutfhland in ben erfien Jahrhunderten nad) ber Voͤlkerwan⸗ 
derung zu verdanken haben, und dieſes ift ſonach der Punct, den mir 
hier unterſuchen muͤſſen. 

Wir koͤnnen abſehen davon, daß ſelbſt Tacitus ſchon Deutſchland 
als ein fruchtbares, mit Fluren, nutzbaren Waldungen, großen um: 
zaͤunten Höfen und Ackerfelbern bedecktes Land ſchildert. — Die Cultur, 
welche in allen von den Roͤmern beſeſſenen Gegenden beſtanden hatte, 
zumal am Rheine, dem Lech, dem Inn und der Donau, vermochte 
gewiß nie gaͤnzlich vernichtet zu werden; die fremden Eroberer nahmen viel⸗ 
mehr, wie wie aus mannigfachen Zügen wiſſen, gar Vieles von den Sit: 
ten und Einrichtungen der Befiegten an; und mo bie alten römifchen Colo⸗ 
nialftädte, ungeachtet einzelner momentaner Zerſtoͤrungen, fortbeflanden 
(Coͤln, Trier, Mainz, Speier, Straßburg, Augsburg, Regensburg, Satz: 
burg und zahllofe andere), da Läßt fi wohl gewiß nicht annehmen, dag 
ber Boden des ganzen Landes unurbar und zu einer Wildni geworden, 
und in biefem Zuftande, bis zum Emporlommen ber Kloͤſter, fo ge 
blieben fei. Auch iſt es wirklich hiſtoriſch erwieſen, daß der beſſere Bo⸗ 
denanbau zuerſt in der Umgegend der Staͤdte Statt fand (ſ. Nic. 
Vogt's rheinl. Geſchichte J. 437, und Sophronizon von Pau⸗ 
(us, VII. Bb. 3. Heft. ©. 22 u. 23). 

As nun das Moͤnchthum Eingang im Herzen von Deutfchland 
fuchte und fand, trafen feine erften Einwanderer felbft dort ſchon glän- 
zende Hofhaltungen der heidnifchen Fürften diefer Gaue, große Her- 
z0g6pfalgen, auch Städte, Flecken und Dörfert). 

„Set erſt erfolgten alimälig die meiften und wichtigſten Stif: 
tungen dee Kiöfter, und zwar weit feltener in ben milden, als gerade 





*) Nähere Nachweiſungen, befonders in Beziehung auf Batern, in dem Auf: 
fage des geiftreichen Ritters von. Lang: „Maren bie Kiöfter Wohlthäter 
Deutfchlande 3” im 7. Bande, 3. Heft bes Sophronizon, Seite 3 und 4, 


Kloͤſter. 429 


. Allein bei der Frage: ob das Moͤnchsweſen ber Cultivirung bes 
Bodens Nusen brachte, kann der Umſtand überhaupt am Weniaften 
entfcheiden, ob etwa ba ober dort ein paar Morgen Landes wirklich 
durch Kloſterbewohner angebaut wurben ober nicht. Es kommt vielmehr 
zunaͤchſt darauf an, welche Wirkung bie Eriftenz eines Kloſters auf 
den Bodenanbau feiner Umgebung im Ganzen hervorbrachte. Und 
hier findet dann ber unbefangene Beobachter ein ſolches Ergebniß, daß 
er unbedingt antworten muß: jene Wirkung mar eine im hoͤchſten 
Grabe ſchaͤdliche und verberbliche ! 

Wo einmal ein ſolches Kiofter beftand, mußte ringsum alles freie 
Privateigenthum verfchwinden. Schon Karl der Große wirft dem 
Aebten (in einem GCapitulare vom Jahre 811) vor: fie fucten Ge 
fegenheit an ben armen Dann zu kommen, ber ihnen fein Eigenthum 
nicht freiwillig überlaffen wolle, indem fie ihm fo lange die fchwerften 





Orden (fonah mit Ausfchluß ber ohnehin bier nichts bewelfenden neueren, 
und eben fo der Ronnenklöfter). 

A) Benedictinerkloͤſter: 1) Limburg, die glänzendfte und reichfte 
Abtei in unferem Lande, war das Refibensfhlod eines Kaiſers (Conrad's II.) 
geweſen und von biefem den Mönchen überlafien worden; — 2) Hornbad, 
einft ein gräfliches Jagdſchloß, das ber heilige Pirmin zum Gefchente zu er: 
halten wußte, indem er bie raubere und wirklich uncultivirte Gegend von Pirs 
mafens, wo er ſich Anfangs niedergelaffen, wieder verließ; — 3) St. Lam : 
brecht, eine reich botirte Stiftung des rheinfränkifchen Herzogs Dtto; — 
4) Remigiberg, eine eben foldhe, mit mehreren Dörfern ausgeftattete Stif: 
tung , welche der heilige Remigius von König Glodwig zu erhalten wußte; — 
5) Klingenmünfter, Stiftung bes Könige Dagobertz — 6) St. Gers 
man, ein ehemaliger heibnifcher Tempel, 4 Stunde von ber bedeutenden Stadt 
Speier, in defien Beſig die Mönche zu kommen wußten; — 7) Difibodens 
berg, foll zwar in einer Wirbniß, aber, wie doch beigefügt wird, „in der 
Nähe des ſchon in der Römerzeit beftandenen Obernheim auf der einen, unb 
des alten Ortes Boos auf der anderen Geite” erbaut worben fein. 

B) Giftercienfer: 1) Eußersthal (Uterina vallis) war zuvor, ehe das 
Kiofter entftand, eine bewohnte Gegend, denn man fand ſchon damals bier 
eine Kicchez auch warb bas Klofter gleich in ber erften Zeit durch den Biſchof 
von &peier mit einem Gute beſchenkt; 2) Diterberg, bas Kıofter, war zus 
vor eine Burg, welche der ſchwaͤbiſche Graf Siegfried den Mönchen fchenkte; 
— 3) Werſchweiler, urfprünglid ein altes Schoß fammt Kirche, ein 
Geſchenk der Grafen von Saarwenden. (Auch das Giftercienfer s Ronnentlofter 
Rofenthal war bie Stiftung eines Grafen Eberhard.) 

C) Praͤmonſtratenſer: 1) Klofter zu Kaiferslautern, eine Stiftung 
Kaifer Friedrich's des Rothbarts; — 2) MünftersDreifen, eben fo eines 
Herzogs Ratharins. 0 

) Wilhelmifer: 1) Sräfinthal, eine Stiftung der Graͤfin Giifabeth 
von Bliescaſtel, 4 Stunde von dem Städtchen Bliescaſtel ſelbſt entfernt. 

E) Augufliner-Chorherren: 1) Kiofter zu Frankenthal, eine Stiftung 
Edenbert’s von Dalbergz — 2) Hert (Hörbt), eine foldhe des Hermann von 
epielberg — 3) Höningen, bitto eines Grafen Emich von Leiningen, nahe 
bei feinem Schloſſez — 4) Kiofter zu Landau, ebenfalls von einem Grafen 
Emich von Leiningen geftiftet. — 

Wir haben dieſer Ueberficht nur die Bemerkung beizufügen, daß wir kein 
einziges —* Aheinbaiern beſtandenen Kloͤſter dieſer aͤlteren Orden über: 
gangen .— 


438 Kiöfter. 


in den volkreichſten unb gewerbfamften Gegenden, ganz vernunftmäßig 
dem vorgeftedten Zwecke gemäß, von folden Puncten aus bie chrifls 
liche Religion deſto ſchnellet und wirkſamer auszubreiten. .. Nachdem ich 
Urfprung und Stiftung von mehr als 200 folder Kiöfter, allein im 
heutigen Königreich Balera (naͤmlich dem rechts des Rheines gelege: 
nen Haupttheile deſſelben) hei jedem beſonders, in Unterſuchung genoms 
men; fo muß ich geftehen, daß mir nicht ein einziges vorge 
tommen, von welchem fi, mit Grund und Wahrheit behaupten ließe, 
es fei von ihm bie erſte Cultur des Bodens, worauf es geflanden, herz 
vorgegangen.” (v. Lang.) ' 

Dee naͤmliche Werfaffer bemerkt nun fehr richtig, daß zur Urbar⸗ 
machung des Bodens nicht mitgewirkt haben Binnen: 1) die Nonnen- 
öfter, 2) bie ihren Statuten nad befiglofen WBettelmönde, und 
3) überhaupt alle in neuerer Zeit, zumal vom 13. — 16. Jahrhun⸗ 
dert erſt entftandenen Orden. Es bleiben fonady nur noch einige Be— 
nedictiner⸗, Praͤmonſtratenſer⸗, Eiſtercienſer⸗ oder Augufliner: Kiöfter, 
die möglicher Weiſe den Boben, auf dem fie erbaut wurden, vielleicht 
urbar gemacht haben koͤnnten. Alein die vorhandenen Urkunden 
weifen im Gegentheile nach, daß biefe Convente faft ohne Ausnahme 
in bevoͤlkerten / längft angebauten Gegenden, befonders in Haupt: und 
Nefidenzfäbten errichtet wurben, oder daß bie Mönche ſeibſt landes⸗ 
hercliche und fonftige adellche Schlöſſer in Eigenthum zu erlangen wuß⸗ 
ten, und fobann diefe Schlöffer in Köfter ummwanbelten. Ueberall zei⸗ 
gen bie noch vorhandenen Documente, zumal bie Stiftungsurkunden, 
daß die Mönche zu ihrer Anfiedelung empfingen „nicht terras novel- 
landas vel cultivandas, fondern cultas cum incultis, agros, 
mancipia, prata, pascua, sylvas” x. ıc. Die Zahl folder noch 
vorhandenen Urkunden aus alen Gauen unferes Waterlandes geht in 
das unendliche *)! 





Kloͤſter. 429 


. Allein bei der Frage: ob das Moͤnchsweſen ber Cultivirung des 
Bodens Rusen brachte, kann der Umſtand überhaupt am Weniaften 
entfcheiden, ob etwa da ober dort ein paar Morgen Landes wirklich 
durch Kloſterbewohner angebaut wurden ober nicht. Es kommt vielmehr 
zunaͤchſt darauf an, welche Wirkung bie Eriftenz eines Kloſters auf 
den Bodenanbau feiner Umgebung im Ganzen bervorbrachte. Und 
hier findet dann der unbefangene Beobachter ein foldyes Ergebniß, daß 
ee unbedingt antworten muß: jene Wirkung war eine im höchften 
Grade fchädliche und verberbliche ! 

Mo einmal ein foldyes Kiofter beftand, mußte ringsum alles freie 
Privateigenthum verfchwinden. Schon Karl ber Große wirft den 
Aebten (in einem Gapitulare vom Jahre 811) vor: fie fuchten Ge 
fegenheit an den armen Mann zu kommen, bee ihnen fein Eigenthum 
nicht freiwillig überlaffen wolle, indem fie ihm fo lange die fchwerften 





— — 


Orden (ſonach mit Ausſchluß ber ohnehin Hier nichts bewetſenden neueren, 
und eben fo der Ronnenklöfter). 

A) Benedictinerkloͤſter: 1) Limburg, die glängendfte und reichſte 
Abtei in unferem Lande, war das Refdenufälch eines Kaiſers (Conrad's II.) 
gemwefen und von diefem den Mönchen überlaffen worden; — 2) Hornbad, 
einft ein gräfliches Iagbfchloß, das der heilige Pirmin zum Geſchenke zu ers 
halten wußte, indem er die rauhere und wirklich uncultivirte d von Pirs 
mafens, wo er fich Anfangs niedergelaflen, wieder verließ; — 3) St. Lam : 
brecht, eine reich botirte Stiftung bes rheinfränkifhen Herzogs Dito; — 
4) Remigiberg, eine eben folche, mit mehreren Dörfern ausgeftattete Stif: 
tung , weiche der heilige Remigius von König Glodiwig zu erhalten wußte; — 
5) Klingenmünfter, Gtiftung des Könige Dagoberts — 6) Gt. Ger⸗ 
man, ein ehemaliger heibnifcher Tempel, 4 Stunbe von ber bedeutenden Stadt 
Speer , in deffen Beſig die Mönche zu kommen wußtens — 7) Difibodens 
berg, foll zwar in einer Wildniß, aber, wie boch beigefügt wird, „in der 
Nähe des fchon in der Römerzeit beftandenen Obernheim auf der einen, und 
des alten Ortes Boos auf der anderen Seite“ erbaut worben fein. 

B) Liftercienfer: 1) Eußersthal (Uterina vallis) war zuvor, ehe das 
Klofter entfland, eine bewohnte Gegend, denn man fand ſchon damals bier 
eine Kirchez auch warb das Klofter glei in ber erften Zeit durch den Biſchof 
von Speier mit einem Gute beſchenkt; 2) Dtterberg, das Kıiofter, war zus 
vor eine Burg, welche der ſchwaͤbiſche Graf Giegfried ben Mönchen ſchenkte; 
— 3) Werſchweiler, urfpetnglich ein altes Schloß fammt Kirche, ein 
Gefchen ber Grafen von Saarwenden. (Auch das Giftercienfer s Ronnenklofter 
Rofenthal war die Stiftung eines Brafen Eberhard.) 

C) Praͤmonſtratenſer: 1) Kiofter zu Kaiſerslautern, eine Stiftung 
Kaiſer Friedrich’s det Rothbarts; — 2) Münfter-Dreifen, eben fo eines 


Ratharius. 
vens) Wilbhelmiter: 1) Graͤfinthal, eine Stiftung der Bräfln Cuſabeth 
von KBtlescaftel,, 4 Stunde von dem Städtchen Bliestcaſſel feibft entfernt. 
E) Augufliner-Chorherren: 1) Klofter zu Frankenthal, eine Gtiftung 
Edenbert’s von Dalberg; — 2) Bert (Hörbt), eine folche des Dermann von 
©pielbergs — 3) Hoͤningen, bitto eines Grafen Emich von Peiningen, nahe 
‚ bei feinem Schloffes — 4) Klofter zu Landbau, ebenfalls von einem Grafen 
Emich von eningen geftiftet. — 
Wir haben biefer Ueberficht nur bie Bemerkung beizufügen, daß wir kein 
einziges en Rheinbaiern beftandbenen Kloͤſter diefer älteren Orden über: 


430 Köfter. 


Kriegitaften und Büge zumutheten, bis er endlich nicht mehr anders 
inne, als fein Weftgthum zu übergeben oder zu verlaufen. (Occasio- 
nem quaerant super illum pauperem, quomodo eum condemnare 
possint, et illum semper in hostem faciunt ire, usque dam pau- 
per factus, nolens volens suum proprium tradat aut vendat.) — 
dv. Lang führt eine ganze Reihe von Beiſpielen an, daß Einzelne fo: 
wohl, als ganze Ortfhaften ihe freies Eigenthum ben Kloͤſtern abs 
traten, um baffelde bann als deren Zins⸗ und Lehnsleute“, oder als 
Pächter, oder Knechte zu bauen. — Ja, nicht zufrieden damit, das 
Grunbeigenthum auf ſolche Weiſe zu erlangen, wußten fie fehr häufig 
es fo weit zu bringen, daß fogar auch die Menfhen, welche dieſe Ge: 
genden bewohnten, ihnen leibeigen wurden. Man weiß viele Bei: 
fpiele, daß ie hochabeliche Frauen (ex utriusque parentibus libera 
et satis nobilis, — liberrimae conditionis etc. etc.) ſich und ihre 
Nachkommen biefem oder jenem Kiofter leibeigen erklaͤrten. 

Daß aber durch ſolche Verhaͤltniſſe die Cultur des Bodens nicht 
gefördert, — daß fie vielmehr da, mo fie ſchon vorangefchritten war, 
nicht nur gehemmt, fonbern weit zurüdgemorfen ward, iſt wohl 
jedem vernünftigen Beobachter Mar. Die Cultur des Bodens erheifcht 
freie Menfhen und freies Eigenthum dieſer Menden. Wer 
immer ausſchileßlich zum Nugen von Anderen arbeiten muß, wird in 
der Regel ſtets wenig und ſchlecht arbeiten. Der einzelne Möndı 
felbft aber war nicht einmal Eigenthämer, abgefehen davon, bag er 
bei feinem Duͤnkel — feinem Stande nad) weit erhaben zu fein über 
die anderen Leute — es gewiß mit feltenen Ausnahmen verfchmähte, 


gleich einem gemeinen Bauer zu arbeiten. (Selbſt ſchon die rohen 
Watdbrüder ernährten fich lieber von bem Almofen, das ihnen bas 





































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zu Stande brachte, auf, Entwicelung der Eultur der Menfchheit einen 
wefentlid) bemerlharen wohlthaͤtigen Einfluß gedußert habe? — Ge: 
wiß wird kein ‚mit- der Eulturgefchichte mahrhaft vertrauten Mann diefe 
Frage ‚bejahend beantworten m! 

Allein , wird, man, einwenden, wenn ſich die Mönche auch nicht 


verloren fein, ‚wenn die Mönde uns dieſelbe nicht in. Abſchriften auf ⸗ 
bewahrt hätten. — W 





Klöfter. 438 


un rer hetruͤhrte, * den Bieten von bern vom ben 
ver un gaicdtg, 8* gerucihaft.. — 
arabe Maflede flomnkta an) den seien. Ceiaben der 






a a ae aaa 
des — Bi ee "auch 
‚une ‚enafeene zu ‚Grund Di Einigung Di war eher 


— als dar auf gerichtet. + —— den Ber 
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fonderen Tendenzz denn und Schreiben fordert 
der Heilige. Ken einen 55 einmal ; A 
nothwendige Bedingung. man nue nad) Seömmigkeit-ficehte, 
‚oder, vielmehr, nach dem mas man dafur hielt „ward gerade die gel⸗ 
flige „fucc \ das; Streben 





« der, nom Rateini 
Ela. dl Du 38 


—— Be, in meer m DS 

e mi m Zeit, in welcher im der Een 
: t. allen felbft der befaninte 

von „der, Vogeliveibe | en 18 der Abt — in dem — 
ten Stifte St. Gallen mis; feinem ı 5 Eapit ne gleich 
Sem u Ren Sa Saba: one 
“ * seri⸗ 
"bendi a tn — 1 


297: testis rn ‚Abbas, 


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434 Kiöfter, 


soribere nesoiens. — 
im” von 


bie beſonderen en wen: N 
Große (Capittil. de 788) über !hre sermonus Inotli 
ta discendi und ihre Hnkar Ineradim, and An 
(Gspitul. de 802) Aber ihre Aufgededten Torniosti 
et ——— die man sine horrore nicht 


höherer Bildantz . 

gen ohne Baht. ) Sqhiiderungen —* 
von Tours (des illgen aufgenonmienen Exz- 
biſchofs) und anderm ge gewth unwertverflicher 233 
atenthalben die grellſten Zuͤge von Neid, Ehebtuch, Woliuſt, Math: 
ſucht, Veteigereim der verſchiedenſten Art, Freßſucht und Trunkruheit, 


Stumpfſinn und Hinteruſt Peahlecti umd Zankſucht Habfucht ud 
Verſchwendung, ———8 jeder Form, Giftmiſcherei "Memmeid 





Kloͤſter. 435 


Bedenken zu id 
4 "Den 6 ſtellen wir die iealleniſa Freiſtaaten. Die 


& wintnall mit az von 
—— ——— Bei tee war car en 
ku —— (Bülte —X in —E fe frinem Stifte 


———— a ZT 
0) 2 ſen 16 
Zadren 6 Klofterzegierungen, deren ———— — Sets —— — —9 


kin, d fortwährend eiı 
SRH. 
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Ke as über die in ber baierifchen 


ſich 

Pfalz beftanbenen Rudfter noch läßt, mit Gr 

— nufanmenpalke era Vielen wien Gonopaten 1c van Denen 
nähere Nachrichten auf uns —— find, “ir nun auch nit ein eim ‚iaer, . 

Sedaric nidht in Mrfunden, bald —— pi, über „‚Wetfall‘ der 
Bucht und Srdnung gar fehr geetagt wolrbe. ft erfichtlich, daf man in . 

den Kıöfteen weit —* wegen Aufzeichnung ale, als der ehwa voll» 

Ken gell uten Werke, ober wegen, geiftiger Gultur beforgt war. 

on gef en — —— — oder * —— anlage findet u ne 

—38 —— jogen fteht dagegen: aue u 

—* * Ein alte ———— —— — ————— 

ganz beſonders aber nie * — Bein AH Fi * Bars ober Hundert 

— ray — — — et ee al trie 

um, en gehabt. —34 je fen Züge ges 

‚ duch en uch —— Streitigkeiten iS den Religiofen 


28* 





436 Kloͤſter. 


gegenwärtige Generation,” ſchreibt Sim on de de Sismondi (Ge 
ſchichte der italieniſchen Republiken des Mittelalters), „verdankt den 
italienifchen Freiſtaaten das Erbtheil des claffifchen Alterthums.“ Hier, 
in diefen Freiſtaaten, lebte ein Geift, der den Werth jener alten Schrif⸗ 
ten beffer zu würdigen, beſſer zu füäten, wußte, als jemals der in 
den Kiöftern haufende Bigottiömus. Verhältniffe » die freie Ber 
wegung des Volkes in diefen te brachten es mit ſich, daß 
man ‚höhere Geiftesbildung, Unterricht überhaupt, unterftügte und be: 
förderte. — Der ausgedehnte Handel aber nad allen Gegenden ber 
damals bekannten Welt (de6 Drients wie des Decidents) bedingte und 
führte herbei auch einen geiftigen Verkehr. 

2) Die freien höheren Schulen, ausgebildet als Univerfitäten, 
reihen ſich würdig hier an. Sie führten erſt recht wieder in das 
Leben ein jene claſſiſchen Schriften des Alterthums, die, wären fie 
aud) wirklich in den Kloͤſtern ausſchließlich zu finden geweſen, bort doch 
nur vergraben gelegen haben würden. Kaum waren bie Pandekten 
wieder aufgefunden, im Jahre 1137, fo wurde auch alfobald, fo zu 
fagen, die ganze damalige Welt von Bolognas Lehrftühlen aus mit 
ihrem Inhalte befannt und vertraut gemacht (f. Giann. hist. lib. IX., 
cap. 21), und durch deren fchnell weit ſich verbreitende Geltung ein 
Rede qußand befördert, ber zuc Entwidelung der Cultur vor Allem 
nöthig. ift, 

3) Auch die übrigen Gebildeten der verſchiedenen Stände, 
Laien und MWeltgeiftlihe, trugen gewiß nicht felten zur Erhaltung der 

igen Schaͤtze bes Alterthums bei, und gluͤcklicher Weife verſchwan⸗ 


den folche Leute felbft in jenen dunfefen Zeiten nie ganz aus ben Län: 
dern Mitteleuropas, Man denke nur an Gregor von Tours und Fre 





Kiöfter. 487 


für die Kunft *), blieb Conſtantinopel auch für die Wiffenfhaften 
ein Hauptafplort. , Der rege Verkehr zwifchen diefer Stadt und dem 
Zbenblande beſonders von den » Beiten dee Kreuzzuͤge an und nament: 


ih mit Itallen, gewährte dem Oecidente fortwährend ‚Geiegenpei 
* —— — mit, Byzanz. (Dadurch wird auch 
tlich Bar, wie es kam, daß — obrechl,,in den Kioſtern bie grie⸗ 


weſen 

ch iſche Space ohnehin faft nirgends cultivirt ward, — dennoch von 
den griechiſchen Autoren jm Grunde weniger verloren ging, als 
von ben eömifchen. So befigen wir z. B. bie drei Haupthiftoriker 
der Erſten — den Herobot, Thukydides und Zenophon — vollftändig, 
während die beiden ausgezeichnetften GSefchichtfchreiber der Lebten — 
Taeitus und Livius — nur hoͤchſt unvollfiändig auf uns gelommen 
find.) - Wie ſehr ſich aber bie geiflige Eultur bis zum völligen Unter: 
gange des oftebenifihen Reiches, in Conflantinopel forterhielt, zeigte bes 
ſonders bie gruͤndlich gebildeter sten, bie ſich alsdann in 
yielen Ländern pas namentlich in Itallen, verbreiteten. (Wir 


Co karis .) Domals, als, 
Gonftantinopel im die Hände: der dee Then, ‚fiet.-(1468), war aber bie 
Buhdruderei bereits erfunden — 

5) Die Araber und Iuden ig Eyanien, Erſtere theils auch 
in Sübitalien, —* ebenfalls manche Glaſſiker aufbewahrt. Bei 
dem wiffenfchaftlichen Streben fo vieler Angehörigen biefer beiden Na- 
tionen, zumal ihren mitunter ausgegeidhneten Leiſiungen in dem Ge: 
biete der. Mathematik, Ar — Geographie, Heilkunde u. ſ. w., 
kann thmen der Werth — 25 — Schriften des Alterthums 
nicht lange entgangen ſein. Die Kenber insbeſondere ſchaͤtzten diefelben 
fo ſehr, daß fie viele davon in ihre Mationalfprache uͤberſetzten. 
Selbſt den Ariſtoteles lernten die Kloöͤſter zuerſt In einer arabifchen 
Ueberfegung, nie in der Urfprache, kennen. (Die vor etwa 10 Jah⸗ 
ren von den Weiten in Indien entdedite Neberſehung des Ariſtoteles in 
die Hindus Sprache ſcheint gleichfalls eine arabifche Uebertragung zur 
Grundlage zu haben.) . | 

6) Endlich hat uns aud) der Zufall mandhe a — Schri —8 
halten; ſowehl außerhalb als innerhalb ber Kl rde 
doch fon im fruͤheſter ‚Zeit Ariſtoteles ſelbſt nur durch gr "glückliches 
Ungefäht unter ber Erde erhalten, wo ihn Apellikon von Teos ent: 

Ein Ungefähr ſoll (wenigſtens nach der einen DVerfion) des. 
afinion Pandekten gerettet haben; ein Ungefähr hat jedenfalls ben 
Gajus erhalten, den. die Mönde ausgekratzt hatten, um die Briefe 





*) „In Gonſtantinopel, fagt Winkelmann in ſeiner Geſchicht⸗ der 
Kunſt des ——— Pr 3 € — und bort allein, waren Werte ber. 
Kunſt 83 —74 Bernichtung in Griechenland und Rom noch ver: 
ſchont (NB — * — ſtehen) —R Dort fand” ꝛc. 15. 


den Papft gecihteten Weiche; ir Asfrife 
cero’6 de Orktore uub der i Quinctilian’s ju les 


tantreic (folgt auch 


finden ſei.“ (&, Murat. Antig. 

Das Kiofter Fontedrault befap einſt 
aber es verkaufte ihm als altes Pergament an einen Gewuͤrzkraͤmet, 
und biefer an einen Schneider, welcher Meine Ballons daraus machte, 


(&. Fabrieii Biblioth. Lat, 297.) 

Es ift anzunehmen, daß in Eorvey ein volffkändiger Tacitus 
vorhanden geweſen, daß aber eim Thell davon ungluͤcklicher Weife auf 
bei der Auffindung noch brauchbares Pergament gefchrieben war und 
darum vernichtet hurde. Auf ähnliche Meife fol zu Fulda ein doll: 
ftändiges Eremplar des Wrogus Pompejus zu Gründe, gegangen fein. 





Ktöfker. [7 
„wie oben n J 3. «br jun 
zn ——— gofunden Yan im “ 


seflehen bin) > ER tt 
nur den —— Ken. ds. 


— 
Bi! des: Alterthums beimißt „in FE 
— Erle m, nd ine Eiſſiker le uns gang 
oder / thellweiſe verloren gehen kͤnnen. Man zählte * 45: —— 
eek) "m nun jom 
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ein ; —— after nl Ber ten) ned 
—— nur‘) ee j Eee 


4,500,000 Wo dieſe ju finden? 
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brauchten alle f | in | 

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"einzige eines kleinſten) 

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—E ne he jene Hann Main ofen e ne, 





0 Kloͤſter. 
— würden ohne Kloͤſter Leiſtungen, wie die feinigen, nie entſtan⸗ 






— nicht genug, daß man den Kiöftern, als folhen, die Erhal⸗ 
tung bes claſſiſchen Alterthums durchaus nicht gu verbahlen hat, muß 
man ihnen im Gegentheile noch fogar den (hoͤchſt bedeutenden) theil- 
weifen Verlu ſt deffelben zum Vorwurfe machen. 

1) Sie fahen in jenen Schriften faft durchgehends nichts Anderes 
ale heid niſche, darum verwerflide Wücher, und gewiß maren 
die Moͤnche bie Erſten, welche, auf den (ohne Grund als unhiſtoriſch 

‚ ausgegebenen) Befehl des Papftes Gregor (des -fogenannten Großen): 
ndie Werke des Cicero, des Livius und des Tacitus allerwärts zu ver⸗ 
brennen“, — diefe zuerſt und am Eifcigften zu folhen Auto da Fe's 
zuſammenſuchten, wie nicht minder fie es waren, melde, als der 
Sinn für die Geiſteswerke der alten Hellenen und Römer unter den 
freien. Ständen twieber zu erwachen begann, biefe durch — nady Wort: 
laut und Inhalt. barbarifche — Möncapgebuctionen zu verbrängen 
fuchten, welche endlich die ganze Literatur herabwuͤrdigten und finken mach⸗ 
ten, indem fie faſt überall nichts Anderes als Fromme Gchaufpiele, 
epifche Gedichte von Heiligen und dergleichen fabriciten, und ganı 
ernſtiich darauf ausgingen, durch ſolches Beug den Homer ıc. überflüfs 
fig ” machen ‚und zu werde: 

Noch weit mehr wurden, aber nie Monche — ſtatt Erhalter — 
— ———— eines ſehr großen Theiles der Claſſiker da durch, 
daß fie, als nach Eroberung JFegyptens durch die Saracenen das aud 
Papprusflauben verfeitigte Papier im Abendlande nicht mehr zu befoms 
men war, vielfach die alten, auf. Pergament, verfertigten —— 
——— 


Kiöfter. 441 


m. Pergamente wegosfchabt und Platt bern das Büchlein Tobias 

3 geſchrichen ſand! (S. Fuhrmann IV. 634.) | 
— ‚aller dieſer fo. ſprechenden Thatſachen ſollen wir 

* 2222 vaheen, als. — Erpatter 


dee Aiterthumedt; 
3 DasRahtheilige anblerberbiice des Rioker: 
2* überhaupt — Diefen Degenſtand müflen wir nad zwei 
betrachten: ' a). hinfichtlich ber Weligiofen 
—5 nd ber Gefammchet det des ©tantes, ber ganıen 


vi ENTER ber ober 

e en aufgenoms 

j werden, muͤſſen fie die bekannten brei Gelkbbe Leiften, ale das 

der erg ae ber Beuschheit unb bet. Gehorſams, und zwar 

unbedingt auf kie Dauer des ganjer Scheus, ohne Worbehalt, wie ohne 
alle Ausſicht auf bie Mögtihteit der Aufiöfung diefer Oetäbbe, oder 














eehre die Gluͤcks⸗ 
‚gu. machen; nicht jedes ebiere 
Materialiemus zu ertoͤdten; — 
bee Menſch auf alles und 
; daß er nichts von der 
fich keiner, auch noch fo unfchulbi- 
gen Annehmlichkeit des Lebens zu erfreiten habe; baf er vielmehr (mas 
namentlich von den Bettel⸗, vielfach aber auch y Arie Möndyen 


Gelabde der Armuth, in biefeme-Eiätne gemommen, iſt ber Menfch 
auf bem BBrge, ya Bibiere — And PA 
fahren :jenen Grundfos is ihrer Geſammtheit angenommen, fü wuͤrben 
wir heute nichts ‚Anderes als Wilde fein, und par Milde im aller 

erbaͤrmlichſten Buflande: 


Ein :mhhäigeb: Bebet.der Vernunft ieie dee Moral iſt es — 
üb. 6 Ausſchweifungen zu enthalten. Aber dieſer 
Zweck wird volkomnien erreicht durch Beobachtung ber Verpflichtungen 
bes Jnſtitutes See. Ehe, fo tie alle civiliſirten Voͤlker daſſeibe derma⸗ 
im beſthen.Eine Enthaltſamkeit, die daruͤber hinausgeht, oder mit 
einem: Bome; die Werpfligtung zum Coͤlibate, rs und bleibt in 
alle Ewigkeit naturwidrig, Kerner und es bleibt eben fo 
immer. ein- augenfcheinticher Widerſpruch, daß, während als förmliches 
Dog ma ber: Bathaliichen Kixche fefiflcht, daß die Ehe fogar ein Ga; 





am leiſten. — 


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Ton gefagt, Aryl — * 


Richten, muß blinden 


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| Su fo Yange woßE mei fer, um fo ehe als die meiften Eintreten 
—* die Verſtandesreife bes Alters noch nicht erlangt hatten. Und 
— — 
wieder eine fortdauernde Quelle vo — für ibn werben t 


dte werben, nachbens-feine ganze Erziehung barauf gerich⸗ 
I naar, Ye nar —— Stufe vor bereiten? -Büfte ik ger 
wärtigen, nach feinem Austeitte faſt überall miteqeer und surügen 
flogen zu werben? 


“ Scham, — und A Ihm une ſolchen Ben 
—5 — glei g zuruͤck, de zu thun, elerbinge d 
rbert; bes 
— ihm in Ber Regel inc ht Em, — ee —* 
anrathen kann, in welchem Entſchluſſe ihn zu beſtaͤrken kein Freund 
mehr zu ſeiner Seite ſteht. 


So nur zwiſchen zwei Abgruͤnde geſtellt, betrkeeies den, der ihm 
noch am Meiſten verdect, wenn auch vielleicht laͤngſt nicht mehr mit 
Roſen verdeckt iſt. Er laͤßt ſich förmlich aufnehmen In ben Orden. 
Über jetzt enthält fih Tag für Tag mehr das G e feines Uns 
gluͤcks vor feinen Augen. Er ſieht fich mit einem Leute zu⸗ 
fammengetworfen von bem verfchiedenartigften Charakteren, der verfchies 
denartigften Bildung, ja, bie gewöhnlich fogar einet ſolchen gaͤnzlich 
ermangeln. Statt, wie er gehofft hatte, hier alle. Leidenfchaften vers 
ſchwunden zu finden, entbedit er eine nad) ber andern, zwar als einis 

germaßen den allgemeinen Blicken entzogenes, aber eben barum nur 
bee furchtbarer wuͤthendes, das ganze Leben. verberbenbes verſtecktes 
Gift. Dazu bie, jede freie Bewegung bemmenden und laͤhmenden 
Borfcheiften über alle Vorkommniſſe; biefe in's Kleinlichſte gehende Ein» 
theilung und Abtheilung des Lebens. und der Zeit; biefe —* beobach⸗ 
tete peinliche Behutſamkeit und Bedachtſamkeit, verbunden mit dem 
Mechanſſchen der ja ebenfalls ſtundenweiſe vesgefiebenen —2* *), 
und bem ‚geforderten Gkavenfinne ‘gegen Gott und 

Obern, als beffem fichtbaren Vertreter. — Muß da ih das niebers 
ſchwetternde Gefuͤhl, daß der ganze J bentzweæ unrettbar verfehle 


— 9 Die Geſgaft und ohne Vergnügen ſchlichen bie leeren Stunden des 
Mb langfam bapin; und kaum modte ein Zag vergeben, an dem er ſich 
nicht i über den langfamen Lauf der Sonne befhwerte. — 
Gaff van — ib. X. cap. 1) befchreibt aus eigener Grfahrung bas ben 
ii Wie den Körper ebene Bf Gefühl, von iR ber wand im Bewußts 
“ * ir Cent — * * —5 — Feen 
— tuetur.“ — der , die legte Zuflucht Ungi 

iR ungeadhtet der Iceren Gtunben, , s 


Kiöfter. 445 


fei, dei, in a * *) Le —* e 2 —9 Grant 
l et, en e Ben en ‚ wie fi 
bean —28— —* Beitalters · und Saudes durch —*8 


ren bie 





borgen gehaltenen mg m A Ausftoeifungen aller Art, 
— * ſuchten? daß alle Laſter der Welt in Ktöftern zahlreiche 


Geſetze geſchehen laſſen und gut heißen konnten; aber man fchaudert 
noch mehr beim Hinblicke auf bie zahllefen Berführungen (die in 
unferen Augen bie —— Verbrechen ſind), zu denen jene 
Getattung Veranlaflung gab 
b ferner, wenn ve finnios bigotte Mutter ihr noch nicht Ä 
einmal —— Kind dem Klioſter gelobt, ober wenn ein unnatürs 
licher Vater, deſſen Leidenfchaft , feinen Sohn enterben zu wollen, 
das weltliche Geſetz doch Schrauben: feht, Diefen nun, unter offener 
ober verbediter Gewaltanwendung, in ba® Kloſter ſteckt, und ihm da⸗ 
mit nicht nur fein gefammtes Vermoͤgen, fondern feine Freiheit, feine 
ganze — entreißt, fein ganzes Sein mit einem Schlage vernichtet I 
Die —— des Klhoſterweſens für den Staat. 
bie drei Beläbbe, fo wie fie verſtanden und angewendet 
werben, ftehen mit ben Einrichtungen und Beſtrebungen eines vernunft⸗ 
gemäß organifirten Staates im Widerfpruche. Die Kloͤſter verlangen 
von ihren Angehörigen bie Werzichtleiftung auf ihe Vermögen und 
die Verpflichtung, deſſen niemals zu erwerben; ber Staat aber muß 
fireben, daß allenthalben freies Eigenthum beſtehe, und muß darauf 
halten, ‚daß Jeder feiner Angehörigen deffen erwerben kueme er darf 





*) Zu Jeruſalem gründete man im 6. Jadt hunderte ein eigenes Spital 
— Stan are 
nn 
I a Ha 06 


4 2. verhindern: 
t, be Ehütoftakeie, 
we Ehe, wu ri 


derartigen Gorporacien/ den Ebnveiden im 
wohnen, ſonach auch fire die aͤrgſten Mißbeduche jener ihrer Gewalt 
‚gar außer dem Bereiche ſich befinden, innerhalb deſſen ex ‚fie zur Ver: 





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lichen Sinne als Darems dienten, andere aber als Dexter, im welche 
die Adelichen bie ihren Söhnen. vor fürmlicher Berheirathung ‚gekauften 


wie mamentüch im Mortmgefzmende 


Klöfter. 449 


ſonach eben fo au die Wirkung. Was momentan vielleicht eine 
Wohlthat gewefen fein mag, wird nun aber für das ganze Leben zur 
peinigenden Dual. Um ben blos möglihen Unannehmlichkei⸗ 
ten des Lebens zu entgehen, muß man für alle Zukunft fämmtlicher 
Annehmlichkeiten beffelben von vorn herein entfagen. Das Heil⸗ 
mittel, gleich viel, ob vom Standpuncte des Einzelnen oder der Ges 
ſammtheit aus betrachtet, ift unendlich Ärger, als das Uebel je werden 
tönnte; der gewiſſe Nachtheil überwiegt weitaus ben blos etwa mög» 
lichen Vortheil. | 


Sage man nur nicht, daß duch einzelne Befhränkungen in 
bem Kiofterwefen alle Uebel deſſelben befeitigt werden könnten. Die 
Urſache ber argen Erfcheinungen ift nirgends anders, als in ber 
Grundlage des Inſtitutes ſelbſt aufzufuhen.. Die Wirkung wird 
immer diefelbe fein, fo lange die Urfache bleibt: Darum haben alle 
verfuchten Reformationen der Kioftereinrichtungen nie etwas gefruchtet ; 
ungeachtet aller unternommenen ‚‚Verbeflerungen hörten mir immer 
wieder (und zwar bezüglich aller Kiöfter, von denen wir nähere Kennt⸗ 
niß befigen) über „Werfal” der Bucht, Ordnung und Sitte, über Las 
fer und Ausfhwelfungen aller Art Eagen. Wir find aber wohl bes 
rechtigt, die Erfcheinungen, welche bei jeder einzelnen dieſer Anftalten 
hervortraten, als natürliche Folge ber ihnen ſaͤmmtlich gemeinfamen 
Srundlage zw betrachten. — Nicht einzelne Abänderungen und 
Beſchraͤnkungen, fondern vielmehr diefe ganze Grundlage müßte 
darum aufgegeben, auf bie drei Geluͤbde müßte verzichtet, eine lebens⸗ 
längliche Fortſetzung derfelben dürfte gar nicht gefordert werben; — mit 
einem Worte, bie Kiöfter müßten aufhören, nad) den bisherigen Bes 
griffen Kıdfter zu fein, wenn die verderblichen Folgen derjelben nicht 
mehr zum Vorſcheine kommen, weſentlich mwohlthätig wirkende moͤg⸗ 
Lich werden follten. 


6. 4. Das Recht des Staates, die Klöfter aufzuhe⸗ 
ben. — Sobald man erkannt hat, daß die Kloͤſter nicht nur eine den 
Fundamentalzwecken des vernunftgemäß organifirten Staates offenbar 
widerftrebende ,„ fondern felbft eine unverkennbar naturmidrige 
Grundlage befisen, kann diefer, der Staat, nun und nimmermehr vers 
pflichtet fein, folche gemeinſchaͤdliche Inſtitute fortbeftehen zu laſſen; 
er bat das Recht, fie aufzuheben, und die Pflihten, welche ihm 
gegen die Geſammiheit feiner Angehörigen obiiegen, gebieten ihm 
fogar, diefes zu thun. Nur über Nebenpuncte, über die Art des 
Verfahrens, über bie bereits begründeten rechtlichen Anſpruͤche an diefe 
Anftalten, zumal von Seiten ihrer Angehörigen zc., koͤnnen wefentliche 
Bedenken und Anftände fich erheben. 

Vorerſt iſt es billig, dag, fo weit es ohne Verlegung bes Haupt⸗ 
zweckes gefchehen kann, mit möglichfter Schonung, zumal gegen die eins 
zeinen Religiofen, bei der Klofteraufhebung verfahren werde. Man foll 
fie nicht vorfäglich dem Eiende, dem Bohn und Spotte Preis geben, 

Staats⸗Lexikon. IX. 29 





450 we Kioſter. 
enn 


ihr eibſteruches Bochaitan ward unter dem Schleme ber Geſete, 
wenn auch entſchieden üble: Befege, begründen, ' 
Dataus folgt aber auch; feiner ber wohtbegeänbete — 


€ 
8 
A 
& 


als Lehrer ober dergleichen — werd 
Willjg. angenommen wiid. 


u Zn Bekeigen teten Wi Refigtofen ii 
end yurhd. 


inb_ Pflichten der "Geantebkiäger 

—8 ibendmmen - Tel; Kenn fie wollen , 
nicht gu -verchetichen. muß mindeflens die äußere Werpfliche 
tung hiertu, ſo bie Die: fermiben - Mlofteroberen "zw Leiftende Bes 
hoefam unbebinge aufföchi.. Det Staat muß Di Ehe des Erieligios 
fen nicht nue — ſonbern vorkommenden —2 and Wuchbridtich 
befäjägen, und cm Alertvenigften darf. er dulden, baß bie ahſurde Fic⸗ 
tion vom moralifchen Tode des Minds und der Nonne, monad) fie 
nicht erben koͤnnen 2c, fortdauere. 


Was, nun die Klofterg ter anbelangt, fo müffen dieſelben eine 
veränderte Beftimmung erhalten, nachdem die Inftitute, denen fie zus 
gewendet waren, zu rriftiren aufhoͤrten. Es läßt ſich nun nicht wohl 
tehtfertigen,. wenn ber Staat. biefes Vermögen kurſweg unbedingt an 
ſich reißt Allerdings, erſcheint es als herzenlofes Gut, am welches 
ex, nach ben „allgemein gültigen, Grunbfägen den alleinigen Anſpruch 


1 
J 








Kloͤſter. Klüber. ist 


ur, Abtweihung, von derjenigen Regel nöthigen, bie wir fonft, als der 
Bingei en, u möchten. ale wir db 

en gar nicht an, auszufprechen, rast 
find, daß das Kiofterwefen auf bie Dauer nirgendemehr befichen 
— nchthum hat iO Länoß Abereht, und dns Einfihen en Mittel 
werden im Stande fein, ihm feine verlorene Starke und Macht, fe; 
. men ehemaligen Einfluß, wie feinen Blanz je auf’6 Neue zu Benf 
fen. mar fahen wir feit einem Decennium in einem Ötaate, in. 
Baiern, gegen hundert Kloͤſter wieder a Im nämliden 
Beittaume aber. find in Spanien, Portugal, Pofen, Polen, Rıißland 
und in anderen. Eitaaten Sierzig 5 bie 6 fünfsigmet mb: mehr (4 BB,’ 
So ER —8 


kant vom Unfange bed genannten, fi den al Verhättniffen 
—S lie anf —— min, 
sieben wollen ven, han ee 1 
\ eiebr. Rp) 3 
Klüber (Sohann Ludwig) ivar. gehpren am 10. Navember 1762. 
in Thann bei Fulda. Nach, beenbigsen tehtsraiffenjchaftlichen Studien 
auf, den Univerfitäten zu Erlangen, und Seipzig. von 1780 bi6 
RE ———— er am Aa J. en ah 
echte. It in diefe Zeit fein erſtes ten ale er. 
Außer zwei Differtationen. „de Arimannia “, gab er einen „Werfuh 
über, die Geſchichte ber Gerichtsiehen” In Drud, und begann, ebenfal 
1785,. feine kleine juriftifche Bibliothek”, weiche bis 1794 in 26° 
Städen eufcien., 1786 wurde Mühen auferorbentliher und 1787. 
ordentlicher Profeffor ber Rechte in Erlangen. Auf dem $rankfurter. 
Kaiferwahlz und, Krönungsconvente von 1790 diente er, drei Monate, 
Tonga en — dem eat von —e Bad 
reuth, zu Bexichterſtattungen und lel 
braunſchweigiſchen e bei den ——— über 'die Be: 
ferliche Wahleapitularion. - Pütter in Göttingen hatte ihn kurz vorher 
der hanndverifhen Megierung zu -feinem. Nachfolger — 
1792 fuͤgte Kiüber zu feinen ſchon ——* alaberaffchen 
noch bie eines Magifters der Philofopple. Mit Ansbach und Bayreuth 
1791. unter preußifhen Scepter gelommen, ward er 1795 verpflichtet, N: 
mit dem Staats - und Cabinetsminiſter von Hardenberg 2 " 
des Bafeler Congteffes und. bem bevorfichenden ee, . 
beizumohnen, dann aber in dem Berliner Gabinetöminiflerium den 
heimencath dv. Ste zu erfegen; wovon er fpäter, bei der zilfchent I 
beiben Cabinetsminiftern eingetretenen Mißfiimmung, dem von ihm 
" felbft gleich, Umfangs erklärten Wunſche gemäß, freigelafien ward. Gleiche 
falls 1795 Hatte Ktüber’s Beförderung "zum — preußifchen Hof⸗ 
rathe Statt gefünden. Den ihm angebotenen Eintritt in das Landes⸗ 
minifterium zu Ansbach lehnte er ab. Bu Berlin mußt ee im Fruͤh⸗ 







fe went 


er 





nicht tommehitiite er Ga Bil (1805), befhrieh, „Baden 


he ” (1807%, 9.4. 1 „bie atte zu, Mannheim“ 

isn ge — GL 5 Pr aha uns 
* —* der — ER * 
cp ) und, Me a RN 

fer In nd , Kane a ift und fen Enter 1 

——— meter Bin echiett Kifiber 1805 an Di 


Münden, Datniftadt und Biebetih, 1816 nad; Berlin un! 


"WE Uelaub Ati fetter 181 und 1815 dem Mienet & 
boch dern dahin gefommenen or 
ai Bet ie Sefe * und Umgang Kal ben 


—— u Ri befptec ine 
kam wer ji — ic ti dem 
Stoß für 9 —* artgelegten 
—— wurde er zu dem Ent 
ibfängen 15 Wien Songteffeß zu fammenzubi 
die ig An, daß ſchwetlich ein Privatmarın. 
viele und A ot ;e Mittheilungen dern Publicum vorzut 
gen im € le, und woht fein Hof je eine gedrudte Samı 
der len decanftalten moerde, zumal da keiner, der, Wie of 
ausgenomt ie Befise fo vieler Wefunden fei, als. et- a: 
die 
















fand bie 1 td eines dentwürdi eitabfchnitted 
tige und aimmfüng: „Acten Wr jener, © Muri in den 
— 18; 1815”, toovon mod, im den * Ib 
lung bie Wi drel 9 (1815) ‚erfhienen. ber’ ö. 


fehriften ‚forgfäil As die Sammlung mit denn — 
Bande —— vi er die Verſicherung nme fie nicht 5 


* —ce— —2 — 5 
ww: Wethenbingen über pomiſch· ſachſiſche 
derſprehen werten”), : Won dm beiden wit — 


MRS 
2. 
ae Bm Su * 


55 












454 Klüber. 


„Aste final du congres de Vienne“ und ber beutfchen Bundesacte 
veranftaltete er einen befonderen Abdrud (2. Auflage, 1818), ber for 
wohl durch kritiſche Berichtigung des Tertes, als durch eigene Bugaben 
vor dem in den Acten“ befindlichen Abdrucke ſich auszeichnet und durch 
Nahroeifung der Verhandlungen über die einzelnen Beſtimmungen ber 
Bundesacte für die Entſtehungsgeſchichte berfelben wichtig iſt. In der 
Meberficht der diplomatiſchen Verhandlungen des Wiener Songeeffes “ 
(8 Abtheilungen, 1816), gab er eine Gefdyichte des Ganges ber Vers 
handlungen und mehrere Abhandlungen und Berichte über einzelne, bie 
beutfchen Ungelegenheiten betreffende Gegenftände. Durch feine vielfät- 
tigen Erfahrungen und als Augenzeuge ber Eutſtehung des neuen Foͤ— 
derativſyſtems war Kluͤber vor Anderen berufen, das Bundesſtaatsrecht 
foftematifch darzuftellen, wie es fein „Öffentliches Recht des beutfchen 
Bundes und ber Bundesſtaaten“ (1817) gethan hat. War bisher 
ſchon Kluͤber, der Publiciſt, immer mit Verehrung genannt tworben, fo 
bildete diefe neue Arbeit wahrhaft den Focus feiner verdienſtlichen Be— 
frebungen. Es galt, die Geſchichte mit der Vernunft zu vermitteln, und 
Fürften » wie Voiksrecht auf die eine, nothwendige Baſis der Gegen» 
feige und Gerechtigkeit zu bringen. Kluͤber Iöf’te diefe Aufgabe mit 

jahrung des geſchichtlich Begrändeten (alfo auch mit Wahrung deſ⸗ 
fen, was durch bie Freiheitskriege von 1813 bis 1815 auf dem Felde 
des deutſchen Staatsrechtes in Trieb und Blüche gefegt worden tar), 
mit Pietaͤt und mit Freiſinn. Gute Anordnung, gründliche Eroͤrte⸗ 
tung und große Gelehrfamkeit ftanden ihm dabei fördernd zur Seite. 
An dieſes Werk ſchloß fih Kluͤber's „Quellenfammlung für das öffent» 
liche Recht des deutfchen Bundes” (3. Auflage, 1830), während er zus 
gleich das europäifche Voͤlkerrecht in feinem „Droit des gens moderne 
de l’Europe“ (2 Bde. 1819, deutſch 1821) bearbeitete *). 


Schon vor dem Wiener Congreſſe war Klüber von ruffifcher Seite 
veranlaft worden, bem Kaifer Alexander eine hiſtoriſche und politifche Dar: « 


Klüber. | 455 


als Jurisconsulte de l’Empereur zum Dienfte, bereit fein und zugleich 
eine Dflansfänte für angehende Diplomaten 28 ruͤnden ſollte. Der Ans 
en: 
freigebigen 
———— *67 —3— ſeiner cka⸗ 







ager ‚and Freund, feine Anträge muͤnblich zu Berlin 
und fchriftii nad —— erneuert. Auf beide Anträge glaubte 
Klüber feine Erklärung ver zu müflen, bis er Entlaffung von 
feinem Gouverän werbe ann ben ‚Belt und Muͤhe koſtete 
ee, diefe zu 'erlangen,-. befonders da. ibm bie Sinanzminifterftelle von 
dem Buoßberzoge angetragen warb, bie er aber unter ben bamaligen ” 
Berbälsmifen abı abzulehnen fich 03 glaubte, Endlich mit Merkma⸗ 
len der Fertdauer bes gnaͤbigſten Wohlwollens entlaſſen und von dem 
Fuͤrſten Harbenberg, dem er ſolches gemeldet, nach ‚Berlin eingeladen, 
begab er ſich dahin. Erwaͤgend, daß Preußen ältere achte u an ihn 
babe, verſtand er fi, nach einer Unterhanblung von ſechs Wochen 
über bie ihm au une 6 Stellung ‚. zur. einfiweiligen Annahme der zwie⸗ 


—— daß er einſtweilen die Verhandlungen über ben zu ordnen» 
den Rechtszuſtand der preußifchen Standesherren in den Provinzen Wells 
phalen und am Rhein, bafelbft mit ihnen und mit ben dortigen ſechs 
Eöniglichen Regierungen als Immediatcommiſſaͤr führen fole. Drei 
aber (in. welchen er auch dem Gtaatscanzler auf den Congreß zu 
Aachen fo mußte) und geoße Mühe koſtete diefe eben fo wichtige als 
verwickelte Angelegenheit, uͤber deren Beendigung ihm perfönlic zu Ber⸗ 
lin allſeitige Zufriedenheit bezeugt ward. Da bie von Klüber gewuͤnſchte 
Stellung außerhalb Berlins noch einem Verzuge ausgefitt 1 war, fo ers 
hielt er, nach vierzehnmonatlichem Aufenthalte daſelbſt, ben Auftrag, 
als koͤniglicher Bevollmäctigtrr die Auselnanderfegung des aufgelöf’ten 
Gr ogthums Frankfurt und deſſen Departements Fulda zu Frank⸗ 


furt J. bewirken zu helfen. 

hrend dieſer ſchwierigen Verhandlungen (1822) kam bie in 
Grunbfägen unveränderte zweite Auflage von Ktäber’s ‚öffentlichem 
echte des deutfchen Bundes und ber Bundesftanten ” in’ Yublicum. 
„Kaum erſchienen“, fagt Kluͤber felbft davon in ber Vorrede zur. drit⸗ 
ten Auflage beffelben (&. VII. — X., vom 13. April 1831 datict), 
„ward biefe zweite Auflage ein Gegenſtand eiftiger politiicher 
rung: bed und feines Verfaſſers. Dipfomatifhe und andere Bes 
eichte- und Denunclationen, zum heil von knechtiſchen Wohldienern, 
manche von ihnen fonfl dem Verfaſſer zu Dank ‚ wurden 
insgeheim wider beide gerichtet. — Offene Find directe —* erfolgten, 
zuerſt von dem naſſauiſchen Minifter, Freihetrn von Narſchall, 
wiewohl ohne unmittelbaren Erfolg, mit einer foͤrmlichen — 





FIRE 1 » 
{ A . Hl 
ri ia WITH 


Rider, 451 


faſſer des ffentlichen Rechtes beſtanden. Sie wurden Amfig beachtet, 
verbreitet, bearbeitet, abgeutthtitt. Vor ber Verurtheilung dem Ans 
geklagten fie zu eröffnen, ihm mit Vertheidigung und Rechtfertigung 
ordnumgsmäßtg zu Hören, ward nicht für bienlich erachtet. Es Härte 
—9 ag Refultate führen koͤnnen re de sur 
nung, auf entfchiebene Ungeneigtheit zu Aufopferung einer 
Befodung von 5000 Thalern, vorgebeugt worden. — Trotz der Härte 
des mard bartn ielchweht das angeblich Ver⸗ 
ſhutdete mr der Werkehrtheit ber pubiieiftifchen Urtheifskraft des 
Verdammten zur Laſt gelegt. „,,,Mer ihn Kenne,” watd gefapt, 
vu kögebe einen Zweifel darüber erlauben, daß er darin (in de 
Darſiel feines Spftems) nach befter MWiffenfchaft und Ueberzeu⸗ 
gung zu Werke gegangen fetz““ aber bie Nichtkenner müßten baciy 
(in der. Mangelhaftigkeit feiner publiciftifchen Einſicht) eine böfe Abs 
fiht „,au erkennen glanben.”” — ZWweierlei ſcheint hier, 
voransgefeßt, völig Mar: ein auffüllenber Mangel. det Vernunfter⸗ 
kenntniß bei dem Werfaffer — entweder bes Wefcheibes, ober des Buches; 
dann, daß ben Leßten die geheime Polizei wenigftens nicht verdäde . 
tigt habe: Und doc gebührt auch dem Verſtandesſchwachen und 
dem Verdächtigen die Nechtswohlthat ber Wertheidigung! Moher benm 
ſoiche Verfahrungeweiſe und eim fo fchonungstofes Urtheit? — Mes 
nige Wochen nach Eiſche inung dee ziositen Auflage hatten gwel Aus 
gen ſich gefchloffen; ber Stantscanzier, Fürſt Hardenberg, 33 Jahre 
lang, bei vielfacher amtlichet und gefelfiger Beruͤhrung mit dem Ver⸗ 
fafter, fein Gönner und Freund, war gegen das Ende des Con 
ges von. Verona geftorben, zu Genua am 26 November 1822. 
‚ von anderer Denk⸗ und Handlungẽwelſe, waren die Schran⸗ 


Aufen, vielleicht v ff 
anderen Mrfachen ein yußiichkifijee Lobfählag folder 
fein j jener Bett auch 


ehuna feldeh © unterwerfen, Bat er, unter 
fijern Wocatefegung ap nice nicht Srcöägenenrim wiche, ohne 
den geringſten Bergug ‚um Dienftentlafftitg, die, auf tehderhnlte 
Ba —* a Sl kinakı amaudgefegt als Privatmnanı 
ſer te 1" tmann 
in Frautfurt u. DR. Rah ne Be rk 1 lanan Die 
delt und Muͤhewaltung für das otium era: Ahrakete geftimmt, lehnee 





458 Klüber, 


ex mehrere Anträge, in und außer Deutſchland, einen zu einem ber 

iften S— dankbat ab. Ein anfehnliches. Vermögen und 
der. einfache ‚Genuß deſſelben machten Kluͤbern doppelt unabhängig. 
Immer noch ſammelte und. arbeitete er; immer noch, nad) ‚allen Sei: 
ten hin, war er dienſtfertig mit ſeiner reichen Kenntniß und mit. feinem 


Rathe. So hatte er, noch activ, 

Bundes” in 2 Bänden (1816—1817) im, Drud ——— und 
dazwiſchen mit dem unge und der. ————— erwandt ⸗ 
ſchaft der europäiſchen Sptachen- u. ſ. w. (18: 

zur Erbauung und Behandlung ruſfiſcher Stubenoͤfen (1819) und der 
neueſten — bes lathouſchen Kirchenweſens in den koͤnigl. preu⸗ 
Kb Staaten (1822), literärifch ſich befchäftii Seit feiner Ruͤck⸗ 
Behr in den, Privatſtand ſchtieb Klüber: „, Brom in Deutſch⸗ 
land nad feinem jehigen Buftande” (1829); „Abhandlungen und Be— 
obachtungen für Gefdichtsfunde, t8= und Rechtswiſſenſchaften, 
2 Bbe. (1830—1834) *) ;_befonderes Auffehem machte feine Schrift : 
‚Die Selbftftändigkeit, bes Richteramtes und die Umabhängigkeit feiner 
ürtheile im Re ” (1832), worin et den Grundſatz einer 
toͤnigl. preußifchen Verordnung von 1823, melde dad Recht der Ent: 
ſcheidung aller. Streitfragen über dem, Sinn, die Anwendbarkeit und 
Gültigkeit von Staatsverträgen dem Nichteramte entzog und dem Mir 
niſterium ber auswärtigen Angelegenheiten zueignete, mit Freimuͤthig⸗ 
keit peüfte- 1833 erſchien Küber’s „Hortfesung der Quellenſammlung 
zu dem Öffentlichen Rechte des. deutfchen Bundes”; 1834 das „gene: 
alogifhe Stantshandbuh,” 66. Jahıg., 2. Abth.;_ 1835 feine prag- 
matifdhe Geſchichte der nationalen und politifhen Wiedergeburt Gries 
henlands bis zu dem Megierungsantritte des Könige Dtto”. Aus 
Ktüber’s Kiterdrifhem Nachlaffe ‚gab fein vieljähriger Freund, ber Dr. 


ein „Staatsarchiv. des deutfchen , 


), mit. einer Anweiſung | 


Kluͤber. 459 


te8 Doctorbiplom und ber akademiſche Senat einen fhriftlichen Gluͤck⸗ 
wunfd. Die Widmung bes Diploms lautete: „Juris publici inter 
nostrates facile prinoipi, Almae nostrae decori quondam atque 
ornamento, Viro summis laudibus venerando.“ Ä 

Der Wunſch der Facultaͤt: der verdienftvolle Greis möge in kraͤf⸗ 
tigem, fortwährend Früchte tragendem Alter feiner gelungenen Stres 
bungen Lohn noch lange im Weberfluffe genießen, ging nicht in dem 
von der Wunfchfpenderin beabfichtigten Maße in Erfüllung. Klüber’s 
perfönliche große Ruhe und Gelaſſenheit, feine Amdnität (Liebenswuͤr⸗ 
digkeit) Im Umgange, feine freundliche Wereitwilligkeit , wiſſenſchaftlich 
zu rathen, fein mit den Jahren und Erfahrungen immer mehr aus: 
gebifdeter und fefter geworbener conflitutioneller Freiheitsſinn und feine 
ganz fefte Hoffnung auf politifches Beſſerwerden“), hätten wohl ein 
noch längeres Leben vermitteln follen ober koͤnnen. Doc, nad, kurzer 
Krankheit, farb Küber am 16. Zebruar 1839 fruͤhmorgens um 1 
Uhr, im hoͤchſten Grade ruhig und fanft, in Sranffurt a. M. 

Nur eine Stimme der Anerkennung begleitete in ben öffentlichen 
Blättern (abgefehen von deren fonftiger politifcher Faͤrbung) die Todes⸗ 
nachricht Kluͤber's. „Immer lichter werben,” klagte die Frankfurter 
Dberpoflamtszeitung , „die Reiben ber Männer von altem Schrot und 
Korn, ber Gelehrten von raſtloſem Fleiß, der Staatsmänner, bie mit- 
gelebt und mitgewirkt haben in der großen Weltkriſis, deren- Ausgang 
noch heute Bein fterbliches Auge erfpäht. — Johann Lubwig Ktüber ift 
geftorben, deſſen Wahlfprudy war: Vitam impendere vero! a, bie 
erfannte Wahrheit galt ihm als bes Lebens hoͤchſter Preis; ihr blieb 
er teen bis zum Moment, ber ihn fheiden ſah. Wie viel Wiſſen, 
wie viel Geiſt, wie viel vedliches Wollen, gebt mit ihm aus ber 
Welt!” — Die „Allgemeine Zeitung,” indem fie biefe achtungsvollen 
und achtbaren Klagen in ihren Spalten wiedergab, feste hinzu, daß 
„fie in dem Verſtorbenen eine lange Reihe von Jahren hindurch einen 
ihrer allergefchägteften Mitarbeiter und Gönner verehrten dürfte.” Aehn⸗ 
lich ber „Deutfche Courier.” Auch lieferte derfelbe eine anfprechenbe 
Parallele, „Klüber und Boͤrne“ überfchrieben, trotz der Gegenfäße in 
Beiden, zu Beider Ehre. Won Kiüber hieß es dba: „Zu den Züßen 
bes Meiſters faßen wir Männer des jüngeren Gefchlechtes und lernten 
aus feinen Werken, wie die Gefchichte des Öffentlichen Rechtes Schild 
und Schiem ift der gefeglichen Sreiheit und der ftantlichen Ordnung; 
buch feine tiefe Gelehrſamkeit, feinen klaren Geift wurden wir bes 
lehrt, daß auch auf Hiftorifhem Wege Freiſinn und Humanitaͤt breite 
Straße finden, gefichert durch die unabmeisliche Forderung des Rechts: 
zuſtandes, geftärkt duch bie Kraft heimifcher Inſtitutionen. Kluͤber 
zeigte und, wie bie Gegenwart aus ber Vergangenheit ſich entmwidelt, 





*) um bie Beit, ba bie öffentlichen Berhaͤltniſſe von Deutfchland ſich truͤb⸗ 
ten (1832 ober fpäter) ‚ ren KHMäber —— an Ik Darm: 
ftabt: Durate et rebug vogmet servate secundis! 


° 





460 rüber. 


Damit wle daraus lernen konnten, der Zukunft die Band zu Kteten, 
mit Kenntniß und Einſicht. — Kihber hatte ein ae Stůck Weit⸗ 
geſchichte mitgeledt, Hatte es aufgefaht fd verzelchnet Im Maren Gin, 
und ſchien in feiner einfachen Weiſe, im feiner edeln Gemuͤthoruhe die 
geheimen Anfeindungen, beiten er ausgefeht war, ald ganz natürliche 
Ereigniffe des Lebens zu betrachten, als einen Abfchnite feiner Specials 
hiſtorle / nur — für die Mujeſtunden ſeinet Sreutibe. — Klüber, 
vol freundlichen Eenſtes, 'whltthellend und bitehrens ein MWeltmann 
nad) dem alten Style, Bed voll guter Ideen der vermittelnden Reu⸗ 
zeit. — Müber, dudh dem Sreniden vertrauensvott entgegenkommend, 
öffnete Jedem, der bataus fihöpfen toolkte, den reichen Schatz feiner 
Erfaheungeh und feiner Senntuiſſe. — Kiüber Fhßlte wohlverdiente 
Selsftbefritötgung ‚in der algianeinen Verehrung feiiet Bäbkemoffen. — 
Kluͤber's Wirkfamkeit war minder firahlend, uber jet und 
deutfcher. — Mäber war ein Weiſer, wie die Alte ihm Dargefleile.” — 
„Klüber, der und mohltwollende Märn,” fo fasten bie 
Auterarifchen und Exitifchen Blaͤtter der (Hamburger) Bötfenhalle” von 
dem Dahingegangenen, „wat doch, als Mitgtieb des babiſchen Mini⸗ 
ſteriums / fehr gegen Martin, ben in freiem Sinne damals zu Heldel ⸗ 
berg wirkenden Profeffor. ber, unter veränderten Besktntffen, ur} 
Ktüber aus der Holle bed Hammers in bie bes Amboßes über, umd, 
mie er damals mit „Kraft gewaltet hafte, fo Mat er es jeht mit 
Würde. — Wiſſenſchaftlich Inmitten ber Parteien ſtehend, wuͤrdtgte 
ihn jede nach feinem Verdienſte, und fo ſeht er fi der liberalen 

terefien, namentlich der Sache ber Preßftelheit, mit Hand und Mund 
günftig zeigte, fo theite body auch dieſelbe Hand und derſelbe Mund, 
hiſtorifch gliedernd und ohne die Meinfte Untrene an jenen Angeffternen, 








nammtlich feines finkenden Lebens, Mefponfa über Succeffionsfras 
gen und andere pofitive Dinge an durchlauchtige Häufer mit.” 

In diefem Mofait Berfhiedenet Urtheile über Kubet liegt 
ein Gefammt-Urtheit, tielches gerade bubürch, daß e# von verfehles 


Klüber. Klugheit. König. 461 


zu Hof⸗ und Prjvatgunft zu gelangen. Er bat aber auch bie eine 
unb die andere, wenn fie nicht auf anderen Megen erlangt ward, ober 
zu erlangen war, nie zu fchägen gewußt, überzeugt, baß ber Achte Pu⸗ 
blietft ſtrenger Waͤhrheltsliebe, mit reinem Wohlwollen und feſter 
® ft nicht weniger ausgeruͤſtet fein müffe, als mit einem 
Schat von Erfahrung und Kenntniffen.” Und am Schluffe feiner 
Ecsähtung vom Rüdtritte aus koͤnigl. preußiſchen Staatsdienfte und 
der Berantaffung dazu, bie von Ihm mitgethellt worden war, als Bei⸗ 
ER „zur Geſchichte der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts, unferer 
Zeit, feines Wuchs und feiner felbft” (vergl. oben), hatte er jene noch 
mehr lachenden und vecheigenden Farben des Jahres 1817 in ein Grau 
er Reftgnation überfegt. „Es gibt ernfte Augenblide, in wels 
hen dr Menſch ſtarkmuͤthig fich erheben muß über die gemöhnlichen 
Rüdfihten des Lebens. Dem ungehört Verurtheilten koſtete es, unter 
den gegebenen Umftänden, nicht die minbefte Webermindung, einem 
Amte, Titel und Gehalte ruͤhmlich zu entfagen, die er unrähmlich nur 
hätte behalten tinnm. Ruhig, in feinem gefränkten Recht, durch bas 
Berouftfein ber Schuldlofigkeit, fchled er von dem Staate und befien 
Durnſte: darum nicht minder dankbar fhr alles Gute, was ihm batin, 
befonders durch bie Gnade des aliverehrten Monarchen, zu Theil ges 
worden war.” ' 
So ber Schluß der Vorrede zur dritten Auflage von Klüber’s 
„Deffentlihem Rechte.” Es mar fein tehtes Wort In der Vorhalle zu 
dieſem ehrwuͤrdigen Tempel, welcher feinen Erbauer auf lange übers 
leben wird. Die vierte Auflage ſollte nicht mehr aus feinen Händen 


bervorgeden. 
ber's Schriften in beutfiher, Tateinifher und franzoͤſiſcher 
Sprache (devem, mit und ohne feinen Namen, über fiebenzig erfchies 
nen fein mögen) find berjelehnet in Meufel’s „gelehrtem Deutſch⸗ 
land ‚” insbefonbere deſſen 14. und 18. Bunde (das gelehrte Deutſch⸗ 
fand im 19. Jahrhundert, 2. und 6. Band, 1810 und 1821) und 
im „neuen Itto⸗ bee Deutſchen,“ 15. Jahrgang, 1837, 1. Theil. 
Meimar 1839, As „geroiß” hatte Hofrath Berlp In dem oben ers 
wähnten Artikel der „Oberpoſtamtszeitung“ Bezeichnet, daß Klüber noch 
—— hinterlaſſen, was den Nachkommen manche dunkle 
rtie der Zeitgeſchichte aufhellen dürfte, und Kluͤber ſelbſt verkuͤndet 

uns in feiner mehrerwaͤhnten Vorrede zur dritten Auflage feines „Def 
fentlihen Rechte” *) eine ausführlihere, ſchon feit 1825 brudfers 
tige Darftellung feines Dienſtruͤcktrittss. Moͤge uns diefe, fo wie jenes, 
nicht vorenichalten bleiben ! Karl Buchner. 

Klugheit, f. Staatsklugheit. 

König, f. Titulatur. 







*) Xuch im der Worrebe zum neunten Bande feiner Acten bes Wiener 
— (1885) G. IX. mit der ausdrädlichen Bezeichnung als „Rechte 
8“. 


AOR_Kopffkener) Derſonaiſteuer ; Claſſenſteuer. 


Kopfſteuer; Perſonalſteuerz Claffenſteuer. — Dar 
Name der Kopfſteuer hat einen,üblen Klang. Ex fuͤhrt einigermaßen 
die Idee der Keibeigenfhaft, menigftens bie einer perfönlihen 
Zributpflitigbeit mit fi, "welche der Würde bes. perfönlih 
freien Mannes und Staatsbürgers widerfpricht, „ihn nämlich einem 
anmaßlich auch über bie, Zeiber ber, Unterthanen ſich erſtteckenden 
Sahenreht ober TR EN der Staatsgewalt unters 
wirft, und eine Art von Loskauf ober periobifher Anerkennung. deffel 
ben, von "Seite der Pflichtigen fordert. Auch fehen wir in_der That 
gar häufig — in der Vergangenheit und auch noch In der Gegenivart 
— dieſe Steuer ganz eigens ben etwa im Kriege beftegtem oder unter- 
jochten Volkerſchaften oder im Schooße berfelben Nation ben. niedriges 
ven, oder niebergebrücten Volksclaſſen aufgelegt, tie 3. B. die von den 
Chriften in, der Tuͤtkei, bie von den Juden in verſchiedenen chrift- 
then Staaten, bie von den Bauern ‚und, gemeinen Bürgern in 
Rupland u, ſAw, ehngeforberte. Kopfiteuer,. ober auch bie ehevor. 
bier und dort beftandenen Hageſtolzen⸗, Keber=, Caftraten=, Hutenz 
u. f. i, Steuern. Zu folder im dem angeführten Principe, ber 
duch ‚die Gewalt auferlegten perfänlihen Tributpflicht 
tiegenden Gehäffigkeit der Kopfiteuer gefellt fih dann noch. bie 
— von. ben meiften ‚Schriftftellern behauptete und. von, der ‚öffent 
lichen Meinung faft durchgängig angenommene — Verwerflich⸗ 
Leit derſelben auch ais mirklihe Steuer, d. h. als eine von 





Kopffteiter 5: Derfonalftener; Glaffenftener. 468 


0 
nahme gründet. Unſere Anfict darüber Haben wir bereits in dem 
Artikel „Abgaben’ aufgeftellt umd berufen uns bier darauf. Wels 
her von beiden Hauptanfichten jedoch man beipflichte: fo iſt jeden 
falls Kar, daß die Kopfiteuer, wenn fle die einzige oder amd nur 


weit weniger eintragen, als et irgend einem — dem eimen ober 
Tu een re Bert Dil entfpredgenden — Steuerfgfteme . 
von ſeinen Angehörigen zu erheben berechtigt md im Stande märe. 


Ale 
Ihr 
Hin 
23° = 
: Ei 
F Inıjar 
—— 
Ei 


an 
finompiede. und Ar jet 
Theilaa 53 den Wopithat 
das Maß Diefer Tpeltnahme, wenn nice ausfchließend und 

106, fo doch ya größeren Theile und in der Regel nach dem 
des Veflächums amd Einkommens; und es ziberfreet bemadı 


| 
uHiE 
E33 13 


Sind, gelegt fo geht baburd dem armen, etwa mit vielen Kinde 
gefegnsten Samitienhaupte, verglichen mit dem veichen Gölibatär oben 
Kinderlofen, eine m. Be chwerde zu, -und_ treten noch andere 


heilloſe —E B. in Bezag auf Gewerbegehuͤlfen und 
Dienſtboten, auf Producenten und Confumenten u. ſ. w., ein, und 





ar Sopkkamss; Pefpmalfteners. Glafienfteuer, 


wird gat⸗ oft · die — *⸗ —B de Me 
Maztın * — gaı : 
2} 


Einkommen zur Grundlage * an 
beſtehende und nur. mäßige 
werden will. Unter: den. nom 


ig au ſteuern, Sie 
1. die Pers 


unfhäghen, wohl aber „em won Staate, für ‚deren Schug 28 wer 
chenden Yufmanı —sutiprehende Beſteuerung jedes einzelnen Hanne 

106. laͤſe alſo om Sandpunete bes ſtrengen Rechtes han, wohl A 
— lee Humanitat und edlere Politik die Busieffung 
der ganz Armen federn mögen, ober. vielmehr derſelben Bakkumgse 
unfäblgßeit ——— — es waqhe. Del einen die⸗ 
eg — det- Em ‘ ren Biete ww 

am⸗n 8 2.7 

dieſe gar leicht — örffelken. im, uPerfonatftones” 


aufzubehen. fein, 
&3 verliesen übrigend ae "Dislamationen gegen die Kopfſteuer 
ſchon dadurch alle Bedeutung, daß man, trofn derſelben verfchiebene 


$ “ HARERE 
25*53 {FE R 
yi Nik lies H ANNE 
J — heben ji: 
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2 orte anti Derſoaalſtenct. 


Mit ynn⸗we en 008 een viodh- tohen Buflande ber: Fb 
hät, ar We ci Frbenss und 

a le ee, Ba we don in. ſche Alten 
auch die — — Ale 


dudurch io, br man 

miehrere Ärtnere Perfonen , yufankaten 

und ben Mädten Dagegemeßtete ! er 
die: Rinde des. Siowaius Apdkinarie, AMandet ale, 
als wäre de Cecateus -b. din Häite- et Tue au 
noch in ben Zeiten einte bireite vbufeinten 

DIE Kopffteaer an, gem die. Auf bie nieberen de pi 
tegte, als eine immerhin willfommene Quelle einer erhöhten oͤffent- 
tihen Einnahme ohne Belaͤſtigung der Privifegirten | Stände, So 
laſtet in Ruland heit zu Tage noch auf den Bauern und den 
gemeinen GStädtebürgern eime ſchwere Kopfſteuer, von welchet der 
Adel, die Geiftlicjkeit, die Soldaten und die Kaufleute Heirat eh 
Sie würde für die aͤrmeren Familien ganz unertraͤgtich fein, wenn 

nicht die Gemeinden, an melde die Geſammtforderung für di 
ihnen wingehörige Seelenzahl ergeht, aus eigener Anctorieät eine 


annaͤhernd nach dem Wermidgen fich tichtende MWertheilung der je: 

forderten Steuerfunme träfen und dadurd die Natur diefer Steuer 

Ba — —8* 2 den ae Län: 
aud) ih Dänemark, in S 


Kopfiteuer. Koran. | | 467 


meinen Lehhr⸗ uub Handbuͤchern don Finanzwiſſenſchaft und Steuer⸗ 

weſen enthalten, deren Namen cheils allgemein bekannt, theils in 

den dewiutin aber finanzielle Gegenftände von ww angefäbet 
otte 

in —— Genasj6 e der mubamedanifhen Lehre 

hands KH — um Mubhameb 











, tät 
wichtiges hNeriſchen Bolzen fei ‚und 
daß ſich ech vente mindeſtens 150 Millionen Menfhen zu fer 
ner Lehre belanen. Jene nähere Aenntniß gebricht uns aber. Freunde 


Wahrheit und — abweichen. Es fehlt uns faſt jede an fich 
‚glaubteirbige rue, und ſalbſt die beſten arabiſchen Blographen, wie 
| Mbelfn - Ahbulfeda, de Vita et Rebus gestis 
Mohammedis; Jatine :verfit wtv.- Jolı. -Gagniei. 'Oxon,, 1723), ver 

mögen , wie auuch ſchon Bibbon benerkt Hat, Leinen einzigen Gewaͤhrs⸗ 
mann aus bdem erſten Jahrhunderte der —ã—— ſonach keinen ein⸗ 
stgen mit jenemn Religiondftfter se lebenden Schriftfieller ans 


Der · hifloriſchen Genißheit “ enthehrenb, liegt für uns fs » 
nach auch die Unmöglichkeit vor, 6 Abſichten, fein öffent 
tches Auftreten mb —— vollkommen zu erkennen 
und nr whrbigen. Wir mäflen :uns daher vielfach mit bloſen Ver⸗ 
mungen nd Wabriheinlihkeiten begnügen, um une 
die wirklich feruergetretinen Erfcheinungen nur einigermaßen Mar u 
man. 


Hnverhennbwe: enthehrte Mihameb Jeder höheren geiſtigen · Bildung. 
Allein biefer Umfand feher —— den Augen feiner arabiſchen Landes 
teste: darun nſcht herab, weill Aue Im gleichen, ober fetöft u Im in 





durchbringender Sthäsfe  vrfaffenden Verſtand 
* von Eebencklugheit and Menſchenkennutniß/ verbunden (Was. fo 
ıften —— * finder): it einer bilderreichen, fe: erhabenen und, 
——— Pantafie. 
7 Milfiineb ſacumte von ben Koreiſchiten ab „ben Schadern und 
Güte (nmiaidtiy den den Mriefleon) der mon ıben. Arabern 
feit: unbeitiiigen : als: heilig Raabe: : 


Umſtand, 
zumal in mit ıimsmcheriel eigentchuͤmllchen: Sehens taſeien 
(von dem: fechhen Werluſte —— anſangend), mag fen beis 
te æligioͤſen em Dingen eine weit mehr 
cos Gr Aufmerkfautcit uibemete. : . < g0* 








468 Korat. 


Sn ee — mußte ee — ber —— Senna 
Tee, — alsbald den Aberglauben, uͤberhaupt den unfinnigen Cultus, 
dem feine Landsleute huldigten, als maturtoidrig und vernünftiger Me 
fen gany unwuͤrdig erkennen. Haft allenthalben In Arabien herefchte 
ein graſſes Heibenthumz und weun ſich auch einzelne Juden und Chris 
ften fanden, fo flanden fie durchgehende, zumal Lehtete mit ihrer Dei: 
Tigenanbetung, beinahe auf gleich niedriger Stüfe, wie jene, Der Zus 
ftand der ganzen Nation war darum eim bekfagensmerther; das Wolf 
der Araber war nicht, was es fein konnte. 

Für einen Mann voll Fähigkeit und im Gefühle hoher That ⸗ 
Braft mußte es darum lockend erfcheinen, als Meformator aufzu⸗ 
treten. Vermuthlich beabfichtigte Muhamed Anfangs nichts weiter, als 
Wiederherſtellung der alten reineren Lehre, ohne nur zu ahnen, dag 
er der Stifter einer neuen Meligion werden duͤrfte — eben fo wie 
(freitich unter ſehr verſchiedenen Verhäteniffen) fpäter der fächfifche Re— 
formator, Aber auf biefer Bahn vermag man, Ak nue der erfle 
Spritt gethan, nicht Aurgiweg am jeder beliebigen Stelle Halt zu 
maden. — Muhamed ſuchte befonders den beiden Lehrfägen: „Es gibt 
nur Einen Gott,” und „die Seele des Menfchen ift: unfterblich,” ats 
Grundlage des ganzen Religionsweſens, allgemeine Geltung zu ver: 
ſchaffen. Aber diefes Biel war, micht ganz leicht zw erreichen. Es ber 
durfte des Anfcheines einer. befonderen göttlichen Miſſion, um bie 
zehiloſen angebeteten Gögen und überhaupt die Maffe des herefchenden 
Abergiaubens zu ſtuͤrzen, um auf den Tehmmern des alten Gebäudes 
ein neues, befferes aufzuführen. 

So nahm denn Muhamed die Role des von Gott ummittelbar In— 





Koran, 469 


bee Allmacht und Vorſehung Gottes hergeleitete fataliflifche Lehre einer 

sehenben unbedingten Vorherbeſtimmung verbreitete 

unter feinen Anhängern, und bie an wie 
Sache barrenden Freuden bes 







| Para» 

hervor. So ers 
Beit eine über einen fehe großen 
fi ausbehnende Verbreitung — 

AR ulebegpiegt in.dem Koran. 

. 2% Dir Koran im Allgemeinen. — De Koran, Al 
Koran, bad I AAgentlih die Vorleſung (ober Schrift, yoapı), wohl 
auch al Yerten, «at 26 a Kitah (das Bud, die Bibel) unb 
al Dhike (die Erinnerung) genannt, if in m ernbifher Sprache verfaßt: 


? 
Er 
3* 
* 
3 
: 
$ 


ed vorſang, herabgefendet Haben. —* 
— er, nicht als 1* vollendetes Ganzes, ſondern nur ſtückweiſe, 
— Sura — 8 nach der anderen, von dem Erzengel bem Pro⸗ 


Def. bee Koran in arabifcher Sprache verfaßt ei, hebt Mus 
hamed bazımm, noch befonders hervor, weil hierdurch einem Jeden im 
Volke (nämlich in demjenigen Volke, unter. welchem er geboren war 
umd lebte) bie Offenbarung zugänglich unb verſtaͤndlich gemacht ſei. 


Pan! 
jeder. Gelegenheit auf, —— Veh, auch. nur eine einzige Abs _ 
theitung in ‚gleicher Weiſe —— u’ „Du Eannf getroſt Tagen,” 
fl timme ſich zurufen (Sura 17), „daß, wenn ſich bie 
52* vr —— 





RR, f u —* 
alten Offabarangen uud ex -eslidrt dad Geſet und * 
a0 Wollen ‚fie Jaber Sagen: eb.iik. Muhameb’s Werk, fo 
auntungte : Vefertiget denn eine Sura, bie jo trefflich wie bie ſeinigen 





470 Koran, 


find, und rufet, außer Gott, zu Hälfe, wen Ihe wollt... Ein Erkennte 
niß, das für fie zu hoch war, haben fie des Betruges befchuldigt.” 

Der Koran (ein Bud etwa von ber Hälfte des Umfanges 
ber Bibel) enehäft im Ganzen 114 Suren ober Capitel, mande von 
bedeutender Länge, die meiften aber ohne große Ausdehnung, fo dag 
viele, beſonders bie legten, nur ein paar Zeilen umfaſſen. Sie haben 
fonderbare, für uns großentheils unverfländliche Ueberſchriften. Hdufig 
find die legteren von einem in bem Gapitel vorkommenden Schlagwort 
oder Bilde bergenommen, 4. B. das „Eifen,” die „Schlachtordnung,“ 
der „Sieg,” „Raf (ein Berg, ober au in. Beziehung auf einen 
Buchſtaben) zc. Das weitlaͤufigſte und jedenfalls eines der wichtigſten 
Gapitel ift das zweite, aus einem unbefannten Grunde (feiner Auss 
dehnung wegen, wie Einige vermuthen) „bie Kuh” genannt; es ent= 
hält die Hauptlehren des Muhamedanismus. 

Die einzelnen Suren ſtehen unter ſich in gar keinem Zufammens 
hange. Meiftens tragen fie unverfenndare Spuren an fi, baß ihre 
Abfaffung durch diefe oder jene aͤußere Weranlaffung hervorgerufen iſt; 
die Offenbarungen richten ſich meiftens nach den Werhältnifien, in 
denen ſich Muhameb gerade befand ; manche find offenbar durch Staats⸗ 
Uugheit (wenn wir es fo nennen dürfen), andere durch die Bedraͤng⸗ 
niffe des Augenblickes, ober felbft vielleicht buch eine gewiffe, im In⸗ 
neren ber Bruſt ihres Verfaſſers brauſende Leidenſchaft diciirt. In 
alten hertſcht eine zwar geringe Bildung, aber hohe Naturpoefie, mit⸗ 
unter eine glänzende Phantäfie beürkundende Sprache; oft blumen- 
reich, oft vol Lebenserfahrung, und eben fo voll inniger Begeiſterung 
für Religiofität, Wahrheitimd Recht. "Dagegen ermiden aber die fat 











Koran. 471 


enthält insbeſondere Vorfchriften des Civil- und des GStrafgefeges, ber 
Geſundheittpollzei und felbft ber Yolitit, und muß demmach in diefen 
verfdlebenen Beziehimgen gewuͤrdigt werden. 

6.8 Die Blaubensichren bes Korans.— a) Einheit 
Gottes. Es gibt nur einen: Bott, einen einigen, allmächtigen, 
allweiſes aübgumberzigen , allwiſſenden. Mit Nachdruck verwirft Mu⸗ 
hammeb die Lehre der Chriften von der Trinitaͤt, indem er fie befchulbigt, 
drei Qeter anzubeten. Chriſtus iſt ihm ein hochehrwuͤrdiger Pro: 
„bes, aher nicht Gottes Sohn, nicht Gott ſelbſt. Eben fo tadelt er 
bie Araber, melde pon Töchtern Gottes reden. „Allem richtigen 
Erkenntuiſſe zuwider bat man Gott Söhne und Toͤchter angedichtet. 
Gott werde allein. geprieſen! Und Alles ſei von ihm entfernt, was fie 
ihm beilegen wollen, dem erhabenen Gotte! Er ift ber Schöpfer ber 
- Himmel und dag Erde. Wie ſollte er einen Sohn haben, ba er Feine 
Gattin Hat? - Klee Dinge hat er erfhaffen, und alle Dinge kennt 
we. Das I uer Gott! Es iſt fonft kein Gott, als er, er, ber 





Dinge. Diener ihm alfo, denn er ſorgt für Allse.. 


® ie 

Kein Geſicht kann ihn fehen, er aber ducchichaut jedes Geſicht. Der 
Unerforſchläche iß er, der Meile if er“ (Koran, 6. Sura). — 
Mehamed werwirft unser allen Verhaͤltniſſen jede Bösen: und Men⸗ 
ſchen⸗, Sterns und andere Verehrung finulicher Gegenſtaͤnde, aus dem 
Brunde: Astas,, was fidi hebt, muß fintens was geboren wird; muß 
ſterben; alles Zerflöchare muß vergehen und umlommen. — In des 
Meltaſts Urheher nershit eu mit Begeiſterung ein unendliches und ewi⸗ 
ges Weſen, ohne Geſtalt ober Wohnung, ohne Abnahme ober Gleich⸗ 
heit, 8 unferen gehsimftien Gedanken; ein Weſen, das fein 
Daſein ans ber Nothwendigkeit feiner eigenen Matur, unb alle mora⸗ 
liſche und Intellectuelle Vollkommenheit aus ſich ſelbſt hat *). . 


b) Unſterblichkeit. — Mit giähender Wegeifterung fpricht ſich | 


Muhame für die — von feinen Mirbürgern faſt durchgehend® geleug⸗ 
nete — Auftftehung nach dem Tode aus. Dit Drohungen himmili⸗ 
* Strafen, mit Verheifung himmlifcher Belohnungen ſucht er 
biefee ſeiner "Lehre allgemeine Geltung zu verfchaffen. Auch ſtrebt er 
w oft wiederholten Malen die Behauptung: daß dieſes naturgemäß un⸗ 

oͤglich fei, — durch Beiſpiele natätlichet Erſcheinungen zu widerlegen. 
So, wie es Gott möglich war, Euch zuerſt aus Staub zu fchaffen, 
dann aus Samen, — und ohne feinen Willen kann Hein Weib ge 
ſchwaͤngert werben, noch gebären, — fo wird es Ihm auch gemiß 
‚möglich ſein, Eueren Staub wleder zufammenzufügen und Euch zu neuem 
ten zu erwecken. „Die tobte Exde, die wie durch dem Bkegen wie⸗ 


einem ſtarken X Enthu mirn⸗ bemerktt Gibbon: 
„en —— Deiſt un bee a nufae Botbsglaubensbelenntniß un: 
—* un; ci Slaubenbelenatniß, vielleicht für unſere gegenwaͤrtigen Kräfte 


\ 





470 Koran. 


find, und rufet, außer Gott, zu Hülfe, wen Ihr wollt... Ein Erkennt 
niß, das für fie zu hoch war, haben fie bes Betruges befchulbigt.” 

Der Koran (ein Buch etwa von ber Hälfte des Umfanges 
ber Bibel) enthält im Ganzen 114 Suren oder Capitel, mande von 
bedeutender Länge, die melften aber ohne große Ausdehnung, fo daß 
viele, beſonders bie legten, nur ein paar Zeilen umfaffen. Sie haben 
fonderbare, für uns großentheils unverftändliche Ueberſchriften. Hdufig 
find die legteren von einem in bem Gapitel vorfommenden Schlagwort 
ober Bilde hergenommen, 4. B. das „Eifen,” die „Schlachtordnung,“ 
dee „Sieg,“ „Raf' (ein Berg, ober auch in Beziehung auf einen 
Buchſtaben) ıc. Das weitldufigfte und jedenfalls eines der wichtigften 
Capitel ift das zweite, aus einem unbefannten Grunde (feiner Aus« 
behnung wegen, wie Einige vermuthen) „bie Kuh” genannt; «6 ent 
hält die Hauptlehren des Muhamedanismus. 

Die einzelnen Suren ftehen unter ſich in gar keinem Zuſammen—⸗ 
hange. WMeiftens tragen fie unverfenndare Spuren an fi, daß ihre 
Abfaffung durch diefe oder jene Äußere Veranlaffung hervorgerufen it ; 
die DOffenbarungen richten ſich meiftens nad den Werhältniffen, in 
denen fi Muhamed gerade befand ; manche find offenbar durch Staats- 
Uugheit (wenn wir es fo nennen dürfen), andere durch bie Bedraͤng⸗ 
niffe des Augenblices, oder ſelbſt vielleicht durch eine gewiffe, im Ins 
neren ber Bruſt ihres Verfaſſers braufende Leidenfchaft diciirt. In 
alten herrſcht eine zwar geringe Bildung, aber hohe Naturpoefie, mits 
unter eine glänzende Phantäfte beurkundende Sprache; oft biumens 
reich, oft voll Lebenserfahrung, und eben fo voll inniger Begeifterung 
für Retigiofität, Wahrheit und Recht, Dagegen ermüben aber bie faft 





Koran. 471 


enthält instefondene Vorſchriften des Civils und des Strafgeſetzes, der 
Geſundheittpollzei und felbft der Politik, und muß demnach in biefen 
verfiebenen Beziehungen gewuͤrdigt werden. 

& 8 Die Blaubensicehren bes Korans.— a) Einheit 
Gottes, Es gibt nur einen. Bott, einen einigen, allmächtigen, 
—*8 allbarmherzigen, allwiſſenden. Mit Nachdruck verwirft Mu⸗ 
hameb bie Lehre der Chriften von der Trinitaͤt, indem er fie befchulbigt, 
Drei Goatter anzubeten. Chriſtus iſt ibm ein hochehrwuͤrdiger Pro⸗ 
phet, aher nicht Gottes Sohn, nicht Gott ſelbſt. Eben fo tadelt er 
bie Araber, weiche pon Töchtern Gottes reden. „Allem richtigen 
Erkenntniſſe zuwider hat man Gott Söhne und Toͤchter angedichtet. 
Gott werde allein. gepziefen! Und Altes fei von ihm entfernt, was fie 
ihm beilegen wellen, dem erhabenen Gotte! Er ift ber Schöpfer ber 
- Himmel unb der Erde. Wie ſollte er einen Sohn haben, ba er keine 
Sattin hat? : Mile Dinge hat er erfchaffen, und alle Dinge kennt 
ar. Das i$ Bur Bor! Es iſt fonft Fein Gott, ale er, ex, ber 


Schöpfer elle. Dinge. ‚Dienet ‘ihm alfo, benn er fargt für Rum. 


Kein Geſicht kann ihn fehen, er aber durchſchaut jebes Geftcht. 

Unerforſchläche iß er, der Weile iſt er“ (Koran, 6. Sur). — 
Muhamed nerwirfs unter alien Perhaͤliniſſen iede Goͤhen⸗ und Men⸗ 
ſchen⸗, Stern⸗ und andere Verehrung finulicher Gegenſtaͤnde, aus dem 
Bunde: Alles, was fid; hebt, muß ſinken; was geboren wird, muß 
ſterben; alles Zerflöchbare muß vergehen und umlommen. — In des 
Mleltais Urheher verehrt er mit Wegeifterung ein unenbliches und ewi⸗ 
ges Weſen, ohne Geſtalt oder Wohnung, ohne Abnahme oder Gleich⸗ 
Heit, gegenwärtig unferen geheimſten Gedanken; ein Weſen, bas fein 
Daſein ans der Nothwendigkeit feiner eigenen Matur, und alle mora: 
liſche und Intellectuelle Vollkommenheit aus fich ſelbſt hat *). . 


b) Unſterblichkeit. — Mit glähender Begeiſterung ſpricht ſich 


Muhame für die — von feinen Mitböngern faft durchgehende geleug⸗ 
—* —Auxẽerſtehung nach’ dem Tode aus. Mit Drohungen himmü⸗ 

er Strafen mit Verheifun himmliſcher Belohnungen fucht er 
\ eſer ſeiner "Behre allgemeine —2 zu verſchaffen. Auch ſteebt er 
zu oft wiederholten Malen die Behauptang: bar un naturgemäß un: 
moͤglich fet, — buch Beifpiele natürlichet Erſcheinungen zu widerlegen. 
So, tie es Gott möglich war, Euch zuerft aus Staub zu fchaffen, 
dann aus Samen, — und ohne feinen Willen kann Bein Weib ge- 
ſchwan —— noch gebaͤren, — fo wird es Ihm auch gewiß 
mögtie fein, Eueren Stanb wieder zufammenzufügen und Euch zu neuem 
Sben gu erwecken. „Die todte Erbe, die wie durch der Wegen wie⸗ 


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m ſtarken X — dbenerkt Gibbon: 
„Ei ‚an vera Deit un 8 [ih tms Boltsglaubensbelenntniß ua 
* er 3 cin Binubensbekuntniß, — hr unſert —— Kiäfte 


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Koran. 473 


Ungläubigen. Ganz befonberen Werth lege er aber auf Mofes, von 
welchem er bie in der Wibel erzählten Wunderthaten (jeboch mit mans 
Barlantn) wieder erzählt, — fobann auf Chriftus Er 
erwähnt beffetden vlelmals umb fpricht ſtets mit der hoͤchſten Adıtung 
von ihm. Er HE ihm geboren von einer Iungfrau (19. Sura), welche 
auch eigens „Dach “ betitelt iſt; — eben fo hat die 3. Sura bie 
Ueberfcheift „das GBefchlecht Aniram” (mie der Water Martens geheißen 
haben ( Am Kreuze iſt er nicht geflorben, denn feine Seinde ‚has 
ben ihn weber getödter —* an's Kreuz geheftet, ſondern es warb ihrer 
NRache ein —— Men ſch übergeben, ber (aͤußerliche) Aehnlichkeit 
mit beſaß“ (4. Sura) — As Sohn Gottes, ober als Gott 
edler Jefus nicht anerkannt. „Chriſtus iſt nicht fo hoffaͤrtig, 

er ſich weigern ſollte, ein Knecht Gottes zu ſein; die Engel 
Ka 3* auch wet, bie doch Sort am Naͤchſten ſtehen“ (ebenbafelbft). 
„CEhriſtus iſt weiter nichte als em Geſandter; vor ihm find anbere 
Geſandte bergegangen, und feine Mutter war ein gewöhnliche Weib“⸗ 
(Sur 5). — Schon ale neugeborenes Kind fagte aber Chriſtus: 
„Wahrhaftig, ich bin ein Knecht Gottes. Der Herr bat mie das 
Evangelium gegeben und mich zum Propheten beflelle.” ... „Dielen iſt nun 

der Koran Wort der Wahrheit 


Jeſus — füher ' 
eigentliche Natur ni lg Fu Fuͤr Bott paßt es ſich wicht, einen 
Sohn geieage iu hab en. Hinweg mit biefem Irrthume!... Die Chriften 

ber hersige habe einen Sohn gegeugt. Das iſt ja ein uns 
geheuereß —— Kein Wunder waͤre es, wenn die Himmel zer⸗ 
—— die Erde ſich oͤffnete und bie Berge einſtuͤrzten Aber bie. 

‚ daß Bott einen Sohn gezeugt haben fol. Es iſt eine 

Unwkebigteit, von dem Erbarmer foldyed zu lehren. Niemand tft 
weder im Hineeael noch auf Exben, der anders zu bem Allbarmhetzigen 
treten koͤnnte, denn als fein Knecht” x. (Sura 19 

Ehriſtus verkündete den Juden: „Ich bin im der That Gottes 
Geſandter an Euch, der das Seftätigen fol, was vor mir fchon, in 
dem Geſetze, das ihr befiget, gefagt worden; und aufßerbem bring’ 
16 Cub, cine fhhice Berfäah: von einem Geſandten, der nach 


„Die fruͤheren Propheten haben auch die Befehle Gottes verkuͤndigt, 

..und —— * ber Geſandte Gottes und das Gieget ber 
Drophetn” (Sura 33 

Dubamed ah viele Wunder und Mirakel, weihe bie 


+ 


ben.” Über auch: „Ihe bleibe ungläubig bei ben größten Wundern, 
die Gott alltäglich (nämlich in der Natur) wewichtet; ungeachtet der 
Wunder wollte man den altın Propheten. doch ebenfalls kein Vertrauen 
fhenten. — Auf den "perfönlich gemachten Einwand: ob Gert 


- 


RM 


wohl einen bloſen Menſchen zu feinem Geſandten erkoren ‚habe... .aı 

wortet Mubamed, (im Namen Gottes. fprechend): „‚Exöffne ihnen My 
daß wir ihnen. einen Engel,vom Himmel zum Gefandten herabgefchiett 
Haben, würden, ‚wenn, bie,Engel auf ber Erde fo. herumgingen, . wie 
die gemeinen Leute, die Aunter- einander ihren. irdifchen. Beruf abwarten,” 
— Nicht minder toeif’t er ſtets die Anmuthung ber, Enthuͤllung ober 
Borderfagung kommender, Dinge damit zurü, daß dieſes bei , Gott 
ſtehe, ober sin Geheimnig Gottes fel,. das ‚er nicht enthällen Lönne, 


— 


ie müuͤſſen hler noch "einiger Rehrfäge des Korans ‘gedenken, die 
zwar nicht eigentliche Dogmen enthalten, tiber Muhamed's Anſichten 
von ber Welt und ber Gottheit aber einige weitere Aufklärung geben. 

Die Schöpfung der. Melt in 6 Lagen, die Geſchichte des Apfel- 
biffes,, des Moah, bes Mofes erzählt Muhameb im A inen im 
auches abgekürzt, Anderes mit einigen Abweichungen. 


Sinne ber, Bibel, M 

Vieles im: Weltall: hat Gott zum Mugen; und zum Dienſie der 
Menſchen geihaffen: „Die Nacht und dem Tag hält er zu Euerem 
Dienft an, und Sonne, Mond. und. Sterne werben durch feinen. Wen. 
fehl gezwungen , Euch umſonſt zu dienen, (Er ift es, der die Sonne 
und den Mond zwingt, ihten Lauf zu Euerem Glüde- zw nehmen, 





Koran. | 475 


fineiben, um von dem teberfluffe, mit welchem Gott entfernte Län 
der gefeguet bat, —— des Handels Vortheile zu gewinnen. Un⸗ 
e bat er über der Erde in bie Höhe geführt, damit 





Jedem Menſchen bat Gott, einen Schuttengel beigegeben. 
‚Dee Menſch hat feinen Engel, bes entiweber vor ihm hergeht, oder 
ihm —— der ihn beſchuͤten fol, auf ben Befehl Gottes“ 


(Sura 

Als Gott den Adam erſchaffen, befahl er den Engeln bes Him⸗ 
mels, ihn zu verehren. Sie thaten's; nur Eblls nicht, der Teufel; 
denn er, bee aus Feuer Geſchaffene, duͤnkte fich beſſer, als der aus 
Erbe gebitbete Menſch. Wegen biefer Seffaßet verftieß ihn Bott aus 
dem Parabiefe. Eblis aber bat um Aufſchub ber Strafe bis sum 


Tage ber Auf 9; und als Gott ihm dieſes gewährt Hatte, 
tief ee aus: Du mid, mein Ber, einmal zum Guten vers 
borben BOB. fü will Q 


reizend vorftellen, 
ſchaffenen Knechte will ich mich nicht wagen” Diefes senehmigte Bett, 
und fo gefchieht es. 

Das Weisgeriät. — Ein furchtbares Erdbeben wird ihm vors 
angehen. „Die Mutter wich Ihres Saͤuglings vergeffen, und das 
trächtige Thier wird feine Jungen wegwerfen. Die Meufchen werden wie 
betrunken erfcheinen. ... Der Himmel wird wie gefhmolzenes Erz fein und 
die Berge werben fein wie Wolle, die vom Winde umsbergetrieben wird. 

. Auf. ben. erflen — der Poſaune wird Alles, was im Him⸗ 
mel und auf Erden iſt, bis auf Wenige, die Bott ausnehmen, wich, 
wie entfeelt niederſtuͤtzen. Auf ben zweiten Schall werden alle Todten 
auferfichen und Ihr Schickſal veisarken. Und die Erde wird leuchten 
von dem Lichte ihres Herrn, und das — wird aufgeſchlagen werden, 

und die Propheten und bie Märtyrer werben als Zeugen herzugefuhrt 
werden, und bann wird das mwahrhaftige Urtheil, welches Seinen jus 
viel thun wird, über Alle gefällt werden” (Sura 22, 70, 39). 


Dos Paradies. — Die Schilderungen bes Parabiefes find ganz 


nad ber ⸗und Vorſtellungsweiſe der an und in Wuͤſten woh⸗ 
nenben, an und Schatten Mongel leidenden, fleiſchliche Ges 
nüfle fuͤn das haltenden Araber entworfen. Es if ein herrlicher 


Barten, von Bahn d d wol Bühlender Gchasten, b 
Bewohner ohne Dähe, Sof je Arbeit fein: m; von an 


*) Wir widderhoten: ein! Ent eu-Yom Siem wrtis, nat m 
53 82 —* foudern auch um mol a We 
Bade yerofchenbe Opramnetie = 


76 


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ob auch Nichtbekenner des Korans bie himm⸗ 


Frage: 


ufhe Seligkeit erlangen Binnen, finden wir in biefem Buche einen 


Urber die 
Widerſpruch. So heißt es In ber 2. Sura ansbrüdtih: „Es werden 


Insbefondere follen alle diejenigen einen herrlihen Lohn“ erhalten, 


welche in einem Religlonskriege mitgejogen find. 


ER 


HRG Hill: 


Koran. 477 


Boͤſes. Wärbe wohl Jemand umter Euch bas faule Fleiſch feines tobten 
Bruders eſſen wollen? Gewiß, die Haut ſchauert Euch dador! 
und erbarmend. D 


Menſchen, Euch von einem: Manne und von einem 
Weide eefhaffen, und hernach Euch zu Voͤlkern unb einzelnen Be 
fefchaften ‚ bamit ihr einander zur Liebe kennen moͤch⸗ 
tet. Wahrheit, der Wuͤrdigſte unter MM bei ders 


möäflen bie eingegangenen — —. nie —8 
ihre Verlegung fein möchte — gewifienbaft gehalten werden. 

es findet ſich nirgendwo die abfchenlihe Lehre, daß man Ketzern 
nicht ſn ſei, Wort zu halten.) „Und ſollte ein Bögendiener 
Schut bei Die ſuchen, fo verfage ihm benfelben nicht, damit er 
Gelegenheit habe, das Wort Gottes zu hoͤren; und wenn ex ſich 
von ber Wahrheit ber Religion nicht Überzeugen lift, fo gib ihm 
ein ficheres Geleite nach feiner Heimath bin." (Gum: 9. — &8 2 
viele Züge bekannt, Die gewifienbaft die Muhamedaner biefe Vor⸗ 
för un ten Beten In am allen Ländern und. unter allen. Verhaͤlt⸗ 


erfüllten.) 

Die itteniehre bes ande vielfach ähnlich, obſchon nicht 
gleich ber deiftlichen, bat umverlennbar die ſocialen Zuftände in 
Arabim (und in vielen eroberten Rändern) entfchieben verbefiert. Ihr 
bat man es gw verdanken, baß der Kindermord von Geitn armer 
Eltern —* ward (Sura 6); daß die zu verkaufende Sklavin 
von ihren Kindern nicht. getrennt / nicht hinweggeriſſen werden darf; 
eben ſo, daß unter jenen Voͤlkern, ——8 bie Polygamie unendlich 
tief feſtgewurzelt war und blieb, der Zuſtand ber Frauen body we⸗ 
nisflens vergleicheweiſe um etwas gemildert, und. insbefonbere berem 
Scheidung) von. Seiten des Mannes, einigermaßen er 
—— So in verſchiedenen anderen Beyiefungen, 


nicht ſeht ausführlich, — durchgehende ab 
einfach. Manches Hat fi erſt eek allmälig durch Uebun ung autgeplbet. 
Golgenbeb find bie Brundzäge: 
Verehrung Allahe (Better), noͤthigenfalls mit Eins 


: b) es fünfmaliges: Gebet. — Von den einzelnen Mochen⸗ 
tagen wird nicht der Sonns, ſondern ber Freitag g — 
ſen ſteht es den Glaͤubigen frei, bie Zeit vor und —* bem Go 
teöbienfte mit ihrer gewöhnlichen Arbeit zugubeingen. Der Koran er 
mahnt ſogar ausdruͤcklich ic) ba: „Wenn bie —— Andacht ges 


endigt if, fo ſezt Euere Geſchaͤfte des Werkehrs fort, bewerbt 
Euch dabei um den Segen Gottes“ 2c. ( Sura 62) Nur zwei Feſte 
verlangen gaͤnzliches Enthalten von der Arbeit: große und der 


kleine Bairam. — Dir Cultus in der Pole Pt einfach im 


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Koran. 478 


benben Wefen) mb biejenigen Pfeile, durch deren Gebrauch zukuͤnf⸗ 
tige Dinge entdeltt werden ſollen, find ein Greurl und ein Werk des 
Satans. . . Durch ben — und die Spiele ſoht, der Teufel Haß 
und Seisbfägeft . unter zu fllften” ıc. (ua 6 

67. Er Ah — 2. koͤnnen hier nur einige Puncte davon 
b 


Mahamed brachte die Erbfolge auf billigere und vernuͤnftigere 
Grundſaͤtze, als die bis dahin unter den Arabern geltenden. Während 
früher in gewiſſen Faͤllen nur der geienet als geſetzlicher Erbe galt, 
ſollte nun ein anberer buͤrgerlicher Stand ferner Kehren mehr um fein 
Exbthel Ichigem (4. Sura). Auch die Form ber Teſtamente warb 
geetgelt.- 

Noch wichtiger find bie Ehegeſetze. — Die Polygamie konnte 
Muhamed, ale zu tief in ben Begriffen und Sitten feiner Landsleute 
begründet, nicht abſchaffen; er wollte es auch um fo weniger, ba er 
in fpäterer Zeit felbft allzu ſehr nach fleifchlichen Genuͤſſen firebte. Deffen- 
ungeashtet verdankt man ihm wenigſtens eine vergleichsweiſe Verbeſſe⸗ 
rung des Zuſtandes ber Weiber. Er beſchraͤnkte die Zahl ber recht: 
mäßigen Battinnen auf hoͤchſtens vier, wobei er jeboch dem Anhaͤn⸗ 
ger feiner Lehre, uͤbereinſtimmend mit den Beiſpielen des alten Teſta⸗ 
ments, nebenbei geſtattete, ſich Sklavinnen, „die fein Eigenchum ges 
worden,” zu halten, und zwar fo viel, ats er deren, wolle, ſelbſt ver 
heirathete SHavinnen nicht ausgenommen, da fie ja ebenfalls fen 
Eigenthum geworben (Sura 4)1 Verboten iſt, eine Gögendienerin zu 
u; en (S. übrigens die näheren Andeutungen im Artikel „Ehe“, 
„Eheſcheldung,“ im 4. Bande des Staatslexikons.) 

5.8. Strafgeſetz. — Die altteſtamentlichen Begriffe find hier 
tm Ganzen vorherrſchend: Auge um Auge, Bein um Wein. Auch bie 
furchtbare Blutrache findet ‚fich bier wieder. Der nächte Anvermandte 
iſt der ‚natürliche und gefegliche Blutraͤcher des Erfchlagenen. ‚Doch 
darf er in der Mache nicht imeichtoeifen, und fein anderes Blut vers 
gießen, Als das des Mörder.” Dieben follen bie beiden Haͤnde ab: 


gehauen 
. Mubanred macht übrigens feinen Gläubigen begreifli, daß für 
fie gar keine —** — das mofeifche Geſet (Bahn tm 
Bahr x.) zum Bollguge bringen zu mäffen. Er empfiehlt ihnen 
angelegentlich nung und Vergebung der erdul⸗ 
deten Undiiden. „Die Race muß der Beleidigung angemefien fein. 
Ber ſich noch erbuldeter Beleidigung raͤcht, kann mit Re nicht 
geflraft werden. er indeſſen die Ungerechtigkeit vergibt und ſich 
verföhnet, der ‘hat Belohnung von Bott zu erwarten” (Sura 42). 
6:9. Politiſche Vorfchriften. — Hieruber, insbeſondere über 
die. Verhaͤlentſfe zu den „Unglaͤubigen,“ findet man vorzugsweiſe viele 
Widerſpruͤche im — Einerfetes wied gelehrt: „Zwingt Niemanden 
zur wahren Religion.“ Sodann: „Sereitet The die wahre Religlon 
wider diejenigen, welche gegen. Eu) zu den Wuffen ‚greifen; begehet 









20) 1. 16. 
5.10, 
mubamebanifhen 
‚feeten berfelben. — 
bei vielen im gr 





‚zum Vortheile 
‚gern beider ‚Lehren ent] . 
dienft und auf 


Koran. , 481: 


einbringende, überall db 
a KT 


hamebever ia jedem wiſſenſe —— be Di 
Uigionsworfipeiften echliden wollen, fo folgen ge 
iemer Gpehften , welche bie des Panetenfoftems 
als beteriſch es ergibt daraus fo v 

der Koran. vorſchreibt, als das Andere aus ber Bibel 


etweiſen laͤſt *). Wir müffen nun 


wir RB 
füge einrr binnchen Stabuitaͤt im Kocan nirgends ausgefprochen fine 


den, ſoudern 


wielmehe giemlich Die_entgegengefi . 
WB in dee 3. Sure: (Der Menſq Ya ou die. 


eg — Min: 3 
e 
CF find; faffetfie Beat, und über Euch dasin, 


prechende that ſaͤchlich e Beweiſ * 
daß N Ss — jede A Gig Pu] J 


Wir dun die dr 
und unmöglich macht. ei ein — 
fommten chichte weicher 
En Er ' ar 


r 
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5 
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Hr 


ge enthielt, als heute; eine veichere, als nach Ente : 
being wab Ausbeutung aller amerilaniichen Minen, — mit einem , 
Worte: eine. Periode, während welcher bie pprendifche fel ver⸗ 
nunftgemmäß feier 'unb gültiger war, als jemals zuvor oder in der 
Die Lehre des Fatallomus iſt bereits jest ſchon ‚unter den 
Muhamedanem im Allgemeinen gewaltig erſchaͤitert, auch von. 
der Selaverei latt ſich wohl befeitigen , Indem ja 
de mn dh Mo sngamie aut en um DR —E— 
onogamie u am 
Sinnen sn) Biden In abmdene ber, TE 


"Verlegung des Schidiihen, die 





FR A woden X * 
"Otaath „Eıyiton, IX. Er? \ 


* 


484 KXorngefege, Kornhandel u. f. w. 


einen Iohnenden Preiß bedingt." Wo der Abſat beſchraͤnkt und ber 
Preis gedrädt if, muß auch bie Production und bie Ausbildung des 
landwirthſchaftlichen Gewerhes Noch leiden. Die Freiheit der Setreide ⸗ 
ausfuhe, welche ben Abfas ber im Snlande nicht begehrten Worräche 
moͤglich macht und dem flets neue Märkte ſuchenden Getreibehändier 
in’s Leben ruft, iſt daher eine wefentliche Bedingung der Bluͤthe und 
der Erweiterung der.Intändifchen Landwirthſchaft. Die natürliche Folge 
des Wohlſtandes der Landbau treibenden Elaſſe iſt eine große Nach⸗ 
frage nach Producten der tehnifchen Gewerbe; bie freie Getreide⸗ 
ausfuhr ift alfo mehr ein Sörberungsmittel, als ein Hinderniß ihrer 
Entwidelung; viele Gapitalien ferner, welche im Landbaue erworben 
werden, gehen in Die technifdhen Gewerbe über. Die freie Ausfuhr, 
weit entfernt, das Inland der Gefahr von Hungersnoͤthen Preis zu 
geben, ſichert vielmehr nicht blos in guten Jahren bie Befriedigung 
dee inländifhen Nahrungsbedärfniffe, ſondern ſchuͤzt namentlid in 
ſchlechteren Jahten gegen Mangel, weil alsdann die in guten Jahren 
für's Ausland befiimmten Vorräthe zu Dedung des Ausfall verwen. 
det werben Binnen, während bei Ausfuprbefchränkungen regelmäßig nur 
der ordentliche Bedarf des Inlandes hervorgebracht wird, bei eintreten» 
dem Ausfille an dem Jahrsertrage alfo fogleih Mangel eintreten muß. 
Die freie Ausfuhr ſchuͤtt endlich gegen bie für Producenten und Käus 
fer hoͤchſt ſchaͤblichen farten Preisſchwankungen, weldye bei beſchraͤnk · 
ter Ausfuhr ‚häufig entſtehen muͤſſen, weil ſchon ein kieiner Ueberſchuß 
im Jahrsertrage bie Preife unverhättnigmäßig druͤckt, ein kleiner Auss 





fall aber, der nicht durch die fonft zur Ausfuhr beflimmten Vorraͤthe 
gedeckt werden kann, die Preife unverhältnigmäßig fleigert. 

Es folgt Hieraus, daß Ausfuprbefhräntungen, anflatt 
gegen Mangel und Theuerung zu [hägen, bie Hungers 
und Theurungsjahre vermehren. 

Wenn aber auch GetreidesAusfuhrverbote als verwerflich ers 


Korngefege, Kornhandel u. f. w. 485 


u. f. w. in ben Befegen über ben Kornhandel bie Beſtimmung getroffen, 
dag ber Ausfuhrzoll mit dem Steigen oder Fallen ber inlaͤndiſchen 
Getreidepreiſe fleigt ober faͤlt, fo, daß er bei einem getsiffen nieberen 
Stande der Preife ganz aufhört und bei einem fehr hohen Stande 
berfelben feiner Wirkung nach bis zu gänzlicher Beſchraͤnkung der Aus: 

fuhr ſich fleigert. Allein diefe Methode hat ben großen Nachtheil, daß 
das Schwanken der, Ausfuhrabgaben ben Getreidehandel in hohem 
Grade erfchwert, die auswärtigen Käufer auf andere Märkte treibt, 
zur wöchentlichen Berechnung bee Duchfchnittspreife des Ges 
treides im Inlande nöthigt (fol nicht das Geſetz durch kuͤnſtliche 
Dreife umgangen werden), und dadurch den Behörden eine nicht ger 
ringe Geſchaͤftslaſt aufbürbet. 

Ausfuhrverbote und Ausfuhrzölle erſchweren endlich die Einfuhr und 
die Durchfuhr von Getreide ; weil die Gefahr entfteht, dag ein im Aus⸗ 
Lande aufgelauftes und eingeführtes Getreide, wenn es ſich im Inlande 
nicht mit Vortheil verlaufen laͤßt, entweder gar nicht oder bei hoben 
Zoͤllen nur mit Nachtheil wieder ausgeführt werden Eann. 

Die Staaten des deutſchen Zollvereins haben mit Recht jede Aus» 
fuhrabgabe aufgehoben, mit Ausnahme des kornreichen Baierns, das 
ber englifchen Einrichtung folgt. 

Il. Sol ber Staat bie Einfuhr von Getreide freigeben ober 
befchränten ? Ä 

Während eine Beſchraͤnkung der Ausfuhr im Intereſſe der inlän: 
difchen Getreibefäufer gefordert worden iſt, fo hat man auf der ande 
ven Seite eine Beſchraͤnkung der Getreibeeinfuhr im Intereſſe des in⸗ 
Ländifchen Landbaues namentlich dann für nöthig erachtet, wenn Bo⸗ 
den und Klima benfelben erfchwert; wenn man, um den Bedarf an 
Unterhaltsmitteln für bie Bevoͤlkerung zu bedien, in Folge der Ver: 
mebrung der letzteren zum Anbaue von immer weniger ergiebigen 
Grundftüden feine Zuflucht nehmen muß; wenn endlich bie auf bem 
inländifchen Aderbaue ruhende Laft der Abgaben die Concurrenz mit 
dem Auslande unmöglid macht. 

Man iſt hierbei von ber Vorausfegung ausgegangen, baß bie 
politifhe Unabhängigkeit eines Staates weſentlich dadurch bedingt ſei, 
daß der Bedarf an den unentbehrlichen Lebensmitteln vollſtaͤndig durch 
die Production im eigenen Lande gebedt werde; man hat auf bie 
furchtbare Gefahr aufmerfam gemacht, der man fi im Falle eines 
Krieges einem Feinde gegenüber ausfegen würde, welcher in ber Lage 
wäre, die Zufuhr von Getreide zu verhindern. Diefe Andeutung ver: 
fehlt ihre Wirkung bei vielen vorfidtigen und furchtſamen Naturen 
nit. Wo aber hat man je die Erfahrung gemacht, daß bie Bevoͤl⸗ 
kerung eines ganzen Landes, wie bie einer belagerten Stadt, durch den 
Zeind ausgehungert worden wäre! Wenn auch die eigene Production 
nicht das Bebuͤrfniß vollſtaͤndig deckt, macht nicht dasjenige, was von 
Außen berbeigefchafft werben muß, doch immer einen verhältnigmäßig 
ur Meinen Theil des geſammten Bedarfs aus? Wenn biefer Theil 





a84 Korigefehe, Kornhandel uf. w. 
einen lohnenden bedingt. Wo ber fördnet und d 
Preis gedrüdt — die Penn um 9 Ausbildung 


des Wohlſtandes der Landbau enden Elaſſe ifk eine große Radh 

frage nach Productem der tehnifchen Gewerbe; bie freie Getreider 

ausfuhr ift alfo mehr. ein’ Förberungsmittel, als ein Hinderniß ihrer 

Entwidelung ; viele Gapitalten ferner, melde im Landbaue erworben 

werben, gehen in die techniſchen Gewerbe über. Die freie Ausfuhr, 

weit. entfernt, das: Inland der Gefahr von — Preis zu 
al 


Korngefege, Kornhandel u. f. w. 485 


u. f. w. in den Gefegen über den Kornhandel die Beflimmung getroffen, 
dag der Ausfuhrzoll mit dem Gteigen ober Fallen ber Intänbifchen 
Setreibepreife fleigt ober faͤllt, ſo, daß er bei einem gemwiffen niederen 
Stande ber Preife ganz aufhört und bei einem fehr hoben Stande 
berfelben ſeiner Wirkung nach bis zu gänzlicher Beſchraͤnkung ber Aus; 

“fuhr ſich fleigert. Allein diefe Methode hat den großen Nachtheil, daß 
das Schwanken ber, Ausfuhrabgaben den Getreivehandel in hohem 
Stade erfhwert, die auswärtigen Käufer auf andere Märkte treibt, 
zur wöchentlihen Berechnung dee Duchfchnittspreife des Ges 
treides im Inlande nöthige (fol nicht das Geſetz durch kuͤnſtliche 
Dreife umgangen werden), und dadurch ben Behoͤrden eine nicht ges 
ringe Gefchäftstaft aufbürbet. 

Ausfuhrverbote und Ausfuhrzoͤlle erſchweren endlich die Einfuhr und 
die Durchfuhr von Getreide ; weil die Gefahr entſteht, dag ein im Aus» 
Lande aufgelauftes und eingeführte® Getreide, wenn es ſich im Inlande 
nicht mit Vortheil verlaufen läßt, entweder gar nicht oder bei hohen 
Zoͤllen nur mit Nachtheil wieder ausgeführt werben kann. 

Die Staaten des deutfchen Zollvereins haben mit Recht jede Aus» 
fuhrabgabe aufgehoben, mit Ausnahme des kornreichen Baierns, das 
der englifchen Einrichtung folgt. 

Il. Sol der Staat die Einfuhr von Getreide freigeben ober 
befchränten ? | ' 

Während eine Beſchraͤnkung der Ausfuhr im Intereſſe der Inlän: 
difchen Getreidekaͤufer gefordert worden ift, fo hat man auf der ande- 
ten Seite eine Beſchraͤnkung der Getreideeinfuhr im Intereſſe des ins 
Iändifhen Landbaues namentlich dann für nöthig erachtet, wenn Bo: 
den und Klima benfelben erfchwert; wenn man, um ben Bedarf an 
Unterhaltsmitteln für die Bevoͤlkerung zu decken, in Folge der Ver: 
mebrung der le&teren zum Anbaue von immer weniger ergiebigen 
Grundſtuͤcken feine Zuflucht nehmen muß; wenn endlich die auf dem 
inländifhen Aderbaue ruhende Laft ber Abgaben die Concurrenz mit 
dem Auslande unmöglich macht. 

Man iſt Hierbei von der Vorausfegung ausgegangen, baß bie 
politifche Unabhängigkeit eines Staates wefentlih dadurch bedingt fei, 
daß der Bedarf an den unentbebrlichen Lebensmitteln volftändig durch 
die Production im eigenen Lande gebedt werde; man bat auf bie 
fucchebare Gefahr aufmerffam gemacht, der man fih im Halle eines 
Krieges einem Feinde gegenüber ausfegen würde, welcher in der Lage 
wäre, die Zufuhr von Getreide zu verhindern. Diefe Anbeutung ver: 
fehlt ihre Wirkung bei vielen vorfichtigen und furcdhtfamen Naturen 
nicht. Wo aber bat man je die Erfahrung gemacht, daß die Bevoͤl⸗ 
terung eines ganzen Landes, wie die einer belagerten Stadt, durch den 
Zeind ausgehungert worden wäre! Wenn auch die eigene Production 
nicht das Beduͤrfniß vollfländig deckt, macht nicht dasjenige, mas von 
Außen hberbeigefchafft werben muß, doch immer einen verhältnigmäßig 
nur kleinen Theil des gefammten Bedarfs aus? Wenn biefer Theil 


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| Korngefeße, Kornhandel u. ſ. w. 487 


höher der inlaͤndiſche Preis geftiegen, daß fie dagegen erſchwert, d. 5. 
der Zoll ir würbe, R mehr vw —* er 8* kin 
Abgabe fcheint a empfehlenswerth zu fein, wei 

bems Getreidehandel größere Sicherheit verleiht; weil Preis⸗ 

> | vorbeugt, ie nothwenbig in hohem Maße nen 


Pun gegang 
werben; weil enblid ein fefler Zol der Natur einer Ausgleichungs⸗ 
abgabe am Angemeflenften if. England, Frankteich u. f. w. haben 
eine wechſelnde Abgabe vorgezogen; im beutfchen Zollvereine wirb eine 
feſte Esine Abgabe von 17 Kr. pr. Cent. erhoben. Allein das kornreiche 
Baiern macht auch hier eine Ausnahme und erhebt einen wechſelnden 


Zoll. 
IL Soll der Staat völlige Freiheit des Getreidehandels im 
Innern des Landes ? R 

Wenn man von ber Zweckmaͤßigkeit ber freien Auss und Eins 
fuhr bes Getreides überzeugt iſt, fo ergibt ſich bie Forderung des 
freiem Handels im Imnern von ſelbſt. Wie ber Aus. und Einfuhr: 
handel Ueberfluß und Mangel in verfchiedenen Ländern ausgleidht und 
ſchaͤdlichen Preisihwankungen am Beiten vorbeugt, fo bat auch ber 
GSetreidehandel im Innern eine fehr mwohlthätige Wirkung. Der Ges 
treidehändier erleichtert dem Lanbmanne ben Abfab feiner Probucte 
und erfpart ihm Zeit und Koftenz er gleicht Ueberfluß und DRangel 
in verfchiebenen Jahreszeiten, im verfchiebenen Gegenden und Jahren 
aus, träge bierducch zu größerer Gieichförmigtei der Preiſe bei und 
nüst bamit fowohl ben Producenten als Confumenten. Er fleigert 
zwar am Orte und zur Zeit des Ueberflufies den Preis des Getreides 
duch feine Nachfrage, aber er verhindert au am Orte und zur Zeit 
bes Mangels ein drüdendes Steigen ‚der Preife; er theilt den Drud 
ſchlechter Jahre auf große Kreife aus und macht ihn dadurch weniger 
fuͤhlbar; er fammelt im Intereſſe des forglihen Publicums von dem 
Ueberfluffe guter Jahre Vorräthe ‚für ſchlechte Jahre auf und erlaͤßt 
zu rechter Zeit durch Steigerung ber Preife eine wirkfame Aufforderung 
zur Sparſamkeit an baflelbe. u 

Der Getreidehandel mit biefen mwohlthätigen Wirkungen kann ſich 

aber nur dann bilden, wenn ber Staat alled Eingreifens in benfelben 
fi enthält, auf alle Zwangsmaßregeln, wie Preisregulirung u. f. w., 
verzichtet, und auch bie Ausfuhr in's Ausland volllommen feeigibt. 

Die Stimme des Volks bat zwar vielfach bie Getreideſpeculan⸗ 
ten als Kornwucherer bezeichnet, von ber Anficht ausgehend, daß fie 
ſchaͤndlicher Weife die Sffentliche. Roth zu Befriedigung ihrer Habſucht 
benugen, ja, daß fie, fo-viel an ihnen fei, jene Noth feibft fleigern, 
um ihrem Elgennutze zw froͤhnen. Mag auch immer ber Eine ober 
der Andere biefer Hänbler von moralifhem Gtanbpuncte aus Vorwurf 
verdienen, fie erfcheinen nichts deſto weniger, wenn man die Wirkungen 
ihren Thaͤtigkeit betrachtet, als äffentliche Wohlthaͤter. 





488 Korngeſetze, Komhanbel.w L. w. 


Man fördere den. Getreidehandel und vermehrte daburch bie 
Zahl der Concurrenten; man befreie die Einfuhr von unnöthigen 
Feſſeln und fege die Inländer der fremden CToncurrenz aus — und 
die Befuͤrchtung einer monopoliftifchen SPreisfteigerung ift eine Chi⸗ 
märel Welche ungeheure Getreibemaffen muͤſſen die Ro 
befigen und zurüdhalten, um ben Preis in einigen Länbern bes 
liebig beflimmen zu Linnen? Welcher Gefahr von Verluſten ‚würs 
. fe fih durdy Lange Auffpeiherung großer Maſſen ſelbſt aus⸗ 
ſe 

Die Errichtung von Getreidemaͤrkten und die Erleich⸗ 
terung des Beſuchs derſelben durch Entfernung aller Zwangemaß⸗ 
regeln, Verhuͤtung von Uebervortheilungen und durch Abſchaffung 
laͤſtiger Abgaben dient theils zur uͤberfichtlichen Kenntniß ber vor» 
handenen Vorraͤthe, theils zur. Herflellung angemeffener und mög 
lichſt gleichförmiger Preife. Ein Zwang ehe die Producenten, ihren 
Getreideuͤberfluß nur auf oͤffentlichem Markte zu verlaufen, laͤßt 
fi) nicht rechtfertigen. 

IV. Sol der Staat Getreidemagazine errichten? 

Wenn fih in den öffentlichen Käften duch den Ertrag ber Do 
mänen, des Zehenten u. f. mw. große Getreidevorräche ſammeln, 
fo ift hierin der Regierung ein natürlihes Mittel an bie Hand 
gegeben, um für Jahre des Mangel Vorſorge zu treffen. Es 
fragt ſich aber, ob fie au, wenn jene Hälfsquellen ſich nicht dars 
bieten, Vorrathsgebaͤude errichten und unterhalten, und Getreide 
auflaufen und bereit halten fol? 

Es Laffen fi hiergegen gemwichtige Gründe geltend machen. 
Der Ankauf und die Unterhaltung der Vorrathsgebaͤude ift mit 
großen Koſten verbunden; eben fo verurfaht der Auflauf unb das 
Bereithalten des Getreides einen großen Aufwand, wenn ber Vor⸗ 
rath binreihen fol, um auch nur auf kurze Zeit eine größere Ber 
voͤlkerung zu nähren. Bu jenem Aufwande gefellen fi nocd bie 
Koften der Beauffihtigung und bie Werlufte, bie tro& derſelben 
duch Mäufefraß ıc. und noch mehr duch die Betrügereien ber Vers 
walter dem Staate zugehen. | 

Außerdem erhöht die Sorgfalt des Staats, obgleich fie nie bie 
Vorſicht der Privaten erfegen kann, die Sorglofigkeit der Letzteren 
und zerftört, mas ein vorzäglicher Nachtheil ift, die Getreideſpe⸗ 
eulationen der größeren Landwirthe und Händler, meil, wenn bee 
Staat dur feine Vorraͤthe den Preis der Fruͤchte beherrſcht, Ges 
treidefpeculationen ein höchft gemagtes Spiel find. Sie verhindert. 
namentli die Einfuhr des Getreides von fremden Ländern und les 
gitimirt gleichſam die Anfprüche ber ärmeren Claflen auf Verforgung 
mit mohlfeilem Brote duch den Staat, Anfprüde, die, einmal ges 
weckt, leicht zu großen Exceſſen führen. Enthält fi) der Staat des 
Einſchreitens, fo laͤßt fi erwarten, daB das eigene Intereſſe bie 
größeren Landwirte und Speculanten zum Bereithalten von Vor⸗ 


Korngefebe, | Kornhandel u. f. w. 489 


räthen antreibt, daß eine größere Zahl von SPrivatperfonen fih für 
den Nothfall mit Vorraͤthen verficht, und daß die Preife der Früchte, 
indem fie zu' rechter Zeit in die Höhe gehen, das Publicum zu 
ſparſamer Genfumtion zwingen, wodurch am hellen bem Mangel 
vorgebeugt wird. Ueberdles verfchwinbet, je forgfältiger der Landbau 
beteieben wird‘, je mehr Mannigfaltigleit in dem Anbaue von Fruͤch⸗ 
ten eintritt, je mehr namentlich dee Anbau ber Kartoffeln fich vers 
breitet, je mehr endlich durch erleichterte Communication und durch 
Abfhaffung aller Ein: und Ausfuhrbeſchraͤnkungen — eine fchleunige 
und wohlfeile Herbeiſchaffung von Srüchten möglich wird, die Ges 
fahr von Bungersnöthen und XTheuerung immer mehr. 

Aus diefen Gründen erfcheint allerdings eine Anlage von öffent 
lichen Getreibemagazinen weder dringend, noch mwünfchenewerth. 

Bern der Staat in großen Städten unb in getreibearmen, 
aber volkreichen Gegenden, 3. B. in Bergwerks⸗ und Fabrildiſtricten, 
nicht unthätig bleiben will, fo halte fich feine Kürforge ſtreng in 
den Grenzen der armenpolizeilihen Thaͤtigkeitz nie aber 
fuhe er buch fein Eingreifen ben allgemeinen Bes 
treidepreis zu bebherrfchen. . 

V. Soll der Staat die Brotpreiſe polizeilich reguliren? 

Wenn auch der Grundſatz, daß ber Staat. bes Einwirkens auf 
die Getreidepreife ſich enthalten fol, immer mehr anerkannt wich, 
fo bat man doch bis in die neuefle Zeit ziemlich allgemein für 
nöthig gehalten, bie Brotpreife nad bem jebesmaligen Preife bes 
Getreides polizeitich zu regulicen. 

Daß eine folche Regnlicung überall da zum Bebürfniffe werben 
Tann, wo die Verkäufer ein Monopol befigen, 3. B. in Folge von 
Zunftbefhränkungen, ift Leicht einzufehen; ſchwer aber, wo ſolche 
Umftände nicht vorliegen. Der Preis des Brotes flelt fi, wie 
der jeder anderen" Waare nad) den Probuctionskoften und Concurs 
tenzverhäftniffen feſt; und es iſt nicht abzufehen, wie bier, wo jeber 
Käufer ein hinreichend competentes Urtheil über die Waare bat, bei 
freiee Concurrenz ein Nachtheil für das Publicum follte entfliehen 
Lönnen. Der Nachtheil ift vielmehr ficher nur bei der Regulirung 
ber Preife auf Seite bes letzteren. Denn der Bäder wird ſich nie 
eine Brottape gefallen laſſen, bei welcher er Verluſt erleidet; WR 
jedem Steigen des Getreide⸗ und Holzpreifes u. f. w. wird er auf 
Erhöhung derfelben dringen. Viel weniger dagegen iſt zu erwarten, 
daß eine polizeiliche Erniedrigung bee Taxe ber Verminderung ber 
Probuctionskoften fogleihh auf dem Fuße folge. Der Bäder alfo 
wird nie mit Verluſt verkaufen, .aber der Käufer wird häufig in der 
Lage fein, einen höheren Preis für das Brot bezahlen zu muͤſſen, 
als bei freier Concurrenz ohne Taxe der Fall gewefen wäre. 

Es Liegt daher im Intereſſe des Publicums, baß der Staat 
auf jede Megulitung ber Brotpreiſe verzichtet, und fich auf eine 
Bekanntmachung der Preife, wie fie fi auf dem Wege ber freien 


410 Korngefege, Kornhandel u. ſ. w. 


ſcurren gebüdet haben, beſchraͤnkt wedmaͤßig iſt bie Cimichtung, 
Men Eid Een 545* Ag 
Brotes abgebrochen wird das gewöhnliche Gewicht beiber 
halten, umb der Preis 5 Bene bi 
a pn —E % 
darch das Das Gekc in Garden —— .r 
VI. Maßregeli der © bei einer wir 
— —— = 
® leich der Staat alle Waaßregeln getroffen hat, das 
Baden + —ã—— — Gewerbes en für 


et. 
Was fol der Staat in folden außerorbentlihen um 
tun? Wenn es auch ſchwer iſt, für ſolche Fälle allgemeine Wege: 
aufzuftellen, weil bier die befonderen Umſtaͤnde gebieten; fo laffen ih 
dei) einlae Berheitungemaßenge a eier Mach mie * 
lusfuhrverbote ſchaden auch ot ’ ie 
nügen; weil fie das Geſpenſt des Hungers in der Phantaſie 
zen Volkes aufjagen, die Nachfrage vermehren und bas Ehe ve 
tingern, und die Preife ſteigern, anſtatt fie niederzuhalten. 
Zwang zum Verkaufe der überfläffigen Votraͤthe der Privaten 
für vegultste Preife verfehlt ben Zwect, weil ber größte Theil jener Vor 





Korngefege u. ſ. w. — Krieg u. f. m. 491 


von ben höheren Kreifen ber Gefellfchaft ausgehend, kann von unendlich) 
‚ wohlthätigen Bolgen fein. 


» 
% » 

Nach den vorangeſchickten Betrachtungen Läßt fich bie Antwort auf 
die Frage: Was der Staat zu Abwendung von Mangel und Theuerung 

thun habe? in wenigen Worten zuſammenfafſen. 

Er ſchuͤte, foͤrdere und erleichtere durch alle von einer gefunden 
Wirthſchaftspolitik angerathene Maßregeln ben Ackerbau und den Vers 
kehr (f. namentlich den Art. „Aderbau‘); fleuere durch eine zweckmaͤßige 

emenpflege ber aͤußerſten Noch (f. Art. Armenweſen“); tim Uebrigen 
aber gewährte er volllommene Freiheit des Getreide— 
bandels und enthalte fi alles Einmwirkens auf die Ges 
treibepretfe. Wenn-die Geſetzgehung im Laufe der Zeit von dem 
natürlichen Wege abgegangen iſt, fo Eehre fie, wenn aud mit Auf⸗ 
opferungen, allmälig wieder auf denfelben zurüd. 

Die zahlreiche Literatur äber biefen Gegenftand f. m. bei Rau, 
Volkswirthſchaftspolitik, 1839, &. 184 ff.; Über die Korngefebe von 
England, Frankreich u. f. w. ebendaf. ©. 1985 Über englifhe Ver⸗ 
bältnifie ferner: Macculloch's Bufäge su Adam Smith’s Wealth 
of nations , Londen, 1838, ©. 510 fj.;s Zorrens, On the external 
corn-trade, Lond., 1829, neue Ausgabe. Dr. W. Schuͤz. 

Kosziusko, ſ. Polen. 

Krankenhaͤuſer, ſ. Wohlthaͤtigkeitsanſtalten. 

Krieg, Privat⸗ und oͤffentlicher Krieg, Bürger: 
krieg; Kriegsrecht, natürlihes und pofitived; Kriegs: 
manier; Kriegsraiſon; Kriegsgefangene,;, Kriegs: 
kunſt. — Für einen Rechtliebenden, für einen Fühlenden gibt es keine 
wiberwärtigere, Leine fehmerzlichere Vorftellung, als die bes Kriege. 
So ift wenigſtens ber erfle oder unmittelbare Eindruck, welchen dieſe 
Vorftelung des von den Waffen, von ber phpfifchen Bewalt, feine Ent⸗ 
fheidung begehrenden Rechts auf uns madıt. Das Princip des Rechts⸗ 
geſetzes ift die Harmonie bee Wechfelmistung unter den Menſchen. 
Es ſtellt die Regeln einer friedlichen Ausgleihung bee altfeitigen 
Anfprüche und Intereffen auf, bat feine Quelle lediglich in der Vers 
nunft, bern Weſenheit mit Eeinem Wiberſpruche ſich verträgt, und 
deren Streben baher nothwendig dahin geht, jeben Widerfpruch zu ver 
meiben oder wieder aufzuheben. Daß die Intereſſen fich widerſtrei⸗ 
ten, ift natürtich und unvermeidlich; denn fie wurzeln in unferer finn: 
lihen Natur umd in den auf bderfelben beruhenden egoiftifchen Trieben. 
Aber gerade zur Schlichtung folches Widerſtreits, zur Erhaltung des 
Friebens unter allen in Wechfelwirkung ſich Beſindlichen, ſtellt bie 
Allen gemeine Bernuuft bie Megel des Rechts auf, beruhend auf ber 
Idee einer Allen zu gewährenden gleihen und moͤglichſt aus: 
gebehnten (naͤmlich blos durch das Recht des Andern befchräntten) 
Sphäre des aͤußern Freiheitsgebrauches. So oft alfo Zwei mit eins 
ander im. St reite begriffen find, fo befindet ſich Einer oder ber Andere, 





3 Arieg; Rep a. 


* mitunter auch Weide, Im Unrecht, und bie Werkunft gebletet” 
über ba6, was Jedem wirklich gebührt oder was Im —— a* 
wirklich ee f, gu verfiändigen, ober ben — etwa 

eich He . 5. in veblicher im 







echtes 5 . 

endglichen Entfheibungsmitteln des Rechts nun iſt keines 

der Rechtsidee vereinbar, als der Kampf ober bie phoſiſche En 
weil das Weſen oder ber Begriff bes erflen ber vollkommene Begen- 
ſatz der vom Recht geforderten Harmonie, und feine Werhätung gerade 
ber Zweck oder bie —28 des Rechtögefehes iſt, und weil bie swelte 
blos nah phyufifhen ober mehanifchen Geſeten, bie mit ben 
moralifchen und Recht 8-Gefeken durchaus nichts gemein haben, wickt, 
und nicht nur gleichmäßig für's Unrecht wie für’s Recht kann in 
Thaͤtigkeit geſetzt ‚ fondeen noch dorzugſsweiſe zur Durch⸗ 
führung des Un rechts geeignet wie geneigt iſt. 

Gieichwohl bleibt in den Fällen, two entweder ber Eine einen offen» 
bar ungerechten Angriff auf den Andern macht, oder einem er 
echte bes Andern beharrlich widerſtrebt, ober wo überhaupt ber 
lichen Schlichtung bes Streites unuͤberſteigliche Hinderniſſe fich entg 
fegen (ſei es durch die Weigerung des Einen, bie dahin führenden * 
der Vergleichsverhandlung, des Compromiſſes auf Schledsrichter, ober 
auch des Looſes u. ſ. w. zu betreten, ſei es durch aͤußere Umfänte), 
kein anderes Mittel ber Rechtsbehauptung abet ale die — im Po 
Faͤllen von dem Rechtsgeſet ſelbſt erlaubte — Anwendung ber p 
fifhen Gewalt, alfo Zwang oder Kampf. Pit andern 1 
ten: der zur Behauptung oder Vertheibigung oder Wiederherſtellung des 
von Andern verachteten oder angegriffenen ober verlegten Rechts angewen⸗ 
bete Zwang paßt in die Rechtsfotm, d. h. in ein vernünftiges 

Rehrtsfvflem und iſt alfo' erlaube.‘ 

Der Zuftend einer folhen mit Gewalt gefchehenden 
ober Duchführung von Anfprühen ober Interefien nun iſt der Krieg 
im weiten Sinne biefes Wortes. Im engeren Sinne gehört ehört — daß 
die Gewaltthaͤtigkeiten nicht beſchraͤnkt auf beſtimmte 
wie Arreſtſchlag, z. B. Embargo auf Schiffe, der — 
tiges Nehmen oder Zuruͤcknehmen einer den ſtand der For⸗ 
berung ober bee Schabloshaltung ausmachenden Sache, oder Repreſ⸗ 
falten, was irgend für einer Art, felen, fondern ohne ſolche Beſchraͤn⸗ 
kung und gegenfeitig Statt finden. Ein folcher Krieg kann hiernach ſchon 
im Naturſtande Statt finden, zwifchen Einzelnen oder Familien ober 
Stämmen , nicht minder in ſchlecht geregelten oder m Anarchie 
gefallenen Staaten zwifchen den Angehörigen berfelben umter ſich ober 
‚ mit Fremden (wohin die mittelalterlichen Fehden, bie umter ber der 
haft des Fauſtrecht s geführten Privatkaͤmpfe, gehören); aber 
ber we, v— von welchem wir hier ganz eigens zus reden haben, IE wur 


Krieg; Kriegsrecht u. |. w. 493 - 


ber öffentliche, d. h. der von oder zwiihen Staaten ober Böl« 
Bern geführte. Es fete mämikt, biefer eigentüle ober ber 
eine — KSereinbarung wenigſtens bes einen, ber ng 


Bürgerfizieg, welcher jedoch, wie [chen aus feiner Benennung heruone 


feibft aber ‚ine Bermbrfuiß oder eine Spaltung ausgebrochen iſt, weiche . 
ihn zeitlich zerriß und gewiſſermaßen aus einem Mol oder einem 
Staat vorübergehend zwei ober mehrere machte. Der einheimifche - 
oder Buͤrgerkrieg iſt denmach eine Krankheit bes emeinwelene, wos . 
gegen bee dußere Krieg mit dem. normalen Innern Buftaub bes Staates 
gar weh! sufammen beftebt. 

Grundfäge für bie Kriegsführung gelten —— 
gens ai im Buͤrgerkriege, in fo fern er als folcher anerkannt toish, 
alfo nicht etwa als . Privatfehde, oder au als Rebellion, ’ 


ef I, ‚ wo bet 
Staates biefelbe mit fich bringt, den 
Kriegsgefegen ; wogegen bie Mebellien ,. fo lange fie nicht durch bes; i 
deutende Erfolge fich zum Duͤrgerkrieg emporfchwingt, der Straf⸗ 
Leit de6 3 fie beleidigten Staates anheimfaͤllt. 
1. — en find mancherlei rechtliche Anlaͤfſe hedenkbar, | 
; der einen ober ber andern Partei oder. 


ſich, wenn alle eglichen ittel. ber Abwehr fruchtio® blieben, u. DE: 
Schirm ober ter des unterbrüädten Rechts ober 
Derfaffun ung in Waffen were * — 
Gebot, des Citantsoberhaupts gehorchend, gegen ben erflen gu. 
gebe sieht, Im ‚weichen Fol dann freilich ber aͤnßerlich erfcheinende 
**8* des Kampfes, ob er nämlich als wirklicher Buͤrgerkrieg oder 
Aufeuhe ober Bebefion zu achten, von der Staͤrke ber Aufge⸗ 
aber von ihren Erfolgen 
in ——* Bürgerkriegen, die nämlich als ſolche anerkannt 
des allgemeinen Krie ggerents theitbaft find, wird 
face eine größere Bush der Otreitenden, alſo audy 
ablung des Feindes ergeben; und felbfl nach dem 














49% Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 


Reqchtegeſehe wird bieſes, einigermaßen, zu entfchuls 
digen fen. &6 wie Bamilienzerwürfniffe gar oft bitterer und heftiger 
find, als bie Gtreitigkeiten zwiſchen Fremben: alfo entbrennt natur 
gm jemäß auch der Born ber wider einander Pämpfenden Mitbürger ober 

itsparteien mächtiger, als der zwiſchen den Streitern verfchlebener 
Fre Und da im Bürgerkrieg gewöhnlich bie Fahne, welcher der 
Einzelne folgt, von ihm felbft gewählt ward, er alfo auch als 
perfönlicher oder freiwilliger Thellnehmer am Kampfe ere 
ſcheint, fo ift gegen ihn auch ein Mehreres und Harteres erlaubt, als 
gegen den entweder ganz willenlofen SoldEnecht einer feindlichen 
Macht oder doch nur ans Pflicht, d. h. aus Seporfam gegen feine 
sechtmäßige Staatsgewalt, in's Feid rüdenden Krieger. 

Nach diefen Vorbemerkungen gehen wir über zue Aufftellung der 
für den eigenttihen, d. h. Öffentlichen und äußeren Krieg vernunfts 
rechtlich anzuerkennenden Gefege. Aber gibt es wohl derſelben? Kann 
in der Hige des Kampfes, in dem Sturm der heftigſt aufgeregten Leis 
denſchaften bie Idee eines vernünftigen Rechtes ſich noch geltend mas 
hen? IM nicht, wenn einmal die Entſcheibung von Anſpruͤchen der 
Spige des Schwertes anvertraut, Überhaupt der phpfifhen Gewalt . 
übergeben worden, die Vernunft bereits außer Hereihaft gefegt und 
ein Sreibrief erworben zu jeder gebenkbaren Verlegung? — Allerdings 
iſt bei einmal entbranntem Kriege ſchwer oder unmöglich, eine beftimmte 
Grenze zu fegen der in beffen Begriff liegenden Befugniß zur Ver⸗ 
legung des Gegners. Denn, ob auch der urfpränglide Grund oder 
Gegenftand des Streites ein geringfügiger fei: durch die Fortſetung des 
Widerftandes auf einer und bie deshalb nothwendig zu fleigernde Ans 
geiffsgemwatt auf der andern Seite, überhaupt durch die eben mittelft des 





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leg ale Beiderfeits gerecht, d.h. beiberfelts mit, gutem 
lauben beö Mechts unternommen, oder als ven ber Makel ber. 
erfeinenden Ungerechtigkeit frei, geachtet werden, fo lange nice 
ein ganz enfdentes materielles add ürherung des einen 
oder bed andern Theiles zu Zage liegt, oder ſo lange nicht eine Vers 
tegung ‚der ald xechtlich allgemein, anerkannten Formen ber Kritgbe 
führung Statt findet, . 
2) Unter dlefen⸗Fermen iſt die erſte and unbefvitteufle die, daß 
Im * Bora gegen wu — 
as egriffene fol wiffen, warum man " 
überzteht, damit .er, twenm eu Die Gerschtigkeit der Korberung erfennt, 
befetsbige, r [ ‚ve Weit fidy 


0) 


5) Insbefondere foll man fidy derjenigen Handlungen enthalten, 


welche nady ihrer Natur geeignet find, die Wiederherftellung des 
Friedens, worauf der Zweck jedes redlichen Kriegführenden gerichtet 
fein muß, gu erfehweren oder unmöglich zu machen. Hiecher gehören 
zumal Verrath und Treubeuch. Die Kriegführenden ftehen, ungeachtet 
alter Erbitterung, gleichwohl noch in Medtsverhältmig zu einander 
und eilig ch Ausföhnung zu ficeben, weniaftens 





Krieg; Kriegsrecht u. f. w. 497 


obrt Fr Be wi —— al6 bios Far 
erkzenge verluflig des kei t6 geworben — jind. In 
—— die Fe bes kriegfuͤhrenden Staates, 
ob: ndmlidh der Mepubtif oder der Deüporie fi) nähernb, wenigfiens 
vernumnftredtlich, einen weſentlichen Unterſchied. Wo ober in fo 
fern der Kieg ale dem Gefammtwihen der Nation 
entfloffen erſcheint, ba treten alfe Bürger, in ber Eigenfchaft als Ele⸗ 
mente jenes Geſammtwillens, gewiſſermaßen felbft perfönlich in ein 
feindliches Verhaͤltniß gegen ben bekriegten Staat; wogegen bie Unters 
thanen eines autokratiſch ben Krieg befchließenden Herrn dafür 
nicht ‚verantwortlich fein koͤnnen. Eben fo kann insbefondere bei ber 
bewaffneten Made unterfchleben werben zwifchen ben blos aus 
merläßlicher Buͤrgerpflicht ober auch aus Knechtspflicht bie 
Waffen Tragenden und ben aus felbfteigenem freien Entſchluß im 
bie GBetretenen; mobei jeboch, fo vote bei dem Verfaſ⸗ 
fungsunterfhlede, gar viele Abfiufungen ber größeren ober 
geringeren Verantwortlichkeit vorkommend ober gebemkbar find. 
Die ber bier amgebeuteten Grundſaͤte find nicht minber 
pofitiven ald natärlihen Rechtes. Aus ihrer theils ausdruͤck⸗ 
lichen, thells ſtilſchweigenden Anerkennung find jene Kriegsgefege 
geftaffen, welche — aͤhnlich den unter ben Privaten durch theils aus⸗ 
brüdliche®, theils ſtillſchweigendes Uebereintommmiß feflgefesten Duell⸗ 
Regeln — umter ben divilifieten, ja zum Theil auch unter ben un- 
civilifirten Rationen gelten; und ſonach als wirkliches Kriegsrecht 
— and Sriegsmanier genannt — betrachtet werden. Nur wird 
von mehreren ſolcher Vorfchriften auch eine AUsnahme unter dem 
Titel bee Kriegsraiſon flatulet, welche nämlich in außerordent» 
lihen Lagen ober Umfländen, wo es fid) etwa um Abwenbung ber 
adußerſten Gefahren, um Selbſterhaltung ober Untergang, handelt, ets 
was Anderes und Mebreres erlauben ſoll, als das nur gemöhns 
liche Lagen und Umflände vorausfegende gemeine Kriegörecht. Ders 
geftalt gilt 5. B. das Anzuͤnden von Dörfern oder Städten, ja bie 
Verwuͤſtung ganzer Begenden für zuldffig, wenn etwa nur dadurch 
ein gefchlagenes Heer gegen ben nachſetzenden Sieger gerettet ober ein 
verberbenber Feindeseinfall abgewendet werden kann. Dergeftalt bat 
man ſelbſt die Niebermebelung von Befangenen, mindeflens die Weis 
gerung: des Parbons, für gerechtfertigt erklärt, wenn bie Schonung 
etwa dem eigenen Deere ben Untergang durch Hunger ober durch Auf⸗ 
ſtand der allzu zahlreichen Befangenen droht u. f. w. Wahr iſt's, bag 
Säle dieſer Art vortommen, wie 3. B. Sherebbin Barbaroffa 
fi Kaiſer Karl's V. vielleicht hätte erwehren können, wenn er, wie 
man ihm rieth, bie 10,000 Gefangenen, die er in Zunis verwahrte, 
und bie fobaun durch ben in feinem Ruͤcken erhobenen Aufftand ihm 
Verderben brachten, vor bem Entfheibungslampfe geſchlachtet hätte. 
Gleichwohl entſetzt ſich die Menſchlichkeit vor folchen Breueln, und hat 
bie Geſchichte ihr verdammendes Ustheil ausgefprocdhen über die Ver⸗ 
©taats : Lerflon. IX. 52 





498 Sieg; Sriegbredht u. ſ. w. 


brennung ber ſtaͤdteerfuͤllten 44 durch des allechrifttichen Königs 
Felherrn, Fi die Fra A der Myriaden Gefangenen durch 
Zamerlan, als. er vor Delhi gegen das feindliche Heer im. bie 
gätade vüdte, und Ah ähnliche Unthaten mehr in alter und neuer 


“Dem voranftehenden, blos ſummariſch aufgeftellten Kriegsregein 
Kin wir noch einige weitere Ausführungen unb Erläuterungen bei: 


Bu 1. Die Unterfheidung des gerechten vom ungerehhten Kriege 
iſt ⸗ — die Säle des ganz unverhült auftretenden Unrechts ausgenom: 
men 7 mehr mu eoreifh a als praktifch, umgekehrt aber bie An: 
nahme, daß im ber Megel ber Krieg ein beiberfeits geredhter 
fei, nur auf die jweiftifche Erſcheinung ſich bepiehend, nicht aber auf 
die wirkliche Natur oder vechtliche Beſchaffenheit ber beiberfeitigen 
Anfprüce. Im legter Beziehung wärbe fi’ — wenn ein fie 
ges gerichtliches Erkenntniß darüber Statt finden koͤnnte — gar oft viel: 
mehr ergeben, daß der Krieg ein beiberfeits ungeredhter fe. 
Der Strenge ber Grunbfäge nach kann eigentlich, nur bee Defenfio» 
krieg als gerecht anerlannt werden, im bem Sinne wäh daß bie 
Ergreifung der Waffen nur alsdann vernunftrechtlic erlaubt ifl, wenn 
auf andere Weile bie Abwendung eines Unrechts oder die Wie⸗ 
derherftellung des gekraͤnkten Rechts nicht bewirkt werden kaun. 
In fo fen alfo vom Amede bes Krieges, d. h. von ber rechtlichen 
Natur folches Zweckes, die Benennung Dffenfid» oder Defenfiv: 
krieg entnommen wird, fo iſt dee Dffenfivkrieg mothwendig ein 
ungerechter, weil auf Beleidigung oder Mechtöveriegung gerichteten, 
und nur ber Defenfivkrieg, mofern bie formellen Sedingun ⸗ 
gen feiner Zulaͤſſigkeit vorhanden find, ein gerechter. Es werden 
jebod im praktiſchen Bölkerrechte bie beiden Benennungen in ganz an ⸗ 
derem Sinne gebraucht, nämlich als Bezeichnung der 'allermächiteir 





Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 499 


Kriegserklaͤrung für eine Bedingung des gerechten Kriege; daher bie 
Unterfheibung zwiſchen justum bellum und tumultus. Im Mittels 
alter und gegen die Neuzeit fchärften die Brunbfäge der Ehevalerie 
die Beobachtung jenes vernunftzechtlichen Geſetes ein, und ben Ueber: 
treter traf Schande. Gleichwohl lehren mehrere Schriftſteller, die Kriegs⸗ 
erklaͤrung fe unnoͤthig zum gerechten Kriege, und auch bie Praxis iſt, 
zumal in bee neueften Zeit, ziemlich lax darin geworden. Wenigſtens 
glaubte man, genug zu thun, wenn man das Kriegsmanifeſt gleich 
zeitig mit beng wirklichen Angriff erließ, oder es bemfelben in einiger 
Friſt nachfandte. Den Grund jedoch, aus welchem die Rechtsnoth⸗ 
wendigkeit der Kriegsankuͤndigung zu behaupten iſt, haben wir ſchon 
oben angefuͤhrt. 

Durch dieſe Kriegsankuͤndigung allein indeſſen wird das vernuͤnf⸗ 
tige Recht noch keineswegs befriedigt. Es verlangt vielmehr dieſes, 
daß vor Faſſung des Kriegsbeſchluſſes alle gelinderen Mittel, wodurch 
man hoffen kann, zur Wahrung oder Wiederherſtellung ſeines Rechtes 
zu gelangen, ergriffen werden. Hierher gehoͤren zuvoͤrderſt die diplo⸗ 
matiſchen Unterhandlungen mit dem Gegner und die mit ben Be⸗ 
weisſtuͤcken verſehene Darlegung ber Rechtsbegruͤndung ber beſtrittenen 
oder gekraͤnkten Anſpruͤche. In Faͤllen von geringerem Belange koͤnnen 
fodann Retorſionen ober Repreffalien zum Ziele führen (f. d. 
Artikel); und jedenfalls fordert — zwar nicht das pofitive, wohl aber 
das vernünftige — Recht, dag vor Ergreifung der Waffen dem Geg⸗ 
ner der Antrag gemacht werde, ben Streit buch den Ausſpruch eines 
durch beiberfeltiges freies Gompromis zu ernennenden Sciedsge: 
richt s entfcheiden zu laſſen. In Sachen bes eigenen Rechts oder des 
eigenen Intereſſes iſt man kein zuverläffiger Richter; eine natürliche 
egoiſtiſche Befangenheit trübt das Urtheil; und wer ben aufridhtigen 
Willen dat, nicht mehr, als was recht iſt, gegen ben Andern zu 
behaupten oder vom Andern zu fordern, der muß geneigt fein, ſich 
dem Urtheile Dritter, fo fern fie verfländig und unpartelifch find, 
zu unterwerfen. Mit Vernunft kann der Rechtliebende unmöglid, 
die Entfheidung eines Mechtöftreites duch das Schwert jener durch 
den Ausfpruch eins Schiebsgerihts vorziehen. Wer alfo bie 
“ legte Entſcheidungsart (wofern naͤmlich nicht gegen bie gu Schiedsrich⸗ 
tera vorgefchlagenen Perfonen begründete Einwendungen zu erheben 
find) ablehnt, der fegt fi) dem Vorwurf entweder ber Unreblichkeit 
ober ber Unvernunft aus. 

Bu 3. Diefe Regel iſt zwar theoretiſch richtig, jedoch praktiſch 
von beſtrittener Anwendung. Wohl wird anerkannt werben, daß, wenn 
etwa ber Angreifer ben beftlimmten Gegenftand feiner Forderung, z. B. 
eing Seflung ‚oder ben angefprochenen Grenzbiftrict u. f. w., mit Wars 
fengewalt in Befig genommen und fi darin befeſtigt hat, ein wei⸗ 
teres Eindringen in's Herz des feindlichen Landes ober die Eroberung 
ganzer Provinzen ober gar der völlige Umſturz bee feindlichen Regierung 
eine Ueberſchreitung der Rechtslinie fein würde, Ben aber jmer Ber 





500 Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w- 


fisnafıme Miberfland entgegemgefeht wird, und ber Angreifer Dadurch 
neue Beſchaͤdigung erlitten und koſtbares Meufchenichen B 
fo wird dadurch eine weitere Erfagforderung fe ji 

Rade begründet. Der urfprüngliche Gegenſtand des Krieges hoͤrt 
dann auf, der Maßſtab des Kriegscechts zu fein, und es kann auf 
ſolchem Wege ehne Uekerfhreitung ber juriſtiſch erfennbaren Echran- 
ken der Krügewanier zus einer Anfangs unbedeutenden Fehde leicht 
ein Vertilgungäkrieg werden. Eben fo iſt die Unterfbeidung zwiſchen 
dem dem Zweck des Krieges dienlihen umd nichtdienlichen Mitteln oder 
dem Feinde zuzufügenden Ueteln ſchwankend und Zweifeln Raum ge 
bend. Es ift bier naͤmlich nur von ſolchen Uebeln die Frage, melde 
der feindlihen Regierung oder Volksgeſammtheit wehe thun; 
und da kann nicht leicht von einem gefagt werden, daß es für den 
Zweck des Krieges unnüp fe. Diefer Zweck if kein anderer, als 
Wiederberftelung des Friedens mittelft phoſiſcher oder pſochologiſcher 
Nöchigung des Feindes zur VBefciedigung und Gicherfiellung unferes 
Rechts, oder überhaupt zmamgsmeife Behauptung oder Erringung 
deffen, was uns gebührt. Cine ſolche Noͤthigung liegt aber in jedem 
Uebel oder im der Furcht davor, und merthuole Gegenflände was 
immer für einer Art Eönnen als Pfand oder als Entfdäbigungs: 
mittel wenigftens für Anfprüce, die einen Werthanſchlag zulaffen, 
dienen. Hiernach kann 3. B. aud die Wegnahme von Kunfwer: 
Een oder anderen mit ber Kriegführung in ganz umd gar keiaer direc⸗ 
ten Berbindung flehenden Sachen gerechtfertigt oder für zuiäffig er 
tannıt werden, theild als pfschelogifhe Nöthigung des Zeindes zum 
Frieden, theils als Ergreifung eines Entſchaͤdigungs- oder Compen- 





fationsgegenftanbes. 
Zu 4. Dagegm ift da6 Verbot der gegen die Humanität 
ober überhaupt gegen die Moral fireitenden Mittel allgemein aner: 


Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 501 


Begriffe von Verrath und Treubruch nicht enthalten die Kriegsliften, 
wodurdh man fich den Weg zum Siege bahnt oder den uns bedrohen: 
den Feind in's Verderben lodt. Er weiß es, dag Lift wie Gewalt 
gegen ihn werde gebraucht werden, und mag ſich davor hüten. Auch 
ſteht ihm Beides gleichfalls frei. Vor Treubruch dagegen kann er fich 
nicht hüten, und wo das Zutrauen getöbtet ift, da bleibt, um ſich 
für die Zukunft zu fihern, kein Mittel übrig, als bie gänzliche Ver⸗ 
nichtung des Feindes. 

3u 6. In den alten Zeiten machte man hier nur wenig Unter 
fhied. So weit die Gewalt des Kriegers reichte, fo weit, glaubte 
man, gehe auch fein Recht. Das „jus in viribus habent‘‘ war — 
mit Ausnahme etwa ber (meiſt religiäfen) Gebräuche in Anfehung ber 
Kriegsankündung oder auch ber während des Kriegs gefchloflenen Vers 
ttäge — faft die Summe bes praktifchen Kriegsrechts. Gegen bie 
ganze feindliche Nation und jebes einzelne lieb berfelben hielt man 
jede Gewaltthat für erlaubt. Nicht nur bie wehrhafte Mannfchaft, 
fondern auch Greiſe, Frauen und Kinder wurden nicht felten gefchlachtet, 
meite Provinzen mit Feuer und Schwert verwüftet, ganze Voͤlker in 
bie Knechtſchaft gefchleppt, oder wohl audy auf einen fernen Boden 
verpflanzt, alle Dabe der Einzelnen, wie das Gefammtgut ber Nation, 
fo weit den Sieger darnach gelüftete, dem echte der Beute oder der 
Eroberung unterworfen, überhaupt eine Rechtlofigkeit über bie 
Belriegten und Befiegten verhängt. Heut zu Tage führen nur bar» 
barifhe Volker den Krieg noch in ſolcher Weife. Die cioilifirten 
Nationen anerkennen (beobachten jedoch freilich nicht immer) die Rechts⸗, 
wie die Ehrenpflicht einer das Maß der zuzufügenden Uebel auf jenes 
der Nothwendigkeit befchräntenden und aud am Feinde noch das 
Menfhenrecht ehrenden Kriegführung; und es ift dieſes die Frucht 
theils der in Folge der verbreiteten Aufklaͤrung überall in's klarere Be⸗ 
wußtfein getretenen Idee eines auch im Kriege noch fortbauernden 
Voͤlkerrechtes, theils noch ein Erbſtuͤck aus ben Beiten der .Ches 
valerie, d. h. noch ein Ueberbleibſel des in dem fchöneren Tagen bes 
Ritterwefens beftandenen edlen Geiſtes beffelben, wornady Großmuth, 
Menſchlichkeit und Treue als hoͤchſte Zierde und Ehrenpflicht des Achten 
Ritters galten. 

Aber die Srundfäge der Chevalerie, da fie mehr aus Gefühlen 
als aus deutlich erkannten Vernunftprincipien ſtammen, koͤnnen uns 
nicht genügen. Wir fordern ein auf Haren Recht 6begriffen ru⸗ 
hendes Kriegsgefeg. Unter den Artikeln eines folchen num iſt der oben 
unter Ziff. 6 aufgeflelte Grundfag einer der michtigften unb folgen» 
reichften. Auch wird ihm in ber Praris wenigftens theilweis gehuldigt, 
indem die Kriegsgewalt oder der perfönliche Angriff fi nicht gegen 
friedliche Bürger oder gegen wehrioſe Greife, rauen und Kinder, 
auch nicht einmal gegen ihr Befitthum (einige unten zu bemerkende 
Ausnahmen abgerechnet) richtet, ſondern nur gegen bie bewaffnete 
oder fämpfende, fei es angreifende ſei es Widerſtand leiftende Mann⸗ 





» 
4 


502 Krieg; Kriegsrecht u. f. w. 


fhaft. Auch im Heere ſelbſt unterfcheider man bie wirklich zum Kanspfe 
berufenen von den zu friedlichen Dienſten (3. B. als Zelbärzte, Feib⸗ 
prediger u. f. w.) verwendeten Individuen. Die Schonung ber nicht 
zum Deere gehörigen Bürger und Einwohner jedoch hört auf, wenn 
diefelben oder in fo fern fie ſelbſtthaͤtigen Antheil am Kriege nehmen, 
fet es als regelmaͤßig aufgebotene Landwehr oder Landflurm, ſei es — 
und in diefem Kalle wird die Behandlung noch firengee — als ganz 
freiroillig den Kaͤmpfenden ſich beigefellend oder auf andere Art dem 
in’6 Land gefallenen Heere Telbfithätig Abbruch thuend. 

Die Hauptrichtung des Kriegführens geht ſonach gegen die ben 
Krieg verfchuldende Staatsgewalt oder gegen bie durch biefelbe 
repräfentirte Geſammtheit, mit Ausfchluffe der Einzelnen , außer im 
fo fern fie in der Eigenfchaft als lieder jener Gefammtheit auftreten 
und handeln. Die öffentliche Gewalt und ihre Rechte, das öffentliche 
oder Staatsgut , ſei es beweglich ober unbeweglich, bie Gebietäherrlich« 
keit und die Domäne, öffentliche Vorräthe aller Art, zumal von Waf⸗ 
fen und anderem Kriegsbebarfe, ſodann die öffentlichen Gaffen u- ſ. w. 
unterliegen daher dem Mechte der Eroberung und der Beute, während 
das Privateigenthbum, fo wie die Perfönlichkeitsrechte ber Privaten im 
ber Regel (mithin ungerechnet bie regellofen Erceffe einzelner Golbaten 
oder Kriegsſchaaren und deren Haͤupter) unangetaftet bleiben, ober body 
nur des Kriege: Bedarfs (nicht eben des Kriegs⸗Zwecks) willen 
in's Mitleiden gezogen werden. 

In einem Punct iſt die Praris felbft noch milder, als das 
vernünftige Rechtögefeg verlangt. Gegen die Staatshäupter naͤm⸗ 
lich, von deren Entfdyluffe doch eigentlic, der Krieg ausging, oder berm 
Handlungen dem Gegner den Rechtsgrund (ober wenigſtens den Bor: 
wand) zur Ergreifung der Maffen darboten, gegen die monarchi⸗ 
ſchen Häupter zumal, wird gemöhnlid mit weit mehr Schonung und 
Ruͤckſicht verfahren, als gegen die blofen Diener ihres Willens ober 
gegen die aus Unterthanenpflicht ihrem Kriegebefehle Gehorchenden. 
Diefe in mehrfacher Beziehung loͤbliche, obſchon nicht eben rechtsnoth⸗ 
wendige Sitte ift theils gleichfalls ein Erbftüäd aus den Zeiten ber 
Chevalerie und des Lehenweſens, theils aber und ganz vorzüglich eine 
Folge des in der neuen und neueflen Zeit ungemein gefteigerten Be: 
griffe vom monarchiſchen Principe oder von der — nicht nur für 
das eigene Volk, fondern für die ganze Welt, alfo aud für ben 
Feind beftehenden — perfönlihen Heiligkeit der Monarchen. In 
alten Zeiten wußte man nichts von ſolchem die Gefahren des Kriegs 
für den Urheber deffelben verringernden Privilegium. Die Könige, 
wenn fie einen Krieg unternahmen, hatten auch alle Gefahren und 
Wechſelfaͤlle deffelben für ihre eigene Perfon, und zwar ganz vor» 
zuͤglich, gu beftehen. Sie fpielten dabei nicht nur um ihr Land oder 
um ihre Krone, fonbern felbft um ihre perfönliche Freiheit und um 
ihr Leben. Dan weiß, wie hart zumal bie (freilich republicanifchen) 
Römer die feindlichen Könige (man benfe nur an Perfeus und 


Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. 508° 


» an Jugurtba) behandelten. Aber auch von Königen gegen Könige 
kommen gar viele Beifpiele fehr firenger perfänlicher Feindſeligkeit und 
Rache vor; und in unferen Tagen haben wir von Seite ber neufraͤn⸗ 
Eifchen Republicaner und felbft noch von Seite bes Eaiferlichen Erben 
ber Revolution die — allerdings vom Kriegsentſchluſſe abfchredtende und 
zur Eingehung auch bes härtejlen Friedens geneigt machende — ſcho⸗ 
nungsfofe Gftenge gegen die Häupter der Wölker ſich erneuen fehen. 
Die weitaus vorherrfhende — aus fehr leicht erflärbarer Uebereinſtim⸗ 
mung ber monarchiſchen Kriegehäupter gefloffene — Praris blieb in- 
befien bie der wechfelfeitigen zarten und ehrerbietigen Ruͤckſicht für die 
Perſon dee Monarchen und ihrer Familienglieder. Auch im Kriege 
noch dauern die duch Verwandtſchafts⸗ und Schwaͤgerſchaftsverhaͤlt⸗ 
niffe meift noch verftärkten Bande der perfönlichen Achtung und often» 
fiblen Freundſchaft ſort. Man fucht, fo viel möglich, die Schrecken 
und Dramgfale des Krieges aus der Nähe des bekriegten Kürften und 
feiner Refidenz entfernt zu halten, man reſpectirt feine Schlöffer, übers 
haupt fein und feiner Familie Privarbefigthum, ja, man enthält ſich, 
wenn er perföndich mit zu Felbe zieht, des Schießens gegen ihn ober 
das ihn beberbergende Gezelt. Geraͤth ex in Gefangenſchaft, fo wird 
ihm die ſchonendſte und achtungsvolfte Behandlung zu Theil, und 
bie harten Bedingungen, bie man ihm etwa abpreßt, beziehen ſich im⸗ 
mer nur auf das Land, und fo wenig als möglich auf feine Perfon. 
Nur in Anfehung Kaiſer Napoleon’s, weldyer freilich im Purpur 
nicht geboren, auch wegen felbfleigen verübter Härten gehaßt war, fand 
ein anderes Verfahren Statt, worüber einft die Geſchichte ihre Richter: 
amt verwalten wirb. 

In Bezug auf die allgemeine Verantwortlichkeit ober Mitverant⸗ 
wortlichkeit der einzelnen Bürger und Einwohner für den 
von der Staatsgewalt unternommenen Krieg ift — wenigſtens vers 
nunftrechtlih, 0b auch in der Praris minder anerlannt — zu unters 
fheiden zwifchen ben Berfaſſungen der Eriegführenden Gtaaten. 
Die Unterthanen eines Despotenreiches find unfhulbig, weil völ⸗ 
lig theilnahmies, an dem Kriegsbefchlufie des Herrn; ihnen baflr 
wehe zu thun, wäre offenbar ungerecht, und außerdem aud wenig 
wirkſam, weil der Despot — falls er nicht perfönlich gutmüthig IE — 
die Beiden des Volkes nicht weiter mitempfinbet, als ihm dadurch etwa 
an Kriegemitteln oder Einkünften eink ſaͤchliche Beſchaͤdigung zugeht, 
An einer Republik dagegen oder in einer derfelben ſich annaͤhern⸗ 
den, überhaupt in einer dem Geſammtwillen bie Herrſchaft ober 
mindeftens bie Mitherrſchaft verleihenden Verfaſſung erfcheinen die an 
ſolcher Herrfchaft näher oder entfernter Theilnehmenden oder auch Alle, 
in fo fern fie als dem Kriegsbefchluffe zuftimmend zu betrachten find, 
auch als mitverantwortlich für defien Folgen, gemwiffermaßen als per: 
ſoͤnliche Mitfhuldner der dadurch dem Gegner erwachſenden Forderung. 
Es barf ſich daher biefer, nach bem — freilich juriftifch ſchwer zu be 
fimmenden und mehr nur idealen — Maße jener Theilnahme umd 


504 rieg;- Rriegerecht u. few. 


Mitſchuld, 8 —— Auch mag et es umıfo 
eher thun, da hier die —— Einjelnen auch ber Grfommt- 
heit, welcher ſie als lebe — ‚angehören, fuͤhlbat iſt, und da⸗ 
wm ‚ein wirkſaͤmes Motiv | felbe wird, vom Kampfe ahbzulaſſen 
und ſich — — Vom Standpuncte des Vernunft- 

rechts alſo ift allerdings die Mechtslage eines freiem Wolkes gegenüber 
— eine ungünftigere, als bie eines Volks von: Knechten; aber 
dagegen ift auch feine Kraft der Vertheidigung größer, nachhaltiger, 
ne und die Gefahr, in ungerechte ober verberbliche 

iege geftürzt zu werden, eben weil es nur die feibfigewollten führt, 
fie Saite weit geringer 

18 den bisher ausgeführten  Grundfägen fließen allernaͤchſt bie 
nachſtehenden befonderen, — —— poſitiven ober conventionellen 
Boitetrechte anerkannten 
—. Rechte der: —— in Anfehung der 
feindtichen Perfonen. 

Der wirttide Kampf, * in der Regel auch nur bdiefer, 
führt natuͤrlich das Recht mit ſich, die feindlichen Streiter zu Eier 
Solche Extödtung 'indeffen —— nicht eben als Ab ſicht — 
wenn ber Angreffer ſich ohne Kampf in den Beſitz der von * -_ 
gefprohenen Sachen ober Rechte fegen kann, fo verlangt er nicht, zu 
tödten, und darf es auch nicht — fondern blos ala Notwehr gegen 
bie unferen Waffen kampffertig entgegentretenden und dergeflalt uns 
felbft mit dem Tode bebrohenden Feinde. Diefe, nis dem Verfolgen 
unferes. (wie wir glauben gerechten) Kriegezwecks ihren bewaffneten 
Widerftand — verfallen dadurch dem von uns jept aus- 
suhbenden Präventions- und Vertheidigungsrechte. Wir nehmen, indem 





Krieg; Kriegsrecht u. f. w. 505 


ſchraͤnkung. &o hält man mit Recht für unerlaubt, jebe meuchel⸗ 
mörderifche Tödtung, eben fo die duch Vergiftung (3. B. der 
Brunnen oder der Nahrungsmittel m. f. w.) bewirkte. Dan hält für 
unguläffig. den Gebrauch der Kettentugeln und Stangenkugeln, bes ges 
hackten Bleies, ber Glasſtuͤcke, Nägel u. dgl., anflatt ber Kugeln (die 
Gongreve’fchen Raketen u. a. ſchreckliche Mittel bagegen find erlaubt), 
fodann auch da8 Sehen eines Preifes auf den Kopf (beflimmter 
oder unbeftimmter) feindlicher Perfonen u. m. %. 

Das Recht der Toͤdtung geht fo weit. als ber uns felbft be: 
drohende Wibderfland; daher findet es auch gegen blofe Bürger und 
Einwohner Statt, in fo fer fie, obfchon nicht zur orbentlichen bewaff⸗ 
neten Macht gehörig, fich im Wege bed Angriffs oder ber Vertheidi⸗ 
gung GBewaltthätigkeiten gegen den Feind erlauben. Ehedeffen galt in 
biefer Beziehung ein fehr ſtrenges, felbft die Toͤdtung zur Strafe 
für den geleifteten Widerfiand oder für gethanen Angriff erlaubendes 
Kriegsrecht. Heut zu Tage iſt es, wenigftens in Bezug auf Landwehr 
und Landſturm, weſentlich gemilbert worden. Uebrigens wird das Recht 
anerkannt, offenbare Werlegungen des Kriegs s oder Voͤlkerrechts, z. B. 
die Erfchlagung von Wehrlofen, bie rein raͤuberiſchen ober mordbren⸗ 
nerifchen Unthaten, auch das Ausfpähen, den Bruch ber Sapitulationen 
oder des gegebenen Ehrenworts, bie Waffen nicht wieber zu ergreifen 
u. dgl., an den Uebertretern felbft mit dem Tode zu rächen. 

Ueber die Eriegsgefangenen Zeinde fleht uns das Recht ber 
Bewahrung zu. Damit ift aber die Pflicht, fie human zu behandeln, 
und insbefondere den Lebensunterhalt ihnen zu reichen (vorbehaltlich 
der Erfasforderung an bie Gefangenen felbft oder an den Staat, wel- 
chen fie angehören) verbunden. Durch Entlaffung — gewoͤhnlich gegen 
bas Verſprechen, die Waffen nidyt mehr wider ung zu führen — ober 
durch theilmeife oder allgemeine Auswechſelung ber Gefangenen entledigt 
man fich foldyer Pfliht. Auch bie Gelßeln, wo man beren empfängt 
ober nimmt, koͤnnen behanbelt werben wie Kriegsgefangene. 

IL Rechte der Kriegführenden in Anfehung ber 
feindlihen Baden. 

Hier muß zuvoͤrderſt unterfchieben werden zwiſchen Sachen, welche 
bee Geſammt heit angehören ober in dem Befige berfelben fid bes 
finden, und jenen, die Privatgut find. Die erſten, wenn unfer 
Anſpruch eigens auf fie gerichtet iſt (ohne Unterfchied,. ob unbewegliches 
oder bemegliche® Gut), oder wenn wir fie als Erſatzgegenſtaͤnde für 
bie uns etwa entriſſenen Sachen ober Rechte, ober überhaupt als ſtell⸗ 
vertretende Befriedigungsmittel unferee Anfprüche auserſehen, koͤnnen 
unbedenklich ergriffen und auch mit der Abſicht, fie als Eigenthum zu 
behalten, in Befig genommen werden. Nicht minder Einnen die Ge⸗ 
genflände, deren unfer Heer zur Verpflegung bedarf, oder bie ihm 
oder dem Feinde zur Kriegführung dienen koͤnnen, ale Waffen und 
Kriegsvorraͤthe aller Art, demfelben weggenommen und zu unferem Ges 
brauche verwendest werben. Und endlich kann bie WBefigergreifung übers 


Krieg; Kriegsrecht u. f. m. 507 


eigenen oder in Freundes Lande des Gehorfams des Volkes gewiß ift, 
und daher ohne Bedenken die ſchwerſten Opfer ihm auflegt. Indeffen 
erlaubt das vernünftige und auch das pofitive Kriegsrecht je nach Um: 
ftänden — mithin ausnahmsweife — allerdings einigen Angriff auf das 
feindliche Privatgut. Zuvoͤrderſt wird dieſes Statt finden überall, we 
die Bevölkerung durch felbfteigene Theilnahme am Kampfe das einfal: 
Imde Heer beleibiget und zur Rache gereist bat. - Sodann gefkattet 
wenigftens die Kriegsraifon, bag das Heer, weſſen es zur Selbft- 
erhaltung oder zur Eräftigeren Fortfuͤhrung des Kampfes bedarf — an 
Nahrungsmitteln, Kleidungsftüden, auch Frohnen u. f. m. — in fo 
weit das befehte Land es ohme allzu große Belaſtung zu leiften im 
Stande Ift, von demfelben fordere. Nur darf durch folche Forderun⸗ 
gen der Begriff des Privateigenthums nicht aufgehoben und auch bie 
perfönliche Erhaltung ber Bürger nicht gefährdet werden; und in ge: 
woͤhnlichen Lagen fol das Heer feinen Bedarf von Haus aus mit 
ſich führen oder aus eigenen Mitteln beſtreiten. ebenfalls follen nicht 
die einzelnen Soldaten ober bie untergeordneten Häuptlinge durch will: 
kuͤrliche Erpreſſungen die Eigenthumsrechte verlegen, fondern bie Lei: 
ſtungen von bem Heerfuͤhrer felbft oder feinen bazu eigens Bevollmaͤch⸗ 
tigten eingefordert, nach Thunlichkeit geregelt und auf ben wirklichen 
Bedarf befchränkt werden. Im Wege ber Repreffalien iſt jedody 
auch ein Mehreres geflattetzs und das conventionelle Mecht er 
laubt fogar (hier jedoch im Widerfpruche mit dem vernünftigen 
Rechte) 5. B. bie Plünderung einer erflürmten Stadt, bie Kriegs: 
eaifon aber die Verwuͤſtung und Verbrennung von Privatgut, ja von 
ganzen Ländern und Ortfchaften zum Zwecke ber Wertheidigung ober 
Selbfterhaltung. 

Bon dem Grundfage, daß das Privateigentbum vom Krieger zu 
achten ſei, maht das Seekriegsrecht eine merkwürdige Aus⸗ 
nahme. Es erlaubt nämlid die Wegnahme auch der Privatfchiffe 
und des darauf verfährten Privatgutes, fei es durch Kriegsfchiffe, fei 
es durch von Privaten umter Öffentlicher Auctorität ausgerüftete Kaper. 
Zur Rechtfertigung biefee Ausnahme wird angeführt, daß die Kaperei, 
da fie dm Handel bes feindlichen Staates zu Grunde richtet, ein 
noch mehr dee Geſammtheit felbft, als nur den Privaten zuge: 
dachtes Uebel if, und weldyes eben deshalb als ein zum Frieden nöthi- 
gendes oder mitbeflimmendes wirkſam fein kann. Uebrigens geht auch 
hier (vorbehaltlich der fpäteren Entfcheibung des Prifengerichts über 
die Rechtmäßigkeit der Wegnahme) das gekaperte Gut gieichfalis, wie 
die zu Lande gemadyte Beute, nach conventionellem echte binnen 24 
Stunden in’s volle Eigenthum bed Kapers über, was für bie Fälle 
von wichtiger rechtlicher Wirkung ift, wo das erbeutete ober gefaperte 
But dem Erbeuteten durch die eigene oder eine befreundete Kriegsmacht 
oder durch eimen von ber Gegenſeite auctoriſirten Kaper wieder abge: 
nommen wird. Geſchah inbefien bie Wiedererbeutung durch die öffent 
liche Kriegemacht felbft, fo wird gewöhnlich dem beraubten wahren Eis 


508 "Krieg; Kriegsrecht u. f w. 


genthämer die Sache wieder zuruͤckgeſtellt, wenn auch etwas mehr als 
24 Stunden vor der Wiedererbeutung verfloffen waren. 

So viele Milderung in neueren Zeiten, durch die verbreitetere 
Anerkennung des vernünftigen ober natürlichen Rechtes und durch bie 
in Folge der Eivilifation eimgetretene Sänftigung der Sitten, in bie 
Kriegemanier gekommen iſt: fo bleibt dennoch bie Summe ber faft 
unausmweichlich im Geleite des Krieges über die Voͤlker hereinbrechenden 
Uebel fo groß, und die Schreckensſcenen, die er mit fi führt, find fo 
zahlreich und mannigfaltig, daß das menfchlich fühlende Gemuͤth da⸗ 
vor zuruͤckſchaudert, und die Vernunft es als eine unabweisliche Auf: 
gabe erkennt, nad Mitteln oder Anftalten zu ſtreben, wodurch der 
Krieg für immer koͤnne verhuͤtet, d. h. bie Streitigkeiten unter ben 
Völkern auf eine friedliche und zugleich dem Mechte gemaͤße Weife moͤch⸗ 
ten entſchieben werden. Die Erfülung des Wunfdes nad einem all 
gemeinen und ewigen $rieben iſt jedoch kaum zu erwarten, und wenn 
fie ja Statt fände, fo würde es wahrſcheinlich auf Unkoſten noch hö: 
herer Güter geſchehen, als diejenigen find, beren Verluſt der Krieg 
uns ausfeßt. Der Preis bafür oder das Mittel feiner Herftellung 
möchte nämlich bie Errichtung eines Weltreiches — fei e6 unter der 
Herrſchaft eines einzigen Hauptes, ober einiger weniger Häupter — 
fein, folglich der Untergang aller Kreiheit der Völker wie der Ein- 
zelnen, und damit der Untergang aller morallſchen Kraft, ſonach aller 
Würde wie alles höheren Wohles der Menfchheit. Schon dadurch, 
daß er ſolches Außerfte Unheil verhuͤtet, erſcheint der Krieg als uner 
meßlich wohlthaͤtig. Er fegt nämlich voraus und erhält die Selbft: 
ſtaͤndigkeit ber einzelnen Nationen, und naͤhrt in ihnen die Kraft und 





den Muth, die fie ſolcher Selbftftändigkeit werth macht. Und ttog 


Krieg; Kriegsrecht u. ſ. w. — Kriegsſchaden u. ſ. w. 509 


die letzte Spur vertilgt werden. Aber nur theilweiſe und kuͤrzere, von 
nicht allzu großer Verwuͤſtung begleitete Unterbrechungen des in Schlum⸗ 
mer einwiegenden Friedensſtandes, fo entſchieden die rechtliche Vernunft 
fie verwirft, Haben, nad dem Zeugniffe der Geſchichte, hoͤchſt ſegens⸗ 
reich gewirkt, und faft jeder ſolcher Kriegsperiode, wie faft jebem Ges 
witter,, folge eine Periode der fruchtbarften Kraftentfaltung, des leben» 
digften Aufſchwunges nad). 

Jedenfalls ijt der Kriegemuth die unentbehrlichfte Schugmwehr 
für Sreiheit und Recht, und die Kriegstunft das Product wie das 
Bollwerk der Civilifation. Allerdings find es nur allzu oft gemeine 
und ſchlechte Motive, welche die Kriege entzünden; Raubfuht und 
Herrſchgier, überhaupt egoiftifche Intereſſen und rechtsverachtende Lei: 
denfchaft. Eben darum aber, damit naͤmlich nicht die ganze Menfch: 
heit die Beute einiger gemwaltthätiger und vermeſſener Häupter ober 
Horben werbe, foll der Kriegsmuth unter den Völkern erhalten unb 
die Kriegskunſt gepflege werben. Die Verſuche ber Herrſchſucht koͤnnen 
nur fcheitern an der Kriegsntfchloffenheit der Nationen, und das be- 
glüdende Reich der Civiliſation kann gegen die wilden Wogen ber 
Barbarei nur gefchiemt werben durch bie ber geiftigen UWeberlegen- 
beit den Steg verbürgende Kriegstunft. Diefe Kriegskunſt nun, 
überall bezeichnend für den Charakter ber Völker und Zeiten, hat in der 
neuen und neueften Zeit den höchften Auffhwung genommen. Sie hat 
ſich durch Aneignung der Schäge faft aller anderen Wiſſenſchaften und 
Künfte unermeßlich bereichert, und ift dergeftatt — obſchon freilich nur 
allzu oft audy zu ſchlechten und Heillofen Zwecken mißbraucht — ber 
Hort der Civilifation geworden. Gegen bie einheimifhe Despo- 
tie zwar bietet fie — zumal in ihrer verhängnißvollen Verbindung mit 
dem Spfteme der ſtehenden Deere — keine Schutzwehr dar; viel- 
mehr hat fie derfelben ſich Häufig dienſtbar erwiefen: aber nah Außen 
entfaltet fie gegen jede uns etwa bedrohende rohe phnfifche Uebermacht 
ihre der Intelligenz angehörige uͤberlegene Stärke. Kein hun⸗ 
nifher, kein mongolifcher Eroberer wird mehr — Dank unferer Krieges 
kunſt — mit feinen Roffen die Saaten der europdifhen Länder zertres 
ten; und felbft bee moskowitiſche Koloß wird nur m dem Maße 
furchtbar werden, als er felbft ſich der Derrfchaft der Civiliſation un⸗ 
terwirft. Rotted. 

Kriegspflidt, f. Qeecbam und Gonfcription. 

Kriegsfhaden, Kriegslaften, Vertheilung und 
Audgleihung derfelben. — Wie find durch den beifpiellos 
langen Frieden, welchen wir dee Furcht der Großmaͤchte vor allen 
Voltsbewegungen verdanken, faft in Vergeſſenheit der ungeheueren 
Kriegsleiden eingewiegt worben, welche vor biefer Friebensperiode eine 
gleich lange Zeit, nämlich ein ganzes Vierteljahrhundert hindurch, über 
ben meiſten Ländern Europas, vor allen über unferem unglüdlichen 
Deutſchland, gelegen find, und welchen wir damals — außer unfrucht- 
baren Seufzern und Klagen oder an den Himmel gerichteten Wuͤn⸗ 





510 Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 


ſchen — wegen Mangels an weiſer, geſetlicher Fuͤtkehr faſt nichts zur 
Abwehr oder Heilung entgegenzuſetzen vermochten. Wer ſich jedoch 
noch jener Zeiten des Jammers und ber Noth erinnert, oder wer über: 
haupt feinen Geiſtesblick über bie nädfte Gegenwart hinaus in Ver⸗ 
gangenhelt und Zukunft richtet, der erkennt das dringende Beduͤrfniß 
und bie am bie Staatögewalt zw flellende unabweislihe Forderung 
einer ber Wiederkehr fo namenlofer Uebel, deren Drud durch das Ber 
fühl des dabel erlittenen Unrechtes ober ber der Staatsgewalt zur 
kaſt zu legenden ſchweren Verſaͤumniß noch um Vieles empfind⸗ 
licher ward, fo weit menſchenmoͤglich vorbeugenden, gefeglihen 
oder wenigftens abminifirativen Norm für thunlichſte Ver⸗ 
eingerung und fodann für eine dem Rechte, ber Klugheit und der 
Humanität wenigftens annähernd entſprechende Vertheilung oder 
Aus gleich un g derſelben. 

Von völliger Verhuͤtung ber Kriegsuͤbel kann natuͤtlich keine 
Rede fein, und eben fo wenig von einer die theoretiſchen Anforberun- 
gen völlig befriedigenden Regulirung biefer fo unermeßlich 
wichtigen, aber auch gleich ſchwierigen Angelegenheit der Völker und der 
Einzelnen. Doch läge ſich Einiges, ja fehr Wieles thun, wenn man 
mit reblihem Willen, klarem Werftande und beharrüchem Eifer an’6 
Werk geht; und e6 muß biefes geſchehen ſchon im Frieden, der da 
eine ruhige Ueberlegung umd umfichtige Vorbereitung erlaubt, während 
bei bereits ausgedrochenem Kriege das Kampfſpiel felbft und das Ber 
düsfniß ‘des Heeres ale Sorgen im Anfprudy nehmen und das Ger 
raͤuſch der Waffen wie der. Drang ber vielgeflaltigen Noth von gefeg 
geberifchen Arbeiten abhält und, mas dann erſt nahher, nach wies 





derhergeftelltem Frieden ‚- zur Steuer der Gerechtigkeit oder zur Aus- 


Diehoſchaden, Krichelaſtes wm.  SIL 


weder ihren Bebarf mit fich, Aber waren vom Lebenewitteln 
umb afiberen Nothwendigkeiten fs "fie ſchon Bochiaein augelsgt. 
Die: Bond hatte dann blo6 das. noch Berbeizufgpaffen. 


Die Sranpofen im Revöluskenöbriege, als fie mit ihren umermeßs 
Igetn Herten in's Gelb rücten mb im Gturmfdeitte von leg zu 


durch Die neue gegwungen, 
und anderem Webarf unmittelbar aus bem Ländern zw ziehen, 
wocin fie geitlich fich aufhlelten, ober die fie in abwechſelnder Richtung 
durchzogen; und von num an ruhte Dis furchtbare Rriegsiaft erbrüdend 
anf den Schultern der wehrlofen Bevoͤlkerungen, und wurden fo egot« 
Ditante Forderungen an biefelben geftellt, daß man fie für gang 
unerſchwinglich warde geachtet haben. Die Uägeren Heerfährer 
* erkennend, daß bei einiger, durch bie 0,7 
au. 


H 
h 
er 
f 


d. 9. fich aus dem Lande zu entfernen. 
* Aber. die Brunbfäge, wornach foldhe Regulung , d.-h. Beiteels 
bung umb Bepartition der waren feine 


Grmdfäge des Bodens oder Habhaftwerdens, 
"Des. die —— — — hr a —— 
allgemein« Lal en 
Ve Schuitera —— namlich — Baͤrgerclaſſe wäl« 
md; und endlich traten nice ſelten an bie Stelle 


x 
| 
| 
3 


512 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w. 
legentlich erlaubten fie ſich auch, neben dem durch bie Behörden In Vou⸗ 
zug gefegten Requifitionen, rein gemaltthätige Erpreſſungen 
und machten dergeftalt das Maß des Leidens ber Wölker voll. Dfts 
mals ſchritt auch bie oberfie Staatsgewalt — gefehgebend ober 
in abminifteativem Wege — zum Zwecke einer befferen Regul irung 
der Kriegsleiſtungen ein, oder unternahm es, wenn nach einer 
verfloffenen Kriegsperiode oder nach hergeftelltem Frieden bie unverhält- 
nißmaͤßigen Erlittenheiten einzelner Provinzen, Difkeicte oder Bemein- 
den zur Sprache kamen, bie allzu grellen Ungleichheiten oder Ueber⸗ 
laftungen, welche vorgefallen, duch nadhträglihe Ausgleihun: 
gen zu theilen. Diefes Alles jedoch geſchah meiſtens principlos oder 
nach falſchen Principien und machte darum gewöhnlich das Uebel noch 
ger. 
Wir wolen, um den Gtandpunct zur richtigen Beurtheilung 
beffen, was in dieſer hochwichtigen Sache, allernaͤchſt in Deutſchland, 
bis zue neueſten Zeit geſchah oder als Recht galt, zu gewinnen, zus 
voͤrderſt die Grundfäge feſtzuſtellen ſuchen, von welchen bier aus⸗ 
gegangen werden muß, wenn vor Allem das heilige Recht feine 
Befriedigung, und fodann au die Ruͤkſichten der Klugheit 
die gebührende Beachtung erhalten ſollen. 

Grundfäge für Vertheilung und Ausgleihung der 
Kriegslafen. 

I. Die Rrlegelaften, in fo fern fie duch den Willen ber 
Staatsgemwalt oder unter Auctocität ihrer eigenen, militaͤriſchen 
oder bürgerlichen, Wefehishaber den Bürgern aufgelegt werden, müffen, 
fo viel möglich, nach dem Principe der Gleichheit (d. h. Verhält: 
nigmäßigkeit, naͤmlich nad dem Verhättniffe des Vermögens ober ber 





Kriegsfhaden, Kriegslaften u. f. w. 513 


einer richtigen Berechnung und baher auch einer wahrhaft gleichheit: 
lichen Vertheilung der übrigen aufgehoben. Won ber einzigen, derge⸗ 
ftalt ausgenommenen Laſt naͤmlich (3. B. von der Cinquarticung mit 
Verpflegung) innen Zaufende von Bürgern fo hart bedrüdt werben 
oder worden fein, daß fie_ihnen allein und befinitiv aufzubürden oder 
ihnen gar noch dazu die Theilnahme an ben der Repartition unter- 
worfenen zuzumuthen, ein fhreiendes Unrecht ifl. Es darf auch bie 
gleichheitliche Repartition fi nicht auf die Angehärigen derjenigen 
Claſſe oder Claffen, welche von beflimmten Gattungen der Laſten 
bei ihrer unmittelbaren Auflage in der Megel vorzugsweife oder auds 
fchließend getroffen werden (z. B. der Hausbefiger bei der Einguar: 
tirung, der Vichbefiger bei den Fuhrfrohnen u. f. m.), auch nicht auf 
die Bewohner der dem Kriegsdrange jemweild meift ausgefegten 
Provinzen oder Bezirke befchränken: fondern fie muß eine fo 
wie über alle Gattungen der Laften, fo audh über alle Clafe 
fen der Stantsangehdrigen und über alle Theile des 
Staatsgebietes fi) ausdehnende fein. Jede blos partielle Mes 
partition oder Ausgleihung — in fo fern nicht, je nach Umftänden, 
eine oder die andere Luft aus befonderen Gründen zu einer bloſen 
Locals oder Bezirkslaſt zu erklären iſt — flreitet gegen das 
Princip und kann nad) Umfländen anftatt der Heilung der Ungleich⸗ 
heiten, die fie bezweckt, noch eine Vermehrung derfe:ben bewirken. 

II. Dagegen erſtreckt fid die Anwendbarkeit unferes Grundſatzes 
auf die vom Feinde aufgelegten Laften nit. Der Staat oder 
die Staatsgemwalt hat diefelben niht zu verantworten; fie hat 
ſolche Auflage nicht gewollt und nicht befohlen; vielmehr hat fie, was 
in. ihren Kräften fand, angewendet, um fie zu verhuͤten oder abzus 
wenden. Wir fegen nämlih einen von ihre mit Recht und aus 
Nothwendigfeit untermommenen Krieg voraus (und von folder 
Vorautfegung muß natürlich jede Gefeggebung ausgehen, da das Ges 
gentheil juriftifch niemals zu beweifen ift), wornach elſo Der Feind ale 
ungerechter Angreifer, die Staaisgewalt aber als Schutzmacht erſcheint, 
und daher die Erpreffungen des Feindes als cin von denen, welche fie 
treffen, als reines Unglüd zu tragende® oder zu verſchmerzendes 
Uebel zu betrachten find. Wir fegen nämlich noch weiter voraus (oder 
müffen e8 thun, meil der juriftifche Gegenbeweis nid: moͤglich üt), 
daß die Staatsgemwalt alles ihr Mögliche gethan hat, um jene Crpreſ⸗ 
fungen abzuwenden; fo mie fie — nad einer Äähnlidyen Vorausfegung 
oder Annahme — alles, ihr Moͤgliche thut, um andere Uebel, insbefons 
dere alle Werlegungen, welche von einheimiſchen Feinden des 
Rechts Eönnten begangen werden, zu verhindern, eben deshalb aber 
nicht ſchuldig iſt, die gleichwohl vorfommenden Befhädigungen, welche 
duch Diebſtahl, Raub und andere Verbrechen dem Staatsangchörigen 
zugehen, zu verantworten, und daher zu erfegen, ober auf die Ge⸗ 
fammtheit zu übernehmen. Dieſer wichtige und folgenreite Grund: 
fag indeffen findet vielfahen Widerfprud, und fordert deshalb 

Staats  Leriton. IX. 33 





MO > Beigiphehen, arichleten 


u en rung un wel ——— — en 
83 eilung entgegemgufegen berm Der ſich 

noch 33 ae des Sanımers und der Fr —— VER * 
haupt feinen Geiſteeblick über die naͤchſte Gegenwart hinaus, in. Ber: 
gangenheit und Zukunft richtet, dee erkennt das dringende, Weblisfnif 
und die an bie Ctantsgemalt zu ſtellende unabmweisliche Forberung 
einer ber Wiederkehr fo namenlofer Uebel, deren Drud durch bas Ger 
fühl des dabei eriittenmn Unrechte s ober der ber Stantsgeiwalt zur 
kaſt zu legenben fümweren Berfäumniß noch um Vieles empfind- 
Ucher ward, fo weit mmfcenmöglih vorbeugenden, gefeslihen 
oder wenigftens abminifrativen Norm für thunlichfte Vers 


. tingerung und ſodann für eine dem echte, der Klugheit und der 


EnRH wenigftens aumäherab entſprechende Vert heil uag ober 
usgleihung derſelben. 

Emm völliger Vergütung ber Kriegehbel kann natärtidh Seine 
Wede fein, und ehem fo wenig von einer die theoretifchen Anferberun> 
gen völlig befriedigenden Megulicung biefer fo 5* 
wichtigen, aber auch gleich ſchwierigen Angelegenheit der Voͤlker 
Einzelnen. Doch läßt ſich Einiges, ja — * thun, wenn man 
zit veblichen Willen, Mlarem Verflandg und beharzlicem Eifre an'6 
Werk geht; und es muß dieſes gefchehen ſchon im Frie den, der eis 


dürfnif 'des ale Sorgen in Anı nehmen und dei Ge 
rãuſch dee Waffen wie-ber, Drang ber vielgeflaltigen Noth vom gefeh 
geberiſchen it und, was dann erſt naher, mad wies 


Kriege 
laſten bei Weitem nicht fo ſchwer und ig, ale. fie 16 Im Beige 
der mit beifpteltofer Anfivengung und mit fo großen Herren, 
den Rreuzzügen Europa Beine gefehen, geführten Kriege der ange! 
Som 9 Nation gegen die Qoalitiomen der europäifchen Monarchen ger . 

werden find. Kriege Schaden zwar ober Kriegs -Verwäflungen 

und Bewaltehaten mandherlei Art fanden wohl vom jeher Gtaik, 
wo immerhin ber Kriegetlauf bie  besfhiebenen Here ober 

führte, und zwar ehedeſſen oft in größerem Mafe und in barbariſche⸗ 

ven Gormen, als in der — Zeit die feines Krieg Politkk. 

* 7 Aber die Kine Eaßen, d . ade den Bmncl- 

nern bes Reirgefipauplates durch Di lichen oder: miliskrifihen 

Kuctositdten und unter dem au der Begrefqulbigtsiten 

aufselegten Leiſtungen, waren ehevor unendlich geringer. Die Gene 


Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 515 


wenn eine Provinz ober ein Bezirk ganz ober theilmeife in fchnell auf 
einander folgendem Wechſel bald vom Feinde, bald vom Sreunde bes 
fegt wäre? ober wenn unfer Heer abſichtlich den Feind tief in's Band 
Iodte, um ihn allda, begünftige durch die Vortheile der Stellung, befto 
ficherer zu ſchlagen und zu verderben ? oder wenn während des Krieges 
der Freund ſich in Feind ummandelte? oder wenn das ganze Staates 
gebiet vom Feinde erobert, und etwa gar eine andere Regierung einges 
fegt würde 3? 

Wie antworten hierauf: 

Bu 1. Die Staatsgewalt ober bie Staatsgefammtheit ift nicht 
verantwortlich für die von ihre nicht gewollten Folgen eines von 
ihe rechts⸗ und pflichtgemäß gefaßten Befchluffes. Sie hat nur ihre 
eigenen Handlungen, nicht aber jene des Feindes oder bie 
Wirkungen des Zufalis zu vertreten. Wäre fie auch für bie legten 
beiden verantwortlich: fo läge eine ganz entfegliche Laft auf ihr. Als 
dann naͤmlich ginge nicht nur alle vom Feinde verühte Kriegeverheerung, 
Raub, Brand, Plünderung u. f. mw. auf ihre Rechnung, fonbern auch 
bee Tod der in der Schlacht Kallenden oder fonft unter dem Mord⸗ 
ſchwerte eines barbarifchen Feindes Blutenden, und alle und jede per 
ſoͤnliche Mißhandlung unferer Bürger oder Etaatsangehörigen. Als⸗ 
dann laͤge neben folder Blutſchuld auch die Entſchaͤdigungspflicht 
gegen Alle, bie buch den Tod ihrer Väter, Gatten, Söhne oder 
Sreunde ihren Lebensunterhatt oder ihr Lebensgluͤck verloren, dem 
Staate ob, und er machte bankerott ſchon unter dem zehnten heile 
folhee unermeßlihen Schuld. Dan mill dieſes freilich nicht, und 
nimmt die ben Perfonen zugehenden Verletzungen aus von der ans 
geblihen Erſatzpflicht; aber eben dadurch gibt man den Rechtsboden 
der ganzen Forderung auf, meil kein Grund zu erfinnen fit, aus 
welchem der Staat wohl für die fachlichen, nicht aber für bie per⸗ 
ſoͤnlich en Beſchaͤdigungen, die der Feind unferen Angehörigen zus 
fügt, tenent fein follte. Außerdem tft nicht wahr, daß ber Staat 
jedesmal den Krieg gewollt hat. Es kann ja aud ein feindlicher 
Angriff gefhehen ohne alle Reizung von unferer Seite, alfo ein von 
uns durchaus unabwendbarer Krieg über uns hereinbrechen, in wel⸗ 
chem Falle unfere Gegenwehr nur die Verhütung noch größeren Uns 
heils bezweckt oder die thunlichſt baldige Befreiung der in Feindesge⸗ 
walt fhmachtenden Provinz, und wo ‚mithin dee Staat, weit entfernt, 
an den Leiden derſelben Schuld zu tragen, vielmehr rein als ihr 
Wohlthaͤter Handelt. Sa, es hat (in der Idee oder nach einer, wie 
oben bemerkt, nothiwendigen Worausfegung) jeder (nicht etwa offen» 
bar ungerechte) Krieg die Mechtseigenfchaft eines folchen, blos defen⸗ 
fiven und baber die Staatsgewalt durchaus nicht für die Folgen vers 
antwortlic machenden Krieges. Was alfo derfelbe für Unfälle, Leiden 
oder Verluſte, durch den Feind uns zugefügt, mit ſich führt, das iſt 
von ben dadurch Betroffenen als reines Unglüd zu betrachter 
denmach zu verſchmerzen. gg* 








516 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w. 


.. 3u 2. Es iſt nicht wahr, daß ber Staat eine allgemeine 
Affecuranzanftalt in dem Sinne iſt, daß alle Gefahren wad 
Verlufte gemeinfam getragen werden müßten. Wohl follen fie, 
mad dem Inhalte des Staatsvertrages, thunlichſt abg ew en det wer 
den buch gemeinfame Bemühung ober auf gemeinfame Koften in's 
Leben gerufene Anftalten: nicht aber fleht darum Einer dem Anderen 
gegenfeitig gut für jeden, trog jener Fuͤtkehr gleichwohl eintretenden 
Verluſt. Eine ſolche gegenfeitige Garantie iſt die Sache befonderer 
— vom Staate allerdings zu begünftigendee und zu beſchuͤtzender, 
noͤthigenfalls felhfteigene zu gründender — Vereine zwiſchen ben 
Senoffen berfeiben Gefahren, nicht aber des allgemeinen 
Staatsvereines, deſſen Mitglieder nämlidy in allzu viel und allzu 
ſeht verf&iedenen Lagen und Lebensverhättniffen ſtehen, als daß, ohne 
voͤliges Aufgeben alles Eigenthums⸗ und Beſitzrechtes, mithin auch 
alles Sporns zum Erwerbe und aller vernünftigen Staatsordnung, 
eine folhe Gemeinſchaft alles und jedes, auch durch blofen Zufall 
ober durch widerrechtliche Handlungen Dritter oder durch felbfteigenes 
Verſchulden verurfachten Verluſtes koͤnnte ſtatuirt werden. So md« 
gen bie Hauseigenthümer unter fid) gegen den Brand, die Uferbewoh⸗ 
ner gegen die Stromesgemwalt, die Aderbauer gegen Hagelſchaden u. ſ. w. 
befondere Aſſecuranzgefellſchaften bilden: aber jenfeits der Genoffen- 
ſchaft berfelben Gefahr reicht die Verbindung nicht; die Staat6ges 
fammtheit, als ſolche, verfichert gegen dergleichen Gefahren nicht. 
So auch bei der feindlichen Kriegsgefahr. Die zunächſt davon 
bedrohten Gemeinden oder Bezirke mögen durch verabredete (vom 
den Behörden in alle Wege zu begünftigende und umfichtig zu regu⸗ 





livende) Xheilung oder gemeinfchaftliche Zragung der über. die Ger 


Kriegöfchaden, Kriegölaften u. ſ. w. 517 


der Vortheile nicht darbietet, noc, darbieten Bann, gleichwohl die Ge: 
meinfchaft der Nachtheile aufbringen wollen, wäre nicht nur unbils 
Lig, fondern felbft ungerecht. Es hat auch die lex rhodia de 
jactu bier büchaus Feine Anwendbarkeit; nicht nur weil civilrechtliche 
Säge unentfcheidend für ſtaatsrechtliche Verhaͤltniſſe find, fondern zus 
mal darum, weil die über ber einen Provinz gelegene Feindesgewalt 
fein Mettungsrmittel für die andern ift, und bie Opfer, melde jene 
hat bringen müffen, nicht folcher Rettung willen und nicht auf unfer 
Verlangen, fondern lediglich auf fremdes Machtgebot gebracht worden 
find. Nur wenn eigens zur Erleichterung und Rettung bes Schiffes 
ein Theil der Güter über Bord geworfen wird, nicht aber wenn ohne 
unfern Willen eine Woge bie etwa auf dem Verdecke befindlichen 
Waaren wegſpuͤlt, findet der al der lex rhodia Statt. Die Ans 
rufung derfelben ift alfo völlig unpaffend. | 

3u 3. Daß die Ausführung unferes Grundſatzes mancherlet 
Berwidelungen, Schwierigfeiten, auh Härten nad fi 
ziehe, muß anerfannt werden. Doc auch der Grundfag unferer Geg⸗ 
ner hat nicht geringere in feinem Gefolge. Jedenfalls wird bie theo- 
retifche Wahrheit eines Principe nicht umgeftogen durch einige Schwie⸗ 
rigkeiten ber Ausführung. Für die Nichtigkeit des unfrigen werden 
wie gleich unten noch einige pofitive Bewelfe geben. Was aber bie 
dumwider erhobenen Bedenken betrifft, fo find die angebeuteten Faͤlle 
oder Beſchaͤdigungsarten theild von der Art, daß fle inter den Begriff 
der von unferer eigenen Staategewalt aufgelegten Kriegsbefchmwerden ge: 
hören , mithin den Rechtsanſpruch auf Erſatz geben; andere begründen 
wenigftens einen Anſpruch der Billigkeit; noch andere eignen ſich zur 
gleichmäßigen Vertheilung oder gegenfeitigen Verficherung unter ben 
Bewohnern ber von Feindesgewalt unterdrüdten Provinzen oder Be⸗ 
zirke oder Ortfchaften; und für alle endlich kann und fol — ohne 
Yufgeben unfere® Grundfages — die von ber Politik wie von der Hu⸗ 
manität geforderte Erleichterung oder Entſchaͤdigung auf mehrfache 
Meife Statt finden. Fuͤr's Erſte nämlich bleiben die vom Zeinde bes 
fegten Provinzen zeitlih von unferen Kriegslaften und auch Kriege: 
fteuern (die otdentlihen Steuern hebt in der Regel der Feind ein) 
frei; und fodbann mag nad) der Wiebereroberung oder nach wieberhers 
geftelltem Frieden den vom Feinde übermäßig befchädigten Bezirken 
entweder burch meiteren Steuererlaß oder auch durch pofitive Beiſteuer 
oder Unterftügungsgelder aus den Mitteln der Gefammthelt geholfen 
werden. In der Wirkung kommt folhe Aushälfe der für unfere 
eigenen Kriegslaften anzuorbnenden Ausgleihung nahe; aber das 
Princip bleibt verfchieden und hiernach auch Titel und Maß der 
Gewährung. Immerhin ift fie nicht eigentliche Rechtsſchuldig— 
keit, fondern freimillige, ob auch durch Billigkeit und Hu⸗ 
manität gebotene und von weiſer Staatswirthfhaft angera⸗ 
thene - Maßregel, welche eben darum und wegen der unendlichen Ver: 
ſchiedenheit der Verhaͤltnifſe und Faͤlle Eeiner fo beffimmten und 


sıs Kriegäfcpaben, Kriegslaften u. ſ. w 


allgemeingältigen Regel unterworfen werden kann, wie bie 
eigentliche Ausgleihung. Uebrigens findet das Princip ber freiwil⸗ 
ligen Vergütung ober Unterflügung mitunter aud in Anfehung der 
durch das eigene ober befreundete Heer unmittelbar oder mittelbar vers 
anlaßten — doch nicht eigentlich von der Staatsgewalt gewollten 
oder verordneten — Beſchaͤdigungen Statt; wie 3.8. eine buch Mas 
todeurs oder buch ein im Aufldfung befindliches Corps gepluͤnderte 
ober eine duch Muthwillen oder Bosheit indifeiplinister Soldaten ans 
gezündete Stadt, oder eine durch die in Foige etwa ber Kriegsfroh⸗ 
nen ausgebrochene Rinderpeſt verarmte Gegend u. f. w. dergleichen 
Hülfeleiftung zu erwarten haben. Auch bei den vom eigenen Heere aus» 
gegangenen Beſchaͤdigungen alfo unterfcheldet man die duch rehtmäßis 

en Befehl angeordneten von ben durch Zufall oder Unglüd oder durch 

josheit Einzelner verurfachten, und wendet den Grundfag der Aus» 
gleihung nur auf die erften an. Die vom Feind ausgegangenen 
nun gehören alte der zweiten Claffe an. 

Diernach erfcheint unfer Grumdfag, welcher bie vom Feind aufge 
legten Laften — mindeftens in der Regel — von der förmlichen Aus 
gleihung ausfhlieft, gerechtfertigt. Der Rechtsgrund, aus mels 
em wir folhe Ausgleihung für die vom eigenen oder Freundesheere 
geforberten Leiftungen in Anfpruc nehmen, paßt nicht auf bie feinds 
lichen Erpreffungen. Es find Feine StaatssRaften, d. h. keine von 
der Staatögewalt befohlenen und daher aus Bürgerpflicht zu erfüllenden 
Leiftungen; und doch iſt's nur diefe Eigenfchaft, wegen melder 
wie die Ausgleihung ber eigenen Kriegslaften fordern. Wir menden 
naͤmlich auf dieſelben blos das allgemeine, d. h. für alle eigent« 





lichen Staatslaften gültige Sefes der Ausgleihung an, weil zwiſchen 


Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 519 


und Laften ftehen aber noch mehrere und hochwichtige politifche 
Betrachtungen entgegen. Zuvoͤrderſt ift es ganz unmöglich, 
diefe Ausgleihung auf diefelbe Weiſe oder auf bemfelben Wege 
zu bewerkfleligen, den wir gleich unten als den einzig richtigen barflels 
len werden, nämlich auf dem Wege ber unmittelbaren Bezah⸗ 
lung alles Geforderten mit Geld oder Staatspapieren (Bons). Es 
bleibt für fie blos der — vielfach verwerflihe — Weg einer nad > 
folgenden Liquidation und Repartition übrig, welcher beinebens in 
Bezug auf die hier befprochenen Laften nod weit unzuverlaͤſſiger iſt, 
als bei den vom eigenen Staate geforderten Leiftungen. Wer will die 
feindiichen Forderungen controliren? Wer foll die Leiftungen befcheints 
gen? Wie follen Verfätfhungen oder Erſchleichungen von Empfang« 
feinen und Unterfchleife aller Art verhütet werden? Thuͤr und Thor 
für die ungebührlichften Erfagforderungen find hier eröffnet, während 
taufenderlei wirkliche Erxlittenheiten ohne urtundlihen Beleg und daher 
des Anfpruches auf Erſatz verluflig bleiben. Sodann aber würde ein 
die Ausgleihung ſolcher Seinbesforderungen verheißendes Gefeg ben 
willlommenften Zitel oder Vorwand geben, foldhe Forderungen in’s 
Unermeglihe zu fleigern. Die Unerfhwinglichkeit der Leiftuns 
gen (in fo fern fie einen Geldanfchlag zulaffen) könnte dem Begeh⸗ 
ven des Zeindes nicht länger entgegengehalten werden. „Ihr leiſtet 
ja — alfo würde er mit Grund den Provinzbewohnern erwiedern — 
„Ihr leiftet ja, wenn Ihr uns gebt, fo viel Ihr habt oder irgend aufs 
bringen Pönnt, nur einen Borfhuß, den Euch Eure Mitbürger, die 
Bewohner ber übrigen Provinzen, wieder zurüderftatten werden. Kür 
Euch allein freilich waͤre die Leiftung zu ſchwer, aber für Euren ganzen 
Staat ift fie nur eine Kleinigkeit.” — Dergeftalt würde duch ein 
foiches Geſetz, welches gewiffermaßen dem Zeinde eine Anweifung 
auf das Vermögen unferes Staates und allee Staatsangehärigen ers 
theilte, d. 5. alle von ihm zu machenden Forderungen aus Staatsmits 
tein zu bezahlen verhieße, fchon die Lleinfte von ihm befegte Pros 
vinz wie zu einer Ader gemacht, aus welcher, wenn er fie Träftig 
(hlägt, das Herzblut des Staates herausſtroͤmen kann. Es kommt 
dazu, daß die gefegliche Zuficherung einer nachfolgenden, aus den Mit⸗ 
tein der Staatsgefammtheit zu leiftenden Entfchäbigung (mittelft Ges 
genrehnung und Ausgleihung) ben Eifer der vom Feinde bes 
festen Landestheile, fich der übermäßigen Sorberungen zu erwehren, 
lähmen würde. Dan würbe ohne vielen Widerſtand, ja, ohne viele Ges 
genvorftellung oder Klage, auch die ſchwerſten Gontributionen entrichten, bie 
unerfättlichften Zumuthungen befriedigen, Alles in der Ausficht auf den 
verheifenen Erſatz, und eben dadurch den Feind zu noch weiter geſtei⸗ 
gerten Forderungen ermuntern. Hätten dagegen die Provinzbewohner 
jene Ausfiht nicht: fo wuͤrde mit dee Höhe der Forderungen auch 
ihre Aufregung, ihre Entrüftung fleigen, und darin ein meiterer Sporn 
liegen zu tapferen Verſuchen der Selbſtbefreiung. In zweifacher Bes 


520 Kriegsſchaden, Kriegslaften nem 


alehung alfo ftreitet die Verheißung der fuͤr bie vom Feb aufgelegtrn 
Laften zu leiftenden Vergütung aud) gegen bie Politik. 

Zwiſchen den beiden ſich entgegenftehenden Anfichten wird cuch 
eine dritte, gewiſſermaßen vermittelnde, geltend gemacht, bie 
ndmlih, daß zwar die vom Feind wie die vom Freund aufgelegten 
Laften und zugefügten Beſchaͤdigungen auszugleichen fein, doch nur 
die nady dem unter den civilifirten Nationen anerfannten Krieges 
rechte, d. h. nad) der ehrlihen Kriegsmanier, aufgelegten, nicht 
aber bie gegen ſolches Recht, mithin blos aus factifher Gewaltthat 
ober Brutalität über die Bewohner des Kriegsſchauplatzes verhängten. 
Die legten feien, als reine Zufälle oder unabmendbares Ungläd, ledig: 
lich von den dadurch Betroffenen zu verfchmerzen, der Staat koͤnne 
dafür nicht verantwortlidy fein. Gegen diefe Lehre jedoch ftreitet ſchon 
allernaͤchſt die Betrachtung, daß, was bie rechtliche Kriegsmanier 
— neben welcher indeffen auch die härtere Kriegsraifon befteht — 
erlaube oder nicht erlaube, durchaus nicht fo ausgemacht ift, dag man 
darüber — aud nur in abstraoto, gefhmeige daher in concreto — 
ein juriſtiſch ſicheres Urtheil fällen koͤnnte. Und dann bezieht ſich ber 
Begriff der Kriegsmanier blos auf das Verhalten einer kriegfuͤh⸗ 
renden Macht gegen bie befriegte, nicht aber auf jenes gegen 
ihre eigenen Unterthanen. Es ift daher aus ihr duchaus fein 
Kriterium der zur Entfcpädigungsforderung fi eignenden ober nicht 
eignenden Kriegstaften , die vom Freund oder Verbündeten ausgehen, 
zu entnehmen. Die Regeln für das hier Zuläffige oder Nichtzuldffige 
find mehr aus dem innern Staatsreht als aus dem Völ- 
kerrechte zu fchöpfen. Und was die vom Feind herruͤhrenden Er— 





duldunaen betrifft, fo befteht — falls wirklich der friegführende Staat 
feinen Bürgern verantwortlich iſt für alle aus feinem Krigsbeſchluſſe 
fliegenden Folgen — zwifchen den wider die Kriegsmanier und 
« ben nad der Kriegsmanier aufgelegten Laften für ihn ein 


Kriegäfchaden, Kriegslaften u: f. w. 521 


tion ift nur der erfte der Idee entfprechend oder zu ihrer wenigs 
ftens annähernden Verwirklichung führend, der zweite bagegen — 
zumal wenn die Peräquation erft nach Verfluß einer laͤngern Zelt uns 
ternommen werden wollte — zur Imederreihung durchaus ungeeignet 
und abfolut verwerflich. Auch dieſer Gap erfordert eine etwas 
ausführlichere Begründung. 

Eine zwiſchen den Bürgern unter einander felbft zu bewerkſtelli⸗ 
gende, den Leiftungen erft im einiger Zeit nachfolgende Ausgleichung, 
namentlich eine nicht blos unter den Mitgliedern einer einzelnen Ge⸗ 
meinde oder Bezirfsgenoffenfchaft, fondern unter fämmtlichen Provinzen 
oder der gefammten Bevölkerung des Staates gefchehende fest voraus, 
wofern fie ihrer Idee entfprechen fol: 

1) Daß alle Kriegsleiftungen und (zur Ausgleichung oder Er 
fagleiftung ſich eignenden) Kriegsſchaͤden, welche in der betreffenden Pe⸗ 
riode auf mas immer für einem Theile des Staatsgebietes Statt fanden 
und von was immer für einzelnen Staatsangehörigen oder Gemeinden 
oder Bezirkögenoffenfchaften getragen wurden, conftatirt feien und 
einer zuverläffigen Berehnung ober Liquidation unterworfen 
werden. Diefe Liquidation, da ihr vernünftiges, d. h. vom Rechtsgeſetz 
geforderter Zweck alleriegt nur auf die Gleichſtellung der dem Staate 
angehörigen Perfonen (alfo nicht blos ber Bezirke oder Pro⸗ 
vinzen) gebt, müßte ſonach mit allen Einzelnen — in fo fem 
die Leifltungen von ihnen unmittelbar eingefordert wurden — fammt 
und fonders vorgenommen, nebenbei jedoch auch die an die Gemein: 
den ober Bezirke, als moralifhe Perfonen ober juriftifche 
Sefammtperfönlichkeiten, ergangenen Forderungen in eine eigene Mech: 
nungsrubrik eingetragen werden. Da jedoch ber Krieg ene Staats, 
nicht eine Gemelndeangelegenheit ift: fo follten in foiche befon- 
dere Rechnung nur die von ber Gemeinde ale Inhaberin eines 
Steuercapitals (ndämlid des Gemeindeguts) eingeforderten Leis 
flungen fommen, nicht aber die, zwar nad) Gemeinden oder Bezirken 
— etwa nad der Volkszahl — urfpränglih im Großen repartirten, 
doch aber im Grunde oder nad, der Intention der Staatsgewalt nur 
von den Einzelnen geforderten und ber Gemeinde daher blos 
zur Subrepartition unter ihre Angehörigen zugewiefenen. : 

2) Daß nicht nur mit allen Perfonen, melde Laſten getra- 
gen, folche Liquidation angeftellt werde, fondern dag auch nicht eine 
einzige Gattung oder Rubrik der Laften von der Berechnung 
ausgefchlofen bleibe. Sobald auh nur eine Rubrik fehlt, fo ift die 
ganze Rechnung falſch. Wollte man z. B. die Quartirslaſt ober bie 
Verpflegung der Einquartirten oder die Fuhrfrohnen ober irgend eine 
ondere Gattung der Kriegsleiftungen ohne Anfag laffen; fo märe un- 
vermeidlich, daß Dancer, ber vielleicht gerade in dieſer Gattung über 
die Gebühr mitgenommen, dagegen mit anderen Laften mehr verfchont 
worden, zur Herausbezahlung an jene verfällt würde, welche im Gan⸗ 
zen viel weniger als er erlitten, \ eben in jenem Rubriken, welche 





522 Keiegefpaben, Kriegslaften u. f. w. 


in die Rechnung aufgenommen find, ein Mehreres geleiftet hätte. 
Ohne eine Unermeßlichkeit von Mühe und Arbeit, ohne 
allgegenwaͤrtige und Eoffpielige Aufſicht und Controle iſt aber eine zus 
verläffige Conſtatirung aller vielnamigen Leiſtungen ganz unmöglich, 
und jedes hier oder dort begangene Verfäumnig oder unterlaufene Ges 
brechen ftößt die Nichtigkeit des ganzen Galculs um. 

3) Aus den für die einzelnen Gemeinden eines Bezitks gefertig« 
ten Berechnungen müffen dann duch; Summirung ber für jede liquis 
bieten Beträge Bezirksrehnungen, aus fämmtlihen Bezitksrech⸗ 
nungen eine Provinz eine Gefammtfumme der Eklittenheiten folder 
Provinz, und endlid aus ben Leiftungsfummen aller Provinzen 
eine die vom ganzen Staat getragene Kriegslaft barftellende To⸗ 
talfumme gezogen werden. Wergleiht man dann dieſe Summe 
mit jener des gefammten directen Steuercapitals aller Provinzen zus 
fammengenommen, fo ergibt fih der 3. B. auf jedes 100 fl. Steuer» 
capital bei der anzuorbnenden Peräquation fallende Betrag, und zus 
gleidy bie Ueberſicht deffen, was die einzelnen Provinzen, Bezirke und 
Gemeinden mehr ober weniger geleiftet oder erlitten haben, als das 
ihnen nad; ihrem Steuercapital zuzuſchteibende Betreffniß ausmacht. 
Das directe Steuercapital allein naͤmlich eignet ſich — da ja 
auch die Leiftung gewoͤhnlich nach diefem Gapital repattitt wird — 
zu einer auf klarer Berehnung ruhenden Peräquation. Der Bes 
trag der indireeten Steuern oder auch bie Summe der Bevoͤlke⸗ 
rung u. a. Daten innen, wenn die Peräquation wirklich bie zwi⸗ 
fhen den Perfonen, welche geleiftet Haben, herzuftellende Aus« 
gleihung zum Zwecke hat, und wenn man Willkuͤtlichkeit und endlofe 
Verwirrung. vermeiden will, hier unmögli mit in die Berehnung ges 
;ögen twerben. Na, Mafftab ft_follte man 





Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 523 


mäßheit dee allgemeinen Liquidation noch zur Laft fallenden Betrag 
entrichte, und aus welcher fodann jede zu hart mitgenommene Provinz 
(oder Bezirk oder Gemeinde) den ihr gebührenden Erſatz zu empfan> 
en babe. 

® 5 Da es fi) alsdann häufig ergeben wird, daß 3. B. in einer 
Provinz, welche nach dem Gefammtrefultat bee mit ihr gepflogenen Lis 
quidation aus der Gentralcafje eine Entfhädigungsfumme megen zu 
großer Erlittenheit zu empfangen hat, gleichwohl einzelne Bezirke oder 
Gemeinden ſich befinden, welche, in Vergleihung mit ber Gefammtlaft = 
bes Staates und nah dem Maßſtabe ihres befondern Steuercapitals, 
noch zu wenig geleiftet haben, und daß umgekehrt in einer anderen 
Provinz, welche, weil im Ganzen zu menig belaftet gewefen, einen ent= 
fprechenden Beitrag in jene Gentralcaffe zu‘ entrichten hat, gleichwohl 
einzelne Bezirke oder Gemeinden find, welche zu viel getragen haben: 
fo müffen, um bie Peräquation zu vervollſtaͤndigen, zuvoͤrderſt jene 
Bezirke, welche nad Maßgabe der allgemeinen Liquidation zu wenig 
geleiftet haben, ſolches Betreffniß in bie Provinzialeaffe entrichten, und 
fodann aus dieſer die Entfhädigungsanfprüde aller andern Bezirke 
befriedigt werden. Die aus folhen Entfhädigungsfummen ſich bils 
denden Bezirksentſchaͤdigungscaſſen muͤſſen ſodann baffelbe Abrechs 
nungsgefchäft mit den dem Bezirk angebörigen Gemeinden, unb 
diefe Gemeinden endlich — was eine Hauptfahe, d. h. ein we⸗ 
ſentliches Erforderniß iſt — auf gleiche Weife mit den ihnen ans 
gehörigen Einzelnen pflegen, weil eine wahre Außgleihung, fo 
wie das firenge Recht fie fordert, erft durch eine bis zu den Einzel⸗ 
nen herabfleigende Rechnung und Gegenrehnung zu Stande gebracht 
werden Bann. 

Es ift Leicht einzufehen, daß eine ſolche nachfolgende Peräquation, 
wie forgfältig und gemwiffenhaft immer fie gemacht werde, eine Menge 
von Ungerechtigkeiten ganz mmvermeidlich nad) fich ziehen muß, ja daß 
die Ungleichheiten, die man mittelft der fo mühfamen und Eoftfpieligen . 
Operation heilen will, ſogar noch vermehrt werben können durch fie. 
Wird aber gar die Liquidation nicht auf alle Leiftungen oder nicht 
auf alle Theile des Staates ausgedehnt, ober babei nicht bis auf bie 
Einzelnen herabgefliegen, fondern etwa nur bis auf die Bezirke 
oder Gemeinden: fo bäuft fi das Unrecht, bie Willkür und bie 
Verwirrung auf ganz maßlofe Weiſe. 

Das Hauptgebrechen einer jeden folcyen Peräquation befteht darin, 
daß dabei nothwendig eine Verwechſelung der Perfonen, welche zu 
viel oder zu wenig getragen haben, mit ben Gteuercapitalien 
oder Steuerfiöden eintritt, wodurch allein ſchon das ganze Geſchaͤft 
zu emem vehtlihen Unding oder zu einer blofen Chimäre 
wird. Es if nicht möglih, wenn man aud wirklich alle Einzels 
nen zur Liquidation auffordert, Alle aufzufinden, welche hätten leiften 
follen und entweder zu viel oder zu wenig ober gar nicht geleiftet 
haben, Zur Befriedigung bes ſtrengen Rechts wäre noͤthig, daß Je⸗ 





o22 ¶ Siogfhaben, rigeafen uf w 


in die Rechnung aufgenommen find, ein Mehreres _ hätte. 
Ohne eine Unermeßlichkeit von Mühe und Arbeit, ohne 
allgegenmwärtige ffpielige Aufſicht und Controle iſt aber. eine zus 
verläffige. Conſtaticung aller. vielnamigen Leiftungen ganz unmoͤglich, 
und jedes hier oder dort begangene Verſaͤumniß oder unterlaufene Ges 
brechen ſtoͤßt die Michtigkelt des ganzen Caleuls um. 

3) Aus den für die einzelnen Gemeinden eines Bezirks gefertige 
ten: Berechnungen müffen dann durch Summirung ‚der für jede liqui⸗ 
dirten Beträge Bezirksrech nungen, aus fämmtlihen Bezitksrech-⸗ 
nungen "einer Provinz eine Gefammtfumme der. Exlittenheiten ſoicher 
Provinz, und endlich, aus den Leiffungsfummen aller. Provinzen 
eine die vom ganzen Staat getragene Kriegslaft barftellende For 
talfumme gezogen werben. Vergleicht man. dann diefe Summe 
mit, jener · des gefammten directen Steuercapitals aller Provinzen zus 
-fammengenommeh, fo ergibt ſich der z. B. auf jedes 100 fl. Steuer» 
capital bei der anzuorbnenden Peräquation fallende Betrag, umd zus 
gleich die Ueberſicht deſſen, was die einzelnen Provinzen, Bezirke und 
‚Gemeinden mehr ober weniger geleiftet oder erlitten haben, als das 
ihnen nach ihren Stewercapital zuzufchreibende Betreffniß ausmacht. 
Das direete Steuercapital allein naͤmlich eignet fih — da ja 
aud) die Leiftung gewöhnlich nach diefem Capital tepattitt wird. — 
gu seiner auf klarer Berehnung ruhenden Peräquation. Der Ber 
trag der-indireeten Steuern oder auch die Summe der Benslke- 
zung u. a, Daten Finnen, wenn die Peräguation wirklich die zwi⸗ 
fhen den Perfonen, welche geleiftet haben, herzuftellende Aus« 
gleihung zum Zwecke hat, und wenn man Willkuͤrlichkeit und enblofe 
Verwirrung vermelden will, hier unmöglich mit In die Berechnung ge» 


san machen Madı imstcm Mnbltahe Fanik Lille manm aban ainn 


Kriegsfhaden, Kriegelaften u. f. w. 523 


mäßheit der allgemeinen Liquidation noch zur Laft fallenden Betrag 
entrichte, und aus welcher fobann jede zu hart mitgenommene Provinz 
(oder Bezirk oder Gemeinde) den ihr gebühtenden Erſatz zu empfan» 
en habe. 

® 6) Da es ſich alsdann häufig ergeben wird, daß z. B. In einer 
Provinz, welche nach dem Sefammtrefultat der mit ihr gepflogenen Li⸗ 
quidation aus ber Gentralcafje eine Entfhädigungsfumme megen zu 
großer Erlittenheit zu empfangen hat, gleichwohl einzelne Bezirke ober 
Gemeinden fidy befinden, welche, In Vergleihung mit der Gefammtlaft » 
des Staates und nad dem Mafftabe ihres befondern Steuercapitals, 
noh zu wenig geleiftet haben, und daß umgekehrt in einer anderen ' 
Peovinz, welche, weil im Ganzen zu menig belaftet gewefen, einen ent» 
fprechenden Beitrag in jene Gentralcaffe zu“ entrichten bat, gleichwohl 
einzelne Bezirke oder Gemeinden find, welche zu viel getragen haben: 
fo müffen, um die Peräquation zu vervollftändigen, zuvoͤrderſt jene 
Bezirke, welche nach Maßgabe der allgemeinen Liquidation zu wenig 
geleiftet haben, ſolches Betreffniß in bie Provinzialcaffe entrichten, und 
fodann aus biefer die Entfhädigungsanfprüdhe aller andern Bezirke 
befriedigt werden. Die aus folhen Entfhäbigungsfummen ſich bils 
denden Bezirksentſchaͤdigungscaſſen muͤſſen ſodann daſſelbe Abrechs 
nungsgeſchaͤft mit den dem Bezirk angehoͤrige Gemeinden, und 
dieſe Gemeinden endlich — was eine Hauptſache, d. h. ein we⸗ 
ſentliches Erforderniß iſt — auf gleiche Weiſe mit den ihnen an⸗ 
gehörigen Einzelnen pflegen, weil eine wahre Ausgleichung, fo 
wie das firenge Recht fie fordert, erſt durch eine bi6 zu den Einzel» 
nen berabfteigende Rechnung und Gegentechnung zu Stande gebracht 
werden ann. 

Es ift leicht einzufehen, daß eine folche nachfolgende Perdquation, 
wie forgfältig und gewiſſenhaft immer fie gemacht werde, eine Menge 
von Ungerechtigkeiten ganz mvermeidlic nach fi) ziehen muß, ja daß 
die Ungleihheiten, die man mittelft der fo mühfamen und Eoftfpieligen 
Operation heilen will, fogae noch vermehrt werben können durch fie. 
Wird aber gar die Liquidation nicht auf alle Leitungen oder nicht 
auf alle Theile des Staates ausgedehnt, ober dabei nicht bis auf bie 
Einzelnen herabgefliegen, fondern etwa nur bis auf die Bezirke 
odee Gemeinden: fo häuft ſich das Unrecht, bie Willkür und die 
Verwirrung auf ganz maßlofe Weiſe. 

Das Hauptgebrechen einer jeden ſolchen Peräquation befteht darin, 
bag dabei nothwendig eine Vermechfelung der Perfonen, melde zu 
viel oder au wenig getragen haben, mit den Steuercapitalien 
odee Steuerftöden eintritt, woburd allein Thon das ganze Gefchäft 
zu einem vehtlihen Unding oder zu einer blofen Chimäre 
wird. Es iſt nicht möglih, wenn man auch wirklich alle Einzels 
nen zur Liquidation auffordert, Alle aufzufinden, welche hätten leiſten 
follen und entweder zu viel ober zu wenig oder gar nicht geleiftet 
haben, Zur Vefriebigung des frengen Rechts wäre nöthig, daß Je⸗ 


524 Kriegsfpaben, Kriegslaſten u. f. w. 


dem für alle einzelnen Zeitpuncte — wenigſtens für febes 
Steuerjahr — die Rechnung darüber gemacht würde, was er 
nad feinem jedesmaligen (fählihen und perfönlihen) Steuer: 
enpitale zw leiften ſchuldig geweſen, und daß diejenigen, zwi⸗ 
fen denen bie Peräquation vorgenommen wird, genau biefels 
ben: Perfonen (oder ihre wirklichen Rechtsnachfolger) feien, 
tie diejenigen, welche während bes Krieges geleiftet haben oder hätten 
leiſten follen. Diefes gefchieht aber niht, und kann nicht ges 
ſchehen, fondern man berechnet bloß, was bie zur Zeit ber Perd: 

uation in ben einzelnen Gemeinden befindlichen Buͤrger oder 

teuerpflichtigen, ober vielmehr was die zu eben biefer Zeit in 
ihrem Beſitz befindlihen Steuerftöde (als Häufer, Grundftüde, 
Gewerbsrechte) den ganzen Lauf des Krieges hindurch erlitten oder gez 
tragen haben, und was hiernach (die Perfonen mit den Steuerfiöden 
duch eine abenteuerliche Rechtsdichtung ibentificirt) einem Jeden als 
Guthaben oder als Schuldigkeit In Anfab zu bringen fei. Ja, gewoͤhn⸗ 
lich wird nicht einmal in eine ſolche Individuelle Liquidation binabge: 
fliegen, fondern bloß im Ganzen berednet, was die einzelnen Gemein: 
den (als Gefammtperfönlidkeiten und ald Summen von 
Einzelnen) getragen haben, wornady ihnen alddann — in Gemäßheit 
bes allgemeinen Liquidationsergebniſſes — entweder eine Entſchaͤ— 
bigungsfumme zugefchieden, ober eine Schuldigkeit zur Laſt gefchrieben, 
die meitere Vertheilung (oder auch Nichtvertheilung) der erſten unter 
ihre Angehörigen oder die Einhebung ber legten von benfelben ihnen 
lediglich überlaffen, und Beides etwa nad) den für den Gemeindehaus: 
hatt überhaupt beflehenden Vorſchriften bewerkſtelliget wird. 





Geſchah von Seite bes Staates bie urfprüngliche Aufforderung 


Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. w. 525 


herab: fo wird ber Zweck gleichwohl nicht erreicht, weil bie Iden⸗ 
tität der leiſtenden mit den abrrchnenden Perfonen fehlt. 
Bon ben Bürgern, welche Kriegelaften getragen haben, ſei es 
nach Maßgabe ihres birecten Steuercapitalß, fei e8 wegen: bes Beſitzes 
von Sachen, deren das Heer beburfte (wie 5. B. bei ben Fuhrfrohnen 
und Maturalienliefeeungen), fei es durch zufälige Beſchaͤdigungen, 
find, wenn die Zeit der Perdquation herangefommen, ſehr viele gar 
niht mehr vorhanden. Sie find entweder geftorben, oder in ans 
dere Gemeinden gezogen, ober haben, was bie Menlitätenbefiger betrifft, 
ihre Häufer und Gründe, wegen deren Beſitz fie belaftet wurden, ver: 
Außert. Auch die Gründe der Verftorbenen find großentheil® an fremde 
Beſitzer übergegangen, und nun werden die Legten behandelt, als wären 
fie es gewefen, welchen bie Kriegsleiftungen aufgelegt worden, unb 
ale wären daher fie es, mit welchen die Abrechnung zu pflegen if. 
Bar oft alfo wird gefhehen, baß der ehevorige Eigenthuͤmer, welchen 
die übermäßigen Kriegslaften erdruͤckt, welchen fie genoͤthigt haben, fein 
verfchuldete® Gut um einen Spottpreis an bie Gläubiger abzutreten, 
jest bei der Peräquation gleichwohl — weil jegt nicht mehr Beſitzer 
des zu. hart mitgenommenen Gutes — keinen Erfag erhält, ia, daß 
er vielleicht, wenn er etwa in einer andern, vom Kriege verfchont ges 
biiebenen. Gemarkung ein Meines Befigthum wieder erworben hat, gar 
noch herauszahlen muß zur Entfchädigung Anderer, weiche unendlich 
weniger ald er gelitten, während ber Käufer feines ehevorigen Gutes 
die Entfchädigungsanfprüche. mit überlam und nun, obfhon er im 
Kriege gar nichts erlitten und obſchon er das Gut um ben wohlfeilſten 
Preis erkauft hat, jet gleihwohl noch einen angeblichen Schaden erſatz 
erhält. Durch folche überall ſchon in Eurzer Friſt eintretende Beſitz⸗ 
veränderungen und andere Umftände wird die Verwirklichung einer wahren 
Peräquation, fo wie fie der Rechtsidee entfprähe, durchaus unmoͤg⸗ 
lich, und es wird, wenn man gleichwohl eine folche Peräquation unter: 
nimmt, an die Stelle der Ausgleihung ber den Perfonen zuftehenden 
mechfelfeitigen Forderungen und Schulbigkeiten eine phantaftifche Gleich» 
ftelung der Grunde oder Steuerſtoͤcke gefest, und es werden fomit 
die Sachen, melde doch nichts gelitten, d. h. welche von ben ihren 
Beſitzern ihretwillen aufgelegten Beſchwerden nichts empfunden haben, 
auf abenteuerliche Weife verwecfele mit den Perfonen, denen allein 
ber Anſpruch auf Perdquation zuftand, unb in Anfehung derer allein 
diefelbe eine rechtliche Bedeutung hat. . 
Außer dieſem jede nachfolgende wahre Peräquation factifch uns 
moͤglich machenden und uͤberall unvermeidlihen Perſonenwechſel 
iſt noch ein rechtliches Hinderniß derſelben darin zu erkennen, daß — 
wofern wenigſtens nicht ſchon vor dem Kriege ein die kuͤnftige Per⸗ 
aͤquationsoperation genau und beſtimmt regelndes Geſetz erlaſſen 
ward — ſie nur durch ein mit ruͤkwirkender Kraft zu verſehendes 
Geſetz oder Dictat zu bewerkſtelligen iſt. Ein ſolches in die Eigen⸗ 
thumsrechte tief eingreifendes, Glaͤubiger und Schulbner nach 
willkuͤrlich aufgeſtellten (d. h. dem bloſen Ermeſſen ber Autorität 


— 


Arien Elaffen 5* = 





Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 527 


der unentgeltlihen Leiſtung nit, und fein Recht geht nicht 
weiter als fein Bebürfnig. Durch unmittelbare Bezahlung (überhaupt 
Verguͤtung) oder auch durch Gutfchreibung, d. h. durch rechtögültige 
Zufage der Eünftigen Bezahlung, gleicht er nun augenbiidlik ben zur 
Leiſtung Aufgeforderten mit allen andern Buͤrgern aus; denn bie Be⸗ 
zahlung (fei es die unverzügliche, fei es bie erſt fpäter gefchehende) 
wird aus den Mitteln der Gefammtheit geleiftet, woran der folchers 
geftalt Entfhädigte ja auch einen Theil hat, folglih auch zu jener 
Bezahlung feinen Antheil beiträgt. 

Durch folhe Bezahlung (oder Butfchreibung) der Kriegsleiftungen 
gefchieht etwas von der nahfolgenden Perägquation oder gegen⸗ 
feltigen Abrechnung unter den Bürgern felbft wefentlih und durch⸗ 
aus Verfhiedbenes. Die legte, wenn fie nicht ſtreng allſeitig 
und über alle Leiftungen ſich erſtreckend if, widerfpricht ihrem eigenen 
Begriffe; und eben fo verliert fie allen Rechtsboden, fobald — was 
unvermeiblih ſchon in ber Eürzeften Friſt gefchieht — irgend ein 
Perſonen wechſel eintritt, und daher bei dem Abrechnungs= ober 
Gegenrchnungsgefchäft anftatt der wahren Schuldner und Gläubiger 
großentheil6 oder größtentheils nur gedichtete, d. h. durch reine Fic⸗ 
tion erfchaffene, zu finden find. Bei ber erften wird entweder durch 
die wirkliche Berablung bie geforderte Ausgleihung fofort bewerkſtelligt, 
oder es wird — wenn (duch Gutfchreiben oder durch Ausflellung 
von Schutdfcheinen oder Bons) die Sefammtheit fid zur zukünftigen 
Zahlung verpflichtet — menigftens die Identität der beiden Per: 
ſoͤnlichkeiternn (naͤmlich der zur Forderung berechtigten und der zur 
Bahlung verpflichteten) fortwährend erhalten. Denn wer den Schuld⸗ 
brief urfprünglich erhielt, wird volgültig vepräfentirt durch feinen allge 
meinen ober befondern Rechtenachfolger, an welchen bie Urkunde gelangte, 
und die unfterblihe Gefammtheit oder der Staat, ale Ausiteller ders 
felben, bleibt fortwährend diefelbe Perfon. Auch die fpätefte Zahlung 
der Schuld gefchieht nie anders, als aus den Mitteln jener Geſammtheit 
und alfo nöthigenfalld aus den von ihren Mitgliedern nach dem Ges 
fege dee gefellfhaftlihen Gleichheit erhobenen Beiträgen. Dabei iſt 
ed auch nicht unbedingt nothwendig, dag ausnahmlos alle und alle 
Kriegsleiſtungen bezahlt, b. h. mittelft der Bezahlung ausgeglichen 
werden. Man kann nad Umfländen auch einige Gattungen berfelben 
davon ausſchließen, ohne dem Principe zu nahe zu treten, wenigſtens 
ohne es aufzuheben. Denn jede einzelne Gattung ber Kriegslaften 
bitdet hier für fich ein eigenes von allen andern unabhängiges Aus⸗ 
gleihungsobject, weil nämlich die Vergütung bier nicht von beftimm> 
ten Perfonen, melde vielleicht wegen einer andern Gattung der 
Leiſtungen eine Gegenrechnung zu n hen hätten, fondern von der 
Geſammt heit, in welcher Alle begriffen find, geleiftet wird. Diefe 
Staatögefammtheit kann, ohne Unrecht zu thun, je nad Umſtaͤnden 
wohl fagen: „Dieſe und jene Gattung der Reiftungen werde id) aus 
meinen Mitteln bezahlen oder als Schuld übernehmen, die übrigen 





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u 0 _o —_—- > ns 
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528 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. 0, 


(weil ich an denſelben etwa mehr die Natur bloſer Lo cal⸗ oder Bes 
zirkslaſſten erkenne, oder well ih — was zumal bei gang kleinen 
Staaten ber Fall fen kann. — die Gleichheit buch eine gleihgeitig 
ober ber Reihe nah an Alle ergebende Forderung berguftellen. 
vermag, ober auch, weil ich mid, ber Verhältniffe wegen auf eine 
blos annähernde Werwirkiihung bes Principe befchränfen muß) 
nicht.” — Bei bee nachfolgenden Peräguation unter den 
Leiftenden felbft dagegen wird buch bie Ausnahme auch nur einer 
einzigen Gattung ber Laften das Princip völlig zernichtet, nie 
nur befchräntt, weil fobann anftatt einer wenigftens annaͤhern den 
Gleichheit nothwendig eine noch größere Ungleichheit entfleht. 

3u 2. Über wie ift es möglidy, daß die Gefammtheit oder 
‚der Staat bie Bezahlung fämmtlicher Kriegslaften übernehme? Wird 
er nicht erbrärft werden durch fo ganz enorme Schuld? ober wird er 
nicht durch das Gewicht folder Verguͤtungslaſt außer Stand geſetzt 
werben, ben Krieg: mit. derjenigen Energie, mit demjenigen Aufiwande 
von Kräften zu führen, bie ihm einen glüdlichen Erfolg verbärgen? - 
Wir antworten barauf: Der Staat muß jedenfalls die Geſammtlaſt 
aller Kriegslaſten und Beſchaͤdigungen tragen; denn. mas die Einzelnen 
exleiben und tragen, das trägt er ja au. Die einzelnen Perfonen, 
Gemeinden und Bezirke find ja Theile feiner felbft; ihre Verarmung 
oder ihr Ruin wird von ibm mitempfunden; und der Unterfchieb 
zwifhen Nichtübernahme oder Uebernahme ber Kaften zur Selbſtbezah⸗ 
lung aus Gefammtmitteln befleht im Grunde blos darin, daß im erflen 
Sale die Laflen nur auf einzelnen Gliedern ruhen und im 
zweiten Salle auf dem ganzen Körper des Staates. Nun IfE aber 
fonnentlar, daß bei einer gleichmäßigen Vertheilung der Laſt auf alle. 
des Tragens fähige Glieder des Leibes, alfo bei der Anftrengung ber 
Geſammtkraft deſſelben, ein fchmereres Gewicht mag gehoben und 
fortgebracht werden, als ducch die Kraft blos einzelner Glieder, und 
daß alfo faft widerfinnig iſt, zu behaupten, der Staat in feiner 
Geſammtheit vermöge nicht zu leiften ober zu tragen, mas man 
unbedentlih einzelnen feiner Theile (als Provinzen oder Bes 
zirten oder Einwohnerclaffen) für ſich allein zu tragen und zu leiften 
zumutbet. Nur die unmittelbare Leiftung von — entweder 
augenblicklich nothwendigen, oder durch das Herbeifchaffen aus der Ferne 
Eoftfpieliger werdenden — Dingen und Dienften muß von Seite der 
Bewohner des Kriegöfhauplages gefchehen; die Vergütung der 
Leiftung aber mittelft Zahlung, und mofern diefe für den Augenblid 
alzu laͤſtig wäre, mittelft Schuldverfchreibung, demnach mittelſt theils 
weifer Ueberweifung auf die Schultern der Nachkommenſchaft (als der 
Erbin des durch den Krieg zu erhaltenden Gemeinweſens) gefchieht 
weit Teichter buch die Geſammt heit, als blos durch einzelne Theile 
bes Staates. 

Um injwifchen bie für die in der Megel fehr großen Kriegslaften 
erforderliche Zahlung möglichft ſchnell und vollſtaͤndig leiften zu koͤnnen, 


Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 529 


wird es nöthig fein, zu ſolchem Zwecke ſogleich beim Ausbruche des 
Krieges eine außerordentlihe Steuer (und zwar am Bellen eine 
allgemeine Vermoͤgens⸗ und Einkommensſteuer) in dem ganzen 
Staate auszufchreiben, bei der Erhebung derfelben jedoch auch Die 
den Einzelnen .und Gemeinden für ihre Naturalleiftungen und Dienfte 
ausgeftellten Butfchreibungen (Bons) an Zahlungsflatt anzunehmen. 
Hierdurch erhalten dieſe Gutfchreidungen einen ihrem Nennwerth ent⸗ 
fprehenden Curs und verrichten in ihrem Hin= und Herlauf (einmal 
als Bezahlung der Leiftungen und das andere Dal als Steuerentrichtung) 
einen doppelten und fortwährend fich ernenernden Dienft,. fo daß ihr 
Gefammtbetrag nicht allzu groß zu fein braucht, um ihrem Endzwede 
zu genügen. , 

Da die Bezahlung der Kriegsleiftungen blos den Zweck hat, bie 
rechtliche Gleichheit in Tragung der Staatslaflen zu verwirklichen, 
nicht aber ben unmittelbar Leiftenden einen Gewinn auf Unkoften 
der Gefammtheit zu verfchaffen, fo muß die Zaration der eingefors 
derten Sachen und Dienfte folder Idee gemäß regulict werden und 
darf alfo nicht zu hoch, alfo namentlich nit nach den auf dem 
Kriegstheater naturgemäß in die Höhe gehenden Preifen — fondern 
nur nad) den ordentlihen Durchfchnittspreifen, oder nad) anderen ſorg⸗ 
fältig zu ermägenden Verhältniffen — beftimmt fein. Ohne folde 
Ermäßigung würde das Geld der übrigen Provinzen leicht allzu fehr 
dem Kriegstheater zuſtroͤmen und in den entfernteren Provinzen eine 
Geldnoth entftehen. Weil aber in Folge folcher niederen Zaration die 
Leiftung immer noch eine Laſt (oder wenigftens Entziehung eines fonft 
etwa zu machenden Gewinnes) für die unmittelbar Leiſtenden bleibt, 
fo muß bei deren Auflegung gleichfalls auf die thunlichſt gleich⸗ 
mäßige Vertheilung unter die unmittelbar betheiligten und leiflungs- 
fähigen Bezirke, Gemeinden und Einmohnerclaffen Bedacht genommen, 
auh etwa den Bezirken oder Gemeinden überlaffen werden, ſolche 
Naturalleiftungen auf eine von ihnen feldft gewählte Art zu beftreiten 
und unter ihre Angehörigen zu repartiren. 

Zu einer folden, lediglich den unmittelbar betheiligten Ortſchaften 
oder Bezirken zu überlaffenden Repartition unter ihre Angehörigen eignen 
ſich zumal diejenigen Leiftungen, welche von Seite ber Leiltenden feine 
oder nur ſehr geringe pecunidre Opfer in Anfpruch gehmen, 
fondern etwa, wie 3. B. die Einquartirung (verfieht IB ohne 
Berpflegung), blos eine vorübergehende Unbequemlichkeit vers 
urfachen, oder — wie 3. B. Handfrohnen oder Wacheſtehen — 
6106 perfönliche Befchwerden (ob auch mit Beits und Kraft:, fo doch 
nicht mit fächlihem Aufwande verknüpfte) find. Leiſtungen diefer Art 
(in fo fern fie nicht in befonders großem Maße — nad) Umfang ober 
Dauer — Statt finden) koͤnnen — wenn die VBertheilungsnorm 
eine gerechte oder der Dienft ein NReihedienft (doc verfteht fich 
ein nad) Belieben auch duch Stellvertreter zu leiftender) ift — 
felbft unentgeltlich eingefordert werden. Ihre Bezahlung durch 

Staats : Lerilon. IX. 54 





530 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. f. w. 


die Staattgeſammtheit wuͤrde dem Kriegeſchauplate eigen pofitiven 
Vortheit auf Unkoſten der entfernteren Provinzen zumenden, was nicht 
bilfig wäre. Denn obfchon den arbeitenden Glaffen die Zeit auch von 
Seldwerth ft, fo fehlt ihnen doch oft — zumal im Kriege — die 
Gelegenheit zur Lohnarbeit, und fie mögen, wenn fie den ſtellvertretenden 
Dienft anftatt der Reicheren gegen Bezahlung übernehmen, darin eine 
willkommene Quelle de Erwerbs finden. Die mohlhabenderen Elaſſen 
dagegen koͤnnen wohl das ihnen durch die Leiftungen der befagten Art 
zugehende, nicht übergeoße Ungemach in der Erwägung verfhmerzen, 
daß beffelben Uebernahme zur Entfernthaltung größerer Uebel noch: 
wendig, ber Zweck jener Reiftungen auch wirklich, wenigſtens großen ⸗ 
theils, ein mit auf locale Intereſſen, namentlich auf Abwendung 
unmittelbar localer Gefahren ober Leiden gehender ift. 

Der letzterwaͤhnte Umſtand würde auch die Beſtreitung folder 
Xeiftungen aus Local- Mitteln, namentid aus allgemeinen, 
d. b. auf fämmtliche Bewohner nach Maßgabe ihres Vermögens zu 
legenden, Gemeinde» oder Bezirksfleuern rechtfertigen, wie 
3. B. die etwa gegen herumftreifende Marodeurs zu errichtenden 
Sicherheits wachen, ober die zum Schutze beflimmter Orte gegen 
Teindesüberfal in der Frohne zu verrichtenden Schanzarbeiten 
uf. mw. billig aus folhen Mitteln bezahle werden. Ueberhaupt aber 
wird es zur Verhütung der grelleren ͤngleichheiten in der Belaſtung 
der Einzelnen nöthig oder raͤthlich fein, alle nicht alſogleich auf Rech⸗ 
nung der Staatscaffe zu bezahlenden oder ben keiſtenden gut zu ſchrei- 
benden Leiftungen nicht unmittelbar von den Einzelnen einzufordern, 
fondern von den Gemeinden oder Bezirken, welchen fodann ob» 





liegt, die ihnen dergeſtalt als Gefammtfduldigkeit zugemwiefenen Laften 
auf ihre Angehörigen thunlichſt gleichmäßig zu vertheilen, mas dann 
J, bergeftalt gefchehen follte, daß die 

fism) aus ben Germei 


Kriegsſchaden, Kriegslaften u. f. w. 531 


ſpruͤngliche Repartition oder Beftreitung nach gleichheitlihen Principien 
geſchah, fondern zum Vortheil der Gemeinde⸗ oder Bezirks» 
caffen, oder zur Zilgung ber von biefen Behufs ber Laſtenbeſtreitung 
contrahleten Schulden. 

Zur confequenten, dem Zwecke und der Idee entfprechenden Durch⸗ 
führung der bisher aufgeftellten allgemeinen Grundfäge gehören noch 
manche fpecielle Rüdfichtenahmen und darauf ſich beziehende Vorfchriften. 
An das Detail derfelben einzugehen, erlaubt ung bie Oekonomie diefes 
Buches nicht. Es werden übrigens bei dem ſchwierigen Gefchäfte der 
Kriegslaftenvertheilung,, wie genau und forgfältig man alle Verhaͤltniſſe 
zu regeln ſich bemühe, immer noch gar viele Ungleichheiten, Härten 
und TBifhrlichkeiten übrig bleiben; aber diefes darf ung nicht abhal: 
ten, nach der wenigftens annähernden Erreichung des von dem Rechtes 
gefeg wie von der Politit und bier gefesten Zieles mit treuem Eifer 
zu ftreben, zumal aber vor ben allzu craffen Abweichungen, melde in 
der bisherigen Praris fo häufig vorfamen, in der Zukunft uns zu hüten. 

Mir wollen nur auf einige der naͤchſt liegenden und auffallendften 
diefer Abweichungen einm Blick werfen. 

Bon dem beliebten Spftem einer nadhfolgenden, zum Zwed 
der Hellung der während bes Krieges vorgefommenen Prägravirungen 
vorzunehmenden Peraͤquation der Keiegslaften und von feiner un» 
bedingten Verwerflichkeit haben wir ſchon oben ausführlich ges 
ſprochen. Wir wenden uns zu ben gewöhnlihen Belaftungs» 
und RepartitionsgsMethoden während des Laufes bes 
Krieges. 

Die allgemeinfte und — theil® megen ihres reellen Gewichtes, 
theils wegen ber fie faft unvermeidlich begleitenden perfönlichen Plage⸗ 
reien — drüdendfte, oder doc gehäffigfie dieſer Laften iſt die der 
Einquartirung mit Verpflegung. Ehedem Lam bdiefelbe nur 
ausnahmsmeife vor. Die — ohnehin weit Heineren ald die heutigen — 
Heere lagerten während bes wirklichen Feldzuges meift unter Gezelten, 
und ihre Verpflegung, auch menn fie in Gantonnirungen verlegt wurden, 
gefhah — wie bereits oben bemerkt worden — aus ben vom Staate 
an paffenden Orten angelegten Magazinen oder dem Deere nachge⸗ 
führten Borräthen. In den Revolutionskriegen erft warb — allerdings 
zur Erleichterung des Kriegführene, aber zum Ruin der friedlichen 
Bevoͤlkerungen — das Syſtem vorherefchend, die — bis in's Ungeheure 
verftärkten — Heere auf Unkoften der Länder, mo fie eben bucchziehen 
oder haufen, zu verköftigen. Nicht nur in Seindesland, auch in dem 
eigenen oder befreundeten, ja in diefem meift fchonungslofer, weil 
ſicherer, fordern die jegt nicht mehr lagernden, fondern in den Orts 
[haften Dad und Fach nehmenden Truppen ihre Verpflegung von 
den Einwohnern, und diefe, um der mit ber regellofen, rein militäcifchen 
Selbfleinquartirung verbundenen Gefahren fi zu entledigen, unters 
werfen ſich willig oder müffen ſich unterwerfen den von den Municipals 

au ctoritäten oder auch den höheren Civilbehoͤrden ausgehenden Vorfchriften 
| 34 * 


532 Rıriiäcen, iegꝛ:ũes Li =. 


über tie Croæxag zub Meyzrzitis x 
——— = mern 


fdulbete, en, um kie Zinfen für den ‘©: Aukiger sufigtreiien, ci 

um ten Tummerlitften Eebensunterhalt zu keficeken, Lie beilerem Tre: 
bes Haufes zu vermiethen und ſich felbt auf ken grringfien und engüüca 
Raum su beſchtaͤnken genoͤchizt war, wurde gleihzch! nach dem mwcha: 
baren Raume bes ganıen Haufes oder nach ter Gräfe ber auf tem 
Haufe liegenden Steuer mit Einquartirung und dazu auch nch 
mit der Verpflegung ber Einquattirten belegt, während ber reihe 
Miethmann In den befleren Theilm des Haufes frei von biefer er: 
trüdenden Laft blieb. Der Eigenthümer wurde daducdy nicht nur ge- 
jmungen, einen anſehnlichen Theil feines Haufes, anftatt daraus durch 
Vermiethung eine ihm hoͤchſt wohlthaͤtige Einnahme zu beziehen, fort: 
während für die Einquarticung in Bereitſchaft zu halten, mithin dem 
Verluſt des Miethsinfes dafuͤr zu erbulden, ſondern daneben erft noch 
alte feine übrigen Miethzinfe, und oft noch duruͤber hinaus den ganzen 
mühfamen Erwerb feiner Hänbearbeit oder die Früchte, ja das Capital, 
ma etwa noch fonfigen Bamigne ur Deepfiegung be der ihm 

um 2 





Kriegöfchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 533 


langen, allernaͤchſt gegen biejenigen geht, welche Raum bafür be: 
ſitzen und entbehren koͤnnen, ſolches nicht minder auf die Miethbe: 
wohner als auf die Eigenthämer Anwendung leidet. Der Eigenthü- 
mer beſitzt nur den für fich felbft vorbehaltenen, ber Miethmann 
den für fi gemietheten Raum. Beide find in der Regel — wenn 
ffe nämlich zu einiger Selbſtbeſchraͤnkung ſich entfchliegen oder genoͤ⸗ 
thiget werden — gleihmäßig im Stande, von folhem Raume 
zeitlich einen Theil für die Einquartirung abzugeben; und in der Re 
gel oder durchſchnittlich ſteht auch die Größe jenes vorbehaltenen ober 
gemietheten Wohnungsraumes im WVerhättniffe zu dem Vermögen 
des EigenthHämers und des Miethmannes. Leiflungsfähigkeit und 
natürliche Leiftungsfchuldigkeit find mithin bei dem Einen wie bei dem 
Andern vorhanden, und auch ohne Unterfhied, ob man ſolche Leiftung 
unentgeltlic, verlange (was bei nur kurz dauernder Einguars 
tirung ohne großes Bedenken gefchehen mag), oder eine Vergütung 
dafür gebe. Nur ift im erflen alle das dem Hauseigenthuͤmer durch 
ausfchließende Belaſtung zugehende Unrecht weit fchreiender als im 
zweiten. In Bezug auf die Duartirlaft für fi allein fol alfo 
das Gefeg eine Gleichheit ausfprehen zwifhen Dauseigen- 
thbämer und Miethbewohner. 


2) In Bezug auf bie Verpflegung ber Einquartisten ver 
langt das Recht noch ein weit Mehreres. Diefe Laft befteht nicht 
nur in einer vorübergehenden Bequemlichkeitsbeſchraͤnkung 
des Quartirtraͤgers, fondern in einer pofitiven und dem Maße nach 
unbegrenzten Beſteuerung. Für die Beſteuerung aber, zumal für 
die Kriegsbefteuerung,, ift der alleinig rechtliche Maßſtab dns Wer» 
mögen der Staatsangehdrigen. Es muß alfo die Verpflegungs⸗ 
Laſt thunlichſt gleichmäßig, d. h. verhältnifmäßig unter alle Staats» 
bürger — mwofern von befreundeten Truppen — oder auf alle 
Orts⸗, Bezirks- oder Provinzbewohner — in fo fern von 
feindliher inquartirung die Rede iſt — vertheilt werden. Es 
kann diefe® aber nur dadurch gefhhehen, dag man entweder ben Ein» 
zelnen, welchen man bie Verpflegung auflegt, dafür die billige 
Verguͤtung aus ben Mitteln ber betreffenden Gefammtheiten leiftet, 
oder daß man — was weit zwedimäßiger waͤre — die Verpflegung uns 
mittelbar auf öffentlihe Koften (etwa durch Zafelgelder für bie 
Dfficiere und durch gemeinfchaftlihe Speifung für die Gemeinm) an- 
ordnet. Bei der Repartition der hierfür nöthigen Gelbbeträge auf bie 
einzelnen Gontribuenten koͤnnte man weit leichter und genauer allen 
Abftufungen des Vermögens oder Einkommens folgen, als bei der zu: 
zumelfenden Naturalverpflegung möglich ift; und auch die zu Verpfle⸗ 
genden würden bergeftalt in Anfehung ihrer Beduͤrfnißbefriedigung 
eines gleiheren Maßes und einer behaglicheren Stellung ſich erfreuen, 
als an den Privattifhen der zum Theil noch wohlhabenden, zum 
Theil aber von Armuth und Kummer niebergedrüdkten Bürger. 





* Kriegefchaden, rei 


“Die, Bezahlung, von welcher bj en wird, muß, wenn 
fie. an bie ——— —— g dem — 
——— Ken b. — a — 

Ich — Koften weni 
Bis; ben ine (mithin nicht blos. in einer Meinen Sheinven 
gütung beftehenb) fein; fonit wird dem auch nur ein, fhein« 
F:; Genüge gethan. Geſchieht fie — etwa für gemeinfdaftliche 

Speifung — an die Sefammeperföntihkeit der Gemeinde, fo 
kann eher einige Ermäßigung Statt finden, weil ber Verluſt ſich dann 
gleihmäßig auf, alle Steuerpflichtigen, — und bie Quatuttrager 
der. perfönlichen. Umannehmlichkeiten, ja oft wirklichen Quälereien, die 
mit der Maturallaft verbunden find, bergeftalt überhoben werben, 

Eine andere Hauptlaft bes Keieget find die $rob men, zumal 
die Fuhr · Frohnen, weil biefe bei * mbewegungen tegelmaͤßig 
eingefordert werben, waͤhrend bie Han — — nur aus beſonderen 
Antdffen, wie bet Schanzatbeiten u. dergl., vorkommen. Bei 
dieſen Frohnen nun gu bisher gröfitentheil® bie Uebung, daß man 
eben die Bieh⸗ — agenbefiter des Drtes ober der Umgegend, 
nach Maßgabe des Vebiiefniffes, chiechthin u feiftung ar ohne 
NRücficht zu mehmen weder auf ihr eigenes Beduͤrfnig (j. B. zur Bes 
ftellung ihrer Aecket) oder auf den ihnen (etwa- als Hnfuheleuten) 
dadurch entzogenen Verdlenſt, noch auf die vom ihnen — je nach ber 
Entfernung ober der Dauer der Frohnleiflung — dabei aufzumendenden 
Untoften, noch uͤberall auf die nach Umſtaͤnden damit verbundene Ges 
fahe noch weiterer Berhädigung oder gat perfönlicher Mißhandiung. 
Ia, man ging fo weit, den Grundbeſidern (in ber Regel jedoch mur 
den gemeinen Bauern) vorzufchreiber, wie viel Vieh, je mady bem 


Kriegsſchaden, Kriegslaften u. ſ. w. 535 


weitem Ausführung, auf die früher aufgeftellten Mechtsanfidhten uns 
berufend. \ 

Ein ganz Gleiches findet Statt in Anfehung ber vielnamigen 
MNaturallieferungen oder auh Beldceontributionen, welde 
gar häufig den unglüdlichen Bewohnern der vom Freunde oder vom 
Seinde kriegeriſch befegten Provinzen aufgelegt werden. So wie ein 
Truppencorps in ein Land oder in eine DOrtfchaft einrüdt, fo hat; 
nach der in ben Revolutionsfriegen vorherrfchend gewordenen Praris, 
das Privateigenthum feine rehtlihe Bedeutung ver» 
loren. Weſſen immer das Heer bedarf oder zun bedürfen erklärt, das 
muß ihm auf Verlangen von den Bewohnern bes im Bereiche feiner 
phnfifchen Gewalt liegenden Landes herbeigefchafft werden, Brotfrucht 
und Pferdefuͤtterung, Lagergeräthfchaften, Betten und andere Gafers 
nen» und Lazarethbebürfniffe, Kleidungsſtuͤcke und Schuhe, Holz zur 
Feuerung und zu Schanzen ober anderen: militärifchen Zwechen u. f. w., 
kurz Alles und Alles muß auf das Gebot des Kriegsbefehlhabere ges 
liefert, und zwar unentgeltlic, geliefert werden. Alfo gefchieht es 
nit nur, wo der Feind hauſ't, fondern oftmal® auch mo ber 
Freund. Die Revolutionskriegsjahre und auch jene des fogenannten . 
heiligen Krieges werden auch in Bezug auf berartige Bedruͤckungen in 
der Erinnerung noch mehr als eines Gefchlechtes fortleben. Erſt in 
der legten Periode wurden Uebereintömmniffe zwifhen den Verbündeten 
über die Vergütung folcher Leiftungen gefchloffen. Aber der Inhalt, 
wenigflens der Vollzug, entſprach der Rechtsforderung nicht. Die 
Staaten rechnetm gegen einander ab, aber den Privaten, welde 
geleiftet hatten, kam von der Vergütung nichts oder nur menig zu. 
Einiges zwar flog — freilich fpät genug — in die Gemeindecaf» 
fen; ber Erfag an die Einzelnen jedoch wurde fchon durch den in 
der Iwifchenzeit eingetretenen Perſonenwechſel unmoͤglich gemacht, 
oder auch der Betrag durch die Unkoften der langwierigen Perdqua: - 
ttonsoperationen verfchlungen. Im Syſteme ſelbſt wurde nichts 
geändert. Dermöge defjelben nämlich muß Jeder hergeben, mas er 
bat, fobald der Soldat es braucht oder verlangt. Ja, er muß feilbft 
geben, was er nicht hat, fondern erſt für fein Geld ſich anfchaffen 
kann; und in Bezug auf Vergütung oder wenigftens gleichheitliche 
Vertheilung der Laſt unter die zunaͤchſt oder die entfernter Betheiligten 
bangt er theild von willlürtichen Anordnungen ber Behörden, 
theils von erft fünftig zu erlaffenden, mithin dem Inhalte nach 
ungemwiffen und, weil ſodann ruͤckwirkend, jedenfalld ungerehten 
Gefegen ab. 

Gleichwohl wäre gar nicht ſchwer, folhem Unmwefen zu 
feuern. Die Naturalleiftung , bier alfo bie Lieferung der geforbers 
ten Gegenſtaͤnde, gefchehe ziwar unmittelbar von Jenen, welche fie bes 
figen, und nad) bem Maßſtabe foldyes Beſitzes, überhaupt von Jenen, 
von welchen fie am Schnelfften und Sicherften zu erhalten find. Aber 
bie augenblidlihe Bezahlung ober Gutſchreibung auf Rechnung 





536 Kriegsſchaden, Kriegslaſten u. ſ. w. 


der Geſammtheit (ie nach den Faͤllen jener der Gemeinde, oder 
des Bezirks oder des ganzen Staates) ſtelle die (durch die unmittelbare 
Beitreibung von den Beſitzenden) factiſch geſtoͤtte rechtliche Gleichheit 
wieder her; und was fofort zu bezahlen det gegenwaͤrtigen Gefammt: 
heit zu ſchwer fiele, das werde wenigſtens ale Schuld anerkannt, 
und gehe als foldhe auf die Nachkommenſchaft über. Gilt einmal bie: 
fee Grundfag, fo wird man bei den Requifitionen behutfamer und 
fparfamer verfahren. Wer nur zu nehmen, aber nicht zu vergüten 
braucht, der fordert eben nad) Willkür und Laune, mitunter felbft aus 
Muthwillen oder Uebermuth. Wer aber über das Geforderte Redy- 
nung ftellen, und wer es vergüten muß, der befchränkt die For⸗ 
derung auf das Nothwendige und auf das den Kräften Ent- 
fprehende. Der Feind zwar fügt ſich natürlich nicht unter diefes 
Sefeg; mir haben hier aber ganz vorzugsmeife die vom eigenen 
Staat edder die vom befreundeten Heere ausgehenden Requifitionen 
im Auge. Jedoch aud auf die vom Feinde gemachten findet unfer 
Grundſatz in fo fern Anwendung, als dadurch die unmittelbare 
Repartition, und fodann auch die Vergütung aus den Mitteln 
der dabei (näher oder entfernter) betheiligten Gefammt heiten eine 
vernunftrechtliche Norm erhalten. 

Die Anwendung der bisher ausgeführten Grundfäge aud auf 
alle anderen, wie und mo immer noch vorfommenden oder gedents 
baren Kriegslaften und Beſchaͤdigungen ergibt fi von ſelbſi. Es 
fragt ſich jegt bios noch: ob oder in wie fern es wirklich Sache der 
Gefeggebung fein koͤnne, die zur Verwirklichung der von uns ge: 


forderten cechtlichen Gleichheit in Zragung ber Kriegslaſten nothwen- 
digen, materiellen und formellen Beftimmungen ſchon zum Vorhin⸗ 





—8 


Kriegsſchaden, Ariegelaſten u. ſ. w. 537 


ligten oder deren Repraͤſentanten Statt finden folle, eben ſo, daß 
die Leitung ſolcher Repartition durch dieſe oder jene Behoͤrden 
und unter dieſen oder jenen Formen zu geſchehen habe, und welche 
Wege des Recurſes etwa den geſetzwidrig Bedruͤckten offen ſtehen 
ſollen. Sodann kann und ſoll die forgfaͤltige Conſtatirung oder 


Evidenzhaltung aller vorkommenden Kriegslaſten und Kriegsſcha⸗ 


den (und hier ohne Unterſchied zwiſchen den vom Feinde oder vom 
Freunde herruͤhrenden), mithin auch die Form derſelben und die Con⸗ 
trole für deren Richtigkeit vorgeſchrieben und angeordnet, und zumal 
auch ſchon zum Vorhinein beflimmt werden, welhen Behörden 
ber Vollzug der auf diefe Dinge ſich beziehenden Gefege und Verord⸗ 
nungen zuftehen und mie weit fich ihre Competenz darüber erſtrecken 
fole. Dagegen wird der Regierung (oder, je nad) der Verfaffung, 
dee Regierung und Volksrepraͤſentation) überlaffen bleiben müffen, bei 
wirklich eintretenden Fällen die dem Bedürfniffe ber jeweiligen Um: 
ftände gemäßen fpecielleren Verordnungen, Inftructionen 
und Entfcheidungen zu erlaffen, namentlih auch ben Betrag und 
die Erhebungsmweife der (nad) bem Principe oder Befleuerungs: 
funbamente allerdings geſetzlich feftzuftellenden) Kriegsfteuer zu bes 
fimmen, einzelne Gattungen von Kriegsiaften oder Beſchaͤdigun⸗ 
gen (unter Verantwortlichkeit der anorbnenden Behörden) von ber Be: 
zahlung aus Staatsmitteln auszunehmen und etwa (In Gemäßheit 
der im Allgemeinen bafür aufgeftellten gefeslihen Normen) 
für Locals oder Bezirkslaften zu erklären, überhaupt Alles zu 
thun unb anzuorbnen, was fehon zum Vorhinein duch ganz be> 
ffimmtes Gefeg zu entfcheiden nicht. möglich oder nicht rathfam wäre. 
Even fo wird, mas Insbefondere die vom Feinde verurfachten Kriegs: 
erlittenheiten betrifft, nur durch die Regierung (oder Regierung und 
Stände) jeweils, nach Beſchaffenheit der in concreto vorkommen⸗ 
den Umftände, zu beflimmen fein, ob und welche Vergütung oder Uns 
terftägung nach Recht, Billigkeit und Politik den betheiligten Bezirken, 
Gemeinden oder Einzelnen dafür zu leiften Pflicht oder auch thunlich 
und räthlich ſei. 

Die befriedigende oder auch nur annähernd vollftändige Ausfüh- 
rung ber in dieſem Artikel behandelten Gegenftände würbe ein Bud 
erheifhen. Wir mußten ung jedoch, nach dem Zwecke und dem beſchraͤnk⸗ 
ten Umfange bes Staatslerilons auf eine fummarifche Anbeutung be: 
ſchraͤnken, welche freilich noch mandyerlei Einwendungen oder Gegen: 
betrahtungen Raum, doch auch, mie wir hoffen, bem unbefangenen 
Nachdenken einen nicht unfruchtbaren Stoff geben wird u" 

otted. 


*) Bergl. die Verhandlungen der babifchen Stänbeverfammlung über bie 
Kriegskoftedausgleihung,, insbefondere die Protocolle ber I. Kammer von 1822 
2ter und Ster Band; fobann jene ber zweiten Kammer von 1831 über bie 
Motion des Abgeorbneten Der?, die Ausgleichung der Kricgsiaften betreffend; 
endlich die Abhandlung bed Werfaflers des gegemwärtigen Artikels: „Ein 





N Kriegeoerfofung — Kauf. 


Kriegsverfaffung, f. Heerwefen. 
Kriegsverfaffung des deutfhen Bundes, f. Con⸗ 
tingent, Heerbann. 

Krondmter, f. Hofämter 
Kronanwalt, f. Staatsanwalt. 
Krone, f. Infignien. 

Kuhpoden, ſ. Boden und Vaccination. 
Kuntellehen, f. Lehen. 

Kunft, im Zufammenhange mit Staat und Politit. 
— Aus dem Boden des Rechts und der Sitte, wie fie im Staate 
und feiner gefetigen Drbnung ſich ausprägen, dringen Wiſſenſchaft 
und Kunft zum Lichte hervor, bie beiden Zweige eines Stammes, 
ſich gegenfeitig beſchattend, naͤhrend und befruchtend. Die Wiſſenſchaft 
reitet vom Beſonderen zum Allgemeinen; fie iſt die Aueignung 
und fitende Auseinanderlegung des geiſtigen Stoffes. Die Kunft 
dagegen macht das Beſondere zum Xräger des Allgemeinen; fie iſt 
defjen Indioidualifirung und Beſeelung. Das Leben erzeugt das 
Leben, und alles Wiffen, das vom Leben ſtammt, fol wieder ein 
Lebendiges, alfo Individuelles, werden. Darum hat jede Wiffen- 
ſchaft ihre Kunſt. Die Phitofophie, als die Wiffenfchaft von den 
legten Gründen alles Dafeins, ift die Lehre von ber Gottheit felbft 
und ihrer Offenbarung durch die Welt; und fo dürfen mir bie 
befonderen Weiſen ber lebendigen Anerkennung und WWerehrung 
der Gottheit, den religisfen Gultus, als die Kunſt der Philofoppie 
bezeichnen. Die fortfchreitende Emtwidelung ber Philofophie wird alfo 
ſtets beſtimmend für die befonderen Formen bes religiäfen Lebens 
bleiben; aber fie wird diefe niemals aufheben und entbehrlidh machen, 


‘ 





Kunſt. 539 


bleiben: fo ſchafft auch eine politifch vereinigte Dienfchenmenge mit 
dunkeln Trieben, wie bie Bienen an ihrem Sellengewebe, fort und 
fort an dem Gehäufe ihres Staates, waͤhrend nur biejenigen bie 
rechten Staaͤtskuͤnſtler find, die das Ganze geiflig erfaßt haben und 
feiner Idee gemäß wirkſam in baffelbe eingreifen. 

An diefem allgemeinen Sinne ift Überhaupt die Kunft eine 
fortlaufende Verkoͤrperung der Wiffenfhaft, dem allgemeinen, 
ftet6 fich vermittelnden und erneuenden Gegenfage menſchlicher Thaͤtig⸗ 
keiten gemäß, ber in ben Worten Können und Wiffen aus 
gefprochen iſt. Allein meiſt befchränke man den Begriff derfelben 
nur auf eine engere Sphäre und denkt dabei vorzugsmweife an die 
fogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte. Sie gliedern ſich nach den Stoffen, 
worin fie zur Erſcheinung kommen. Diefe find: Wort und Zon 
(Poefie und Mebekunft, Vocals und Inſtrumentalmuſik); Umriß 
und Farbe (Zeichentunft und Dialerei); Ieblofe und lebende Körper 
(Baukunſt und Seuiptur, Zanzkunft, Mimik und Schauſpielkunſt). 
Seder diefee Stoffe Hat der menfchlihen Einwirkung gegenüber feine 
eigenthümliche Dingebung und feine befondere Sproͤdigkeit. Darum 
find nur die Küänfte die Kunfl, wie nur die Religionen bie Religion 
find; und darum bat jede einzelne Kunft ihre befondere Stärke und 
Schwäche, ihre eigenthHümliche Ausdehnung und Grenze. Die Willkür 
Tann bdiefe Grenzen überfpringen, wie bie Willkuͤr der Politik bie 
Naturgrenzen des Voͤlkerlebens; aber dort, wie hier, wirb fie nur 
Mißgeſtalten erzeugen. Zwar iſt der Menſch eine Eleine Welt in ber 
großen, ein zuſammengeſetzter Ausbrud bes allgemeinen Naturs und 
Geiftesiebene. Wo er alfo unmittelbar fi felbft zum Gegenftande 
der Kunft macht, wie im Schauſpiele und in ber Oper, kann er zugleich 
in Wort und Ton, in malerifher Mimik und bemegter Plaſtik, eine 
lebendige Verbindung ſehr verfchiedener Lünftlerifcher Leiftungen zu 
Stande bringen. Aber wenn er gleichzeitig in ber flüchtigen Kunſt 
des Mimen, in bramatifcher und muſikaliſcher Darftelung Mehrerlei 
leiſtet, fo Laffen ihn die Unvollkommenheiten des Individuums nicht 
das Hoͤch ſte erreihen, was andere Künite, eine jede in ihrer eigen: 
thümlichen Sphäre, zu erreichen vermögen. 

In der Berührung des Geiſtes mit der Sinnenwelt erwacht der 
fhlummernde Kunſttrieb zur kuͤnſtleriſchen Begeifterung, die erſt concret 
werden, einen beflimmten Gegenitand erfaffen muß, um fchöpferifch 
zu fein. „Was ift ba viel zu befinicen,” fagte Goethe zu Eder» 
mann, „lebendiges Gefühl der Zuftände und Kähigkeit, es auszu⸗ 
drüden, macht ben Posten. Und was von ber Poefie, gilt von aller 
Kunft. Aber damit iſt viel in wenig Worten gefordert: die Luft und 
Kraft des Künfklers; die ihe gemäße Wahl bes Gegenſtandes; die 
ausdauernde und immer wieber erwachende Neigung zu diefem Gegen» 
ftande, bis er fih einer vollendetm Ausbildung hingegeben hat. 
Darum find bie Achten Kunſtwerke fo felten, meil fo felten all’ ihre 
Bedingungen zufammentreffen, und darum gibt e8 auch in der Kunft 





Br Sriegeoerfoffung — Kun. 


Kriegöverfaffung, f. Heerwefen. 

Kriegöverfaffung des beutfhen Bundes, f. Con: 
tingent, Gerchann 
Krondmter, f. Hofämter. 
Kronanwalt, f. Staatsanwalt. 
Krone, f. Infignien, 
Kuhpoden, ſ. Poden und Vaccination. 
Kunkellehen, f. Leben. 
Kunft, im Bufammenhange mit Staat und Politit. 
— Aus dem Boden bes Rechts und ber Sitte, mie fie im Staate 
und feiner gefelligen Orbnung ſich ausprägen, dringen Wiſſenſchaft 
und Kunft zum Lichte hervor, die beiben Zweige eines Stammes, 
ſich gegenfeitig befchattend, nährend und beftuchtend. Die Wiſſenſchaft 
reitet vom Beſonderen zum Allgemeinen; fie iſt die Aneignung 
und ſichtende Auseinanderlegung des_geiftigen Stoffes. Die Kunft 
dagegen macht das Befondere zum Traͤger des Allgemeinen; fie ift 
deffen Indioidualifitung und Beſeelung. Das Leben erzeugt das 
Leben, und alles Wiſſen, das vom Leben ſtammt, ſoll wieder ein 
Lebendiges, alfo Individuelles, werden. Darum hat jede Wiſſen ⸗ 
haft ihre Kunſt. Die Philofophie, als die Wiffenfhaft von den 
legten Gründen alles Dafeins, ift die Lehre von ber Gottheit felbft 
und ihrer Offenbarung durch bie Welt; und fo dürfen mir die 
befonderen Weifen ber lebendigen Anerfennung und WWerehrung 
der Gottheit, den religidfen Cultus, als die Kunft der Philofophie 
bezeichnen. Die fortfchreitende Entwickelung ber Philofophie wird alfo 
ſtets beftimmend für bie befonderen Formen bes religiöfen Lebens 
bleiben; aber fie wird dieſe niemals aufheben und entbehrlich machen, 










Kunſt. 530 


bleiben: ſo ſchafft auch eine politiſch vereinigte Menſchenmenge mit 
dunkeln Trieben, wie die Bienen an ihrem —— fort und 
fort an dem Gehaͤuſe ihres Staates, waͤhrend nur diejenigen die 
rechten Staatskuͤnſtler find, die das Ganze geiſtig erfaßt haben und 
feiner Idee gemäß wirkſam in baflelbe eingeeifen. 

An diefem allgemeinen Sinne ift überhaupt die Kunſt eine 
fortlaufende Verkoͤrperung ber Wiffenfhaft, dem allgemeinen, 
ſtets ficy vermittelnden und erneuenden Gegenfage menfchlicher Thaͤtig⸗ 
beiten gemäß, ber in ben Worten Können und Wiffen aus 
gefprochen iſt. Allein meiſt beſchraͤnkkt man ben Begriff berfelben 
nur auf eine engere Sphäre und denkt dabei vorzugsmeife an bie 
fogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte. Sie gliedern fi nach den Stoffen, 
worin fie zur Erſcheinung kommen. Diefe find: Wort und Zon 
(Poefie und Redekunſt, Vocal⸗ und Inſtrumentalmuſik); Umriß 
und Farbe Geichenkunſt und Dialerei); lebloſe und lebende Körper 
(Baukunſt und Seulptur, Zanztunft, Mimik und Schauſpielkunſt). 
Feder diefer Stoffe hat ber menſchlichen Einwirkung gegenüber feine 
eigenthümliche Dingebung und feine befondere Sprödigkeit. Darum 
find nur die Künfte die Kunſt, wie nur die Religionen bie Religion 
find; und darum bat jede einzelne Kunft ihre befondere Stärke und 
Schwaͤche, ihre eigenthümliche Ausdehnung und Grenze. Die Willkür 
kann diefe Grenzen überfpringen, wie die Willkür der Politik die 
Naturgrenzen des Voͤlkerlebens; aber dort, wie bier, wird fie nur 
Mißgeſtalten erzeugen. Zwar ift ber Menfch eine Beine Welt in ber 
großen, ein zufammengefegter Ausbrud des allgemeinen Naturs und 
Geiſteslebens. Wo er alfo unmittelbar fich felbft zum Gegenftande 
der Kunft macht, wie im Schaufpiele und in ber Oper, kann er zugleich 
in Wort und Ton, in malerifher Mimik und bewegter Plaflif, eine 
lebendige Verbindung fehr verfchiedener kuͤnſtleriſcher Leiftungen zu 
Stande bringen. Aber wenn er gleichzeitig in ber flüchtigen Kunſt 
bes Mimen, in dramatifcher und mufialifcher Darftelung Mehrertei 
leiftet, fo laffen ihn die Unvollommenbeiten des Individuums nicht 
das Höcyfte erreichen, was andere Künite, eine jede in ihrer eigen» 
thümlichen Sphäre, zu erreichen vermögen. 

In der Berührung des Geiftes mit der Sinnenwelt erwacht ber 
fhlummernde Kunſttrieb zur kuͤnſtleriſchen Begeifterung, die erſt concret 
werben, einen beſtimmten Gegenitand erfaffen muß, um fchöpferifch 
zu fein. „Was iſt da viel zw befiniren,” fügte Goethe zu Eder» 
mann, „lebendiges Gefühl der Zuftände und Fähigkeit, es auszu⸗ 
drüden, macht ben Poeten. Und mas von ber Poefie, gilt von aller 
Kunft. Aber damit ift viel in wenig Worten gefordert: die Luft und 
Kraft des Künfllers; die ihr gemäße Wahl des Gegenflandes; die 
ausdauernde und immer wieder erwachende Neigung zu diefem Gegen» 
flande, bis ee fi einer vollendeten Ausbildung hingegeben hat. 
Darum find die aͤchten Kunſtwerke fo felten, weil fo felten all’ ihre 
Bedingungen zufammentreffen, und darum gibt e8 auch in der Kunft 





540 Kunſt. 


ſo viel Mißheirath und Convenienzheirath, weil der Eigenſinn von dem 
nicht laſſen mag, was er einmal ergriffen hat, oder weil das kuͤnſtleriſch 
Begonnene handwerksmaͤßig fortgetrieben wird. Die Kunſt hat, mie 
die Liebe, Ihre glüdlihen Momente ber Beugung, in welchen ſich 
der Geift ſchaffend Im-einen Theil der Sinnenwelt bineindrängt, um 
ihn zum Traͤger und zugleich zum Leiter feiner Kraft zu machen. 
Nur fo meit die geiftigen und fittlichen Kräfte, die der Kuͤnſtler in 
feine Schöpfung ausgeftrömt hat, belebend wirken, wird diefe Schöpfung 
als ein Werk der Kunft erkannt und empfunden. Der Genug, und 
darum bie Wirkung ber Kunft, bleibt alfo durch die Empfänglichkeit 
ber Genießenden bedingt, und biefe if eine verſchiedene, nicht blos nad 
der Individualitaͤt, fondern aud nad) der Nationalität und nad) den 
Bildungsſtufen ganzer Perioden des Menfchen« und Voͤlkerledens. 
Sind doc, kaum ſechzig Jahre verfloffen, als man fo ausſchließend in 
die griechiſche Architektur und bie Betrachtung ihrer Proportionen ſich 
verfenkt hatte, dag man nicht einmal wagte, die großartigen Gchöp: 
fungen der gothifhen Baukunſt für Kunſtwerke gelten zu laſſen; dag 
noch ein Sulzer in feiner „allgemeinen Theorie ber bildenden Künfte” 
die Meinung dußern konnte, daß am Straßburger Münfter „wenig 
Geſundes“ fei. Plato hatte vorzugeweife das Schöne die ſchoͤpfe⸗ 
riſche Kraft genannt, bie wieder Begeifterung erwecke, ſo wie ber Magnet 
dem Eifen bie Kraft der Anziehung mittheile; Ariftoteles fand 
befanntlic das Weſen der Poefie in der ſchoͤnen (geifligen) Nach⸗ 
ahmung der Natur. Uber nice blos die unmittelbare Darftellung 
des Schönen, Erhabenen oder auch nur des Bedeutenden if der aus: 


fliegende Gegenftand der Poefie, oder der anderen Künfte; fonbern 
nicht weniger die des umgekehrt Schönen und des Lädjerlichen, als des 





Kunſt. 541 


geiſtigen und ſittlichen Kraͤfte, vielmehr eine Belebung und Erhoͤ⸗ 
hung derſelben fordern. Dies iſt eben ſo wahr im Beſonderen, als 
von der Kunſt ganzer Nationen und Perioden, die wir — wie groß 
uͤbrigens die techniſche Fertigkeit in der Ausfuͤhrung des Einzelnen ſei — 
auf eine niedrigere Stufe ſtellen, wenn ſich die kuͤnſtleriſche Schoͤpfungs⸗ 
kraft an eine verhaͤltnißmaͤßig groͤßere Menge des Gehaltloſen und 
Armſeligen vergeudet. 

Nach dem Allen bleibt es die allgemeinſte Aufgabe der Kunſt, 
in einer die Eigenthuͤmlichkeit ihres Gegenſtandes erfaſſenden, alſo in 
charakteriſtiſcher und ſinnlich durch und durch wahrnehmbarer 
Darſtellung, ein geiſtig Bedeutendes in eine concrete Anſchauung zus 
fammenzudrängen. In biefem Sinne nannte Zied die Dichtung 
eine Verdichtung, und biefe lakoniſche Bezeichnung felbft ift ein 
ächter Dichterſpruch, eine Beleuchtung der Poefie durch Poeſie. 
Goethe ruft dem Dichter zu, er folle das Befonbere ergreifen, 
und fei es nur ein Gefundes, fo werde er darin ein Allgemeines 
darftellen. Auch dies iſt treffend und mahr, wenn nur eben ber 
Dichter als Dichter das DBefondere ergreift. Iſt doch nie die blofe 
Nahahmung eines Gegenflandes ein Kunftwert! Sa der eigentliche 
Nahahmungstrieb ſcheint den höheren Kunfktrieb fogar auszufchließen. 
Unter den Thieren iſt der Affe nicht einmal mit dem inftincemäßigen 
Kunfttriebe anderer Thierarten ausgeflattet, und unter den Völkern 
bat der nahahmungsfüchtige Neger, felbft in Mitte der Civiliſation 
und unter Werken der Kunft, kaum noch einigen Kunftfinn offenbart. 
Senes Bild eines nieberländifchen Malers, eine wollene Matrofenmüse, 
woran mer Luft hatte alle Faͤden zählen tonnte, war immer nur ein 
Kunft-Städ, ein Wort, das hödyft finnig auf ein zum Kunft: Werke 
noch Sehlendes hinweiſ'ſt. Aud) wird Niemand die genaue Nachbildung 
eines Steines, Thieres u. dgl., wie fie etwa einem naturhiftorifchen 
Bude zur Erklärung feines Textes beigegeben ift, für ein Kunſtwerk 
ertlären. Um es dazu zu vervollftändigen, muß zur treuen 
Darftellung eines Befonderen noch ber Ausbrud eines allgemein Bes 
deutenden binzulommen. Dies ift nicht in dee Sinnenmelt zu finden, 
fondern einzig in dee Geiſteswelt, in der bie endlos theilbare und ges 
theilte Materie verbindenden Idee. Die Natur hat in Tönen, Farben 
und Geſtalten nur bie Lettern zum Geifteswerke hingeſtreut. So wenig 
der auf's Gerathewohl unternommene Abdruck derfelben, wie fcharf und 
genau er fel, ein Buch erzeugt, eben fo wenig bringt bie blofe Nach» 
ahmung von Naturgegenftänden ein Kunftwert hervor. Wohl hat in 
der Welt der Erfcheinungen jedes Einzelne auch feine befondere Bedeu⸗ 
tung, fo wie jeder Buchflabe im Alphabet ein für fich geltendes Etwas 
ift. Gleichwohl iſt die Verbindung der Buchſtaben zur Darflellung 
eines Gedankens nicht blos ein Nebeneinander berfelben, fondern zu⸗ 
gleich der Ausdrud eines ganz Anderen und Meuen. Unb in dems 
felben Sinne bilft die Kunft das fortfchreitende Wert der Schöpfung 
vollenden, indem fie, fondernd und verbindend, in die Welt der Ers 





UT 
648 Kunſt. 


äußert, elne reichere Mannichfaltigkeit von Denkmalen erzeugt *). 
Sculptur und Malerei haben ſich fo wenig, als Architektur, über das 
Mittelmägige erhoben. Die bunt angeftrichenen Bildfäulen der Chinefen 
find meift von ziemlich roher Arbeit, und in der Malerei wiſſen fie nichts 
von der Perfpective, verſiehen fich jedoch auf eine fehr lebhafte und 
dauerhafte Farbengebung. Nur in der Gartenkunft, wozu bie oft 
romantiſch wunderbare Natur des Landes die nächte Anregung gab, 
haben fie wohl das Ausgezeichnetfte geleiftet und der englifchen die 
größten, bei Weiten nicht erreichten Vorbilder geliefert. Diefe plaſtiſch⸗ 
maieriſche Gartenkunft fließt ſich innig an die gegebene Natur an. 
Sie ift nur eine nachheifende Verſchoͤnerung derfelben auf ſehr weite 
Räume hinaus, wie denn. Bgrrom unter Anderem von einem kaiſer⸗ 
lichen Garten erzähfe, yon mindeftens zehn engliſchen Meilen im Um: 
fange. Berge, und Thäler, Fluͤſſe und Bäche, . Wälder und Fluten 
find hier auf eine die Sinne vielfach anſprechende Weife und nad) einem 
umfaffenden ‚Plane in Werbinbung gefegt. Selbſt die malerifche Con: 
traßirung, der Laubfarhen nad) dem Wechſel der Jahreszeiten ift in den 
Gruppen der Haine beruͤckſichtigt. Aber audy. zahlreiche Wohnhdufer 
neben ben Luſthaͤuſern, ja ganze Detſchaften und fruchtbare Fluren, find 
in dieſe weit umfallenden Combinationen aufgenommen. Faſſen wir 
num Biele großen pianmaͤßigen Verbindungen des Schönen und Nög: 
tichen ims Auge, ſo draͤngt ſich eine Frage auf, die im höheren Sinne 
eine \aatömiffenichafttiche ift :-0b überhaupt das 


ver 





ee eine gel der 
Manu g banken 


Kunſt. 543 


In den ganz rohen Anfängen der Gefellfchaft, wie bei vielen 
Völkern Polyneſiens und Afrikas, ift mehr ein blofes Neben» 
einander, als ein ſociales Zufammenfeln und Zuſammenwirken. Nur 
die gemeinfame äußere Noth mag momentan zu Unternehmungen in 
größerer Gemeinſchaft verbinden ; ift aber ihr Druck vorüber, fo ftäuben 
die Maffen aus einander. Selbſt das Band der Familie hätt nicht 
zahlreichere Glieder zufammen, und nur einzeln oder paarweife fucht 
man den naͤchſten Bedürfniffen zu genügen. Wo noch ſolche Vereins 
zelung bericht, ift e8 auch nur der Einzelne, ber fich felbft zum Gegen: 
ftande der rohen Anfänge feiner Kunft macht. Die Kärbeftoffe, die der 
Wilde da und dort auffindet, dst er feiner Haut ein, und was er 
ſich fonft Gefälliges und Reizendes aneignen mag, die farbigen Federn 
der Vögel, bunte Steine und Mufcheln, fhimmernde Metalle, dienen 
ihm zum Schmude. Aber kaum denkt er noch daran, felbft die rohen 
Spmbole feiner Gottheiten auszupugen und zu verzieren. Auf höheren 
Etufen ber Entwidelung kommt ein gebilbeterer Kunftfinn felbit im 
Puge, in den Kleidern und Trachten, zum Vorſcheine; wenn dieſe theils 
hervorhebend und theils verhällend, theils contrafttrend und theils ver⸗ 
fchmelzend, die in der Geftalt des Menfchen ausgefprochene Idee zugleich 
plaftifh und malerifh zur Anſchauung bringen. Aber die Pusfucht 
des Wilden iſt erſt eine einfeitige Luft am Gontraftitenden, alfo an 
der Vereinzelung ; fie ift weſentlich darauf gerichtet, feinen Körper oder 
befondere Glieder deſſelben au 8 zuzeichnen ; fo daß oft ſogar fein Schmud, 
wie etwa das Gehänge in Lippen, Nafe und Ohren, nette und grelle 
Difformitäten erzeugt. Wie er die [hreienden Farben und Formen 
liebt, fo tft auch feine Sprache, die mehr Empfindungen als Gedanken 
ausdrüdt, noch eine ſchreiende. Sein Gefang, nur ein gefleigerter 
Ausdruck diefer Empfindungen, ift nicht viel mehr, als eine unzufams 
menhängende Weihe von Naturlauten; fein Tanz eine ungeorbnete 
Folge von Sprüngen. Die Gefühle find noch nidht vom Gedanken 
beherrfcht und verknüpft; nichts ift darin harmoniſch gegliedert und 
rhythmiſch abgemeffen ; es ift noch keine Mannichfaltigkeit in der Einheit, 
fo menig in ber Geſellſchaft, als auf dem noch fehr engen Gebiete der 
Kunft. Hoͤchſtens tritt im Gefange eine Vorftellung und Empfindung 
bervor, doc ohne fie in ihrer Entwidelung und ihren Abftufungen 
darzuftellen. Auch dies iſt nichts Anderes, als ein verlängerter Schrei 
der Empfindung, melde darum in Ihrem Ausbrude monoton wird, 
wie es namentlich die meiften afritanifchen Volslieder find. Auf etwas 
höherer Stufe erfcheinen die Indianer Nordamerikas. Ihre Sprache 
hat ſchon einen größeren Reichthum an Vorſtellungen; aber auch hier 
ift die Melt des Geiſtes von der Sinnenmwelt noch menig abgegliebert, 
und berfelbe Ausdrud, der die Auferen Erfcheinungen bezeichnet, 
dient zugleich der Bezeichnung ber geiftigen Zuftände und Thätigkeiten. 
Daraus entfteht eine oft großartige, oft ruͤhrend naive mündliche 
Hieroglyphenſprache, deren Bilder fich bei dieſen Völkern, mären fie 
wie die alten Aegypter anfäffig getvorden, gleichfalls in Stein und Farbe 


550 Kunft. 


Perfonen find, fogar göttlich verehrt; fo daf das blofe Anhören einer 
Geſchichte aus diefen Werken Vergebung ber Sünden erwirbt. Die 
gleiche Verwebung von Mythologie und Geſchichte findet ſich in den 
18 Puranas, den mythiſchen Volkslegenden. Auch die Erfindung des 
Dramas wird einem goͤttlich begeifterten Wefen, Bharata, zugefchrie: 
ben. Darum waren bie Schaufpieler in Indien geachtet, und bas 
Schaufpiel bildete ſtets einen wefentlihen Theil der religiöfen Feſte. 
Es kam jedoch vom 14. oder 15. Jahrhunderte an In Verfall, und ge: 
genwärtig findet ſich nur nod auf den Märkten ein Puppenfpiel her⸗ 
umziehender Gaultier. Im Drama, das fo romantifch ift, mie das 
Land felbft, häufen ſich bie Wunder neben den Ereigniſſen des ges 
woͤhnlichen Lebens, und gerade biefe Werfhmelzung des Gewoͤhnlichen 
mit dem Wunderbaren, bas den Ausdruck kindlicher Naivetät erhält, 
gibt ber indifchen Poeſie ihren eigenthuͤmlich miyſtiſchen Charakter. 
As handelnde Perfonen treten Götter und Göttinnen, Helden und 
Heldinnen neben Kaufleuten, Dienern, Spigbuben ıc. auf; und eigen: 
thuͤmlich iſt, aber aus den ſcharf begrenzten gefelligen Verhaͤltniſſen 
erflärbar, daß nicht blos die provingiellen, fondern auch bie ftändifden 
Unterſchiede durch verſchiedene Dialekte hervorgehoben merden. Der 
Dialog iſt gewoͤhnlich Profa, doch find häufig Iprifche Ergüffe im regel⸗ 
mäßigen Rhythmen und mit Anwendung aller indiſchen Versarten ein: 
geſtreut. Nur die Einheit der Handlung wird beachtet; aber weder 
durch Ort und Zeit, noch durch eine beftimmte Zahl von Acten, benn 
es gibt Stüde von drei, fieben bis zu zehn Aufzügen, läßt ber Flug 
der Phantafie fi hemmen. Die indifchen Volkslieder und Volkeweiſen 


athmen eine tiefe Innigkeit. Dan bat darum ihre Aehnlichkeit mit 
denen „der Deuiſchen hervorgehoben; doch herefcht darin überwiegend 
die Phantafle und bas Gefühl vor, während fid im deutfchen Wolsliede 
zugleich die mehe nad) Außen gewenbete Thatkcaft und ein dramatiſch 
bewegteres Beben offenbart. Uederhaupt zeichnet fich die indifche Poefie, 





Kunft. 551 


nung aller Theile zum unverrädbaren Ganzen in finnlicher Anfchau: 
ung zu offenbaren. Wie fih nun altes Seite in regelmäßigen’ 
Kruftallifationen geftaltet, fo folgt auch die Architektur dieſem Nas 
turgefege; und wie bie leblofe Natur die Traͤgerin ber organifchen iſt, 
fo wird auch das von Künftlechand errichtete Gotteshaus eine 
Stätte für die Abbilder des Lebendigen, fo daß bald alle Künfte 
fi vereinigen, um es zu fhmüde und zu befeelen. Darum ers 
fheint überall die religtöfe Baukunſt ale eine Mutter und Pflegerin 
der übrigen Künfte Keine Nation hat riefenbaftere Bauwerke ale 
bie Hindu's. Bei Ellora in Dekhan, auf den Infeln Salfette, Ele⸗ 
phante und Geylon, felbft nördlich des Himalaya, find Gebirge vom 
härteften Granit zu Xempelgrotten minirt, auf Säulen ruhend, von 
weit größerem Umfange, als bie altägnptifhen. Diefe Zempel, mit 
den dazu gehörigen Gebäuden für die Bramanen und bie Gchaaren 
der Pilger, behnen ſich oft eine Stunde und mehr in Länge und 
Breite aus. Die mähtigem Hallen, ſowohl über als unter ber 
Erde, find entweder in Felfenhöhlen, ober von Außen in ben gan: 
zen Felfen gehauen. Es iſt dies nur eine Umbildung ber bor: 
liegenden Steinmaflen, und fo tritt auch hierin noch jene uns 
mittelbare Anziehungskraft der Natur entfchieben hervor, welche 
die Baukunſt noch nicht zu jener höheren Freiheit fich erheben laͤßt, 
die fih erſt die einzelnen Werkftüde fchafft, um dieſe nad 
Willen und Plan zum Ganzen zu fügen. In diefer Architektur ber 
Hindu’s, die nur im Großen Symmetrie und ben Stempel einer 
feierlichen Würde hat, zeigt fi eine vorherrfhende Neigung zur 
Dpramidenform, zum einfahen Bilde des Feſten und auf fi Ru: 
henden ; dagegen iſt die Kunft ber Gewölbe wenig bekannt und nicht 
fehe entwickelt. Tauſende von Figuren, in unüberfehbarer Menge, 
mannichfache Sconen aus den mythiſchen Didytungen barftellenb, find 
in die Wände der Tempelhallen ausgebauen; body auch zu freien, fos 
wohl Eoloffalen als kleineren Bildwerken hat fidy die Sculptur erhoben. 
Ueberali begegnet man jebody vielfachen Verftößen gegen die Anatomie, 
und um fo weniger Eonnte bie Sculptur zur Naturwahrheit gelangen, 
als es ihe nad) dem Geifte der Prieftecherrfchaft nicht um charakteri⸗ 
ftifche Darftellung des Individuellen, fondern um blos fombolifche ber 
aligemeinen Naturs und Gelftesträfte gelten konnte. Daher jene zahl: 
loſe Menge von viellöpfigen und vielarmigen Ungeheuern und Mißge⸗ 
ftalten, wogegen Goethe fein Afthetifches Anathema gefchleubert hat. 
Am Meiteflen unter den afiatifchen Nationen fliehen bie Hindu's in ber 
Malerei zurüd, ob fie gleih im Portrait mit Gluͤck fi verſucht 
haben. Auch fcheint bie Entftehung dieſer Kunft im keine fehr ferne 
Beit zu reihen. Es gilt jeboch allgemein bei den Völkern des Alter: 
thums, daß die Malerei als jüngere Schweſter der anderen Künfte 
erfcheint. Dies beruht wohl nicht bhos auf dem von A. W. Schle⸗ 
gel angeführten Außerlihen runde, weil'man bie Abbildung des Koͤr⸗ 
perlihen auf der Fläche Länger fiir unmöglich gehalten; fondern mit 








552 Kunſt. 


darauf, wiil bie Malerei, vorzu zoweiſe ſubjectiv, zumeiſt der Veran⸗ 

ſchaulichung befonderer Geelenftimmungen dient, während im Alter: 

thume da6 Befondere überhaupt noch meit mehr, als in ber 

muern Beit, im kirchlichen und politifen Gemeinweſen aufge 
fie iſt. 

Saffen wir nun im Ganzen den Geift und bie Wirkungen indi— 
ſcher Kunft in’s Auge, fo If leicht zu bemerken, daß befonders Poefie 
und Architektur ein maͤchtiges Bindemittel für die Nation und zu⸗ 
gleih für die Bramanen, die intellectuellen Urheber der Kunſtwerke, 
ein Mittel bauernder Herrfchaft geworden find. Hat doch die Poefie 
fort und fort die göttliche Abflammung und bie unantaflbare Macht 
der Prieſterkaſte gefeiert! Und wenn Millionen aus ber Maffe des 
Volkes an ber Errichtung ber dem Gultus gewidmeten Bauten Antheil 
genommen, haben fie um fo lieber auch bas Werk ihrer Hände in ges 
meinfchaftlichem Cultus genießen wollen und um fo leichter bie Ge: 
wohnheit diefes Genuffes, fo tie die gewohnte Unterwerfung unter ihre 
Priefter,, von Geſchlecht zu Geſchlecht verpflanzt. Aehnliches gilt nice 
minder von anderen Perioden und Nationen: die Reformation wäre 
früher eingetreten, hätte nicht das Mittelalter mit feinen gothiſchen 
Domen, dem Geiſte, der es beherrſchte, eine Veſte erbaut. Und wohl 
allgemein läßt ſich behaupten, daß ein Volt, das nicht die Kraft zur 
Ausführung von Bauten fühlt, die eine Lange Reihe von Jahren er: 
fordern, in ſich ſelbſt keine Buͤrgſchaft für die Dauer feiner politifhen 
und veligiöfen Zuftände hat; fo dag wohl die leichtere und flädhtigere 
Bauart der jetzigen Zeit mit ein Zeichen iſt, daß wir uns auf einer 
raſch zu überfchreitenden Webergangsftufe befinden. 

GSleich den Hindu's haben die Aegypter die nationale Urfpräng- 


lichkelt ihrer Kunft behauptet. Legt man auch Fein befonderes Gericht 
auf bie von Blumenbac bemerkte Aehnlichkeit der indifchen und 
altägpptifchen Sähädelbildung ‚, fo mwürde ſich doch die Aehnichkeit der 


Kunſt. 553 


(haft aus wenigen, aber fcharf gefchtedenen Glaffen errichtet, bie ſich 
in gemefjenee Ordnung pyramidiſch über einander thuͤrmen, bie fie in 
der Prieſterkaſte ihre Spige erreichen. Und diefe Neigung zur pyrami⸗ 
dalifchen Form und zur Anwendung großer Werkftüde fcheint faft bei 
allen Völkern zum Vorſcheine zu kommen, wo nod bie Geſellſchaft 
ſelbſt in größere Maſſen gegliedert und von einem Prieſterſtande übers 
ragt if. Sie zeigt ſich auch in den Bauwerken der alten Merila: 
ner, und mag felbft in den gigantifchen Mauern und Bauten ber 
Delasger , des Urvolkes von Griechenland, zu erkennen fein, in jenen 
Werken befonderer Art, bie in Hellas pelasgifche, in Italien 
cyklopiſche heißen. Zu den Tempeln ber Aegppter mit ihren uns 
überfehbaren Gäulengängen führen oft lange Reihen koloſſaler 
Sphunres hohe Obelisken ober thurmartige Pylonen erheben ſich am 
Eingange. Alles Gemäuer ift mit Hierogipphen und Sculptur ver 
ziert, ohne den Eindrud der allgemeinen Umriffe des Gebäudes zu 
verbeddien. Aber wenn da und bort die Werke der Sculptur freier und 
tühner bervortreten, wie denn Winkelmann namentlich bie mei⸗ 
fterhaften Xhierabbilbungen rühmt, fo finden wir doch überall jene 
Goͤtter mit XThierköpfen wieder und eine Menge von ungeftalten, oft 
graͤßlichen Zufammenfegungen. Sodann zeigt fich eine gewiſſe Einfoͤr⸗ 
migleit in der Meproduction menſchlicher Geſtalten, weil noch bie 
Sculptur ber Aegypter, eine verfteinerte Dogmenlehre ihrer Priefter, 
bie ſtereotype Verfinnlihung einer für alle Zeiten fertigen Symbolik 
des Goͤttlichen if. Nur in einzelnen Erzeugniſſen nähert ſich bie 
Sculptur der fhönen Wahrheit griehifher Kunft und dies mehr — 
wie, auch die chriftliche Malerei der erften Jahrhunderte — im Aus: 
drucke des Kopfes, als in der richtigen Gliederung belebter und beweg⸗ 
ter Beftalt. In Aegypten, wie in Indien, blieb die Malerei am Wei: 
teften zurück, die ein blofes Anftreihen ohne Kenntniß ber Schattirung 
war und hoͤchſtens durch Glanz und Friſche der Farben fich auszeich⸗ 
nete. Im Ganzen iſt der Charakter aͤgyptiſcher Kunft ein ftrenger 
und feldft düfterer Ernſt. Kannten glei die Aegypter Muſik und 
Zanz, und wiſſen wir von Zeiten, wo Millionen in ausgelaffener 
Sröhlichkeit beifammen warens fo fehienen damit nur einzelne grelle 
Schlaglichter buch den myſtiſchen Iſisſchleier zu fallen, womit bie 
Prieſterkaſte alles Volksleben überfchattet hielt. 

Bon ben meilten anderen Nationen bes alten Afiens und Afrikas 
find nur bürftige Weberlieferungen über Staat und Kunft zu uns her⸗ 
übergebrungen. Wenn uns das hundertthorige Babylon als ein 
großes Viereck, als die erſte regelmägige Stadt befchrieben wird, über 
beffen mächtige Mauern nur der fogenannte Palafl bee Semiramis 
mit feinen hängenden Gärten und die Pyramide ober der Tempel bes 
Belus hervorragten; fo mögen wir in biefer gleichen Beſchraͤnkung 
Aller, gegenüber der Erhöhung von Einzelnen, ein Sinnbild bespos 
tiſcher Gewaltherrſchaft erfennen. Die altperfifhen Städte waren 
mehr Sige der Pracht als der Kunſt. Den Juden hatte ihre Reli: 





660 Kunit. 


Perſonen find, fogar göttlich verehrt; fo daß bas blofe Anhören einer 
SGeſchichte aus diefen Werken Vergebung ber Sünden erwirbt, Die 
gleiche Verwebung von Mythologie und Gefchichte findet ſich in den 
18 Puranas, den mythiſchen Volkslegenden. Auch die Erfindung: bes 
Dramas wird einem göttlich begeifterten Wefen, Bharata, zugeſchrie⸗ 
Darum waren bie Schaufpieler in Indien geachtet, und bas 

—* bildete ſtets einen weſentlichen Theil ber religioſen Feſte. 
Es kam jedoch vom 14. oder 15. Jahrhunderte an in Verfall, und ge⸗ 
genwärtig findet fi nur nod auf den Märkten ein Puppenfpiel her 
umziebender Gaukler. Im Drama, das fo romantiſch ift, wie bas 
Land ſelbſt, häufen fid die Wunder neben ben Treig des ges 


t ber: indiſchen Por ihren —— — — Charakter. 
handelnde Perſonen treten Götter und Goͤttinnen, Helden unb 
Heldinnen neben Kaufleuten, Dienern, Spitzbuben ꝛtc. auf; und eigen: 
thuͤmlich ift, aber aus ben fcharf begrenzten gefelligen Verhaͤltniſſen 
erklaͤrbar, daß nicht blos bie provinziellen, ſondern audy die ftänbifchen 
Unterfchiede durch verfchiebene Dialekte hervorgehoben werden. Der 
Dialog if gewöhnlich Profa, doch find Häufig Iprifche Erguͤſſe in regels 
mäßigen Rhythmen und mit Anwendung aller indifchen Versarten ein: 
geſtreut. Nur die Einheit der Handlung wird beachtet; aber weber 
dur Oct und Zeit, noch durch eime beftimmte Zahl von Acten, denn 
es gibt Stüde von drei, fieben bis zu zehn Aufzügen, laͤßt der Flug 
ber Phantafi e ſich hemmen. Die indiſchen Volkslieder und Volkeweiſen 
athmen eine tiefe Innigkeit. Man hat darum ihre Aehnlichkeit mit 
denen, der Deutſchen hervorgehoben; doch herrſcht darin uͤberwiegend 
die Phantaſie und das Gefuͤhl vor, während ſich im deutſchen Volksliede 
zugleich die mehr nach Außen gewendete Thatkraft und ein dramatiſch 
bewegteres Leben offenbart. Ueberhaupt zeichnet fich die inbifche Poefie, 
bie eine merkwürdige und herrliche Sprache zum Medium bat; bie uns 
tee dem Einfluffe einer reichen Natur auch im Reichthume ber Erſfin⸗ 
dungen ber griechifchen nicht nachfleht und biefer oft felbft in ben 
fhönen Formen nahe kommt, durch einen befonders gigantifähen 
Styl der Phantafie aus, neben einem Zartgefühl für Liebe und 
Schönheit ber Frauen, das fih dem Schoͤnſten aus der roman⸗ 
tifhen Poefie ber chriſtlichen Jahrhunderte zur Seite flieht *). 

Die gleiche fchöpferifche Hülle - einer dichterifh kuͤhnen Einbil⸗ 
dungskraft offenbart. fich in den gigantifhen Baumerken ber Hindu's. 
Bei allen Nationen war - die Religion die‘ Erzeugerin der höheren 
Baukunſt. Sobald erft der Glaube die Welt als das Gebäude 
und bie Werkſtaͤtte eines ſchaffenden Weltgeiftee erkannte, bat er 
die Kunſt aufgerufen, die Idee des Echabenen und ber feften Ord⸗ 


*) Zu vergl: Fr. Schlegel's Philoſophie ber Geſchichte We. I. 
S. 162 ff. 


Kunft. 555 


Sklaven gegenüber, welcher bie gemeinen, mechanifchen Beſchaͤftigungen 
zugewiefen waren; für den Freien eine Gymnaſtik des Geiftes, die ihn 
ganz und voll herausbülbete; demokratiſche Verfaſſungen, von einem 
Semeingeifte befeelt, der jeden Einzelnen als lebend thätige® Glicd mit 
dem Ganzen innigft verfchmolz, ber das Beſte aller individuellen Lei- 
Aungen dem Öffentlihen Leben wibmete; endlich ein Kampf auf 
Leben und Tod mit dem mädhtigften Weiche der Welt und das Voll: 
gefühl ber Stärke, das ber Sieg verleiht — alle biefe geifligen und 
leiblichen Elemente baben fich vielfach durchdringen und verfchmelzen 
müffen, um bem Genius ber griechifhen Kunft die Fackel zu 
zünden. 

Gleich den meiften afiatifhen Nationen hatten bie Griechen eine 
Lange und dunkle Periode der Prieſterherrſchaft. Ihre Mythologie trug 
damals ein ausfchliegend gigantifches Gepräge und den Charakter bes 
Ernſten und Streng, wie es auf ähnlicher Entwidelungsfiufe bei 
den meiften anderen Culturvoͤlkern der Sal war, bei Indern, Aegyp⸗ 
tern und bei den nordifchen germanifchen Nationen. Diefen Charakter 
finden wir noch in dee Goͤtterlehre Hefiod's; er reicht felbft in bie 
Dichteriwerle eines Pindar und Aeſchylos hinein. Die bildenden Künfte 
aber, bie fpäter bei ben Griechen nachahmende Künfte hießen, waren 
in ber erſten Zeit noch fireng an bie religiöfen Weberlieferungen gebun: 
den, fo daß bie Bilder der Dauptgottheiten nach feſtſtehenden Typen 
geformt werden mußten. Hiernach fland noch die Kunſt auf ber Stufe 
bes Handwerks und war erblich in beſtimmten Ständen und Familien 
(Dädaliden), wie auch noch die Wiſſenſchaft eine gefchlofiene Schui: 
und Familienweisheit war (Asklepiaden u. a.). In manden griechi⸗ 
fhen Städten, in Sikyon , Kreta, Argos, Athen bildeten ſich früher 
ſchon zunftartige Kunftgenofienfchaften, die unter priefterlichem Einfluffe 
ftanden. Aber der Uebermacht dunkler Gewalten gegenüber, bie in ben 
Drieftern ihre Vertreter hatten, machte fiy mehr und mehr die Men: 
ſchenkraft geltend, zunddft in den Thaten einzelner hervorragender 
Männer und Familien. Die Helden traten an bie Stelle der Peiefter, 
die fortan den Staat weniger beherrſchten, als ihm dienten; und bie 
Deriobe des Prieftertbums ging almälig in das heroifche Zeitalter 
über. Politiſch -bilbete fi nun bie Ariſtokratie eines heroiſchen Adels, 
die mit ber Herefchaft ber Könige in monarchiſche Spigen auslief. 
Zugleich ging in der Mythologie, darum auch auf: dem Gebiete ber 
Poeſie und unmittelbar der bildenden Künfte, eine wichtige Veraͤnde⸗ 
rung vor. Indem man bie Heroen feierte und unter die Götter ver⸗ 
fegte, wurbe bie Goͤtterwelt finnlich faßlicher und menfchlich heiterer. 
Die epiſche Dichtkunſt brachte fie zuerft, in Verbindung mit ber Volke: 
gefhichte, zur Anfhauung; und fo wurden und blieben Homer’s 
Sefänge die Grundlage aller ſpaͤteren griechifchen Kunſt. Wenn gleich 
die griechifche Mythologie die ganze leblofe Natur befeelt und durch» 
- göttert hat, fo mar doch gerade die höhere Goͤtterwelt nichts Anderes 
als eine Mepräfentantin ber verfchiedenen menfchlichen Kräfte, eine 


556 Kunſt. 


Mich anſchauliche Aualyfis ber menſchlichen Natur In ihrer idealen 
nung. at Götter und Göttinnen eigenthuͤmlich höher 
begabte Menfchen blieben, fo mußte die Kunſt vorzugeweife auf bie 
Darftellung des rein Menfchlichen gelenkt werden und frei bleiben von 
jenem Uebermafe fpmbolifcher Deißgeftalten und heterogener Zufammen: 
fegungen, wie fie bet aſiatiſchen Nationen und bei Aegypten fo häufig 
vorfamen. Endlich Sam felbft die Maſſe bes Volkes zum Seibſtge ⸗ 
fühle ihrer Kräfte: die Könige wurden verjagt und bemokratifche ober 
ariſtokratiſch · demokratiſche Staaten gegründet. War bie Kunft ſchon 
früher Staats» Sache, fo wurde fie fortan in al” ihren Zweigen zur 
eigentlichen Bolt: Sade, und eine weitere und freiere Bahn wurde 
iht geſchaffen. So enbigte mit der Wertreibung ber Könige die lange 
erfte Periode ber Kunft und es trat die ihres wunderbar fchnellen 
Aufbluͤhens ein, befonders von Beendigung ber Perferkriege an bis auf 
Perikies, der freilich kein Bedenken trug, felbft das Geld der Bun- 
deögenoffen Athens auf Prachtbauten und Kunſtwerke zu verwenden. 
In diefe Zeit der griechiichen Freiſtaaten bis zur macedonifchen Unter- 
druͤckung drängt fich eine bichtere enge von ausgezeichneten Feld: 
herren, Staatsmännern und Rebnern, von großen Denkern, Dichtern 
und Kuͤnſtlern, als in Jahrtaufende unfteier Nationen. Endlich bes 
ginnt mit Aleranber dem Großen bie legte Periode ber griechi⸗ 
fen Kunft, wo ſich biefe in weitere Kreife verbreitete und in einigen 
Tpäter reifenden Zweigen vollendete *); auch ſich lange auf ihrer Höhe 
erhielt, während dod ſchon die kuͤnſtleriſche Schöpfungskraft, zugleich 
mit ber politifchen Kraft, mehr und mehr verfiegte. 


Ueberbliden wir nun die Entividelung der einzelnen Künfte und 
ihren Bufammenhang mit dem Politifchen, fo fehen wir ſchon im 
Homer die Vollendung der epiſchen Poefie. Seine Gefänge, an ben 
Volkofeſten von Kitharöden, Rhapſoden genannt, vorgetragen, wur⸗ 
den bald die Grumdlage alles Jugendunterrichts und, wie Überhaupt die 





Kunſt. 557 


Gelehrten*). Diefe Schaufpiele entftanden aus ben Danffeften, worin 
man befonder6 nach ber Weinlefe den Sreudengeber feierte ; fo wie aus 
den Wettkämpfen der Poefie an den großen gemeinfamen Feſten der 
Stiehen**). Der begleitende und richtende Chor war der Mepräfen- 
tant des Volks und die Veranfhaulichung des Volkslebens, auf deſſen 
nur leicht bewegtem Grunde ſich das Schickſal Einzelner dramatifch 
entwidelte. Der erhabene Aeſchylos war ber Erſte, der handelnde 
Perſonen mit vorgefchriebenen Rollen aufftellte. Neben der Tragoͤdie 
bildete fich die alte Volkskomoͤdie aus, welche, bie kuͤhnſten mythologi⸗ 
chen Dichtungen nicht ausfchliegend, in der böchften Sreiheit, in ber 
ſchaͤrfſten und greliften Auffaffung alles Verkehrte und Laͤcherliche zus 
rüdfpiegelte, was in der Volksgemeinde zum Vorſcheine kam. Die 
Mufit, in weiterer Bedeutung alle Mufenkünfte umfaffend, war doch 
vorzugsmeife auch ben Griechen, mie den Neueren, neben der inſtru⸗ 
mentalen Tonkunſt die in Töne. verſchmelzende, Im Belange fich 
darftellende Poeſie. Und wie ale Bildung von der Posfie- ausging, 
fo mußte diefe vor Allem auf. die. Mufit hinfuͤhren. Diefe wurde 
alfo mit des Gymnaſtik die. Grundlage aller ‚Erziehung: -und von 
fo... großer. politifcher Bedeutung, daß wohl Nlaton, mit beſonderer 
Beziehung auf Damon, dem beruͤhmteſten Muſiklehrer zur Zeit. 
des Perikles, behaupten durfte, die Muſik beffelben- Sinne nicht ab⸗ 
geändert werden, ohne bie Verfoffung des Staats felbit zu ändern. 
Uber wie bej den Dellmen ein? allgegenmwärtige Poeſie alles: Leben 
durchdrungen ‚hatte; wie felbft.;die Philafophie auf der alten: Grund⸗ 
lage ber Dichtkunſt ruhen blieb, mit ihter ſymboliſchen Sage und 
Sprache fich befreundete und meift in ſchoͤner, klarer und leben⸗ 
diger Form ſich entwickelte: fo wollte das Ohr des Griechen, an 
rhythmiſches Maß und Wohlklang gewöhnt, dieſen auch in ber 
oͤffentlichen Rede nicht vermiſſen, und ſeldſt die Verhandlungen uͤber 
Angelegenheiten des Gemeinweſens ſollten dem Volke nicht blos 
ein Geſchaͤft, ſondern zugleich ein Genuß ſein. Als ſich nun an 
der Hand der Poeſie und Philoſophie, ſpaͤter freilich auch unter 
dem Einfluſſe der Sophiſtik, die Rhetorik zur beſondern Kunſt und 
zur maͤchtigen Waffe der Politik ausbildete, wurde ſie gleichfalls 
zur Muſik gezaͤhlt und als Gymnaſtik des denkenden Geiſtes in 
die Erziehung aufgenommen. Dieſe Rhetorik gruͤndete ſich mehr 
und mehr auf. alle Staatswiſſenſchaften, fo daß fie ſeit Perikles 
Zeit gleichbedentend, mit: Staatékunſt war ***), 

Die Baukunſt der, Griechen . war nicht mehr in, dem Grabe, 
wie bei Indern und Aegypten, nur auf. Bearbeitung und Auf: 
thuͤrmung ungeheurer Maflen gerichte. Wie in.. ihrer Porfie, fo 


— — un 





*) Schloſſer a a. O. J. 2. S. 18 ff. W. Müller, Homeriſche 
Borſchule ꝛc. 2. Aufl. Leipzig. Brockhaus, 1836. 

*r) Vergl. jedoch Schloffer a. a. O. S. 102 fi. 

“rn, Schloffer a. a. O. ©, 257. 





558 Kunfl. 


haben fie in ihrer Architektur mue einzelne Werke in riefenhaften 
„Maßen gefdjaffen, wie dem Dianentempel zu Epheſos, der, 428 
Fuß lang: und halb fo breit, durch 125 jonifhe Säulen: von 160 
Fuß Höhe getragen und geſchmuͤckt war. Dagegen iſt die griechlſche 
Baukunft - mehe barmonifd gliedernd, mannidjfaltigere Formen in 
Ihönem Ebenmaße verbindend, darum geiftuoller und lebendiger. 
Es iſt nicht mehr die rohere pyramidaliſche Form, bie dem Ra- 
turgefete der Schwere uͤberlaſſene aufgehaͤufte Steinmaſſe, ſondern 
der aus: Pyramiden zuſammengeſette laͤngiiche Würfel, der dem 
ſchoͤnen griechlſchen Tempel zu: Grunde legt, in deſſen Hauptfacade 
ſich das Dieieck mit dem aus zwei Drelecken zufammengefehten 
Vierecke verbindet. Und wenn ſich die Griechen in ihren Säulen 
auf: drei Hauptgattungen beſchraͤnkten, auf die ſchwere doriſche, bie 
fhlante jenifthe ‚und die prochtvoue Eotinthifdhe, fo mag jede biefer 
Gattungen ihre "befondere Heimath :'gehabt und dem ‚Charakter bes 
Velksſtamuies wo fie entftanden, entfprechen haben, während ſich 
die - dreifache Kunft ber verfchiedenen:; Stämme zugleich in Arten 
unb Unterarten‘ gemiſcht und: verbunden. hat. Die unbebeutenden 
Wohnhaͤuſer der Griechen, im Vergleiche:. mit ihren herrlichen oͤffent ⸗ 
lichen Gebaͤuden, -Deisten wieder -Darauf- hin, wie ſehr die Einzeinen 
im Ganzen lebten, wie innig fie mit dem Staate verſchmolzen 
waren. Erſt zur Zeit des Verfalls, als Demoſthenes löbte, 
haben ſich einzelne Buͤrger Haͤuſer erbaut, die mit den ‚öffentlichen 
Gebaͤuden Athens verglichen werden konnten*). Wohl tritt jener 
Gegenfag zoifchen Privatwohnungen und öffentlichen: Prachrgebduden 
auch bei Aegyptern, Inbern"und anderen afiatifhen Nationen here 


vor; aber mas hier die Uebermacht einer Kafte, ober der bößpotifche 
Wille von. Einpeinen der Wollsmaffe abgezwungen hat, iſt bet den 
Griechen die Wirkung eines Gemeingeiftes, ber gerade in der vel⸗ 
ten Freiheit der Gedanken und Empfindungen wurzelt. Die Ans 


Kunſt. 559 


ten Meifter Kunſtwerke erhalten haben; ob nicht gerabe bie ausge: 
zeichnetfien, wie die Gruppe der .Miobe, nur geiſtvolle Gopieen ber 
Urbilder find; auch die Gruppe des Laokoon und ber farnefifche 
Stier find, nah Plintus, in Italien gearbeitet worden. Dom All⸗ 
gemeinen zum Beſonderen fchreitend,. hatte die griechifche Plaſtik, nach⸗ 
dem fie exſt die Feſſeln des prieflerlichen Zwanges abgeflxeift, zundchft 
und zumeiſt die Darftellung folcher Eigenfchaften zum Gegenftanbe, bie 
das ganze Dafein und Leben des Menfchen durchdringen, und darum 
in der ganzen Geflalt und Haltung, nicht blos vorzugsweife in den 
Gefichtszügen, ſich abprägen. So hatten fich denn Hohelt und Würde, 
ruhige Weisheit. und finnlihe Hingebung, Kraft und Anmuth in den 
erften Werken ber griechifchen Bildner verkörpert. Phidias, der Mei⸗ 
ftee des Hohen und Großartigen, fein Zeitgenoſſe Polyklet, ber 
Meifter. in den Proportionen und in der. Schönheit jugendlicher Bil⸗ 
dung, brachten in diefer Richtung :bie Kunft zur Vollendung, nachdem 
fhon vor ihnen über hundert Künfkter genannt. werden und gefchaffen 
hatten. Die Sculptur zu: immer. größerer Freiheit führend, hatte . 
Praxiteles zuerſt nad) allen "Seiten. hin ‚vollendete Statuen ausge: 
führt. Dann fügte die Kunft zum Ausbrude ber Schönheit den ber 
LZeidenfchaft, welcher ewig wahr, mei. er fih immer wiederholt, doch den 
Moment einer befonberen Erregung feſthaͤlt und wiedergibt. . So 
wird die Gruppe der Niobe dem Praxiteles oder mit noch mehr 
Wahrſcheinlichkeit dem faſt hundert Jahre nach ihm lebenden Sko⸗ 
pas zugeſchrieben. Endlich und zuletzt trat die Kunſt in bie Sphäre 
des Indivßduellen ein, indem fie im Portrait aus Stein und Erz den 
charakteriſtiſchen Unterſchied des Einzelnen vom Einzelnen, das eigen: 
thuͤmlich Geiſtige und Seeliſche nachbilbete. Als der Erſte für dieſe 
Stufe ber Entwidelung gilt &pfipp os, der in Alerander' 8 Marmor: 
bild ein. Meiſterwerk ſchuf. Die Sculptur liebt bie mehr ale lebens: 
geoßen Darfellungen, und Schlegel bemerkt richtig, bag hier, wo es 
auf Hervorhebung ber Form ankomme, in den größeren Dimenfionen 
der ſicherſte Prüfftein für das rechte Cbenmaß und bie verhältnißmäßige 
Durchgliederung liege. Doch muß das Auge das Ganze erfaflen und 
in eimem Ueberblide fefthalten können, ohne genöthigt zu fein, nur 
in ber Bstrachtung von Einzelnem ſich zu zerftceuen. Daher achteten 
die Griechen .forgfältig auf den Stanbpunct, von bem aus ihre Kunſt⸗ 
werte ben Befchauenden in’s Auge fielen. Nah und nad. flieg ihre 
Plaſtik, mit dee größeren technifchen Fertigkeit in ber: Behandlung bes 
Stoffs,.zu Immer Bleineren Dimenfionen herab. Dieſes iſt in höherenr 
Grade der: Malerei . geftattet, die mit ihren Farben, Lichtern und 
Schatten das an Feine Maffe gebundene Seelenieben abfpiegelt. Wo 
aber der Geiſt eben durch den Körper zum Geiſte fpricht, mie in ber 
aud dem Zaftfinne ſich darflellenden Sculptur, ba foll das Kunſtwerk 
der natürlichen Größe feines Gegenftandes nicht allzu ferne ſtehen. 
Das allzu Kleine wird hier leicht zum Kleinlichen, und die Miniatur: 
plaftit kann wohl noch einen gefälligen, aber kaum mehr einen erheben- 


seo ‚Kunft. 


den und begeifleenden Eindruck machen. Auch fallen jene Bleineren 
Arbeiten ber Seulptur, die Gemmen, Paſten x., wenn gleidy in ber 
Ausführung oft zum Moßendetften griechiſcher Meiſter gehörend, faſt 
durchweg ſchon in die. Periode der abfleigenden Kunft. tie überhaupt 
die Griechen mit ſicherem Naturtacte flets das einfachfte Wittel zum 
Zwecke zu ergreifen mußten; fo haben fie auch das Natürliche in 
der Kunft erfaßt und biernach jede befondere Kunft in ihrer eigen- 
thümlihen Sphäre zu halten gewußt. Namentlich haben fie. im der 
Geulptur, wo es um bem reinen Ausbrud der Geftalt gilt, im Gegen⸗ 
fage mit Chineſen und anderen aſiatiſchen Nationen, auf bie nur 
fiörende Sarbengebung verzichtet. : Nur ihre Bötterjünglinge und Jungs 
frauen, Bacchus, Apoll, Hermes, Venus, die Grazien, haben fie uns 
betleider bargeftellt; dagegen alle diejenigen befieidet, wo «8 Alter 
und Würde zu.fordern fchienen, einen Beus;: Neptun, Aesculap, eine 
Pallas, Diana, Juno u. A.“) .Auqh hierin bat fie jener richtige 
Sinn für bie. Natur geleitet, die mur.bie Blüche nackt erfcheinen läßt, 
während fie das reife Fieiſch ber Fruct in die Schale -einhält. 

- Bon ber Mulerei:.der Sriechen, bie einen ganz ähnlichen Bil: 
dungsgang tie bie Plaſtik nahm, mamentlid) von den Werken ber ber 
ruͤhmteſten Deifter, ..Dolpgnotse, Beuris, Parchafios, 
Apelles, if wenig: oder nichts..auf die Nachwelt gelommen. Gpds 
ter jedoch auf. dem. Boden Italiens verpflangt, find die beſonders im 
Rom, Hereulanum und Pompeji aufgefundenen Gemaͤlde ein Zeugnif, 
wie bie Hellenen auch darin alle früheren Nationen überragten. Das 
im Detober 1830- zu Pompeji entbeckte Moſaikgemaͤlde, Alerander’s 
Sieg gegen die Perfer, nannte Goethe ein Wunder der Kunfk, ein 
Höhenmaß für: die Vortrefflichkeit griechiſcher Malerei. Doc iſt das 
Bild ohne alle Ferne, ‚mit bloſer Andeutung eines Hintergrunde, und 
bei allem lebendigen Ausdrude in den Figuren ſcheint es an :einer ger 
naueren Abftufung der Farben nach den Gefehen ber. Zuftperfpective 





Kunſt. 561 


an jenen großen gemeinſamen Feſten der Griechen hervor. Dieſe wa⸗ 
ren das wichtigſte, ja faſt das einzige Band, das ſie zugleich politiſch 
verknuͤpfte, ein leichtes Gewinde von Blumen, ſtatt der eiſernen Zwangs⸗ 
kette des Despotismus. Rechneten doch die Griechen nach Olympia⸗ 
den ihre Zeit, und hatten doch die Volksfeſte, ſelbſt waͤhrend der Greuel 
des peloponneſiſchen Buͤrgerkriegs, alle Staͤmme friedlich vereinigt! 
Auch alle bildenden Kuͤnſte traten vor die Augen des Volks in das 
oͤffentliche Leben hinaus, und ſchon im Entſtehen begleitete die allge⸗ 
meine Theilnahme jedes werdende Kunſtwerk. So war das Volk ſelbſt 
ein Mitſchoͤpfer dieſer neuen und ſchoͤneren Welt, die ſich aus ſeinem 
Schooße gebat. Und wie es in ſeinen politiſchen Angelegenheiten Ge⸗ 
ſetzgeber war, wie aus ſeiner Mitte die richtenden Gewalten hervorgin⸗ 
gen; ſo war es zugleich Geſetzgeber und Richter im Gebiete der Kunſt. 
Freilich fehlte es auch dort nicht an Splitterrichtern und Afterrichtern, 
und der lautere Geſchmack war nicht uͤber die ganze Maſſe gleichmaͤßig 
vertheilt. Aber doch konnte die Naturgabe des feineren Kunſtſinns, 
wo ſie nur irgend ſich fand, im freien Genuſſe der umringenden Mei⸗ 
ſterwerke, im ungehemmten Umlaufe und Austauſche der Gedanken 
und Gefuͤhle ſich entwickeln, ohne an das Monopol einer beſonderen 
ſtandesmaͤßigen Cultur gebunden zu ſein. So war denn alle Poeſie 
der Griechen im eigentlichſten Sinne Volks⸗Poeſie, was fie in unſerer 
Zeit nur zum Meinften Theile iſt; und alle Kunft, in der fortdauernd 
allgemeinen Wechfelmirtung bes Erzeugens und Empfangene, mar 
Sache des Volks. Nur weit fie diefes war, konnte fie werden, was 
fie geworden; und well es jetzt anders ift, ftehen die griechifchen Vorbil: 
der In den meiften Verzweigungen der Kunft als unerreihte Mufter 
de. Aber wenigftens meif’t ihre Gefchichte auf die Bedingungen hin, 
die auh im Politifchen erſt gewonnen fein müffen, um der Kunft 
ein meites und reicheres Selb zu erobern. Und fo mögen mir denn 
mit aus diefer Urfache uns freuen, wenn mir felbft feine Griechen 
fein koͤnnen, daß es einmal Griechen gegeben hat*). 

In ihrer Reife wurde die griechiſche Kunſt durch Aleranber 
nad) Aegypten und Syrien, an die Ufer des Nils und Euphrate, vers 
pflanzt, wie fie ſich ſchon früher, meift ducch friebliche Eroberung und 
zugleich mit der griechiſchen Sprache und Nationalität, in Kleinaften 
und in Italien angefiedelt hatte. Unabhängig davon und früher als 
in Hellas, hatte jedoch in Stalien das Bundesvolk der Etrusker 
eine Kunft entwidelt, weiche, obaleich nicht bie Höhe der griechifchen 
erreichend, boch eine reiche Mannichfaltigkeit fchöner Formen offenbatte. 
Auch beweif’t ſchon bie Fertigkeit, welche bie Etrusker von rohen Ans 
fingen aus in der Behandiung des Marmors erlangten, was durch 
Generationen hindurch eine Kolge von Meiftern und Schülern, eine 
ununterbrochene und von keiner Willkuͤr zerriffene Kette der Fortbildung 
vorausfegt, daß die Kunfl aus dem Volksleben ſelbſt entfprungen und 


*) Herber’s Ideen zur Philoſ. der Geſch. der Menſchh. III, &. 192. 
©taats  Leriton. IX. 36 





| . 


562 Kunſt. 


vom Staate getragen und geſchirmt war. Wie in Griechenland hatte 
ſich bei den Etruskern die Religion in den Staat verwebt, ohne daß ihn 
“eine Prieſterkaſte despotiſch beherrſchte. Zugleich mußte die Gliederung 
bes etruskiſchen Staatenbundes ben Wetteifer wecken und aus innerer 
Kraft in Dandel, Kunft und Wiſſenſchaft mehr eine organifche Entfals 
tung, als einen blos mechanifchen Fortſchritt erzeugen. Aber im Nor⸗ 
den fort und fort von rohen Völkern beftürmt, auf der andern Seite 
von den Römern bedrängt und enblid überwunden, konnte ſich doch 
die Kunft Etruriens, diefer zweiten Pflanzftätte ber europäifchen Cul⸗ 
tur, wie e8 Herder genannt, nit zur freien, beiteren und fiege®- 
frohen Lebensanſchauung ber griechifchen erheben. Der Charakter ders 
felben blieb ernft und ſtreng, mie bei ihren Ueberwindern, beren erfte 
Lehrer die Etrusker geworden find. 

Die weithiftorifhe Aufgabe ber Römer war es, das morſch 
getoordene Gebäude ber alten Welt zu zerbrechen und auf weitem Felde 
mit dem Schwerte die Suchen zu ziehen, in die fich der zerftreute 
Samen früherer Jahrhunderte barg, um endlich zu neuen Saaten zu 
reifen. Was die unermüdlichfle Ausdauer, ber kalt erwägende Vers 
ftand, der einfchneidende und zergliedernde Scharfſinn in der Unter 
werfung, Anordnung und fihtenden Auseinanderlegung aller Verhaͤlt⸗ 
niffe des äußeren Lebens erreichen konnte, dieſes Alles haben die 
Nömer zu Stande gebracht. So haben fie ein Rechtsgebaͤude errich 
tet, das mit feinem taufendfachen Fachwerke dennod, das Erzeugnif 
einer eifernen Conſequenz war; ob e8 gleich, in einzelnen Theilen ver» 
fhüttet, für ſpaͤtere Nationen ein Labyrinth mit zahliofen Schlupf 
winteln geworden iſt, woraus es fchiwierig wurde, wieder den Aus: 
gang in das friſche Leben zu finden. Aber bie heiter fchaffende Kunſt 
ift den Römern lange fremd geblieben und nie ganz heimiſch bei ihnen 
geworden. Selbſt in ihrer Politik und Geſetzgebung, wo fie nie jenen 
raſchen Eingebungen wie die Griechen folgten, bemerken wir einen 
durchweg feften, aber zugleich bedäcdhtig fortfchreitenden Bang; wähs 
end die Geſetzgebung eines Solon und Lykurg, glei, einem in Bes 
geifterung empfangenen Werke der Kunſt, als ein Ganzes mit einem Mal 
in’s Dafeln tritt. Wie der Charakter des Volkes, fo war ber roͤmi⸗ 
ſche Götterdienft ſelbſt in fpäterer Zeit einfacher, rauher und ernfter, 
minder entfaltet und weniger reich al& der griechiſche. In feiner flols 
zen Genuͤgſamkeit bat ber Mömer fich felbft in feiner ewigen Stadt 
vergättert und feiner eigenen Kraft Altäre errichtet. Sein hoͤchſter Bes 
ruf war der Krieg, fein hoͤchſtes Biel der Eriegerifche Ruhm; feine 
hoͤchſte Poefie der Genuß des Gieges und des Ruhmes im Triumphe; 
fein tiebftes Schaufpiel das Bild bes Krieges im Circus, wo unter 
dem Beifalle bes Volkes der kaͤmpfende Gladiator mit Würde und 
Anftand fiel und flarb. Darum hatten bie Römer früher eine Ges 
ſchichtſchreibung ale Dichtkunſt, bie fid) bauptfächlich erſt als fpät ges 
teifte Zierpflanze um den Stuhl der Imperatoren fchlang und in ihren 
beften Erzeugniffen nur ein ſchwacher Nachklang der griechiſchen blieb. 


Kunſt. 5603 


Nur in ihrer Baukunſt, ihren Amphitheatern, Triumphboͤgen, Baͤdern 
und Denkſaͤulen, wo ſie ihre Prachtliebe zeigen und die Macht der 
Weltuͤberwinder zur Schau ſtellen konnten, waren ſie groß und eigen⸗ 
thuͤmlich. Ihre Sculptur aber blieb ſelbſt zur Zeit ihrer hoͤchſten 
Bluͤthe unter den Antoniern eine Nachahmerin der griechiſchen, und 
Sklaven oder Freigelaſſene aus Hellas oder Kleinaſien waren ihre 
Bildhauer oder Maler, oder doch die Lehrer ihrer Kuͤnſtler. Sowohl 
Roͤnter als Griechen hatten alſo Staat und Kunſt auf die Sklaverei 
gegründet; dieſe aber, um fi) von deggunit beherrfchen, jene, um 
fie fi dienen zu laffen. 

Eine neue Zeit hat ſich aus dem Schooße bes Chriftenthums ge⸗ 
boren. Aber Sahrhunderte hindurch dauerten bie Schöpfungstage der 
cheiftlichen Voͤlkerwelt, und ehe fich aus den wilden Waffern ein feſter 
Boden für die Künfte hervorhob, Puchten fie Shug und Schirm 
unter dem Schwerte ber Araber. Aus bem Grunde einer herrlichen 
Sprache, die Herder ber griechifchen zunaͤchſt geftellt, entmidelte die 
Poeſie der Araber, in dem Maße, wie ihre politifche Bedeutung flieg, 
einen wachſenden Reihtfum. Nur bis zur geiftigften Bluͤthe, zum 
Drama, hatte fie ſich nicht entfalten innen. Die Baukunſt der 
Araber bildete ſich nad) der byzantinifhen, die inzmifchen aus den Bes 
duͤrfniſſen des cheiftlichen Gottesdienſtes entfprungen war, jebody mit 
größerer Mannichfaltigkeit der Formen und mit reiherem Schmude in 
den Verzierungen. Beſonders hinterließ fie in Spanien ihre Denkt: 
R 7 wo vor Allem die Alhambra bei Sranada hervorragt, und mo 

Jahrhundert ihrer Pracht von der Mitte des 8. Jahrhunderts bes 
ginnt. Aber das Schwert der Chriften und Osmanen fällte zugleich 
den grünenden Baum, und nach fchneller Bluͤthe und raſchem Verfalle 
trat im weiten Umkreiſe mobamedanifcher Völker die Erftarrung noch 
früher im Gebiete der Kunft, als im politifchen Leben em. Nur bie 
Poefie hatte ſchon frühe und vor Mohamed in Perfien eine 
begünftigende Heimath gefunden. Noch jest find Hier die Dichter mit 
großer Achtung behandelt und alle Stände, mit Ausnahme der unters 
fin, mit ihren Werken wohlverteaut. Ueppiger, fanfter und fröh> 
licher, als die arabifhe Dichtkunſt, Hat die perſiſche doch ſtets mit 
biefee in naher Verbindung geftanden. Unter den Tuͤrken dagegen bat 
fie erſt fpärer, zur Zeit des Wachſsthums und auf dem @ipfel ber 
osmanifhen Macht, einige üppige und biüthenreiche Zweige getrieben. 
Wie überhaupt den Drientalen eine befondere Prachtliebe eigen ift, fo 
ſcheint diefe auch in Muſik und Gefang hervorzutreten. Die in unfes 
tee neueren Oper fo vorherrfchende Verzierung des Gefanges findet 
man als vollsthümlih in den Nationalliedern ber Tuͤrken und in 
denen ber vielfach orientalifirten Meugriehen, alfo, baß Im tuͤrkiſchen 
und neugriechiſchen Volksliede, im befonderen Gegenfage mit dem deut⸗ 
fhen, der Zact oft völlig verwifcht if. Außer den Arabern haben 
bie islamitiſchen Völker in der Architektur nichts Großes geleiftet, wenn 
auch hier und da Prachtvolles, wie in Bochara, Samartand und einis 








564 \ LKunſt. 


gen anderen Städten des Orients. In Seulptur und Malerel hat 
ihnen der Koran felbft, wie ben Juden das moſaiſche Gefeg, den Weg 
verſperrt. Mohamed hatte gedroht, daß die Maler im kuͤnftigen 
Leben für die Seelen ihrer Bilder einzuftehen hätten. Ein Blumen 
ſtrauß, ein buntgefiederter Wogel, eine artige Arabeske ift darum Altes, 
wohin das Talent des türkifchen Malers reicht; und wenn ſich in neues 
ter Beit die Perfee mit mehr Eifer auf die Malerei werfen, fo iſt⸗ die ⸗ 
ſes für die funnitifhen Tuͤrke Grund mehr, ihre ſchiltiſchen Geg⸗ 
ner als Keger zu haſſen. X%ı nt der Türke Fein Schaufpiel, und 
mas man zum Erſatze deffelben findet, iſt etwa ein chineſiſches Schat⸗ 
tenfpiel mit lasciven Worftellungen, oder hoͤchſtens ein Poſſenſpiel, 
wie es bei Feſtlichkeiten im Harem die Sklavinnen vor dem Sultan 
aufführen. 

Das griechiſche Kaiferreich in feinem langen Verfalle konnte nur 
die überlieferten Schäge der claſſiſchen Dichtkunſt feſthalten und bes 
wahren. Um fcyöpferifch zu fein, muß ſich bie Poefie entweder von 
einer reihen Vergangenheit gehoben fühlen, die noch mit lebendiger 
Wirkung in bie Gegenwart hineinceicht, oder fie muß in Mitte der 
ſchwellenden Keime eines neuen Voͤlkeriebens den Glauben an eine Zus 
kunft im Herzen tragen. Aber im Geruche der Verwefung, bie ein 
fittenfofee Hof mit Glanz und Pracht vergebens zu verſtecken ſuchte, 
mußte fie ermatten und erfliden. Darum hat im byzantinifchen 
Reiche die Poefie, fo weit fie noch durch das betäubende Gezaͤnke der 
hriftlichen Theologen durchdringen fonnte, nur Scheinbilder des Lebe ch 
nur ſchwache Nahahmungen Älterer Mufter erzeugt. Aber an ben 
Ufern des mittellänbifhen Meeres, im ſchoͤnen Garten der Provence, 
folte fie eine neue Heimath finden. So führt une nun bee Bildungs» 
gang der Künfte in die abendlaͤndiſch- hriftlichen Staaten. Für diefe 
fchließt ſich die Betrachtung am Natuͤtlichſten an die drei großen Ver⸗ 





Kunfl. 565 


den Troubabours mar reine Naturpoefie, ein ernfthaftes Spiel mit Wors 
ten, Zönen und Gefühlen, wie e8 auc die Kinder mit ihrem Spiele 
ernftlih meinen. Schon im 11. und 12. Jahrhunderte hatte dieſe 
Poeſie zugleich mit der provencalifhen Sprache ihre fchönfte Entwicke⸗ 
lung erreicht, da fi) das Gaftilianifche, Nordfranzöfifhe und Stalienis 
ſche erſt zu bilden anfingen. Sie erhielt fi, bis im Anfange des 13. 
Jahrhunderts der unfelige Kreuzzug gegen die Albigenfer die zarte 
Blüthe zertrat und das Schickſal der Provence enger mit dem bes noͤrd⸗ 
lihen Frankceichs verfnüpfte. Im neuen Fruͤhlinge des eueopäifchen 
Voͤlkerlebens waren diefe Troubabours die Nachtigallen: fie fangen rtur, 
fo lange fie liebten, und ihe Geſang verflummte, als der Ernſt bes 
Lebens das heitere Spiel ſtoͤrte. 

Dom Bufen des mittelländifhen Meeres aus hatte fich bdiefe 
Poeſie durch die wandernden provencalifhen Sänger auf der einen 
Seite über einen Theil von Norditalien, auf dee anderen über Cata⸗ 
lonien und Arragon verbreitet. In Stalien, wo viel in provencalis 
fher Sprache gedichtet wurde, herifchte fie bis in's 13. Jahrhun⸗ 
dert. Nur im poetifhen Süden, in Sicilien, entwickelte ſich frühe, 
zum Theil unter der Pflege Kaifer Friedrich's II. (1198—1212), eine 
eigenthuͤmlich italieniſche Dichtlunft. Ihre Quelle verfiegte jedoch mit 
Ende des 13. Jahrhunderts, und an ihrer Stelle erhoben fih nun in 
Bologna, bauptfächlidh aber in Florenz und anderen Städten Zoscas 
nas, bie eigentlichen Begründer der national=italienifhen Poefie, waͤh⸗ 
rend die anderen Länder Europas kaum noch einen Dichter aufzumels 
fen hatten. Wenn darin von Anfang an, dem Geifte bes Ghriftens 
thums gemäß, der romantifche Charakter der neueren Dichtkunſt 
überroiegend hervortritt, der nicht blos am ſinnlich Anſchaulichen fich 
genuͤgen läßt, fondern im irdiſch Großen und Reizenden zugleich die 
übericbifhe Sehnſucht befriedigen will, fo ift die Erfcheinung eines 
Dante (geb. 1265), der ohne Vorgänger und Nachfolger war, um 
fo merkwuͤrdiger. Erreichte er doch in der plaftifhen Zeichnung feiner 
Geftalten die größten griechifchen Meiſter, während ihm eine roman» 
tifhe Phantafie den vollen Reichthum ihrer Farben reichte und ihn die 
Scholaſtik feiner Zeit mit ihren fchärfiten Verſtandeswaffen, mit al’ 
ihren Formen, Diflinctionen und Spisfindigkeiten ausgerüftet hatte. 
Seine göttliche Komödie, von einer politifch feften, ghibellinifch ſtren⸗ 
gen Gefinnung erzeugt und getragen, war bie lebendigſte Abfpiegelung 
des großen Kampfes der geiftlihen und weltlichen Gewalt; und mie 
Dante zugleich, dee Schöpfer der neueren italieniſchen Sprache ges 
worden iſt, fo hatte ihn auch Stalien geehrt, faft wie Griechenland 
feinen Homer, und für die Erklaͤrung feines Werkes eigene Lehrftühle 
errichtet. Dante hatte einige bedeutende poetifcye Zeitgenoffen. Nach ihm 
entridelte befonders Petrarca, duch feine Iprifche Poefie, die volle 
Schönheit und Darmonie der Sprache, und hatte ein Heer von Nach⸗ 
folgen. Reich war das 15. Jahrhundert an Dichtern und Dichterins 
nen; das 16. begann mit dem „göttlichen Arioft, und noch einmal 





u GT 


ſtrahlte die alte Romantik mit Taffo im vollen Glanze auf. Aber 
bereits vor Arioſt, im 15. Jahrhunderte, hatte der Geſchmack an der 
Ironie in ben Ritterepopden begonnen, und diefe verneinende Richtung 
führte auf andere, abwärts gehende Wege. Schon in ber 2. Hälfte 
des 16. Jahrhunderts begann der Verfall, und vom 17. an bi in die 
neuere Zeit kam nur wenig Volmwichtiges zum Vorſchein. Won der 
reichen, wohlklingenden Sprache , von der leichten ſinnlichen Erregbar⸗ 
keit des Staliener6 und feiner lebhaften Phantafie unterftügt, unter 
der befonderen Pflege mehrerer Höfe, entwickelte ſich aud frühe bei 
Männern und Frauen das Talent der leichten poetifhen Improvifas 
tion; zuerſt durch die provencaliſche Poefle, dann in latelnifcher und 
italienifcher Sprache. Diefes Talent, das ſich hauptſaͤchlich in Toscana 
und Venedig, namentlich in Siena und Verona, fortgepflanzt, ift ben 
Statienern, naͤchſt ihnen den Spanien, noch jest vor anderen euros 
päifhen Nationen eigen*). 

An Spanien blühte ſchon zur Zeit der Troubadours bie catas 
loniſche Mundart, und am Früheften hatte fi) bier der limoſiniſchen 
Dichtkunſt eine eigene, national » romantiſche gegenübergeftellt. Das 
politifche Uebergewicht Caſtiliens machte dann bie caftilianifche Sprache 
und Poefie zur herefchenden. Diefe Sprache, mit Ihrer flolgen Pracht 
und Würde, ihren Affonanzen und mwohlflingenden Reimen, war vor 
Allem für den Dichter ein Element, worin er, was feinen Geiſt be— 
wegte, voll und rein ausathmen konnte. Darum wurde bier Alles 
zur Poefie, und kaum ift eine andere Nation reicher an dichterifchen Er— 
zeugniffen und ärmer an Werken der geiftlichen und weltlichen Beredt⸗ 
famkeit. Das Aufbtühen der ſpaniſchen Dichtkunſt beginnt, faſt gleich⸗ 
zeitig mit der italienifhen und nach bem Ende der provencalifchen, in 
der Mitte des 14. Jahrhunderts. Sie hebt mit einer Fülle von Ros 
manzen, mit lyriſch⸗ epiſchen, kindlich poetifhen Erzählungen von rit⸗ 





Kunſt. 567 


Mittelalters gefuͤhrt hatte; ſo trat in Spanien der Vollender der ſpa⸗ 
niſchen Proſa, der unvergleichliche Cervantes (geb. 1562) als ein 
zue Vergangenheit redender Prophet der Zukunft auf, um über das 
Mitterthum lachend den Stab zu brechen. Mit der politifchen Bebeus 
tung Spaniens ſank dann auch ſeine Poefie, und mit der Herrſchaft 
bes feanzöfifchen Regentenſtammes begann die Despotie bes franzäfis 
fhen Geihmads. — Portugal, das ſchon feit dem 12. Jahrhun⸗ 
derte ein eigenes Königreich bildete, hatte fich, der Verbreitung bes 
Caſtilianiſchen gegenüber, feine befondere Volks⸗ und Schriftfpradhe ers 
halten. Auch die portugiefiihe Poefie, voll Glanz und Gefühl, vol 
Mürde, Geift und dramatiſchem Leben, erreichte ihren Gipfel mit und 
durch die Heldenzeit der Portugiefen: Camoens Luifiada erfchien 
1572 In ihrer erften Auflage. 

In Frankreich Hatten ſich der Iprifchen Poefie der ZTroubadours 
die bauptfäkhlih aus der Normandie ausgegangenen Trouveres, mit 
ihrer mehr epifhen Dichtlunft, erſt zur Seite geftellt und fpäter jene 
verdrängt; indem ſich der Morden Über den Süden, die nordfrangds 
fifhe über die provencalifhe Sprache das Uebergewicht erfämpfte. 
Doch mit dem märmeren füdlihen Elemente noch gemifcht und zus 
gleich von den Kreuzzuͤgen her mit morgenländifhen Sagen und Phans 
tofieen erfuͤllt, war die galante Ritterlichkeit, die gern ſich brüftende 
Tapferkeit und fröhliche Geſchwaͤtzigkeit ber Franzoſen in einer Menge 
von contes et fabliaux, von NRitterromanen und Ritterepopden zum 
Vorfchein gekommen. Frankreich wurde für die übrigen Nationen ein 
Spiegel der Chevalerie, weil es die Blume derfelben erzeugt hatte. 
Aber wo biefe am Fruͤheſten ſich entfaltet, follte fie am Erſten verbluͤ⸗ 
ben. rüber als Cervantes in Spanien, bielt Rabelais mit feinem 
fatyrifchen Romane, in ber erflen Hälfte des 16. Jahrhunderts, dem 
fcheinbar Großen feines Volks und feiner Zeit den verkleinernden Spies 
gel vor. Dann flüchhteten ſich die Ideale für eine Zeit lang in bie 
Schäferromane, nad dem Vorbilde der fpanifchen. Inzwiſchen hatte 
fi) die Monarchie am Erſten in Frankreich auf Koften der Vafallen 
befeftigt und den ganzen Staat in einem centralificenden Mittelpunct, 
in das nord frangäfifhe Paris, zufammengedrängt. Wie e6 kein dfs 
fentliches Volksleben mehr gab, nicht einmal in offenen Partels 
kaͤmpfen, und alles Höhere in ber Gefellfchaft unmittelbar an den 
Thron ſich anſchloß, fo trat diefelbe Spaltung in ber Poefie hervor. 
Die fogenannte höhere Dichtkunſt trat in den Dienft der Monarchen. 
Weit fie. damit ganz und gar vom Volkéboden ſich losgeriffen, fuchte 
fie in der Vergangenheit, unter Griechen und Römern, ihre Dufter 
und kam im Gegenfag gegen bie frühere Romantik in eine unmahre, 
franzoͤſiſch⸗ antikiſirende Richtung hinein. Dieſes tritt ſchon in Cor⸗ 
neille (geb. 1606) hervor, wenn auch feine Charaktere noch energi⸗ 
ſcher gehalten find, und in kuͤhnerer Sprache noch bie Leidenſchaft mit 
dem conventionellen Anflande ring. In Racine (geb. 1639), ber: 
mit feiner geglätteten Sprache mehr für das feine Ohr des Hofmannes, 


568 Kunfl. 


als für Gelſt und Herz ber Nation geſchrieben, hat biefes 
tionee ſchon überwunden. Er ſcheint in feinen Dramen ben 
menſchlicher Leidenfchaft aur noch zu öffnen, um daraus ein 4 
tes Kunſtfeuerwerk hervorſteigen und am Schluſſe den Namen Lost 
XIV. im Brillantfeuer leuchten zu laſſen. Schon an ſich war dit 
eine Vericrung ber Poefie, wenn man fie gleich als eine glängenh, 
Einfeitigkeit gelten laſſen mag. Auf der anderen Geite blieb be; 
Volke, dem mit feiner unverfieglichen Lebenstuft bie engften Kreife da. 
Wirkens und Genießens zugeroiefen waren, kaum etwas Anderes, ah 
das Leichte Lieb, die durch und durch frauzoͤſiſche Chanſon. Dok: 
mug man auh Moliere, wenn er gleich bem Hofe nahe fand, 
da er gerade aus jenen engeren Kreiſen des gewöhnlichen Lebens feine 
ſtets wahren und ergöglihen Charakterſchilderungen nahm, als eigent- 
chen Volkedichter von immer geltendem Werthe bezeichnen. Vol: 
taire dagegen und bie ihm gleichſtrebenden poetifchen Zeitgenoffen 
trugen mit herkoͤmmlichem Anftande die am Hofe gefepmiebeten Feſſeln 
eines abſolutiſtiſchen Geſchmacks. Aber fie haben wenigftens ſchon in den 
Feſſeln des Kerkermeifters gefpottet und ben endlichen Beginn des gro 
Sen Dramas der Revolution mit Ziſchen vorausverkuͤndet. Diefe 
beſchraͤnkende Abgemeffenheit ber früheren fcangöfiichen Poefie, die ihre 
Hippokrene nur in flache Gefäße ſchoͤpfen durfte, mußte freilich) auch ö 
ihre Klarheit bedingen, fo da Voltaire ganz allgemein fagen fonnte, : 
„was nicht Mar iſt, iſt nicht franzoͤſiſch.“ 

Die Stimme iſt der unmittelbarfte Ausdruck der Stimmung. 
Die Mufit, die Kunfte Sprache der Seele, des Gemuͤths oder des zu 


Muthe Seins, ift bie thythmiſch fid, gliedernde Empfindung, die 
in ber Melodie ihren zeitlichen Zortgang, in ber Harmonie den 
Ausbrud ihres Umfanges hat. Sie ift in ihrer allfeitigen Ent» 
widelung eine Acht chriſtůche Kunſt. Iſt doch ſelbſt die Idee der chriſt⸗ 
lichen Liebe die eines hatmoniſchen Zuſammenklanges der Empfindungen, 
wie der chriftliche Glaube die Erhebung ber Seeie aus dem Zeitlichen 








' Siepenfigie; ned Ger or der Große. ſchen ine 6. Jchchunberte 
die alten griechiſchen Tonarten vermehrt, dene von Arezzo im 
11. die Rotenfchrift vorbereitet, indem er die alte Rummerfchrift mit 
den Linienfpfleme nach den Grundſaͤten, bie heute noch gelten, vers 
band, und fi im 13. Jahrhunderte in Stalin die Menſurqlmuſik 
verbreitet hatte. Im 14. und 16. Jahrhunderte vermehrten und’ vers 
vollommmeten fich in italien bie Inftrumente. Das 15. und 16., 
weiches letztere ausgezeichnete Touſetzer (Paleſtrina u. U.) und Saͤn⸗ 
ger erzeugte, war bie Zeit des einfach großen Kirchengeſanges, neben 
einer Reihe von Nationalgeſaͤngen, Belonders in Rom und Neapel, 
dann burch ganz Stallen, wurde "bie Tonkunſt enthuſiaſtiſch getrieben. 
Fur den — ermaͤchtigte ein —— Breve (eh zu Ga 
ftrationen ad honorem Dei, Wie fig aber mit ber Reformation, bes 
ſonders ſeit dem 17. Jahrhunderte, ber Staat von ber Kirche: mehr 
und mehr ablöf'te, und bie ganze Politik eine durch und durch weltliche , 
Richtung. nahm ;. fo fchieb ſich auch die weltliche von ber Kirchenmuſik 
mb gewann balb das Uebergewicht. Während des breißigiährigen 
Kriege, im Jahre 1624, fah Venedig bie erſte Oper, und bie Theaters 
muſik verbreitete fich ſchnell ſchon im bes. erften Hälfte des 17. Jahre 
hunderts. Sie verwandelte aber audy mehr und mehr bie frühere 

Einfachheit und Innigkeit in Länftlihen Schmud und finnlichen 
Ohrenkitzel und riß die Kirchenmuſik in biefeibe Richtung hinein. Nur 
in einzelnen Grfcheinungen, wie im 18. Jahrhundert in Pergoleſi's 
„Stabat mater‘, trat noch bie frühere großartige Einfachheit und Ins 
nigteit hervor. Aehnlich war ber Bildungegang in ben anderen roma⸗ 
nifhen Staaten. In Fran kreich hatte zwar fhon Pipin bie Or⸗ 
gel eingeführt, aber neben dem munteren, mitunter leichtfertigen und 
auf der Oberfläche fpielenden Waubenülle, fo wie der eleganter und reis 
zenden Tammuſik, konnte die wahre Kirchenmuſik und ber große Ges 
— **— nie recht heimiſch werden. Der ‚ehe lebhafte - Streit der beis 
den Parteien Blind und Piccini in Paris, zu Ende bes 18. 
Jahrhunderts, deutet anf eine ziemlich ähnliche Spaltung in der Mus 
fit, wir fie in der Poefie und im Stante bemerkbar: wurde. Hoͤchſt 
wichtig find. bie Leiſtungen der Niederlaͤnder in der Geſchichte ber Ton⸗ 

kunſt. Die Erfindung des Contrapunctes wurde (dhon lange vor ber 
muſikaliſch⸗ artiflifhen Erhebung deu Italiener durch fie vorbereitet; 
bie erften Spuren deffelben befinden fi) in ben Schriften des gelehrten 

Moͤnchs Hucbald aus Flandern, im 10. Jahrhunderte, alfo fogar noch 
vor der Vervolllommnung der muſikaliſchen Schrift durch Anwendung 
der Linien, im Sinne bes Guido d'Arezzo — denn auch Hucbald hat 
biefelben ſchon vorgefchlagen, jedoch nicht in ber zweckmaͤßigen Anwen⸗ 
dung derſelben, wie jener. — Es iſt on J bie we ber. 
muftfsliigen Schrift erſt recht fühlbne w als man auf die Idee 
53. unbeeren: ſimultanen Stimmen — —— juzu⸗ 

Hurbald iſt der Erſte, dee von einem Zutreten mehrerer 
mine zu einer Hauptſtimme ſpricht. Laͤngſt vor dem Glanze der 


* 





570 \ Kunſt. 

Itallener hatten bie Niederländer zwei beſondere Schulen aufzuweiſen, an 
der Spige der älteren Dufay (14. Jahrhundert; ausgebildeter Contra= 
punct), an ber der neueren Ockenheim (15. Jahrhundert ; techniſch⸗ 
tünftliher Contrapunet).. In dee 2. Hälfte des 15., bis in bie 1. 
bes 16. Jahrhunderts waren fie fo bedeutend geworden, daß nicht 
allein Rom immer noch feine beften Mufiter ihnen verbankte, fondern 
auch deren Ruhm über ganz Europa ſich verbreitete, und es iſt ſicher, 
daß die nachfolgende berühmte italienifhe Schule, deren Haupt Par 
leftrina (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) iſt, Alles den Niederlaͤn⸗ 
dern verdankt. (Sudimel, einer der zarteften, tiefften, genialften 
Niederländer, war Paleſtrina's Lehrer.) Und fo blieb auch die Kunft in 
Stalien fo lange rein und hehe, als fie, ihres hohen fremden Vor⸗ 
bildes eingedenk, nicht ſich zum überwiegend Materiellen erniedrigte. 
Hier muß vor Allem bemerkt werden, daß es den Italienern ftets fehr 
hoch angerechnet wird, der Melodie eine Reform gegeben zu haben; 
damit HE aber wenig für die Kunſt gewonnen worden, wenn man be: 
trachtet, daß dadurch das Sinnliche jetzt in der Kunft vorzuherr⸗ 
fhen anfing, der Grund des Werfalls ber Italiener, wie aller na⸗ 
tionalen Tonkunſt. Zwar aud die Niederländer mußten fallen, aber 
doch aus ganz anderer, ber Beiftescultur viel würbigerer Urſache: fie 
ſuchten aus der Tonkunſt eine Kunft des Verflandes zu machen, culs 
tivitten fie zulegt nur noch als Wiffenfchaft. Eine Verbindung jener 
melodifchen Reformen ber Staliener mit bem Geiftigen der alten Schule 
bildet in der jängften Zeit Beethoven. — Faflen wir noch befon» 
ders die Verbindung von Muſik und Poefie im eigentlichen Volksilede 
in’6 Auge, fo finden wir bei den fühlichen romaniſchen Nationen, wo der 








Kunft. 571 


meifen ber Portugiefen druͤcken fi Wahrheit und Anmuth aus; in 
denen der Spanier die tiefere Gluth ber Leibenſchaft und — wie in 
ihrer Dichtkunſt — ein bramatifch bewegteö Leben, wofür allein fchon 
das merkwürdige Lieb „Contrabandista‘“ als vollguͤltiges Zeugniß bies 
nen mag.” 

Wenn das Chriſtenthum in feinem erften Dauptfige, im byzau⸗ 
tiniſchen Katferreiche, die Poefie nicht wieder beleben Tonnte, fo hatte. 
es doch urfprüngliche Schoͤpfungskraft genug, um nicht blos für Die 
Mufit, fondern zugleich für Architektur und Malerei neue Fundamente 
zu legen. Die Beduͤrfniſſe des neuen Cultus, bie Verſammlung der 
Gemeinde im Gotteshaufe, dann auch die Erfindung der Orgel mach⸗ 
ten höhere Wölbungen , ausgebehntere, gefchloffene Räume nöthig und 
gaben, befonbers feit Conftantin, der Baukunſt eine andere Wendung. 
Es bildete ſich der byzantinifche oder vorgothifcdye Kirchenftyl, als deffen 
ältefte® großartiges Denkmal die Sophienkirche in Conftantinopel in 
der Mitte des 6. Jahrhunderts fi erhob. Die St. Marcuskirche in 
Venedig fcheint eine Nachahmung berfelben. Neben ihr erhoben ſich 
in Stalin, befonders im nördlichen Theile, herrliche Werke des bys 
zantinifyen Runbbogenftyls, fo wie fpdter der gorbifhen Baukunſt. 
Doc, wurde biefe Iegtere in Italien nicht recht einheimifh, denn man 
Lehrte in diefem Lande, wo bie Monumente des Alterthums ber Nach⸗ 
bildung fo nahe lagen, leichter wieder zu diefen zurüd. Beſonders 
aber gefchah dieſes, als im 14. und mehr noh im 15. Jahrhunderte 
der Eifer für die Kenntniß der altclaffifchen Sprachen und Zuftände 
lebhafter erwachte. Jetzt baute man nad) den Vorſchriften des neube> 
arbeiteten Vitruv, fo daß fich befonders im 16. Jahrhunderte mieder 
der antike griechifch = roͤmiſche Styl verbreitete, duch Bruneleschi, 
Michelozzo Michelozzi und befonders Bramante, der den 
fpäter häufig abgeänderten Riß zur Petersliche in Rom entwarf. 
Selbſt diefes größte Monument des Katholicismus, gleihfam als Bolls 
werd auf ber Grenze der Reformation errichtet, zeigt alfo ben Weber: 
gang zu den heibdnifch-antiquarifchen Formen. In der Mitte des 16. 
Jahrhunderts ließ Mich. Angelo Buonarotti, ein verhängnißs 
voller Geiſt in der Architektur, wie in ber Bildnerei und Malerei, 
feine kuͤhne Phantafie walten. Indem er das Außerordentliche als das 
Höcfte geltend zu machen fuchte, trieb er feine zahlreichen minder 
genialen Nachfolger auf Irrwege, die fie von ber reineren Auffaffung 
bes Antiken ablenkten. Man gerieth in eine Menge feltfamer unb 
ſpielender Verzierungen. Wenn bann Palladio und Anbere die 
alten Denkmäler forgfältiger wieder unterfuchten, fo geſchah biefes nur 
aus einer Zelt, wo ſchon die Kunft von ihrer Reinheit und inneren 
Größe verloren hatte. Zwar wurde der antik⸗ italleniſche Styl in den 
Wohnhäufern mit Einficht angewendet und von Stalien aus überall 
hin verbreitet. Aber in bee höheren Baukunſt, ba fich Jeder fein bes 
fonderes Spftem über bie antike Architektur bildete, emtfland eine 
Anarchie der Meinungen und des Geſchmacke. Diefe novantide Vers 


Bnkrpenienie vumeiß von den 

Befulten, In’6 Große getrieben ; 

wer, :usnbweitete ſich bald über die ans 

2: Gpanten geſchah dieſes, wo fi 

feäher, in der Berbfrung mit.ber mawtijden „anttehun, ein eigener 


der ‚sinfettigem. Hessfipaft eines finnlihen Do 
dem Ehriflenthume in batte, fehlen zwar diefes bie 
Rosreifung von allem Irdiſchen zu 
jegt weieher Da6 MWerhot bes mofaifäen 
Hofn 0m Gottes aufjuftellen, geltend zu 
der ‚Lehre: bob. Shi 


jung. ver Frauen fand in Mara 
5* * das Sa —— Liebe. rd 
Heilige Sehriſt ſecibſt, fo wie zehleeiche Ueberlieferungen 
enden, vieran. man bie Geſchichte der Bortpflansung des Chriſten⸗ 
thums Enüpfte, wurde dee Kunſt eine'Denge lebendiger Geftalten, von 
geführt, werauf bes Abglang des Göttlihen ruhte.- So tung den 
fm im bogamtinifäyen Beiche ber Bilderdienſt gegen: bie 


Budecgur · 
inerel einen Sleg davon; body vorerſt keinen volflänbigen, ba mehl 
‚eslägiäfe Gemälde erlaubt wurden, aber Statuen verboten biigben. 

Darin liege: mit ein Grund für die ſpaͤtere Entwidelung und die lang» 
fameren Fortſchritte der Seulptur, der fich, vorzüglich von Anfang: des 
13. Jahrhunderts an, im Bufammenhange mit der Ausbildung der 





Lunſt. 573 


gleichguͤltige Geſtalt, und fie laſſen kalt, ober zerftären den Eindruck, 
wenn wir fie in Stein gemeifelt, in Erz gebildet fehen. Darum mar 
die Malerei eine Acht chriſtliche Kunft und wuͤrde ſich mit dem Chris 
ſtenthume gehoben haben, hätte fie ſich auch nicht im Evangeliften 
Lucas ihren befonderen Schutzpatron gefchaffen. Im Anfange ihrer 
hriftlichen Wiedergeburt war ſie fo ausfchließlid auf die Abfpiegelung 
des Seelenlebens gerichtet, wie ſich diefes befonders im Gefichte aus⸗ 
prägt, daß fie noch In Feiner Weiſe das Individuelle ber Geſtalt wies 
bergab ; daß ihr die Beigabe eines verfümmerten und armfellgen, nad 
ihren chriſtlichen Ideen faſt verworfenen Körpers nur ein nothwendi⸗ 
ges Uebel ſchien. Dagegen tritt fchon in dem erften mufivifchen Abs 
bildungen des Hellands ein ideales Streben und ein phpfiognomifch 
Charakteriftifches hervor. Diefer chriſtlich griechifche Styl, der bis in's 
13. und 14. Jahrhundert reicht, verpflanzte fi) aus dem byzantini⸗ 
[hen Reiche zuerft nach Stalien, wo fon im 8. Jahrhunderte Glass 
malerei, Mofait und Emaillemalerei betrieben, auch mit einer Art 
Zeimfarbe (a tempera) gemalt wurde. Um das Jahr 1200 gründes 
ten griechiſche Meifter in Venedig eine Malerſchule. Der Auffhmwung 
der Malerei aber, worin bie Staliener, wie in der Sculptur bie Gries 
chen, das Hoͤchſte erreichten, ging gegen die Mitte bes 135. Jahrhun⸗ 
derts von Zlorenz aus. Raſch fchritt fie ihrer Vollendung entgegen, 
als fi die von dem Deutfhen Ban Eyk (1410) erfundene Del 
malerei in der Mitte des 15. Jahrhunderts verbreitete, und im 15- 
und 16. Jahrhunderte die Grundfäge der früher unbeachteten Luftpers 
fpective in Anwendung kamen. Wie die Mufit, ja in noch höherem 
Maße als diefe, wurde in Stalien bie Malerei zur eigentlichen Na» 
tionalfahe. Im Wetteifer einer florentinifhen, roͤmiſchen, venetianis 
fhen und lombarbifhen Schule, denen ſich zahlreiche Nebenfchulen, 
namentlich eine neapolitanifche und römifche, zur Seite flellten, wurde 
das Mannichfaltigſte geleifteet im Ausdrude eines tieffinnigen Ernſtes 
und kuͤhner Kraft, wie in dem des edel Schönen und einfach From⸗ 
men, in glänzender Pracht, mie in barmonifcher,, lieblicher und finnis 
ger Verſchmelzung ber Farben. Als Raphael (geb. 1483) malte, 
war die Begeiſterung für das irdiſch Schöne lebhafter erwacht, ohne 
daß der fromme Glaube fchon verflogen war. Heidenthum und Chris 
ftenthum hatten fi) innig durchdrungen. Noch längere Zeit hielt ſich die 
Kunft auf einer reineren Höhe; aber vom Ende des 16. Jahrhun⸗ 
derts an Im mehr und mehr ermattenden Kampfe mit den Manieriſten 
oder den ſtlaviſchen Nachahmern einer gemeinen Natur. on Stalien 
aus hatte ſich die Malerei nach Spanien übergefiehelt, aber ſich in 
mehreren großen Kuͤnſtlern, in dem freien und kraͤftigen Naturmaler 
Velasquez, in Murillos und Anderen eine felbiiftändige Haltung 
bewahrt. Enger ſchloß ſich die franzöfifche Malerei in ihren Meiſtern, 
Pouffin (1594) und in dem ausgezeichnetfin Landfchaftsmaler 
Claude Lorrain (1600) an Stalien an. Gie erreichte überhaupt im 
Anfange des 17. Jahrhunderts mit le Sueur (geb. 1617), Ch. le 





574° Kunſt. 








Brun (geb. 1619) und Anderen ihre Bluͤthe. Die Meiſten die ſer 
Künftter waren ſchon gebildet, che Louis XIV. den Thron beftieg, 
der indeſſen die hervorragenden Taiente wenigftens anerfannte und bes 
ſchaͤftigte, und dadurch den Werfall verzögerte, der unter feinem Nach⸗ 
folger ſchneller hereinbrach. Ausgezeichnet war man in Frankreich Im 
der Glass, Emailles und Miniaturmulerei, fodann in Tapetenwebe⸗ 
rei, wie denn bier überhaupt die Kunſt hauptfaͤchlich auf den Schmud 
ausging und weniger von Innen nad) Außen ſchuf, als der Oberfläche 
des äußeren Lebens gefällig ſich anpaßte. 

Aus den Stürmen der Völkerwanderung; aus ber Vereinigung 
kleinerer Stämme zu größeren ſtreitenden Maſſen; aus dem Kampfe 
mit dem roͤmiſchen Weitreiche; aus der Berührung mit roͤmiſcher Cui ⸗ 
tur und mit dem Chriftenthume entftand für die germanifchen 8: 
terfhhaften ein neues Leben. Die poetifchen Ueberlieferungen aus fruͤ⸗ 
herer Zeit, die Götterfagen und Stammesfagen, bie, aus engeren 
Verhättniffen. entfprungen, nur beſchraͤnktere Geſichtskreiſe in’6 Auge 
faffen konnten, mußten ſich unter der zubrängenden Maffe des Neuen 
verwifchen oder völlig verſchwinden. Der wefentlich veränderte Gehalt 
der germanifchen Voikegeſchichte erzeugte eine neue Volkspoeſie, neben 
welcher eine gelehrte Poefie, zum Xheil in lateinifher Sprache, ober 
doch im befonderen Hinblide auf alterthuͤmliche Ueberlieferungen und 
Mufter, bis in die neuere Zeit fortlief. Karl der Große, der her- 
vorragendfte Held diefer Gerichte im 8. und Anfange des 9. Jahr: 
hunderts, wurde der Mittelpunct eines außgebreiteten Sagenkreiſes. 
Er feibft hatte in weitem Umfange die Völker um ſich vereinigt, und 
wenn fein Reich, woraus ſich drei große Nationen abgliederten, aus 
einander fiel; fo fehlen er doch auf die Poefie die Idee und das Bebürfs 
niß der Einheit vererbt zu haben. Aus weiten Räumen und fern aus ein⸗ 








Kunfl. 57 5 


Prieftee hoben fi bie Städte Das wachſende Gelbfigefühl des 
Bürgers, die über weitere Kreife ſich ausbreitende Bildung vermittels 
ten den Uebergang von ber ritterlichen zur bürgerlichen Poefie bes mehr 
häuslichen Lebens, die ſich zum. Meiftergefange zunftmäßig organifirte 
und fi mit al’ ihren Mängeln und ihrem Reichthume vorzüglich in 
Hans Sachs offenbarte. Bon der Mitte bes 14. bis zu Ende bes 
16. Jahrhunderts reicht dieſe Periode über die erften Erſchuͤtterungen 
der Reformation hinaus. Von Anfang an hatte die bürgerliche Dicht: 
tunft viel komiſche und ſatyriſche Laune entfaltet und in oft burlesßen 
Parodleen das anmaßlich Hervortretende in ber Geſellſchaft gegeißelt. 
Die meift nur gutmüthige Ironie fleigerte fi im Kampfe der Par: 
teien zum vernichtenden Zorne. Ulrih von Hutten, der Volke: 
dichter aus dem Mitterftande, der ſchon dadurch eine veränderte Stels 
lung des Adels bezeichnete, fang feine politifch = religioͤſen Freiheitsge⸗ 
fänge; und Luther flimmte mit feinem: „Eine vefte Burg ift unfer 
Gott“ das Siegeslied der Reformation an. Schon frühe war die 
Dichtkunſt und die Luft des bichterifchen Schaffens aus ben geſchloſſe⸗ 
nen Zünften der Meifterfänger aud in bie unteren Volksclaſſen nie: 
dergeftiegen. Beſonders von Ende des 14. bis 16. Jahrhunderte 
hatte die poetifche Naturkraft, in der unmittelbarften Berührung mit 
einem unruhig bewegten Leben, eine Menge der herrlichſten Volkslieder 
hervorgetrieben. Aber in den Kämpfen des 17. Jahrhunderts ver⸗ 
jtummte der Meiftergefang und vermilderte das Volkslied *),, Schon 
im bdreißigjährigen Kriege trat mit bee fchlefifchen Dichterſchule (M. 
Opiz, geft. 1639), die nach claffifhen Muftern fang, wieder die gelehrte 
Poeſie in den Vordergrund. Die ganze politifche Schwerfälligkeit bes 
deutfchen Reichskoͤrpers, mie ihn der dreißigjährige Krieg zerſtuͤckt, der 
mweftphätifche Friede geflickt hatte; das breite geiftliche Sormenmefen, 
das nicht von ber Stelle kam, prägte ſich zu Ende des 17. und im 
Anfange des 18. Jahrhunderts auch in jenem Canzleiſtyl der beutfchen 
Poeſie aus, der uns jest fo feltfam und frembdartig erfcheint. Bei 
diefer Lage war es faft als Gewinn zu achten, daß das politifche 
Uebergewicht Frankreich die europdifche Seuche der poetifchen Gallo⸗ 
mante nach Deutfchland verbreitete. Dadurch wurde das Uebel wenig- 
ften® auf die Außerfie Oberfläche getrieben; und weil es über eine 
ſchwerfaͤllige Nachahmung der unvolltommenen Nachahmer der Alten 
nicht hinaus konnte, fo kehrte man in nothmendiger Reaction um fo 
eher wieder zur Natur und Unmittelbarkeit zurüd. 

Der flandinavifhe Norden, wo bie Skalden bie erſten 
Bildner ber Sprache und Poefie waren, trat mit ber Reformation aus: 
feiner früheren Abgefchloffenheit mehr hervor, und fortan hatte feine 
Dichtkunſt mie ber deutfchen weſentlich gleiche Schickſale. In Hols 
land hatte biefe im 17. Jahrhundert, zur Zeit der politifchen Größe 


Gervinus, 
BL. 2 ©. 236 fr Geſchichte der poet. Nationalliteratur ber Deutſchen 


nn 


376 Sanfl. , 


der vereinigten Niederlande, ein reicheres Leben entfaltet. Auf ben 
britiſchen Infeln mar die Romantik bee Heibenzeit durch bie bes 
Chriftenthums, die Gefänge Oſſian's durch bie Balladen und Roman⸗ 
zen der wandernden Minſtrels verdrängt morden; unter wunberlid 
wechſelnden Schickſalen, welche die helmiſchen Grundfloffe mit dem 
Roͤmerthüme durchmiſchten und durchdrangen, mit ben Elementen des 
rein germaniſchen Nordens und mit denen des romaniſchen Voͤlker⸗ 
lebens. Aus Süden, Norden und Oſten mußten die Flammen auf einem 
Herde zufammenfdlagen, um in Shakes peare ben größten bichterifchen 
Genius zu entzünden. Er erfheint ‚auf der Schwebe der alten und 
neuen Zeit, zu Ende des 16. Jahrhunderts, als die romantifhe Be: 
geifterung des Mittelalters noch nicht verflogen war, und fi die heller 
umfaffende, zugleich fcharffinniger eimdringende und allfeitiger ver- 
knupfende moderne Lebensanfidht zu bilden anfing. Nachdem fih 
Großbritannien vom europäifchen Feſtlande politiſch abgegliedert, prägte 
die Poefie mehr und mehr ihren eigenthuͤmlich nationalen Charakter 
aus. Wie fhon fruͤhe Verfaffung und Gefeg, von den höheren und 
weiteren Kreifen an bis zum Leben in bee Gemeinde und Familie, die 
freiefte und mannichfaltigfte Entwidelung der Individualitaͤten 
geftattet und gefördert hatte; fo zeichnet ſich die englifche Dichtkunſt 
vorzüglich durch ein reiches individualiſittes Leben aus, fo wie duch 
große humoriftifhe Kraft in der Darftelung des Widerſpiels eines 
eigenthuͤmlich Befonderen mit dem allgemein Bedeutenden ober für ber 
deutend Geltenden. Diefer Charakter geht durch die ganze britifche 
Poeſie, wenn gleih Shakespeare’ wunderbar reihe und geiſtig 
durch und durch belebte Welt von Geftalten nur einmal geſchaffen 





werden konnte. So ‘ft England, als die romantiſchen Ideen mehr 
und mehr in den Hintergrund traten, bie Wiege bes eigentlichen Fa⸗ 
wilienromans geroorden, mit feinen feinen und genauen Schilderungen 

—* 


Kunſt. 577 


An der Muſik hatten ſich ſchon die Deutſchen des früheren 
Mittelalters durch ihre Geſchicklichkeit im Spiel der Blasinſtrumente 
ausgezeichnet, wie die Italiener in dem der Saiteninſtrumente. Der 
Unterricht darin und der Geſang gehörten zum Schulunterrichte des 
Mittelalters. Als die innerlichfte der Künftle war bie Tonkunſt am 
MWenigften an ben Verlauf der aͤußeren Begebenheiten geknuͤpft. Sie 
hat in ungehemmtem Bildungsgange erft im 18. Jahrhunderte, befons 
ders von Defterreih aus, duch Gluck und Mozart, den Shake⸗ 
fpeare der Tonkunſt, buch Haydn und Beethoven, ihre Glanz⸗ 
periode erreiht. Doch bat auh in Deutſchland die ſchaͤrfere Schei: 
dung des Weltlichen und Kirchlichen, das Auflommen der Opernmufit 
und ihre wachſendes Webergewicht über die Kirchenmuſik, fo wie die 
Nachahmung anderer Nationen, befonders der Italiener, ihren Einfluß 
nicht verfehlt; fo daß in ber neueren Zeit, neben großartigen Tondich⸗ 
tungen, zugleih Manier, Ueberladbung und Ueberzierung weithin herr: 
fhend geworden find. Im Allgemeinen hat die deutfche Zonkunft vor: 
zuͤglich in umfaffenden und tiefen Harmonieen einen eigenthüm: 
lichen Charakter entfaltet. Diefes geſchah hauptſaͤchlich in ber neueren 
Zeit. Namentlich wußte man beim Volksliede biß zum 15. Jahrhun⸗ 
derte noch nichts von Harmonie*). Diefes im Gefang lebende und 
(ebenbig ſich fortpflanzende Volkslied der Deutfchen zeichnet fich bei 
aller Mannichfaltigkeit in Dichtung und Melodie durch einfache Naturs 
wahrheit aus, durch tiefe Innigkeit in Schmerz und Luft. Im füd: 
lichen Deutfchland tritt darin eine größere Meichheit des Gefühle her: 
vor; gegen Norden, befonders den Rhein abwaͤrts, ein vielfachen be- 
wegtes Leben, ein größerer Reichthum der Motive. Im Allgemeinen 
fagtıe& mit ber größten Unmittelbarkeit für Auge und Ohr und nad 
alten Richtungen mehr das allgemein und immer Poetiſche im Leben 
auf, als gerade befonders feltene Zuflände und dadurch erhöhte 
Gemütheflimmungen. Es bat darum vielleicht weniger dramatifche 
Kraft, obgleidy nicht geringere dramatifcye Lebendigkeit, als ber Volke: 
gefang der Engländer, Schotten und MWallifer mit feinem großen 
Reichthume von befonders Eriegerifhen Liedern und Balladen. Am 
Volksliede der Niederländer herrſcht, wie in ihrer Malerei, eine 
gewiffe Naiverdt des häuslichen Lebens; waͤhrend ber Charakter des 
ftandinavifchen überwiegend ernft ift, und bei ben Normän- 
nern, in eigenthümlid aufs und abfleigenden Melodieen, ſich zugleid) 
eine ganz befondere Art der Compofition gewahren läßt. 

Wie nad Italien, fo hatte fich die byzantiniſche Baukunſt bald 
auch in das eng mir ihm verbundene Deutfchland verbreitet. Die mei- 
ſten und ſchoͤnſten Baumerke der Deutſchen nach byzantiniſchem Style 
fallen in die Zeiten Kaiſer Heinrich's II. und der Hohenſtaufen. Un— 
geiert duch bie Denkmale einer lang emtfchwundenen Vergangenheit, 
konnte fih die Architektur auf deutfhem Boden in freiefter Eigen: 

*) Kretſchmer, Deutfche Volkslieder. Berlin, 1838. (Rorwort.) 

Gtaats⸗Lexikon. IX. 37 


878 Kufl. 


thuͤmlichkeit geſtalten. Auf der Grundlage des chrifllich⸗ byzantiniſchen 
gewann das nationale Element, ſchon vom 13. Jahrhunderte am, bie 
Dberhand und ſchuf die Wunder der gothlfchen oder altbeutfchen Baus 
Zunft, die fi) nach Norditalten, Frankteich, Großbritannien und bem 
Morden Europas vergweigte. ' Diefe deutſche Kunſt trat damals for 
gleich mit feft beſtimmtem Charakter auf; aber noch waren bie Ge— 
bäude einfach und ohne viel Zierde. Schon während ber legten Hälfte 
des 13. Jahrhunderts, wie am Freiburger Münfter, am Vorbaue des 
Straßburger Münfters und am Coͤlner Dome, begann jebody die rei: 
here Ausſchmuͤkung, ohne noch durch die Mannichfaltigkeit der Wer: 
glerungen ber Idee des Ganzen Eintrag zu thun. Sehr bald, vom 
Anfange ihrer Entmidelung bis zum Beginne des 14. Jahrhunderts, 
hatte die gothiſche Baukunſt ihre Vollendung erreicht. ‚In dieſer Zeit 
der ſchoͤnſten Biuͤthe trat jene Fülle der Phantafie hervor, von einer 
Idee getragen und beherrfcht, mie mir fie an den gothifhen Domen, 
diefen ro mant iſch en Dichtungen in Stein, beroundern und anflau 
nen. Die früheren Halbkreife verwandelten ſich in Spigbogen , worin 
ſich das Streben nad) oben rein und entſchieden ausſprach; die du: 
len wurden zu Saͤulenbuͤndeln, zur Wielheit in der Einheit, und jeder 
kleinſte Theil der Gebäude zeigte ſich wieder als ein Bild des Gan- 
zen. Vom Worteshaufe ausgehend, wurde der gothifhe Styl auf an⸗ 
dere Gebaͤude angewendet; wie denn überhaupt noch bie Kirche zus 
gleich das weltliche Leben beherrſchte, während ſich in den neuem 
Kichenbauten, bie uns fo häufig an gewöhnliche Gefehfcaftshdufer, 
an Fabrikgebaͤude u. dgl. erinnern, gerade das umgekehrte Werhäienif 
kund zu thun ſcheint. In den erflen Zeiten bes germantfden Chris 
ſtenthums hatten die Ueberlieferungen bee Baukunſt, wie alle Wiſſen⸗ 
(haften und Känfte, in ben Kiöftern eine noch kuͤmmerllche Zufiucht 

efunden. Zur Erreihung höherer Vollendung mußten fie aus den 








Kunfl. 870 ° 


a og auf Werfchweigung ber Kunſtgeheimnifſe zu vereiden. Fort⸗ 
an loͤſ'te ſich um biefelbe Zeit, als wahrfcheintich auch in England und 
anderen Staaten die eigentlihen Bquvereine verſchwanden, ber allge: 
meine: Berband der deutſchen Baukuͤnſtlier mehr und mehr auf. Die 
mündliche Tradition der Grundfäge der Kunft ging verloren. Die 
gemeinfame Wirkſamkeit verſchwand. Jeder Baumeiſter arbeitete nad) 
ſeinen beſonderen Ideen und Einfaͤllen, und da man den Urſprung der 
fruͤheren Formen nicht mehr ergruͤnden konnte, ſo beſchraͤnkten fich die 
ſpaͤteren Steinmetzen, indem fie aͤngſtlich nur nach vorliegenden Fuß⸗ 
maßen arbeiteten, auf geiſtloſe Nachahmung. So kam die gothiſche 
Baukunſt in Verfall und verſchwand voͤllig, da ſeit Anfang des 
16. Jahrhunderts die Luſt am antiken Bauſtyle erwachte und von 
es dann auch von Frankreich aus, mehr und mehr herrfchend 
wurde *). ' 

Schon In der Mitte des 12. Jahrhunderts blühte in Cöln bie 
ättefte deutfhe Malerſchule, ausgezeichnet durch religisfe Innigkeit 
und glänzende Farbenpracht. Sie verzmeigte fich nad) Oberdeutſch⸗ 
land, wo bie altbeutfche Malerei zu Ende bes 16. und im Anfange 
des 16. Jahrhunderts, alfo im Beginne der Reformation und gleich⸗ 
zeitig mit der italienifchen Malerei, duch Albrecht Dürer, Kranach 
u. A. eime hohe Stufe erreichte; und in Nieberdeutfchland, wo feit 
bem 14. und 15. Jahrhunderte die nieberlänbifche Schule entitand und 
ſich ſpaͤter in eine hollaͤndiſche und flamändifche theilte. Der letzteren 
verdankt die Delmalerei, durch 3. van Ey, ihren Urfprung, Sie 
zeichnete fi) durch glänzende Farbengebung und Größe ber Compo» 
fittonen, durch ſtarken, aber natürlichen Ausdruck, durch eine eigenthuͤm⸗ 
lich nationale Schoͤnheit aus. Als ihr groͤßter Meiſter erſcheint 
Rubens zu Ende des 16. Jahrhunderts. Die hollaͤndiſche Schule 
brachte es in der treuen Abbildung der Zuſtaͤnde und Erſcheinungen 
des wirklichen und gewoͤhnlichen Lebens, die mitunter in Kleinliches 
und VBebentungsiofes auslief, zur Vollendung. Lucas van Ley⸗ 
den, geb. 1497, iſt ihr Stifter; Rembrand ihre größter Meiſter im 
Colorit. Als die oberbeutfche Malerei fhon im Sinken war, im Ans 
fange des 18. Jahrhunderts und nach ziemlich langem Verfalle, hatte 
fi) die Malerei der Niederländer noch einmal für kurze Zeit fomohl 
in den nördlichen als füblihen Provinzen erhoben. 

Bon Conftantinopel aus hatte ſich einige Aufklärung, wenn gleich 
nur in ſchwachen Anfängen, unter bie flavifchen Nationen verbreitet. 
Wie fih fhon im 11. und 12. Jahrhundert unter den Ruffen gute 
Geſchichtſchreiber und Redner fanden, fo hatten zugleich byzantinifche 
Malerei und Baukunſt, welche Iegtere fi mit den von aſiatiſchen 
Völkern entlehnten Formen vermifchte, hier und da Eingang gefunden. 
Aber die Einfälle aſiatiſcher Horden verdunkelten wieder das kaum 
ausgebrocyene Licht, obwohl fie es nicht voͤllig verloͤſchen Eonnten, und 


”) Stieglis a. aD. 
87* 





580 Kunft. 


erſt nad) dem Verlaufe vieler Jahrhunderte follte Rußland almälg in ' 


dem Kreis eucopäifcher Voͤlkerbildung eintreten. Nur in den Gegen 
den, wo Deutſche herrſchten, oder die mit Deutfchland in näherer Ber 
ruͤhtung ftanden, an den Ufern der Oſtſee und in Polen, hier befon: 
ders in der alten Koͤnigsſtadt Krakau, hatten deutfche Künfte und 
hauptſaͤchtich gothiſche Baukunſt ſich anſiedeln koͤnnen. In Rußland 
waren bis auf Peter den Großen faft nur Geifttiche Schriftfteller 
und Dichter; und darum bie Poefie eine kaftenartig befhränfte. As 
dann in etwas weiterem Umfange die Luft des poetifhen Schaffens in 
den höheren Claſſen der Geſeliſchaft erwachte, hatte ſchon die europaͤiſcht 
Herrfchaft des franzoͤſiſchen Geſchmacks begonnen. Nicht viel ander 
war 6 in Polen, wo bis auf die neuere Zeit das Lateiniſche Die poli- 
tiſche, wie die gelehrte Sprache war. Darum konnte die Poefie auf 
dem ſlaviſchen Staatengebiete hauptfählihb nur im einfachen Voiksliede 
mit nationaler Eigenthümlichkeit zum Vorſcheine kommen. Der ruffifhe 
Volksgeſang hat, wie bei den meiften nody rohen Nationen, entweder 
den Charakter einer drücenden Melancholie oder ausfchweifenden Luftig: 
8 Bei dem der Polen findet fic ein größerer Reichthum der Mo: 
tive; ihr ernfte® Volkslied iſt feltener melancholiſch, als ſtuͤrmiſch und 
leidenſchaftlich hinreißend. 

Im Bildungsgange der chriſtl ropaͤiſchen Kunſt bis zum An: 
fange der feanzöfifhen Revolution erſcheint vorerft bie Hertſchaſt Karl's 
des Großen ale eine entfheidende Epode. Doc konnte damals erſt 
der Boden urbar und für fpätere Eczeugniſſe empfänglih gemacht 
werden. Denn es fehlte noch an gebildeten Kuͤnſtlern, und 
Wiffenfhaft und Kunft waren nody Fremdlinge, welde, aus dem 


sömifhen Reihe eingetwandert, nur im neuen Kaiferpalafte eine gaftliche 

Aufnahme und etwa hinter den Mauern der Kiöfter eine ſtille Zuflucht 

fanden. Darin hielten fie ſich während der Stürme, die das Gebäude 
3 bes © 


Kunſt. 581 


ſpaltes zwiſchen Staat und Kirche bedurfte, daß erſt der Kampf der 
Gegenfäge die ſchlummernden Kräfte wecken und ſpannen, und bie 
teligiöfe Stimmung der Zeit zum vollen Gefühl ihrer Ziefe und 
Stärke beingen Eonnte. Wenn ſich die Baukunft fhon früher vollens 
dete, fo erfchienen dagegen Poefie und Malerei auf einer beſonders 
hohen Stufe, als das Mittelalter zu Ende ging ; als die Vegeifterung 
für das Heidniſch⸗Antike erwachte; als bie Reformation eine neue 
Weit der Gedanken und Meinungen fhuf; als fi der Staat von 
der Kirche, das Weltliche von dem Geiftlihen zu größerer Selbftftäns 
digkeit abglieberte. Haft gleichzeitig in allen Staaten der Mitte und 
des Weſtens läßt ſich diefes legte glänzende Dervortreten der Künfte 
gewahren, die als untergehende Sonne noch einmal mit ihren ſchoͤnſten 
Strahlen das Mittelalter verklären, ehe es in die Schatten ber Ver⸗ 
gangenheit zuruͤckſinkt. Allein eben fo gleichmäßig leuchtete damals 
durch Poefie und Kunft eine Ironie duch, die ſich gegen Form und 
Inhalt einer Zeit richtete, welche, früher voll Lebenskraft und jugends 
licher Vegeifterung, jegt im Abſterben war. In der ganzen chriftlichen 
Zeit vor bee Reformation hatten ſich Poefie und Muſik, Architektur, 
Sculptur und Malerei nur verbunden, um im gemeinfchaftlichen 
Dienfte der Kirche den Tempel Gottes zu ſchmuͤcken Es ift bebeu« 
tend, daß hauptſaͤchlich von der Reformation an dem weltlichen 
Schauſpiele und der Oper neue Tempel erbaut wurden, morin bie 
vereinigten Künfte, während fie die Kirchen öde liefen, fortan 
ihren wetteifernden Cultus feierten. Aber aus dem Dienfte der Kiche 
traten fie in die Dienſtbarkeit der Höfe. Wohl Hatten fie ſchon früher 
an ben Höfen von meiftens Fleineren Fürften eine freundliche Zuflucht 
gefunden. Aber fie waren nicht unmwiberruflih an wenige Orte und 
fürftliche Häufer geknüpft, da ihnen der Gemeingeift der Städte, der 
Wetteifer der Regenten, die religiöfe Richtung der ganzen Zeit, bie’ 
den Glauben durch die Kunft und diefe durch den Glauben zu ver 
herelichen ſtrebte, eine geräumige Heimath offen ließ. Als aber größere 
Monardieen und unbefchränkt herrſchende Monarchen ſich gebildet; als 
die Macht und die oͤkonomiſchen Mittel für die Lünftlerifche Verherr⸗ 
lichung des Lebens nur in den Händen weniger Machthaber zufams 
menfielen, hertſchten diefe, wenn fie nur wollten, bald eben fo unbes 
ſchraͤnkt auf dem Gebiete der Kunft, wie auf dem der Politik. Dies 
fen Willen hatte Louis XIV., und fo murde Paris zugleich die 
Hauptfladt der europdifhen Politit und Kunft, welche legtere, unter 
einer launenhaft despotifchen Gewalt aller freithätigen Kraft beraubt, 
immer tiefer verfiel. 

Schon vor der franzoͤſiſchen Revolution begann indeß die Reaction 
gegen die franzöfifche Gefchmacksherrſchaft. Neue Theorien bes Schoͤ— 
nen kamen zum Vorſcheine, vorzüglich in Deutſchland mit Leſſing 
und Winkelmann, die für Poefie und bildende Künfte, im Ge: 
genfag gegen Werfchrobenheit und Berkänftelung, wieder auf das 
Studium des wahrhaft Antiten und Naturgemäßen zurüdführten. 





> Aunſt. 


Dem folgte eine Menge von Kunſtlehren, von allgemeinen ober beſon 
deren Geſchichten der Kunſt, und bis auf die neueſte Zeit ein langer 
und breiter, bald tieferer, bald ſeichterer Strom aͤſthetiſcher Kritik. 
Vergleichen wir biefe Erſcheinungen mit ber Entwidelung des antiken 
Lebens, fo ſcheinen fie auf den erſten Blick nicht gerabe etwas Gutes 
u verfünden. Bei den Völkern bes Alterthums kamen bie Theorieen 
* ſchoͤnen Kunſt erſt dann in Aufnahme, als fi dieſe ſelbſt ſchon 
zu erſchoͤpfen anfingen. Von den großen dramatiſchen Dichtern der 
SGriechen ſcheint nur Sophokles, indem er feine Schoͤpfungen neben 
denen bes Aeſchylos und Euripides vergleichend in's Auge faßt, 
feine Kunft mit klarem Bewußtfein buchdrungen zu haben. Ariſto⸗ 
phanes gab nur zerflreute, wenn auch vielfach beachtenswerthe Be⸗ 
merkungen. Selbſt Platon lief nur einzelne Streiflichter in das Ges 
biet des Schönen fallen; und ber überall eindringende Scharffinn eines 
Arifkoteles ſtellte mit einiger Vollſtaͤndigkeit nur eine Theorie der 
Tragödie auf. Um biefe Zeit. erhielt fich wenigftens bie Kunſt ber 
Griechen noch auf ihrer früheren Höhe, wenn fie gleich nicht mehr zu 
weiteren Stufen vorfchritt- Als aber, von Ende bes 2. Jahrhunderts 
nah Chriftus, Plotin, Philoſtratus und Longinus ale Be 
gründer einer neuen Aefthetit auftraten, die den Gedanken über bie 
Form erhob, fiel diefe gerade mit dem fichtbaren Abfterben der Kuͤnſte 
zufammen *). Ueberhaupt laͤßt ſich bemerken, daß bei den Nationen 
bes Alterchums fo Philofophen ale Sophiften gleichfam als die Ana; 
tomen des Volkslebens erfcheinen, und erſt forfchend und zergliedernd 
in dieſes eindringen, wenn ber fchaffende Geiſt ſchon entwidhen iſt. 
Allein diefe Nationen führten mehr, als bie neueren Völker, em in 
ſich gefchloffenes Leben, das ſich mit dunkel inflinetmäßigem Natur: 
triebe aus einer nationalen Wurzel entfaltet. So lange noch 
„die Säfte friifh waren und ſtets von Neuem trieben, gab man fich 
wenig mit ihrer philofophifhen Würdigung ab, bie mit voller Breite 
erſt im Greiſenalter hervortrat, das fo gern betrachtend auf ber Wer 
gangenhelt weilt, weil es nicht mehr die Kraft hat, fi) eine Zukunft 
zu fchaffen. Durch die neuere Zeit Iduft aber von Anfang ber Ge: 
genfag einer überlieferten fremden Cultur mit dem urfprünglidy ger» 
manifhen Volksthume; während fih auf dem allumfaffenden Boden 
des Chriftenthums eine Reihe verfchtebener Nationen als vielfach vers 
bunden und verfchlungen ertennen mußte. So war man benn frühe 
zur umfaffenden und prüfend vergleichenden Betrachtung des in der 
Einheit verbundenen Mannichfaltigen aufgefordert; und fo konnte bie 
Philoſophie dee Schulen neben ber Eräftigen Entfaltung des Lebens 
beftehen, wie Died namentlich in, bee fcholaftifch » romantifchen Periode 
des Mittelalters ber Fall war. Und weil hiernach Speculation und 
Reflerion in den neueren Bildungsgang fort und fort verwebt find, 


nn 


Geſchichte der Theorie ber Kunft bei ben Alten von Dr. E. Müller, 
2 a0. esta, 1834 u, 1835. r 


fo werden neu entftehende Philofophieen und philoſophiſche Syſteme 
eben fowohl den Beginn eines Eräftigeren Lebens ankündigen koͤn⸗ 
nen, als fie im Alterthum das Ende beffelben bezeichneten. 

Dies gilt auch von der umfaffenden und tiefer eingreifenden Phi⸗ 
tofophie ber Künfte, die von Ende des 18. Jahrhunderts an zum 
Vorfcheine am, da fie zugleich von tüchtigeren kuͤnſtleriſchen Produc⸗ 
tionen’ begleitet oder gefolgt war. Namentlich in Deutfhland, to die 
Doefie im Gegenfage zu dem feanzöfifhen Geſchmacke an bie Mufter 
der Griechen ober Briten gewiefen, oder an bie Herrlichkeiten alts 
germanifcher Zeit erinnert und in mandherlei Richtungen hin und her 
gezeret wurde, lernte fie body endlich wieder eine eigene Bahn verfolgen. 
Schon Leffing, Klopſtock und Herder waren mit lange uner⸗ 
hoͤrter Seibftftändigkeit aufgetreten, und wenn ſich noch Wieland 
den Franzoſen enger anſchloß, that er es doc mit größerer Freiheit, 
als man früher gewagt hätte. Mit Goethe aber, ber im ſchaͤrfſten 
Gontrafte gegen ben bisherigen Geſchmack die Poefie zur unmittelbarflen 
Naturwahrheit zurüdführte, wurde in Deutfchland die Mevolution ber 
Dichtkunſt ſchon vor der politifchen in Frankreich vollendet. Mit und 
neben Goethe entfland durch Schiller, Jean Paul, durch bie 
romantifch » altbeutfhe Schule Tieck's und dee Schlegel unb fo viele 
Andere ein Dichterkreis und eine Periode der Dichtlunft, wie fie 
Deutfchland niemals glänzender gehabt hatte. Auch in Frankreich 
ließen fich ſchon vor der Revolution einige leichtere Anfänge des fpäteren 
Streites einer claffifhen und vomantifchen Poefie bemerken; und in 
Stalien hatte Alfieri, freilich noch mit ſteifer ariftotelifcher Regel 
mäßigtelt, feine ernften und männlidhen Toͤne der Weichheit und 
Weichlichkeit Metaſtaſio's entgegengefest. Kür Architektur und 
Sculptur hatte das tiefere. Eindringen in den Geiſt des Antiken wenig⸗ 
ſtens die Anfichten geldäutert, während für die Malerei mit Bien in 
Frankreich, mit Raphael Mengs in Deutfchland zugleich in Theorie 
und Praris die Dämmerung einer neuen Periode anbradı. 

Diefe Periode felbft Lam für Staat, Wiſſenſchaft und Kunſt mit 
bee franzöfifhen Ummälzung. Wie nun biefes große Weltereigniß 
alle eucopdifchen Nationen in ein Schickſal verfchlungen hat, fo finden 
wie auch im ihrer neueſten Kunftgefchichte weſentlich diefelben Momente 
ber Entwidelung. In Frankreich hatten fich zuerft die Maſſen erhoben, 
unb fo war hier zuerft eine neue, politifch = revolutiondre Volkspoeſie 
entflanden. In diefem Volksgeſange, der in feiner eigenthümlichen 
Weiſe fo fehr gegen alles Srühere abſtach, ſprach ſich entweder die höhere 
Begeifterung der Kreiheit aus, die Todesverachtung, bie flolze Hoffnung 
und Zuverfiht des Sieges, wie in ber Marfeillee Hymne; oder bie 
zerſtoͤende Wuth gegen das Beſtehende, der biutbärflige Hohn ber 
Vernichtung, wie im „Ga ira“, ber Carmagnole und Anderem. Unter 
ähnlichen Verhaͤltniſſen hatten die Spanier ihr Tragala, die Polen 
im Jahre 1831 ihre Kampfestieber und politifchen Spottlieder. Es ift 
merkwürdig, aber aus ber Zeit ber Aufregung und dem Verſchwinden 





des Einzelnen in den Maffen zu erklären, dag bie Verfaffer folder 
Lieder, welche von Millionen gefungen wurden, welche Schlachten ges 
winnen und das Schickſal der Staaten entfcheiden halfen, nicht felten 
unbefannt geblieben find. Auch Deutfchland hatte im Jahre 1813 
und 1814 feine Zeit der politifhen Erhebung, und in den Gebichten 
eines Koͤrner und Schentendorf, eines Rüdert, Arndt u. A. 
in Ernſt und Spott eine Poefie der Freiheit, der patriotifhen Hoffe 
I, des Haffes gegen die Unterbrüdung. In Frankteich, wo feit 

der Deflanration wieder der Kampf der alten mit dev neuen Gefellfchaft 
—8 begann, dichtete vor Alen Beranger feine aͤcht nationalen, 
wefentlich politiſchen Lieder. Sie find zum Theil eigentliche Volkslieder 
geworden, und, von Zaufenden gefungen, find fie eben fo an innerem 
politifhen Werthe als an focialer Wirkfamkeit gewiß das Bedeutendfte, 
mas bie neuere franzoͤſiſche Poefie erzeugt hat. Aehnlices‘ gilt in 
Deutſchland von den patriotifhen Gefängen Uhland’6, Auers: 
perg's u. X. während der verfchiedenen politifhen Krifen der neueften 
Beit. In Italien feierten Gefarotti, Pinbemonte, Foscolo 
in männlichen Klängen die Hoffnungen bes Vaterlandes. Unter den 
Polen reihte ſich befonders Mieskiemwicz durch feine Gedichte vol 
Schmerz Über ben Untergang und voll Glauben an bie Wiedergeburt 
feines Vaterlandes, den größten Dichtern des Jahrhunderts an. Wenn 
alfo Goethe bie Politit für Leinen paffenden Gegenftand des Dichters 
gelten laffen mag, wenn er von Uhland fagt, daß der Politiker den 
Dichter aufzehren werde, und vom Engländer Thomfon, daß er ein 
ſehr gutes Gedicht über die Jahreszeiten, ein fehr ſchlechtes über die 
Freiheit gefchriehen habe *); fo wird man feiner Bemerkung in bem 





vollen Umfange, wie er a ſcheint, —— beipflichten 
5 8 


Kunft. 585 


eine aͤußerſte Spitze getrieben; aber aud in allen andern Ländern 
Europas hatte die ſchmerzlich empfundene Verlegung der Volksthuͤm⸗ 
lichkeit ein beutlicheres Bewußtfein derfelben und ein gefteigerte6 Nationals 
gefühl erzeugt. Alle Poefie ſollte jegt nad Form und Inhalt einen 
dolksthuͤmlichen Charakter zur Schau tragen, und wo nicht ſchon früher 
die Feſſeln des franzoͤſiſchen Geſchmacks abgeworfen waren, begann 
doch jegt dee lebhafte und erfolgreiche Kampf für die nationale Emans 
cipation dee Dichtkunſt. Diefes zeigte fi vom Süden unferes Welts 
theils bis in den ffandinavifhen Norden und felbft auf dem flavifchen 
Staatengebiete, in der Entitehung ruffifcher und polnifher National 
poefieen; ja es zeigte ſich hier am Augenfälligften, wo man noch am 
Wenigften felöftfländig aufzutreten gewagt hatte. Bei biefem Beſtreben, 
alle poetifhen Erzeugniffe aus nationalen Mittelpuncten hervorgehen 
zu laffen, wurde die Dichtkunſt darauf hingeführt, die Vergangenheit 
der Völker mehr in's Auge zu faffen und aus tiefer liegenden hiſtoriſchen 
Wurzeln ihre Blüthen zu treiben. Und wie ſich die Nationen in den 
neueren Volkskriegen wieder als Gefammtheiten hatten begreifen lernen, 
fo trat namentlich der Roman aus dem engeren Kreiſe des Familien 
lebens heraus, um ſich in den hiſtoriſchen oder nationalen zu verwandeln. 
Es bedurfte in Großbritannien nur der Anregung duch W. Scott, 
um bdiefen hiftorifchen Roman durch ganz Europa die Runde machen 
zu laffen. Wenn aber die Vermifhung aller Nationen durch die neue 
militärifche Völkerwanderung bes 19. Jahrhunderts mit bazu beigetragen 
hat, um jede Nation, in der Berührung unb im Gegenfage mit bem 
Fremden und Sremdartigen, ihre Vefonderheit tebhafter empfinden und 
ſchaͤrfet erfaffen zu laſſen, fo mußte doch zugleich aus der Gemeinſchaft⸗ 
üchkeit des Leidens und Handelns ein gtoͤßcres Intereſſe von Volk an 
Volk entfiehen, fo wie die Luft, fich vergleihend einander zur Geite 
zu fielen. In dem Maße, als ſich nach bergeftelltem Frieden der 
materielle Verkehr erweiterte, ja vieleicht nod) in größerem Umfange, 
hat fi darum auch der geiftige Verkehr ausgedehnt. Vor Allem ift 
in der neueften Zeit ein poetifcher Weltverkehr entftanden, wornach 
alles irgend Bedeutende, was eine Nation erzeugt, alsbald auf das 
Sprachgebiet jedes anderen Volkes verpflanzt wird, und bies um fo 
eher, je eigenthuͤmlich nationaler ſolche dichterifche Erzeugniffe find *). 

Am Entfiebenften hatte Frankreich mit feiner Vergangenheit 
gebrochen und fo viel mit der Gegenwart zu fhaffen, daß hier ber 
hiſtoriſche Roman, nach dem Walter Scott'ſchen Mufter, am Wenigften 
einheimifh wurde. Die Oppofition gegen das, was vom früher in 
die Gegenwart hemmend eingriff, fo weit fie nicht unmittelbar politiſch 
wurde, wie in Beranger”s Liedern, zeigte ſich im Bereliche der 
Dichtkunſt in dem Iebhafteren GStreite der als kecke Meuerer auftretens 
den Romantiter mit den Giaffitern der ältfranzoͤſiſchen Schule. Aber 
noch eine viel umfaffendere Oppofition, gegen den ganzen Buftand ber 


*) Siehe den Artikel Ein heit.“ 








586 Kunſt. 


Geſellſchaft gerichtet, ſollte in zahlreichen Dichtern bes 19. Jahrhunderts 
eine Vertretung finden. Die franzöfiihe Revolution und ihr ganzes 
Gefolge von Ereigniffen hatte fo hochgefpannte Hoffnungen gemwedt 
und fo viele Erwartungen getäufht, daß in den noch fortbauernden 
Wehen ber focialen Wiedergeburt eine Porfie entftand, die man Poefie 
der Verzweiflung getauft hat. Ihre Lühnften Workämpfer waren in 
England Byron und Shelley; in Deutfchland gab ber Geiſt der 
Verneinung einem Boͤrne und Heine die ſtachlichte Ruthe im bie 
Hand; in Frankreich hat er den neueren foclalen Roman erzeugt. 
Diefe franzoͤſiſche Romantik, fo lange fie im Genuffe der Faͤulniß zu 
ſchwelgen ſchien und ohne Hoffnung der Auferftehung nur die Krank 
heiten der Gefelfchaft bis zum Ekei ausmalte, hat mande widerliche 
Ungeftalt zu Tage gebracht. Es laͤßt ſich jedoch bemerken, daß fie ſich 
im der neueren Zeit mehr pofitiven Gehalt anzueignen ſtrebt; daß fie 
in bee Darftellung der Gegenwart eine Zukunft durchblicken läßt; daß 
ſich darin namentlid "die Träume der neueren Socialiften, welche doch 
mitunter eine prophetifche Bedeutung haben, in mancherlei Geftalten 
verkörpern. In dee deutſchen Literatur hatte ſich beſonders das foges 
nannte junge Deutſchland mit ähnlihen Schitdereien befaßt. Man 
hat kurzer Hand den Spiegel zerfhlagen, aus dem unfere Zeit freilich 
nur im Zerrbilde, aber auch in der Verzerrung erfennbar, hervorfah. 
Allein wenigſtens kann man nicht hindern, daß Alles, was die Gegen» 
mart_ bewegt, bie Mipftimmungen und Leidenfchaften der Geſeliſchaft, 
die Wahrheiten und Vorurtheile, die Sitten und Unfitten ber Zeit, 
in dee Poefie eine Stätte finden; und daß ſich unter der dichterifchen 
Hülle im Roman und in der Novelle abfpiegelt, was die Cenfur dem 





politiſchen Schriftſteller nicht geftatten würde, in feiner Bloͤſe zu zeigen. 
Die revofutionäten Nationallieder der neueften Zeit führten noths 





Kunſt. 587 


digere Sammlungen von Volksliebern und. Volksweiſen wohl begonnen, 
x aber leiber nicht fortgeſezt wurden *). Ein fcharfer Beobachter des 
neueften Volkslebens **) hebt es als eine merkwuͤrdige Eigenheit her⸗ 
vor, daß die Muſik, die fchönfte und erhebenbfte aller Künfte, fo wenig 
bei ten Voͤlkern betrieben werde. Im Sinne einer fchon dem 
KröPs zugefchriebenen Aeußerung: „Willſt du Sklaven, fo gib ihnen 
Muſik“, meint er geradezu behaupten zu bürfen, daß gefühlvolle, ſenſi⸗ 
tive Individuen und Nationen, wo die Tonkunſt hauptſaͤchlich einheimifch, 
nicht für bie Freiheit geboren fein. Darum made jegt die Muſik 
in Frankteich weit feltener, als fonft, einen Theil der männlichen Er» 
ziehung aus. Sie werde überhaupt weniger in England als in Frank⸗ 
reich, bier weniger als in Deutfhland, bier meniger als in Stalien, 
am Wenigſten aber in Nord» Amerika getrieben, wo man noch von 
feinem Staatsmanne oder fonft einem Manne von ausgezeichneter 
Stellung gehört, daß er ſich mit the befaßt habe. Den Grund hiervon 
ſucht er theils in dem für muſikaliſche Fertigkeit erforderlichen Zeit: 
aufwande, wie ihn der haushaͤlteriſche Norbameritaner wohl den Frauen, 
aber nicht den Männern geflatte; theils in deſſen Behutſamkeit gegen 
jebe Aufwallung oder fentimentale Aufweichung des Gefühls, wohn 
die Mufit, indem fie allmältg weicher ſtimme, leicht hinfuͤhre. Diefe 
Bemerkung ift indeß in ihrer Allgemeinheit nicht richtig. Wahr ift 
nur, daß eine ſolche Weichlichkeit der vorhertſchende Charakter ber 
neueften Mufit if. Aber wie ihrem Bebiete das ganze Neid, ber 
im Zone barfielbaren Empfindungen angehört, fo muß fie nicht blos 
eine deprimirende, fonbern auch eıne Eräftig belebende und erhebenbe 
Wirkung dufern Sinnen. Gedenke man doch an die Weiſen felbfl 
vieler neueren Schlachtlieder, Jagdlieder u. f. w., wie fie al& ber Aus» 
drud einer bewegten flarten Natur zugleich im Sänger und Hörer 
die Nerven fpannen und bie Thatkraft ſteiger. Die Behauptung, 
daß bie Mevolution in Frankreich der allgemeineren Culture der Muſik 
Eintrag gethan, möchte ſich eben fo wenig rechtfertigen laſfſen. ie 
bürfte etwa nur für die überhaupt tonlofer, mitunter auch tactlofer 
geworbenen hoͤchſten Stände ber Geſellſchaft gelten. Selbſt bie nad) 
allen Richtungen Hin zerflörende Revolution ift wenigſtens für bie 
Muſik gar bald erhaltend geworden. So hatte ſich nach Zerftörung 
der früheren Concertanſtalten ſchon im Schreckensjahre 1793 das Con» 
fervatoice gebildet, für ausübende Muſik wohl noch jest das bebeutendfte 
Inſtiteu in Europa. Auch fcheint gerade in neuerer Zeit und unter 
den unteren Claſſen, namentlidy unter ben Handwerkern in Paris, 
der den Franzoſen früher fo ganz fremde männliche Chorgefang unter 
deutſcher Anleitung Eingang zu Anden. 
Im einer Zeit, die überall bin fo viel mit Niederreißen zu thun 
und noch Beinen ficheren Glauben an ihre Zukunft gewonnen bat, wo 
So: „Baumſtark's Bolktgeſaͤnge.“ Darmftabt. Yabft, 1836. 
a Dr Befafe im Rear beiden Hemifphären.” 


W | 


im Schwanken der Meinungen und Intereſſen felbft, der Boden noch 
wankt, auf dem das Gebäude der Geſellſchaft ruhen fol, hatte am 
Wenigften die Baukunſt großartige Werke von entſchiedenem Charakter 
zu Stande bringen koͤnnen. Wie ſich jegt auf jedem befonberen 
Sprachgebiete die Poefie aller Zeiten und Wölker anzufieden file, fo 
laͤßt ſich in der Architektur ein Nebeneinander der verſchiedenſten Bau⸗ 
fiyle, ein Aufgreifen bald des einen, bald bes anderen bemerken. 
Nur darin läßt ſich in der neueften Zeit ein Fortſchritt nicht verkennen, 
daß bie Eigenthümlichkeit jedes befonderen Styles ſchaͤrfer aufgefaßt 
wird; daß bie feltfamen und unnatärlihen Miſchungen berfelben minder 
häufig geworden find. Ein frommer Sinn öehertſcht nicht mehr mit 
der früheren Ausfchließlichkeit alles Leben, und in doppelter Bedeutung 
gibt es weniger veligisfe Erbauung. Das Weltlihe ift in feine Rechte 
eingetreten und greift anmaßlic oft über feine Sphäre hinaus. Ale 
find vor Allem bedacht, fo bequem es gehen mag, ſich in biefem zeit: 
lichen Proviforium einzurichten. Darum wurde fon oft bemerkt, daß 
wir Beine Kirchen mehr und nod weniger Kirchthuͤtme zu bauen wiſſen, 
während Handelsbörfen und Fabriken, freilidh auch Gafernen und 
weitſchichtige Sanzleigebäude, zum Beſten gedeihen. Ueberhaupt werden 
die großen Werke der veligisfen Baukunſt nur da entfliehen, wo ein 
Glaube und ein Geift größere Maffen durchdringt, wie in Griechen, 
land und im Mittelalter; ober wo die noch geiſtig todte Maffe einem 
einzigen Willen zu unbebingtem Gehorfam unterworfen ift. So iſt 
die Iſaakskicche in Petersburg der Ausflug eines unbefchränkten Paifer- 
lichen Willens, die großartigſte Schöpfung der religiöfen Baukunſt in 
der neueften Zeit; ein gleich großartiges Werk biefer Art wird in 





Moskau unternommen. Im übrigen Europa find bie alten Bande 
der Geſellſchaft ſchon morſch geworden, oder völlig zerriffen. Und wie 
bei einer Feuersbrunſt die Meiften nur ſich felbft und ihre Habe auf 





Kuf. 589 


ein Staat, ober doc VBeherrfcherinnen eines. Staates. Sie hatten 
mit Mauern, Wall und Graben ihre Grenzen zu ſchuͤtzen. est haben 
die Staatögebiete fich ausgedehnt; die Keftungen find den erweiterten 
Grenzen zugerüdt und zahlreiche Städte, welche die Beflimmung vers 
toren, Feſtungen zu fein, haben ſich aus der Beklemmung dee MWälle 
und Mauern befreit. Sonft hatten ſich feftgefchloffene und privilegirte 
Gorporationen auf dem eng gemeſſenen Stabtgebiete in meift hoben 
Häufern, In zufammenhängenden Häuferreihen und engen Straßen 
zu Schug und Trutz an einander gedrängt. Jetzt Lebt man bie mehr 
in Länge und Breite fi dehnenden Wohnungen, die getrennten 
Häufer, die breiten Straßen; und weil bie Privilegien ber Städte 
meift verfchwunden find, haben fich gewerbliche Anlagen bderfelben Art 
auch in den Dorffchaften verbreitet, fo dag Stadt und Land, wie fie 
politifch gleicher fliehen, auch in der Lebensweife und im äußeren Anfehen 
fi) nähern. — Entſchiedener als in der Baukunſt ift der Auffhwung 
in dee Sculptur feit Anfang dieſes Jahrhunderts. Schon haben 
mehrere europäifche Nationen mit Canova und Thorwaldſen, mit 
Danneder, Raub, Tiek, Schwanthaler, mit Ohmacht, 
David, Zoyatier und Anderen eine nicht geringe Zahl ausgezeich- 
neter Meifter aufzumeifen. Im Anfange ihrer Wiedergeburt nahm die 
Sculptur, bie Ueberlieferungen und Dioden des 18. Jahrhunderts von 
ſich werfend, befonders in Frankreich und Italien, eine ſtreng antiki⸗ 
firende Richtung. Seibft Napoleon wurde noch von Canova 
nackt dargeſtellt. Erſt fpäter wagte man es wieder, ſich an bie volle 
Erſcheinung in der Gegenwart zu halten; fo dag man nun einen 
Napoleon mit Hut und Ueberrod auf dem Vendoͤmeplatze ſieht, einen 
Blüher, Scharnhorft und Bülow in preugifhen Uniformen 
vor dee Hauptwahe zu Berlin ”). 

Ein noch reichere® Leben hat fih in der Malerei entfaltet. 
Namentlidy gilt dies von Deutfchland und Frankreich. Doc hat aud) 
Stalien daran Theil, durch Gamuccini, Sraffi, Benvenuti, 
befonders Agricola von Urbino u. f. w. England hatte in Th. Law⸗ 
rence einen der vorzüglichften Portraitmaler, in Flarman einen 
der genialften Skizziften; es befigt in D. Willie einen der trefflichiten 
Genremaler und fonft noh in Davis, Haidon, Wilfon u. 2%. 
eine nicht unbeträchtliche Zahl tüchtiger Kuͤnſtler. Wie die franzöfifche 
Revolution centralifirt und im verfchiedener Beziehung antilifirt hat, 
fo bat auh David, der Schöpfer der neueren franzöfifhen Malerei, 
biefe antike Richtung eingefchlagen und zugleich alle Kuͤnſtler m feiner 
Schule herrſchend vereinigt. Seit dem Aufhoͤren dieſer David’fchen 
Dictatur haben die Franzoſen nur ein Gewirre wiberflzeitender Manieren 
und feine eigentlihe Malerſchule mehr, fondern nur einzelne hervor» 
ragende Meiſter und wechfelnde Gruppen von Nahahmern, bie ſich 


— — — 


+) Bergl. auch: „Verhaͤltniß der Kuͤnſte zur politiſchen Entwickelung ber 
neueſten Zeit.“ Deutſche Bierteliahrsfchrift, Juli — Sepi. 1839. 


590 Kunſt. 


um dieſe bilden. Wenn Delacroix und Decamp mehr das Lehm 
in feinen augmbli@tih feappanten Erſcheinungen barflellen, faßt es 
Ingres, der fi durch gebiegene Zeichnung und Abel ber Formen 
auszeichnet, meift in fpmbolifdy poetifher Weife auf, während Dela: : 
voche, als naturaliſtiſcher Geſchichtsmaler, eine Art Juſtemllien bildet. 
Der modernen und befonders ber franzoͤſiſchen Glaubensleerheit gegen» · 
über, hatte ſich in Deutfchland ſchon duch Tieck umd die Schlegel 
eine Batholifitend scomantifche Poefie gebildet und eine Zeit lang fogar 
eine geroiffe Heerfchaft behauptet. Wie nun meiſtens die Poefle den 
bildenden Kümften den Weg zeigt, fo hatten bie jungen beutfchen 
Künftter in Rom, darunter Cornelius, gleichfalls eine Fatholificend- 
altdeutſche Richtung eingeſchlagen, etwa bis zum Jahre 1820 hin, 
alfo in derfelben Zeit, wo in ben politifhen Beſttebungen dee deutſchen 
Jugend verwandte Tendenzen zum Vorſcheine kamen. Nach Deutfch⸗ 
land zuruͤckgekehrt, gründete Cornelius zuerft in Düffeldorf eine 
Schule, die er dann nach Mündyen verpflanzte und bier ermeiterte. 
Diefe Schule, ſchon in ihren erften Verſuchen auf groge Mäume und 
die Behandlung ernfter und grofartiger Gegenftände hingewleſen, bildete 
hauptfädlich bie Frescomalerei. aus und entwidelte eine Tendenz zum 
Hochpoetiſchen und kraͤftig Einfahen. Sie bearbeitete die Mythologie, 
Sriftliche Symbol, die Heldenfagen und großen vaterländifhen Ge 
ſchichten des Mittelalters. Indem fie aber, wie bie ditere chriſtliche 
Malerei, hauptſaͤchlich nur ben Ausdrud des Gedankens in feinem 
Hauptzügen fuchte, konnte fie ſich weniger mit dem Studium einzelne 
Naturerfheinungen befaffen, wie dies hauptſaͤchlich für die Ausbildung 
der Delmalerei und ben vollen Ausdrud der Naturwahcheit im Reij 
dee Farben» und Lichtwirkung erforderlich ift. Darum haben ſelbſi 





Kınft. - 591 


Heldenfages ging weniger von der freien Ausführung eines Gedankens 
aus, als von einer treuen Nachahmung ber Erfcheinungen, wodurch fie 
über ihre Werke den Reiz einer genauen und liebevollen Naturbeobadhtung 
verbreitete, aber die Begeiftigung diefer Erſcheinungen durch bie Idee 
nicht felten allzu ſehr in den Hintergrund rüdte.. Darum hat bie 
Düffeldorfee Schule, mehr noch als in der ernft hiftorifhen Malerei, 
in der Landfhaft und im Genre Vorzügliches geleiftet. Nach Jahr⸗ 
hunderten fcheint alfo der Geiſt der niederländifhen und oberdeutfchen 
Malerei nahe in benfelben Gegenden, wo er früher heimifch war, wieder 
auferflanden zu fein. Die größten Meifter der Düffeldorfer Schule 
find Zeffing, mit feiner Huffitenpredigt und manchen anderen, ber 
neueren Gefchichte und Poefie hauptſaͤchlich entlehnten Stoffen, und 
Bendemann, der Schöpfer bes berühmten Bildes „Jeſaias auf den 
Trümmern von Serufalem.” Leffing ift eben fo ausgezeichneter Lands 
ſchaftsmaler, und in feinen Lanbdfchaften, wie in feinen hiſtoriſchen Vils 
dern, teitt ein durchaus deutſcher Charakter hervor. Schirmer und 
Ahenbad find berühmte Landfchafter und jener befonder6 ausge⸗ 
zeichnet. Auch Sohn mit feiner plaftifhen Malerei und namentlich 
feinen reizenden Darftellungen des weiblich Nadten; Hübner, der 
mit feinem Hiob Großes verſprach; Steinbrüd mit feinem fchönen 
Senovevenbilde und Andere treten bedeutend hervor. UWeberhaupt fcheint 
der Reichthum ber Zalente in der Düffeldorfer Schule, obgleich diefe 
in einzelnen Schöpfungen von ber Münchener überragt werben mag, 
am Größten zu fein; fo daß fi auch in der Malerei ein ähnliches 
Verhaͤltniß, wie früher in ber Volkspoeſie zeigt. Die Düffeldorfer 
Schule zähle Manchen in ihrer Mitte, wie Kähler und Andere, die 
fit) von einem handwerksmaͤßigen Berufe zu tüchtigen Künftlern empor: 
gearbeitet Haben. Sie bat Überhaupt, auch In der Wahl ihrer Stoffe 
und ber Art ihrer Leiftungen, einen mehr. demokratiſchen Charakter ; 
wie fie denn, menn gleich von oben begünftigt, body mehr aus dem 
Volksleben, woraus fie hervorgewachſen, ihre Nahrung zieht und weni⸗ 
ger ausfchließlich, als die Muͤnchener, von einem monarchiſchen Willen 
Pflege und Richtung empfängt. Den beiden Hauptfigen ber neueften 
beutfhen Malerei zur Seite, baben fi) in Berlin, Dresden und 
Frankfurt, welches Iegtere zu einem artiftifchen Mittelpuncte fehr geeigs 
net fcheint, mit mehr oder weniger Gluͤck befondere Schulen aufge⸗ 
than. Auch in Wien zeigt ſich ein vegfameres kuͤnſtleriſches Streben. 
Ueberhaupt iſt in den größeren Städten, namentlid bes ſuͤdweſtlichen 
Deutſchlands, eine auffallende Zunahme der Künftler bemerkbar, die 
mit ihrem frifcheren und feineren Leben zwifchen ber dumpfen Maſſe 
und bee conventionellen Hoheit der höheren Claſſen ein heilfames Ele⸗ 
ment bilden. 

Im Hinblide auf den allgemeinen Charakter der bdeutfchen und 
franzöfifhen Malerei, hat man ſchon oft die Bemerkung wiederholt, 
daß in jener die Ruhe ber Betrachtung und bie ſchmuckloſe Innigkeit 
bes Gefühle vorwalte; im bdiefer die nach Außen gerichtete Thätigkeit 





592 Kunſt. 


und eine fo überwiegende Rüdficht auf das Aeußerliche, daß das Be 
mußtfein des Anftändigen und Gefälligen felbft den hoͤchſten Ausdruf 
der Leldenfchaft behercſche und eben barum ſchwaͤche, weil es al 
Affectation die Lüge mit der Wahrheit vermiſche. Schon in Davib 
and feiner Schule hat man dieſes Hafdyen nad, theatraliſchen Effecten 
erkannt. Man muß ſich indeß hüten, von einem deutſch nationalen 
Standpuncte aus den barin ausgefprodenen Vorwurf allzu weit zu 
treiben. Bei dem Franjzoſen prägt fi aud) das, mas ihn nur leide 
berührt, ſcharf und lebhaft auf der Oberfläche aus, und fo mag, was 
"dem Deutfdyen unnatürlidy ſcheint, bei ihm nicht felten national und 
natuͤtlich fein. Mac der ganzen Richtung des Lebens in Frankreich 
iſt es begreiflich, daß fidy die neuere Malerei mit der Ausbeutung der 
chriſtlichen Religionsgeſchichte nicht befonders befaffen mochte; und daß 
fie, wo fie e6 verſucht, nichts fehr Bedeutendes geleiftet hat. Aber 
auch in ber beutfchen Malerei, felbft der Mündyener Schule, Hat ſich 
jenes veligiöfe Element, das eine Zeit lang allgemein herrfchend zu 
werden ſchien, neben Anderem nur als ein Beſonderes behaupten Ein 
nen. Man hat diejenigen, die es hauptfädlih in fid) aufgenommen 
und gepflegt, wohl hier und da als Nazarener bezeichnet. Den 
Meiftern unter biefen, einem Dpverbed und Bendemann, muß 
man indeß nahrähmen, daß fie nicht blos die fromme Einfalt zu ma 
len verſtehen, fondern im geiftvollen Ausdrude religiöfer Stims 
mungen, dem Charakter der neueren Zeit gemäß, bie eifrig gefuchte 
Verbindung von Wiffen und Glauben barzuftellen ſuchen. Su all 
gemein läßt fid übrigens für Frankreich wie für Deutfchland behaup⸗ 
ten, baß die Genremalerei, dieſes Volkslied der Malerei, nicht blos nad 


der Zahl ihrer Wilder, ſondern auch nach der geiftteiheren Auffaffung, 
ein Uebergewicht über bie hiftorifche erlangt hat. Dieſe hiſtoriſchen 
Bilder laſſen meiſtens nicht nur die betrachtende Menge Ealt, fondern 


Kunft. 5393 


Malerei, ben man als biftorifche, oder noch fhärfer ald nationale 
Genremalerei begeichuen mag, mehr und mehr Beifall finden; nämlich 
die Darftellung von Scenen, worin das Volk ſelbſt in feiner nationa- 
len Eigenthuͤmlichkeit als gefchichtliche und GSeſchichte erzeugende Per 
fon in einzelnen Repräfentantn aufteit. Auch in dieſer Richtung 
haben fidy ſchon die Sranzofen in ihren zahlreichen Kriegebildern, Ju⸗ 
liusfcenen u. dgl. mit Gluͤck verſucht. In Deutſchland dagegen, wo 
man mehr auf das innere Leben gewiefen war, bat fi) die Malerei 
befonder® angelegen fein laffen, die in deutſcher und fremder Poefie 
gegebenen Stoffe zu bearbeiten. Beſonders gefchab dieſes in München 
auf Veranlaffung des Königs; fodann von Leffing mit Uhland’s 
Koͤnigspaar, Buͤrger's Lenore von Rewreuther und Retzſch in 
ihren Randzeichnungen und Skizzen und von vielen Anderen. Diefes 
Streben tft fehr zu achten, wenn nur die Künftier hauptſaͤchlich ſolche 
Stoffe wählen, bie aud der Geiſt des Volks in fi aufgenommen 
bat, und wenn fie in nicht allzu fluͤchtiger Arbeit fich felbft erſt vom 
Geiſte der Dichter durchdringen lafien. Es fcheint jedoch gerade in 
unferer Zeit eine befondere Vorliebe für die flüchtige Skizze zu herr: 
ſchen. Entſpricht fie doch mit ihrer haftigen Eile, bie eine drängende 
Fülle von Gedanken binwirft und ihrer Beinen fich vollenden und Leben 
gewinnen läßt, dem Charakter diefer Zeit, welche, noch von den Klip⸗ 
pen ber Revolutionen gebrochen, erſt in Millionen Tropfen aus einans 
der ftäube, ehe fie wieder in Einheit fih zu faffen und in ihrer Kunft 
zugleid Himmel und Erde abzufpiegeln vermag. 

Wie viel Löbliches man übrigens der neueren Kunft, zumal der 
Malerei, nahrähmen mag , fie leibet noch an den Gebrehen, woran 
auch der Staat und die Geſellſchaft leiden, an dem Mangel eines 
öffentlihen und an ber Zeriffenheit de6 modernen Lebens, an bem 
Zwiefpalte der Volksbildung und gelehrten Bildung. Sie hat nicht 
jene Unmittelbarkeit, wie in den fchönen Zeiten des Alterthums; und 
- indem fie fo viele ihrer Gegenſtaͤnde aus fernen Zeiten und Nationen 
aufgreift und in allen Zungen zu reden verfucht, fpricht fie feibft noch 
eine fremde, ben Meiften kaum verfländlihe Sprache. Aber bie 
Kunft bedarf nicht blos einer Heimath, fondern eines Vaterlandes und 
der Liebe zum Vaterlande; fie muß, um höhere Stufen ber Vollen⸗ 
dung zu erreichen, von einem Gemeingeifte gehoben und getragen wer: 
den und mit flets fichtlihem Einfluffe auf defien Läuterung und Ent: . 
widelung zurüdwirten. Damit mag nicht gerade behauptet fein, daß 
fie nur unter beflimmten Verfaffungsformen gebiehen fei und habe 
gebeihen Finnen. Wir fahen in Athen mit der wachſenden Herrſchaft 
bee Demokratie zugleich bie Künfte zur hoͤchſten Bluͤthe ſich entfalten 
und fie ausarten mit ber Ausartung der Volksherrſchaft zur Poͤbel⸗ 
herrſchaft. Wir fahen Mren Zlor während bes Mittelalters fo im 
Schooße freier Städte, wie an manchen Fürftenhöfen, und fie fpdter 
ver fcüppein und fi verzerrn im Glanze mächtiger Monarchieen. 
Bom Standpuncte einer nur ruͤckwaͤrts bildenden Befchichte wich alfo 

Gtants sEeriton. IX, 88 


LI vu Kunfl. 

die häufig wiederkehrende Frage nach bem Vorzuge 

deren Verfaffungsform für die Sörberung ber Kunf 

laffen. Wohl aber lehrt bie Geſchichte 5 für 

Butunft, daß der beflimmmte Gehalt jeder befonderen Zeit 

ter Formen des öffentlichen Lebens bedarf, und daß die Künfte nur ge ' 

deihen, wo bie politifchen und focialen Werhättniffe eine gewiſſe Gte 

tigfeit erlangt und den Glauben an ihre Dauer erzeugt haben, weil 

der Friede duch die Befriedigung der Rationen gefichert er⸗ 
int. So iſt es jegt nicht, wo bem Beduͤrfniſſe und der Forderung 


fem Sinne ift es freilich eben fo wahr als nothwendig, daß noch be 
Politik und die politifchen Parteilämpfe der Ausbildung der Käufe 
hemmend im Wege ftehen. 

Noch von einer anderen Geite treten ſolche Hinderniſſe entgegen. 
Wir find auf dem Gebiete der materiellen Cultur im Beginne eine 
hoͤchſt merkwürdigen Periode, der Periode einer raſch fortfchreitenden 
Unterwerfung der verflandeslofen Naturkräfte unter ben Seiſt dei 
Menfhen, alfo bes Erſatzes der Menfhenkräfte duch Mafhinm 
kraͤfte. Damit bildet ſich eine ganz meue Theilung ber Arbeit zwiſchen 
Menſchen und dußerer Natur. Indem biefer letzieren mehr und mei 
die bios mechaniſchen Thaͤtigkeiten anheimfallen, wie fie in 


Sriechen⸗ 
land den Skiaven jugemisfen waren, werben einmal bie Mafchinen die 


Sklaverei erfegen innen und eben ſowohl eine allgemeinere Tpeilmahme 
an ben’ Angelegenheiten des Gemeinwefens, ald ein allgemein regfameı 
res Kunſileben möglich machen. Aber nody find wie ef an ben 
Künften diefer neuen Welt des 19. Jahrhunderts —— Und 

en * 





Kurnſt. 505 
auch einmal in ihrer flüchtigen Betrachtung zu verweilen und feinen 
Tribut ihr 


zu zellen. 

Wie ungänflig aber bie politiſchen und focialen Werhditnifie bc 
jet find, fo war doch ber Anſtoß der Revolution gewaltig genug, um 
die Kunft aus ihrer ſchlaͤfrig herkdmmlichen Weiſe aufjumeden und 
uͤberallhin neue Kräfte in Thaͤtigkeit zu fegen. Hiernach hat fich die 
Maffe der Lünftierifchen Production und bie bes Lünftlerifhen Be⸗ 
voͤlkerung, befonders in den legten Sriedensjahren, fehr beträchtlich ver⸗ 
mehrt. So befanden fi, auf der Kunftausftelung in Paris im Jahre 
1827 nur 1820, im 3. 1833 aber 3318 Gegenſtaͤnde. Auf bie 
wachſende Menge ber Künftler in den deutſchen Gtädten wurde 
fhon oben aufmerffam gemacht. Paris hatte im 3. 1832: 1623 
Mater, Lithographen, Zeichner; 161 Bildhauer ; 810 Graveurs; 480 
Architekten; 316 Componiften und bekannte Lehrer der Muſik, fo wie 
etwa 1626 ausübende Tonkuͤnſtler. Muſik und Malerei, die freieren, 
raſcher producirenden und einer größeren Menge zugänglichen Künfte, 
find alfo weit am Staͤrkſten vertreten. Ueberhaupt fehen wir jegt bie 
Kunft, wie die Induſtrie, weniger ausfchliegend auf einzelne Clafſen 
der Geſellſchaft, als vielmehr auf die Maſſen fpeculiven; was fehr be: 
greiflich, da fich ſowohl Bildung als Vermögen im weiteren Kreiſen 
ausbreiten. So wird nun freilich, zur Befriedigung der Gelüfle des 
Augenblicks, viel leichte Waare in Umlauf gefest; aber am Ende lernt 
doch eine zahleeichere Menge auch das dauernd Werthvolle unterfcheiben. 
Diefe Popularifirung der Kunft wird theils qualitativ, theils quantis 
tativ durch größere Vermannichfaltigung und, Vervielfachung kuͤnſtleri⸗ 
ſcher keiſtungen gefördert. Dahin gehört die NWieberentdedung und 
fortfchreitende Vervollklommnung dee Blasmalerei, befonders in Balern 
feit 1836; die Wiederaufnahme und Werbeflerung der ſchon am Ende 
bes Mittelalters mit fo viel Liebe betriebenen Holzſchneidekunſt im 
England, Frankreich und Deutfchland; die Vervielfältigung der Werke 
der Sculptur in kleineren und ſehr wohlfeilen Gppsabgäflenz beſon⸗ 
ders aber bie Erfindung bes Steindrucks und des Stahlfſtichs. Sehr 
bedeutend ſchlleßen fi) daran einige ganz neue Erfindungen an: bie 
des Abdrucks von Delgemälden duch Liepmann in Berlin und bas 
Daguerrestup*). In welchem Umfangs das Eine ober Anbere ſich 
kuͤnftig bewähren mag, fo wirkt boch von allen Seiten ber gar Vieles 
zuſammen, um felbft die Kunft gu demokratiſtren und bie ariſtokratiſche 
Geſchmacksherrſchaft einzeiner Stände zu vernichten. Auch laͤßt 
gerade in biefen neueſten Erfindungen wieder die weitere Geltend⸗ 
machung eines allgemeinen Bildungägefeges erkennen, wornach fich bie 
überwiegend geiflige von der überwiegend materiellen Production, bie 
ſchoͤpferiſch kuͤnſtieriſche von der nur reproducirenden handwerksmaͤßigen 


— — — ——————— 


Etwas zweifelhafter in ihrem Beſtande und Werthe ſcheint die von 
Golas in Per is bene Topirmaſ Werte der Seulptur in 
jeder Orbße und am verälenden Arm on Mt, 


sen läßt. 

Die zahlreich entftandenen Kunftvereine, wie fie der Affociationd: 
geift der neueren Zeit befonder6 in Deutfdland hervorgerufen, find zu: 
glei) ein weiteres Zeichen und ein foͤrderliches Mittel für eine fort: 
füpreitende Popularifirung dee Künfte. Indem fie über die politifchen 
Grengen der einzelnen Staaten und felbft des geſammten deutſchen 
Gtaatenbundes hinaus vielfache Verbindungen und freundlichen Ber 
kehr von Stadt su Stadt vermitteln; auch wohl an gemeinſchaftlichen 
Feſten größere Zufammenkünfte aus verfhiedenen Theilen des Water 
andes veranlaffen, haben fie noch eine mehr unmittelbare politifde 
VBedeutung. Dat doch vor Kurzem ber verbindende Gultus der Kunſt 
felbft das in ber deutſchen Kunſtgeſchichte fo hervorragende Straß⸗ 
burg wieber in einen Verein mit deutſchen Städten geführt, und muß 


er doch mit dahin wirken, bie alten nationalen Gpmpathieen nicht 
vollig verſchwinden zu laffen. Auch in Frankreich haben ſich in vielen 
Provinzialftädten ſoiche Wereine gebildet weiche öffentliche Ausſtellun · 
gen veranftalten, während ſich feüher. Alles der Art in Paris centras 
Ufiet Darin liegt mit en Beweis, daß ſich in den Departes 
me d 2 ber Hau gsmübss 





Kunſt. 597 


rung und ohne forgfältiges Naturſtudium in eine Weile bes Schaffens 
einlebt, bie am Ende doch nur eine herfömmlihe Manier ift, ob 
man fie gleich als Hochpoetifhen Styl bezeichnen mag. So bleibe 
benn ſehr wahr und treffend, was Uhland in einem feiner neueflen 
Gedichte fagt, vom Fuͤrſtenhofe, 


ſte kraͤnzt, 
„Bo Prunkſaal und Alkove 
„Bon Sötterbilbern plänat s 
„Sin Baum, der n 
„Bolsboben fi) genährt, 
„Rein! einer der nach oben 
„Sogar die Wurzeln kehrt.” 

Befuͤrchtet man auf der andern Seite, bag bie Ausdehnung ber 
Bereine nur eine Abhängigkeit mit der andern vertaufchen und bie 
Kunft unter die Gewalt der Maffen beugen werbe, fo fcheint eine 
ſolche Beſorgniß durchaus eitel; ſeldſt davon abgefehen, daß die Vers 
breitung ber Vereine mit derjenigen ber Bildung und des kuͤnſtleri⸗ 
chen Intereſſes ſtets im Werhältniffe ſtehen wird. Freilich ſoll bie 
Kunft fo wenig die Schmeichlerin der Menge, als ber Höfe werben; 
aber fie fol mitbildend das Volk erheben, und um biefeß zu vermögen, 
um ihm bie Hand bieten zu können, muß fie ihm nahe bleiben. Iſt 
doch auch der Künftier fo innig mit feinem Molke verwachſen, baß er 
felbit erkaͤlten und erflarren, unb am Kleinſten erfcheinen muß, ba er 
fi am Groͤßten dünkt, wenn er, von ber warmen Quelle des Lebens 
losgeriſſen, in kalte und einfame Höhe fich verfleigt. 

och in vielen anderen Beziehungen fucht die Kunſt einen volks⸗ 
thuͤmlichen Boden, und das Volk eine populäre Kunſt zu gewinnen. 
Beſonders in Deutfchland zeigt ſich jetzt eine weit verbreitete Neigung, 
die bedeutenderen Männer der Nation in Dentmälern zu ehren. Die 
Anregung dazu geht häufiger als früher aus einem Nationalwunſche 
hervor, und wenn fich die Monumente fonft nur für Fuͤrſten, Staats» 
männer und Selbherren erhoben, für die Monarchie und ihre unmittel: 
barften Diener; fo erheben fie fich jetzt aud für die Männer bes 
Volks, für Dichter, Kuͤnſtler, wiffenfchaftliche Forſcher und Erfinder. 
Noch von größerer Bedeutung möchten fie werben, wenn man fidh 
weniger auf blofe Abbil der der Sefeierten befchränten, fonbern zus 
gleich kuͤnſtieriſche Sinnbilder fchaffen wollte, welche die befondere 
Art ihrer Wirkſamkeit und ihres Einfluffes zur Anſchauung brädyten*). 
An bie Einweihung folcher Denkmäler knuͤpfen fich oft befondere Volks⸗ 
fefte, die Poefie und Muſik zu verfchönern fireben. Auch davon uns 
abhängig iſt wieder etwas mehr Luft für gemeinfame Feſte erwacht. 
Konnte fie gleih in Mitte einer weit verbreiteten Mißſtimmung noch 
nicht ſehr heimiſch werben, fo ſucht man boch zeitiweife diefe von ſich 
abzuſchuͤtteln. So hat Coͤln felbft während der neweften Zerwuͤrfniſſe 


”) ——— adentunge⸗ in dieſer Beziehung gibt ein Auffag im 





— 
508 Kunft. Kurfuͤrſten. 
ſein heiteres Faſchlugsfeſt begangen, und ber In biefer Stade gegrkubin 
Garnevalsverein hat bereit® Hunderte von eigens gebichteten umb com 
onirten Liedern, humoriſtiſche Erzeugniſſe, welche — wie fen 
Goethe bemerkte — einen ganz befonberen Zweig in ber deutfchen 
Literatur bilden. Wenn bie Kunftvereine hauptfächlich die Muſik und 
Malerei dem Volke näher ruͤcken, fo hat fidy die neuere deutſche Poeſie 
ſchon früher in völliger Unabhängigkeit von ben Thronen entwickelt. 
Auch die größten Dichter ber Nation hatten fich ſelbſt ſchon Bahn ges 
beochen, ehe fie den Weg nad) Weimar fanden. Was gar bie jüng- 
ften Dichter betrifft, fo bat man bemerkt, daß bie Zahl berjenigen, 
bie mit Titeln oder Aemtern begnabigt find und mittelbar ober unmit⸗ 
telbar im Solbe der Machthaber ftehen, jest geringer als jemals if. 
Freilich gibt ſich der Serviliemus felbfk ohne Pränumeration zum Ne 
ſten und lobt ben Käfig, worin er gefangen fikt. 

Die Geſetzgebung neueſter Zeit Hat mit dem fogenannten literariſches 
zugleich das artiftifche Eigenthum ficher zu ſtellen gefucht. In Deutfd- 
land bat der in dieſer Abſicht erlaffene Bundesbeſchluß vom 9. es. 
1837 eine Reihe befonderer Lanbeögefege zur Folge gehabt, woven 
wehrere , wie das preußifche Sefes vom 22. Dec. beffelben Jahres, durch 
fhärfere Faſſung und nähere Beflimmung des Verbots einer Wachbäls 
dung ber Kunftwerke auf mechaniſchem Wege, in bie Sache näher ein 
gegangen find. Solche indirecte Begünftigungen find immerhin ans 
erkennen, während man gegen jede Erziehungskunſt der Kunſt, bie auf 
allzu pofitive Weife von oben herab betrieben werben fol, hoͤchſt ges 
rechte Bedenken haben mag. Da fi) gerade jegt die Mittel einer 
mechaniſchen Vervielfältigung bee Kunftwerke fo fehr vermehren, ſo 
mug man jene fihernden Maßregein gegen Mißbrauch und Beein⸗ 
teächtigung um fo mehr als zeitgemäß gelten laſſen. Sie find wie ber 
Pfahl, den man zu befferem Halte neben die Rebe fledt, Nur fol 
man von ſolch aͤußerlicher Stuͤte noch Eeinen guten Herbſt erwar⸗ 
ten, ber vielmehr nach wie vor von dem in nerſten Lebensſafte, von 
Boden und Sonne abhängen wird. Am Wenigften foll man ihn zwi⸗ 
ſchen Winter und Fruͤhjahr erwarten, dba noch bie rauhen Stürme 
wehen. Ueber biefe Periode find wir noch nicht hinüber, mögen mir 
nun das Leben und Treiben im Staate und in ber Gefelfchaft, ober 
in der Kunft in’s Auge faflen. Und fo wird diefe eine höhere Wollen: 
dung nicht eher erreichen, bis die Aufgabe unferer gährenden Zeit, bie 
Herrfchaft der Gerechtigkeit und" Freiheit in ber natienalen Einheit, 
ſiegreich geloͤſ't iſt; bis dann auch wieder die Kunſt eine große Vergan⸗ 
genheit hinter fi, eine freundliche Gegenwart um fi, eine fonnige 
Ausficht in die Zukunft vor fich bat. . 

Kurfürften. — Soldene Bulle Kaiferwahl. Wahl: 
capitulation. — Der Grundſatz, wornach die Volksgemeinde als die 
alleinige Quelle aller öffentlichen Gewalt und alles öffentlichen Mechtes 
betrachtet wird, findet fih in den früheften Zeiten unter den germanl: 
hen Völkern in der unmittelbarften, volftändigften Anwendung. Dem 


Lurfurſten. 309 


es urtheilte biefe Gemeinde eben ſowohl als Richter über Anklagen, wie 
fie als Befepgeber gemein verbindende Vorfchriften erließ und Beſtallun⸗ 
gen zu denjenigen Aemtern verlieh, deren fle als Organe ihrer Zweck⸗ 
thaͤtigkeit bedurfte, und welche hauptfählic in Leitung der Verſamm⸗ 
ungen, in Vollziehung der gefaßten Beſchluͤſſe, in Anführung bes 
Heerbannes beftanden. Die Ermennungen zu diefen Aemtern gefchahen 
naͤmlich durch Wahl der Volksgemeinde, wobei jeboh an eine Wahl 
nach heutiger Weile, indem jeder einzelne Stimmberechtigte feine 
Stimme gibt, die Stimmen gezählt werden, unb der ſonach gefundene 
Mille der Mehrheit den Beſchluß bilder, nicht gedacht werben barf. 
Vielmehr beruhten die Belchläffe der Volksverſammlungen auf Einhel: 
Ugkeit der Stimmen, die ſich insbefondere bei Wahlen dadurch ergab, 
daß ein bekannter, in der Gemeinde geehrter und geachteter Mann zu 
dem Amte in Vorſchlag gebracht, und biefer Vorſchlag mit allgemeinen 
Beifaljauchgen aufgenommen ward. Der durch Öftere Kriege erzeugte 
Drang ber Umflände erheifchte und berief vor Alten den Tuͤchtigſten 
und Erfahrenſten an bie Spige des Heerbannes, und wer, mit Faͤhig⸗ 
Zeit begabt, einmal zu diefer Stelle gelangt war, der konnte durch im⸗ 
mer glänzendere Entfaltung feiner Kräfte, durch glüdliche Kührung feis 
nes Amtes, ſich in dem Vertrauen feines Volkes befefligen und nicht 
nur lebenslänglid, bei. feinem Amte behaupten, ſondern auch bewirken, 
daß es einem feiner Nachkommen übertragen wurde, bie fid) unter ſei⸗ 
ner Auffiche und Leitung , als in einer Schule, dazu am Beſten vorbe: 
zeiten konnten. Um fo eher konnte diefes gefchehen, als in jenen Zei⸗ 
ten hoher Sitteneinfalt, mehr als in den fpäteren, das Spruͤchwort 
feine Geltung bewährt haben mag, welches die Nachkommen als bie 
Erben der Tugenden ihrer Väter bezeichnet. Die von einer Reihe treff- 
licher Vorfahren bekleideten Aemter und Würden verbreiteten fobann 
über ganze Kamilien einen Blanz, ber die Mitglieder derfelben vor allen 
Anbern in den Augen des Volkes als befähigt zu biefen Aemtern erfcheinen 
ließ. Doc, aing dieſes nicht leicht in ſolche Verblendung über, daß bie 
Verdienſte der Väter felbft in ben trägen und ausgearteten Enkeln ge 
achtet, und diefen, zum Verderben des Gemeinweſens, bie Reitung ber 
öffentlichen Angelegenheiten anvertraut wurde. Der einfache und 
praktiſche Stan des Volkes Tonnte, trot feiner Achtung für das An- 
denken rubmwuͤrdiger Ahnen, nicht umhin, bei dee Wahl feiner Fuͤh⸗ 
rer auf wahre Fähigkeit und Würdigkeit zu ſehen, und ſolche, wenn 
fie den Nachkommen berühmter Vorfahren mangelte, auch da anzuer⸗ 
* ‚ wo fie aus dem Hintergrunde einer dunkeln Vergangenheit 
tete. 


Nach der Theilung bes Frankenreichs durch ben Vertrag von 
Verdun 848 traten Deutſchlands Voͤlker zum erſten Dale, zu einem be: 
fonderen Reiche vereinigt, in dev Geſchichte auf und Aberfamen in der Per: 
fon eines Nachkommens Karl's bes Großen die Würde und Herrſchaft 
„eines Könige ganz fo, wie fie ſich im Frankenreiche gebildet hatte, daher 
namentlich mit bem gewöhnlich gewordenen Mebergange auf die Nachkommen 


o —* 
bes Inhabers, fo wie mit der Sitte, daß die etwa nothwendig game 
dene Wahl eines Königs hauptſaͤchlich von den Großen ausging. Us 
wie dieſe, und insbefonbere die Nationalherzöge, regelmäßig der YBah ' 
ober body Beiſtimmung des Volks ihre Würde verdankten und in ala 
Öffentlichen Angelegenheiten defien Stimme zu beachten gewohnt tarın, 
fo achteten fie auch darauf bei der Wahl eines allen beutfchen Volken 
gemeinfamen Könige, weiche Wahl urfprünglich unter freiem Himmel 
von ihnen zu gefhehen pflegte, wobei die verfammelten Voͤlker bem, 
was ihre Führer in Uebereinftimmung mit ihren Wünfchen vollbradt 
hatten, Beifall zujauchzten. Nachdem in Folge der Unterwerfung de 
deutſchen Völker unter bie fraͤnkiſche Herrſchaft diefe Herzöge zu. dem 
feänkifhen Koͤnigen in das Verhättnig von Dienfimannen und Lehm: \ 
traͤgern —S waren, fo dauerte natürlich dieſes Verhaͤltniß nah : 
ber Trennung Deutfchlands vom fränkifchen Reihe fort und bee ! 
fligte ſich immer mehr, und es gingen an fie aud) diejenigen Aemtn ; 
über, womit bie fraͤnkiſchen Könige theils zur Hälfe in Ausuͤbung dr 
Herrſchermacht, theils zur Erhöhung des fie umgebenden Glanzes, bie ı 
Angefehenften ihres Gefolges beliehen. Dabei wußten die nunmehrign : 
Vafailen des Könige, vermöge ihrer Eigenfhaft als Nationalherzöge, ' 
eine Regierungsgewalt über die zum Herzogthume gehörigen Länder 
geltend zu machen, welche fie, in Unterordnung unter bie Keichsgemalt, 
ausübten, fo wie ihnen ihre Eigenfhaft als Reihsbeamten Anla gab, 


ein Miteegierungsreht in Beziehung auf Reichsangelegenheiten zu be 
haupten. Gie wurden daher vorzugsweife bei allen wichtigen Reichsan⸗ 
gelegenheiten zu Rathe gezogen und Beſchluͤſſe nur mit ihrer Zuj 
mung gefaßt. Eben fo waren fie es denn auch, melde vorzugsweife 
den König wählten ober den ducch die allgemeine Stimme ald unwuͤr⸗ 
dig Bezeichneten des Thrones entfegten. Die völlige ‚Einfeung bes 
Auigd erinchs: ab 4 MRohL ha rule ah ham Proicot 





Surfürften. 0 
welche bie Herzöge bem gewählten Könige, zum Zeichen ihrer wirkuchen 
Untergebung, und daß fie zu ihm in das Verhaͤltniß von Dienfimannen 
getveten feien, bei öffentlicher, feierlicher Hofhaltung zu leiften pflegten. 
In dieſer Hinficht dienten diefe Aemter als fpmbolifche Zeichen der 

Unterwerfung dee Herzöge unter das Anfehen des Könige; und ba bie 
Herzöge als Repräfentanten ihrer Voͤlkerſchaften erfhienen, und biefe 
dem Vorgange und Velfpiele jener nachzufoigen gewohnt waren, fo 
dienten jene Aemter zugleich als fpmbolifche Zeichen der Unterwerfung 
aller deutſchen Wölker unter das Anfehen des gewählten Könige. 3 
Dtto I, Herzog von Sachſen, zum Könige ber Deutſchen gewählt 
wurde, [7 waren es bie Herzöge von Lothringen, Franken, Schwaben 
mb Baiern, die ihm als Kämmerer, Trucfeg, Schenk und Marfhalt 

te Dienfle barboten, wie denn auch ohne Zweifel feine Wahl vor 
Aal durch diefe gefchehen war, da e6 ganz in ber Natur der Sache 
lag, daß gerade diejenigen, bie den König im Namen bes Völker ges 
waͤhlt hatten, biefen mit dem Beiſpiele der Unterwerfung unter deſſen 
Anfehen vorangingen und fi vor Allen als beffen Dienfimannen bes 
wieſen. Die Galbung und Krönung geſchah durch den Erzbiſchof vom 
Mainz, jedoch mit Widerſpruch derer von Trier und Cötn. 

Mit der Exblichkeit der herzögtihen Würde war nicht ſogleich auch 
das Erfigeburtsrecht verbunden. Es begab ſich daher nicht felten, baf 
das herzogliche Amt mit den darumter begriffenen Landen an bie meh: 
zeren Nachkommen eines Inhabers vererbt wurde, lettere fomit in Bet 
nere Theile zerfielen. Während ſich hierdurch die Anfangs eine Zahl 
ber Meichsvafallen beträchtlich vermehrte, ſank bagegen das Befigthum 
und damit zugleich bie Macht und das Anfehen derfelben fo ſehr herab, 
daß fi) ihnen viele Grafen und Dynaſten ober freie Grundeigenthüs 
mer an bie Seite flellen konnten. Wie nun biefe von jeher bie erſten 
Glieder der Volksgemeinde ausmadhten, die ben Herzog wählten und in 
Öffentlichen Angelegenheiten eine entſcheidende Stimme führten, fo war 
«6 natürlich, daß fie auch im Verhaͤltniſſe zum Weiche ihre Freihelt 
und das Recht ber Theilnahme an öffentlichen Angelegenheiten geltend 
au machen, ſonach fid) den Herzoͤgen anzuſchließen ſuchten, deren Vor⸗ 
— ihre Gleichen und von ihnen aus ihrer Mitte gewaͤhlt worden 

Hinter ihnen konnten bie mit bedeutenden Pfruͤnben ausge 
Hatteten Kicchenfürften um fo weniger zurüdbleiben, als dieſen jeden 
falls in ben die Kirche betreffenden Reichsangelegenheiten eine entſchel⸗ 
dende Stimme fogar vorzugewelfe gebührte, welche ſich, bei dem inni⸗ 
gen Zufammenhange der kirchlichen und weltlichen Sachen und bei der 
größeren Wichtigkeit, die den erfleren beigemeffen wire, von ſelbſt u 
auf bie legteren erſtrecken mußte. Alte diefe wurden als bie erften und 
angefehenften Glieder des deeichs betrachtet, tweldhe durch Ausbreitung 
de6 Lehenweſens in Deutfhland, gieich ben Herzigen, am die fie ſich 
enfcloffen, veemöge ihre Länderbefthes in das Werhäfeniß von Reiche» 
vafallen traten und einen befonderen Stand ausmadıten, der das ur 
fpränglic, allen freien Grunbeigenthämern zuſtehende Recht der Stimm ⸗ 


s 
geidhah Durch bie Angefebenften, 


beachten Wahl, als Somdbel di 


(1152) von demjenigen Fuͤrſten, die ihm hiernaͤchſt ſymboluſch die Pflich- 
ten dimftmannfcdaftlicher Untergebenheit ermwiefen, nämlich ven bem 
Pfalzgrafen bei Rhein, der ihm beim: feierlichen Mahle ala Truchſeß 
vom Herzoge von Sachſen, der ihm als Marſchall, vom Markgrafen 
von Brandenburg, der ihn als Kämmerer bediente, endlidy vom 





nurfürſten. o08 


fein, inbern wämlich biefe urfpränglich bem cömifhen Volke zukam, 
danıı'von allen Geiſtlichen autging, zuletzt aber in ein ausſchließendes 
Borrecht weniger Kirchenfürften fid, verwandelte. Herner mag jener 
Webergang befördert worden fein durch bie Verſuche ber Päpfte, die Er⸗ 
nennung ber beutfchen Könige als ein Recht des heiligen Stuhles gels 
tend zu machen, insbefonbere durch die zur Abwehr diefee Anmaßung 
und zu Eräftiger Behauptung ihres Wahlrechtes unter ben die Vorwahl 
ausübenden Zürften bervorgerufene engere und feftere Vereinigung. 

Nachdem Dapft Leo IH. dem Könige der Kranken, Karl dem 
Grofen, weicher nad) Befiegung bes Lombarben Herr Italiens geworben 
und als foldyer feinen Einzug in Rom gehalten, in der Peterskirche 
eine Krone auf's Haupt gefegt und ihn vor verfammeltem Volke und 
unter bem Beifalle deſſelben zum Kaifer bes weſtroͤmiſchen Reichs aus 

‚ gerufen batte, erhielt ſich dieſe Würbe bei feinen Nachfolgern übe 
taufend Jahre hindurch, und zwar feit Otto I. bei demjenigen Zweige, 
ben bei ber Theilung des Frankenreichs Deutſchland zugefallen war. 
Durch Gewohnheit befeftigte fi) alimälig die Meinung, daß ein beutfcher 
König ganz von ſelbſt ein Recht auf die Wärbe eines roͤmiſchen Kaiſers 
babe, berfeiben jedoch erſt dann wirklich theilhaftig fei, wenn er ſym⸗ 
boliſch durch einen Römerzug fi in den WBefig ber Herrſchaft über 
Itallen geſetzt und 'nady dem Beiſpiele Karl's des Großen vom Papfte 
die Krönung erhalten batte. Dierauf gründeten die Päpfte bie Be: 
bauptung, daß bie Emennung bes Könige und römifchen Kaiſers dem 
paͤpſtlichen Stuhle zukomme, indem der Papft bie weſtroͤmiſche Krone 
den griechifchen Kaifer genommen und dem Könige ber Franken ver; 
liehen, fpäterhin aber Papſt Gregor V. (996) die Wahl des Königs 
fieben Erzfuͤrſten übertragen habe, jedoch mit Vorbehalt der jebesmaligen 
Genehmigung derfelben, fo wie des Rechtes, bie über biefelbe entſtehen⸗ 
ben Streitigkeiten als Schiedsrichter zu ſchlichten. Diefe Anmaßung 
wurde fogar durch Katfer Albrecht I. in einer von ihm unterzeichneten 
Urkunde ausdruͤcklich anerkannt *), wogegen ſich derſelben bie die Mor: 
wahl ausübenden Fuͤrſten als unbefugtem Eingriff in ihre Rechte aus 
allen Kraͤften widerſetzten und hiervon zuerft Anlaß nahmen, in eine 
engere Verbindung unter einander zw treten. 

As nad) dem Tode Heinrich's VI. (1197) die Partei ber 
Hohenftaufen den Herzog Philipp von Schwaben, bie ber Welfen 
aber, an beren Spitze der Erzbiſchof von Coͤln fland, und wozu ber 
Erzbiſchof von Trier, der Herzog von Sachſen, uͤberhaupt die Mehrheit 
ber herkoͤmmlich die Vorwahl ausübenden Kürften gehörte, den Sohn 
Helnrich's des Löwen, Otto IV., zum König wählte, fo nahm hiervon 
Dopk Innocenz III. Anlaß, fein vermeintliche Recht, als Schieds⸗ 
richter einzufchseiten, geltemb zu machen, und er fprach zu Bunften 
Dreto’s IV., weil biefer von ber Mehrheit ber Wahlberechtigten ge 





„) Cap: 1, dem (2. 9) — Boß, Gchidfale der deutſchen Reicht ver⸗ 


604 Kurfüchten. 


wählt worden. Da ſich deſſenungeachtet — —— ſo wu 
nöthig erachtet, daß er durch die zut Vorwahl Werechdige 
von Neuem gewaͤhlt werde. Diefer Vorgang trug natrtich unit dep: 
bei, den Uebergang der bisherigen Vorwahl in ein ausfäjließenbes Dh; 
recht zu begründen. 
Die Vorwahl beruhte von Anbeginn nicht auf einem Pre 
Recht, vielmehr entfpeang ſie aus ber einem Jeden zuſtehenden Befuzaf, 
einen Vorſchiag zu machen, ganz nad) ber Weile, tsie ſchon in in 
fräheften Zeiten bei Berathungen in den beutfchen Volksverfammiung ; 
gewöhnlich war. Da indeg, zumal bei Völkern auf nieberer Gultw 
Hufe, Vorſchlaͤge Über wichtige Dinge durch das Anſehn derer, m 
denen fie berühren, ein beſonderes Gewicht erhalten und fi da. 
Beifall der Menge empfehlen, fo uͤberließ man natürlich die ſelben rt | 
den angefehemeren Mitgliebern der Reicheverſammlung. Su diefen p | 
hörten von jeher bie drei cheiniſchen Expbifyöfe, al Cangler ber ki 
verfchiedenen Reidje, woräber ns die Herrfchaft de6 deutfchen König | 
erfiredte, als: Germanien, Achen umd Italien, ferner diejenigen web ' 
lichen duͤrſten, die fid) ben Symdolen bienftmannfdaftliher Unterwwerfum 
gegen bie Perfon des gewählten Mönigs unterzogen, unb beten, gieih 
den urfprünglichen Hauptvoͤlkern Deutfchlands, bie fie vepräfemtirten, 
vier an ber Zahl waren. Nachdem dieſe Fuͤrſten bereits eine befonder | 
ariſtokratiſche Koͤrperſchaft zu bilden begonnen, fuchten manche an Länder 
befig und politiſchem Anfehn ihnen Gleiche, weiche jedoch bie Bedeutung 
jener früher überfehen und darum nicht Bedacht genommen haben 
mochten, gleich Anfangs eine Stelle unter ihnen einzunchmen, fi noch 
nachträglich an fie anzufchließen, wie die Herzöge von Deflerreih, von 
Brabant, die Landgrafen von Thüringen, fobann unter ben Beiftlichen, 
die Erzbiſchoͤfe von Magdeburg, Bremen und Salzburg. Diefem Bes 
mühen wiberfegten ſich jedoch die durch das Herfommen bereits beflimmten 
Wahlfürften, und es wurde, zur Beſeitigung bes hierüber 
Streites, auf einem zu Frankfurt :a. M. im Jahre 1208 gehaltehen 





Kurfürften.. 605 


dem Recht der Koͤnigewahl fland Anfangs bem e von Balern zu, 
wurbe aber in ber Folge dem mit Deutfchland I en@verband ges 
kommenen Derzoge, fpäter Könige von Böhmen, verliehen. Eben fo 
befand ſich Anfangs der Herzog von Schwaben im Beſitz des Erz 
kaͤmmereramtes und ber Theilnahme an ber Rönigewahl, bis Conrad II. 
ihm Beides entzog und feinen Schwager, ben Markgrafen Albrecht den 
Bären von Brandenburg, damit begabte. Diefe weltlichen Fuͤrſten 
durften jedoch nur dann bei der Wahl eines beutfchen Könige eine 
Stimme führen, wenn fie von Geburt und nad) ihrer Abflammung 
von Vater, Mutter und Oheim her Deutſche waren *). Denn bie 
Wahl eines Könige wurde als die wichtigſte und eigenfte Nationalſache 
betrachtet, woran man in einer Zeit, da ber Menſch mehr durch Gefühl 
und Glauben, als durch Verſtand und Begriffe geleitet und zum Dans 
bein beſtimmt wurde, nur denjenigen eine entfcheidende Theilnahme zu⸗ 
zugeſtehen ſich bewogen fand, beren Leben mit dem Leben der Nation . 
ducch jene die Gefühle der Liebe und Anhänglichkeit in der menfchlichen 
Bruft am Fruͤheſten, Staͤrkſten und Nachhaltigften anregenden Verhättniffe 
verſchmolzen war. 

Da nad) der Thellung bes fränkifchen Reiche das neu entflandene 
beutfche immerhin als eine Abtheilung jenes, unb die Franken fort 
während als das Hauptvolk betrachtet wurden, fo fcheint Anfangs die 
Meinung befanden zu baben, daß nur ein Franke von Geburt zum 
König gerwähle werden koͤnne, bis der Drang der Noth und die drohende 
Gefahr einer Auftöfung, nicht ohne Widerfiteben von Seiten ber 
Franken, bie Erhebung eines Sachſen bewirkte und dadurch jene Mei⸗ 
sung auf immer geflürzt wurde. Mit derfelben hing die weitere zus 
fammen, daß die Wahl des Könige auf fränkifcher Erde geſchehen muͤſſe, 
daher Achen, die alte Dauptitadt des Reiche, fo wie die Länder am 
Rhein, Insbefondere die Städte Worms, Mainz, Frankfurt ıc. es waren, 
wo die Fuͤrſten und Voͤlkerſchaften zue Wahl eines Königs zufammens 
kamen **). Herlommen und Gewohnheit erhoben allmaͤlig Frankfurt 
ur alleinigen Wahlſtadt, während Achen noch für den Ort galt, wo 
die Krönung vorzimehmen war; bis auch diefe Handlung für immer 
nach Frankfurt verlegt wurde. Dabei gefhah Anfangs die Wahl nicht 
im Inneren der Stadt zwifchen engen Mauern, fondern außerhalb auf 
freiem Felde. Diefes beruhte ohne Zweifel darauf, daß die Königswahl 
als Sache der Nation betrachtet wurde, welche vor deren Augen und 
unter Beiflimmung derfelben vollbracht werden muͤſſe. Als aber vers 
Anderte Lebensweife es mit ſich brachte, alle öffentlichen Geſchaͤfte in 
engen Räumen zu behandeln, welche ben Zutritt einer größeren 
Menfhenmenge ausſchloſſen, fo war dieſes eine Daupturfache der Vers 
wandlung der Königswahl aus einer Sache der Nation in ein Vorrecht 
einer Heineren Anzahl von Reichsſtaͤnden; denn auch die Sonderung 





Dhlenfhläger, Erläuterung ber goibenen Bulle. ©. 110. _ 
- ra 0. a. O. en. ” 


8 


Sewägtt 

dem Volke dargeſtellt werben fein mußte, ehe 

Die zur Vorwahl berufenen Fürften führten Anfang: 
meinfamen Namen, woburdy fie fih als Corporation von 
Ständen des Keichs unterfchieden, fonbern jeder 
Amte, womit er in Beziehung auf ein Territorium ⸗ 
Herzog, Markgraf, Pfalggraf, Erzbiſchof, fo wie nad 
Dienfiverhätmiife, dem er fi) gegen die Perfon des 

pflegte, wie Erlanger, Erztruchfeß, Erzmarfhail, 

nachdem bei diefen Fuͤrſien, in Behaut Kecht 
zw waͤhlen, gegen fremde Eingri in 
Beſtreben 


in 


ni 


- natüsli von demjenigen Verhältniſſe entliehen, welches allen vollfommen 
gemeinſchaftlich war, und auf weichem, als ihr bedeutfamfte® Jutereſſe 
umfaflend, bie unter ihnen beftchende engere Vereinigung vor Alem 
beeubte, nämlich bie Wahl des Könige. Cie nannten ſich daher 
Wahl⸗ oder Kurfürften und festen diefe Benennung ihren äbrigen 
als die ausgezeichnetfte vor. Mur der König von Böhmen achtete 
feinen Rönigstitel Höher und nannte ſich daher flet nad) dieſem. 

Von num an flcebten die Kurfücften planmäfig domady, ihre 





Kurfürften. 07 
Auf dieſer — und in der durch dieſelbe weſentlich beſtimmten 
Richtung hatte ſich bie deutſche Reicheverfaſſung entwickelt und aus⸗ 


As beſonderes Vorrecht der Karfuͤrſten neben dem der Rönigewaßl 
iſt frühe anerkannt, daß der König Verguͤnſtigungen und Privilegien 
an einzelne Perfonen ober Körperfchaften, namentlich auch ben, 
aur mit Buflimmung fämmtlicher —— ai gültig verleihen Eonnte, 
weiche Zuſtimmung bei jedem einzelnen nadhgefucht werden mußte unb 
mittelft fogenannter Willebriefe ertheilt wurde. Der Umfland, daß 
der — von Rheinfranken, deſſen Stelle in der Folge der — 
bei ennahın, unter den fränkifchen Königen das Amt eines 

ofrichters bekleidet hatt fcheint «6 gerden zu fein, woraus die Kurs 

en für fich eine Gerichtsbarkeit über die Perfon des Königs ſelbſt 

berleiteten, welche ie —** von ber Pfalz in ihrem Namen ause 

zuüben habe, und welche, obgleich meiſt von ben Königen twiberfprochen, 

doch fogar in bem von Karl EV. ſelbſt entworfenen unbasfehe, 

Frhr Bulle genannt (im Cap. V, 6. 8.), auorheliche dtigung 
unter 


Parteiungen ben Rurfürflen, hervorgerufen theils durch 
die unter mehreren Linien eines. Daufes fid) ergebenden Streitigkeiten 
über ben Beſit ber Kurtwürbe, theils durch zwiefpaltige Rönigswahlen, 
ſtanden Anfangs der Sicherheit ihrer ariſtokratiſ n entgegen. 
—— vu: Beit des Todes Seincih si — je jede ah 

urg und Wittenberg au An N 
und beide fanden unter ben Abrigen Fr Se und Freunde, 
Dir ‚Eine —— unter dieſen in zwei Partelen zur Folge hatte» 

fich fogleich bei der naͤchſten Koͤnigswahl, indem ein Theil, 
ai "Di und Oadfeniictenbenn, be den — Friedrich von Deſterreich 
, während ein anderer, Ma er, Böhmen, Brandenburg 
Ber Gacsfeniauenbun. dem —* eu von Baiern feine Stimme 
gab. Da die Stimmennsehrheit unter ben Wählern noch nicht als 
bindende Norm anerkannt war, fo behauptete jeber ber Gewaͤhlten fein 
Recht auf ben Ehren, wodurch es zu einem biutigen Kriege zwiſchen 
Beiden und ihren Anhängern kam, der die Kräfte bes deutichen Reichs 
— und die Keime feinee Auflöfung in Trieb — Der da⸗ 
mals zu Avignon reſidirende Papft benuste dieſen Zuſtand der Dinge, 
fein vorgebliches Recht, über Wahlſtreitigkeiten zu entſcheiden, geltend 
a ee iß der verderblichen Folgen 
ihres Zwieſpaltes und chluſſe ad, dergleichen für die 
Zukunft vorzubeugen. Zu dem Ende ſchloſſen fie im Juli 1338 im 
erften Kurverein zu Renfe und ſetzten babei vor Allem feſt: daß von 
nun an bei KRönigewahlen bie Stimmenmehrheit entſcheiden, fomit 
nur berjemige als rechtmäßig gewählter König betrachtet werben A 
dem die meiften Stimmen der Wählenden zugefalen fein. Dieſes 
wurde hiernaͤchſt auch auf einem in eben ofen Sabıe zu Frankfurt 
gehaltenen Reichttage befkätige umb es uͤberdies für einen revelhaften 


“os Kurfürften. 


in Die Rechte des Kaifers, der Kurfuͤrſten und übrigen Stände 

it, wenn Jemand zu behaupten wage, daß die Baiferliche Wuͤrde 
und Macht auf der Uebertragung des Papftes berube, unb daß ohme 
päpfttiche Beſtaͤtigung die Wahl eined Könige und Kaiſers keine Bül: 


Die Anfprüche einiger altfärftlichen Häufer und einiger der hoͤchſten 
geiftlichen Würdenteäger auf die 83 der Kurfuͤrſten waren noch 
nicht völlig zut Ruhe gebracht. Es kamen dazu Rivalitaͤten unter den 
Kurfuͤrſten felbft über Rang und gewiſſe beſondere Berechtigungen 
er vor den übrigen. Altes Hetkommen gab naͤmlich den brei 
Seil einen Rang vor den Weitlichen, welchen dieſe nicht ſtreitig 
machten. Defto Iebhafter ſtritten jene unter fi über Vorrang und 
Gleichheit. Bis gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts pflegte man 
dem Kurfürften von Mainz gewiffe formelle Vorzüge zuzugeſtehen, 
als: bei Wahlen feine Stimme zuerft zu geben, bei feierlichen Gele 
genheiten dem Kaifer zur rechten Seite zu gehen oder zu figen x. 
Eeft von jener Zeit an, da der Geſchmack an Formalitäten immer mehr 
einriß, ſcheinen bie beiden andern geiftlichen Kurfürften beſonders auf: 
merkſam auf diefe Vorzuͤge ihres geiftlichen Collegen geworden zus fein 
und, geftügt auf hiſtoriſche Momente, machten fie nunmehr in dieſer 
— eine Srapeit für A geltend, $ 
tiefe manchert ideefj v fi der ficheren Haltung der 
Surfürfttichen. Ariſtokratie entgegenftelten, fanden endlich ihre Defekte 
gung in dem duch Karl IV. zu Stande gebrachten Reichsgrumdgefete, 
goldene Bulle. Hierin wurden die Zahl der Kurfürften, ihre politifdyen 
Rechte und ihr NRangverhältnig unter einander genau beflimmt, ihre 
altherkoͤmmlichen fpmbolifchen Dienfte gegen die Perfon des Königs aber, 
mit Verkennung der urfpränglichen Bedeutung berfelben, in blofe, zur 
Vermehrung. des duferen Glanzes der Eaiferlichen Würde gereichende 
st ebers 









Kurfuͤrſten. 60p 


der Vorrang und Vorſit vor den weltlichen zugeſtanden, und ihr Rang 
unter fich hinfichtlich der Piäge, bie fie in Gegenwart des Kaiſers ein⸗ 
zunehmen hatten, dahin fefigefegt, daß Trier dem Kaifer ſtets gegen- 
über, von Mainz und Gbln aber derjenige dem Kaiſer zur Rechten 
figen folle, in deſſen Diöces ober Erzcancelariat berfelbe fich befindet. 
Der zwiſchen Mainz und Coͤln obmwaltende Streit über die Krönung 
fond fpäter gelegenheitlich der Wahl Leopold's I, (1657) feine Bes 
feitigung burch Vergleich dahin: daß derjenige bie Krönung verrichten 
ſolle, in deſſen Diöces fie geſchah, font aber abmechfelnd der eine und 
bee andere. . 

2) Unter den weltlichen Kurfürften wurde dem König von Böhmen, 
der feither die legte Stelle eingenommen, rüdfichtlidy ber koͤniglichen 
Würde, befonders aber weil der Kaifer felbft erblicher Inhaber derſelben 
war, ber erſte Rang eingeräumt. Nach ihm folgte Pfalz, fobann 
Sachſen, deffen Kur Wittenberg zugetheilt warb; endlid Brandenburg. 
Hinfihtlih der Sige wurde beftimmt, daß Böhmen und Pfalz bie 
ihrigen auf der rechten, Sachſen und Brandenburg auf der linken 
Seite des Kaifers neben einander einzunehmen hätten. Späterhin, 
im Anfange des SOjährigen Krieges, wurde befanntlid ber Kurfuͤrſt 
Zriedrih V. von der Pfalz, wegen Annahme ber böhmifchen Krone, 
in die Acht erfidet,, und auf einem im Sabre 1622 von Ferdinand I. 
nad Regensburg ausgefchriebenen Kurfürftentage die der Pfalz zu⸗ 
fiebende Kur an Baiern übertragen, im meftphälifchen Frieden jedoch 
Pfalz, unter Beibehaltung der an Baiern verliehenen Kur, wiederher⸗ 
geſtellt und für bafjelbe eine neue Kur gefchäffen, fo daß deren nunmehr 
acht waren. ' 

3) Dem Pfalzgrafen bei Rhein (mit welchem feit dem weftphälis 
ſchen Frieden Baiern abwechfelte), fo vie dem Herzoge von Sachſen 
wurde das bergebrachte Reichsvicariat während der Thronerledigung be: 
ftätigt, und zwar dem Erfteren in den cheinifchen, fchwäbifchen, überhaupt 
den Ländern des fränkifchen Rechts, Letzterem aber in den bes fächfifchen 
Rechts. Jahrhunderte ſpaͤter, nämlih am 9. Juni 1750, vereinigten 
fi) beide Vicariatshoͤfe befonders unter einander über die genaueren 
Grenzen ihrer Vicariatsbezirke. Die Reichsvicare wurden für ermächtigt 
erklaͤrt, Recht zu fprechen, die erledigten geiftlichen Stellen zu befegen, 
die Reichögefälle und Einkünfte zu. erheben, Lehnseide zu empfangen, 
welche legteren aber dem nachherigen Könige nochmals geleiftet werben 
mußten (mit Ausfchluß der Zürftens und Fahnenlehen, womit nur der 
Kaifer ſelbſt beiehnen konnte). Der Pfalzgraf bei Rhein insbeſondere 
wurde für ermächtigt erklaͤrt, über Beſchwerden gegen dia Perfon des 
Kaiſers ſelbſt an defien Hoflager Gericht zu halten *). 

4) Dem Kurfuͤrſten von Mainz wurde zur Pflicht gemacht, 
binnen Monatsfrift nach erfolgter Thronerledigung die übrigen Kurs 


*) Hütter, .Entwi n gReiche 
8. — tter hiſtor ckelung der Seaativerſ des deutſchen Reich 
Staats⸗ Lerxikon. IX. 39 


sı0 Kurfücften. 


fürften durch Borfäafter und Briefe zur Wahl In ge eehifah, 
Frankfurt a. M., einzuladen, worauf alle entweder Selb ſiperſen 
oder durch Botfchafter, mit Vollmachten in —— Form vn 
ſehen, zu erſcheinen verpflichtet waren. Die Buͤrger der Eee 
follten durch feierlichen Eid Gicherheit Leiften, daß Bein Kucflirft nach 

deſſen Gefolge während feines Aufenthalts daſelbſt gefährdet werbe. 
Die Kurfürften oder ihre Botſchafter follten vor Vornahme der Wahl 
ſchwoͤren, den König und Kaifer nach befter Einfiht und Neberzragung 
zu wählen. Auch follte ſich jeder verbindlich machen, denjenigen, ber 

die meiften Stimmen erhielt, als rechtmaͤßiges Oberhaupt anzuerkennen. 
Die Stimmen follten im Gonclave bei verfchloffenen Thuͤren abgegeben 
werden, und die Wahl ſich nach abſoluter Mehrheit unter den Erfhier 
nenen, fo viel .oder wenig biefer waren, entſchelden. Auch vu die 
Stimme zählen, die fi ein Kurfuͤrſt felbft gab. Bei dem Wahlar | 
follte der Kurfürft von Mainz die Umfrage und den Aufcuf ber ein 
zelnen Stimmen vornehmen. Trier follte zuerft feine Stimme geben, 
nah ihm Gin, fobann folten die weltlichen Kurfuͤrſten nach ihrem 
Range folgen. Mainz follte zuletzt von ſaͤmmtlichen Kurfürften um 
feine Stimme befcagt werben. 

5) Ueber die den Kurfürften nad Herkommen gegen bie Perfen 
des gewählten Kaiſers obliegenden Dienfteiftungen beflimmt bie goldene 
Bulle Folgendes: Die geiſtlichen Kurfürften follten vor Allen bei 
öffentlicher Tafel das Gebet verrichten. Nachdem ihnen fodann der 
Kaifer die auf einem vor ihm fehenden Tiſche llegenden Teicheſiegel 
zugeftelit, fol derjenige, in deſſen Erzcancelariat ber Hof gehalten wird, 
das große Siegel um den Hals hängen und es während ber Tafel 
tragen. Thells während des Mahles, theils nach bemfelben follten die 

meltfichen Kurfürften zu Pferb fich nähern, jeder mit den Gegenftänden 
in Händen, bie den ihm obliegenden Dienftverrihtungen entſprachen, 
obann abfteigen, und es follte hiermächft der König von Bi 





Kurfürften. 611 


Verrichtungen angewendet. Jene befaßen ihre Aemter ebenfülls als 
Zehen, die auf ihre mäÄnnlihen Nachkommen forterbten, ohne jedoch 
auf einem beflimmten Lande zu haften. Jedem Erzbeamten fland ein 
nad ihm benannter Erbbeamter zur Seite und es bezeichnet die goldene 
Bulle als Reichserbmarſchall den Grafen von Pappenheim, als Reichserb> 
tämmerer den Grafen von Falkenſtein, als Reichserbtruchfeß ben Grafen 
von Nortemberg, als Meichserbfchenken den Grafen von Limburg. 

6) Die Lurfürftlichen Würden und Wahlſtimmen wurden für 
unzertrennlich verbunden mit den Landen, worauf fie ruhten, und diefe 
Lande für untheilbar erfidrt. Der Umfang der Kurlande wurde nach 
dem Befitzſtande zur Zeit der Errichtung der goldenen Bulle normirt. Die 
weltlichen Kuren follten auf die Nachlommen ihrer Inhaber nad 
Erſtgeburtsrecht forterben, und zwar fo, da, wenn der Erftgeborene 
ohne Leibeserben fterbe, deſſen naͤchſter Bruder und der erfigeborne Leibes⸗ 
erbe diefed zur Nachfolge berechtigt fein folle *). Die durch Ausfterben 
kurfuͤrſtlicher Familien erledigten Kuren follten dem Kaifer zur Wieder⸗ 
befegung heimfallen, mit Ausnahme Böhmens, deſſen Stände in biefem 
Falle das althergebrachte Recht ausüben, einen König zu waͤhlen. 

7) Als Vorrechte der Kurfürften im Vechaͤltniſſe zu den übrigen 
Reichsſtaͤnden wurden Überdies noch folgende bezeichnet: fie hatten den 
Vorrang vor den letzteren. Es konnte weder einer ihrer Unterthanen 
in erſter Inftanz vor ein kaiſerliches oder anderes Bericht ale das ihres 
eigenen Kandes gezogen (privilegium de non evocando), noch von dem 
Ausfpruch ihrer Berichte an ein Eaiferliches Gericht appellict werden 
‘ (privilegium de non appellando). Die Kurfürften wurden mit der 
Perfon des Kaifers fo eng verbunden erklaͤrt, daß Beleidigungen und 
Verſchwoͤrungen gegen fie wie gegen diefen allgemein für Majeſtaͤts⸗ 
beleidigung und Hochverrath galten, darauf die Strafen Anwendung 
finden follten, bie das roͤmiſche Recht in der mit Blut gefchriebenen 
Const. 3. Cod. (9, 3.) androht. — Als Regalien wurden ben Kurs 
fürflen zugeftanden alle in ihren Landen befindlichen Gold⸗, Silber s, 
Binns, Kupfer:, Blei: und Eifenbergwerke, das Recht, Münzen zu 
fhlagen, Juden zu balten, beftehende Zölle beizubehalten **), welches 
Alles urfprünglich nur dem Kaifer zulam. 

An Folge der fortfchreitenden Civiliſation entwidelte fi immer 
mehr die neuere Ordnung und Einrichtung der Staaten, deren Ber 
waltung eine große Anzahl von Beamten erfordert, ausgezeichnet duch 
befondere. Sähigkeiten und Kenntniffe. Indem dabei die reichere Ent» 
faltung ber induftriellen Kräfte und ber fi) verfeinemde Geſchmack 
allgemein bie Genuͤſſe und Bedürfniffe des Lebens fleigerten, fo ers 
heifchte der der oberhauptlichen Würde eines großen Reiche für ans 
gemeſſen erachtete Glanz einen bedeutenberen Aufwand, ber fich ins: 
befondere in einer zahlreichen Umgebung von Dienern dußerte, welche, 


*) Dhlenfhläger S. 179. 
») Dhlenfhläger ©. 187. 99 


612 Kurfürften. 


vornehmen Standes und feinerer Bildung, die biefen @igenfchaftm 
entfprechenden Formen auf eine Weiſe darzuſtellen wußte, daß babıra 
die Würde des Herrſchers in den Augen der hauptſaͤchlich nach dem 
Schein urtheilenden Menge gehoben wurde. Die angefeheneren Reiche 
fände, vorzüglich, die Kurfürſten, die ſich als Gleiche des Kaifers ade 
teten und in ihren Landen eine ähnliche Würde und Regentengerseit 
zu behaupten fuchten, konnten natürlich Seine Neigung fühlen, den 
Functionen jener Beamten und diefer Hofbiener ſich zu umterziehen, 
und eben fo menig konnte es dem Kalfer erwuͤnſcht fein, fid, von Die 
nern umgeben zu fehen, bie in felbftftändiger Würde ſtrahiten, nicht 
aber zur Erhöhung der feinigen dienen wollten. Es waren daher dir 
Kaiſer genoͤthigt, andere Perfonen für ihre Umgebung zu wählen, bie 
entweber zum abelidhen Stande gehörten oder von ihnen dazu erhoben 
worden, und bie fie dabei mit einem ihren Beduͤrfniſſen und ihrer Be 
ſtimmung entſprechenden Einkommen ausftatten mußten. Hierin bärfte 
wohl der Anlaß zu dem unter Karl IV. zuerft aufgelommenen Brief: 
adel zu fuchen fein, womit vor Allem die begabt wurden, die entweder 
ihre Fähigkeiten und Kenntniffe als Staatsbeamte oder jene zur Wer 
herrlichung der kaiſerlichen Umgebung gerelchenden Eigenfchaften bewaͤhrt 
hatten. Dieſe Verhaͤltniſſe, derbunden mit manchen anderen Umſtaͤnden 
hatten für bie Kurfuͤrſten eine beſondere Beſchraͤnkung in der Wahl 
des Kaiſers zur Folge. Früher nämlich konnten biefeiben aus bem 
Stande der Fürften und Grafen des Reichs zum Kalfer wählen, mer 
ihnen beliebte, und der Gewählte pflegte fein bisheriges Reicheland 
feinem naͤchſten Stammverwandten zu überlaffen, twogegen ihm, zur 
Unterhaltung feiner neuen Würde, die dem Reiche gehörigen Kammer- 
guͤter und Einkünfte mandjerlei Art zu Theil wurden, melde einft be⸗ 
deutend genug Waren, um forohl den der Würde des Kaifers ange: 





Kurfürften. 613 


ftreiten und bie zur Aufrechthaltung bes kaiſerlichen Anſehens erforder: 
liche Macht aufbieten zu können. Unter den Reichsſtaͤnden entfprady 
früher diefen Forderungen nur ber Erzherzog von Oeſterreich, der buch 
ungewoͤhnliche Gluͤcksfaͤlle allmdlig zu einer fo ausgedehnten Herrſchaft 
gelangt war, daß er unter den erften Mächten. Europas feine Stelle 
einnahm und die kaiſerliche Würde für ihn nur als eine glänzende 
Zugabe erfhien. Daher fiel denn von Karl IV. an die Wahl der 
Kurfürften beftändig auf die regierenden Erzherzöge von Oeſterreich. 
Mie aber ſolchergeſtalt das Anfehen der Eaiferlihen Würde gerettet warb, 
fo drohte dagegen den nad) felbftfländiger Gewalt trachtenden Reiches 
fiänden, befonders den Kurfürften, die Gefahr ber Unterwerfung unter 
die Herrfchaft übermächtiger Kaiſer. Diefes weckte in ihnen eine größere 
Wachſamkeit auf ihre politifhen Rechte und beftimmte fie, das unter 
ihnen beftehende Band auf’s Engſte und Feftefle zu knuͤpfen und Fein 
Sicherungsmittel gegen die Umgriffe mächtiger Kaifer zu verabfdumen. 
Alle ihre Bemühungen würden indeß vielleicht vergeblich geweſen fein, 
wenn ihnen nicht die Eiferſucht europdifcher Großmaͤchte gegen bie 
wachfende Macht Oeſterreichs ſtets zur rechten Zeit zu Hilfe gekommen 
waͤre. 

Als unter Max J. (1495), zur Gruͤndung eines Zuſtandes 
rechtlicher Sicherheit in Deutſchland, das Reichskammergericht eingeſetzt 
ward, ſo verband man damit zugleich, zum Zweck der ————— —— der 
Beſchluͤſſe deſſelben, den Plan zu einem Reichsregiment, deſſen Mits 
glieder die Reichsftände ernennen, und welches dem Kaifer als flänbiger 
Vollziehungsrath zur Seite fliehen follte. Zur Ausführung diefes Planes 
ward das Meich in eine Anzahl von Kreifen getheilt, von deren jebem, 
außerdem aber von jedem Kurfürften befonders, ein Mitglied bes 
Reichsregiments ernannt werden ſollte. Da indeß daB Reichsregiment 
nicht zu Stande kam, fo wurde die Eintheilung in Kreife dazu benugt, 
die Ernennung ber Mitglieder des Reichskammergerichts darnach zu 
reguliren, indem für jeden Kreis ein folches beflimmt, überdies jeder 
Kurfürft eins, und der Kaifer wegen Defterreih und Burgund deren 
zwei zu ernennen ermächtigt ward. Ungeachtet bdiefer Bildung bes 
Reichskammergerichts hegten die Kurfürften bie Beſorgniß, es möchte 
dadurch den mächtigen Kaifern aus dem Haufe Oeſterreich ein Einfluß 
eröffnet fein, den fie leicht zur Unterbrüdung oder Schmälerung ber 
reicheftändifchen oder Lurfürftlichen Rechte anwenden koͤnnten. Um 
diefem zu begegnen, verpflichteten fie fich twechfelfeitig auf einem im 
Jahre 1503 zu Gelnhaufen gehaltenen Kurverein: „in allen Reiche: 
angelegenheiten ſtets einmüthig zu handeln, auf den Reichstagen alle 
für einen und einer für alle zu votiren und fich jährlich einmal zu 
verfammeln, um zu dieſem Zwecke das Nöthige mit einander zu vers 
abreden.” Dieſes follte dabei ein unagabaͤnderliches Geſetz für ihre 
Nachkommen fein und von jedem berfelben eidlich beftätigt werden *). 








*) Boß, Schidfale der deut. Reichöverfafl. S. 280. 281. 


614 Kurfürten | 


As auch die bald nachher beginnenden Religionsfkeltigkeiten Spal⸗ 
tungen befürchten ließen, welche dem politifchen Einfluffe der Kurfuͤrſten 
verbecblich zu werden drohten, gaben fie auf einem im Jahre 1521 zu 
Worms gehaltenen Vereine einander die Zufiherung: „alle Trennungen 
unter fi zw vermeiden, alle Streitigkeiten, aud die über Religion, 
in Güte beizulegen und fid den Ausfprüchen ber zu biefem Ende a 
nannten Gomite3 ohne Appellation zu unterwerfen, ferner im Fal 
eines Angriffs oder einer Verlegung von Seiten Anderer, alsbald zu 
farnmenzutreten und die von ihnen gefaßten Beſchluͤſſe mit vereinigten 
Kräften in Ausführung zu Seingm“ ). Auch wurde auf diefem 
Vereine zu Worms gemeinfamer Widerftand verabredet gegen diejenigen, 
„die ohne der Kurfürften Wiffen, Willen und Verlangen nad) dem 
roͤmiſchen Relche trachten, fo wie gegen unziemlich ſchwerliche Dan 
at Fi Gebot zu beſchwerlichen Neuerungen und unpflichtigm 
tenften.” ‘ 

Das Beſtreben der Kurfürften, ihre ariſtokratiſchen Vorrechte gegen 
die Eingriffe der Kaifer aus dem Haufe Deſterreich zu fihern, ermedte 
auch in ihnen den Entfchluß, vorzüglich die Ihrem Intereſſe entſprechen ⸗ 
den Normen und Einrichtungen in den Verhaͤltniſſen des deutſchen 
Reiche, welche ſich allmaͤlig dürch Herkommen, Gewohnheit ober Webers 








Kurfuriten. 615 


Meih3angelegenheiten oder gemeinſame Rechte dir Stände erſtrecken, 
noch eine Aenderung defjen mit fi bringen dürften, mas in der bes 
ftändigen Wablcapitulation ober in andern Reichsconflitutionen verordnet 
fei *). Indeß kehrten ſich die Kurfürften im Allgemeinen nicht an 
diefe Beſchraͤnkung, und fie beachteten eben fo wenig die Proteftationen 
der übrigen Stände, trafen vielmehr faft bei jeder Kaiſerwahl Abände: 
rungen an dem Alten, wie fie Neues binzufügten. Es erhielt ſonach 
eine fefte, den willkuͤrlichen Eingriffen der Kurfürften entbobene Wahl: 
capitulation niemals Beſtand **). 

Wie nun hiernach die Wahlcapitulationen zunaͤchſt als Mittel 
in den Händen der Kurfürften erfcheinen, ihre befonderen Intereſſen 
auf Koften des Eaiferlichen Anſehens und der übrigen Stände zu beför: 
dern, fo bilden fie doch zugleich die bedeutendfte Grundlage und Quelle 
der deutſchen Staatsverfaffung überhaupt, worin bie Kurfürften vor⸗ 
zugsweiſe eine bedeutende Stelle einnahmen, und fie find es unter 
allen Donumenten diefer Verfaffung, welche die meiften und wichtigiten 
Gegenftände umfaflen, und worin ſich die Verhaͤltniſſe zwiſchen Haupt und 
Gliedern des Reihe am Vollſtaͤndigen und Genaueften geordnet finden. 

Auf dem weftphälifchen Friedenscongrefie wurde von Seiten ber 
übrigen Reichsſtaͤnde wiederholt an eine mit alffeitiger Zuflimmung 
abzufafiende Wahlcapitulation erinnert, welche als feltes Reichsgrund: 
gefe jeder Kaifer bei feiner Wahl beſchwoͤren follte. Die Sache wurde 
jedoch auf den naͤchſten Reichstag verwiefen, auf welchem (1653) fie 
indeß noch nicht, fondern erft auf dem fpÄätern (1664) in Berathung 
tam, die enbliche Entſcheidung darüber aber fidy biß in das Sahr 1711 
verzögerte- Diele fiel fo aus, daB den Kurfürften immerhin die Be: 
fugniß blieb, bei jeder neuen Wahl weiter zu capitulicen, jedoch mit 
Ausfchluß allgemeiner Reichsangelegenheiten und mit der Beſchraͤnkung, 
daß dadurch weder den Mechten der übrigen Stände Eintrag gefchehe, 
noch am der mit Webereinftimmung Aller errichteten Wahlcapitulation 
oder an andern Meichögefegen etwas geändert werde. Bon diefer Be: 
fugniß machten die Kurfürften feit der Wahl Karl's VII. in der 
Weiſe Gebrauch, daß fie an den zu Waͤhlenden gemeinfame fogenannte 
Collegialſchreiben richteten, worin fie ihn erfuchten, gewiſſe Gegenftände 
zur Abfaffung eines Beſchluſſes an die Reichsverfammlung zu bringen. 
Dabei war der Gewählte, nad einem in bie Wahlcapitulation aufge: 
nommenen Zufag, verpflichtet, dem Inhalte diefer Schreiben zu ent: 
fprechen. 

Von ber Zeit an, da die Krone Böhmen mit der kaiſerlichen 
beftändig in einer Perfon vereinigt war, wurde natürlich der Inhaber 
derfelben dem Intereſſe der mit dem kaiſerlichen Anfehen in beftändiger 
Dppofition befindlichen Kurfürften durchaus entfrembdet, fo daß er fich 
von ihren Vereinen gänzlich ausfchloß, und Böhmen des Beliges feiner 


— — — 


*) HaAberlin, Handb. bes deutſchen Staatsrechts I, 182.— Voß S. 307. 
roh ©. 309, ° es I, 


6 Kurfürften. 


kurfuͤrſtlichen Rechte zulegt völlig entkleidet erſchien. Im weſtyhaͤliſche 
Frieden aber ward, zur Erhaltung des bisherigen Verhältniffes une 
den Kurfürften hinfichtlich der Religion, beftimmt, daß Böhmen wiederum 
in die Ausuͤbung feiner kurfuͤrſtlichen Rechte eintreten folle. 

Nachdem ferner im weitphätifchen Frieden zu Gunſten bes reis 
tuitten Pfalzgeafen eine achte Kur gefchaffen worden, fo fliftete aud 
Leopold I. (1692) zu Gunften der Nachkommen Heinrich's des Loͤwen 
der Herzöge von Braunſchweig⸗ Hannover, trog ber von vieler Fuͤrſten 
dagegen erhobenen Proteitation, eine neunte nebft dem Erzſchatz meiſter⸗ 
amte. Indeß brachte die Erloͤſchung des Hauſes Baiern (1777) und 
die dadurch bewirkte Vereinigung des Landes mit Pfalz die Zahl der 
Kurfuͤrſten wieder auf acht zucäd. Neue Wechſel, wie in dem politis 
ſchen Zuftande Deutfchlands Überhaupt, fo insbefondere in den Ver⸗ 
haͤltniſſen der Kurfürften, hatte der im Jahre 1801 mit der franzöſiſchen 
Republik zu Luͤneville gefchloffene Friede zur Folge, indem durch ben 
felben das ganze linke Rheinufer, mithin ber bedeutendfte Theil der zu 
den Kuren Mainz, Trier und Cöln gehörigen Lande an Frankreich abs 
getreten, ber übrige auf ber rechten Mheinfeite gelegene Theil aber, 
nach dem Reichsdeputationshauptſchluſſe von 1803, zur Entſchaͤdigung 
weltlicher NReiceftände verwendet wurde. Hierdurch verſchwanden die 
geiftlichen Kuren von Trier und Coͤln gänzlih, nur die von Mainz 
blieb und wurde mit dem Fuͤrſtenthum AÄſchaffenburg, den Reicheftädten 
Regensburg und Wetzlar, dem Erzbisthum Regensburg und den Stif⸗ 


tern, Abteien und Kloͤſtern St. Emmeran, Ober» und Nieder-Bünfter 
ausgeftattet, dabei der bisherige Titel: Kurfürft von Mainz, in ben: 
Kurfücft = Erzcanzler verwandelt. An die Stele der verſchwundenen 
zwel geiftfichen Kuren kamen vier neue weltliche, nämlih_1) das bis⸗ 
herige Erzbischum Salzburg, verbunden mit der Propftei Berditesgaben 


lädt unb un 





Kurfürften. — Lancaſter'ſche Säulen. 617 


kleidet, einige jedoch, tie bie Kurfürften von Hannover und Heften, 
ihrer Länder gänzlich beraubt. Nach der fpäter erfolgten Reftitution 
dieſer behielt allein der Lestgenannte den Eurfürftlichen Titel bei, ohne 
daf jedoch von der früheren Bedeutung deſſelben im Entfernteften meiter 
die Rebe fein kann. G. R. 

Kurheſſen, ſ. Caſſel. 

Lafayette, ſ. Kayette la. 

Lagerbuch, ſ. Kataſter. 

Lancaſter'ſche Schulen. In den Perioden der Gaͤhrung 
des Wölkerlebens, wenn neue Anflchten und Meinungen das herkoͤmm⸗ 
lich Geltende zu verdrängen fixeben; wenn ſich der Kreis der Erfahruns 
gen und der geiftigen Intereſſen fchneller erweitert, wird ſtets auch--das 
Beduͤrfniß erwachen, fich für die Weberlieferung der Kenntniſſe nad 
neuen zweckmaͤßigeren Methoden umzuthun. Minder gebunden durch 
die Auctorität der gewohnheitsmaͤßig beobachteten Formen des Unterrichts, 
wie fie fich früher bewähren mochten, werben dieſe mit freierem Blicke 
prüfenb in's Auge gefaßt; und mit Beachtung ber zunehmenden Intels 


tectuellen Bebürfniffe der Nationen ift man bemüht, dem heranwachſen⸗ 


ben Geſchlechte, zur Bewältigung eines veicheren geiftigen Stoffes, neue 


Mittel-an die Hand zu geben. So find denn hauptſaͤchlich nach den 
Erfchätterungen der franzöfifchen Revolution, ober diefer unmittelbar 
vorangehend, zahllofe Lehrmerhoden zum Vorſchein gekommen. Wie 
der materielle Verkehr durch Dampfichiffe, Dampfwagen und Eifen- 
bahnen gefördert worden ifts fo follte auch der Vertrieb ber geiftigen 
Büter feine Erfindungen und Entdedungen haben. Faſt alle jene 
Methoden, wie e8 überhaupt bei neuen Erfindungen gefchieht, wurden 
als ein ausfchließliches Heilmittel gegen alle früheren Mängel bes Unter⸗ 
richte, als das einzig Achte himmliſche Manna der geifligen Nahrung, 
ruͤhmend angekündigt. Solche Lobpreifungen gingen nicht durchweg 
aus einem abfichtlichen Charlataniemus der Erfinder und ihrer erſten 
und eiftigfien Schüler hervor. Liegt es doch tief in ber menſchlichen 
Natur, daß derfelbe Enthufiasmus,- ohne den keine neue Schöpfung 
moͤglich ift, im gutem Glauben auch die gehofften Wirkungen feiner 


Schöpfungen vielfach übertreibt. Darum iſt es fehr erläctich, daß ſich 


von allem pomphaft Angelündigten nur wenig geltend gemacht hat; 
daß bie meiften diefer Methoden fpurlos oder fcheinbar fpurlos, oft 
felbft dem Namen nad, wieder verſchwunden find. 

Zu ben Lehrweifen, die ſich in ber That bewährt haben und auch 
in Zukunft geltend machen werden, wenn gleich nicht in dem großen 
Maße, wie es fi) die Phantafie der Erfinder vorgeftellt, gehören bie 


Methoden eines Hamilton und Jacotot, bie indeffen bis jetzt 


hauptſaͤchlich nur für Sprachkunde zur Anwendung gelommen find. 
Sie geben bekanntlich von dem Grundfage aus, bie Jugend zu beieh: 
ren, wie aud) die Natur und das Leben felbft uns belebten. Darum 
beginnen fie mit der genaueſten und umfichtigfien Betrachtung ber 
concreten Thatſache, alfo in der Sprache mit ber Auffaſſung vollſtaͤn⸗ 


618 Lancafter’fche Schulen. 


dig gebitbeter Wortſaͤtze; und laſſen hieraus allmdlig bie Erkenntuiß 
der Regeln, des Allgemeinen im Beſonderen, fi entwideln*). In 
Defem Principe liegt ein Keim, der einer weiten Entfaltung fähig if, 
und man barf wohl behaupten, daß es bem vorherrſchend eigenthuͤm⸗ 
lichen Geiſte der Meuzeit befonders entfpricht. Iſt es doch gerade bas 
Charakteriſtiſche dieſes revolutionären ober veformatorifchen Zeitgeiftes, 
dag er ſich in allen Verhaͤltniſſen des Zwanges leer getvorbener Als 
gemeinheiten und oft willtürlicher, aber vom Vorurtheil geheiligter Bes 
geln zu entledigen fucht, um das frifche Leben ſelbſt, mit feinem viel- 
fach veränderten Gehalte, zur Richtſchnur und zur Quelle künftig gels 
sender Normen zu mahen. Wohl gefchieht es aledann, dag man, im 
Eifer der Emancipation von dem Herkoͤmmlichen und Hemmenden, nur 
bie kutze Spanne der Gegenwart zum Mapftabe für alle Zukunft 
nimmt; daß mit dem trabitionellen Vorurtheile zugleich die von Ge: 
ſchlecht zu Geſchlecht überlieferte Wahrheit verworfen wird. Diele 
Einfeitigkeit der Neuerung, gegenüber einem einfeitig ſtarren Feſthalten 
am Alten und Veralteten, läßt fi) dann auch in dem Kampfe gewah: 
ren, der aller Orten auf dem Gebiete der Erziehung und bes Unter 
richts zum Ausbruche gekommen iſt. 


Eine ganz andere Art von Wirkſamkeit für Verbreitung” von 
Kenntniffen, als die Methoden eines Hamilton und Jacotot an 
bie Dand geben, tritt in der Anwendung und Ausbreitung des fogenann- 
ten Lancaſter' ſchen Schuimefens hervor. Auch diefe Lancafter’fchen 
Schulen find der Welt als eine neue Erfindung angekündigt morben. 
Es laͤßt ſich indeſſen bemerken, daß unter ben verfchiedenen Lehrmweifen, 
die während ber legten fünfzig Jahre aufgetaucht, ſich gar manches 
blos Erneuerte befindet; indem ſchon lange vorhandene, aber zeit 
weife zurüdgedrängte Sormen des Unterrichts wieder in ben Vorder: 
geund gerüdt wurden. Diefes gilt auch von den Schulen, die gewoͤhn⸗ 
lich nad) dem englifhen Quaͤker, Joſ. Lancafter (geboren 1771), bes 
tannt werden. Schon Eicero deutet auf eine Ähnliche Art bes Uns 
terrichts. Im 16. Jahrhunderte fand der Meifende bella Valle 
etrea daſſelbe Syſtem in Hindoſtan, wo es fchon feit Jahrhunderten 
beftanden haben mochte. Unter Louis XIV. dußerte Chevalier Pau⸗ 
Let ähnliche Anfichten, tie fpäter Lancafter. Nach weſentlich gleis 
chen Grundfägen hatte der Geiſtliche der bifchöflichen Kirche, Doctor 
Andreas Belt (geboren 1753 zu St. Andrew in Schottland), im 
legten Jahrzehente des vorigen Jahrhunderts eine Schule in Hindoſtan 
eingerichtet. Aus Indien im Jahre 1795 nad England zuruͤckgekehrt, 
gründete er daſelbſt eine gleichartige. Schule und entmwidelte in einer 
1797 erſchienenen Schrift feine Methode, auf bie er felbft vielleicht 
durch die in Hindoſtan noch beftehenden Einrichtungen war hingeleitet 





®) Ueber die Bedeutung der Hamilton s Kacotot’fchen Lehrmethode f. 2. 
Tafel in der beutfchen Vierteljahreſchrift, 1838, III, 


gancafter’fche Schulen, 619 


worden **). eine Unterrichtsanftalt in England hatte kein Gedeihen, 
und fo ſchien zugleich feine Methode wieder verfchollen zu fein ; bis fie 
Zancaftler aus Bell's Schrift kennen lernte und im Jahre 1798, in 
einer Vorſtadt Londons , eine Armenfchule für Knaben errichtete. Bet 
der baldigen Erweiterung derfelben führte er ben Unterricht durch bie 
Kinder ſelbſt ein und gründete fpäter aud eine Maͤdchenſchule biefer 
Art. Zur Verbreitung feiner Methode bereiftte ex Großbritannien in 
ben Jahren 1810 und 1811; fand vielfache Unterfiüsung und angefehene 
Beförderer feiner Plane. Mehrere Schulen wurden nach feinem Syſteme 
gegründet. Jetzt aber erwachte bie Eiferſucht der Episkopaien gegen 
den Diffenter. Man erinnerte fi der früheren Leitungen Bell's 
und flellte ihn Lancafler entgegen. Bell wurde der Beguͤnſtigte 
der Tories und der biſchoͤflich Gefinnten, wie Lancaſter der Mann 
des Volks und der Schüsling ber Oppofition. Ein nicht fehr ergög- 
licher Streit echob fi) über die Frage nach der Priorität der Erfin⸗ 
dung und nad) dem, mas bavon dem Einen oder Anderen als eigen 
gehöre? Diefe Zwiſtigkeiten thaten übrigens der Ausbildung und 
Ausbreitung des Bells Lancarfter'fhen Syſtems eher Vorfchub als 
Eintrag , da vom Sabre 1812 an beide Parteien in der Errichtung neuer 
Anſtalten wetteiferten. Doc nahm ſich der Staat bes neuen Syſtems 
weder in der einen nocd anderen Weile an. Nicht alle Erwartungen 
Lancaſter's gingen in Erfüllung, und fo entfchleß er fi, im Sabre 
1820 nad Amerika überzufiedein. Von Bolivar unterflügt, grün: 
bete er feit 1824 in Columbien mehrere Schulen. Später fchlug er 
8 Trenton, in den vereinigten Staaten von Nordamerika, feinen 

obnfig auf, und auch hier machte fein Syſtem reißende Fortfchritte- 
Gleichwohl fehen wir ihn im Jahre 1828 einen Aufruf an den Wohlthaͤ⸗ 
tigleitöfian der Amerikaner richten, um feine Samilie in ber tiefen 
Armuth, in die fie gerathen mar, zu unterflügen. Seit 1833 lebte er 
in großer Dürftigkeit und von feiner Hände Arbeit zu Montreal in 
Canada, zus Schmach undankbarer Nationen, deren Woblthäter er in 
raſtloſer Thätigkeit geworden war. Sein Gegner Bell war inzwifchen 
zu Cheltenham in England, am 28. Januar 1832, in geogem Wohl: 
flande geftorben. 

Dan Hat das Lancaſter'ſche Schulweſen mit ber Milttdrorganis 
fation und dem Unterricht in dem militärifhen Handgriffen und 
Mebungen treffend verglichen. Die ganze Schuͤlerzahl, gleichzeitig unter 
einem Lehrer und in einem Lehrzimmer vereinigt, ift in befondere Sectio⸗ 
nen, eine jede von etwa zehn Schülern, abgetheilt. Den einzelnen 
Abtheilungen flehen geübtere Schüler als Monitoren vor und dieſe 
felbft find der unmittelbaren Oberaufficht einer hoͤhern Claſſe, melde 
Obermonitoren beißen, unterworfen. Monitoren und Obermonitoren 


”*) Später, 1815, publiciete er daräber ein größeres Werk in drei Baͤn⸗ 


den: Elements of tnition. A ieten über fein 
Erhrivelfe ı erfehtinen — ** uch Lancaſter hat zahireiche Schriften über feine 


620 Lancaſter ſche Schule. 


werben endlich in letzter Inſtanz vom Lehrer angewjefen und controlirt. 
Dieſer hat außerdem einige andere Gehuͤlfen unter den Schuͤlern, die 
den Dienſt der kleinen Schulpolizei beſorgen. Jeder Monitor hat ſeine 
Abtheilung quf einer Bank, oder in einem Halbkreiſe, vor ſich. Das 
ganze Triebwerk wird durch ein ſtreng gehandhabtes Syſtem von Stra⸗ 
fen und Belohnungen in geordneter Bewegung erhalten. Die Gegen⸗ 
flände des Unterrichts beſchraͤnken ſich weſentlich nur auf Leſen, Schrei⸗ 
ben, Rechnen und Auswendiglernen eines Religionsbuchs. Sprachun⸗ 
terricht, Denkuͤbungen, Singen und Zeichnen fehlen ganz. Eine 
eigentliche Bildung des Gemuͤths, eine ſtufenweiſe Entwickelung der 
Geiſteskraͤfte iſt unter der ausſchließlichen Herrſchaft dieſer Methode an 
fih unmoͤglich; die vielmehr auf nichts Anderes, als auf ein mechani⸗ 
ſches Abrichten und Einlernen hinauslaͤuft. Die Vortheile des Spflems 
befteben in dem kleineren Bedarf an gebildeten Lehrern und in dem 
- geringeren Koftenaufiwande, womit fich wenigſtens einige Elementar: 
Eenntniffe über größere Maſſen verbreiten laflen; fo wie etwa in der 
Gewoͤhnung an eine firenge Ordnung, in welcher jedoch Die geis 
flige Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit allzu leicht unterdrädt wird. 

Die Anwendung ber Lancafterfchen Lehrweife kann alfo nur 
zwedimäßig erfcheinen, too nicht für die Bildung und Beſoldung einer 
zureichenden Zahl von Lehrern geforgt if. Sie hat darum in Deutſch⸗ 
land mit feinen befler organifirten Unterrichtsanftalten, wo man ſchon 
vor Sahrzehenten bemüht war, allen todten Mechanismus mehr unb 
mehr aus dem Schulmefen zu verbannen, nur wenig Eingang gefuns 
den. Mie eb indeffen in Deutſchland über Alles, was fidy irgendwo 
geltend zu machen fucht, nit an Schriften fehlt; fo bat die Ent 
ftehung des Lancaſter'ſchen Schulweſens eine zahlreiche Literatur zu 
Tage gebracht, worin daſſelbe vielfeitig geprüft und erwogen wurde. 
In Frankreich dagegen, mo e8 an einer größeren Zahl tauglicyer Lehrer ges 
brach und wo man das Bedürfniß einer gewifien Mafjenbilbung lebhaf⸗ 
ter fühlte, da etwa die Hälfte der Bevölkerung weder lefen moch fchreis 
ben konnte, ift das neue Syſtem feit 1814” auch praktiſch zuc Anwen» 
dung gelommen. Noch jest ift daffelbe, mit größeren ober geringeren 

* Mobdificationen, in weiten Umfange verbreitet ; meiſtens unter dem Namen 
des fogenannten wechſelſeitigen Unterrichts, einem unpaflens 
den Ausdrucke, da vielmehr nur einzelne Schüler ale Unterlehrer thätig 
find. Namentlich zieht man diefe Volksſchulen bes twechfelfeitigen Uns 
tersichts, die etwa nur halb fo viel Eoften, als diejenigen für gleichzeis 
tigen Unterricht durch einen und benfelben Lehrer, in ſolchen Gemein⸗ 
den vor, welche ſtark genug bevölkert find, um eine Schule von 
40—50 Böglingen bilden zu können. Schon während ber Hundert 
Tage war in Paris ein Verein für Verbeſſerungen des Elementarunter: 

richts gefliftee worden. Carnot, damals Minifter des Innern, mollte 
fit) vor Allem die Einführung der Lancaſter'ſchen Lehrmethode angelegen 
fein laffen. Zu diefem Zwecke wurde ein Somite errichtet, das aber keine 
Zeit hatte, irgend etwas zu leiften. Nach der Ruͤckkehr der Bourbonen 





Laneaſter ſche Schulen. 621 


ſuchten jedoch mehrere Mitglieder des Vereins, die ſich in England mit 
jener Lehrweiſe bekannt gemacht hatten, dieſe nach Frankteich zu ver⸗ 
pflanzen. Beſonbders ehdtig waren Graf Laborde ımb Lafteyrie. 
Es wurden mehrere Schulen nach Lancaſter's Syſtem errichtet, und in 
benen zu Paris wurden zugleich angehende Lehrer in der neuen Mes 
thode vertraut gemacht. Diefe kam jeboh nur in den vom Verein 
gegründeten ober unterftägten Unterrichtsanflalten zur Anwendung; 
denn bie Reſtaurationsregierung, beſonders aber die mächtige Geiſtlich⸗ 
Leit, fuchte ihrer Verbreitung vielfache Dinderniffe in den Weg zu 
legen, und die ultraroyaliftifchen Blätter bemühten fi, fie ale nutz⸗ 
106, ja fogar, als ſchaͤdlich darzuſtellen. Im Wolle dagegen fand 
fie großen Beifall und bedeutende Unterftügung; auch geſchah unter 
dem Miniſterium Decazes von Seiten ber Regierung Einiges für 
ihre tmeitere Derbreitung. Zwar traten fpäter neue Demmungen 
ein. Aber ſchon hatte ſich der Geſellſchaft für Elementarunterricht 
eine Menge von Hälfsvereinen in den Provinzen angefchloffen, umb 
fo lebhaft vegte ſich aller Orten ber Wetteifer, daß endlich ſelbſt 
die Regierung gezwungen wurde, Hand an's Werk zu legen. Doch 
geritd man da und dort im mancherlei Webertreibungen, indem 
man die Lancafter’fehe Lehrmethode auch in kleineren Schulen und 
auf Gegenflände anwenden wollte, wofür fie durchaus unpaffend 
war; fo daB man in ber Folge von Manchem ablaffen und auf 
Fruͤheres zuruͤckkommen mußte. 

Von Frankreich aus fanden die Lancaſter'ſchen Schulen in der 
Schweiz Eingang; jedoch am Wenigſten in den Cantonen, wo noch 
die Maſſenbildung am Weiteſten zuruͤckſteht und darum ihre Verbreitung 
am Zweckmaͤßigſten erſchienen waͤre. Mit dem groͤßten Eifer wurde 
dagegen ſeit 1819 m Dänemark, auf beſonderen Antrieb von 
Abrahbamfon im Kopenhagen, die allgemeine Einführung des neuen 
Schulſyſtems, ſowohl in dem Koͤnigreiche, als in ben Derzogthümern, 
betrieben. Ein Erlaß der Eöniglichen Hofcanzlei bezeichnete‘ als befon- 
beren Vortheil dieſes Syſtems den „großen Zeitgewinn für die unteren 
Claffen, die man nicht mehr in Dingen unterrichten werde, welche 
außerhalb ihrer Sphäre Liegen.” Einfichtsvolle Pädagogen, befonders 
in ben Derzogthümern, fuchten fich Indefien von ber neuen Methode 
nur die flrenge Ordnung, die Genauigkeit und unabldffige Selbftbe- 
ſchaͤftigung der Schüler anzueignen, hingegen das Gelfttödtende ihres 
Mechanismus zu befeitigen. Auf die genannten Staaten befchräntte 
fi nicht die Verbreitung des Lancaſter'ſchen Syſtems. Es drang nad) 
Schweden; in einige Theile Italiens, namentlich in das Großher⸗ 
zogthum Toscana; in das new gefchaffene Königreich riechen: 
land. In Rußland war es eine der erften Sorgen des Kaifers 
Nikolaus, das Schulmefen auf den Krongütern zu ordnen und für 
bie unterften Claſſen die Lancaſter'ſche Methode einzuführen. Wir fin⸗ 
den diefe felbft in. ber aflatifhen Türkei, wie denn unter An: 
derem am der großen Moſchee zu Damask eine Lancaſter'ſche Schule 


Pre eancaſter ſche Schalen. 


gegruͤndet war, worin 1600 junge Leute gleich Im Leſen bes & , 
vand unterrichtet wurden. Endlich fand daffelbe Soſtem in Aeg 
ten Eingang, in den meiften eucopdifchen Gofonieen von Afrika, Afın 
und Amerika, in dem Negerflaate Haity und in einen großen Tel 
der unabhängigen Staaten des amerikaniſchen Feſtlandes. Wehe 
bes Jahrzehents von 1820— 30 war ein eigentlicher Enthufiasmus für 
Propaganda des Lancaſter ſchen Schulwefens erwacht, und man nz, 
nicht felten geneigt, den Umfang, worin daffelbe Aufnahme gefunden, 
für Nationen und Regierungen zum Mafftabe ihrer Aufftärung un 
Freiſinnigkelt zu machen. In derſelben Periode war man zugleich vid: 
fach darauf bedacht, ſich von allen Fortſchritten des Syſteras Rotiz u 
derſchaffen und zu dieſem Zwecke ſtatiſtiſche Zählungen und Bm: | 
gleihungen anzuftellen. So hat man berechnet, daß in Dänemark dr 
Zahl der Lancafter’fchen Schulen von 1819 bis 1828 ſchon auf 2,3 
geftiegen war. In ganz Europa, mit Ausflug Dänemarks, hattı 
fi die Zahl derfelben, vom Jahre 1789 bie 1820, auf 5,600 Schuin 
mit 1,650,000 Schuͤlern erhoben; tm Afien, Afıila, Amerika un 
Auftcalien auf je 1000, 50, 400 und 10 Schulen, mit je 200,000, 
20,000, 125,000, 25,000 und 5000 Schülern. Seitdem und bie zum 
Sabre 1829 war die Zahl diefer Schulen in Europa auf 10,600 geftie 
gen, in Afien, Afrika, Amerika und Auſtralien auf je 1600, 130, 
1000 und 100; bie Zahl dee Schüler auf je 4,700,000, 500,000, 
50,000, 380,000 und 25,000. Was fodann die Literatur uber dm 
fogenannten wechfelfeitigen Unterricht betrifft, fo hat man forgfam zu 
fammengezäßlt , daß bis zum Jahre 1829 in Dänemark, Schweden, 
Deutfchland, England, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und 





Griechenland je 37, 5, 34, 189, 201, 1, 6, 2 und 2 Schriften 
über dieſen Gegenftand erfcienen waren. 


Lancafterfche Schulen. — Lanbfaffiat. 623 


nad) der größeren ober geringeren Verbreitung jener Elementarkenntniffe 
bemefien dürfen; aber wenigſtens find diefe en Mittel, das bie 
Beſchreitung höherer Stufen bedingt oder erleichtert. Und fo. barf 
man wohl behaupten, daß auch die Anwendung ber Lancaſter'ſchen 
Lehrmethode die Jahrhunderte verkürzen wird, die vielleicht für. bie 
roheren Voͤlker erforderlich geweſen waͤren, um felbftehätig in bie 
Weltbildung einzugreifen. S. 

Land, ſ. Staat und Staatsgebiet. 

Landesherr, Landesherrlichleit, f. Staat und 
Staatsgebiet und hberrenlofe Sachen. 

Landeöverrath, f. Hochverrath, juriſtiſch. 

Landfrieden, f. deutfhe Geſchichte und Fauſtrecht. 

Landrath, f. Provinzialftände. 

Eandrente, f. Rationalreihthum. 

Landfaffiat bedeutete im ehemaligen deutfchen Reiche die Uns 
tergebung unter die Xerritorialhoheit eines Landeshern und, da ale 
deren Dauptbeflandtheil bie Jurisdiction betrachtet wurde *), insbefon: 
bere bie Verpflichtung, bei Iandeshertlihen Gerichten zu Necht zu 
ſtehen, in fo fern fi) diefe Verpflichtung auf Alle erſtreckte, die inner: 
halb eines landesherrlichen Gebiets entweder ihren Wohnfis hatten oder 
unbewegliche Güter befaßen**). Diefes Verhätmiß kam nur in Bes 
zug auf Freie in Betracht, bie ſich nad Willkür in bafjelbe begeben 
(Landfaffen fein) oder durch Veränderung ihres Wohnfikes oder Wer: 
äußerung ihrer Güter fi) ihm entziehen tonnten, — nidt aber in 
Bezug auf Leibeigene oder Grundholden, die der Patrimonialgerichte: 
barkeit ihrer Grundherren unterworfen waren, und wobei zunaͤchſt nur 
binfichtlich diefer Letztern die Frage über das Beſtehen des Landſaſſiats 
fih aufwarf. Dem Landfaffiat fand entgegen das Reich sſaſſiat, 
als Befreiung von der Landeshoheit und unmittelbare Untergebung un⸗ 
ter die Hoheit des Reichs, insbefondere unter bie Gerichtsbarkeit ber 
hoͤchſten Reichögerichte. — In mandyen Landen wurde regelmäßig Jeder, 
ber in dem Territorium wohnte ober unbemwegliche Güter darin befaß, 
für verpflichtet erachtet, ſowohl binfichtlich dee diefen Guͤterbeſitz betref⸗ 
fenden, als auch binfichtlich rein perfönlicher Verhaͤltniſſe Necht bei den 
Gerichten des Landes zu nehmen, was den vollen Landfaffiat 
(Landsassiatus plenus) begründete. Hierbei fand jedoch die noth⸗ 
wenbige Ausnahme Statt, daß ein Landesherr, der in dem Gebiet eines 
andern unbewegliche Güter, insbefondere Lehen befaß und in leßterer 
Beziehung Vaſall des Andern war, ſtets nur binfichtlich der feinen 
Güterbefig oder feine Eigenſchaft als Wafall angehenden Verhaͤltniſſe 
der Hoheit des andern Landeshern fidy unterordnete. In anderen 
Landen wurden diejenigen, bie innerhalb des Territoriums Güter be: 


2% Eichhorn, deutſche Staats⸗ und Rechtegeſchichte (d. Aufl.) Th. IV. 
'#*) Pfeffinger, corp. jür. publ, T. II. Lib.I. V. 22. 


D 


634 Banbffie. 


faßen ohne zugleich ihren Wohnfis daſelbſt zu haben, überhampt nur 
hinſichtlich dee aus biefem Güterbefig entſtehenben, nicht aber hinſicht ⸗ 
ich fonftiger, rein perfönliher Verhaltniſſe ber Territorialgerichtsbarkeit 
untergeben betrachtet, was den Begriff von unvolltommenem (mi- 
mus plenus) Sandfafftat ergab. Endlich gab es Lande, im denen 
getolffe Claffen von Inſaſſen, vermöge ihres mit perſoͤnlichem Adel ver» 
Inhpften Grundbefiges, von ber Landeshoheit und Zerritorialgerichtsbar: 
teit frei waren und das Vorrecht der Reichsmittelbarkeit genoffen. Zu 
biefen Infaffen gehörten die ehemaligen mit Grundherrlichkeit begabten 
Neidyeritter In Schwaben, Franken und am Rhein. In dieſen Lan 
den galt daher der Landſafſiat in keiner Beziehung, fondern es bes 
flimmte ſich nach andern Verhättniffen, ob ein Infaffe der Territotial- 
gerichtöbarkeit unterworfen war oder nicht. 

Diejenigen Lande, in denen der Lanbfaffiat ald plenus oder minus 
plenus Beftand hatte, hießen gefhloffen, bie übrigen dagegen, zu 
welchen übrigens nur die Reihslande Schwaben, Franken und zum 
Teil am Rhein gehörten, ungefhloffene. Diefe Verſchiedenheit 
beruhte darauf, daß, nachdem bie gedachten Lande nach dem Aueſterben 
der früheren Herzöge an das Reich zurhdigefallen waren, bei deren 
Wiederverlelhung dem Reich die unmittelbare Hoheit über dem darin 
anfäffigen Adel und deſſen Güter refp. diefem die Reicheummitteihar: 
teit als vorbehalten betrachtet und in der Folge durch Privilegien ges 
ſichert ward*), was hinſichtlich der übrigen Territorien nicht Gtaft 
fand **). — Zu den Territorien mit vollem Lanbfaffiat gehörten 
namenilich Sahfen***), Baiernt), Selfentd Heut zu Tage, 
da die Reicheunmittelbarkeit mit dem Weich verſchwunden iſt, muß, 





nach der Natur der Sache, ein Seber, der in einem deutſchen Staat 


t 
Landfaffiat. — Landtagsabfchieb. 625 


fie würde daher für diejenigen Lande zu bejahen fein, wo damals der 
volle Landfaffiat beftanden hat *). 
©. Ruͤhl. 


Landftände, f. Conftitution, Abgeorbnete und Deutz 
ſches Staatsredt. 

Landflragen, f. Straßenbau. 

Landſturm, f. Heerwefen. 

Landtag, f. Conftitution. 

Landtags abſchied. — Wenn ſich polltiſche Verfammlungen 
unter öffentlicher Auctoritaͤt zu Rathſchlag und Entſcheidung zeitweiſe 
vereinigen, fo liegt es in der Natur der Sache, daß nach Beendigung 
ihrer Arbeiten bie Refultate derſelben für das öffentliche Leben über: 
ſichtlich zuſammengefaßt werden. Die Urkunde, womit eine ſolche 
Verfammlung am Schluſſe ihrer Verhandlungen entlaffen wird, heißt 
in der deutſchen Geſchaͤfisſprache „Abfchied” (recessus), Nach der 
Art der Verſammlung wird eine ſolche Urkunde näher bezeichnet als 
Reichsabſchied, Landtagsabfchied , Kreisabſchied, Landtathsabſchied, als 
Tagfatzungsabſchied für die Verſammlung ber eidgendffifhen Gefandten 
in der Schweiz u. f. w.**) Solche Abſchiede werden in der Regel 
oͤffentlich befannt gemacht, und es verſteht fich, daß dies gefchehen muß, 
fobald fie eigentlich gefegliche Beſtimmungen enthalten. In diefen Urs 
tunden werden alle Beſchiuͤſſe der Verfammlung aufgeführt; fo mie 
die Refolutionen derjenigen Behörden auf die Anträge, Gefuhe und 
Beſchwerden ber berathfchlagenden Koͤrperſchaft, mit melden dieſe in 
politiſcher Relation fieht und unter deren Auctorität fie berufen worden 
iſt. Die Sache und der Sprachgebrauch bildeten ſich zunächft in Bes 
ziehung auf die Reichstage. Nicht blos diejenigen Beſchlüſſe, worüber 
fid) die Kaifer mit den im 15. und 16. Jahrhunderte gebildeten drei 
Neichscollegien vereinigt hatten, wurden in den Relchs abſchied auf 
genommen; fonbern gewöhnlich auch die weiteren Puncte, über welche 
eine Verftändigung zwiſchen dem Kaiſer und den mädhtigften Reiche: 
glledern zu Stande gekommen war. Im Iegteren Faile ſuchte man 
ſich noch den Beitritt der nicht gegenwärtig getwefenen Reichsſtaͤnde zw 
verfhaffen umd dadurch bie Vereinbarung fo weit zu verftäcken, dag 
ſich die Diffentieenden das Verabſchiedete gleihmohl mußten gefallen 
laffen. Dec Reichsabſchied wurde dann meiſtens ducd ein kaiferliches 
Decret (Hofdecret), auf das Gutachten der Reichsſtaͤnde, ertheilt. Da 
vom Jahr 1663 an der Reichstag beftändig verfammelt blieb, fo konnte 
feitbem von feinem eigentlichen Reichsabſchiede mehr bie Rede fein. 


*) Eichhorn, Cinleit. in das deutſche Privatrecht mit Einſchluß des 
Lehnrechts $. 75. 

**) Eine eigenthuͤmliche Bedeutung hat der Austrud „in den Abfchieb 
falten“ nach ber ſchweizeriſchen Gefhäftsfprache. Er gilt für biejenigen Be— 
rathungegeaenftänbe,, wofür feine reglementarifche Mehrheit erhalten worden 
iſt oder wofür ſich einzelne Stände bie Katification, oder das offene Pros 
tocoll, oder das Referendum vorbehalten haben. 

Staats : Lexiton. IX, 40 





626 Lanbtagsabfchied. 


Hiernach iſt derjenige von 1654 als ber jüngfe in ber beuitfäen 
Wir fih num überhaupt die Territoriatserfoffungen mad dem Mer | 


bilde der Meichsverfaffung entwidelt hatten; fo die Lund 
un in Form und Namen nach biefem > u 

Die Form diefer Landtagsabfchiede beginnt erſt mit dem 
I Jahrhundert und wurde mamentlich durch die Be 
fhrerden veranfaft, die von Selten der Stände ı und mer 
Über die Megenten ihre Beſch zu faflen Nicht feitem 
Inüpften die inde die ihnen angefonnenen an die 


atfı 
tagsabfehleden ten Freiheiten ber Ad: 
tiget ober erweitert Unter die neu derwiligten gehörten 
namentlich, im 16. Jahrhundert bie Verſprechungen der Regenten , 
fe nicht ver werden folle; daß fie fih ohne 
oder ande in sine Wündniffe umd ein 
wollen; ja zumeilen die Bufiderung, daß bie 


jeder wichtigen Am enheit follen zu Rath gejogen werden. Als mir 
Ausbildung der vollen ‚öheit feit Ende des breißigiährige 

das fändifhe Wefen ——— in — gerleih⸗ 
Landtagsabſchiede 


ſeltener erſchlenen erſt wieder 8 
des Artikels 13 ar Banane als ie die 
(dichte * deutſchen Bundesſtaaten. ſle bei der öffnn g 
diſchet Verſammlungen in der Ehroncede De Stel 
die noch —— Plane und Abſichten der 9 1 
teten; fo brüct fid in dem Landtagsabſchiede das 







” 


Landtagsabfchied. — Landwirthfchaft. 627 


Endlich folgen die millfabsenden, abmeifenden ober verheißenden Reſo⸗ 
Iutionen des Regenten auf fländifche Antsäge, Geſuche und Beſchwer⸗ 
den, fo weit diefe nicht früher, als conner mit den ſchon aufyseführs 
ten legislatorifcyen Beftimmungen, ihre Erledigung erhalten haben. 
In der Natur der Sache liegt es, daß Landtagsabichiede nur in 
ſolchen Staaten mit fländifcher oder repräfentativer Verfaſſung erlaffen 
werden, mo bie ftändifchen Verſammlungen periodifh und nach läns 
gern Zwiſchenraͤumen Statt finden; mo fidh alfo das Öffentliche Leben, 
in Beziehung auf die gemeinfame verfafjungsmäßige Thaͤtigkeit des 
Fuͤrſten und ber Volksvertreter, nach gewiſſen Abfchnitten gliedert. 
Darum kommen die Abfchiede in ſolchen größeren Staaten nicht vor, 
in welchen, wie etwa in Großbritannien und in Frankreich, die Organe 
des Monarchen und des Volkes in einer fortwährenden, oder nur aus⸗ 
nahmsweiſe unterbrochenen Berührung und Wechſelwirkung bleiben. — 
S. Eichhorn, deutfhe Staates und Rechtögefchichte F. 262, 436, 
546, 5875. Klüber, Gtaatbaseıtv Band 1. ©. 1%. Deffentliches 
Recht des deutſchen Bundes $. und die bafelbft angeführten 
Schriften. v. Zangen, Verfaffungsgefege deutſcher Staaten Bd. II. 
S. 211, 239. Ludw. Spell, Handbuch des ſchweiz. Staatsrechts 
Br. 1. ©. 158, 162 — 164. | 

Landwehr, f. Heerwefen. 

Landwirthfchaft. — Die Landwitthſchaft, d. h. der Pflanzen, 
bau in Verbindung mit der Thierzucht (excl. der Forſtwirthſchaft), bil⸗ 
bet bei jedem Volke, welches das Nomadenleben verlaffen und fefte 
Wohnfitze aufgefchlagen bat, das erſte und wichtigſte Gewerbe. 

Der landwirthſchaftüch benugte Boden liefert einer weit größeren 
Menſchenzahl fiherer und nachhaltiger die nothwendigfien Lebensmittel, 
als dies auf der Stufe des Jäger: und Hirtenlebens durch biofe Jagd 
und Viehzucht irgend möglich iſt; er ift in den meilten Ländern bie 
seichfte Quelle der öffentlihen Einkünfte, und auf ihm erwaͤchſt für den 
Staat die größte Zahl tüchtiger waffenfähiger Männer. 

Man bat daher ſchon im Altertum dem Landbau den Rang vor 
allen anderen Gewerben angemwiefen, als der urfprünglichften, noths 
wendigften, natuͤrlichſten Beſchaͤftigung, als derjenigen wicthfchafte 
lihen Thaͤtigkeit, welche zugleich ein Vergnuͤgen gewährte und dem 
Geiſt und Körper ſtaͤrke zu Allem, was einem freien Manne zieme. 

ınnium autem rerum, quibus aliquid acguiritur, nihbil est egri- 
cultura melius, nibil uberius, nilil dulcius, nibil homine libero 
dignius. (Cicero.) Die landwirthſchaftliche Kunft der Römer vers 
pflanzte ſich unter ihrer Herrſchaft auch in biejeniyen Theile Deutfchs 
lands, in welchen fie fich niedergelaffen butten; namentlich war dies 
am Rhein und an der Donau der Fall. 

In der fpäteren wild bewegten Zeit des Mittelalters warb ihr 
weniger jene Achtung und Aufmerkſamkeit geſchenkt, die ihr im Alters 
thum zu heil geworben. Unficherheit, Unwiſſenheit und der Drud 
des Reibeigenfchaft laſtete hart auf ihr. Hoͤchſtens uf ben Eöniglichen 


- 





638 Landwirthſchaft. 


Domänen und in der Nähe der Kloͤſter fand fie ſorgſame "Pflege. 
Kart der Große mar es namentlih, der die Domaͤnenwirthſchaft forg- 
fältig xegelte und die Geiftlichleit durch Ertheilung des Zehentrechts 
für das Gedeihen der Landwirthfchaft intereffirte. 

Nicht ohne wohlthaͤtige Wirkung auf den Landbau blieben bie 
Kreuzzüge, indem durch fie der Handel und die Gewerbe und damit 
das Aufblühen der Städte gefördert, die Nachfrage nach landwirth⸗ 
fhaftlihen Producten gefteigert, das Capital auch im Landbau ver- 
mehrt und ber Drud der Leibeigenfchaft etwas gemildert wurde. 

Die Entdedung des Seewegs nad) DOftindien und Amerika war, 
indem der Handelszug zum Nachtheil Deutfchlands ſich änderte, dem 
Aderbau weniger günftig, und endlich zerftörten bie religiöfen Wirren 
die Sucht bes Fleißes und der Sparfamkeit von Jahrhunderten. 
Mährend Holland, Frankreih und England an Macht und Reichthum 
fliegen , verfiel Deutfchland in Armuth, Unmacht und Schmach. 

Nach Beendigung bes dreißigjährigen Kriegs fingen die deutfchen Res 
glerungen, nothgedrungen, an, bie fhweren Wunden zu heilen, die 
dem allgemeinen Wohlftand gefchlagen worden waren. Man vertheiite 
die Domänen des Staats in kleinere Güter und verlieh fie an Zeit: 
oder Erbpaͤchter; man fuchte durch Errichtung von landwirthſchaftlichen 
Lehrftellen auf den Univerfitäten Iandmwirthfchaftliche Kenntniffe zu vers 
breiten u. f. m.; allein die Leibeigenfchaft dauerte fort, und der Wohl: 
ftand der Städte war geſunken, damit aber die wohlthätige Ruͤckwir⸗ 
tung der letzteren auf den Landbau gefhmwädt. Auf ihre Hebung ward 
daher vorzugsmweife nah dem Worbilde von Frankreih und England 
durch Förderung ber Gewerbe und des Handels das Augenmerf ber 
Regierungen gerichtet; allein biefe Richtung mar eine einfeltige und 
dem Landbau vielfach ſchaͤdliche; denn fie führte zu Beſchraͤnkungen 
ber Ausfuhr landwirthſchaftlicher Probucte, namentlich des Getreides, 
der Wolle und bergleihen; zu Wälzung ber hauptfächlichflen Laſt der 
Abgaben auf den Grund und Boden. 

Manche Fürften, wie Friedrich der Große, Joſeph II, waren allers 
dings, obgleich fie in ihrer Handelspolitik dem Mercantilfuftem huldig⸗ 
ten, träftige Sörberer des Ackerbaues. Auf fie wirkte aber auch bereits 
ber Umfchwung, der ſich in ben vollswirthfchaftlihen Anfichten vorbe⸗ 
teitete. (©. z. B. Roͤdenbeck, Finanzfpftem Friedrich's des Großen. 
Berlin, 1838.) 

Die Lehre der Phnfiokraten in Frankreich nämlid war es, bie 
auf den Landbau, als die Baſis aller volkswirthſchaftlichen und gefells 
fhaftlihen Entwickelung, hinwies, bie auf Löfung der Feſſeln und 
Aufhebung der Laften, welche den Landbau hemmten und drüdten, 
drang und nicht nur auf franzoͤſiſche, fondern auch auf die beutfche 
Wirthſchaftspolitik einen fehr bedeutenden Einfluß ausübte. 

Wohl find aud die Phyſiokraten in eine große Einſeitigkeit ver: 
fallen. Wenn fie gleich nicht verfennen, dag die technifchen Gewerbe 
und ber Handel für die menfchliche Gefelfchaft in hohem Grade nüßs 


Landwirthfchaft. 629 


liche Beſchaͤftigungen find, fo leugnen fie doch, daß durch biefelben ber 
Reichthum der Völker vermehrt werden Einne, weil fie annehmen, daß 
die Production der Gewerbsleute ꝛc. durch ihre Confumtion aufgewo⸗ 
gen werde. Nur durch den Landbau, der einen Ueberfhuß über die 
Productionskoften, einen reinen Ertrag gemähre, koͤnne das Volksver⸗ 
mögen vermehrt werden. Sie verlangen daher, daß alle Steuern 
lediglich von diefem reinen Ertrag des Bobens erhoben werben follen. 

Diefe Anfiht, die auch neuerlich wieder (von Dutens, philo- 
sophie de l’economie politique.. Paris 1835. — Defense de 
la philosophie etc. p.1837) als die einzig richtige vertheidigt worden 
ift, verdient um fo mehr eine nähere Beleuchtung, als der Beweis, 
daß der Landbau nicht das allein probuctive Gewerbe fei, im Intereſſe 
deſſelben felbft Liegt. 

Man kann die Frage über die Probuctivicät oder Unproductivitdt 
der Erwerbsgefchäfte in eimer zweifachen Beziehung auffaflen und bes 
antworten. Man kann fragen: ob ein Gewerbe Güter von höherem 
Gebrauchs werthe hervorbringe, ober den vorhandenen Gütern einen 
höheren Gebrauchswerth hinzuſetze, als der während bes Productions⸗ 
gefchäfts verzehrte Werth betrage? Oder — ob ein Gewerbe dem 
Preiſe nach mehr einbringe, al$ bie Behufs der Production verzehrte 
Süterfumme, dem Preife nah berechnet, bettage? Lest man 
der Betrachtung den Gebrauchswerth der Güter zu Grunde, fo läßt 
fi) allerdings der Beweis von der Productivität des landwirthſchaft⸗ 
lichen Gewerbes am Leichteften führen, da der Lanbwirth in der Negel 
im Stande ift, einen Theil feines Naturaleinlommens, 3. B. an den 
Grundherrn, an die Kirche 2c., abzugeben. Schwieriger ift der Beweis 
bei den technifchen Gewerben, da man hier bei der Vergleihung mit 
ungleihartigen Gütern zu thun hat, beren Werthgroͤße ſich nicht mit 
mathematiſcher Genauigkeit beftimmen läßt. Uebrigens iſt e8 auch den 
Phyſiokraten nicht eingefallen, zu behaupten, daß der Lebensgenuß der 
Menfchen ohne alle technifche und Hanbelsthätigkeit derfelbe fein wuͤrde, 
wie er es iſt mittelft ihrer Beihülfe. Man kann e8 daher als eine. 
feines weiteren Beweiſes bedürftige Thatſache anfehen, daß, wenn man 
den Einfluß der technifchen Gewerbe. und des Handels auf das menſch⸗ 
liche Wohlſein, auf die Erhöhung des Werths dee Güter für menſch⸗ 
lichen Gebrauch in's Auge faßt, ihnen in der Regel eine hohe pro: 
ductive Kraft inwohnt. Man möchte fogar den Phyfiokraten gegen- 
über verfucht fein, die Behauptung aufzuftellen, daß vorzugswelfe jenen 
Gewerben eine probuctive Kraft zulomme, meil ohne ihre Deitwir: 
tung der größte Theil der Urprobucte gar einen oder nur einen fehr 
untergeordneten Werth haben würde und erft duch die technifche Thaͤ⸗ 
tigkeit und durch den Zransport in ben Kreis der Dinge von Werth 
für die Befriedigung menfchlicher Bebürfniffe hereingezogen wird. Allein 
es ift überhaupt. unpaffend, die eine ober die andere gewerbliche Thaͤ⸗ 
tigkeit blos für fi, abgefehen von ihrem organifhen Zufammenhange 
mit den übrigen aufzufaflen. Wenn duch das nothmwendige organifche 





630 = Landwitthſchaſt. 


Zuſammenwirken ber verſchiedenen gewerblichen Thaͤtigkelt eine ro: 
ductenmaſſe erzielt wird, die nicht blos die Beduͤrfniſſe der Unterneh⸗ 
mer und Arbeiter befriedigt, fondern überdies eine Reihe anderer Wolke: 
Auffen, mie der Grundeigenthuͤmer, der Staatsdiener ıc., nähert und 
Heidet und mit Wohnungen und taufend Gemächlichleiten und Ziers 
ben verfieht, und eine Aufſammlung von Sapitalien geftattet, — wenn 
ein folcher Ueberſchuß Über die Verzehrung der gemerhtreibenden Gi 

nur unter ber Vorausfehung ihres organifchen Zuſammenwirkens ⸗ 
It iſt, wer kann der einen oder der andern dieſer Claſſe ihre Mit 
wirkung zu der Hervorbringung jenes Ueberſchuſſes, d. h. ihre pro- 
ductive Kraft, abfprehen? 

Geht man alfo bei der Betrachtung von dem Gebrauchswerthe 
aus, fo kommt keineswegs blos dem Landbau Produetivität zu. 

Es ift daher die Frage: ob die phyfioßratifche Anficht etwa unter 
der Vorausfegung, daß ber Preis der Güter der Betrachtung zu 

Grunde zu legen ſei, ihre Richtigkeit habe? 
Wenn gleich diefe Borausfehung nicht als richtig zugeftanden wer⸗ 
ben Tann, fo fol doch auch von diefem Standpuncte aus bie Frage 
in's Auge gefaßt werden. 

Die techniſchen Gewerbe und ber Handel follen bem Preis ber 
Urftoffe nur fo viel zufegen, als der Preis der Güter betrage, bie 
während der tedhnifchen und Handelsthaͤtigkeit verzehrt worden feien. 
Diefe Behauptung wird aber fouleih durch bie tägliche Erfahrung 
Lügen gefttaft. Zieht nicht aus dem Preife der Gewerbsprobucte nach 
Abzug bes Preifes aller der Production willen verzehrten Güter ber 
Unternehmer regelmäßig einen reinen Gewinn, ber Gapitalift einen 
Zins? Eruͤbrigt nicht der Arbeiter von feinem Lohne bäufig noch 
einen Keinen Sparpfennig? Und all' dieſes finder nicht blos 
zufältig, duch Kargen und Feilſchen und günftige Preisconjunetus 
ven, fonderh cegelmäßig und nothwendig Statt, wenn 
die Bolksbetriebſamkeit einen erwünſchten Kortgang 
haben ſoll. 

May man alfo von dem Gebrauchſswerth oder von dem 
werth der Vermoͤqenstheile ausgehen, fo ergibt fi das Reſultat, daf 
keineswegs der Landbau allein zu Vermehrung des Volksvermoͤgens 
beisutragen vermag, daß alfo aud die Forderung der Phyfiokraten, 
alle Steuern auf den nad ihrer Anfiht allein einen reinen 
gemwährenden Landbau zu legen, zum Gluͤcke des letzteren ihre Grund» 
lage verliert. 

Trotz dieſem Nefultat bleibt die Behauptung ber Phyfiokraten 
wahr, daß die Landmwirthfchaft die Bafis aller volkswirthſchaftlichen und 
gefellfhaftlichen Entwidelung bildet, daß von ber Groͤße des Webers 
ſchuſſes an Rohproducten, meldyer von der Landbau treibenden Bevoͤl⸗ 
kerung über ihren eigenen Bedarf erzielt wird, die Größe aller weiteren 
der Pflege des Eörperlichen und geiltigen Wohle der Geſellſchaft fich 
widmenden Bevoͤlkerung hauptſaͤchlich bedingt iſt: es bleiben ihre An: 


Landwirthſchaſt. 631 


forberungen an ben Staat, alle die Entwickelung des landwirthſchaft⸗ 
lichen Gewerbes hemmenden Feſſeln, perſoͤnliche Unfreiheit der Land⸗ 
leute, laͤſtige Abgaben u. ſ. f., wegzuraͤumen, vollkommen in Kraft. 

Dieſe Anſicht theilt die neuere Theorie in vollem Maße. Nur 
von der Einſeitigkeit, daß hauptſaͤchlich das landwirthſchaftliche Ge⸗ 
werbe die Fuͤrſorge bes Staats verdiene, bat fie ſich losgemacht, und 
indem fie nicht geringere Sorge für die technifchen Gewerbe und den 
Handel in Anfprudy nimmt, leiſtet fie dem Landbau felbft die größten 
Dienſte. Denn nur wenn fie wechfelfeitig auf einander wirken, kann 
die Landwirthſchaft erſtarken und zu voller Bluͤthe fich entfalten. 

Unteugbar bat die deutſche Landwirthſchaft, trotz der leuten fran« 
zoͤſiſchen Kriege, Fortſchritte gemacht; Dank den Bemühungen der 
Wiſſenſchaft, welche die Landwirthſchaftslehre duch naturwiſſenſchaft⸗ 
liche Kenntnifſe bereichert und Bekanntſchaft mit den Fortfchritten 
fremder Voͤlker verbreitet hat; Dank ferner den Bemühungen der Res 
sierungen, welche durch Errichtung landwirthſchaftlicher Lehranftalten, 
duch Muſterwirthſchaften, durch Löfung mandyer ben Landbau hems 
menden Seflein uw. f. f. zu feinem Anffchwung beigetragen oder wenigs 
ſtens die Möglichkeit weiterer Entwidelung ihm verſchafft haben. 
Keineswegs aber iſt der Kreis der Werbeflerungen gefchloffen. Verdienſt 
genug iſt in der Zukunft nod zu erwerben ! 

Da der Ertrag des Bodens bei einigermaßen forgfältiger Bewirth⸗ 
ſchaftung vegelmäßig größer iſt, als die mit dem Landbaue befchäftigs 
ten Perfonen zum unmittelbaren Verbrauch und zum Eintaufch ihrer 


übrigen Beduͤrfniſſe nöthig haben, fo iſt Hierdurch die Möglichkeit . 


gegeben, daB, fo weit der Staat den Ueberfhuß nicht in Anſpruch 
nimmt, irgend ein Thetl der Bevoͤlkerung fich denſelben zueignet. Dies 
ift auch In der That auf mannigfache Weife gefcheben. 

Bald hat eine mächtige Kaffe der Geſellſchaft einen in perfönliche 
Abhängigkeit verfallenen Theil ber Bevoͤlkerung, wie die Sklaven, Leib⸗ 
eigenen u. f. f., gezwungen, ihre Srundftüde zu bebauen und ben 
Ueberfchuß über den nothwendigen Lebensbedarf ber Lebteren fich zuges 
eignet. Bald Hat der ausfchiießliche Bells des Bodens die Grund⸗ 
eigenthäner in den Stand gefeht, für die pachtweiſe Benusung ihres 
Eigenthums Anderen die Abgabe eines bedeutenden Theild des Ertrags 
aufzulegn *). Doch auch auf dem Wege des völlig freien Verkehrs 
tönnen die Grundeigenthümer eine mit der Entwidelung ber bürgers 
lichen Geſellſchaft ſtets fleigende Rente fi) verichaffen, während bie 
Rente der Capitaliften im Laufe der Zeit gewöhnlich ſinkt. 

Die natuͤrliche Ertragsfaͤhigkeit der verfchiedenen Grundſtuͤcke naͤm⸗ 
lich iſt ſehr verſchieden; fie find durch die Naͤhe oder Entfernung des 
Marktorts, durch die Leichtigkeit oder Schwierigkeit des Transports der 


— 


*) Das merkwuͤrdigſte Beiſpiel in dieſer iſt Irland. (S. z. B. 
die Auszäge aus Parlamentsacten: „ber —S Bin, 1840) 








632° Landwirthſchaft. 


Producte u. ſ. f. in einer bald mehr, bald weniger guͤnſtigen Pag. 
Wenn nun durch die Nachfrage nach Bodenerzeugniffen der Preis de: ! 
felben fo geftiegen if, daß auch die fehlechteren ober überhaupt unte 
den ungünftigften Umftänden bewirthſchafteten Grundflüde die Br 
bauung lohnen, fo find die Eigenthümer ber einträglicheren in der 
Stand gefeht, für die VBenugung derfelben von ben Pächtern fidy eine 
Rente auszubedingen, bie um fo größer if, je mehr der Ertrag ber 
felben den ber weniger begünftigten überfteigt- 

&o bildet fih von felbft aus den Nature und Verkehrsverhoͤlt⸗ 
niffen eine Grundeigenthümerclaffe, melde je nad) dem Umfange ihre 
Befigungen ganz oder theilweiſe von ihren Bodententen Leben kam, : 
eine Claſſe, deren Einkommen aud ganz abgefehen von ihren Capital: | 
anlagen auf Grund und Boden fleigt, je mehr duch das Wachsthum 
der Bevölkerung und die Zunahme der Induſtrie die Nachfrage nah 
Bodenprobucten ſich vermehrt, der Anbau von immer fchlechteren 
Grundftüden zunimmt, und ber Preis der Urproducte in Folge diefer 
Urfachen in die Höhe geht: In fo fern eine Steigerung des Preife 
der nothwendigſten Lebensmittel in dem Intereffe dieſer Claffe liegt, 
bat man ihr Intereffe als im Widerſpruche mit dem aller übrigen 
Voltksclaſſen ſtehend dargeſtellt. 

Aus einer naͤheren Betrachtung der Sache ergibt ſich jedoch Fel⸗ 

endes: 
Das Intereffe der Grundeigenthuͤmer wird freilich durch das Ster 
gen bes Preiſes ber nothwendigſten Lebensmittel, das aus verftärkn 
Nachfrage und der Ausdehnung des Aderbaues aud auf fdhlechter 
Grundflüde entfpringt, gefördert, das der übrigen Wolksclaffen ab 
eben hierdurch unmittelbar benachtheiligt- Wenn daher das Gteigen 


des Preifes der nothwendigſten Lebensmittel für die Legterem nicht durch 
a L h 


Landwirthſchaft. 633 


zu fördern, begriffen find, von einem höheren Geſichtspuncte aus auf: 
gefaßt, nicht im MWiderfpruche mit dem der Übrigen Volksclaſſen fteht. 

Die Zortfchritte des landwirthſchaftlichen Gewerbes find, abgefehen 
von dem hoͤchſt foͤrderlichen Einfluffe der technifchen Gewerbe und des 
Handels, durch gefleigerte Nachfrage nach Urprobucten zur Nahrung, 
Berarbeitung u. f. f., durch Lieferung wohlfeiler Werkzeuge und Ge- 
räthfchaften, durch Uebertragung von Gapitalien auf den Landbau 
u. f. f., hauptſaͤchlich durch folgende Umftände bebingt: 

1) durch perfönlihe Freiheit ber Landbau treibenden Claſſe; 

2) durch möglichft freien Grundbeſitz derfelben. 

Für die landwirthſchaftlichen Fortſchritte am Zuträglichften iſt das⸗ 
jenige Verhältniß, wobei der Grund und Boden in dem Eigenthum 
vermöglicher ſelbſtwirthſchaftender Landwirthe ſich befindet; der Ertrag 
denfelben in moͤglichſt ungeſchmaͤlertem Maße zufällt, und die Erſpar⸗ 
niß regelmäßig auf den Boden als Capital zurüdfließt. Doc, ift auch 
ein Pachtſyſtem, bei weichem die Güter in angemeffener Größe auf 
eine beträchtliche Anzahl von Jahren an wohlhabende und gebildete 
Paͤchter verliehen merden, der Cultur bes Bodens nicht hinderlich; 
hoͤchſt ſchaͤdlich dagegen tft ein Pachtſyſtem, bei welchem die Güter in's 
Unendliche zerfplittert, an arme unwiſſende Pächter auf eine kurze Reihe 
von Jahren gegen hohe, durch die Concurrenz abgeprefte Pachtzinfen 
verliehen werden, und eben beshalb jeder Trieb und jebe Fähigkeit zu 
Verbeſſerungen fehlt. 

Das Verhaͤltniß des zroifchen dem Grundherrn und Bauern getheit- 
ten Eigentbums kann zwar nicht unter allen Umftänden ale abfolut 
ſchaͤdlich und verwerflich betrachtet werden; allen da fich thatfächlich 
an daffelbe in der Regel eine Reihe hoher und Iäftiger Abgaben und 
Dienfte für den Landwirth Enüpft, fo liegt es im allgemeinen Intereſſe, 
daß der Staat es dem Landmann möglich macht, durch Ablöfung jener 
Laften und Dienfte ſich volles und freies Grundeigenthum zu verfchaffen. 
(5. die Artikel „grundberrlihe Abgaben‘, „Frohnen“, „Zehenten“ u. f. f.) 

3) duch die Freiheit des Land manns hinſichtlich der 

Benusgung feines rundes und Bodens. 
Xeecht und Klugheit fordert, dem Landmanne die Art und Weife 
des Anbaues feines Feldes freizugeben. Ob er feinen Ader mit Ger 
treide ober Handelsgewaͤchſen anbaue, feine Wiefe in einen Adler, oder 
feinen Weingarten In ein Fruchtfeld ummandeln will, oder umgekehrt, . 
ift feiner Einfiht und Berechnung zu uͤberlaſſen. Denn man darf 
fiher fein, daß'der Einzelne diejenige Benugungsart wählt, die feinem 
Intereſſe und feinen Verhältnifien am Angemefienften ift, und bie 
daher in der Regel auch volkswirthſchaftlich die zweckmaͤßigſte iſt. 

Die eigenthümlichen Grundſaͤtze, welche nad) Umftänden in Bezug 
auf die Rodung der Privatwaldungen in Anwendung kommen müffen, 
find in ben betreffenden Artikeln ausgeführt. 

Auf gleihe Weife, wie dem Landmanne die Wahl ber Pflanzen, 
womit er fein Feld bebauen will, — durch Aufhebung der etwa bes 


os Landwirthſchaſt. 


ſtehenden polizellichen oder plivatrechtlichen Hiuderniſſe — anbeim je 
geben iſt, fo If ihm auch die Reihenfolge des Anbaues, die Feidrote⸗ 
tion, überhaupt die Einrichtung des ganzen Wirthſchaftsfyſtems au übır 
taffen. Wird namentlic) der Landbau auf großen arrondirten Gütern der 
trieben , fo ift lediglich fein Grund vorhanden , bie Bewirthfchaftunge: 
weife polizeilih vorzufcpreiben. Der Staat kann unmöglidy befie 
twiffen als die Gefammtheit aller Landwirthe, mas dem Intereffe eines 
Jeben am Meiften frommt. Bei zerftüdeltem Grundbefige muß fi 
allerdings der Einzelne mehr in die Ordnung der Menge fügen. Did 
ift man auch hierbei in der Beſchtaͤnkung häufig zu weit gegangen, und 
theils beſſere Einfichten, theils veränderte Verhättniffe haben mit Redt 
Veranlaffung zu Maregeln gegeben, welche die möglichfte Auflöfung 
der polizeilichen und privatrechtiichen Hinderniſſe der freien -WBerwegung 
des Einzelnen zum Biel haben. Um dies näher zu erldutern, fol 
kurz auf bie Entwidelung ber verfledenen Kelderfpfleme eingn 
gangen werden. 

Die frühefte und roheſte Art des Aderbaues iſt bie fogenannte 
Wehfelwirchfhaft. Sie wird angewendet in einer Zeit umb Be 
gend, wo Boden im Ueberfluß vorhanden, an Bänden und Gapitd 
aber Mangel ift. Das dem Anbau gewidmete Gelb zerfällt (abgefchen 
von einigem Garten: und Wiefenland) in zwei Theile. Jeder ie 
wird benugt, fo lange bie natürliche Kraft bes Bodens ohne künſtuch 
Düngung Emten erzeugt, in der Art, daß, während der eine Theil 
Früchte trägt, der andere brach liege, bis er durch bie Einwirkung 
bee Atmofphäre, des Regens, der verwef’ten Kräuter u. ſ. w. Redfie 
m neuen Ernte gefammelt hat. Inzwiſchen dient er dem Mich zur 

eide. 








Landwitthſchaft. 633 


zu fördern, begriffen find, von einem höheren Gefichtspuncte aus auf- 
gefaßt, nicht im MWiderfpruche mit dem der Übrigen Volkeclaſſen fteht. 
B Die Fortſchritte des landwirthſchaftlichen Gewerbes find, abgefehen 
von dem hoͤchſt foͤrderlichen Einfluffe der technifchen Gewerbe und des 
: Handels, durch gefteigerte Nachfrage nad Urproducten zur Nahrung, 
Verarbeitung u. f. f., ducdy Lieferung mohlfeller Werkzeuge und Ge: 
x raͤthſchaften/ durch Uebertragung von Gapitalien auf den Landbau 
u. f. fi, hauptſaͤchlich durch folgende Umftände bebingt: 
1) durch perfönlihe Freiheit der Landbau treibenden Glaffe; 
2) ducd möglidhft freien Grundbefig derfelben. 
Für die iandwirthſchaftüchen Fortſchritte am Zutraͤglichſten ift das⸗ 
jenige Verhättnig, wobei der Grund und Boden in dem Eigenthum 
& vermöglicher ſelbſtwirthſchaftender Landwirthe ſich befindet; der Ertrag 
denſelben in möglichft ungeſchmaͤlettem Maße zufällt, und die Erſpar— 
a niß regelmäßig auf den Boden als Capital zuruͤckfließt. Doch ift auch 
ein Pachtfoftem, bei welchem die Güter in angemeffener Größe- auf 
„ eine beträchtliche Anzahl von Jahren an wohlhabende und gebilbete 
; Pächter verliehen werben, der Cultur bed Bodens nicht hinderlich; 
„ böchft ſchaͤdlich dagegen ift ein Pachtſyſtem, bei: welchem die Güter in’6 
Unenbliche zerfpfittert, an arme untoiffende Pächter auf eine kurze Reihe 
von Jahren gegen hohe, durch die Concurrenz abgepreßte Pachtzinfen 
verliehen werben, und eben deshalb jeder Trieb und jede Fähigkeit zu 
Verbeſſerungen fehlt. 
Das Verhättniß des zwiſchen dem Grundheren und Bauern getheil- 
ten Eigentbums kann zwar nicht unter allen Umftänden als abfolut 
ſchaͤdlich und verwerflich betrachtet werden; allein da fich thatſaͤchlich 
„am baffelbe in dee Regel eine Meihe hoher und Läftiger Abgaben und 
Dienfte für den Landwirth Inüpft, fo liegt es im allgemeinen Intereffe, 
; daß ber Staat es dem Landmann möglich macht, durch Ablöfung jener 
Laften und Dienfte ſich volles und freies Grundeigenthum zu verſchaffen. 
(&. die Artikel „grundherrliche Abgaben”, „Frohnen“, „Behenten” a. f. f.) 
8) durch die Freiheit bes fandmanns hinſichtlich ber 
Benugung feines Grundes und Bodens. 
Recht und Klugheit fordert, dem Landmanne bie Art umd Beik 





634 Landwirthſchaſt. 


ſtehenden pollzellichen oder ptivatrechtlichen Huinderniſſe — anbeim ju 
geben iſt, fo iſt ihm auch bie Reihenfolge des Anbaues, bie Feidroie⸗ 
tion, überhaupt die Einrichtung des ganzen Wirthſchaftefyſtems au über 
laſſen · Wird namentlich der Landbau auf großen arrondirten Gütern be 
trieben , fo iſt lediglich kein Grund vorhanden , die Bewirthfchaftunge: 
weife polizeilich vorzufchreiben. Der Gtaat Tann unmoͤglich beffe 
wiffen als die Gefammtheit aller Landwirthe, was dem Intereſſe eines 
Jeden am Meiften frommt. Bei zerftüdeltem Grunbbefige muß fih 
allerdings der Einzelne mehr in die Ordnung der Menge fügen. Dob 
it man audy hierbei in der Befchräntung häufig zu weit gegangen, und 
theils beffere Einfichten, theil6 veränderte Verhättniffe haben mie Redt 
Veranlaffung zu Maßregein gegeben, welche die moͤgiichſte Aufldfung 
der poligeilihen und privatrechtlihen Hinderniſſe der freien Bewegung 
des Einzelnen zum Biel haben. Um dies näher zu erläutern, fol 
urz auf die Entwidelung der verfhiedenen Geiderfpfleme einge 
gangen werden. 

Die fröhefte und roheſte Art des Aderbaues ift die fogenanmte 
Wehfelwirthfhaft. Sie wird angewendet in einer Zeit und Ge 
gend, wo Boden im Ueberfluß vorhanden, an Händen und Gapital 
aber Mangel ift. Das dem Anbau gewidmete Gelb zerfällt (abgefehen 
von einigem Garten: und Wieſenland) in zwei Theile. Jeder Deil 
wird benugt, fo lange die natuͤriiche Kraft des Bodens ohne Lünfttihe 
Düngung Emten erzeugt, in der Art, daß, während der eime Theil 
Früchte trägt, der andere brach liegt, bis er durch die Ginmwirkung 
der Atmofphäse, des Regens, der verwef’ten Kräuter u. |. w. Rodfie 
gu neun Ernte gefammelt hat. Inzwiſchen dient er dem Wied zur 

e. 





Landwirthfchaft. 635 


feftigen und etwaigen künftigen Kortfchritten in ber landwirthſchaftlichen 
G Itur hemmend in den Weg zu treten. Zehentweiderechte u. dergl. 
wurden auf dieſes Syſtem gegründet. 

Uber wie angemeflen dafjeibe auch den Bebürfniffen und Ber: 
hältniffen einer beflimmten Zeit fein mochte, eine neue Zeit ergeugte 
neue Beduͤrfniſſe. Die Dreifelderwirthfchaft mit reiner Brache konnte 
einer vermehrten Bevölkerung nicht genü.en; es mußte das Verlanuen 
entitehen, daß die dem Anbau ber Brache im Wege ftehenden Hin: 
derniffe weggeräumt, daß der Anbau der Kartoffel, der Handels: Ges 
wächfe und der Futterkraͤuter, namentlich der Kleebau und die dadurch 
bedingte Einführung der Stallfütterung,, möglich gemacht warb. 

Diefe Möglichkeit wird namentlich duch Schäfereigefege 
herbeigeführt, welche theils den Grundfag feititellen, daß der Anbau 
dee Felder feiner Benutung als Weide vorangefeht werde, theils die 
Abloͤſung der Weiderechte in befiimmten Zeitfeiften geftatten. 

Wenn durch diefe Maßregeln die Möglichkeit des Anbaues bes Brach⸗ 
feldes — der Dreifeiderioiethfchaft ohne Brache — gegeben und dieſes 
Wirthſchaftsſyſtem allaemeiner aewörden iſt, fo verflechten ſich auch in 
biefes Syſtem Verhaͤltniſſe, namentlich neue Zebentrechte, welche ei⸗ 
ner weiteren Entwidelung ber Bodencultur entgegentreten. 

Ein rationellee Betrieb ber Landwirthfchaft in einem bevölkerten, 
mit Händen und Capital reichlich verfehenen Lande nämlich findet feine 
Befriedigung nicht in bem gewöhnlichen Syſteme ber Dreifelderwirth⸗ 
fchaftz ee verlange eine zweckmaͤßigere Fruchtfolge, ein 6—9I jähriger 
Turnus wird raͤthlich. 

Auch hier iſt es Pflicht des Staats, durch Geſetze die rechtlichen 
Verhaͤltniſſe ſo zu ordnen, daß bie Hinderniſſe eines verbeſſerten Ans 
baues des Bodens wegfallen. Das Refultat bdiefer Betrachtungen iſt 
hiernach folgende®: 

Die Geftattung der möglichft freien Benugung muß für den Staat 
Leitender Grundſatz fein 

Bei getheiltem Grundbefig afer gebietet die Natur der Berhaͤlt⸗ 
niffe, den Einzelnen an eine gewiffe allgemeine Ordnung im Intereffe 
ber Gemeinſchaft zu binden. In diefe Ordnung verflechten fi) man: 
cherlei Rechte, die zugleich mit ben polizeilichen Beſtimmungen den les 
bergang zu einer netten Drbnung der Dinge erfchweren oder verhindern. 
Hat fi daber im Laufe der Zeit das gemeinſchaftliche Intereſſe der 
Mehrzahl umgeſtaltet, fo ift durch geſetzliche Maßregeln ber Webergang 
zu einer anderen Benugung des Bodens moͤglichſt zu erleichtern und 
zu befördern. 

4) duch eine zwedmäßige Arcondirung ber Beſi—⸗ 
gungen der einzelnen Landwirthe. 

Der Landwirth, deffen Grundſtuͤcke an allen Enden und Eden ber 
Markung zerftreut liegen, kann fein Feld nicht Überfehen und uͤberwa⸗ 
hen; das Hins und Hergehen und Fahren von einem Ader zum an⸗ 
bern bei bee Bebauung, bei Saat, Ente u. f. w. verurfacht für Mens 








638 Landmwitthſchaßt. 


ioͤhnern verwendet werden muß, und daß ſelbſt die Leitung bes Bettiebt 


oft fremden Händen, Gutsverwaltern u. f. f., anvertraut iſt. 

Da ſich aus dem Vorherrſchen des Groß: oder des Kleinbetriebt 
des Aderbaues in einem Lande für das Maß der Bevoͤlkerung defiet- 
ben, für die Einfommensvertheilung,, überhaupt für die ganze volkswirth 
fhafelit:e und politifhe Geftaltung eines Staats fehr wichtige Folgen 
ableiten, fo iſt die Frage: ob nicht der Staat, troß der Unmöglichkeit, 
allgemein das richtige Maß für bie Größe der Güter zu beftimmen, 
doch eine Einwirkung auf diefelbe ſich vorbehalten, oder ob er yanz 
freie Theilbarkeit des Bodens geftatten foll? 

Betrachtet man die Frage rein von dem privatwirthfchaftlichen 
Standpuncte, ſo iſt auch im denjenigen Ländern, in welchen der Grund: 
faß der Untheilbarkeit der Güter feit Jahrhunderten befteht, Darüber 
nur eine Anficht unter den Landwirthen, daß die freie Theilnarkeit, d. h 
derjenige Zuſtand den Vorzug verdiene, in welchem dem Einzelnen fr 
ſteht, fein Landgut, fei es durch Ankauf oder Verkauf von Güterflü- 
den, in ein richtiges Verhättniß zu feinen Fähigkeiten und Gapitalim 
zu fegen, überhaupt feinem Mirthfchaftsbetrieb die feinen Verhaitniſſen 
angemeffenfte Ausdehnung zu geben. (Mergl. z. B. die Lamdmirth: 
ſchaft Großbritanniens. Aus dem Engliſchen von Schweißer, I. 64.x.) 

Allein die Frage muß auch noch von einem höheren volkswirth⸗ 
ſchaftlichen und. politiſchen Standpuncte aus in's Auge gefaßt werben. 

Wenn ohne Zweifel für den verftändigen und foliden Landwirth bi 
unbefchränfte Dispofitionsbefugnig über fein Grundeigentum nur er 
wuͤnſcht und unmittelbar nur von Vortheil fein kann, fo liegt do 
die Befürchtung nahe, daß bei freier Zheilbarfeit die Theilung des Bo 


dene, namentlich auf dem Wege.des Erbgangs, im Kaufe der Zeit 





Landwirthſchaft. 637 


das ſogenannte Vereindbungsfpftem , aus polizeilichen Ruͤcſichten geltend 
gemacht werden, find nicht hinreichend, um Maßregeln zu Verhinde⸗ 
zung folcher wirthſchaftlich Lobenswerthen Unternehmungen zu rechtfertis 
gen. Es iſt nicht zu fürchten, daß hierdurch die Dörfer gaͤnzlich ver⸗ 
fchwinden, daß bie Intelectuelle und fittliche Bildung und ein teges Ge: 
meindeleben dadurch Noth leidet. Denn die Zahl derer, welche fich 
zum Dinausbauen ihrer Wohnungen entfchließen, ift immer eine ges 
einge. Die Koften des Umbaues der Gebdude, die Schwierigkeit, ſich 
volltommen zu artondiren, ber Mangel an Waffe, und die Vortheile 
und Genäffe, welche ein Zuſammenleben in einer Gemeinde in gefellis 
ger und zum Theil auch in wirthſchaftlicher Beziehung, z. B. durch 
die Nähe der noͤthigen Handwerker u. dergl., gewährt, find Grund 
genug, um die Mehrzahl der Dorfberohner vereinigt zu erhalten; 
wozu ſich noch die größere Sicherheit der Perfon und des Eigenthums 
beim Zuſammenwohnen gefeltt. Diefe legtere Rüdficht macht es aber 
raͤthlich, daß dee Staat fi) pofitiver Begünftigung des Vers 
eindbungsfpftems enthält. 

5) duch eine angemeffene Größe der Landgüter. 

Man hat ſich viele Mühe gegeben, einen allgemeinen Maßſtab 
für die zweäͤmaͤßigſte Größe ber Landgüter aufzufinden. Allein es läßt 
ſich ein folcher allgemeiner Maßſtab unmöglich aufftelen. Die richtige 
Größe It durch Ort, Zeit, perfönlihe und wirthſchaftliche Verhättniffe 
des einzelnen Landwirths bedingt, und diejenige ift In der Regel die 
richtigſte, welche aus der Natur biefer DVerhättniffe ohne zwingende 
Einwirkung des Staats von felbft fi entwickelt. 

Im Agemeinen laͤßt ſich über den Betrieb des Landbaues im 
Großen und im Kleinen Folgendes bemerken: 

Beim Betrieb im Großen wird an Capital und Arbeit erfpart, 
Arbeitstheilung, Mafchinenanmwendung und ein intelligenterer Betrieb 
mird möglich; mit einem Wort, eine kleinere Menſchenzahl iſt im 
Stande, bem Boden einen größeren Reinertrag abzugeroinnen, als beim 
Betrieb des Landbaues im Keinen. Was an Menfchen: und Capitals 
kraͤften erfpart wird, kann anderen nüglihen Beſchaͤftigungen zuges 
wendet werben. , 

Bei dem Kleinbetrieb findet eim größerer Aufwand an Capital 
irthſchaftsgebaͤuden, Adergerächen u. f. f.) und an Menfchenkräften 
Statt, ein großer Theil bes Rohertrags wird durch bie Lanbleute vers 
ehrt, und ber für die übrigen Volksclaſſen disponible Ueberſchuß müßte 
nothwendig eim bebeutend geringerer fein, als bei ber Großwirthſchaft, 
wenn nicht die Sorgfalt, Sparfamfeit und ber Fleiß der ſelbſtwirth⸗ 
ſchaftenden Eigenthämer wenigſtens einen Theil des Ausfalls wieder 
deden wuͤrde. . 

Diefer Erfag durch Steig und Sparſamkeit iſt nicht felten fo bes 
deutend, daß der Reinertrag Meiner Güter den der großen felbft über 
feige; wobei namentlich in Betracht kommt, daß bei den letzteren haͤu⸗ 
fig das erforderliche Capital mangelt, daß eine größere Zahl von Tages 





638 : Banbwirthfäaft 


1öhnern verwendet werden muß, und daß felbft die Leitung des Betriebe 
oft fremden Händen, Gutsverwaltern u. f. f, anvertraut iſt. 

Da fi aus dem Vorherrſchen des Groß⸗ oder des Kleinbetriebt 
des Aderbaues in einem Lande für dad Maß ber Bevölkerung deſſel 
ben, für die Einfommensvertheitung, überhaupt für die ganze voikewirth⸗ 
ſchaftiice und politiſche Geftaltung eines Staats fehr wichtige Folgen 
abliiten, fo ift die Frage: ob nicht der Staat, trog der Unmöglichkeit, 
algemein das richtige Maß für die Größe der Güter zu beftimmen, 
doch eine Einwirkung auf diefelbe fi) vorbehalten, oder ob er yanj 
freie Theilbarkeit des Bodens geflatten foll? 

Betrachtet man die Frage rein von dem privatwirthſchaftlichen 
Standpuncte, ſo iſt auch in denjenigen Ländern, in melden der Grund- 
fag der Untheilbarkeit der Güter feit Jahrhunderten befteht, darüber 
nur eine Anſicht unter den Landwirthen, daß die freie Theilvarfeit, d.h. | 
derjenige Zuſtand den Vorzug verdiene, in weichem dem Einzelnen. frei 
ſteht, fein Landgut, fei e8 durch Ankauf oder Verkauf von Güterflür 
den, in ein richtiges Verhältnig zu feinen Faͤhigkeiten und Gapitalim 
zu fegen, überhaupt feinem Wirthfchaftsbetrieb die feinen Verhaitniſſen 
angemeffenfte Ausdehnung zu geben. (Bergl. 3. B. bie Lamdwirth- 
ſchaft Großbritanniens, Aus dem Englifhen von Schweißer, I. 64.x.) 

Allein die Frage muß auch nod von einem höheren volkewirth⸗ 
ſchaftlichen und politifhen Standpuncte aus in's Auge gefaßt werden. ı 

Wenn ohne Zweifel für den verftänbigen und foliden Landwirth die 
unbefchränkte Dispofitionsbefugnig über fein Grundeigenthum nur er 
wünfht und unmittelbar nur von Vortheil fein kann, fo liegt doch 
die Befücchtung nahe, daß bei freier Theilbackeit die Theilung des Bo 








dene, namentlich auf bem est - A: bgange, im Kaufe der * 
fi 


Landwirthſchaft. 639 


ihrer Güter abhalten würde, wenn nicht bei Erbtheilungen das 
Intereſſe dee Exben gerade in einer Wertheilung des ererbten Gutes bes 
flünde. Die Exben könnten nämlich entweder das Gut gemeinſa aftlich 
bebauen und es fo unvertheilt erhalten : allein biefes widerſtreite in der 
Regel dem Intereſſe der Einzelnen; denn jedes Mitglied wolle, fobald es 
fich verheirathe, feinen eigenen Herd; — oder es koͤnnte ein Kind das 
Gut Übernehmen und den anderen Renten verſprechen; allein feines 
der Kinder wolle Haus und Hof verlaffen; nody meniger verftehen fie 
fih zum Verkauf des Gutes im Ganzen; es bleibt alfo nichts übrig, 
als das Gut zu vertheilen, wodurch jedes Kind feine eigene Wirthſchaft 
gründen und die Früchte feines Guͤtchens und feiner Arbeit in vollem 
Maße beziehen koͤnne. Aus dem Geſet der gleihen Erbtheilung 
entfpringe daher bei freier Theilbarkeit die Gefahr einer von Generation 
zu Generation fortfchreitenden Zerfplitterung des Bodens und Verar⸗ 
mung feiner Bewohner. Wenn diefe Folge bis jegt nur hier und da 
eingetreten fei, fo beruhe dieſes theils in befonderen Verhältniffen, 3. B. 
dee Nähe von Gtäbten, thells bacın, daß das Goflem, mo «6 
im Großen angewendet worden, wie in Preufen und Frankreich, erft in 
feiner Entwidelung begriffen fei. 

Die Gefahr, die aus einer Zerfpitterung des Grumdbefiges ent» 
fpringe, ſel aber nicht blos eine wirthfchaftlihe, fondern auch eine pos 
iitiſche. Durch Vertheitung der größeren Bauern» und Adelögäter 
werde alle bei der Unftetigkeit des beweglichen Capitals doppelt nothwendige 
Stabilität im Staatsleben vernichtet, indem ein tüchtiger Bauernſtand 
ann cn das Beftehende aufrecht erhaltender Adel aus demfelben ver- 

Wk 

Offenbar ift der Punct ber gleichen Exbtheilung der wichtigfte und 
ſchwierigſte in der Sache, und mir wiederholen hier die fon an es 
nem andern Drte*) ausgefpeochene Anficht, daß uns eine Befchräntung 
bee freien Xheilbarkeit je nady den Umftänden allerdings hier und da 
moͤglich und nothwendig zu fein ſcheint, obgleich wir in der Regel, 
und fo lange bie Theilung nicht dis zu einem ſchaͤdlichen Grade forte 
ſchreitet, das Recht der freien Theilbarkeit ats den wirthſchaftlichen · und 
geſell chaftlichen Fortſchritten am Zutraͤglichſten betrachten. 

Den vielen Vorſchlaͤgen, weiche biesfalls gemacht worden find, fei 
noch Folgendes beigefelt: 

Es fol dem Gutsbeſitzer unbeſchraͤnkte Dispofitionsbefuanig über 
fein Gut bei Lebzeiten zuſtehen; auch für den Fall feines Todes fol 
ee nach feinem GButbefinden baffelbe einem feiner Kinder Übertragen 
oder unter mehrere vertheilen innen; wuͤrde er aber flerben, ohne 
—X über fein Gut verfügt zu haben, fo ſoll es dem diteſten Sohne 
aufallen. 
Hinfichtlich ber Anfpräche der nachgeborenen Kinder müßten für 
dieſen Fall bilige gefegliche Beftimmungen getzoffen werden. 


”) In der Schrift über den Einfluß bes Grundeigenthums ıc. Stuttg., 1836. 





640 Landwirthſchaft. — Lebensmittel. 


Vielleicht dürfte man ſich ſchon bei diefer gefeglichen Einrichtunz 
und bei Beauffichtigung der Erwerbungen ber todten Hand und de 
Familienfideicommiſſe der Hoffnung hingeben, daß weder eine dem öf: 
fentlichen Wohle nachtheilige Verkleinerung, noch Vergrößerung det 
Grundbefiges der Einzelnen eintreten werde. 

6) Weitere Bedingungen und Befoͤrderungsmittel ber landwirth⸗ 
ſchaftlichen Fortſchritte find folgende: 

Eine zwedmäßige Bilbung ber Landbau treibenden Claſſe in dm 
verfchiedenen Zweigen der Landwirthſchaft, namentlich auch im Wein: 
bau, Obſtbau, in der Viehzudt u. f. w.; Verbreitung landwirthſchaft⸗ } 
licher Kenntniffe durch Vereine; Verbreitung nuͤtzlicher Ackermerkzeug, | 
Viehragen, Culturpflangen; Verfiherungsanftalten gegen Zerſtoͤrungen 
des landwirthſchaftlichen Capitals durd Feuer, Hagel, Viehfterben u ! 
1. fe gmeddimäßige Greditanftalten ; Fteiheit des Handels mit Lanbwink } 






ſchaftlichen Producten, namentlich freier Getreidehandel; Cxleichtermg 
bes Transports bdeffelben mittelft der Anlage von Strafen, Gandim 
u. ſ. fs endlich zweckmaͤßige Gefege über Vertheilung und den Anh 
der Allmanben. : 
(S. hierüber die betreffenden Artikel „Aderbauinftitute” und „Gefe: | 
ſchaftscreditanſtalten“, „Rorngefege”, „Eifenbahnen”, „Gemeinheitschi- 
lungen” u. ſ. f. D. ®. Schu 
Lauenburg, f. Sahfen-Lauenburg, 
Lebendverfiherung, f. Verforgungsanftalten. 
Lebensmittel. — Diefer Ausdrud würde im weiteſten Ginn 
Alles umfaffen, was zur Erhaltung der phyfifchen Eriftenz des Men 
fen, den gewöhnlichen Einwirknngen ber Natur gegenüber, erforder: 
üch if: hauptſaͤchlich Nahrung, Kleidung und Wohnung. In einem 
nasın Ginne in m 3 ort hier 0; ii Larlahun 





Lebensmittel. 641 


der Concurrenz und bes eigenen Intereſſes der Producenten nicht zu 
rechnen iſt. Ein ſolches ift das Waſſer, das nur an wenigen Orten 
und unter befonderen Umftänden bezahlt wird, wo folglich nur fehr fel- 
ten bie Privatperfonen durch ein mercantilifches Intereſſe veranlaft 
find, an bie Berforgung ihrer Mitbürger mit biefem gleichwohl hoch⸗ 
wichtigen Bedürfniffe zu denken. An vielen Orten ift Waſſer in einem 
das getwöhnliche, Beduͤrfniß dedienden Maße vorhanden; aber es iſt 
ſchlecht, ungeſund, zu mandyen Zwecken gar nicht anwendbar, an mes 
nige entlegene Puncte vertheilt, bei großer Hitze dem Austrodinen, bei 
ſtrenger Kälte dem Einfrieren ausgefegt, einem ungewöhnlichen Beduͤrf⸗ 
niffe nicht genügend. Hier kann allerdings die Gemeinde oder der Staat 
veranlaßt fein, die vereinzelten Kräfte zur Herbeifhaffung des Waſſers 
mittelft Wafferleitungen, Nachgrabungen, Anlegung artefifcher Brun⸗ 
nen , großer Gifternen u. f. mw. zu vereinigen. In wärmeren und maf: 
ferarmen Ländern wird natuͤrlich das VBedürfnig an Waſſer empfunden, 
und es ift bekannt, welche gewaltige Anſtrengungen die Römer und die 
Drientalen demfelben gewidmet haben. Es kann 2) vorkommen, daß 
die unfchädliche Beſchaffenheit der Lebensmittel von den Gonfumenten 
erft nach dem Genuſſe, alfo erſt wenn es zu fpdt iſt, ſich erkennen 
laͤßt, folglich eine polizeiliche Ueberwachung und Vorausſicht gerechtfer⸗ 
tigt find. Hierher gehört die Aufſicht über das Fleiſch, die durch Were 
anftaltung einer Viehfchau dafür, dag Fein ungefundes Fleifch gefchlach- 
tet wird, und durch Mevifion der Fleiſchladen dafür forgt, daß nur 
frifhe und! unverborbene Fleiſchſtuͤcke zum Verkauf ausgeftellt werden. 
Unter Umftänden kann auch eine polizeiliche Beaufſichtigung der gerin- 
geren Speifehäufer und Garküchen und der geräucherten Waaren erfor 
derlich fein. Auch das Wild, befonders der Haſe, ift eigenthümlichen 
Krankheitszuſtaͤnden unterworfen, während beren fein Genug den Mens 
fhen ſchaͤdlich iſt, weshalb zu ſolchen Zeiten fein Einbringen zum Vers 
kaufe wohl verwehrt werden mag. Auch der Genuß der Fiſche ift zu 
gewifien Zeiten dem Menſchen ſchaͤdlich, und auch fonft eine polizeiliche 
Aufſicht über den Fiſchmarkt um fo nöthiger, je gefährlicher die Mir- 
tungen des Genuffes, ja der bloßen Ausbünftung verdorbener Fiſche 
find. Ruͤckſichtlich des Getreibes wird ſowohl die Anwendung krank⸗ 
haften Kornes zu verhindern, als das Mahlgeihäft zu beauffichtigem, 
gegen ſchaͤdliche Beimifhungen im Meblhandel einzufchreiten und bas 
Bäderbrot einer Controle zu unterwerfen fein. Der Genuß unteifer 
Kartoffeln, unreifen ober mabigen Obſtes erzeugt gefährliche, zuweilen 
epidemifch werdende Krankheiten, und wenn gleich in biefen Dingen 
Dieles übertrieben werden kann, To ift es doch wohl kein zu flarker 
Eingriff in die perfönliche Sreiheit, wenn die Verkäufer verhindert wer⸗ 
den, Gegenftände auf den Markt zu bringen, die ber Gefundheit ihrer 
Mitbürger fhädlih find. Aus gleichen Gründen wird die Polizei viele 
fältig veranlaßt fein, über die Fünftlich bereiteten Getränke eine fcharfe 
Obſicht zu führen. Hier iſt ohne chemiſche Analpfe die ſchaͤdliche Be⸗ 
ſchaffenheit nicht leicht zu entdecken, und nicht ſelten der Wohlgeſchmack 
Staats⸗Lexikon. IX, 41 








644 Legitimitaͤt. 


ich einen legkimen Anſpruch auf den mic durch das Geſetz zugeſchiede⸗ 
nen, z. B. vaͤterlichen, Erbtheil; fo begründet die gefegmäßig gefchloffene 
Ehe Legitime Verhättniffe und Zuftände für die Ehegatten, Eltern umb 
Kinder u. ſ. w. Wir haben es jedoch hier mit folder allgemeinen Bes 
deutung nicht zu thun, fondern nur mit der engeren, d. b. mit ber 
auf politifche Verhättniffe ober Zuftände ſich beziehenden, wornach 
3 3. dem durch gefegliche Age ober Wahl zur Herrſchaft gelangten 
Regenten, eben fo ber auf gefeglichen Wege (d. h. durch die nad 
natürlichem ober pofitivem Geſetz dazu rechtmäßig berufene Auctorität) 
entftandenen Berfaffung, dann auch ber folder Verfaſſung oder 
überhaupt dem — natürlichen oder pofitiven — Staatsrechte gemaͤßen 
Regierung das Prädicat „Legitim” ertheilt wird, Im Gegenfas 
3. B. eines Ufurpators, ober eines aus gewaltfamer Umwaͤlzung hervor 
gegangenen Zuftandes, oder einer rein willkuͤtlichen, tyrannifchen Re 
gierungsweife. In der engſte n Bedeutung jedoch, und welche in ber 
neueften Zeit ſich ganz vorzuͤglich geltend gemacht hat, wird unter Legi⸗ 
timität faft nur das angeflammte Herrſcherrecht verftanden, ge 
tolffermaßen bie — wie man fonft fagte — unmittelbar von Gott 
verliehene Majeſtaͤt, im Gegenfage der auf den Volkswillen, ode, 
wie man fagt, auf die Revolution begründeten Gewalt. 

Diefen bergeftalt beſchraͤnkten Begriff hat man indeffen nicht aus 
druͤcklich oder deutlich feftgeftellt, fondern ſich mit dem Ausrufen des 
Wortes getwiffermaßen als eines Lofungswortes für die jet in 
Europa vorherefchende Partei, als eine Art von Shibolech — zw 
Unterfcheibung der Anhänger von ben Gegnern — begnügt, und mit 
der Benugung deſſelben als eines Titels zur Rechtfertigung reactionder 
Zendenzen. Der Sinn aber, den man damit verbindet, wird leicht m= 
tannt aus bee praktiſchen Anwendung, die man nah Umftänden baven 
madıt, und aus deren Zufammenhalten mit den übrigen Richtungen ber 





Legitimität. 645 


ſtieen als Famillenglled ſich angefchloffen: da ſtrahlte fein Thron von 
fothee Majeſtaͤt und Herrlichkeit, daß an ber Geſetzmaͤßigkeit feiner 
Herrſchaft zu zweifeln faſt für Unfinn gegolten hätte. Koͤnigreiche und 
Herrſcherhaduſer hatte fein mächtige Wort erfchaffen, die Gewaltigften 
der Erde ehrten ihn, bie Sprößlinge des bourbonifchen Hauſes aber, 
welche einſtens den Thron Frankreichs befeffen, irrten als Flüchtlinge und _ 
Verbannte umher, und fanden kaum ein Land, deffen Herrſcher fie gafts 
lich aufzunehmen ober nur eine Zufluchtsſtaͤtte gegen die Verfolger ihnen 
zu getwähren wagte. Als nun aber der ruſſiſche Winterfroſt das große 
Heer zernichtet und eine Reihe weiterer Unfälle die Macht brs Gefuͤrch⸗ 
teten, gegen welchen ſich jest das ihm früher verbündete Europa feind> 
lich erhob, gebrochen hatte: da entſtand bei den Exbittertften feiner 
Feinde der Bedanke, ihn zu entthronen, und ward in Erfüllung geſetzt 
durch den Verrath bes fogenannten Erhaltungs:Senats. Der 
felbe, durch Napoleon’s Willen in's Dafein gerufen, bisher auch ſolchem 
Willen — fo wie es Knechten ziemt — unbedingt folgfam, erfühnte 
fich jegt, auf des verfhmigten Talleyrand’s Rath, zur Abfegung 
feines kaiſerlichen Gebieter6 und Herrn und zur Wieberberufung ber faft 
vergeffenen Bourbonen auf Frankreichs Thron. Die vermeffene 
That, unter dem Schuß ber fremden Kriegshaͤupter, welche noch kurz 
zuvor mit Napoleon, als dem Kaifer der Sranzofen, um den Frieden uns 
techanbelt hatten, gelang, und Ludwig XVII. ergriff die Zügel des 
Reiches. Dem Principe dieſes Verfahrens gab Talleprand den Namen 
„Legitimitaͤt.“ — 

Dieſes Princip nun, wenn man es nad) ber ihm hier gegebenen 
Anwendung beurtheilen, oder wenn man es in Gemäßheit ber aus fols 
her Anwendung hervorgehenden Anfichten generalifiten wollte, würbe 
theoretifch wie praktifch zu den für den unbefangenen Verftand unges 
nießbarſten und für das Schickſal ber Voͤlker heillofeften Folgerungen 
führen; auch würde es mit ben Lehren der Gefchichte und den bio zur 
neueften Zeit anerfannten Brundfägen des Staats: und Völkerrecht im 
ſchreiendſten Widerſtreite ſtehen. . 

Das Erbrecht eines Fürftenhaufes auf die Regierung eines Landes 
und Volkes Tann, wenn man nicht zur abfurden Dich tung eines 
fhon vor dem Staat beftandenen Erbeigenthums einer Familie 
über das ganze Gebiet feine Zuflucht nehmen, oder den Glau⸗ 
ben an eine unmittelbare göttliche Einfegung des Herrſcherhau⸗ 
fed forbeen will, durchaus auf feinem andern Boden wurzein, als auf 
dem des vernünftigen Staatsrechts (ohne welches ohnehin bie 
Rechtsguͤltigkeit irgend eines pofitiven gar nicht gedenkbar iſt), mithin 
nur abgeleitet werben aus dem urfprünglihen Befellfhafts: 
dertrage, al erfter Quelle, in defjen Gemäßhelt fobann ein Geſell⸗ 
fhaftsgefeg, d. b. der Ausfprudh des Geſammtwillens, ein 
Fürftenhans zur Regterung berief und dadurch allen (mithin den künfs 
tigen tie ben gegenwärtigen) Geſellſchaftsangehoͤrigen die Unterthanen⸗ 
treue gegen daffelbe zur Pflicht machte, wozu dann noch etwa ein bes 





646 Legitimitdt. 


fonderer, mit dem Regentenhaufe felbft geſchloſſener Wertung, welhe 
die fortdauernde MWirkfamkeit jenes Gefeges verbürgte, gekommen fein 
oder als hinzugefommen gedacht werden mag. Nun ift es aber gr 
nicht menfhenmöglid, ein für alle Ewigkeit feine Kraft br 
hauptendes Gefet zu maden; und auch jeder Vertrag kann — 
z. B. duch, Untreue des einen Pariscenten oder auch durch völlige Am 
derung der Umſtaͤnde u. f. w. — feine Rechtsguͤltigkeit verlieren. Cs 
Tann alfo auch das Thronfolges, wie überhaupt das Verfaſſungegeſch 
rechtsguͤltig verändert oder aufgehoben, und ed Tann der Unter ı 
fumgsuenteog unter gewiffen Vorausfegungen feiner Rechtskraft beraubt 
werden. elches diefe Vorausfegungen oder Bebingungen für Eins 
ober das Andere find, fol hier nicht erörtert werden; es genügt bie 
Andeutung der im Allgemeinen durchaus nicht zu verfennenden, nidt 
nur factifchen, ſondern auch rechtlichen Moͤglich keit des Auf 
hoͤrens jedes Geſetzes und jedes Vertrags; und wo die Möglichkeit zu 
Wirklichkeit wird, da hört natuͤrlich auch die auf der Rechtsverbind⸗ 
lichkeit des Gefeges oder Vertrages ruhende Legitimität auf. . 
Freilich find außerordentliche Umftände von Nöthen, wenn der con: 
fitwirende Gefammtmwille, von welchem in der Idee das Grund 
gefeg und das Thronfolgegefeg ausgingen, zur Abänderung des grund: 
gefeglich Seftgeftellten aufgerufen und in Stand gefegt werben fol, fi 
darüber unzweibeutig zu dußern. Ja, in ber Regel werden bie barnadı 
gerichteten Beſtrebungen den Charakter der Parteiung oder bes Aufs 
ruhrs, mithin des Verbrechens an fi tragen, ober wenigſtens fehr 
zweifelhafter Natur — nad Urfprung und Form — fein. Und eben 


fo wird die Frage, ob ein Regent wirklich, den Vertrag gebrochen und 
zwar in dem Maße, daß dadurch das Volk ſich als losgebunden von 
der gegen ihn eingegangenen Verpflichtung achten koͤnne, meift von einer 





Legitimitat. 647 


Werk gerichtet worden: fo iſt ber Mangel der urſpruͤnglichen Form ge« 
heilt, unb die neue Einfegung jegt legitim. Es verfteht fi, daß 
hier nicht die Rede ift von einer augenblicklichen, blos ſchweigenden, etwa 
aus Furcht dor der duch Gewalt zur Herrſchaft gelangten Partei 
heroorgehenden Duldung, fondern nur von einer bem vernünftigen 
Urtheil als wirklich vorhanden ober als durch unzweideutige That⸗ 
ſachen ausgeſprochen erſcheinenden — im legten Fall alfo zumal von 
einer aus der eine längere Beit hindurch fortdauernden Ruhe 
hervorgehenden — Zuſti m mung. 

Außer dieſer flaatsrechtlic; gültigen Anerkennung einer voll⸗ 
brachten Revolution oder Thronveränderung als einer rechtmaͤß igen, 
mithin legitimen, gibt es auch eine völferrechtliche, in der — 
gleichfalls ausdruͤcklich oder ſtillſchweigend zu erklaͤrenden — Gutheifung 
"oder Billigung der übrigen Mächte beftehende. Als praktiſch güftis 
ges Recht erfſcheint überall nur jenes, das fi der Anerkennung der 
unter ſich in Wechſelwirkung Stehenden erfreut; und fo wird auch einer 
irgendwo vorgefallenen Ummaͤlzung ber Stempel der Legitimität mit 
voller Rechtswirkung erſt durch die Anerfennung der fremden 
Staaten aufgebrüdt werben. Es kann aud hier nicht von einem 
etwa blos durch Furcht erzwungenen Nihtwideripruc bie Rede 
fein, fondern nur von einer freien (ob aud aus politifchen Gründen 
entfprungenen) entweder thatſaͤch lichen (duch Forterhaltung des 
ehevorigen diplomatiſchen Verkehrs bezeigten) oder duch förmlichen 
Vertrag ausgefprochenen Anerkennung. Zu einer ſolchen befteht jedoch 
— fobald die oben bemerkte ftantsrechtliche Guͤltigkeit unzweideutig 
vorliegt — eine natädlihe Rehtsfhuldigkeit überall, wo nicht bes 
fondere Werhättniffe einen Titel des Widerfpruche gewähren (f. „Ins 
tervention‘); und es iſt auch nicht eben eine allgemeine ober 
ausnahmlofe Anerkennung nothiwendig, fondern es genügt die von 
der Mehrheit der mit dem betreffenden Staat in Wechſelwirkung fies 
henden Regierungen ausgefprochene. 

Iſt num folhergeftalt die Rechtmäßigkeit einer wie immer factiſch 
bewirkten Ummälzung, alfo insbefondere auch einer Thronveränderung, 
einmal ſtaatscechtlich und völßerrechtlich) anerkannt; fo iſt der dadurch 
gegründete neue Buftand der legitime geworden, und ohne Wis 
derſpruch mit fidy felbft, d. 5. alfo ohne Aufhebung bes vernünftigen 
KRechtsbegriffs, kann dann von der alten Legitimität keine Sprache 
mehr fein. Zwei fich entgegengefeste Legitimitäten innen nicht gedacht 
werden; nur mag, bevor der Streit auf die oben bemerkte Weiſe 
entfchieben it, noch ein Krieg beftehen zwiſchen bet auf die alte 
und der auf die neue Legitimicät fich berufenden Partei, und fobann 
das Waffengläd, oder der eine gemiffe Beit hindurch unangefochten 
fortgefegte Wefig die Entſcheidung geben. 

Wenn man dieſe Grundfäge verleugnet, wenn man, trotz als 
ler ſtaatorechtlichen und voͤlkerrechtlichen Anerkennung einer gefchehenen 
Thronveraͤnderung und tro& des längfien und unangefochtenen Beftans 








648 Legitimität. 


des der neuen Herrſchaft, immerdat noch das Recht ber alten, ver: 
drängten Familie als fortdauernd betrachten, wenn man den auch erfl 
in ſpaͤteſter Zeit etwa wieder zu erringenden Sieg biefer fegten als einen 
Triumph der Legitimität Über die Ufurpation anfehen will: fo geräth 
man zu den abfurdeften Gonfequenzen, oder verwidelt fi in bie um 
heitbarften Widerfprüche ; ja man ftößt damit allen öffentlichen Rechts 
zuſtand um. 

Nach der Theorie diefer ftarren Legitimiſten würden noch heut zu 
Zage, wenn ein Abftämmling bes farolingifchen, ia des meros 
vingifhen Haufes erfdiene, die gegenwärtigen Beſiter der jenen 
gewaitthaͤtig verdrängten Häufern einft zugeftandenen Kronen dieſelben 
dem Ecben der legitimen Anfprüce dieſer Häufer abtreten ober ben 
Vorwurf der Ufurpation auf fi ruhen laffen muͤſſen. Ja, da das 
rein zufällige Erloͤſchen der widerrechtlich vom Throne geſtuͤrzten 
Geſchiechter die Makel der Ufurpation bei den Nachkommen ber Thron⸗ 
räuber nicht tilgen, die urfprünglich ILLegitime Herefhaft nimmer zur 
Iegitimen machen Tann: fo fteht bis heute noch eine große Anzahl Gen: 
fherftühle 6108 auf dem Boden bes factifchen Vefiges, nicht aber auf 
jenem des wohlbegründeten Rechtes; die Königin von Broßbritan: 
nten verdankt ihre faetifche Sicherheit blos dem Ausfterben des Stuart’: 
fhen Haufe; der König von Schweden aber und Ludwig Phi: 
lipp in Frankreich haben jeden Augenblick zu befücchten, ihre Kro⸗ 
nen abtreten zu muͤſſen den unter dem Titel der Legitim itaͤt wide 
fie auftretenden Erben der von ihnen verdrängten Fürften. 

Noch mehr! Da wohl Fein mwefentlicher Unterfchied iſt zwiſchen 
der rechtswidrigen WVerbrängung eines Kürftenhaufes durch einen ein» 





heimifchen und der ducdy einen auswärtigen Afurpator, den Nach⸗ 


eegitimitat. 6 


Staubensartitel aufftellte, zur Wahrheit gemacht werden, fonbern es 
befagen ſolche Dictate nichts Weiteres, als das Worhaben oder den 
Entfhluß diefer und jener Machthaber, das durch den Sturm der 
Revolution Zerſtoͤrte nach Thunlichkelt wieder zu erneuen und dem — 
in feinem Mißbrauch allerdings gefährlichen — Principe der Revo⸗ 
Iution das der Stabilität, von welchem auch jenes der Legitimis 
tät ein Ausflug if, mit Auctorität entgegenzuftellen. s 

Durch ſolche Uebertreibungen aber, die man fid bei der 
Lehre von der Pegitimität In Bezug auf das Erbrecht der Fuͤrſtenhaͤu⸗ 
fer erfaubt, ſchadet man dem Zwecke, den man babei im Auge bat, 
weit mehr, ais daß man Ihn dadurch fördere. Ein ganz eigenes 
Recht, und welches noch heiliger und unverlierharer, al überhaupt die 
auf den Grundgefegen des Staates ruhenden Rechte fei, zu Gunften 
der Könige zu flatuiren, geht im heutiger Zeit niht an. Die „uns 
mittelbar von Bott ſtammende“ Majeftät findet gegenwärtig 
kelnen Glauben mehr, wogegen jedoch die Achtung vor dem Geſe tze, 
alfo zumat wor ben Grundgefehen eines Staates, und jene vor 
dem ewigen Vernunftrecht heut zu Tage in ben Verftand und in 
da6 Gemüch der Menſchen tiefer eingedrungen find, und daher auch 
dem Koͤnigthum oder dem Koͤnigsrecht eine feftere — wlewohl auch noch 
anderen heiligen Rechten gleichfalla zukommende — Gtüge verliehen 
haben, als die — wie wir gefehen haben unhaltbare — Lehre von 
der allen Greigniffen und Umwaͤlzungen und allen entgegengefesten 
ſtaatsrechtlichen und voͤlkerrechtlichen Anerkennungen trogenden Legis 
timität es jemals fein Bann. 

Das ſonach feftgeftellte Weſen der Legitimicdt, als Geſetzlich⸗ 
Zeit der Herrſchaft nad Urfprung und Ermwerbung, zeigt 
Mar, daß fie nicht auf dem Boden bes Privatredhts wurzelt, fon 
dern nur auf jenem des Sffentlihen. Ein privatrechtlich er 
Urſprung der Herfchaft einer Perfon oder eines Hauſes über ein 
Boll, über eine ftaatsgefelfchaftliche Geſammtheit ift ganz undenk⸗ 
bar. ie fest nämlich zuvörberft den in dem flantsbärgerlichen Vers 
teage Aller mit Allen beftehenden Act der Bereinigung einer Anzahl 
Einzelner zu einer Gefammtheit voraus; und fodann das von folcher 
Gefammtheit amsgegangene, d. h. den Gefammtwillen ber Vereinigten 

ausſoprechende Geſetz, weiches einer beflimmten Perfon ober Perfön- 
lichkeit (mit oder ohne Beſchraͤnkung auf eine gemiffe Zeit) oder auch 
einem ganzen Haufe und nad) einer feftgefeßten Ordnung ber Erbfolge 
die Hertſchaft verlieh. Darin aber, daß es auf dem Willen der 
Sefammtheit beruht, alfo im Grunde Recht dieſer Gefammt: 
heit feibft iR, befteht der Charakter oder bie Natur bes oͤffent⸗ 
lien Redts, und eben batin, dag es das Recht Wieler zufams 
mengenommen unb im Gtaate zugleih bee Schirm aller Prir 
vatrechte der dem Verein angehörigen einzelnen Glieder iſt, Liegt 
auch der Grund feiner befonderen Heiligkeit. Das Legitimitätsceht 
der Fuͤrſten ift nicht ein blos ihnen ſelbſt zuſtehendes, mithin, 





650 : . Bgitimitdt. 


mie folches die Eigenfchaft ber Privatrechte ft, ale Anderen von be 
Thelinahme davon audſchlie ß en des Recht (wiewohl Eitelkeit um 
Anmaßung es mitunter als ein ſolches moͤchten geltend machen), few 
dern es iſt ein, zwar allerdings ben mit ber Herrſchaft bekleibeten Pe 
ſonen unmittelbar ober allernaͤchſt zu Statten kommendes, Der innern 
Weſenheit nach aber ganz vorzugsweis ein Recht der Geſammt⸗ 
heit, d. h. des zur Staatsgefellfchaft vereinigten Volkes, als melde 
durch ſeinen gefeßgebend ausgeſprochenen Willen es in's Leben rief, un 
durch jede Verlegung deſſelben mit beleldigt, ja in feiner Forteriſten 
als Volk bedroht wird. Der legitime König allein ſteht in wahren 
Rehtsverhältniffe zum Volke, und feine Rechte find bedingt a 
feine Pflichterfülung. Der Ufurpator dagegen übt blos eine factifäx, 
jenſeit· des Rechtögefeges liegende Gewalt, been Grenzen demnach 
fo weit und nicht; weitet reichen, als die der phyſiſchen Kraft ode 
überhaupt der ihm zu Gebote ftehenden Iwangsmittel; Er iſt dem 
nach verfucht, das Wort, das er des Mechtszuftandes beraubie auf 
Urt eines Eroberets nach Kriegsrecht zu: behandeln, um’ es vom Mir | 
Rande abzuſchrecken oder ihm denfelben unmöglich zu machen; und die 
fes fuͤr's Volk heilloſe und auch für den. Ufupator' gefährliche Rriegdr 
verhättnig wird fortdauern, bis — nicht etwa die Nation: vollig in 
flumme, willenloſe Rnechtfchaft verfenkt iſt denn fo lange ſolchet Bus 
fand dauert, wird et nie eine vernunftrechtlich anzuerkennende Legitimis 
tät erlangen, —- ſondern bis etwa die Umftände ſich dergeſtalt bilden, 
daß das Voik (vielleicht verlaffen von feinem früheren Derrfcher, vier 
leicht die Unmöglichkeit erfennend, ihm wieder zum Thron: zu werbelfen, 


vielleicht fein Benehmen als eine Verzichtleiftung darauf oder als eine 
Verwirkung des ihm früher zugeftandenen Rechts betrachtend) mit dem 
Ufurpator ſich ausföhnt, ®. 'h. von-ihm die Zufiherung der MR, 








regitimitat. - 0 


ohne ausbrädtiche ober pofitive Willenserklärung ber Geſammtheit als 
von ihr gewollt zu bettachtende Befeg der nur im Binne des 
Gefeltfaftsvertrags, d. h. blos im Intereffe bes Geſammt · 
wohls auszuübenden, nicht aber zur Befriedigung unlauterer, fubs 
jectiver elüfte ober Launen des Herefchers zu mißbrauchenden 
Gewalt. 

Zur wahren und vollſtaͤndigen Legitimitaͤt einer beſtehenden Mes 
gierung ober elnes reglerenden Herren oder Hauſes genügt daher nicht 
das gefegmäßig erworbene Thronkecht; fondern es wird dazu 
noch weiter erfordert die Beobachtung oder ungeſtoͤrte Wirkſamkeit des 
die Verfaſhung regelnden Grundgeſetzes, und endlich noch die ges‘ 
treue Ausübung der verfaſſungsmaͤßig uͤberkommenen Gewalt tein 
im Dienfte des Geſammtwohls. Wird das Verfaſſungsgeſetz 
von dem Regenten gebrochen, fo hört feine Gewalt auf, eine legitime 
zu fein. Er teite jenſeits der ihm durch die Verfaſſung gefegten 
Schranken nur als Ufurpator auf, und übt alfo nicht mehr eine 
tegitime, fondern blos noch eine factifche Gewalt aus; und dass 
felbe if der Sal, wenn er, wiewohl die Formen der Verfaſſung 
beobadytend, oder auch, beim Mangel einer pofitiven Verfaffung, an 
dergleichen Formen gar nicht gebunden, dem materiellen Recht ber 
Staatsbürger ober dem Gemeinwohl durch feine Regierungsweiſe wifs 
fentli zu nahe tritt, d. h. anſtatt einer Acht koͤniglichen eine tyrans 
nifhe Gewalt ausübt. 

Mit biefen Grundſaͤten eines vernünftigen Staatsrechts, die man 
heut zu age von Seite der ſtart legitimiſtiſchen oder Meactionspartei gerne 
wegwerfend, mit einem felbft von bee Diplomatie gebrauchten Ausbrude, 
nboble Theorleen“ zu nennen pflegt, ftimmt freilich die Praris 
gar wenig überein. Nach ihr bezieht ſich ber Begriff der Legitimitaͤt 
oder jene befondere, durch dieſes Wort bezeichnete Heiligkeit des Herr⸗ 
ſcherrechts blos auf den Regenten felbft und fein Haus, und 
wird lediglich als ein biefem Haufe zuſtehendes, d. h. ihm allein 
eigenes, ja dem Vollscecht fogar entgegengefegtes Recht betrachtet. 
Es beſteht dieſes Recht in dem, unabhängig von jeder Verpflichtung, 
dem Regenten und alien geborenen Thronanwärtern gebührenden , ſelbſt⸗ 
fländigen Anſpruch auf den Thron, fobalb die (durch Staates ober 
aud nur Hausgefeg geregelte) Ordnung der Nachfolge fie trifft. Sie 
befteht weiter nicht blos im dem Rechte auf den Thron ſchlechthin, fone 
dern zugleich auch auf die Wollgemwalt der Regierung (in Gemäßs 
heit des in autokratiſchem Sinne dictatoriſch aufgeftellten monarch i⸗ 
(hen Princips); fie ſtellt fi mithin dem conflitutionellen 
Spftem feindfellg entgegen , betrachtet jede Werbeflerung der Staates 
verfaffung, die ohne den. felbfteigenen Willen des jemten zu Stande 
täme, als rechtsunguͤltige Anmaßung und heilige felbfk die Tyrans 
net, als eine jedenfalld dem fouveränen Willen erlaubte Ausübung 
ber ihm rechtlich zuſtehenden Gewalt. In biefem Sinne wurde zumal 
1823 in Spanien ber Triumph der Legitimität gefeiert. Die Heere 


Legitimität. — Lehnweſen. 


der Reftauration, nachdem fie in Spanien bie Freunde ber im 
Abfolutismus verhaßten Cortesverfaffung mit Hülfe einheimiſchen Be 
rathes überwunden hatten, hielten ihre Aufgabe für giorreich bemdr. 
als fie König Ferdinand VI. die, wie man fügte, legitim: 
Volige walt wiedergegeben und ihn dadurch in ben Stand gefegt hatır, 
die fchredlichfte, erbarmungslofefte Tyrannei gegen die unglüdlichen Pi: 
teioten zu üben. Auf ähnliche Weife war kurz zuvor in Meapıl 
und Piemont die legitime Herefhaft von Neuem bekräftigt, un 
den aufgeftandenen Griechen die Lehre des Gehorfams gegen ihn 
Legitimen tuͤrkiſchen Herefcher eingefhärft worden; und in ähnlihee 
Sinne freute ſich die Reactionspartei der mit dem Galle Warfcaut 
1831 bewirkten MWiderherftelung der, mie fie fagten, Tegitimen 
Herrſchaft Rußlands über die unglüdlihen Polen. Die weil: 
zen Regierungen und Diplomaten jedoch fehen ein, daß die dentm 
den Völker der Neuzeit Peine andere Pegitimität anzuerkennen und br: ' 
lig zu achten geneigt und geeignet find, als welche mit dem lan 
und aͤchten Begriff der Gefeglichkeit und Rechtmaͤßigkeit 
übereinftimmt , welche demnach mit dem Rechte des Blutes oder id 
Haufes auch das auf der Pflichterfüllung ruhende verbinde, 
mithin auf die Beobachtung der pofitiven Gonftitutionggefete 
unb auf jene der allgemeinen ober rein vernünftigen fatk 
rechtlichen Regentenpflichten bedingt if. Möchten alle Herrfcyer bie 
aͤchte und gebdoppelte Legitimitaͤt fid aneignen! Alddann wuͤrden ie | 
Throne unerſchuͤttert inmitten aller Stürme der vom erlangen nah 
Rechtsgewaͤhrung tief bewegten Neuzeit ftehen. Rotted. 
Lehnwefen. — Bir finden Deutfhland in den früheften Zei, 
da es im Licht der Geſchichte erfcheint, von verfhiedenen Voölkerſaen 
ten bewohnt, die nicht durch politifhe Bande zu einem Ganzen mais 





Lehnweſen. 653 


fie zur Belohnung die beften Stüde ber Kriegsbeute zutheilten. Unter 
dieſes Befolge, das dem übrigen Heer in Zapferkeit vorleuchtete, aufs 
genommen zu werben, mar natürlich der heißefte Wunfch einer Jugend, 
‚die, vol Kraft und Muth und abenteuerlichen Sinnes, nad) Krieges 
ruhm und Beute bürftete und kein höheres Ziel ihres Streben er⸗ 
kannte, als fi) auszuzeichnen unter den Augen des Führers und in 
deſſen Vertheidigung und Erhaltung Wunden und Tod zu erfämpfen. 
Auf ein folches Gefolge geftügt mußte das Anfehen und die Macht der 
Führer fleigen und fich befeftigen,, fo daB es forthin nicht Leicht mehr 
vorkommen konnte, daß biefelben während ihrer Lebenszeit ihres Amtes 
entkieibet wurden. Was Eonnte für herrſch⸗ und ruhmfüchtige Führer, 
für ein Gefolge und Heer beutelufliger, kampfbegieriger Barbaren 
Lodender fein, als bie nahe gelegenen reichen, mohlangebauten römifchen 
Drovinzen, deren entnerote Bewohner den Angriffen jener keinen wirk⸗ 
famen Widerftand entgegenzufegen vermochten? In großen Heers 
fhaaren drangen daher bie Franken, Burgundier in Gallien, bie 
Gothen, die Longobarden in Italien ein und bemächtigten ſich nicht 
allein der beweglichen Habe bee Bewohner als Kriegsbeute, fondern auch 
ihrer fruchtbaren Ländereien und bequemen Wohnungen. In ihre 
rauhen Wälder zuruͤckzukehren, fühlten fie Leine Luft; das milde 
Klima, die neuen, ihre Sinne reizenden Genuͤſſe, die fie in die frems 
den Länder gelodt hatten, feflelten fie auch dort und beftimmten fie, 
ſich daſelbſt für beftändig nieberzulafien. Die alten Bewohner, die _ 
natürlich nicht ausgetrieben werden Eonnten, fondeen als Aderbauern 
auf jede Bedingung hin bei dem gewohnten Beſitzthum zu beharren, ı 
fuchten, unterwarfen fi) den Eroberern und wurden aus freien Eigen⸗ 
thümern blofe Bebauer ihrer Ländereien, deren Ertrag fie zum Theil 
den Eroberern uͤberlaſſen und ſich außerdem gegen diefelben zu perfön- 
licher Dienflleiftung verfichen mußten. Es wurden baher die Eroberer 
bie Herren der Ländereien, wogegen bie alten Bewohner zu ihren 
Knechten herabſanken. Diefe Grundherrſchaft übte zunaͤchſt allein der 
Führer aus, welchem bie Vertheilung der Beute zulam, als Derrfcher 
und König bes eroberten Landes und der darin lebenden Leute. Der: 
ſelbe nahm baher den beften Theil der Ländereien nebft deren Bebauern 
zu den Bebürfniffen und zum Glanze feines Haushaltes, fo wie zur 
Unterhaltung und Ausftattung feines Gefolge; das Webrige verlieh er 
zur Benugung an ausgezeichnete Krieger als Belohnung und Sold mit 
der Berpflihtung, ihm fernerhin treu und gehorfam zu fein und eine 
Anzahl gemeiner Krieger zu unterhalten, mit denen fie ſtets gerüfter. 
und der Befehle des Königs gerodrtig fein mußten, um bie Eroberung 
mit den Maffen vertheidigen und nad Gelegenheit vermehren zu 
helfen. Diefe zur Benutzung verliehenen Ländereien biegen Feode 
oder Lehen, im Segenfag von Alloden, melde als volles Eigen: 
thum beſeſſen wurden. 

Gleichwie Anfangs die koͤnigliche Wuͤrde und Gewalt nicht erblich 
war, ſondern nach dem Tode des Koͤnigs mit Zuſtimmung des Heeres 


654 Lehmpefen. | 


demjenigen zu Theil ward, der, als der Faͤhlgſte, ſich ihrer mit Km ! 
heit und Kraft zu bemächtigen verftand, eben fo erbten auch bie Era 
wicht auf die Nachkommen ber Befiger (Vafallen) fort, fonbern fiela 
nach deren Tod an den König und Lehnsherrn zurück, ber fie ne 
Gutdünten an Andere vergab. Auch murden die Bafallen noch bi 
ihrem Leben ber Lehen verluftig, wenn fie ſich einer Felomie, d. b. 
eines Treubruchs gegen den Lehnsheren, fdulbig gemacht, inbem fie fh 
entweber gegen bdenfelben ber Pflicht der Kriegsdienfkleiftung und kt 
Gehorſams entzogen , oder Handlungen verübt hatten, bie das Lehm, 
die Ehre und Macht des Lehnsherrn gefährdeten, fo wie bie zur 
wendung folder Gefaͤhrde gereihenden Handlungen unterlaffen hatte 
Was dagegen die alten Einwohner betrifft, bie als dienſtpfüchti 
Bauern und Knechte auf den Gütern geblieben waren, fo pflank : 
fich deren Verhaͤltniß natürlich auf ihre Nachkommen fort. Died : 
mag indeg mit Veranlaffung getvefen fein, daß die Könige und Br 
ſallen almälig den Begriff der Erblichkeit auffaßten und auf ie 
BVefigverhättniffe anzuwenden trachteten, und es mußte ihnen dieſes um 
fo leichter gelingen, da ihre Intereffen ſich wechſelfeltig bedingten, f 
daher ſich natuͤrilch gedrungen fühlten, bei jenem Streben einander m 
unterftügen. Indem hierdurch das monarchiſche und arifkoßcatifce Er 
ment in ben von germanifhen Völkern geftifteten Reichen fih um ; 
herefchenden erhob und befeftigte, verſank dagegen die Freiheit der Ir 
meinen und konnte erſt fpäter mittelft der in den Städten ſich entf 
tenden Beiftescultur einen neuen Aufſchwung getvinnen. 

Der Herrſchaft ber Franken in Gallien drohte von Deutſchud 
her Gefahr durch Eindringen neuer Voͤlkerſchaaren, gegen die fie dafe 
die Waffen Eehren mußten. Sie waren fo glüdlich, diefe Feinde m 
befiegen und zugleich einen bedeutenden Theil von Deu: 





Lehnweſen. 655 


dere durch Unterwerfung unter die Kirche manches dem urfprünglichen 
Grund und Zweck ber Lehnseinrichtung Fremdes und Widerſtreitendes 
im Gefolge hatte, wie: Uebergang an Weiber, Leiſtung anderer Dienſte 
als Kriegsdienfte x. ı 

In Stalin, wo ſich die Lehnseinrichtung hauptſaͤchlich unter den 
Longobarden aus gleichen Urfachen und auf gleiche Weife mie in Gal⸗ 
lien gebildet hatte, führte die herrfchende höhere Geiſtescultur und poli⸗ 
tifche Einficht, fo wie die Gewohnheit an gefchriebene Geſetze frühe dar⸗ 
auf, die Regeln und Normen des Lehnweſens zu ergründen und auf- 
zufchreiben, wodurch bie libri feudorum entflanden, welche mit ber 
Sammlung der römifhen Rechtsquellen im übrigen Europa, befonders 
in Deutfchland, bekannt und als Gelege aufgenommen wurden. Ins 
dem hierdurch das Lehnweſen fchärfer ausgeprägt und zu wifienfchaft 
licher Behandlung vorbereitet ward, gewann «6 nicht nur größere Be⸗ 
feftigung, fondern auch mehr Ausbreitung, fogar in einer Zeit, da fein 
eine nalicher Grund und Zweck im Leben bereitd zu verfchwinden 
anfing. 

Aus der Lehnseinsichtung entwidelte fich, die deutſche Reichsver⸗ 
faffung in ihrer bunten Geſtalt und eben fo bie Derfaffungen der eins 
einen Lande. Diejenigen naͤmlich, Die über eine große Anzahl von 

afallen mit bedeutenden Lehen geboten, erhoben ſich zu Meichsftänden, 
welche zwar den Kalfer als Lehnsheren über ſich erkannten, jedoch vers 
eint bemfelben als mitherrfchend ſich zur Seite ftellten, und deren Ans 
fehen und Einfluß hauptſaͤchlich dadurch ſich befeftigen und immer mehr 
wachſen konnte, daß fie ben Kaifer jedes Mal zu wählen hatten, wähs 
rend fie felbft ihre Würbe und Gewalt erblich befaßen. Die der Lehns⸗ 
herrlichkeit der Meichsftände untergebenen Lehen und Vaſallen hießen 
landfäffige; ihre Verhaͤltniß zu den Reichsſtaͤnden pflegte man dem» 
jenigen dieſer zum Kaifer gleichzuftellen. Indeß entbehrten bie lands 
fäffigen Vaſallen ganz und gar ber Mittel und Gelegenheiten, wodurch 
es den Meichsfländen gelang, ihr Anfehen und ihren Einfluß bem 
Kaifer gegenüber geltend zu machen, baber jene innerhalb der Terri⸗ 
torien unmöglich zu einer berienigen diefer gleichen Bedeutung gelans 
gen konnten. 

Die unterfte Stufe war das Verhaͤltniß der Landbbauern, welche 
nur Schug zu hoffen hatten und als Leibeigne oder Butsunterthanen 
verbunden waren, den Grundherren gemeine Dienfte (Frohnen) zu 
teiften, die Güter für fie zu bebauen ober einen Theil des Ertrags an 
fie zu entrichten. Mitunter ift jedoch das Verhaͤltniß ber Lanbbauern 
dem Lehnsverhaͤltniß aͤhnlich, und diefelben erfcheinen als Wafallen, fo 
wie es viele Lehngüter ohne eigentlihe Bauern gibt, welche von ben 
Vaſallen felbft bebaut oder in Zeitpacht gegeben werben. - 

In Folge gänzlicher Ummandelung der politifhen und bürger> 
lihen Zuftände verfhwand immer mehr Zweck und Bedeutung bes 
Zehnmwefens, und es geriethen die baraus entfprungenen Beſchraͤnkungen 
und Beldfligungen des Grundvermoͤgens und der perfönlichen Freiheit 





b 


656 ' Lehnweſen. 


in immer ſchneibenderen Widerſpruch mit neuen Jutereſſen und Be⸗ 
duͤrfniſſen, welche die höhere Clviliſation und die vermehrte Bevoͤlke⸗ 
rung bervorriefen, fo daß fie fih nur noch ale Mißbtauch und druͤckende 
- Uebel fühlbar machten. Es wurde daher ihre Verbannung immer 
- mehr für unertäßlih erkannt und erfolgte zuerft in Frankreich gleich 
im Anfang der Revolution mit einem Male, wogegen man in Deutfdy 
land erit fpäter darauf Bedacht nahm, den Landbau von den ihm fo 
aͤußerſt nachtheiligen Beſchraͤnkungen und Beldftigungen bes Lehnweſens 
zu befreien und deren allmälige Ablöfung durch Belege vorzufchreiben. 
Was indeß das Verhaͤltniß zwifchen Lehnsherren und Vaſallen und das 
damit verfnüpfte getheilte Eigenthum betrifft, fo bat fich folches nicht 
allein in Deutſchland, fondern auch in andern Ländern, namentlich in 
England, bis in die neueften Zeiten erhalten und kann fortwährend ſelbſt 
neu eingegangen werden, wenn gleich die bamit verknuͤpfte Dienſtpflicht 
in der Wirklichkeit nicht mehr vorkommt. 


Das Object des Lehnweſens befteht urfprüngli in Immobitien, 
welche einem zweifachen oder getheilten Eigentum unterliegen, naͤm⸗ 
(ich eines Theil des Lehnsherrn, andern Theils des Vaſallen ober 
Lehnmannes, verbunden mit der Verpflichtung jenes, biefem Schuß zu 
gewaͤhren, fo toie_diefes, jenem Treue und Gehorfam zu bemweifen. 
Das Eigenthum des Vaſallen an dem Lehn, welches Befis und Nutz⸗ 
nießung mit fid) führt, wird Untereigenthbum, basjenige des 
Lehnsheren ohne Befis und Nusniefung Obereigenthum gemamnt. 
Das Recht des Vaſallen, über die Nutznießung des Lehns zu vers 
fügen, 3.38. es zu verpachten, ift auf feine Lebensbauer befchränft, es 
- verliert daher jede ſolche Verfügung mit feinem Tode ihre Wirkſamkeit 
und iſt nur dann für den Nachfolger verbindend,, wenn biefer entweder 
dazu eingemilligt bat, ober zugleich Allodialerbe ſeines Vorgaͤngers ges 
worden ift, mithin beffen Verpflichtungen überhaupt anerlennen muf. 
— Das Lehnsverhätmig wird durch den zwifchen Lehnsherren und Bas 
fallen einzugehenden Lehnevertrag begründet und durch bie Belehrung”) 
(investitura) verwirklicht. Die Rechte und Verbindlichkeiten bes Va⸗ 
fallen vererben fi in einer gewiſſen Ordnung auf die Deſcendenten 
des erften Lehnserwerbers, und zwar, der Strenge nah, nur auf die 
in legitimer Ehe erzeugten, fo tie regelmäßig nur auf die männlichen, 
wogegen meibliche Nachkommen ausgefchloffen find und nur ausnahmes 
tweife, wenn es bei Gründung bes Lehns bedungen wurde (Kunkel⸗ ober 
Meiberiehn), gewoͤhnlich erft nach Ausfterben der Maͤnner fuccebiren. 
Durch Ausfterben aller fucceffionsberechtigten Nachkommen des Vaſallen, 
in deflen Perfon das Lehn gegründet ward, fo wie unter gewiſſen Vor: 
ausfesungen durch Felonie, endigt ſich der Lehnsverband und dab 
apert gewordene Lehn fällt dem Lehnsherrn zu freier Verfaͤgung anheim. 
. ht. 


+) ©. den Artikel „Belehnung.“ 


Lehrfreiheit. 657 


Lehrfreibeit in Schule und Kirche. — Im meiteften 
Sinne könnte man unter Lehrfreiheit überhaupt bie Freiheit der geiftis 
gen Mittheilung unter den Menfchen verfichen. Man könnte alfo 
3. B. auch die allgemeine Preßfreiheit, bie Freiheit der Reden an das 
Volk darunter begreifen. Im engeren Sinne aber tft der Begriff Lehr: 
freiheit auf wirkliche Lehramtsverhaͤltniſſe zu befchränten. Sie befteht 
alfo in der Freiheit der Lehrer, in dem ihnen übertragenen Lehramte 
ruͤckſichtlich der Methode, wie bes Inhalts ihrer Lehrvorträge ihrer eige⸗ 
nen pflihtmäßigen Ueberzeugung zu folgen, fo weit fie dabei nicht wahre 
Mechtspflichten verlegen. Der befchräntende Nachſatz ift nothwendig: er 
bezeichnet die Grenze aller rechtlichen Freiheit. Niemand wird wohl, 
auch bei der höchften Schaͤtzung der Lehrfreiheit, in berfeiben die Be: 
fugnig finden, die Lehrlinge zue Vornahme verbrecherifcher Handlungen 
aufzufordern und zu unterrichten. Aber auch die vom Lehrer bei Ue⸗ 
bernahme bes Lehramts vertragemäßig unzweifelhaft eingegangene Ver: 
pflihtung darf ber Lehrer nicht verlegen. Es wird nicht rechtlich er 
laubt fein, daß etiwg ein Lehrer, der fich verpflichtet hat, die ihm ans 
vertrauten Lehrlinge in ber proteftantifch s chriſtlichen Religion zu unters 
meifen, fi) bemühe, bdiefelben zum Katholicemus, zum Judenthum 
oder zum Heidenthum zu befehren. 

Doc) bei diefer letzten Grenzbeſtimmung ift fehr zu wachen, daß fie 
nicht durch einfeitige Auslegung und. Anwendung alle wahre Lehrfreiheit 
aufhebe. Für’s’Erfte ift fehr zu berüdfichtigen, mer biefe Vertragsrechte 
erworben hat. Sobald nur eine befondere Gefelfchaft im Staate, na- 
mentlich eine Kiechengefellfchaft, einen Lehrer vertragsmaͤßig zu gewiſſen 
Grundlehren verpflichtet, fo bat nur fie ein Recht aus diefem DVer- 
trage. Der Staat, als folder, wird durch die Abweichung nicht vers 
legt, und ift höchftens nur nad) bei ihm erhobenee Klage als Richter 
über beftrittene PVertragsrechte zu einem Einfchreiten berechtigt. Aber 
nicht bloß die Kirche ift als felbfiftändige Geſellſchaft in dem Staate zu 
betrachten, fondern nach der Natur der wahren Wiſſenſchaft und nach ben 
Grundfägen ber wahren vollkommnen Freiheit auch die Schule. Selbſt⸗ 
ftändig find insbeſondere die hoͤchſten wiſſenſchaftlichen Gorporationen, 
Akademieen und Univerfitäten, und unter ihrer und ber Kirche Leitung, 
der politifchen Gewalt gegenüber, überhaupt bie Schulen, zumal die, 
welche nad) den Grundfägen vollkommener bürgerliher, alfo auch der 
Unterrichtsfreiheit von der Kirche oder ‘von den Bürgern für fich oder 
ihre Kinder gegründet und unterhalten werben. Diefe Freiheit ber 
Schule fand wirklich Statt bei Griechen und Roͤmern und früher in 
allen germanifhen Staaten, zumal bei ben Univerfitdten. Sie gilt 
noch bei den Engländern, bei den Franzoſen und volllommen noch in 
Belgien. Ste wird fi) überhaupt als allgemeine Unterrichtsfreiheit, 
fo gewiß die Entwidelung der Freiheit in Deutſchland und Europa forte 
fchreitet, mehr und mehr ausbilden. Dadurch wird übrigens das na⸗ 
türlihe Recht, ja die Pflicht des Staates, auch feinerfeits Schulanſtal⸗ 
ten für den-freien Gebrauch, der Bürger zu gründen und zu erhalten, 

Staats s Leriton. IX. 42 


UT 


658 Lehrfreiheit. 
und insbefondere auch das Recht, in biefen wie in allen Abe 
Schulen Verletzungen der weltlichen Rechtsordnung zu unterbrüden, b:: 
neswegs beſtritten ober beſchraͤnkt. 

Doch Über das ganze rechtliche und polltiſche Verhaͤltniß von bar 
gerlicher Ordnung, Kirche und Schule, und wie fie cn 
theil6 in freiem brüderlichen Vereine für den wahren menfchlichen Gr 
fanmtzwed zuſammenwirken, und .anderntheil6 unter bee hoͤchſten Schar 
gewalt des Staats dor gegenfeitiger Verlegung bewahrt werben mifn, 
darüber fol hier zumächft nicht gehandelt werden. Darüber handelt thit 
der Artitel „Sallicanifhe Kirche”, theils wird davon nod un 
dem Worte „Staat“ die Rede fein. 

Nur über den Merth der Lehrfreiheit und ihre Gicherung am 
darüber, daß fie auch durch vertragemäßige Verpflichtung bei der &: 
theilung der Lehrämter von Staat und Kirche nicht fehlerhaft befcheisk 
werden darf, hat diefer Artikel zu handeln. | 

Für die ganze höhere und edlere Menfchheit und Bildung, ak ! 
aud für jede edlere Menſchengeſellſchaft und vollends für jede wur 
Haft chriſtüche Kirche (f. „Eh riſtenthum“) iſt Wahrheit und Ber: 
vollfommnung im höherer Exkenntniß und das Streben, nah da 
estannten Wahrheit bie Lehensnerhältnifie einzurichten, Geumdbebingmg 
und Grumdgefeg. Weber allen menfhlihen, in menfchlicy unsk 
tommenen pofitiven Formen ausgefprodenen Sagungen fteht bie 
ewige, göttliche und natürliche Wahrheit als die wahre Seele jene 2 
tiven Formen, als Leitfteen der Menfchheit. Was kann alfo Verkehrte 
tes, ja Srevelhafteres gedacht werden, als wenn ſchwache irrende Stmk: 
liche auf dem Standpuncte ihrer individuellen und gegenwärtigen, br 





ſchraͤnkten, vielleicht irtrigen, jedenfalls mit Itrthum vermifchten Erfmnt: 
niß ihre Mitmenfchen und die zukuͤnftigen Geſchlechter feſſeln, men 


Lehrfreiheit. 659 
werden, da Fann folche Unterbrüdung nur fehr unvollfommen und für 
kurze Zeit ducchgeführt werden. Sie dient nur zur Taͤuſchung der Re: 
gierenden über die ſich im Stillen doch verbreitenden freieren Anfichten 
ber Regierten. Sie macht bie aufgezwungene Lehre, wie bie fie auf: 
zwingende Regierung creditlos, verachtet und gehaßt. Und felbft in 
Ländern und Zeiten, wo auf längere Zeit die Unterdrüdung durchge⸗ 
führt werden koͤnnte, wie in ben alten Monarchieen von Portugal, 
Spanien und Frankreich, zeigt ſich zwar fpäter, aber audy um fo ver⸗ 
derblicher derfelbe Erfolg. Was hat denn den verderbliden materialis 
flifhen und religionsfeindlichen, wie ben revolutionaͤren Philofophieen 
und Lehren in jenen Ländern fo ausgedehnte und fchredensvolle Macht 
gegeben, als die lange Unterdruͤckung geiftlicher und weltlicher Lehrfreis 
heit zum vermeintlichen Vortheil des Throne und dee Kicche, der geifls 
lihen und dee weltlichen Ariftofratie? Auf-Jahrhunderte hin werden in 
Frankreich, Portugal und Spanien in der Maſſe des jetzt an der Spige 
flehenden fogenannten aufgeliärten Theils biefer Nationen ungleich feivos 
lere und materialiſtiſchere, unmonarchiſchere und gegen Abel und Prie 
ſterthum gebäffigere, überhaupt mehr revolutiondre Gefinnungen, ale 
je in dem lehrfreieren England, Schweden, Holland und Deutfchland, 
fortwirden und ben früheren Drud anklagen. Das mird Niemand 
leugnen, ber die Stimmung ber fogenannten mittleren und gebitbeteren 
Stände dieſer Nationen und die von ihnen ausgehenden gefchichtlichen 
Erſcheinungen aufmerkſam in's Auge faßt. Aehnliches wird ficher jeder 
genaue Beobachter katholiſcher und der regelmäßig lehrfreieren proteſtan⸗ 
tifchen Länder bemerken koͤnnen. Wie oft findet man in den ſoge⸗ 
nannten nufgellärten mittleren und gebildeten Ständen Fatholifcher 
Landſtriche niche blos mehr Gleichgültigkeit gegen alle® Religioſe und 
Kirchliche als in proteflantifchen Ländern : nein, fogar einen wahren Wi: 
derwillen gegen Geiſtlichkeit, Kirche und religiöfen Glauben, eine groͤ⸗ 
Bere Neigung zu Meligionsfpötterei und mehr materialiflifche: Lebens⸗ 
pbilofopbhie, als bei Proteſtanten. Aehnliches erzeugt freilich auch 
bei Proteflanten, wo fie Statt findet, obfeurantifche Unterdrüdung 
ber Lehrfreiheit. 

Und ganz dhnlihe Erfahrungen bat auch die neuere Zeit und Ges 
fhihte in Beziehung auf die Unterdruͤckung pofitifch freier Lehren 
überall gezeigt: Wo fie Statt fand, wuchs im Stillen Haß und Mißs 
trauen, nicht blos gegen die Grundſaͤtze der Unterbrüdung, fondern auch 
oft gegen die der gefehlihen Ordnung und Gewalt, und führten bei 
Gelegenheiten, wie fie in den bewegten europäifchen Zuftänden niemals 
fehlen, zu unerwarteten Ausbruͤchen. Worzüglich aber murbe ſtets durch 
die Unterdrädung die Stimme der Mäßigung und Weisheit wohlmel: 
nender Baterlandsfreunde verdächtig und wirkungslos. Wie oftmals be: 


merkte und vernahm ich nicht, baß auf Univerficäten felt ben Karlsbader 


Beſchluͤſſen die fonft oft fo wohlchätig ermäßigende Wirkfamkeit der Lehrer 
ihre Keaft verloren hatte! Die Eraltieten und die Verführer der Jugend ſetz⸗ 
ten ben Berufungen auf die naturrechtlichen und faatsrechtlihen Grundfäge 








660 Lekhrfreiheit. 


der Profefforen entgegen: „ja, dieſe duͤrfen ihre wahre Ueberzeugn 
micht außfprechen, dieſe fürchten die Abſetzung.“ Ich erinnere mi, 
eines eraltirten Studirenden, der auch naher eine Hauptrolle bei w 

volutiondren Unternehmungen fpielte, und mit großer Ueberlegenba 

eine Zahl der Stubirenden fo beherrſchte, daß er für fie fogar ki 

Wahl der Lehrer und der Vorlefungen beflimmte- Diefer eraltirte Lida 

fendete feine Anhänger in die Vorlefungen eines ziemlich fervilen !4 

vers, verbot ihnen dagegen die Worlefungen eines Lehrers, der beknz 

war ald Mann von gemäßigten , aber wahrhaften liberalen Grundfür 

und von folher Ueberzeugungstreue, daß er das Vertrauen auch brik 

Jugend befaß, furchtlos feinen wahren Ueberzrugungen gemäß zu ir 

ven. Als nun jenem Gtudentenhäuptling Jemand darüber feine Br 

wunderung ausdrüdte, erklaͤrte er, der fervile Lehrer fchade feinen m, 
publicanifchen und revolutionären Principien bei feinen Anhänge 

nichts, da man allgemein bie fervilen Motive der Lehren jenes Mans 

tenne und fie auch, wegen des Mangels aller wahren Liberalitdt, ka 
Sünglinge nicht anfprächen. Anders fei es mit jenem andern Lehe, 
der das Vertrauen und die Adıtung für feine Grundfäge geminne m 
ihm feine Leute verderbe. — . 

Bet feinem aller beftehenden Inftitute iſt die möglichft vonfdnie 
und ausgedehnte Lehrfreiheit: wichtiger als bei den Umiverfitdtm. 
Sie: find bie hoͤchſten allgemeinen geiftigen Unterrichtsanftalteh, Ye 
Gentealanftalten für die gefammte Wiffenfchaft, deren, Wefen  Fribit 
iſt. Auch war mit ihrer Hiftorifhen Entitehung und MWefenheit wi 
tommene Freiheit verbunden. Wie die höheren Lehranftalten die Pi 
tofophen = und, Rhetorenſchulen der Griechen und Römer, ſo waren und 
fie Privatinftitute und feiner Lehrbeſchraͤnkung untertvorfen. Im Area 
hatte zwar einmal ein“ allzu polizeilich gefinnter Beamter einen Yatız 











Lehrfreiheit. 661 


ber geiftlichen Intereſſen mit manchen Univerfitätslcehren nicht ausblei⸗ 
ben, befonders feit der Zeit, “als die theokratifch = hierarchifche Gewalt 
des Papſtthums bei der heranreifenden Mündigkeit der europdifchen 
Menſchheit ihre frühere freiere und mwohlthitigere Auctorität verlor, und 
fie nun gegen die höheren Beduͤrfniſſe der Völker gemaltfam fefthalten 
wollte. Aber man braucht nur die ewig denkwuͤrdige Gefchichte der Kämpfe 
des berühmten Profeffors Reuchlin mit dem Obſcurantismus der 
Moͤnche und mit der geiftlichen Inquifition , ja mit der ganzen päpftlichen 
Hierarchie zu lefen, um ſich zu überzeugen, daß felbft im angeblich fo 
ganz finfteren Mittelalter die geiftlihen und meltlichen Regierungen 
eine unendlich größere Achtung vor den Univerfitäten und ihrer Lehr: 
freiheit hatten und an den Tag legten, als die politiſche und Polizei⸗ 
willkuͤr unferer heutigen Gemalten nur ahnet. Zwar mit den duferft 
feltenen und nicht fo leicht möglichen Verurtheitungen zum Verbrennen 
der Leiber und Bücher droht man jegt nicht mehr; aber durch als⸗ 
baldige beliebige Entfernungen der Lehrer vom Lehramte, fobalb' ihre 
Lehren etwa einzelnen geiftlichen oder weltlichen Behörden unbequem 
feinen, vernichtet man ungleih mehr bie Lehrfreiheit als früher. 
Selbſt in jenem Kampf auf Leben und Tod gegen’ ben angellagten 
Reuchlin mußte die päpftlihe und die weltliche Macht ftatt, fo mie 
jegt, mit einfeitigen Entfcheidungen darein fahren zu Eönnen, die Berufuns 
gen auf die Gutachten der einheimifchen und ausmärtigen Univerfitäten, 
ja zulegt die Berufung auf ein allgemeines Concilium und feine Ent: 
fheldung über die ftreitigen Lehren vefpectiren. Die Gutachten der 
Univerfitäten erfolgten meift zu Gunſten des Angeklagten, ein allgemei> 
nes Concillum fcheute man, felbft der allgewaltige Papft gab nad) — und 
Reuchlin fiegte. Auch bi8 zu dem Umſturze der früheren Verhaͤltniſſe 
buch ben Rheinbund würde — einzelne ausnahmsmeife Gewalt: 
freihe ausgenommen, tie fie in allen Lebensverhättniffen zumellen 
vorfommen — Feine geiſtliche oder weltliche Gewalt eine Verurtheilung 
einer Lehre und Leine nachtheiligen Maßregeln gegen ben Lehrer ges 
wagt haben, ohne daß bie Gutachten der ſachkundigen unpartelifchen 
Sacultäten die Sache reiflich geprüft und bie Öffentlihe Meinung in 
Kirche und Staat zum Öberurtheil vorbereitet und veranlaßt hatten. 
Die Univerfitäten waren und biieben lehrfrei; überhaupt freie Corpora⸗ 
tionen , in welchen bie Lehrer theild von der Corporation feibit berufen 
wurden oder frei ohne Staatseinmiſchung, blos durch ihre wiſſenſchaft⸗ 
liche Befähigung als Privatdocenten in ben Lehrberuf eintraten, in 
welchem Profefforen und Docenten von der Staategewalt keineswegs 
mtfegt oder nach der milderen, aber darum gefährlicheren Welfe verfegt 
und penfionirt werden durften. Gilt ja gleiches Recht felbft bis auf 
den heutigen Zag in allen freien Ländern, z. B. in England und 
Schweden. Selbſt Napoleon ließ den Univerfitätsprofeforen bie volle 
Unabfegbarkeit und damit wenigftens die Anertennung unb mefent: 
iche Grundbedingung der Lehrfreiheit. Die Gutachten der betref- 
renden Facultaͤten in theolegifchen, juriflifchen, ſtaatsrechtlichen und 


662 Lehrfreiheit. 


mebichnifchen Angelegenheiten waren in ganz Deutſchland in Haha ! 
Achtung. Die Univerfitätspräfungen waren die Bedingungen bes Er 

teitt in die höheren Staatsdienfte. Und auch in den Ländern, in weihe 

Genfur der Preſſe eingeführt war, blieben doch in ber Megel bie Un; 

verfitäten und Profefiocen von berfelben befreit. In den Reihe: m 

Landftändifchen und in ben völferrechtlihen Verhandlungen hatten fo mi 

in den Gerichten die Lehren, Schriften und Gutachten der Profefon 

überall Gewicht und Einfluß. 


Diefes Alles hat ſich leider gar fehr geändert. Die ungiät 
liche despotiſche Rheindundezeit, überhaupt die Ausbildung alle 
Iuter Regierungegevalt, zum Theil felbft ein einfeitiges Sm 
überziehen höherer Staatsgrundfäge aus freien conftitutionellen Stau h 
verfaffungen, mit Ausſchluß jedoch ihrer Liberalen Snflitutionm 
haben bei uns in Deutfdhland in biefer wie in andern Beziehunga | 
einen hoͤchſt bedenklichen und fonderbaren Rechtszuſtand begründe. | 
Die alten Garantien der Freiheit und eines feflen Wechts, I 
Rechtsſchutz der ganz felbfiftändigen Reiche und Landesgerichte, da 
unabhängigen Corporationen, der Städte, der Univerfitdten, da 
Sprudjcollegien und ber Rechtsgutachten der Facultäten und ner 
18 andere hierhin Gehörige — dieſes Altes ift in Deutfchland ne 
ſchwunden oder Eraftlos geworden. Die Negierungs- und Poligige 
malt ift in allen Gebieten des bürgerlichen und gewerblichen Lebens, in 








Lehrfreiheit. 663 


wahrhaft uͤberraſchende Weile. Won Karl dem Großen an, unter ben 
Otionen, wie unter dem Friedrichen, unter Marimilian, mie unter 
Joſeph IL, hatten gerade in Deutſchland vorzugsmweife die Gelehr⸗ 
ten und ihre Worte in fo hoher Achtung geftanden; fie ſchienen, 
ſeitdem vollends auch ein deutſcher Univerfitätsprofeffor duch feine 
kehrfreiheit die kirchliche Reformation in fo vielen, die politifche es 
form allmätig in faft allen europaͤiſchen Ländern bewirkte, vorzugsweiſe 
geeignet und berufen, Wahrheit, Licht und echt männlid und ſelbſi⸗ 
ſtaͤndig zw vertreten, ihren freien Fortſchritt gegen Obfeurantismus und 
Unterbrädung jeder Art zu fördern.‘ Wie früher auf ber fächfifchen 
Univerfitäe Wittenberg Luther, fo wurde auf's Neue Thomafius auf 
der preußiſchen Univerfität Halle durch dem freieften maͤnnlichſten Kampf 
gegen Unterbrüdung und Finſterniß jeder Art ein Wohithaͤter der 
Mienſchheit. Auf der neu geftifteten Univerfitäe Göttingen hatte, bald 
nachher gefeiert von ganz Deutfhland, Schläger, nad) des Minifters 
Mofer Ausbrude, mit feiner cenfurfreien kraͤftigen Wahrheit mehr 
gegen Unterbrüdungen und Mißbraͤuche gewirkt, als Reichsgerichte, 
Landescollegien und Landftände. Er umd alle freigefinnten Freunde 
des Lichts und ber Wahrheit, ein Wolf, ein Häberlin, ein Spitts 
er, fie konnten zur Ehre der Menfchheit und des Waterlandes ihrer 
hohen Beftimmung genügen. Auch felbft der allgewaltige Napoleon 
wagte Seinen Angriff auf die deutfchen Univerfitäten, die’ auch bie Scans 
zoſen bewunderten. Am hohen beutfchen Bundestage felbft pries noch 
in der Eroͤffnungsrede die Präfidialgefandtfchaft, unter Buflimmung aller 
übrigen Regierungsbevollmächtigten, die deutfchen Univerfitäten und ihre 
ausgezeichnet freie Verfaffung mit Begeifterung: „Wem find fie nicht 
— fo rief der Gefandte aus — ein ſtolzes Denkmal deutſcher Ent» 
„wickelung?“ Ex nannte fie: „Mitflifter der Ehre und des Ranges, 
„deſſen Deutſchland im europdifchen Gemeinwefen ſich erfreut. ” 

Und noch nicht drei Jahre fpäter erſchlenen — nachdem über bie 
verzögerte Erfüllung der verheißenen Wieberherftellung freier Verfaſſungen 
zwiſchen der öffentlichen Meinung und den Gabinetten eine Mißſtimmung 
und bei ben letzteten ein verändertes politiſches Syſtem geflegt hatten 
— die Karlsbader Befhläffe, diefe Befchläffe, die, noch außer ber. 
Zerſtoͤrung der Preßfreiheit, die außerordentlichften Anſchuldigungen und 
die auffallendften Maßregeln gegen dieſe Univerfitäten, gegen bie 
Lehrer und die Stubicenden enthielten. Sie ftellen diefe ehrwuͤrdigen, 
fruͤher felbftftändigen Anftatten für Licht und Recht und ihre Lehrer 
unter fttenge polizeiliche Aufficht ; fie fordern von bem jegt bei ihnen 
angeftellten Wregterungebevolimäähtigten: daß fie die öffentlichen und 
nPrivatvorträge aller Lehrer forgfältig beobachten und benfelben eine 
nheilfame wihtung geben”; fie fielen die Lehrer außer bem 
Schut ber beftehenden Gefetze und verpflichten die Regierungen, ſolche 
bei etwaigen Abweichungen von ihrer Pflicht, bei Ueberfchreitung der 
nGrenzen ihres Berufs, bei Mißbrauch ihres Einfluffes auf die Jugend 
„and bei Verbreitung verberblicher Lehren vom Lehramte zu entfernen,” 


—— Lehrfreiheit. 


und die in efnem deutſchen Lande mißfaͤllig befundenen auch in Era 
andern Lande twiederanzuftellen. Die bekannte Ciecularnote vom Br }- 
fen, Bernflorff, einem Mitgründer der Karlsbader Beſchlüſſe, æ 
klaͤrte die Univerfitäten für Giftquellen und fagte zur Erlduterm 
jenes Beſchluſſes: „man hat geglaubt, daß das ficherfte Mittel, bie pr 
„Ktifhen und celigiöfen Abweichungen der Profefforen zu unterbrädn, 
darin beftände, ihnen bie ſchlimmen Folgen anzutündigen , die ie 
nfalfchen Lehren für ihre ganze Eriftenz Haben würben“) 
Wir übergehen fpätere Bundes: und Landesmaßregeln, melde a 
“ähnlicher Richtung gegen die deutfchen Univerfitäten und Gelehrn 
nachfoigten. Es gehören z. B. hierher jene bekannten Bundesbeſchlift 
über das ausſchliehliche Jnterpreiationsrecht der Bundesſchluͤſſe für ie 
Bundesverfammlung und über die Zurüdweifung der Anführung ın 
des Einfluffes der mißbeliebigen ſtaatsrechtlichen Theorieen und War 
Es gehören ferner hierher die Bundesbefchläffe, welche jenes Palladium dr 
Rehtsfiherheit, bie Actenverfendung an unparteiifche Zuriftenfarub 
täten, aufhoben, das auch noch die Bundesacte (Art. 12) begünftigt, 
indem fie es wenigfteng für die Staaten unter 300,000 Seelen als unge 
ſtoͤrbar fänctionirte, das aber ein fpäterer Bundesfchluß gerade im den wid: 
tigften Faͤllen dennoch felbft zerftörte, indem er in Criminal und Poli 
fahen Actenverfendung und Einholung von Redtsgutachten bei Ju 
ftenfacultäten in ganz Deutfchland verbot. Es gehören hierhin ah 
die Bundesgefege von, 1834, welche den Einfluß der akademiſchen S 
nate ſchmaͤlerten und ängftlich bewachten, ihnen aud) die Gerichtsbarkeit is 
Polizei: und Criminalfahen über die Univerfitätsangehörigen entzogen 
Es gehören ferner quch dahin die Gonfiscationen und Unterdrädungs 
von Rechtsgutachten, melde Privaten von Juriftenfacultäten eingebolt 
hatten; fo 3. B. von dem Rechtsgutachten, welches einen unglücklichen pls 





echeſrehett. 605 


Beſchluͤſſen über die religiöfen und politiſchen Abweichungen der Lehrer 
hätte nicht mehr der in Preufen verfolgte geoße Wolf in Heffen und, 
bei erfolgter Regierungsveraͤnderung, felbft wieder im alten Waterlande, 
hätte nicht der vom Obfeurantismus in Sachfen verfolgte Thomafius 
in Preußen freudige ehrenvolle Aufnahme, dem freien Lehrfluhl für bie 
unſterbliche heilfame Wirkſamkeit, die freie Bahn zur Bewirkung eines 
großen Fortjchrittes der Eivillſation des Vaterlandes gefunden. Jener 
edle Wetteifer der vielen deutihen Staaten, in weichem z. B. auch 
ſpaͤter die durch den Woͤllner ſchen Obfcurantismus von Berlin vertries 
bene allgemeine deutſche Bibliothek von Altona aus für Licht und Auf⸗ 
Adrung fortwirten konnte — biefer Wetteifer, der einzige Erfah 
für die entbehrte Einheit der Nation, iſt durch jene Befchlüffe 
und durch die neue deutſche Pollzeigewalt und Verbindung gelähmt. 

Für die Beantwortung ber Frage Übrigens, ob denn in zwei Jah⸗ 
ven der Geiſt aller deutfchen Univerfitäten, diefer fonft jtets, diefer noch 
bei der feierlichen Eröffnung des deutfchen Bundes fo. hoch geachteten 
Corporationen, ſich bis zum Entgegengeſetzten verändert hatte, ift die 
Thatſache von Intereſſe, daß fogar noch nach den Karlsbader Beſchluͤſ⸗ 
fen und ber dadurch entſtandenen Mißſtimmung die allermeiſten deut ⸗ 
[hen Regierungen ihren Landesuniverſitaͤten die guͤnſtigſten Zeugniſſe 
ausftellten *). 

Die Regierungen und Staatsmänner müßten biejenigen Profeffos, 
ten felbft verachten, die ſich etwa durch die öffentlichen Befchuldigungen 
und Ausnahmsmafregein, durch deren Einfluß auf ihr Heiligthum, 
ihre Lehrfreiheit und bie moraliſche Achtung ihrer Lehren nicht gekraͤnkt 
fühlten. Aeußerungen dieſer Gefühle, Zurüdweifungen falfhen Vers 
dachts erfolgten von allen Seiten. Auch war nad Verlauf einiger 
Zahre die Falfchheit jenes Verfhwörungslärms, der ben Karlsbader 
Beſchluͤſſen vorausging, enthüllt, indem bei allen Beweiſen eines weit⸗ 
verbreiteten, ungeduldigen, unzufiebenen Eifer für die verheißenen 
Reformen doch nicht Ein Schuldiger von den Gerichten hatte beſtraft 
werden Sinnen. Auch mar bei Ablauf der fünf Jahre, für welche 
jene Ausnahmsgefege 1819 gegeben worden waren, der politifhe Zus 
fland von Deutſchland ein völlig ruhiger. Es ſchien alfo feine Veran⸗ 
iaſſung vorzuliegen zu einer Erneuerung der Ausnahmsbefchlüffe nad) 
Ablauf jener beflimmten fünf Jahre. Ein Thomaftus, ein Schloͤ— 
zer, Spittler und Häberlin lehren nicht mehr auf unfern deuts 
‘hen Univerfirdten ; auch fein Kant und kein Fichte. Selbſt Schleier» 
macher, Fries, Oken und Arndt waren verflummt. Lauter und 
verbreiteter war nun immer mehr bie officiell begünfligte Lehre der Vers 
nuͤnftigkeit alles Wirklichen oder auch alles ‚Hiftorifhen. Da 
erfolgte ftatt des gehofften Endes jener Maßregeln ohne Angabe eines 
Grundes in dem Bundesbefchluffe vom 16. Auguft 1824 bie nadte 
Beile: „fie dauerten felbfiverftanden fort.” Und es folgten fpäter, wie 


*) ©. biefelben a. a. O. 


EEE 


0. Lehrfreiheit. 


und die in einem beutfchen Sande mißfaͤllig befunbenen auch in keinen 
andern Lande wiederanzuftellen. Die bekannte Gircularnote vom Gras: 
‚ fen. Bernflorff, einem Mitgründer der Karlsbader Befchlüffe, ers 
Härte die Univerfitäten für Siftquellen und fagte zur Erläuterung 
jenes Beſchluſſes: „man bat geglaubt, daß das ficherfle Mittel, die pos 
„ltifchen und religioͤſen Abweichungen der Profefforen zu unterbrüden, 
„darin beftände, ihnen die fchlimmen Folgen anzufündigen , Die ihre 
„Falfhen Lehren für ihre ganze Eriftenz haben würden *)." 

Mir übergehen fpätere Bundes: und Lanbesmafregeln, welche in 
“ ähnlicher Richtung gegen die deutfhen Univerfitäten und Gelehrten 
nachfolgten. Es gehören z. B. hierher jene bekannten Bundesbefdyläffe 
über das ausfchließliche SSnterpretationsrecht der Bundesfchlüffe für die 
Bundesverfammlung und über die Zuruͤckweiſung der Anführung und 
des Einfluffes der mißbeliebigen ſtaatsrechtlichen Theorieen und Werke. 
Es gehören ferner hierher die Bundesbefchlüffe, welche jenes Palladium ber 
Rechtsſicherheit, die Actenverfendung an unpartelifche Juriftenfaculs 
täten, aufhoben, das auch noch die Bundesacte (Art. 12) begänftigte, 
indem fie es wenigſtens für die Staaten unter 300,000 Seelen als unzers 
ftörbar fanctionirte, das aber ein fpäterer Bundesſchluß gerade in ben wich⸗ 
tigften Faͤllen dennoch felbft zerftörte, indem er in Criminal⸗ und Polizels 
fahen Actenverfendung und Einholung von Rechtsgutachten bei Juri⸗ 
ftenfacuitdten in ganz Deurfchland verbot. Es gehören hierhin auch 
die Bundesgefege von 1834, welche den Einfluß der akademiſchen Se: 
nate ſchmaͤlerten und ängftlich bemadhten , ihnen auch die Gerichtsbarkeit in 
Polizei: und Criminalfahen über die UniverfitätSangehörigen entzogen. 
Es gehören ferner aud) dahin die Confiscationen und Unterbrüdungen 
von Rechtsgutachten, welche Privaten von Suriftenfacultäten eingeholt 
batten; fo 3. B. von dem Rechtsgutachten, welches einen unglüdlichen polls 
tifhen Verfolgten zur Rettung feiner oͤffentlich angegriffenen Ehre eine 
hochberuͤhmte Juriſtenfacultaͤt einftimmig günftig ertheilte, und welches 
nun nicht blos im Lande des Verfolgten, nein in dem Lande und am 
Sige der berühmten Univerfität felbft polizeilich unterdruͤckt wurde. 
Gleiches Schickſal traf bekanntlich fpäter das Tübinger Rechtsgutachten 
für das unterdrüdte hannoͤveriſche Recht. 

Wie gefagt, diefes Alles foll hier nicht ausgeführt werden. Aber 
der gänzliche Gegenfag dieſer neueften Zuftände der deutfchen Univers 
ſitaͤts⸗ und Gelehrtenverhältniffe mit den früheren ift von felbft Bar. 
Nicht minder klar iſt e6, daB von einer wahren geſetzlich und ver: 
faffungsmäßig anerfannten und gefhügten Lehrfreiheit der Univerfitäten 
gerade in dem Lande, in der Nation jegt am menigflen gerebet wer: 
den kann, welche ftets flolz war auf ihre freien Univerfitätseinrichtun: 
gen und auf ihren Gelehrtenitand. In folhem Zuflande Hätten fo 
wenig ein Schlözer wie ein Luther MWohlthäter der Menfchheit und 
die Bierde ihres Vaterlandes werden können. Nach den Karlebader 


*) ©, Kieler Beiträge 1, ©. 3. 





Lehrfreiheit. 665 


Beſchluͤſſen über die religiöfen und politifchen Abweichungen der Lehrer 
hätte nicht mehr ber in Preußen verfolgte große Wolf in Heffen und, 
bei erfolgter Megierungsveränderung, felbit wieder im alten Vaterlande, 
hätte nicht ber vom Obfeurantismus in Sachſen verfolgte Thomafius 
in Preußen freudige ehrenvolle Aufnahme, den freien Lehrftuhl für die 
unfterbliche heilfame Wirkfamteit, die freie Bahn zur Bewirkung eines 
großen Fortſchrittes der Civilifation des Vaterlandes gefunden Jener 
edle Wetteifer der vielen deutfchen Staaten, in welchem 3. B. aud) 
fpäter die ducch den Woͤllner'ſchen Obſcurantismus von Berlin vertries . 
bene allgemeine beutfche Bibliothek von Altona aus für Licht und Auf⸗ 
klaͤrung fortwirten konnte — diefer Wetteifer, der einzige Erfag 
für Die entbehrte Einheit der Nation, iſt durch jene Befchlüffe 
und durch die neue deutfche Polizeigewalt und Verbindung gelähmt. 

Für die Beantwortung der Stage übtigens, ob denn im zwei Jah⸗ 
ren der Geiſt aller deutfchen Univerfitäten, diefer fonft ſtets, diefer noch 
bei ber feierlichen Eröffnung des deutfchen Bundes fo- hoch geachteten 
Gorporationen, fi bis zum Entgegengefegten verändert hatte, iſt die 
Thatfache von Intereſſe, daß fogar noch nuc den Karlsbader Beſchluͤſ⸗ 
fen und der dadurch entflandenen Mißſtimmung die allermeiften deut» 
ſchen Regierungen ihren Landesuniverfitäten bie günftigften Zeugniſſe 
ausfteliten *). 

Die Regierungen und Staatsmänner müßten biejenigen Profeſſo⸗ 
ren felbft verachten, die fich etwa durch die öffentlichen Befchuldigungen 
und Ausnahmsmaßregein, duch deren Einfluß auf ihr Heiligthum, 
ihre Lehrfeeiheit und die moralifche Achtung ihrer Lehren nicht gekraͤnkt 
- fühlten. Aeußerungen diefer Gefühle, Zurüdweifungen falfchen Vers 
dachts erfolgten von allen Seiten. Auch war nad Verlauf einiger 
Sabre die Falfchheit jenes Verſchwoͤrungslaͤrms, der den Karlsbader 
Befchlüffen vorausging, enthüllt, indem bei allen Beweiſen eines’ weit- 
verbreiteten, ungeduldigen, ungufriedenen Eifer für die verheißenen. 
Neformen doch nicht Ein Schuldiger von den Gerichten hatte beftraft 
werden Finnen. Auch mar bei Ablauf der fünf Jahre, für melde 
jene Ausnabmegefege 1819 gegeben worden waren, ber politifche Zu: 
ftand von Deutfchland ein völlig ruhiger. Es ſchien alfo Feine Veran: 
laffung vorzuliegen zu einer Erneuerung der Ausnahmsbefchläffe nad 
Ablauf jener beflimmten fünf Jahre. Ein Thomafius, ein Schloͤ⸗ 
zer, Spittler und Häberlin Iehrten nicht mehr auf unfern deut⸗ 
ſchen Univerfitäten ; auch fein Kant und Bein Fichte. Selbſt Schleier⸗ 
macher, Fries, Oken und Arndt waren verflummt. Lauter und 
verbreiteter war nun immer mehr die officiell begunftigte Lehre der Ver: 
nünftigleit alles Wirklichen oder auch alles Hiftorifchen. Da 
erfolgte flatt des gehofften Endes jener Maßregeln ohne Angabe eines 
Srundes in dem Bundesbefchluffe vom 16. Auguft 1824 die nadte 
Zeile: „fie dauerten felbftverfianden fort.” Und es folgten fpäter, wie 


*) S. diefelben a. a. D. 


BE 
- 


666, Lehrfreiheit. 


es eben angebeutet wurde, noch eine Reihe von Beflimmungen, melde 
bie frühere Achtung, Wirkſamkeit, Lehr⸗ und Preßfreiheit der Univerfitaͤten 
und des deutfchen Gelehrtenftandes auf eine betrübende Weife befchräntten. 

Menn nun auch unbedenklidy zugeflanden werden muß, baf 
viele Regierungen viele einzelne Lehrer durch höhere Gehalte, vor 
nehmere Titel und durch Orden auszeichneten, fo wurden dadurch der 
gerechte Schmerz und die Beforgniffe aller würdigen deutfchen Gelehe⸗ 
ten in Beziehung auf jene allgemeinen Maßregeln gegen ihren gangen 
Stand und gegen Deutfchlands Univerfitäten nicht vermindert, ja ans 
leicht begreiflihen Gründen zum Theil nody vermehrt. Auch dadurch 
koͤnnen fie wohl nicht verfehwinden, daß die neuen Penſionirungs⸗ und 
Verfegungsrechte, fo wie die Karlsbader Ausnahmsmaßregeln nur felten 
hart angewendet worden find. Einige wenige Beifpiele genügen ja, 
um Allen zu zeigen, was ihnen bevorfieht, wenn fie mißfällig wer⸗ 
den, um aͤngſtlich zu machen, um fie durch die Furcht vor Verluſt ih 
res MWirkungskreifes und des Nahrungsftandes Ihrer Familien zu ſchre⸗ 
den. Eine einzige Ungunft und ſchnell in's Werk geſetzte Maßregel 
fann jest von den Lehrftühlen der Religion, des Rechts, ber Philoſo⸗ 
phie und Gefhichte die Wahrheit und ihre Stimme ver 
drängen und bie entgegengefegten Stimmenvon benfel» 
ben ertönen laffen. In der That, wenn man mit dem Bigherigen 
noch die jeßige Abhängigkeit aller Anftellungen und Beförderungen ber 
Profeſſoren, in felbft die des Auftretens von Privatbocenten verbindet, 
alsdann wird man nicht leugnen koͤnnen, daß gegen bie frühere deutſche 
und gegen die englifche und franzöfifche, gegen fchmedifche, bänifche und 
normwegifche, gegen holländifhe und beigifhe Lehrfreiheit die der jehigen 
deutfchen Univerfitäten und Profefforen fehr, fehe vermindert, ja ohne 
verfaffungsmäßigen Schuß gaͤnzlich von wechfelndem Verwaltungsbelie 
ben abhängig ift. 

Eine theilmeife moraliſche Revolution ift fiher an ſich ſchon diefer 
Umſturz der früheren Verbältniffe und Rechte, der Achtung und ber 
Lehrfreiheit der deutfchen Univerfitäten und des deutſchen Gelehrtenſtan⸗ 
des. Wie wenig diefe Veränderung wahrhaft heilfam iſt, dieſes geht 
wohl aus den allgemeinen Betrahtungen zu Anfang diefe® Artikels 
hervor. Vor Allem aber ift e8 klar, daß ein Umſtuͤrzen fo alter, geady 
teter, einflußreicher Inftitute und Rechtsverhältniffe, wie die der beutfchen 
Univerfitäten und des deutfchen Gelehrtenſtandes nimmer die Heiligkeit 
der übrigen legitimen Zuflände und Rechte befeftigen kann. Zu hoffen 
ift, daß endlich die unglüdlichen, zum Theil von fehr unzuverläffigen 
Freunden der Regierungen und der Völker gendhrten Mißſtimmungen 
und Beforgniffe endlich weichen und auch die deutfchen Univerfitäten 
und der deutfche Gelehrtenſtand wiederum in einen geachteten, verfafs 
fungemäßig gefhirmtar Rechtszuſtand und in ihre Lehrfreiheit eingefeht 
werden mögen. Es ift biefes ein wahrer Ehrenpunct für die beutfche 
Nation und ihre Regierungen. 

Weſentlich find hierzu insbefondere die früheren freien Grund⸗ 


Lehrfreiheit. 667 


füge in Beziehung auf Anftellung und Beförderung der Profefforen 
und Privatdöcenten, minbeftens eine regelmäßig entfcheibende Mitwir⸗ 
tung ber akademiſchen Senate und ber Facultdten. Noch wefentlicher 
ift die frühere Inamovibilitaͤt derfelben. Unmittelbare Einmifhung bes 
Staats in bie Lehre follte nur bei Anzeigen wahrer Rechtsverletzungen 
Statt finden. Das Uebrige müßte regelmäßig nur der freien wiffenfchaft: 
lichen Prüfung und Widerlegung vorbehalten bleiben, und in etwaigen 
Faͤllen von Beſchwerden wegen abfolut ſtaats⸗ ober kirchenwidrigen Lehs 
ven mindeftens jede nadjtheilige Verfügung, fo wie ſtets vordem, bes 
dinge fein durch vorherige Prüfung und Entfceidung anberer unpars 
teliſcher ſachkundiger Facultaͤten. Man kann revolutiondte Umwaͤlzun⸗ 
gen ber verſchledenſten Art unternehmen und billigen, aber man wird 
eine andern bie ganzen moralifchen Grundlagen ber Ehre und Civilis 
fation des deutſchen Vaterlandes mehr untergeabenden auffinden, als bie, 
wenn man die Lehrftühle für die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit zu 
abhängigen Drganen der Gewalt, ihrer wechfeinden politifchen Meinun⸗ 
gen, Intereffen und Leidenſchaften umbilden will. 

In Beziehung auf die Lehrfretheit der Kirche und der 
Getftlichkeit befleht eben fo wie bei der Schule die Grundbedingung 
in den anerkannten felbftftändigen Gorporationsredhten und Verfaſſun⸗ 
gen und in dem Grundprincip, daß auch hier der Staat, als folder, 
nur die wirklichen Mechtsverlegungen abzuwenden, übrigens nur ein 
wohlthaͤtiges Schugrecht auszuüben hat. Ueber bie Klrchenwidrigkeit der 
Lehren hat nur die kirchliche Geſellſchaft zu entſcheiden. Diefes aber 
kann auf heilfame Weife nur bei einer freien georbneten Kicchefivers 
faffung und von der wahren gefelfchaftlichen Repräfentation, alfo von 
den Synoden gefcheben. Diefe müffen zwar ebenfalls, wenn fie hrifts 
lich find, die nothwendige chriftliche Freiheit und Vervollkommnung 
heilig halten; jedoch hieße es mehr als wahre Lehrfreiheit fordern, 
wenn man verlangen toollte, daß felbft gegen den Grundvestrag ber Ueber⸗ 
nahme eines Eichlichen Lehramts den wefentlihen anertannten 
Srunblagen ber Eirchlihen Gemeinſchaft wahrhaft widerſprechende 
und feindfellge Lehren, fo fern fie bie kirchliche Repraͤſentation 
als folche erkennt, gebuldet werden müßten. Diefes können In ber 
That nur ſolche fordern, melde die natürlichen Gefellfhaftszwede und 
Rechte der Kirche gänzlich, verfennen ober die Kirche felbft anfeinden 
und zu ſtuͤrzen fuhen. Aber die weſentliche Aufgabe ift es hier, einer- 
ſeits die Einmifhung des Staats und politiſcher Interefien, anderfeite 
die hertſchſuͤchtigen und partelifch eingenommenen Anfichten der Kirchen⸗ 
beamten wie des Pöbels ber Kirchengeſellſchaft durch die ruhige Ver⸗ 
handlung und Entſcheidung einer wohlgeordneten kirchlichen 
Repräfentation auszufchließen. Unter ſoichen Vorausſetungen koͤnnte 
es nur gebilligt werden, wenn z. B. eine chriſiliche Kirche eine Strau⸗ 
Kirche Lehre aus ihrer Mitte zuruͤckweiſſt, eine Lehre, die den weſent⸗ 
lichen Grundiehren des Chriſtenthums feindlich entgegentritt, die fogar 
in ihrem naturphiloſophiſchen Materiaftsmus durch die Conſequenz abs 


I —— — 


668 Lehrfrelheit. 

ſolut gezwungen iſt: die Perſoͤnlichkeit Gottes und eine Vorſehung 
im religioſen Sinne, die menſchliche Freiheit und mit ihr die Wahrheit 
von Tugend und Lafter im fittlihen Sinne und endlich bie wahre, die 
“individuelle Unſterblichkeit aufzugeben. Freilich die neue Sophiftenfchule 
fucht dieſes durch täufchenden Schein der Worte zu verhüllen; ja fie 
ſucht abſichtlich nach ihrem bekannten Zäufhungsprineip: „für bie 
„geommen und Einfältigen in der Sprache der Frömmigkeit und Ein 
„falt zu ſprechen,“ hierüber das größere Publicum irre zu führen. Es 
wäre ja gar nicht zu gewinnen und zu verführen, wollte man ihm 
nicht, trog des Verſprechens der ganzen Wahrheit, die DVerneinung 
jener Grundlagen aller Religion und Moral großentheils verbergen. 
Mag übrigens auch ſolcher Lehre die Freiheit bfeiben, in Schriften, 
vielleicht auch vom Lehrſtuhl der Phiiofophie, zuc öffentlichen Prüfung 
aufzufordern; bie Wahrheit wenigſtens und eine Kirche, bie auf ihe 
ruht, fürchten die Prüfung nicht. Sie ift heilfam, wo die Waffen 
dazu vorhanden find, wo fie gründlich moͤglich ift, was freilich von 
den Lefern und Leferinnen einer belletriſtiſchen Zeitſchrift nicht erwartet 
werben follte. Aber ſicher wäre es doc weniger verlegend und ver: 
kehrt, wenn man einen Rabbinen zum Religionsiehter, zum Dogmati- 
ter oder Geiſtlichen einer chriftlihen Kirche, ober auch einen Katholiken 
für Proteflanten oder einen Proteftanten für eine katholiſche Kirchen⸗ 
geſellſchaft anftellen wollte, ald wenn man einen Mann von jenen 
Grundfägen zum Religionsiehrer irgend einer chrifklichen Kirche beriefe. 
Und überall würden in ſolchem Falle auch proteſtantiſche Länder nöthigen: 
falls zeigen, daß fie weder eines Papftes noch einer katholiſchen ſtrengen 
Einheitsform bedürfen, um ihre Kirche gegen ſolche Unbill zu ſchuͤhen, 
ihre kirchlichen Grundfäge und ihre wahre kirchliche Pofitivitdt und Ein: 
heit zu bewahren. Diefes haben aud die Züricher gezeigt und auf 
hochachtbare Weiſe gewiß, To weit nicht leider felbftfüchtige imd. Poli: 





Lehrfreiheit. 669 


freiheit befolgt. Es wird den kirchlichen in- und auswärtigen Regie: 
renden in ber Kirche der entfcheidende Einfluß felbft auf Anftel: 
(ung und Entfernung ber Profefforen und auf ihre Lehroorträge einge: 
räumt. Alle alten Grundſaͤtze über die Selbſtſtaͤndigkeit der Univerfis 
täten werben vergeflen ; vergeffen werden bie Grundfäge von ber Kai: 
ferin Marta Thereſia und Joſeph, welche fefthielten an der Wahr: 
heit, daß bie Univerfitdtebildung Sache der Wiffenfhaft und des Staas 
tes ift, daß die bifchöflidhe Oberaufficht und Gewalt erſt mit dem Prie⸗ 
fterchume beginnt, daß ſeibſt nach ben Grundfägen des Mittelalters der 
blos wegen Lehrmeinungen verfolgte Profeffor unantaftbar blieb, bie 
ihn bie Geſammtheit der Kirche, bie Gutachten der theologifhen Facul⸗ 
täten und die Goncilien veructheilten. 

Keiner weitern Ausführung aber bedarf es wohl, baß diefes ganze 
Syſtem zum Unheil führt, daß die Regierung felbft fo die nicht ces 
gierende Kirchengefellfhaft, die fie nie hört, und die fie um eigener 
weltlichee Zwecke willen den herrſchſuͤchtigen kirchlichen Beamten Preis 
gibt, zuerſt beleidigt, fodann immer mehr ſelbſt obfeurantifh und fa- 
natiſch machen hilft. Die alten freien flandeifhen und brabantifchen 
Katholiken ließen fich bei dem Megierungsantritt vor der Huldigung (in 
ber Joyeuse Entree) von ihren Fürften vor Allem eidlich verfprechen, fie vor 
Uebergriffen der Geiſtlichkeit zu fchirmen. Den bierin ſich ausfprechen: 
den Grundgedanken einer gewiß gut Tatholifchen, aber freibeitliebenden 
Bevdikerung überfieht jenes falfche Syſtem. Eben fo vergißt es, daß 
die einer auswärtigen Macht bienftbare hierarchifche (Beiftlichkeit, an 
der Stelle wahrer Religiofitdt und Moralität, Herrſchſucht und Taͤu⸗ 
(hung, Heuchelei, Sinnlichkeit und Aberglauben ausbildet, daß fie 
durch jede neue Conceffion nur zu neuen Anfprüchen beflimmt wird 
und zuletzt in ber unvermeidlihen Collifion mit ber weltlichen Regie: 
rung gegen diefe die fanatifirten Maſſen verbiendet und aufreizt. Statt fol- 
her unbeilvollen Verwickelungen, bie leichter herbeigeführt als gründlich 
gelöf't find, hätten bei verfaffungsmäßiger Schuͤtung ber Lehrfreiheit bie 
entgegengefeßten Richtungen jeder kirchlichen Geſellſchaft, die freiere und 
die entgegengefeßte, ſich unter ſich wohlthätig bekämpft und ausgegli⸗ 
chen, und die Regierung hätte mit ruhigem parteilofen Schuß vermits 
teind hoch über beiden geftanden, ohne ſelbſt in die Leidenfchaften des 
Parteiſtreites verwickelt zu werden. Religion und Gittlichkeit, und Thron 
und Altar wären dann nicht, fo wie früher in Frankreich und Spanien, 
gerade felbft unter dem Scheine ihrer Förderung untergraben und ein 
revolutiondrer und gottlofer Haß gegen fie groß gezogen worden. 

Aber noch auf andere Weiſe und vorzüglich bei den Proteftanten 
leidet die kirchliche Lebrfreiheit in neuerer Zeit gar Häufig. Die Regie: 
rungen machen die Geiſtlichen von ihrer weltlichen Gewalt und ihren 
politifhen Zwecken abhängig. Es fehle auch hier jetzt die Heilighaltung 
dee früheren Grundſaͤtze über Anftellung und Beförderung der Geiftlis 
chen durch ihre Gemeinde oder durch Eicchliche Behörden und nach rein 
kir hlihen Zwecken. Es fehlt und zerfällt auch hier die Inamovibilitaͤt. 





670 Lehrfreiheit. 


Alles wird willkuͤrlich und abhängig von weltlichen Behoͤrden und Sa 
teseffen. Da hört und fieht man denn aus Furcht vor ber freiheit, 
zumal da, wo man fie verſprach und das Verſprechen nicht hielt, An: 
drohungen und Vollziehungen von Zuruͤckſetzzungen und Abfegungen, 
wenn der Geiftlihe in feine Predigten, wie man fagt, Politik ein⸗ 
miſcht, oder auch, wenn er ſich fon als Bürger für freiere Verfaſ⸗ 
fungsgrundfäge, 3. B. für freie Deputirtenwahlen, intereffist. Die offen 
bare heuchlerifhe Lüge aber fcheut man nicht, daß man verfdhleiert ober 
unverfchleiert es wuͤnſcht oder mit weltlichen Belohnungen und Strafen 
fordert, ber Geiftliche folle dennod fi in bie Politik einmifchen, e 
ſolle ben politifchen paffiven Gehorfam der Bürger predigen, das Lob 
ber politifhen Regierung und ihrer Maßregeln, bie Lobpreifung bed 
politifhen Abfolutismus, die Verdammungen der politiiyen Gegner bei 
Regierungsſyſtems verkünden, oder auch er folle thätig Tein für bie 
Wahlen politiſch ferviler Abgeordneter. Welcher neue Migbrauch des 
Heiligen, wodurch man Religiofität und Moralitdt untergräbt, wodurch 
man vorzüglich oft die proteftantifche Kirche und Geiſtlichkeit bei Pre⸗ 
teftanten und Katholiken um ihre Achtung bringt! Und wie verkehrt 
ift an fi) fhon der Gedanke: der Geiſtliche fol nicht nach Teiner freien 
religioͤs moraliſchen Weberzeugung, fo wie auf alle irdiſchen Pflichten, Zus 
genden und Lafler, fo auch auf die wichtigfien, auf die des ſtaatege⸗ 
feufchaftlihen Lebens, die chriftlihen Moralgeundfäge anwenden ! XThaten 
diefes nicht alle kirchlichen Reformatoren? Thaten und thun es nidıt 
Sahrhunderte lang und nocd heute in Schweden und England und 
Holland ihre Nachfolger? Auch hier muß, gegenüber dem Staate, bie 
Lehre frei bleiben, fo lange keine Unrechtlicykeit, keine Aufforderung 
zu Unrecht und keine juriflifchen Beleidigungen vorlommen. Jede ans 
dere Zurechtweifung und Ahndung muß wenigſtens ſtets von bem ver 
faffungsmäßigen Ausſpruch der kirchlichen Gefellfhaft ausgehen. Sonſt 
hört die Kirche auf, eine freie, eine felbftftändige Geſellſchaft zu fein. 
Sie wird eine entwärdigte Kirche, eine abhängige Staats» und Polis 
zelanftalt. Dadurch aber wird fie aucd der Achtung und Liebe, des 
Vertrauens und aller wohlthätigen Wirkſamkeit beraubt, felbft der wohl⸗ 
thätig beruhigenden und mäßigenden. Was foll man vollends fügen, 
wenn man hört, daß politifhe Behörden in ihrer Verfolgung der polis 
tifhen Freiheit und in ihrer Herabwuͤrdigung der Moral und ber Kirche 
fogar fo weit gingen, von den Beifllihen, die man, eben fo wie bie 
Profefforen, immer mehr zu Staatsdienern zu machen fuchte, fo: 
gar politifhe Spionerie und Denunciationen durch Strafen und Beloh⸗ 
nungen heraus zu preſſen fuchte! 

Wie viel ift auch bier zu -thun zur Entfernung des Frevels gegen 
Neligion und Wahrheit, zur Derftellung der alten legitimen Grundfäke, 
zue Herſtellung wahrer Lehrfreiheit! Freie Eichlihe Verfaffung, 
gefhügt ducch freie Staartsverfaffung, wird auch bier allein 
helfen, wird allein das wuͤrdige und heilfame Verhältniß von Staat, 
Kirche und Schule möglih machen. In diefem letzteren werben insbe 


Lehrfreiheit. Leibeigenfchaft. 671 


fonderz auch ſchon die Schulen für die Jugend, die Gelehrten: und 
die Volksſchule, als Unterabtheilungen der Univerfität und der Kirche, 
frei bleiben von der Beherrſchung und von ber Verfälfchung der Wahrs 
beit durch bie neuerlichen Einmifchimgen der politifhen Gewalten und 


Selbſt Staatsmaͤnner, weichen eine niebere Natur und gemeinere 
Lebensanfiht die hohe heilige Achtung ber Wahrheit und der Religion 
verfagte, follten doch ſchon aus wahrer Politit vor dem in unferen 
heutigen Zeiten abfurden Gedanken zurüdichreden, bie Lehrer und 
Priefter der Wahrheit, der Religion und bee Gerechtigkeit zu Dienern 
ihrer wechfelnben weltlichen Politik, zu eigentlichen Staats⸗ oder Ders 
rendienern berabzumwürbigen. Alle praßtifche Liebe und Begeiſterung für 
die Sreiheit, alle wahren praktifch wirkſamen Freiheitsgrundſaͤtze gehen 
vollends heut zu Tage vom Leben, von den Eltern, von den Bruͤ⸗ 
dern und Freunden, von ber Berührung mit andern freien Völkern, 
nicht aber von dem Profefiocen und Pfarren aus. Diefe können und 
werben, wenn man ihnen Lehrfreiheie läßt, die Einfeitigkeiten und Leis 
denfchaftlichleiten des Tags durch ihre tieferen und höheren Lehren ber 
Wahrheit und der Liebe ermäßigen, beruhigen und die freien Beſtre⸗ 
bungen auf die wahren Grundlagen, Brundfäge und Grenzen zuruͤck⸗ 
führen. Beſtimmt man fie aber von Gtaatswegen zu ber öffentlichen 
Lüge und zur verrächeriichen‘ Entweihung des Heiligen, daß fie, unter 
dem Scheine wahrer Priefter ber göttlichen Wahrheit, Gerechtigkeit und 
Liebe, an heiliger Staͤtte als die gezwungenen ober erlauften Werkzeuge 
der jeweiligen Herrſchermacht und ihrer Tagespolitil wirken, aledann hat 
man alle ihre wohlthätige Wirkſamkeit zerſtoͤrt. Wan hat zugleich wahr- 
haft revolutiondr die ditefte feſteſte Grundlage eutopdifcher und beutfcher 
Civiliſation, die Grundlage der Throne, wie die der Freiheit, man bat 
die Selbfiftändigkeit von Kirche und Schule, die Freiheit der Religion 
und der Wahrheit untergrabn. Man hat alsdann felbft die Greuel 
bes ſinkenden römifchen Reichs und der aflatifchen Despotieen heraufbes 
fhworen. Man wird früher ober ſpaͤter unfehlbar ernten, wie man 
fäete. Aber es ift hohe Zeit, daß man fich befinne, auf welchem Wege 
man fich befindet, wie fehr weit man fchon gekommen if. Die ſchmeich⸗ 
leriſche Lüge dev Worte, und ginge fie auch vom berebteften und ges 
lehrteſten Dofprebiger oder Hofprofefioe aus, kann die Uebel und Ges 
fahren der Wirklichleit wohl verhuͤllen, aber nicht befeitigen. 

©. Th. Welder. 
Leibeigenfhaft. — Das Wort Leibeigenfchaft enthält in ſich 
felbft einen Widerfpruch, in fo fern dadurch angedeutet werden will, daß 
der Leib eines Menſchen der Gewalt eines Anderen in ber Art rechtlich 
unterworfen fein könne, daß dieſer Andere darüber wie über eine ihm 
eigenthümliche Sache ſchalten und verfügen könne. Schon die denken: 
den Römer erkannten biefen Widerſpruch recht gut, obgleich auch bei 
ihnen unter dee Benennung servitus (Sklaverei) ein ähnliches, ja noch 
weit druͤckenderes und erniebrigenberes Verhaͤltniß beſtand, als durch dem 


— 
672 Leibeigeufchaft. 


deutfchen Begriff der Leibeigenfchaft bezeichnet wird. So ſagt 3. B. 
Ulpianus in libr. 18. ad Edict. (L. 3. Dig. ad L. Aquil. IX. 2) 
ſehr ſchön: „Dominus ımembrorum suorum nemo videtur“, umd 
fhließt damit die Anwendung ber Grundfäge des Sachen: und Eigen⸗ 
thumsrechtes auf den Körper des Menſchen geradezu aus. Allein frei 
üch bezog ſich dieſer Ausſpruch des Ulpianus nur auf ben Leib des 
freien Menfchen : daß aber auch der Sklave ein Menfch fei, und 
dag ein Menfc fo minig in dem Eigenthume eines Andern fein Eönne, 
als er Eigenthümer feine eigenen Leibes fein kann, zu dieſer einfachen, 
heut "zu Tage nunmehr glüdliher Weile in unferm Deutfchlanb und 
dem ganzen civilifirten Weiten Europas unbeftiitten und eimbellig aner 
kannten Vernunftwahrheit hatten fich die Römer, fo wenig wie die ſaͤmmt⸗ 
- ichen antiken Nationen zu erheben vermodt. Ueberhaupt war im gans 
zen Altertbume der Staat und das Volksleben allenthalben mehr oder 
weniger auf das Borhandenfein einer unfteien, eimer bienenben, bis zur 
Glaffe der Sachen hinabgeftoßenen Claſſe von -Menfhen bafirt: ſelbſt 
die griechifchen Republiken, welche noch heut zu Tage in vielen Bezie⸗ 
hungen als die claffifhen Muſter eines freien Bürgerthumes betrachtet 
zu werden pflegen, machen hiervon feine Ausnahme. Das Vorhan⸗ 
denfein eines folchen erniedrigten, zur Gemeinheit gleichfam verdamm⸗ 
ten, und zu den niedrigften Dienften und Beſchaͤftigungen, zu Schmut 
und Elend beftimmten Standes galt für unentbehrlih, um dem freien 
Bürger jene noble Unabhängigkeit, jene Erhabenheit über die alltägliche, 
profaifche, handwerksmaͤßige Arbeit zu fihern, welche eine freie Erhe⸗ 
bung des Geiſtes, einen großartigen Gemeinfinn und ein reges politi: 
ſches Intereſſe zu bedingen fhien: der Bürger follte jener den Geifl 
und das fittlihe Gefühl abflumpfenden Beichäftigungen enthoben fein, 
welche auf reinen gemeinen Erwerb, auf die Stiftung bes nadten fe 
bens gerichtet, die Sefinnung in einen gleichen‘ Schmuß, wie den Kir 
per herabzuziehen geeignet find. So demokratiſch daher auch immer 
die Einrichtung einer antifen Republik in Bezug auf das WVerhältnif 
der freien Bürger unter einander fein mochte, fo war fie doch vom 
weltbärgerlihen Standpuncte aus betrachtet nichts Anderes, ald eine 
Ariftofratie, und zwar eine um fo verwerflihere Organifation, als 
fie auf die Ausfchließgung der Maſſen nit nur von ben po: 
litifchen, fondern von den angeborenen emigen und unverjährbaren 
Menfhenrehten felbft gegründete war. Die Bermerflichkeit, 
die Unhaltbarkeit diefer vernunftwidrigen und unnatürlihen Organi⸗ 
fation trat aber auch in allen Mepubliten des Alterthbums im Laufe 
der Zeit offen und Elar hervor, und alle gingen an diefem Grundfeh—⸗ 
ler ihrer Inflitutionen zu Grunde, und waren fchon längft moraliſch 
untergraben und zerfreffen, bis äußere Ereigniffe das morfche politiiche 
Gebäude in Trümmer warfen. So wie ſich die Freilaffungen — 
was unvermeidlid mar — vermehrten, fo twie aus den Freigelaſſenen 
eine Plebs erwuchs, welcher bie Sreiheit, zu welcher fie nicht erzogen 
war, ſtets etwas Unerfaßliches blieb, fo wie fich hiermit eine Maſſe 


= 


Leibeigenfchaft. | 673 


gebildet hatte, welcher wirklich allee Schmug ber Gemeinheit und Nie: 
drigkeit dee Lebensweife und der Gefinnung anklebte, eine Maffe, welche 
ſtets zwifchen den Ertremen einer fohrankenlofen und biutdürftigen 2i- 
cenz und bee fElavifchen Unterwuͤrfigkeit unter einen nicht minder biuti- 
gen Despoten hin und her ſchwankte — von diefem Augenblide an mar 
es um den Beſtand und die Blüthe der Republiken gefchehen, und eine 
furchtbate Nemefis begann ein Rächeramt zu verwalten, welches nicht 
anders, als mit dem Untergange der gefammten antiken Staaten en⸗ 
digte. So mar auch der Untergang ber römifhen Republit von dem 
Augenblide an entfchieben, al6 Darius, um den Cimbern und Zeuto: 
nen Widerftand zu thun, das Gefindel bewaffnen mußte, und von dem⸗ 
felben Augenblide an war die Freiheit und das Bürgertfum in Rom 
für ewige Zeiten geächtet, und die Despotie, die einzige Regierungs- 
form, welche niedrige Naturen zu zügeln im Stande und ihnen ange- 
meffen ift, feierte von bier an einen halbtaufendiährigen Triumph, bie 
das Auftreten der germanifchen Völker auf den Trümmern der alten 
Melt eine neue Aera des Staates und Volkslebens in das Dafein rief. 
So wie es Fein Verhältnig gibt, welches — fo vernunftwibtig es auch 
fei — nicht feine Vertheibigung gefunden hätte, oder als gerechtfertigt 
darzuftellen verfucht worden wäre, nachdem es nur einmal durch facti⸗ 
fche Gewalt begründet worden war, fo ſuchte man auch im Alterthume 
fhon die Unfreiheit wenigftens zu beſchoͤnigen; und fo verkehrt ein fol- 
ches Unternehmen an fi auch fein mag, fo liegt doch felbft in dieſem 
Unternehmen, das Ungereimte zu rechtfertigen und dem Unvernuͤnfti⸗ 
gen doch menigftene eine vernünftige Seite abzugewinnen, ein achtungs⸗ 
würdiger Zug des menſchlichen Geifte® und Herzens: es ift das Gefühl 
der Scham vor fich, welches jede befjere Natur ergreifen muß, wenn 
fie Verhaͤltniſſe gelten ſieht, welche nicht anders als vernunftwibdrig er- 
Bannt werden koͤnnen — es ift das natürliche Beſtreben, ſich über das 
Unvermeidliche zu tröften, oder in Erwartung beffexer, aufgeklaͤrterer Zei: 
ten fi menigftens einflweilen mit einer fcheinbaren Beruhigung zu 
täufhen, wo das Ausfprechen des Verdammungsurtheils nur erft noch 
an tauben Ohren verhalten wuͤrde. So fieht der Hindu gläubig in 
dem Beftehen feiner verfchiedenen fcharf gefchiedenen Kaften, von beren 
einer e& feinen Uebergang in die andere gibt, eine unmittelbare Anorbs 
nung ber Gottheit, und mie der Bramine aus dem Daupte, fo ift ihm 
der Paria aus dem Fuße des Brama entiprofien. So fieht der Mb: 
mer in der Sklaverei ein bei allen Völkern vorlommendes — ein 
gleichfam durch die allgemeine, überall gleichmäßig bervortretende Der: 
nunft — jure gentium — eingeführte® und mohlbegrünbetes Rechte: 
inflitut, und um die Dernünftigkeit der Unfreiheit defto begreiflicher 
zu machen, wird ihre Bezeichnung (servitus) a servando — vom 
Erhalten, Schügen abgeleitet, und als ein Kortfchritt der Humanität 
in fo fern dargeftellt, als man in früherer, noch graufamerer Zeit die 
Kriegsgefangenen ohne Gnade ermordet habe, jegt aber ſich darauf bes 
ſchraͤnke, den Gefangenen zu Dienftleiftungen zu verwenden | 
Staats: Lexikon. IX. 43 





} 
674 Leibeigenſchaft. 


Wie aͤrmllch eine ſolche Erklaͤrungewelſe des Unvernuͤnftigen 4 
brauchen wir glüdlicher Weife unferer Zeit nicht mehr begreiflich zu m 
hen. Dody gab es auch im Altertyume ſchon Männer, bie, wenn 
auch nicht hoch genug flanden, um ſich von allen eingemwurzeiten Je 
thuͤmern ihrer Zeit und von allen gewohnten Volksanſichten unbe 
loszuſagen — (und wer hätte dieſes je vermocht?) — body aber vᷣ 
höher ftanden, als die große Maffe ihrer Zeitgenoffen, Männer, im 
ſcharfet Blick manchen Schleier der Wahrheit durchdrang. Die gie 
Meifter aller phitofophifhen Schulen und die Väter ber Staats 
— Platon und Xriftoteles waren es, welche das Unterwuͤrfigkeitsverd 
niß nicht mehr durch die factifche Gewalt, fondeen durch ein geifige 
Princip, durch eine Beziehung auf ein ſociales Beduͤrfniß ber Vehe 
fung gerechtfertiget wiſſen wollten. Nach ihnen follen bie Verſi 
gen, die Zalentvollen, die Gebildeten gebieten, bie Unverfländigen, & 
Beſchraͤnkten, die Ungebildeten gehorchen und dienen — ein &of, k. 
wenn er gleich noch eine Auffaffung des Begriffe von Dienen in cm 
ſtiaviſchen Sinne zufäßt, doch fhon die Negation ber Sklaverei als ans 
erblichen Zuſtandes ber Rechtiofigkeit enthält und die Emancipation m 
denffäpigen Menſchen als ipso jure begründet ausſpricht Da 
Chriſtenthum, welchem der Begriff der Menſchenwuͤrde im jebem Jar 
vſduum, der Begriff ber Gteichheit der Menfchen vor Gott, und 
her Pflichten als Menfchen und Brüder, als Kinder eines und 
ben Gottes, zu Grunde liegt — biefem und feinem Einfluß auf 
germanifche Nechtsbildung war es vorbehalten, die Unfreiheit nad m 
nach zu zerſtoͤren, die früher rohen Maffen für die bürgerfiche Fa— 
zu erziehen und die Menſchenwuͤrde in ihre unverjährbaren,. Jahne 





fende hindurch mit Füßen getretenen Rechte einzufegen. Auch bei fa 
germanifchen Wölkern finden wir das Vorkommen eines umfreien Se 





Leibeigenfchaft. | 675 


Unfrelen ſtraflos war. Weber die Entftehung biefer Art der Unfreiheit, 
welche fi) als eine Art Gutshörigket darflellet, gibt Zacitus keine 
Nachricht. Bedenkt man aber, daß in der Zelt, in welcher er fchrieb, 
eine forttwährende Bewegung unter den deutfhen Stämmen herrfchte, 
and ein Stamm ſich auf den andern warf, wahrſcheinlich von nach⸗ 
rüdenden flavifhen Stämmen gedrängt, fo kann uns wohl fein Zwei⸗ 
fel bleiben, daß diefe unfreien Bauern nichts Anderes waren, als die 
urfprünglich gemeinftelen Urbervohner des Landes, welche von einem er: 
obernden Stamme unterworfen worben find. Die Sitte der Deutfchen, 
die befiegte gemeine Bevölkerung ruhig auf den Bauerhoͤfen figen zu 
laffen und von ihnen nur gewiſſe Präftationen zu fordern, welche dem 
Sieger ein gemächliches, edelmannsmaͤßiges Leben ficherten, findet ſich 
überdies durch die ganze beutfche Befchichte und bei allen Voͤlkerſtaͤm⸗ 
men während ber Voͤlkerwanderung beftätige, wie wir fogleich weiter 
auszuführen füchen werden. Bemerkenswerth if, daß Tacitus gar 
keine anderen Unfrelen, als jene eben erwähnten Gutsſaſſen erwähnt: 
im Gegentheile fcheint ee das Vorhandenſein eines Standes von Uns 
freien ohne Grundbeſitz geradezu ausfchließen zu wollen, denn er fagt 
dabei ausdruͤcklich, dag ſich der Deutfche feiner Unfrelen nicht wie einer 
Art Hausgefinde bediene, im Uebrigen aber die Beforgung der häusli- 
hen Bebürfniffe Sache der Frau und ber Kinder ſei. Nur in Germ. 
cap. 24. a. €. erwähnt Tacitus noch beildufig einer befonderen Ent- 
ftehungsart der Unfreiheit, nämlich duch das Spiel, indem der Deut: 
fhe, menn er alles Andere verfpielt habe, zulegt noch um feinen Leib 
und feine Freiheit ſpiele. Tacitus bemerkt aber dabei zugleich, daß bie 
Deutfchen ſolche Sklaven nicht behalten, fondern fogleich auswärts ver- 
taufen, und glaubt den Grund hiervon darin gefunden zu haben, daß 
die Deutfchen hierdurch ſich die Beſchaͤmung, einen Mann ihrer Na⸗ 
tion auf ſolche Weiſe überwunden und erniedrigt zu haben, zu erfparen 
fuchten. So gewiß Zacitus in der Angabe biefe® Grundes irrte, fo bient 
doch das von ihm richtig beobachtete Factum des Verkaufes des unglüd: 
lichen Spielers an fremde Hanbelsleute abermals zur Beſtaͤtigung, daß 
im Inneren Deutfchlands der Unfreie nicht anders, als wie ein Guts⸗ 
faffe vorkam — woraus aber ja nicht gefchloffen werden darf, daß der 
gefammte Bauernftand von jeher oder jemals in Deutfchland unfrei gewes 
fen wäre. Der eigentliche Grund aber, warum der Spieler von feinem 
Sieger verkauft wurde, lag darin, daß dem Legteren darum zu thun 
war, zu dem SKaufpreife, als der gewonnenen Summe, zu gelangen, 
weiche er felbft wieder weiter zur Befriedigung feiner Leidenfchaft ge- 
brauchen konnte. Der übermundene Spieler aber hatte von Anfang 
an gerade in diefen Verkauf gemilligt, weil ihm fein Leihtfinn und fein 
jugendlicher Uebermuch als etwas Leichtes vorfpiegelte, dem fremden 
Käufer wieder zu entlommen, oder fih auf gewaltfame Weife feiner 
zu entledigen. Darum galt e6 auch bekanntlich bei den Römern für 
hoͤchſt gefährlich, einen deutfchen SMaven zu haben, während die Zreue 
eines vertragsmaͤßig angemorbenen Deutfchen über zes hoch geſchaͤtt 


X 
676 Leibeigenſchaft. 4 


wurde. Erſt in den Zeiten der Voͤlkerwanderung bildete ſich daher, wie 
es ſcheint, nach und nach das Verhaͤltniß einer doppelten Unfreiheit 
aus: man fing naͤmlich an, einen Theil der Beſiegten, nach ber Sitte 
der Römer, zu häuslichen Dienften zu verwenden, ohne ihnen einen 
Grundbefig einzurdumen, während ein anderer Theil wie eine Perti: 
nenz ber eroberten Güter (glebae adscripti) behandelt wurde, daher 
fie auch oft homines pertinentes — (börige Leute) — genannt 
werben. Die Erfleren erfcheinen feit dieſer Zeit in den Rechtsquellen 
der merovingifchen und Farolingifhen Periode (in den legibus Bar- 
barorum und den fraͤnkiſchen Capitularien, fo wie in anderen Urkun- 
den) unter dem Namen servi oder mancipia, bie Letzteren dagegen 
werden bei den einzelnen beutfchen Völkern mit verfchiedenen Benennun 
gen bezeichnet, 3. B. bei den Franken, Schwaben, Stiefen und Sad: 
fen mit dem Namen liti ober lidi (d. h. Leute ſchlechthin), bei dem 
Sachſen auch lati oder Igzzi, oder, wie der Sachſenſpiegel fie fpäter 
nennt, Laſſen, welches Wort er Bch. 3. a. 44. nach einer alten 
Tradition von laffen, belaſſen, figen laſſen, ableitet, indem er, mas 
beſonders charakteriftifh und ganz mit unferer obigen Anſicht im Ein- 
ange ift, die Entflehung biefer Benennung mit der Eroberung Th 
ringens durch die Sachen in Verbindung bringt und ben Hergang fol 
genbermaßen erzählt: „Und da ihrer (der Sachſen) fo viel nicht waren, 
„daß fie den Ader bauen mochten, und ba fie auch die thuͤringiſchen 
„Herrn (den Abel) ſchlugen und vertrieben, ließen fie die Bauern fiken 
„ungeföhlagen, und befldtigten ihnen den Ader zu folhen Rechten, als 
„noch die Laffen haben: und davon fommen die Laffen ber, und von 
„ben Laſſen, welche ſich verwirkten an ihren Rechten, find kommen bie 
„Tagwerken.“ Hiernach wurde alfo noch im 13. Jahrhundert dus 
Vorkommen von Unfreien ohne Grunbbefig als eine Anomalie und als 
ein Herabfinten aus ber Claſſe der unfreien Grundbeftiger zur Strafe 
(durch Verwirken) betrachtet. Bei den Longoharden, Baiern und Ale 
manen, befonders bei den Schmweizer-Alemanen, findet fi zur Be 
zeichnung der gutsbefigenden Unfreien ber Ausdrud aldio, weiblich aldia, 
unfer heutiges hold, Grundhold, in der Bedeutung von Perfonen, bie 
einem Heren Hulde (obsequium) thun muͤſſen. Gehörten die Grund⸗ 
ftüde, zu welchen bie Unfreien gehörten, dem Fiscus, fo hießen fie 
Fiscalini, gehörten fie der Kirche, fo hießen fie homines ecclesiastic, 
Unvertennbar war die Stellung der grundbefigenden Unfteien viel vors 
theilhafter als die der servi, zu deren Bezeichnung feit dem Beginne 
der Kämpfe mit den flavifchen Völkerfhaften — Sclavones — an ber 
öftlihen Grenze Deutfchlands der Ausdrud Sklave — offenbar dem 
kriegsgefangenen Slaven bezeihnend — gebräuchlich zu werben anfing. 
Die eigentlichen servi hatten fein Volksrecht; die Nationalität derfelben, 
ob von romnnifcher oder deutfcher Abkunft, wurde Dabei nicht mehr 
unterfchieden: ihre Wehrgeld war gering, nur 30 solidi, mo das be} 
freien Deutfchen 200 solidos (den solidus zu einem Kleinen Thale 
Silberwerth gerechnet) betrug. Der servus durfte nicht bewaffnet geben, 





Leibeigenfchaft. 677 


wagte er e8, mit einer Lanze zu erfcheinen,, fo wurde fie ihm auf dem 
Rüden zerbrochen. In den Gefegen jener Zeit fteht er in aller Be⸗ 
ziehung den Sachen gleih, und mirb daher meift unter der Rubrik: 
de rebus fugitivis, neben entlaufenen Pferden und andern Xhieren 
mit erwähnt. Kaum etwas beſſer waren unter diefen setvis jene ge: 
ſtellt, welche fih auf Handwerke verfianden, welche von Friegerifchen 
Nationen gefhägt werben, wie Eifen=, Kupfers, Gold: und Silber: 
ſchmiede (fogenante servi lecti, ministeriales sive expeditionales). 
Dagegen aber war die Stellung der grundhörigen Unfreien in aller Be: 
ziehung ausgezeichneter, fo daß es als ein großer Kortfchritt, wie eine 
halbe Sreilaffung betrachtet wurde, wenn ein gemeiner servus von feinem 
Herm der Kirche, oder dem Könige Üüberlaflen wurde (fogenannte ma- 
numissio in ecclesia, circa altare ducendo, und fogenannte manu- 
missio per impans, h. e. in bannum regis), um als homo eccle- 
siasticus oder fiscalinus colonifirt zu werben. Bei bem lidus unb 
aldio herrfchte daher immer wenigſtens noch einige Rüdfiht auf feine 
Abftammung von urfprünglicdy freien Eltern vor: auch in der Unfrei⸗ 
heit wurde feine Nationalität (ob Romanus oder Barbarus, d. h. Deut⸗ 
fcher) genau unterfchieden ; denn außerdem, daß ber lidus deutſcher 
Abkunft ein höheres Wehrgeld genoß, war diefe Nationalität von fort- 
währender Bedeutung, da diefer Unfreie nicht als volllommen rechtlos ober 
als Sache betrachtet wurde, und daher vor Gericht nad feinem Natio: 
nalrechte behandelt und geurtheift werben mußte. Diefe liai und aldio- 
nes waren, tie die Freien felbft, heerbannpflichtig : denn der Heerbann 
war eine auf. den Grundſtuͤcken ruhende Laft, und der lidus und aldio 
waren Grunbdbefiger, wenn gleich ihr Beſitz nur cin abgeleiteter fein. 
tonnte. Sie waren daher auch fchuldig, an den jährlichen drei großen 
Landtaͤdingen, den placitis majoribus, zu erfcheinen; auch waren fie 
ſchwurkaͤhig im Volksgericht, ſowohl als Kläger als Beltagte und als 
Zeugen: doch hatte ihr Eid gewöhnlich nur die Hälfte der Beweiskraft des 
Eides eines Seien, fo wie auch ihre Wehrgeld nicht über die Hälfte des 
Wehrgeldes eines Freien betrug, Es war daher, wo durch folhe Aldionen 
bewiefen werden wollte, zur Weberweifung eines freigebornen Gegners 
die doppelte Anzahl von Eibeshelfern nöthig, als wenn bie Ueberwei⸗ 
fung mit freien Leuten geführt werden konnte. Die Stellung des 
Herrn zu dem aldio wird in den Iongobardifchen Gefegen fehr gut als 
ein wahres Mundium Echutrecht, zugleihh mit dem Begriffe von 
Schugpflicht) bezeichnet, und daraus erklärt fih auch, warum der 
Sutshörige in der Regel ohne Einwilligung feines Heren meder eine _ 
Ehe eingehen, noch eine Frau aus feiner Familie verkaufen, d. h. an 
einen Mann aus einer andern Familie verheirathen durfte, weil fie 
hierdurch aus dem Mundium feines Heren getommen wäre. Wurde 
der lidus getöbtet, fo fiel ein großer Theil feines Wehrgeldes, welches 
der Thäter zur Sühne zu entrichten hatte, an feinen Deren, das Ue⸗ 
brige an feine Familie. Im Uebrigen war die Stellung des lidus im 
Verhältniffe zu der des Sklaven nicht fehr drüdend ; er Eonnte eigenes, 








680 Leibeigenſchaft. 
zur Bezeichnung bes einen oder des andern ber beiden Begriffe ge 





braucht, welche man heut zu Tage mit dem einen ober dem andern 
dieſer beiden Worte vorzugsweife zu verbinden pflegt. Das Glit: 
gitt von den übrigen, gleichfalls zur Bezeichnung der Unfceiheit gebräus: 
lihen Worten: Eigenhörigkeit, Halshörigkeit, Erbunter. 
thänigkeit u. dergl. Gewoͤhnlich verſteht man gegenwaͤrtig unte 
Leibeigenfhaft jene Verbindlichkeit zu firengen Dienften und Zinſen 
welche einem Menſchen gegen einen Herrn, ohne Rüdfiht auf ein 
vom Herrn relevicenden Gutsbefig, obliegt, während man den Ausbrud 
Hörigkeit, hörige Leute, mehr da zu gebrauchen pflegt, wo ber Unftra 
einen vom Herrn abgeleiteten Gutsbefis hat. Der Unterfchied zwifdın 
Leibeigenen und Hörigen in dem angegebenen Sinne beſteht alfo nz 
darin, daß bei den Exfteren die befonderen Beziehungen, welche zwiſcher 
einem Unfreien und bem feihheren in Ruͤckſicht auf ein gemiffes Gr 
Statt finden können, der Natur der Sache nad) nicht eintreten oder Pic | 
greifen fönnen; im Uebtigen ftchen ſich Leibeigene und Hoͤrige in al 
Beziehungen völlig gleich. Auch fir die neuere Zeit wird man beham 
ten imüffen, daß die mit einem Gutsbefig in Verbindung ſtehende Höti 
keit als das praktiſch vorherefchende Verhältniß, und im Gegenfage dan 
die reine Lelbeigenfchaft als ein Ausnahmsverhättniß zu betrachten mer. 
Wenn gleichwohl die Zahl der Leibeigenen ohne Gutsbefig ſich nah 
umb nach dadurch vermehren mußte, daß das Intereffe des Here dir 
Theilung der Bauernhöfe nicht geftattete, und baher nicht immer alt 
Kinder auf’ dem efterlichen Hofe eine Unterkunft finden Fonnten, um 
dadurch viele gerade fo, wie es in ber oben angeführten‘ Stelle it 
Sachſenſpiegels ſeht ſchoͤn angedeutet if, genöthige wurden, Tagwerta 


zu werden: fo blieb doch auch für diefe Leibeigenen eine getwiffe Bar 


Leibeigenfchaft. 681 


einbare Widerſpruch, welchen die Eigenſchaft eines Staatsbuͤrgers und 
eines Unfreien darbot, praktiſch empfindlich machen, und auf der Seite 
aufgeklaͤrter Regierungen ſelbſt die Idee der Aufhebung der Lelbeigen⸗ 
haft hervorrufen. Als Staatsbürger mußte daher ber Leibeigene 
ſchon in dem Genuffe und im der Ausübung aller jener bürgerlichen 
Rechte geſchuͤzt werben, welche mit feiner Unfreiheit nur irgend verein 
bar waren: man geftand ihm daher Eigenthumefähigkeit, fo wie auch 
actives und paffives teftamentarifches und Inteftaterbrecht zu — abgefehen 
von feinen und feiner Familie etwaigen befonderen, durch Herkommen 
oder Bewilligungen begründeten Rechten an dem von bem Hexen here 
ruͤhrenden Gute; aud) galt der Leibeigene nicht für anruͤchtig, war aber 
doch — wegen des Mangels der Freiheit — zunftunfähig. Die Zeu⸗ 
genfähigkeit wurde dem Unfteien wenigftens in Sachen feiner Standes: 
genoffen unter einander gleichfalls nicht abgeſprochen; doch wurde er 
in Sachen feines Heren ſtets als ein verbächtiger Zeuge behandelt, und 
eben fo fhien es nach dem Geifte des Altern deutſchen Rechtes und 
den Anſichten deffelben über ben Begriff und die Wirkungen der Eben: 
burt wenigftens bedenklich, feinem Zeugniffe in Sachen freier Leute 
eine unbedingte und volle Beweisktaft M geben. Was die Entſtehungs⸗ 
gründe ber Leibeigenfchaft betrifft, fo war feit der Entftehung eines 
praktifhen eutopdifhen Wölkerrechts die Kriegsgefangenfchaft oder Er- 
oberung des Landes — jener aͤlteſte und urfpränglicfte Entſtehungs⸗ 
grund — ganz hinweggefallen: freiwillige Ergebung in die Leibeigen- 
ſchaft mochte zwar noch Im der Theorie genannt werben ; e8 möchten ſich 
aber in dem legten drei Jahrhunderten, in melden das Streben nad 
bürgerlicher Freiheit fid Immer ftärker zu regen begann, ſchwetlich noch 
Beifpiele davon nachweiſen Taffen. Der regelmäßige Entftehungsgrund 
mar demnach die Abflammung von unfreien Eltern, da die Unfteiheit, 
wie jedes andere Standesverhättnig, auf die Nachkommen vererbte. 
Dabei war, um das eheliche Kind als unfrei erfcheinen zu laffen, es 
binreihend, wenn auch nur der eine Eiterntheil unfrei war, mas man 
durch die Rechtsparoͤmie ausbrüdte: „das Kind folgt der drgeren Hand." 
Hinfichtlic der außerehelichen Erzeugung galt bie Regel: „partus se- 
quitur ventrem‘, d. h. das Kind folgte hier ſtets dem Stande ber 
Mutter. Pattieularrechtlich begründete mitunter fogar bie Ehe einer 
freien Perfon mit einer Unfreien für erſtere die Leibeigenſchaft. Diefes 
erklaͤrt fi daraus, daß in ber aͤlteſten Zeit eine Ehe zwiſchen Freien 
und Unfeelen für durchaus unftatthaft gehalten wurde. Der freie Mann, 
welcher ſich mit einer unfteien Frau verheirathen mwollte, hatte es freis 
lich hierbei in der Regel im feiner Gewalt, dieſes Ehehinderniß zu ums 
gehen: denn mar es feine eigene Leibeigene, welche er zu feiner Ehe- 
frau erheben wollte, fo durfte er ihr nur eine Morgengabe beftellen, fo 
Tag, wie wir aus den longobardiſchen Befegen erfehen, darin felbft eine 
ftiufchweigende Sreilaffung, und bie Frau war fomit ipso jure feine ge: 
fegmäßige Gattin; wollte er aber eine fremde Leibeigene heicathen, fo 
mußte er fie erſt von ihrem Herrn frei kaufen. Strenger war das alte 


R —— 


: 682 Leibeigenfchaft. 


Recht, wenn fi ein unfreier Dann mit einer freien Frau verband: 
die Ehre ber freien Familie galt dadurch fo fehr gekraͤnkt, daß man 
ihe bei mandyen beutfhen Stämmen, wie 3. B. bei den Longobarden, 
erlaubte, den Sklaven und das Mädchen zu tödten, ober, wenn fie le 
teres nicht tödten mollten, als Sklavin außerhalb Landes zu verkaufen. 
Bei den Franken ftellte man den SHaven und bas Mädchen in einen 
Ring (d. h. Kreis, vor Gericht), und ließ die Letztere zwiſchen Schwert 
und Kunkel ( Spindel) wählen: mählte fie das erſtere, fo wurde ber 
Leibeigene, als der Entführung ſchuldig, ſogleich hingerichtet, wählte 
fie die Spindel, fo blieb fie feine Grau, wurde aber zu ihm in bie 
Unfreiheit binabgeftoßen. Auffallend milder find hier die Rechtsbuͤcher 
aus dem 13. Jahrhundert, namentlidy der Sachfenfpiegel: denn nad 
diefem verliert die freie Frau durch Verheirathung mit einem umfreien 
Manne ihre Freiheit nicht ganz, fondern tritt nur in ihres Mannes 
Recht herunter, fo lange die Ehe dauert, weil der Mann mährend bie 
fer Zeit ihe Vogt (Ehevogt) iſt; mit feinem Tode gewinnt fie jedoch 
ihe Recht als freie Frau wieder. Daß jedoch mandymal gemeine freie 
Leute Sein Bedenken trugen, ſich mit einer unfreien Stau zu verheira: 
then und ſich hierdurch felbft in die Hörigkeit zu begeben, erklaͤrt ſich 
wohl daraus, daß eine ſolche Heirath nicht felten die Gelegenheit ver 
fhaffte, mit dem unfreien Mädchen, unter Zuflimmung des Leibheren, 
deren väterlichen Hof zu erheirathen, und darauf geht auch zunaͤchft 
der Sinn der Parömie: ,‚trittft du mein Huhn, fo wirft du mein 
Hahn.” Außer ben bisher erwähnten Entflehbungsgründen der Leibei⸗ 
genfhaft gab es endlich particularcechtlidh aud) noch einen andern, naͤm⸗ 
li die Verjährung; und wo dieſes Verhältnig Statt fand, bezeichnete 
man das Land als ein ſolches, wo bie Luft eigen made. Diefer Ber 
jährung waren die Vagabunden (fogenannte Wildfänge, MWinbflügel, 
oder Bachſtelzen) untertoorfen, welche fi) ohne Auctorifation Jahr und 
Tag in dem Zerritorium herumgettieben hatten. Diefe Verjährung 
kommt baher auch unter dem Namen Wildfangsredht vor und wurde 
insbefondere von dem Pfalzgrafen bei Rhein (der baher auch Rhein 
und Wildgraf hieß) fowohl in feinem, als dem Territorium einiger be 
nachbarten Fuͤrſten in Anſpruch genommen. 

Die Laſten, denen der Leibeigene in den letzten Zeiten vor der Aufloͤſung 
des deutſchen Reiches unterworfen zu ſein pflegte, waren 1) Frohndienſte — 
buchſtaͤblich Herrendienſte (von fron, frono, der Herr), welche entweder ge⸗ 
meſſene, d. h. der Qualitaͤt und Quantitaͤt nach beſtimmte, oder ungemeſſene, 
d. h. unbeſtimmte, von dem Deren beliebig zu verlangende Dienſte wa- 
ren. Manchmal waren dieſe Dienſte ſogar fuͤr den Herrn ohne reellen 
Nutzen, wie z. B. das mitunter vorkommende Froͤſcheſtillen, was 
darin beſtand, daß die hoͤrige Bauerſchaft jaͤhrlich in der erſten Nacht, 
welche die Herrſchaft auf dem Lande zubrachte, ſich vor dem Schloſſe 
verſammeln und mit Stecken in den Schloßteich oder Graben ſchlagen 
mußte, um bie Froͤſche zum Schweigen zu bringen. 2) Der Dienft: 
zwang, d. h. das Recht, zu verlangen, daß die Kinder des Leibeigenen, 





Leibeigenfchaft 683 


bevor fie fich weiter verdingten, ihre Dienfte (jeboch nicht nothwendig 
unentgeltlih) auf bem Herrenhofe anboten. Damit hing 3) das Recht 
zufammen, die Standeswahl des Leibeigenen zu befchränken, damit er 
nicht dadurch ein Mittel finde, fich der Gewalt des Leibheren zu ent: 
ziehen. 4) Zu gleihem Zwecke hatte der Herr das Satz⸗ oder Beſa⸗ 
hungsrecht (quasi vindicatio hominis proprii), d. h. eine Klage zur 
Abforderung und auf Auslieferung eines Leibeigenen, ber ſich ohne Er: 
Laubniß feines Heren in eine Stadt Behufs der Niederlaffung oder in 
den Erbſchutz eines anderen Deren begeben hatte. 5) Ganz aus glei» 
cher Rüdfiht war der Here auch befugt, von dem Leibeigenen einen 
Erbeid zu fordern. 6) Abgefehen von den Laften, welche von dem 
Bute entrichtet werden mußten, war der Zeibeigene gewöhnlich gehals 
ten, einen Leibs oder Kopfzine zu bezahlen. Ferner mußte 7) für die 
Erlaubniß zur Heirat meiftend eine Abgabe, maritagium, Bauzins, 
Bunzengrofhen, Nagelgeld u. f. w., fo mie 8) fortwährend ber ſchon 
früher ertwähnte Sterbfall, mortuarium, Befthaupt, auch Baulebung, 


Todtenzoll, todte Hand, Todfall, Beſttheil, Buttheil, Kuͤrrecht, Kürs 


mede, Kuͤrpferd genannt, oder eine Ervitella entrichtet werden; und 
eben fo blieb 9) das Zuͤchtigungsrecht bes Herrn in praktiſcher Uebung. 
Mitunter behauptete 10) der Leibherr auch ein unbedingtes Abäußes 
tungsrecht, d. h. das Recht, ben Leibeigenen von dem Gute, welches 
er inne hatte und welches unter ſolchen Verhältniffen insbefondere Leibs 
flätte genannt wurde (welcher Ausbrud übrigens auch ein Lebenslängs 
lich verliehenes Gut bezeichnen Bann), beliebig zu vertreiben und zu ent 
fesen. — Das fogenannte Recht der erfien Nacht und das Bauchrecht, 
welches lebtere in ber Befugniß des Herrn beftanden haben fol, auf 
der Jagd dem Leibeigenen mit dem Jagdmeſſer den Bauch aufzureißen, 
um feine Hände darin zu wärmen, gehören, wo nicht zu fabelhaften 
Uebertreibungen, doch nur zu ben ſchaͤndlichſten Mißbräuchen, welche we: 
nigftens in Deutfchland nie auf ben Namen eines Rechtes Anſpruch hatten. 

Die urſpruͤngliche Beendigungsart der Leibeigenfchaft war bie 
Sreilaffung, welche ſchon in den Älteften Zeiten unter verfchiebenen For⸗ 
men Statt fand. Die feierlichfte, Acht germanifhe Art war die Wehr: 
haftmachung in der Volksgemeinde (garathing, woͤrtlich Waffengericht, 
auch manumissio per sagittam); doc; genügte auch bie einfache Er⸗ 
klaͤrung des Herrn, und ſelbſt Urkunden waren nur bes Beweiſes wegen 
dabei gebraͤuchlich. Für die Freilaſſung mußte mitunter ein befonderes 
Laßgeld, Iytrum, litimonium, ‚bezahlt werben, welches urfprünglic) 
wahrfcheinlic, dem Wehrgelde bes Unfreien gleich fland, fpdter aber oft, 
wie 3. 3. bei der meiter oben erwähnten manumissio per impans, in 
ein Scheinpretium übergegangen war, indem ber Unfreie dem Herrn 
einen Denar anbieten mußte, welchen bdiefer ihm veraͤchtlich aus der 
Hand ſchlug (jactus denarii). Daß außer ber freiwilligen Manumifs 
fion fhon in dem 13. Jahrhundert eine gezwungene Sreilaffung vor⸗ 
kam, d. h. durch das Gericht erfannt wurde, wenn ber Herr den Uns 
freien graufam behandelte, oder fich feiner in bedrängten Verhältnifien 


684 Leibrenten. Leichenhaͤuſer. 


nicht annahm, iſt bereits erwaͤhnt worden. In der ſpaͤteren Zeit er⸗ 
kannte man den Herrn auch dann für verpflichtet zur Freilafſung, wenn 
der Leibeigene eine Gelegenheit fand, fein Unterfommen als freier Dann 
zu finden, und fein Herr keinen gerechten Grund der Weigerung vorbrin⸗ 
gen konnte. Undankbarkeit, felbft wenn fie fih auch nur duch ein 
rohes, beleidigendes Betragen bes Freigelaffenen gegen feinen Herrn dus 
ßerte, gab aber Letzterem (nach dem Schwabenfpiegel c. 58) das Recht, 
ben Sreigelaffenen wieder in bie Unfreiheit zurüdzuziehen. Eine andere 
Art der Beendigung der Gewalt des Leibherrn lag in der Verjaͤhrung. 
Schon in den Äfteften Zeiten findet man, daß der Aufenthalt in eine 
Stadt, wenn er ununterbrochen Jahr und Tag gedauert. und Leine 
Reclamation von Seiten des Deren während biefer Zeit Statt gefunden 
hatte, die Sreiheit gab. In der fpdtern Zeit erfannte man überhaupt, 
mit Hereinziehung roͤmiſch-rechtlicher Begriffe, eine erwerbende Verjaͤh⸗ 
rung der Steiheit an. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun⸗ 
derts begann endlich die Humanität ben Sieg zu erringen. Die Ge 
feggebungen ber einzelnen beutichen Staaten fingen nad) und nach an, 
das Bebürfnig einer Reformation der bäuerlichen Verhältniffe von Grund 
aus einzufehen und Hand an das Werk zu legen, um ein Verhaͤltniß 
auszutilgen, welches man fich bereits ſchaͤmte, unter den Rechtsinſtitu⸗ 
ten aufzuführen. Unter ben Kürften, welche zuerft mit ber Aufhebung 
der Leibeigenſchaft vorangingen und ben übrigen Regierungen dadurch 
ein eben fo ruhmmürdiges, ale unaufhaltfam zur Nachfolge zwingendes 
Beifpiel gaben, ftehen die gefeierten Namen Friedrich II. von Pre 
Ben, Kaiſer Joſeph I. und Kart Friedrich von Baden obenan. 
3 
Leibrenten f. VBerforgungsanftalten. | 
Leichenhäufer, Leihenfhau. — Der Körper eines Dahin- 
gefchiedenen ift für die Staatsgefellfhaft in doppelter Beziehung ein 
wichtiger Gegenſtand, theild weil diefe noch Verpflichtungen für bie 
aus ihrer Mitte tretenden Mitglieder hat, und zum Xheil, weil bie Lei: 
hen Urfache und Merkmal des Verberbens für die Lebenden fein koͤn⸗ 


nen. Es ſtellt daher der Staat der Medicinalpolizei die zweifache Auf 


gabe: für jeden, dem Anſcheine nad) tobten Körper, in welchem noch 
irgend ein Lebensfunke fein kann, die Maßregeln zu ergreifen, damit 
diefer Hürflofefte unter allen Menfhen vor Verlegung geſchuͤtzt werde, 
und anderfeits bie Vorkehrungen zu treffen, die das Wohl ber Le 
benden erfordert. Die legte Bitte, die ber ohne fürforgende Theilnahme 
aus der Gefellfichaft der Lebenden fcheibende Menſch an die Medicinal⸗ 
polizei ſtellt, ift die, zu verhüten, daß er nicht lebendig begraben werde, 
und der im Vereine ber Lebenden Bleibende verlangt von ihr, daß fie 
ihm vor den Krankheitsurfachen, die von den todten Körpern ausftrömen 
(Faͤulniß und Anftedungsftoff), fhüge, fo wie er auch wünfchen muß, 
daß in den Leichen ſtets derjenige Grund des Todes aufgefunden werde, 
der vielleicht noch fortwirkend die uͤbrig Gebliebenen bedroht, wie z. B. 
der Mord und die anfledende Krankheit, die man im Berborgenen zu 


Leichenhäufer. 685 


balten gefucht hatte. Zur Erreichung dieſer Zwecke bienen vorzüglich 
zwei Mittel: die Leichenſchau und das Leichenhaus. 

Die Leihenfhau iſt zur Erfülung der zuerft bezeichneten Auf: 
gabe der Medicinalpolizei eine unerläßliche Maßregel, denn immer, wenn 
auch die Läiche in einem Zodtenhaufe lag, kommt es auf bie Beurthei⸗ 
lung an, ob ber Tod wirklich eingetreten fei oder nicht, wenn ein Koͤr⸗ 
per zur Erde beftattet werden fol. Es ift dieſe Beurtheilung keinen 
Schwierigkeiten unterworfen, denn es gibt nur ein ficheres Zeichen der 
entſchwundenen Lebenskräfte: die Faͤulniß; mas daraus hervorgeht, daß 
es unzmeifelhafte Zuftände gibt, in welchen die Lebenskraͤfte zwar vor: 
banden find, aber kein einziger Lebensproceß, felbft nicht in dem un: 
merktichften Grade, wirklich vor ſich gebt, und alfo weder Zeichen ber 
Mustelreizbarkeit, noch der Entwidelung thierifcher Wärme im Innern 
des Körpers, noch irgend andere Erſcheinungen vorhanden find, welche 
man als Erkennungsmerkmale des Lebens aufftelen könnte (wie biefes 
3.3. bei dem befruchteten, aber nicht bebräteten Hühnerei der Fall ift, 
in welchem die Kebensträfte zwar vorhanden find, aber volllommen ru: 
ben, bis fie durch die auf fie angebrachte Wärme ihre Wirkfamkeit zu 


äußern in den Stand gefegt werden). Demnach, und da die Faͤulniß 


fich Leicht durch die Mißfärbung und den faulen Geruch erkennen Läßt, 
“ find nicht fowohl Kennmiffe als Sewiffenhaftigkeit die Haupteigenfchaft 
bes Leichenfchauers, und man ziehe daher bei der Wahl eines ſolchen ei: 
nen zuverläffigen und von ber Einwohnerfhaft möglihft unab⸗ 
hängigen Mann, wenn er aud nicht Arzt oder Chirurg fein follte, 
einem Mitbewerber aus dem Ärztlihen Stande vor, wenn etwa 
diefem bie erwähnten Eigenſchaften abgehen follten. — Biel würbe 
die Leihenfchau an Zuverläffigkeit gewinnen, wenn außer dem be: 
zahlten Leichenfchauer ein achtbarer Mann den Leihenfchaufchein (in 
weichen bie unzmweifelhaften Zeichen der Verweſung aufgenommen fein 
müßten), nach vorheriger Befichtigung des Todten, als Zeuge unter 
fohreiben müßte. Dem Pfarrer des Orts koͤnnte zur Pflicht gemacht 
‚werden, nicht eher die Beerdigung vorzunehmen, als r fi durch 
Ruͤckſprache mit jenem Zeugen von ber gewiſſenhaft vorgenommenen 
Leichenſchau überzeugt bätte- — Durch den Leichenſchauer wird die Zeit 
beftimmt, in welcher ein tobter Körper zur Erde beftattet werden darf. 
Um übrigens außer dem Urtheile bes Reichenfchauer® noch eine weitere 
Verfiherung zu haben, daß nicht vor dem wirklichen Eintritt des To⸗ 
bes beerdigt werde, ift zugleich in ben meiften Staaten eine Zeit feſt⸗ 
gefeßt, vor welcher die Beftattung der Leiche nicht erlaubt werden foll, 
und eine Ausnahme wird nur in dringenden Fallen, bei fchnell eintre: 
tender Faͤulniß und bei vorhandenen peftartigen Anitedungsftoffen,, auf 
ausdrüdliches Verlangen der Aerzte, geftattet. Die gebildeteren Natio- 


nen der Vorzeit waren bierin fehr vorfichtig, mehr ale wir es jetzt find; 


indem 3. B. Lykurg die Zodtenbellagung, vor deren Beendigung Nie: 
mand begraben werben durfte, auf eilf Tage feftfegte, und in ben Ges 
fegen der zwoͤlf Zafeln die Beerdigung vor dem neunten Tage verboten 





686 Leihenhäufer. 


war. Es bringt aber eine zu lange Verzögerung dee Hinweofchaffung 
der Leichen den Lebenden leicht Gefahr, und wenn wir berüdfichtigen, 
daß nur in feltenen Ausnahmen nad, 48 Stunden noch keine Spuren 
von Fäulni zu erfennen find, und daß bei einer gut ausgeführten Lel⸗ 
henfhau ohnehin die Beerdigung vor dem Eintritt der Faͤulniß nicht 
Statt finden kann, fo möchte eine Verlängerung des von dem Staate zu 
beftimmenden Zeltmaßes über zwei Tage hinaus doch kaum als gerecht⸗ 
fertigt erfcheinen. 

Außer dem fo eben bezeichneten Zwecke ſucht der Staat durch bie 
Leichenſchau noch mehrere Abfichten zu erreichen: ee fucht zu verhindern, 
daß die Leiche nicht dircch zu lange Aufbewahrung nachtheilig für bie 
Lebenden werde; er benutzt fie zur Entdedung von verheimlichten Krank 
beiten, von gemwaltfamer Toͤdtung und von mebichnifchen Pfufcherelen 
und zur näheren Ergruͤndung epibemifcher und endemifcher Krankheiten. 
Um biefe Zwecke ſaͤmmtlich zu erkeichen, namentlich aber um durch bie 
Leihenfhau zu einer genaueren Kenntniß ber Volkskrankheiten und ih 
rer Urſachen zu gelangen, müßte nun freilich diefelbe in die Hand von 
gebildeten Aerzten gelegt' werben. Es iſt aber dieſes umausführbar, und 
da jenen Zweden zum Theil durch andere Mittel entfprochen werden 
kann, mie namentlich die Kennmiß ber epibemifchen und endemiſchen 
Krankheiten durch die artiftifchen Jahresberichte der Aerzte erlangt wird, 
und bie übrigen theils untergeordneten Werthes find, theils durch dies 
felden Mittel, wie die Verhütung ber Beerdigung von nur fcheinbar 
todten Menfchen, erreicht werben können, fo moͤchte eine in der Weife 
organifirte Leichenſchau, wie oben angedeutet wurbe, genügend fein und 
buch biefelbe die bezeichneten Verpflichtungen des Staates erfüllt 
werden. 

Das Leihenhaus ift gleichermaßen ein wichtiges Unterftügungss 
mittel füc die unbedingte Erreihung des Hauptzweckes ber Leichenfchan, 
als es für die Gefunden ber fiherfte Schirm gegen bie von den Reichen 
ausfließenden Schädlichkeiten iſt. Nur allzu oft macht bie Perfönlichkeit 
ber mit dem Geichäfte beauftragten Perfonen die möglichft vollkommen 
eingerichtete Leichenſchau unzuverläffig, und gar leicht wird dem Drän- 
gen ber Verwandten auf fchnelle Beerdigung nachgegeben; anderſeitt 
iſt es aber bei gewiſſen Verhältniffen auch Pflicht für die Lebenden, den 
Zodten fo fchnell wie möglich zu entfernen. In biefen Fällen dient 
die Lelhenhalle als Zufluchtsftätte für den aus dem Kreife ber Lebens 
den ausgefloßenen Menſchen, indem er hier ungefhört ruhen kann, biß 
die Natur über fein Schickſal durch unzweideutige Zeichen ſich ausge 
fprochen hat; dem Lebenden dient aber das Leichenhaus, um fich vor 
den an den Leihen haftenden Anftedungsftoffen und andern krankhaf⸗ 
ten Materien, fo wie vor den Dünften der Faͤulniß zu ſchuͤtzen, die oft 
lange vor der gewöhnlichen Beerdigungszeit ſchon in hohem Grade fid 
einftellt. — Diefe einleuchtenden Vortheile haben nunmehr den Werth 
ber Leichenhäufer zur allgemeinen Anerkennung gebradht, wenn auch 
gleich ihre Errichtung noch verhältnigmäßig wenig zur Ausführung ges 


‘ 





Leichenhäufer. 687 


kommen iſt. Schon I. P. Frank ſchlug die Errichtung von Todten⸗ 
haͤuſern in allen Staͤdten und Doͤrfern und in jedem Quartier der groͤ⸗ 
ßeren Städte vor; auf Hufeland's Anregung wurde 1792 eine voll⸗ 
ftändige Leichenhalle zu Welmar erbaut, und nach und nach wurden bis 
jest, fo viel es bekannt wurde, in Deutfchland zu Berlin, Mainz, 
Breslau, München, Frankfurt a. M., Rudolſtadt, Schleitz, Paderborn, 
Dresden, Bamberg, Würzburg, Augsburg, Hamburg, Leipzig, Gotha, 
Eiſenach, Wefel, Nauen, Ulm, Biberach, Heilbronn, Karlsruhe, Fulda 
und Stuttgart mehr ober weniger vollftändige Einrichtungen der Art 
gegründet. Diefe Leichenhäufer beftehen in einigen größeren und Feines 
ren Hallen für die Leichen, einem Zimmer für ben Wärter und einer 
Küche, und find mit Betten und allen Vorrichtungen verfehen, die in 
dee Hülfeleiftung bei einem vorhandenen Scheintode nothwendig werben 
koͤnnen. Die Leichen find mit leicht beweglichen Glockenzuͤgen oder einem 
Wedapparate in Verbindung gefebt, fo baß das leichtefte Zuden von 
einem Singer oder einer Zehe ſchon bie Gehörnerven des Waͤrters bes 
rührt und durch numerirte Perpenbikel, deren Zahlen mit denen ber 
Geſtelle für die Särge übereinflimmen, wird zugleich, wenn ſich einer 
berfelben bewegt,, nachgewiefen, in welcher der vorhandenen Leichen eine 
Megung bes Lebens Statt gefunden babe. — Diefe Einrichtungen find 
hoͤchſt loͤblich, doch find fie für die Hauptzwecke ber Leihenhäufer (Si⸗ 
cherung vor dem Lebendigbegrabenwerden und Verhütung dee ſchaͤdlichen 
Einflüffe der todten Körper auf bie Gefunden) in ber That entbehrlich, 
‚und e6 liegt anberfeits keineswegs in der Verpflichtung bes Staa⸗ 
tes und ber Ortsgemeinden, jebem letzten Zuden bes Lebens nachzu⸗ 
fpüren, und bie ohnehin meiflens ſchon verfchwendete drztliche Kunſt 
noch einmal in Thätigkeit zu feßen. Auch find bis jetzt Leine Beiſpiele 
bekannt gemacht worden, daß durch diefe Einrichtung wirklich ein Men⸗ 
fhenleben gerettet worden iſt. — Da nun in dem gegebenen Falle, 
wie bie Erfahrung lehrt, der beftänbige Hinblid auf das. entferntere 
und nicht erreichbare Beſſere das Hinderniß für die Erreichung des nahe 
liegenden Guten geworden ift (wie anderfeit® oft da6 Gute uns 
abhaͤlt, nach dem Beſſeren zu ſtreben), fo wollen wir, den großen und 
reihen Städten die Errichtung fchön gebauter Leichenhallen mit ihren 
mannigfaltign Apparaten überlafiend, darauf bedacht fein, für jebes 
Gtädtchen und jedes Dorf nur eine geräumige Kammer für die Leichen 
zu acquiriven, wie ja auch ſchon eine Öfterreichifche Verordnung vom Jahre 
1771 die Errichtung einer Todtenkammer bei jeder Kirche befohlen hat. 
— Diefe Kammer (nebft einer Kammer für den Wärter) koͤnnte ent: 
weder in einem auf dem Gottesader zu erbauenden und nur aus bes 
gelmänden beftehenden Häuschen oder in irgend einem etwas von den 
übrigen Häufern entfernt liegenden Locale in der Stadt oder dem Dorfe 
feibft eingerichtet werden. Ein fländiger Wärter iſt wenigſtens in ben 
Heineren Gemeinden nicht nothwendig, ſondern es genügt, den Anver: 
wandten die Bewachung ber Leiche zu überlaffen, und wenn biefe in 
dem Sterbehaufe ſchon einige Zeit lag, ift es felbft Hinreichend, nur ef: 





688 Leihcontract. 


nige Male des Tages und in der Nacht nach derſelben ſehen zu laſſen. 
Heizung des Locales ift nur in ganz firengen Wintertagen nothwenbig; 
fonft genügt es, die Leiche mit einer warmen Dede zu verfehen. — 
Die Beerdigung tritt endlich ein, wenn bie Leihenfhau das Workans 
denfein der Faͤulniß anerkannt hat. B.r 


‚Leihbceontract (Eommodat). — Im täglichen Verkehr fpeicht 
man zuweilen die Gefälligkeit eines Sreundes, eines Bekannten, Rade 
barn u. f. w. durch die Bitte um UWeberlaffung (Leihen) eines Beſi⸗ 
thums deffelben zur vorübergehenden Benusung beflimmter Art am. 
Wird diefem Anfprechen willfahrt, fo entfteht dadurch ein 6 
Vertragsverhältnig, wird dadurch ein Leihbcontract (Commodat) ab 
geſchloſſen, melcher in der Hingabe eines beftimmten Segenftandes zum 
unentgeltlihen, aber beftimmten Gebraudye mit dem Beding der Zuräd: 
gabe deffelben individuellen Object an ben Leihenden (Commodanten) 
zu Stande fommt!). Dadurch, daB der Gebrauch ohne Rüdficht auf 
einen dieſer Einrdumung entfprechenden Wortheil des Leihenden gewaͤhrt 
wird?) , unterfcheidet ſich biefe Uebereinkunft Wn dem Mieth⸗ ober 
Pachtcontract (f. „Miethe” und „Pacht“), woburd ſich ber Empfaͤn 
ger zu Gegenleiftungen zum finanziellen Vortheil des Gebenden ver 
bindlich macht. Dadurch, daß der Empfänger (Entichner, Commoda⸗ 
tor) fich verbindlich madıt, gerabe das, was ihm gegeben wurde, in 
Natur zurüczugeben, erfcheint bie Uebereinkunft als Gegenfag bes Dar: 
lehns (Mutuum), weil defim Gegenftand in einem Object, Gelb, 
Frucht u. ſ. w., beiteht, das nur in Art und Güte dem durch das 
Darlehn Empfangenen gleichſteht. — Der Commobator iſt verpflichtet, 
das ihm Geliehene (welches Mobiliar oder Immobiliar fein Tann) ins 
nechalb ber Grenzen bes Zwecks deffelben und der Abficht, im welcher 
es erbeten und hingegeben wurde, zu benugen, und nad) gemadtem 
Gebrauche dem Commodanten (oder bdeffen Erben) wiederzuzuſtellen, 
denfelben auch, wenn das Entliehene durch feine, auch nur entfernte 
Schuld Schaden erlitten bat oder zu Grunde gegangen ift, zu ent 
Thädigen. (Dat der Zufall den Schaden ober Untergang herbeigeführt, 
fo faͤllt dieſe Verbindlichkeit weg, weil es Rechtsgrundſatz iſt, daß der 
Eigenthümer den Zufall tragen muß.) Dagegen iſt ber Commobatot 





1) Politz, die Staatswiffenfchaften im Lichte unferer Belt. Thl. 1. 
Leipz. 1823. 8. 35: „Der Leihdarlehnss und Pfandvertrag.” &. 99-101. 
Mühlenbrud, Lehrbuch des Pandektenrechts. Zweite Auflage. Thl. 2. 
Halle, 1338, &. 348. 349. Allgemeine Rechtslehre nach Kant. Zu Worlefuns 
gen von Römer. Landshut, 1801. ©. 47. 


2) Ein befonderes Beifpiel von Gewährung eines ſolchen KBortheits 
durch das Leihen eines Gegenflandes dffentiihen Eigenthums ift das Hin- 
geben von Büchern einer öffentlihen Bibliothel. Weber, Handbuch der 
Staatswirthihaft. Band 1. Abthl. 2. Berlin, 1805, ©. 572. Derfelbe, 
Lehrbuch der politifchen Dekonomie, Band 2. Breslau, 1813. ©. 226. | 





Leihcontract. 6so 


befugt, Erſat der zum Beſten des Entliehenen nothwendigen Ausla⸗ 
gen und, wenn der Commodant argliſtig und ſchuldvoll handelte, z. B. 
wenn er dem Commodator die gefährlichen oder —B Eigenſchaf⸗ 
ten des Geliehenen verfchwieg?), von demſelben Erſatz des dadurch 
erlittenen Schadens zu verlangen, und das Entllehene fo lange zu⸗ 
ruͤckzuhalten, bis ihm Auslage und Schaden erſetzt iſt. 

Die deutſchen Rechtsbuͤcher weichen von’ dieſen Grundſaͤtzen bes 
gemeinen (tömifchen) Rechts im Ganzen nicht ab. Eine Eigenthuͤm⸗ 
lichkeit des Sachfenfpiegels ift die Beſtimmung, daß der Commo⸗ 
dator auch den durch Zufall entflandmen Schaden tragen muß. Die 
Statutenrechte haben aus der Quelle bes bereitd zu Anſehen gelommes 
nen oder bereits eingedrungenen römifchen Rechts gefchöpft und fich 
bemfelben faſt ohne alle Modiſtcatien angeſchloſſen “. — Solmfiſches 
Landrecht Th. 1. Tit. 3: „Vom Leyhen anderer beweglichen ding 
und haab, ſo auch vergeblich (unentgeltlich) geſchieht“*). — Naſſau⸗ 
Gagenelnbogifche Landordnung, Cap. 10: „Vom Leihen derer Dinge, 
welche einem zu einem gewiffen Gebrauch und ohne Entgelt geliehen 
worden”). — Landrecht der Rheinpfalz Th. 1. Tit. 3: „Won ber 
andern Art des Leihens, Commodatum genannt”?). — Stadtrecht 
von Wimpfen Th. 3. Tit. 11: „Von bem Leyhen und Entiehnen eis 
ner Sache zum eäglichen Gebrauch“8). —' Badiſches Landrecht v. 3. 
1622 Th. 4. Tit. 4: „Vom Leyhen, ſo vergebens geſchieht, zu ge⸗ 
wiſſem nothwendigem gebrauch ꝛc.“ Wuͤrtembergiſches Landrecht Th. 2. 
Tit. 2 9). Von den Civilgefegbüchern der Neuzeit gilt das Gleiche. 
Preußiſches Landrecht Th. 1. Tit. 21: „Von dem Rechte zum Ge⸗ 
brauch oder Nutzung fremden Eigenthums.“ Abſchnitt 3: „Von dem 
eingeſchraͤnkten Gebrauchs⸗ und Nutzungsrechte fremder Sachen“ (S. 217 
—650) $. 229—257, mo, nach der Natur dieſer Geſetzgebung, uns 
ter Erſchoͤpfung der Gafuiftit vom „Leihvertrag“ gehandelt wird 19). 
Deſterreichiſches Civilgeſetbuch $. 1 -982: „Von dem Leihvertrage“ 11), 


8) Beifpielsweile fagt bas pfälzifche Landrecht: „So einer einem andern 
ſchadhafte Gefäße oder Geſchirre als unſchadhaft und nüglich mit gutem Wiſ⸗ 
fen liebe, dadurch dem Entlehner fein Wein ober anberes verbürbe, ift ber 
Leiher en Schaden ihm gut zu thun ſchuldi 
unde, @runbfäne I bes gemeinen —R8 Privatrechts. 6. Ausg. 

anne, nd: "Re dmer, Bandbud des rheiniſhen 9 6 
on ber — mer, anbbu es rheinifchen Particularrechts. 
Band 1. Frankf., 1831. ©. 4— 

Bon der Kabmer a. . "©. S. 167-169. 

Bonder Nahmer a. a. O. ©. 412—415. 

8) Bon der Nahmer a a D. ©. 1130. 1131. 

9) meiehaaz, Sanbbuch des würtembergifchen Privatredt. Dritte 
"Ausgabe. Thl. 3. Stuttg., 1833. $. 1044—1047, & 4749, Nah Thos 
mas, Syſtem der fulbaifchen Privatrecdhte. Th ei 8. Fulda, 1790, $. 500: 
„Kom Leihvertrage“ ſchweigt diefes —ãe— en in biefem Bertra e. 

10) Allgemeines Landrecht fuͤr die pigen ta Etacten. Reue Ausgabe. 
er lei * et frreidifhen 9 Priatrechts. Thl. 2 

eidlein, Handbuch des oͤſterr en rivatre 
Bin, 1814. ©. 41 oe d 
Staats⸗ Lexikon. IX 44 





690 xeihcontract. — Beipgig (Schlacht bei). 


— Code Napoleon, Bud 3. Tit. 10. Cap. 1: „Du pret & usage, 
ou Commodat. Art. 1875—1891, ein Geſetzbuch, welches am Meiſten 
vom roͤmiſchen Recht abweicht, indem es 3. B. dem Entlehner bas 
Metentionsrecht nicht einräumt und ihn nad Umfländen, 3. B. wenn 
das Entliehene bei ber Verleihung gefchäst wurde, den Verluſt, der 
durch Zufall herbeigeführt wurde, tragen laͤßt. 12) ‘ Bopp. 

Leihbankund Leihhaus, f. Creditanſtalten. 

Leipzig (Schlacht bei). — Dreimal wird Leipzig In ben I 
nalen ber beutfchen Kriegsgefchichte genannt. Das erſte Deal unterm 
7. September 1631; Tilly verlor da Schlacht und Ruhm as 
ben großen Schwedenkoͤnig Buftav Adolph. Eilf Sabre fpäter, am 
2. November 1642, fchlug bei Leipzig Torſtenſon die Laiferlichsfächft: 
fhen Truppen unter dem — Leopold Wilhelm und Piccolo⸗ 
mini. Die dritte Schlacht bei Leipzig (und zwar diejenige, von welcher 
ausführlicher hier geredet werden ſoll) iſt die große gewaltige Voͤlker⸗ 
Tracht vom 16. bis 19. October 1813. Nicht bios den Verhaͤltniſſen 
Deutfhlands, wie bie erfte der genannten Schlachten (die zweite 
war ohnedie® unbedeutend), brachte fie eine neue Geſtaltung, fondern 
zugleich den VBerhälniffen Europas und der Welt. Ausdehnung, 
Maffe der Streitkräfte und Dauer des Kampfes waren eben fo ausge 
zeichnet dabei, al6 Ruhm ber Führer, Glanz der Kronen, Senke, Be 
geifterung, Muth und Unglüd. Die Flammenzeihen find verdfcht, 
welche noch einige Jahre nad) der Schlacht ihr Begebniß und ihren 
Werth dem deutſchen Volke in feurigen Zügen befchrieben; man hat 
ben Mantel ber Vergeſſenheit über jene Tage zu werfen gefudt, und 
mißmuthig frage fi der Patrlot: Ob denn bie Folgen alle eingefreten 
feien, welche er an bie Leipziger Schlacht zu knuͤpfen berechtigt war? 
Aber trotz dem bleibt bie meltgefchichtliche, die deutſch⸗ vatertlaͤndiſche 
Bedeutung ber gewaltigen Schlacht. Nichts Schmachvolleres für ein 
Volt, als Auswärtigen gehorchen zu müjlen; nichts Bedenklicheres für 
ein Volk, als die Gefährdung feiner Nationalität. Deshalb: denn auch 
die ungeheure Bogenfpannung, bie ed, wenn gleih nur allmdlig aufs 
gefchraubt, alsdann entwidelt. Schlachten, wie die im Xeutoburger 
Walde und die bei Leipzig, flehen iſolirt In der MWeltgefchichte, gleich 
ihren Anläffen. Erſt nad) ber Leipziger Schlacht war kein Zweifel 
mehr über die gebrochene Macht Napoleon's und die Freiwerdung 
Deutfchlands nach Außen. Erſt nach ber Leipziger Schlacht rollte bad 
Band aufgelöft und zerftücelt nad dem Rheine bin, das Band, wel⸗ 
ches, mit Verachtung ber Völker: und Menfcheninbivibualitäten, fid 
um ben größten Zheil von Europa gefchlungen hatte. Erſt nach dr 
Leipziger Schlacht hatte bie Freiheit in ganz Europa wieder Ausfichten 
auf Erfolge. Wie der Fall Robespierre's und feines Schweifes die Re 
volution beendigt hatte, fo bie Leipziger Schlacht den militärifchen Zen 
torismus des modernen Frankreichs, die abfolute Appellation an's Ka 


12) Vergl. Discussions du Code civil dans le opmseil d'état, par Jonan- 
heau et Solon. Par., 1805, Tom. II. pag. 607-611. PR 








Leipzig (Schlacht bei). | 691 


nonenmetalf unter trögerifchen und heuchlerifchen Floskeln. Dort war 
der 18. BDrumaire die Nachleſe dazu, und hier der Parifer Frieden. 
Auch weiß das Volk nody von der Leipziger Schlacht. Die Lieber ſin⸗ 
gen noch von ihre. Und wenn gleich weniger mehr in Ruͤckert's und 
Arndts jubelnder, als in Uhland’s kraͤftig klagender Welle: „Wenn 
heut’ ein Geiſt herniederſtiege“, ift ber Finger, welchen der Bott der 
Dichtkunſt, angeregt durch daB große, aber in feinen Folgen theilwelfe 
verfümmerte Ereigniß ber Leipziger Schlacht, nun ſchon Tänger als 
20 Sabre in die Wunden der Gegenwart Iegt- Dabei aber bieibt bie 
Eigenfchaft diefes Fingers, als Deuters der Zukunft, als Verkuͤndigers 
feoherer und freierer Ereignifie, wenn die Menſchen nur wollen, unb 
als Verheißers keimenden Wollens biefee Art unverkennbar. 

Die Yürften des Rheinbundes an ſich zu feffeln, war Napo⸗ 
leon in feiner Stelung bei Dresden geblieben. Als General hatte er 
Darauf gerechnet, die eine oder die andere der drei Armeen, melden er 
die Stirne bieten mußte, zu erbrüden, um hinterher mit den beiden 
übrigen defto Leichtere® Spiel zu haben. Aber feine Rechnung mißlang 
ihm. Denn jeder feiner Hauptgegner fuchte zunaͤchſt das franzoͤfiſche 
Heer durch, haͤufige beſchwerliche Märfche und einzelne Gefechte zu er- 
müben und zu ſchwaͤchen; eine entfheidende Schlacht fchien ihnen aber 
nur dann annehmbar, wenn überwiegende Streitkräfte und ftrategifche 
Gombinationen einen günfligen Erfolg mit Zuverſicht ertwarten ließen. 
Noch ſchwebte der Zauber des Siegs um Napoleon’ Stine, während 
des Kaifers beſte und erfahrenfte Heerfuͤhrer nach und nach anfehnliche 
Niederlagen erlitten hatten. Man mieb ben Kaifer und untergrub doch 
feine Macht; nicht blos auf Schlachtfeldern, fondern auch durch diplo⸗ 
matifhe Negociationen bei feinen bisherigen Alllirten, durch bie fleie 
gende Unzufriebenheit des Landes, das er mit feinen Heeresmaffen aus⸗ 
fog, und durch bie Geſchwader, die, von Mord und Shd und Oſt, 
ihn in Immer engeren concentrifchen Bewegungen nad und nad ums 
cirkten. Insbeſondere gehörte dahin die alliirte Hauptmacht unterm 
Befehle des Feldmarſchalls Fuͤrſten Schwarzenberg und 120,000 M. 

ſtark. Gie brach in den erflen Tagen bes Dectobers 1813 aus dem 
Lager bei Teplitz auf und rüdte in drei Colonnen in Sacfen ein. 
Saͤmmtliche Armeecorps der Alliierten waren gegen den 12. October bei 
Borna und Pegau verfammelt. 

Dem General Bluͤcher, welcher die fhlefifche Armee führte, hatten 
die alliirten Monarchen überlaffen, nach Umfländen zu handeln. Sr 
hatte am 3. Detober bei MWartenburg die Elbe pafflet, um fich mit der 
Nordarmee unter bem Kronprinzen von Schweden zu vereinigen, welche 
lehtere ihrerfeitd am 4. October bei Roslau und Aken über die Elbe ging. 
In allen feinen Daupteommunicationen bedroht und in Gefahr, bald 
gänzlich eingefchloffen zu werden, fah ſich endlich Napoleon genäthigt, 
am 6. Detober Dresden zu verlaffen und in zwei Golonnen auf beiden 
Ufern der Eibe über Meißen nach Wurzen zurädzugehen. Der König 
von Sachſen, in treuer, wahrhaft vÄterlicher Anpängnatek, folgte ihm. 





693 Leipzig (Schlacht bei). 


In Dresden ſelbſt blieb der Marſchall Goubion &t. Eye mit S0,000 M. 
zur Vertheidigung ber Stabt und der Päfle nach dem Erzgebirge zuräd. 

‚Napoleon hatte gehofft, durch eine fhnelle Bewegung gegen bie 
ſchwediſche und ſchleſiſche Armee biefe wieder auf das rechte Elbufer zu 
werfen. Allein ſowohl der Kronprinz als Bluͤcher wichen durch eine 
Seitenbewegung und Aufſtellung hinter der Saale fuͤr jetzt einer 
Schlacht aus. Noch etwas Anderes beabſichtigte Napoleon, wenn wir 
feinen Worten glauben dürfen. Er mollte durch Wittenberg fein Heer 
über die Eibe führen, auf ihrem rechten Ufer von Hamburg bis Denk 
den manoeuvriren und Magdeburg dabei zum Mittelpuncte feiner Ope 
rationen nehmen. Die Schlacht bei Leipzig waͤre dadurch vermieden 
worden, und ber ganze Krieg hätte — geographifc, wenigſtens — einen 
anderen Gang genommen. Aber Napoleon kam von dieſem Gedanken 
ab — fo verfiherte ee — durch die auf feinem Marfhe in Düben 
erhaltene Nachricht von dem Uebertritte Baierns zu ben Alliirten. Des 
duch war nun diefen bie Straße nach Mainz geöffnet, und Napoleon 
durfte nichts thun, wodurch fie hiervon Gebrauch machen konnten 
Mapoleon wurde oft und bitter getabelt wegen des von ihm fo ungün 
flig, vor Fluͤſſen und zwifhen feindlihen Deerfchaaren gewählten 
Schlachtfeldes bei Leipzig. Ein Theil biefes Tadels würde wegfallen, 
wenn die Wahl keine freie war. Und überhaupt hatte Napoleon jeht 
mehr und mehr mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche ſelbſt das 
Genie niht umfaffend genug zu befiegen vermochte, um am Ende 
der großen Rechnung im Vortheile fich zu befinden. 

Bier Tage vermweilte Napoleon in Düben, wie behauptet mich, 
auf für ihn und fein Heer nachtheilige Weife, oft geſchaͤftlos und in 
tiefe Gedanken verloren. Dann aber wendete er ſich gegen Leipzig, 
wo er am 14. October fein Hauptquartier im Dorfe Reubnig nahm. 
Am nämlihen Tage ließ Graf Wittgenftein durch die Generale Grof 
Pahlen, v. Kleift und v. Klenau eine ſtarke Recognoscirung unter 
nehmen, wobei die alliirten Truppen auf den Höhen von Wachau und 
Liebertwolkwitz mit ben Meitergefhwadern bes Königs von Neapel hart 
zufammenftießen. Beide Orte wurden gegenfeitig mehrere Male genommen 
und wieber verloren; bee König von Meapel beinahe gefangen. Das Ge 
fecht, für beide Theile ehrenvoll, endete Abends 5 Uhr mit einer Ka 
nonade. Feldmarſchall Fuͤrſt Schwarzenberg, über die Stellung dei 
Feindes duch jene Recognoscirung jest hinlänglich unterrichtet, ent 
warf die Dispofition zu einem allgemeinen Angriffe auf ben 16. Ze 
gleich richtete er einen Tagesbefehl an. ſaͤmmtliche Truppen: „Ruſſen! 
Preußen! Deſterreicher!“ hieß es in demfelben, „Ihr kämpft für Gin 
Sache! kaͤmpft für die Freiheit Europas, für die Unabhängigkeit Eure 
Staaten, für die Unfterblichleit Eurer Namen.” „Alle für Einen! 
Jeder für Alle!” war dann als der Ruf bezeichnet, mit bem der bei 
tige Kampf zu eröffnen ſei. Aber auch Napoleon entfaltete nun all 
ihm eigenthümliche Thaͤtigkeit. Er mufterte das Heer unb wies ben 
Felbherren ihre Beſtimmungen an. 


Leipzig (Schlacht bei). 693 


Die franzöftihe Armee, ihren rechten Fluͤgel an das Ufer der 
Pleiße lehnend, dehnte ſich in Geſtalt eines halben Mondes auf den 
fuͤr ſie guͤnſtigen ſanften Anhoͤhen uͤber Doͤlitz, Markkleeberg, Wachau 
und Libertwolkwitz bis Holzhauſen aus; General Bertrand ſtand mit - 
feinem Corps bei Lindenau zue Wahrung der Straße nach Lüsen und 
Erfurt, und Fürft Poniatowski hielt mit ben Seinigen die Pleißeuͤber⸗ 
Hänge bei Connewis, Loͤßnig und Doͤlitz befegt. > 

Die Aufftellung dee alllirten Armee mar unterdeffen ebenfalls vor 
fi) gegangen. Das Corps bes Feldzeugmeiſters Grafen Giulay ftand 
auf dem linken Ufer der Eifter bei Kleinzſchocher, das Corps des Gras 
fen Meerveldt bei Zwenkau, und die Referve, unter dem Erbprinzen 
von Heſſen⸗Homburg, zwifchen ber Pleiße und Eifter bei Zoͤbigker und 
Proͤdel. Auf dem rechten Ufer ber Pleiße, zwifchen Gröbern unb 
Goſſa, waren die Übrigen Zruppen der Hauptarmee, commanbirt vom 
General Barclay de Tolly, in zwei Treffen aufmarſchirt. Die ruffi: 
fhen und preußifchen Garden, zu Fuß und zu Pferd, bildeten bei 
Magdeborn die Meferve. Plan des Fürften Schwarzenberg war: bie 
Seanzofen in drei Colonnen anzugreifen. Die zweite und dritte Co⸗ 
lonne follte bie Franzoſen in der Fronte beichäftigen und dadurch die 

»Bewegung ber erſten, durch welche Mapoleon von Leipzig und alien 
feinen Ruͤckzugspuncten abgefchnitten werben konnte, begünftigen. Ends 
lich war noch das Corps des Generals Giulay beftimmt, Lindenau zu 
nehmen, während der Schlacht in Leipzig einzufallen unb fomit die 
Dernichtumg des Feindes zu vollenden. Viel kam bei Vollführung dies 
fe& Plans darauf an, mie ſich unterbeffen die, Verhättmiffe bei der _ 
chleſiſchen und bei ber Norbarmee geflalten würden. Napoleon hatte 
e bucch feine Bewegungen zum Zweck eines Eibeüberganges getäufcht, 
aber nicht auf lange. Vielmehr nahmen Bluͤcher und der Kronprinz 
von Schweden ihre Richtung nad) Halle, um am 16. October gleich 
falls nad) Leipzig vorzudringen. Außerbem kam es auf noch etwas bei 
Vohführung jene® Planes an: auf eine möglichfle Uebereinflimmung ber 
Angriffsbewegungen der alliirten Truppen, was aber bei einem fo aus⸗ 
gedehnten Terrain und bei der nationellen Verſchiedenheit biefer Trup⸗ 

‚pen kaum zu erwarten war. Napoleon mit feinem Scharfblick, feiner 
blisfchnellen Thaͤtigkelt und mit feinem, obgleich Beineren, aber doch 
großentheiles taktifch trefflich geübten und nur ben einen Körper feis 
ner kriegeriſchen Seele bildenden Heer, galt ba nothwendig als gefährs 
Hiher Gegner. War ihm bie Möglichkeit gegeben, .bie alliirten Armee 
corp6, eine® nach dem andern, anzugreifen, fo hatte er auch bie gewiſſe 
Hoffnung, diefelben zu fchlagen. Nur wohl in biefee Hoffnung unter 
nahm er die Schlacht. Ä 

Es war ein bdüfterer, nebelichtee Tagesanbruch bes 16.; aber noch 
ziemlich früh am Morgen theilten fi die Wolken und die Sonne bes 
fhien den ganzen. Tag hindurch das Schlachtfeld. Um 7 Uhr festen 
fih die Truppen ber Alllirten in Bewegung. Zunaͤchſt gegen Mark 
Beeberg, gegen Wachau und Liebertwolkwitz. Ihren Angriffen feste 





694 Leipzig (Schlacht bei). 


der Feind ben heftigflen Widerſtand entgegen. Um 9 Uhr war be 
Kampf ſchon allgemein, und der Donner einer zahflofen Menge Ge 
ſchuͤzes ſelbſt von den dlteflen Kriegen kaum je fo ſtark und fo unun⸗ 
terbrochen gehört worden. Beide Theile zeigten glänzenden Muth umb 
unerfehütterliche Tapferkeit. Die Abficht, das franzöfifhe Heer zu ums 
geben, wurde durch den Fürften Poniatowski zu nichte gemacht, wel⸗ 
her, allerdings begünftigt durch das Terrain, die Ihm angewieſene Pos 
fitton feftbielt und jedem Webergange ber Allürten über die Pleiße 
wehrte. Kleine Vortheile, von den Alllirten muͤhſam hier errungen, 
gingen ſchnell wieder verloren. Aehnlich bei Lindenau. General Bes 
ttand ward nach harten Kämpfen vom Grafen Giulay aus biefem 
Dorfe gedrängt; aber der Poften war zu wichtig für die Möglichkeit eis 
nes etwaigen Rüdzuges, und fo verfchafften neue ungeheure Anſtten⸗ 
gungen ihn den Franzoſen wieder. Die Mitte der großen Schlacht: 
ordnung hatten bie Ruffen und Preußen unter Wittgenftein und Kiel, 
den rechten Flügel bie Deflerreicher unter Kienqu. Sie nahmen Mark 
leeberg, drangen in Wachau ein und befekten ben Kolmberg bei A⸗ 
bertwoltwis. Die ganze franzoͤſiſche Schlachtlinie wid zuruͤck. Abe 
Napoleon , der bier perfönlich zugegen war, bachte ſchnell baran, bes 
Alliierten die kaum ereungenen Vortheile wieder zu entreißen. Er eb» 
nete einen neuen Angriff, feine Truppen flürzten wuͤthend vor, und 
bie Alllitten mußten die von ihnen genommenen Dörfer verlaffen. Sa, 
noch jenſeits derfelben gewannen die Franzoſen mehrere Anhöhen, er⸗ 
flürmten die Schäferei Auenhain, drangen gegen das Dorf Goffa vor 
und eroberten auf dem dußerften rechten Flügel der Verbuͤndeten bie 
fogenannte Schwedenſchanze. Gelang ben Sranzofen, das Centrum ber 
Alttieten zu durbrechen, fo ſtand Napoleon der Rädmarf nah Dres⸗ 
ben frei, er Eonnte ſich mit den 30,000 M. Gouvion St. CEyr's ver⸗ 
einigen, von der Eibe aus den Oderfeſtungen die Hand bieten unb 
feine Vortheile weiter verfolgen. Wankende oder felbft ſchon abgefallene 
Sreunde wurden dadurch möglicher Weife neu gewonnen. Ein günfli: 
ger Friede fchien nichts Unwahrfcheinliches mehr. Einige Zeilen von 
Napoleon's Hand brachten dem hartenden Könige von Sachſen nad 
Leipzig die Nachricht von dem errungenen Vortheile, und bald ertöns 
ten alle Glocken der Stadt zur Feier biefes Ereigniſſes. Es war 
3 Uhr Mittags. Aber anfehnlidye Verſtaͤrkungen, welche Schwar⸗ 
zenberg den zuruͤckgetriebenen Corps der Alliirten ſandte, entriſſen nicht 
ohne Muͤhe den Franzoſen die von dieſen errungenen Vortheile. Aber 
faſt gleichzeitig drohte dann links von Wachau der Schlachtlinie der Al⸗ 
llirten das Sprengen ihres Centrums. Der König von Neapel naͤm⸗ 
lich hatte ſich an der Spitze feiner Cavallerie dem Dorfe Goſſa gend 
hert. Schon war, in kuͤhnem, ſtuͤrmendem Angriffe, der linke Fluͤgel 
der ruſſiſchen Infanterie von ihm uͤber den Haufen geworfen und die 
ruſſiſche Gardecavalleriediviſion, noch ehe fie ſich formiren konnte, in 
die Flucht geſchlagen worden; 26 Kanonen hatte er genommen. In 
dieſem kritiſchen Augenblicke ſandte Kaiſer Alexander, weicher ſich nebſt 


Leipzig (Schlacht bei). 695 


dem Könige von Preußen in geringer Entfernung davon auf einem 
Hügel befand, das ihm zur Bedeckung dienende bonifche Leibcoſalen⸗ 
vegiment, vom Grafen Orloff befehligt, Murat entgegen. Diefer 
wurde zurüdgedrängt, 24 Kanonen wieder erobert. Die ruffifchen und 
preußifhen Garden, bie öfterreichifche Reſerve, die ruſſiſchen Grena⸗ 
diere gingen nun vor. Wie ein doppelter und dreifacher Riegel ſchuͤtz⸗ 
ten fie das fo bedenklich bedroht getvefene Genttum. Aber die Wage: 
Eraft der Franzoſen ruhte, nicht und nochmals verſuchte Laurifton in 
Goſſa einzubringen. Kräftiger Widerfiand der Preußen und Ruſſen 
‚verhinderte ihn daran. Zu berfelben Zeit hatten auch die Defterreicher 
neh hartem Streit die Schäferei Auenhain wieder erobert. Nach 
10ftändiger biutiger Arbeit flanden auf biefen Theilen des Schlachtfel⸗ 
des die Heere faft wie bei Anbruch des Tages; nur behielten bie Fran⸗ 
sofen auf ihrem linken Fluͤgel bie Schwebenfhanze in ihrer Gewalt, 
wogegen bie Preußen und Defterreicher auf der andern Seite in Beſitz 
der Hälfte des Dorfes Markkleeberg blieben. 

Während nun am 16. October bie böhmifche Hauptarmee im 
Suͤben von Leipzig den blutigen Kampf beftand, hatte Blücher von 
Torben her ſich mit der ſchleſiſchen Armee gegen Leipzig in Bewegung 
geſetzt. Mittags 1 Uhr begannen die Angriffe einzelner ihm untergebes 
nee Corps auf die Franzoſen, welche der Herzog von Raguſa befeh⸗ 
ligte. Diefe zogen fih auf das Dorf Moͤckern zuräd. Es war in 
den möglichft beften Vertheidigungsſtand gefegt worden. Unter einem 
mörderifchen Gefechte zweimal genommen und wieber verlosen, flürms 
ten die Grenadiere der Avantgarde es zum dritten Male, murden aber 
bintee bemfelben von einem fo heftigen Kartätfchenfeuer empfangen, 
daß fie das weitere Wordringen aufgeben mußten. Sranzöfifche Infans 
teriemaſſen unb 70 bis 80 Stud Geſchuͤtz erneuerten ben Angriff auf 
Moͤckern. Die preußifchen Truppen, dem wirkfamften Kartätfchenfeuer 
ausgeſetzt, litten unbefchreiblid. Eine Zeit lang war der Erfolg zweifels 
haft. Aber er entfchieb ſich endlich zu Gunſten der Alliirten. Die 
Franzoſen zogen ſich nah Gohlis zuruͤck. 1 Adler, 2 Fahnen, 68 
Kanonen, eine Menge Munition unb über 2000 Gefangene hatten 
fie in den Händen bes Blücher’fchen Armeecorps zuruͤcklaſſen müffen. 
Aber auch ber Verluſt der Preußen war, in Folge der beftandenen 
mörderifchen Kämpfe, nicht unanfehnlih. Sie hatten an Todten und 
Verwunbeten, 28 Stabsofficiere mit eingefchloffen, 172 Officiere und 
6500 Mann. Das war berjenige Theil ber Schlacht bei Leipzig, 
weicher bei Mödern, dem alten Schlachtfelde zwiſchen Guſtav Adolph 
und Lilly, gefchlagen wurde, weshalb er denn auch in manchen Krieges 
geſchichten „die Schlacht bei Mödern” heißt. Das franzöfifche Bulletin 
über die Schlacht bei Leipzig, obgleich im Uebrigen ſich den Sieg zus 
eignend, hatte doch die bei Mödern erlittenen bedeutenden Nachtheile 
eingeftehen muͤſſen. Aber noch in einer andern, wichtigeren Beziehung 
war ber eben erwähnte Kampf zwifchen Bluͤcher und dem Herzoge von 
Ragufa für das Endergebniß ber großen Voͤlkerſchlacht vom größten 


Mapoleon’s nur 171,000 Bann, 22,000 Mann Gi 
Das Diifliche feiner Lage erfenumd, hatte Rap 


Nacht vom 16. auf den 17. October den am 16. ge 
nen Öflerreichlichen General — auf feh 





Sta hätten 
ende am 17. ſchlagen oder fein Heer —— 
Bas I ben Alisten neue — er 
t dazu zu en geweſen. 
nf. w. Gewiß r4 * Ptapoleon’s ug 
Bleiben in den Umgebungen von Leipzig bei 


Taktik während ber Tage vom 16. bis 19. Deere 


den bat. Wielekdt wolte er and) am 17. nicht. 


ten aber um fo weniger zu eilen, als fie, 
ſchoͤpfung ihres Heeres buch, ben gefltigen Kampf, 


franzoͤfiſ te, bie Ankunft beitten 
ee von Dissten über Grinume erweristen, 
aber nun auch ben Allirten bie. Ankunft ber och 


Dee 17. Detober, ein Gomntag, ing fit. 
Nordſeite von Leiptig wurde bie allgemeine Dluhe umter 


R 








DEE. SE 


Leipyzig (Schlacht bei). 697 


fiſchen Marſchall ernannt, hielt nach wie vor die feſten Pofitionen bei 
Connewitz, zur Wehrung bes Pleißeüberganges, und General Bertrand 
den Paß bei Lindenau. Alles unnüge Fuhrwerk der feanzöfifhen Ar: 
mee jagte ſchon da durch nady Lügen zu. In der Mitte feiner Gars 
ben, bei einer halb zerſtoͤrten Tabaksmuͤhle, unmeit Probſtheida, befand 
fi) Napoleon, um jedem bedrängten Puncte Hülfe fenden und das 
Banze: leiten zu Eönnen. 

Seldmarfchall Fuͤrſt Schwarzenberg hatte bie unter feinen Befehlen 
fiehende,, jest vereinigte Armee der Alliirten in ſedſs Colannen getheilt. 
Die erfte derfelben (Prinz Heffen Homburg) follte gegen Connewitz vors 
dringen, um wo möglich endlich den Fürften Poniatowski aus feiner 
Stellung an der Pleiße zu vertreiben; die zweite (General Barclay de 
Tolly) war zum Angriff auf Wachau, Libertmollwig und von ba auf 
Probſtheida beftimmt; die britte (des unterbefien eingetroffenen Genes 
rals Benningſen) follte, mit Umgehung bes Feindes, gegen Leipzig, 
die vierte (Kronprinz von Schweden) ebenfalls gegen Leipzig vorrüden, 
bie fünfte (General Bücher) in Webereinflimmung mit der vierten 
operiren, unb bie fechfte endlich (Graf Giulay) den Angriff auf Lintenau 
gegen Bertrand erneuern. 

Während dee 17. Detober trüb und regneriſch geweſen war, 
fleablte der 18. in beiterem Sonnenſchein. Grauſig glimmten noch in 
demfelben die Schutthaufen der in Brand aufgegangenen Dörfer, waͤh⸗ 
send der Würgengel des Kriegs auf ber weiten Ebene und in ben 
Eräftig aufgezogenen Schlachtreihen im Voraus ſtillſchweigend feine neuen 
blutigen und rauchenden Opfer bezeichnete. 

Die erſte Colonne der alliirten Armee hatte Anfangs gegen Pos 
niatowski einige Vortheile errungen, mußte aber dann zurüdmweichen. 
Das Gefecht blieb beiderfeits im Gleichgewichte. Der zweiten Colonne 
ber Alliirten folgten fämmtliche ruffifche und preußifche Garden, wobei 
ſich die Monarchen von Becfterreih, Rußland und Preußen und. ber 
Felbmarſchall Fuͤrſt Schwarzenberg befanden. Aus zwei Pofitionen, 
tapfer vertheibigt, wurden bie Sranzofen eben fo tapfer vertrieben. Der 
hauptſaͤchlichſte Kampf drehte fih nun um Probfiheida. Dies Dorf 
war ſtark von ben Franzoſen befeht, und mehrere Batterieen fanden auf 
den Anhoͤhen, zu ‚beiden Seiten befielben. Die Preußen hatten unters 
befien Wachau vom Feinde unbefegt gefunden, die Schäfer Meuss 
dorf genommen, und, mit den Ruſſen in einer Linie, ging nun bie 
ganze Colonne gegen Probftheida vor. Zwei Verſuche der Alliirten, es 
mit Sturm zu nehmen, mißglüdten, und bie Franzoſen verfuchten 
nun felbft zweimal bervorzubrehen. Doc ebenfalld umſonſt. Go 
fürchterlich war das Blutbad da, daß die Kämpfenben zulegt nicht mehr 
über die Haufen ber Zodten hinmwegfteigen tonnten. Auf Befehl ber 
Monarchen zogen ſich nun bier die Truppen ber Alliirten aus bem Ges 
feht und flellten fich weiter rüdwärts auf. Der Erfolg bes Tages 
war doch gefihert. Eine lebhafte Kanonade von Beiten ber Alliitten 
baute bis zum Einbruch der Nacht und verhinderte die Stanzofen, 


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Leipzig (Schlacht bei). 699 


neuern , gegen Leipzig vorzurüden und im Fall eines Widerſtandes die 
Stadt zu flürmen. Der Sieg — und mit Recht — galt den Alliir⸗ 
ten bereits als erfochten. Fuͤrſt Schwarzenberg war von den Mon 
achen noch auf dem Schlachtfelde mit ihren höchften Orden gesiert, 
der alte Bluͤcher zum Feldmarſchall ernannt worden. 

Der Mond ging auf, und die franzäfiiche Armee trat.auf dem ihre 
allein übrig gebliebenen Wege durch das Ranfkädter Thor Leipzigs den 
Ruͤckzug an. Won da gelangte fie über die Pleiße, auf einer ſteiner⸗ 
nen Bruͤcke über die Eifter und, über einen ziemlich fchmalen Damm 
bin, nach Lindenau. Die ſaͤchſiſche Straße nach dem Mheine fland ihr 
dann offen. Auf dem Schlachtfelde blieb nur eine Avantgarde und 
binter diefer mehrere zu deren Aufnahme beflimmte Soutiens fliehen. 
Poniatowski und Macbonald mit ihren Corps (Polen, Badenern , Hefiens 
Darmfädtern und einigen Franzoſen) waren angemwiefen, Leipzig und 
feine zur Vertheibigung in Eile eingerichteten Vorftäbte, vorgelegenen 
Gaͤrten und Häufer fo lange zu decken, bis das Gros der Armee durch 
bie Stabt hindurch fei, und fi) dann anzuſchließen. Ganz im Stillen 
war bie erwähnte Eifterbrüde unterminitt worden; der Magiftrat von 
Leipzig aber hatte die Erlaubniß erhalten, eine Deputation an den 
Fuͤrſten Schwarzenberg zu fenden, welche um Schonung für die Stadt 
bitten ſollte. 

As nun mit Anbruc des Tages die Alllieten die vom Seinde 
inne gehabten Stellungen verlafien fanden , rüdten fie in Waffen gegen 
Lkeipzig vor, warfen die Franzoſen bis unter bie Stadtmauer zuruͤck 
und formirten fih zum Sturm in Golonnen. Indeſſen gingen die 
Generale von Bubna und Platow mit ihren Corps zur Verfolgung 
bes Feindes über bie Pleiße und Eifter. Das oͤſterreichiſche Reſerve⸗ 
corp® marſchirte nach Pegau und die Cavalerie ber fchlefifchen Armee 
über Schleubig gegen Lügen. Um 9 Uhr rüdten die Alltirten gleich» 
zeitig gegen bie Thore von Leipzig. Hartnädig war da der Kampf; 
eben fo in den Vorſtaͤdten. Gegen Mittag waren faft alle Zugänge in 
ben Vorſtaͤdten erſtuͤrmt; die Übrigen, im Rüden umgangen, mußten 
die Franzoſen verlaſſen. Jetzt entſtand in den Allen und auf ben 
Promenaden zwiſchen der Stadt und den Vorſtaͤdten ein wuͤthender 

‚ Kampf. Aus zahlreichem Geſchuͤtz befchoffen die Franzoſen die Anruͤcken⸗ 
ben mit Kartaͤtſchen, und nur nad) großem Verluſt gelang es ben Alllics 
ten, bie feindlichen Batterieen im Sturm zu nehmen und nun auch bie 
inneren Thore zu erobern. In der Stadt felbft waren bie Straßen 
mit Kanonen und Fuhrwerk aller Art verfpertt. Das Gefecht war hier 
nur ſchwach, die Verwirrung hingegen flieg auf das Aeußerfte. Alles, 
was fi noch von den Franzofen in ber Stabt befand, fuchte nady 
dem Ranftädter Thor, dem einzigen Auswege, zu entlommen. 

Napoleon hatte die Nacht im einem Gafthofe der Vorſtadt Leips 
ige zugebracht. Schon hörte man das Kleingewehrfeuer, und Gras 
naten flogen in die Stadt, ale Napoleon fi zum König von Sachfen 
und deſſen Famille begab, um Abfchied von bdenfelben zu nehmen. 


Unter ihnen der Marfchall Fuͤrſt Pontatowält. Er 
haft verfhmägt und auf die Kraft feines 4 
umfonft. Aehnlich der General Dumouſtier, 
ge — * jenfeitige Ufer —— Nach und #4 
Die verbinden Monarchen und Fürft S 


—— und feine Garden waten die 

Dudinot blich mit der Arrieregarde Hinter Binbdenan 

Theil ber franzöfifhen Armee Hatte ben’ Weg nad 

ſchlagen. Der BVerluft am den vier Tagen war 
to und wird auf beglaubigte Welfe folgendermaß 
anzoſen verloren an Kobten: 1 Marfchall, 8 G 

Mann; an Verwundeten: 30.000 Mann, worunte 


beteug an Todten, Verwundeten und Vermißten: 4 
Dfficiere und gegen 45,000 Mann (ndmiich 4 
21,740, Ruffen, 14,950 Preußen und 300 Schtert 

Noch find nicht alle ferategifhen und felbfi 
faͤcht ich en Pa der großen Stade geäft geloͤſt. 
—— weit fie in —— lagen, wurde 


Leipzig (Schlacht bei). 701 


cht bei Leipzig (in feiner Schrift: „Die beutfchen Freiheitokriege 
813, 1814 und 1815, Eiberfeld, 1815) nothwendig an Farbe 
m, ald die Gefhichte mehr ihre Rechte geltend machte und 
arteihaß ſchmolz. Noch Immer wird indefien von Zeit zu Zeit 
vie Schlacht bei Leipzig Material zu Tage gefördert. So erſchien 
ahr 1835 In Pofen eine Schrift: „Die Schlacht bei Leipzig. 
8.0.W.”, 80 Seiten ſtark, und noch ganz neuerdings erzählte 
Friebe. v. Kölle in feinem Auffage: „Erlebtes vom Jahre 
" (deutfhe Pandora, Stuttgart, 1840. 1. Bd.) Manches, 
ahin einfchlägt. 
Mit dem wichtigſten ftrategifhen, fo ziemlich von allen Sei⸗ 
’apoleon zum entfchiebenften Vorwurfe gemachten Mäthfel jener 
dem naͤmlich: wie er, ba body fhon am 16. Dctober Abende 
othwendigkeit eines Rüdzuge nicht mehr zweifelhaft war, für 
€ Uebergänge über die Pleige und Eifter nicht geforgt habe, da 
jwei volle Tage Zeit geweſen fei, Anftalten hierzu zu treffen? 
aber noch ein wichtiges, factifches in erflärtem Zufammens 
Es ift das die Sprengung der Eifterbrüde zu einer Zeit, wo 
oßer Theil der franzoͤſiſchen Armee diefeibe noch nicht paffict hatte. 
von Napoleon an bie Möglichkeit, die Schlacht zu verlieren, 
gedacht worden; hatte er nicht daran denken wollen; hatte er 
frühere ungänftige Conjuncturen duch fein Genie und durch die 
ckeit feiner Truppen bemeiftert, und glaubte er, daß immer noch 
e Stern über feinem Haupte ftehe, wie fonft: fo haben dieſe 
toͤſen, Menſchenleben und Klugheit vernichtenden und verachtenden 
Imer doch einen gewiſſen Glanz der Kühnheit für fih. Wie aber 
re Brüder Dem franzöfifen Bulletin zu Folge Hatte Napoleon 
hjeniecotps befohlen, unter jene Brüde Slatterminen zu legen, um 
tegten Yugenblide zu fprengen, fo den Marfdy des Feindes aufs 
en und dem Gepäde zum Abzuge Zeit zu verſchaffen. Ein vom 
‚en Montfort ungehöriger Weiſe mit diefer Operation beauftragter 
tal, „ein Mann ohne Einfiht, der feine Sendung ſchlecht bes 
", babe, als er die erften Slintenfhäffe von den Waͤllen der 
: gehört, die Slatterminen angeſteckt und die Brüde in die Luft 
ngt. Oberft und Corporal feien vor ein Kriegsgericht geſtellt wors 
. J. w. Wahrſcheinlich Lam dieſes Kriegsgericht nie zufammenz 
iſt aber, daß, waͤhrend Napoleon (offenbar mit dem größten Uns 
in feinem Bulletin bemüht war, auf jenen Zwifdenfall den 
Zuſtand des ruͤckmarſchitenden Heeres zu waͤlzen, die übelmollens 
Gegner jene allzu frühzeitige Sprengung ber Brüde erklaͤrt ſei⸗ 
ertheilten Befehle aufehrieen. As Motiv wurde ihm dabei zu 
be gelegt: fich perfönlih, auf Koften eines Thells feiner Armee, 
ten. te Kölle in dem vorhin erwähnten Auffage erzäblt, war 
& in Leipzig der Glaube ganz allgemein, daß ohne jene Maßregel 
hlreiche Meiterei der Verbündeten in ben brei Stunden, welche fie 
age noch hätte fechten Können, das franzoͤſiſche, Im großer Unords 


700 Leipsig (Schlacht bei). - 


Hierauf gewann er nur mic Mühe und auf Umwegen bie Eifterbräde. 
Es war 10 Uhr Vormittags. Kaum aber hatte ber Kaifer die Bruͤcke 
paſſirt, als fie in die Luft flog. Die naͤchſten Folgen hiervon maren 
ungeheuer. 15 bis 20,000 Mann in gefchloffener Ordnung, mehr 
als 200 Stuͤck Geſchuͤtz und zahlloſes Gepäd blieben nun dieſſeits umd 
vermehrten die Trophäen ber Sieger. Viele der jest in größter Unorb⸗ 
nung Fluͤchtenden verfuchten die jenfeitigen Ufer der Pleife und -Eifter 
zu erreichen, unb fanden dabei (man fagt von 2000) ihren ob. 
Unter ihnen dee Marfchall Fürft Poniatowski. Er hatte die Gefangen⸗ 
fchaft verfhmäht und auf die Kraft feines Pferdes gerechnet. Aber 
umfonft. Aehnlich der General Dumouftier, während Macdonald 
gluͤcklich das jenfeitige Ufer erreichte. Nach und nach erloſch der Wider 
fand. Die verbündeten Monarchen und Fürft Schwarzenberg hielten 
an der Spige ihrer Krieger in ber Mittagsftunde in Leipzig ihren feier 
lichen Einzug. Die Armee der Alliirten blieb größtentheild um Leipzig 
ſtehen, während einzelne Corps berfelben die abgezogenen Franzoſen 
verfolgten und ihnen fortwährend Gefangene und Geſchuͤtz abnahmen. 
Napoleon und feine Garben waren die naͤchſte Nacht in Markranitäbt. 
Dudinot blieb mit der Arrieregarde hinter Lindenau fiehen. Der übrige 
Theil der franzöftfchen Armee hatte ben Weg nad) Weißenfels einges 
fhlagen. Der Verluſt an den vier Tagen war von beiden Seiten 
roß und wird auf beglaubigte Weiſe folgendermaßen angegeben: Die 
Franzofen verloren an Zodten: 1 Marfchall, 3 Generale und 15,000 
Mann; an Verwundeten: 30,000 Mann, worunter 2 Marſchaͤlle und 
6 Generale; an Gefangenen: 24 Generale und 15,000 Mann noch 
wehrhafter Truppen. Der Gefammtverluft der alliirten Heere hingegen 
betrug an Zodten, Verwundeten und Vermißten: 21 Generate, 1793 
Dfficire und gegen 45,000 Mann (naͤmlich 8000 Defterreiäkt, 
21,740.Ruffen, 14,950 Preußen und 300 Schweden). 
Noch find nicht alle ſtrategiſchen und felbft nicht alle that» 
ſaͤchlichen Näthfel der großen Schlacht gelöf’t. Won der erfteren, im 
fo weit fie in Napoleon’s Handlungen lagen, wurben einige bereitd ans 
deutend erwähnt. Plotho, in feiner unten angeführten Schrift, be 
ſchaͤftigt fi) ausführlicher damit und mit einem anerkennenswerthen Be 
ſtreben, gerecht zu fein.- Auch Nachweifungen über die von ben Allir⸗ 
ten bei Leipzig begangenen ftrategifchen Fehler — obgleich mit milden 
Farben — kann man bei ihm finden. . Ueberhaupt ergibt ſich auch ba 
allmaͤlig von beiden Seiten das Streben nach Gerechtigkeit. Mor⸗ 
vins in feiner „Geſchichte bes Feldzugs von 1813” (in deutfcher 
Ueberfegung, Darmftadt, 1832) hatte noch ganz entſchieden und in 
allen Theilen Partie für Napoleon und gegen die Alliicten genom⸗ 
men, während Gouvion St. Eyr in feinen „memoires pour ser- 
vir à U’histoire militaire sous le directoire, le consulat et l’empire“ 
Paris, 1831. 4. Band) begangene ftrategifche Fehler Napoleon's zus 
gibt und felbft nachweiſ't. Won ber andern Seite bat Fr. Kohl⸗ 
rauſch's gewiß recht ehrlich und tächtig gemeinte Erzählung ber 


Leipzig (Schlacht bei). 701 


Schlacht bei Leipzig (in feiner Schrift: „Die bdeutfchen Freiheitskriege 
von 1813, 1814 und 1815, Eiperfeld, 1815) nothwendig an Furbe 
verloren, ale die Geſchichte mehr ihre Rechte geltend machte unb 
der Parteihaß ſchmolz. Noch immer wird indefien von Zeit zu Zeit 
über die Schlacht bei Leipzig Material zu Tage gefördert. So erfchien 
im Jahr 1835 in Pofen eine Schrift: „Die Schlacht bei Leipzig. 
Bon ©. v. W.“, 80 Seiten ſtark, und noch ganz neuerdings erzählte 
uns Friebe. v. Kölle in feinem Auffage: „Erlebtes vom Sabre 
1813 (deutfhe Pandora, Stuttgart, 1840. 1. Bd.) Manches, 
was bahin einfchlägt. 

Mit dem wichtigften ftrategifchen, fo ziemlich von allen Sei⸗ 
ten Napoleon zum entfchiebenften Vorwurfe gemachten Näthfel jener 
Tage, dem naͤmlich: wie er, da doch ſchon am 16. October Abende 
bie Nothwendigkeit eines Ruͤckzugs nicht mehr zweifelhaft war, für 
nöthige Uebergänge über bie Pleiße und Eifter nicht geforgt habe, da 
body zwei volle Tage Zeit gewefen fei, Anftalten hierzu zu treffen? 
fieht aber noch ein wichtiges, factifches in erklaͤrtem Zufammens 
bange. Es iſt das bie Sprengung ber Eifterbrüde zu einer Zeit, wo 
ein großer Zhell der franzöfiichen Armee diefelbe noch nicht paffirt hatte. 
War von Napoleon an die Möglichkeit, die Schlacht zu verlieren, 
nicht gedacht worden; hatte er nicht daran denken wollen; hatte er 
ſchon frühere ungünftige Conjuncturen durch fein Genie und durch bie 
Tapferkeit feiner Truppen bemeiftert, und glaubte er, daß Immer noch 
derfeibe Stern über feinem Haupte ftehe, wie fonft: fo haben biefe 
monftröfen, Menſchenleben und Klugheit vernichtenden und verachtenden 
Jerthuͤmer doch einen gewifſſen Glanz der Kühnheit für ſich. Wie aber 
mit dee Brüde? Dem feanzöfifchen Bulletin zu Folge hatte Napoleon 
dem Geniecorps befohlen, unter jene Brüde Slatterminen zu legen, um 
fie im legten Augenblide zu fprengen, fo den Marſch des Feindes aufs 
zubalten und dem Gepdde zum Abzuge Zeit zu verfchaffen. Ein vom 
Oberſten Montfort ungehöriger Weife mit diefer Operation beauftragter 
Gorporal, „ein Mann ohne Einficht, der feine Sendung ſchlecht bes 
griffen‘, babe, als er die erflen Slintenfhäffe von den Wällen der 
Stadt gehört, die Flatterminen angeftedt und die Brüde in die Luft 
gefprengt. Oberſt und Corporal feien vor ein Kriegsgericht geftellt wors 
den u. f. m. Wahrſcheinlich kam dieſes Kriegsgericht nie zuſammen; 
gewiß ift aber, daß, während Napoleon (offenbar mit bem größten Uns 
techt) in feinem Bulletin bemüht war, auf jenen Zwifchenfall den 
üblen Zuſtand des rüdmarfchirenden Heeres zu waͤlzen, die übelwollen- 
deren Gegner jene allzu frühzeitige Sprengung ber Brüde erklaͤrt ſei⸗ 
nem ertheilten Befehle zufchrieben. Als Motiv wurde ihm dabei zw 
Grunde gelegt: ſich perfönlih, auf Koften eined Theil feiner Armee, 
zu retten. ie Kölle in dem vorhin erwähnten Auffage erzäblt, war 
damals in Leipzig der Glaube ganz allgemein, daß ohne jene Maßregel 
Die zahlreiche Reiterei ber Verbündeten in den brei Stunden, welde fie 
bei Tage noch hätte fechten koͤnnen, das franzöfifche, in großer Unords 


find die Urfachen diefes Zuftandes, den fie zu veraͤnder 
ift daher natürlich, daß ein Menfch mit fo ausgezeichn 
bei einer fo ungewöhnlichen Beredtfamleit und bei fo 
Kenntniffen, wie Lelewel fie hat, der Abgott einer Juger 
nifche ift, werden mußte. Seine außerordentlich vielen W 
nur in Polen, Rußland und in den übrigen flavifchen | 
find, fanden auch gerechte Aufnahme in Deutfchland, 
England, ja in ganz Europa. Sie find biflorifchen 

Snhaltes; am Meiften beſchaͤftigen fie fi) jedoch mit De 
Geſchichte. Letztere waren blos Materiale, weldye Le 
um mit Huͤlfe derfelben eine volftändige Geſchichte 
faffen. Durch eine volftändige Geſchichte Polens von 
man von dem Beſtehen mancher weifen und nüßliche 
unterrichtet werden, von denen man im Welten Euro; 
Gedanken hat. Man würde die Verdienfte kennen lerne 
um die Menfchheit und um Europa hat, und man 
daß es in hundert und mehr Feldzügen die Civilifatton 
gegen die nordifhen und oͤſtlichen Horden mehrere Jahrh: 
vertheidiget hat. Ohne die Revolution im Jahre 1 
Lelewel mit eben fo einem Werke für Polen beſchenkt, 
Schaffarzyk mit feiner Geſchichte für bie flavifchen Wi 
nosti slowanske) gethan hatte. Beide find die wuͤrdi 
gezeichnetfien Repräfentanten der Geſchichte flavifcher 
Werken, in welden ſich Lelewel mit Nachforfhungen 

ſchwer verftändlich; in den Werken jedoch, welche er 
fchrieb, in feinen Proclamationen zum Volk und zur Ai 
des Kampfes 1830 und 32, ift er Mar, eindringlich, Hi 
wohl er nie zuvor, wie fein Vater und Großvater, im 
fo beſitzt er doch alle flavifhen, germanifhen un 
Spradıen. 





⸗ “ 
Lelewel. 705 
nicht moͤglich iſt, ſo lange die Leidenſchaften aufgeregt ſind. Nach 


vier Jahren eines ſtillen wiſſenſchaftlichen Lebens warf ſich Lelewel in 
das oͤffentliche. Er wurde naͤmlich 1828 zum Landboten von Zelechow 





in dee Woywodſchaft Podlachien ernannt. Der Reichstag, wohl erken⸗ 


nend die Sähigkeiten feines neuen Abgeordneten, ernannte. ihn zum Mit: 
gliede in einer der drei Commiffionen oder Reichstagsabtheilungen. 
Seit diefer Zeit wandten fi) die Augen aller Patrioten nad) ihm, in: 
dem er für den Leiter einer weitverzweigten Verſchwoͤrung gehalten 
wurde, welche, wie man fagte, ben 24. Mai 1829 bei ber Krönung des 
Kaiſers Nikolaus in Warſchau ausbrehen follte. Kaifer Nikolaus, 
fürdhtend, daß die Polen mährend des Tuͤrkenkrieges eine Diverfion 
machen Eönnten, befchloß dieſe Krönung, um ſich bie Herzen ber Nation 
dadurch anzueignen. Alle Umftände waren dem Gelingen diefer Ver: 
ſchwoͤrung günftig; 36,000 Mann polnifcher Zruppen waren um War- 
fhau verfammeltz Rußland war dur den Krieg mit der Türkei ge 
ſchwaͤcht; überdies, waͤre auch das Lithauifche Corps, aus 80,000 Mann 
beftehend und aus Polen von Lithauen, Wolbinien, Pobolien und 
der Ukraine zufammengefest, unfehlbar beim erften Schuffe zu den In— 
furgertten übergegangen. Alles war bereit; bie Unterofficterfchule Hatte 
fogar fharfe Patronen. In der entfcheidenden Stunde jedoch hielt 
Graf Guſtav Malachowski, fpäter Miniſter des Auswärtigen (geftorben 
zu Paris 1835), die ganze Bewegung” auf, weil, angeblihen Nach: 
tihten aus Paris zufolge, die Anfurrectionspläne noch. nicht reif 
waren. 

Bon bdiefem Augenblide an wandte bie. ungebulbige Jugend ihre 
Augen geradezu auf Leleiwel, von jegt an erwartete fie blos von ihm 
und von feinem Andern das Zeichen des Ausbruchs. Auf diefe Weife 


verlief ein Jahr. Als jedoch die Polizei bereits anfing, ganze Abthei= 


lungen von Verſchworenen zu entdeden, verfammelten ſich die Patrio: _ 
ten den 21. November in dem Bibliothekſaal der Gefellfchaft ber 


Freunde der Wiffenfchaften, um fi mit Lelewel zu befprechen. Der 
Tag zum Handeln war beflimmt: es follte der 29. fein. Ungluͤcklicher 
Weife wurde Lelewel’s Water toͤdtlich Frank, und derjenige, welcher die 
revolutiondre Bewegung leiten follte, twar aus-Kindespflicht genoͤthiget, 
bei feinem fterbenden Vater zu wachen. Diefer beſchloß noch an bemfel: 
ben Zage fein Leben. MWider Willen ließ er die Zügel der Bewegung 
aus den Händen, welche nun ohne Führer und Regierung blieb. Won 


jetzt an wurde er väthfelhaft, was zum Theil von häuslicher Kraͤnkung, 


zum Theil auch daher kam, daß ihm fein Plan, das Vaterland zu be- 
freien, nicht gänzlich. gelang. Die ſcharfe Polizeiauffiht, unter welcher 
er ſich ohnedies befand, trug auch daB Ihrige dazu bei. Meue Perfonen 
ſtellten ſich an die Spige ber Regierung und des Heeres. Als man 
aber, flatt ben Großfürften Konflantin zu entwaffnen, anfing, mit ihm 
zu unterhandeln, ward er von der preoviforifchen Regierung aufgefordert, 
fih mit der Deputation, die nady dem Lager des ruffifchen Come im 
Dorfe Wierzbna bei Warfchau abging, dorthin zu begeben. Geserat 
Staats⸗Lexikon. IX, 45 x 


706 Lelewel. 
Chlopicki, ber, wie Lelewel, zu keiner geheimen Geſelſchaft gehörte, galt 
für einen großen Patrioten und für einen noch größeren General, ers 
zogen in der Schule Napoleon's. Aber er verfland ungluͤckücher Weiſe 
den Geift nicht, der die ganze Mation befeeite. Der Fürft Lubedi, ein 
ergebener Anhänger Rußlands und ehemaliger Sinanzminifter, beredete 
ihn, die oberfte Seldherenwürde anzunehmen, wozu der Wille und das 
Bertrauen der Nation den alten Soldaten beriefen. Lubedi’8 Abſicht 

mar, ‘dag durch Clopicki's Moberantismus das Vaterland vor einem 
Wageſtreich bewahrt würde. Lelewel, wie alle tiefgelehrte Männer, ifl 
für das praktifche Reben nicht. gemacht; nichts deflo weniger war er durch 
die Öffentliche Meinung zu allen Regierungen berufen, die nad ber 
Vertreibung der Ruffen auf einander folgten. Aber in keiner kannte 
oder mußte 'er fih das Anfehen zu verfchaffen, das ihm von Rehte- 
wegen gehührte. Hier kann man ihm mit Recht vorwerfen, warum 
er ſich dem Befchluffe nicht widerſetzte, welcher 10,000 Ruſſen mit 

27 Kanonen erlaubte, friedlih aus Polen abzuziehen, ein Corps, an 
deſſen Spige noch dazu bes Kaiſers Bruder Conftantin fland. Chlo⸗ 
pic ernannte ihn zum Minifter des Cultus und bes Öffentlichen Un: 
terrichtö; Lelewel hingegen, als Präfident des patriotifhen Vereines, 
erlaubte im Namen befjelben dem Dictator, nad Belieben zu fchalten 
und zu walten, bis zum Zufammentreten des Reichstags, welches den 
18. December Statt fand. Während diefer Zeit waren die beften fe: 
bensträfte der polnifchen Revolution vergeudet; der Feind hingegen fam: 
melte ſich an den Grenzen des Landes. Lelewel, ber daffelbe und den 
Geiſt feiner Bewohner kannte, und ber bie irrige Ueberzeugung hatte, 
daß die politifche Wiedergeburt deſſelben möglich fei, rieth, das Mi: 
litär in Eilmärfchen an die Grenze Lithauens zu [hiden, mo das li⸗ 
thauiſche Corps mit Ungeduld die Ankunft ber Polen erwartete. - Aber 
Chlopicki, getreu dem Verſprechen, das er Lubedi gegeben hatte, nicht 
glaubend, daß der Auffland durd eigene Thatkraft ſich erhalten inne, 
und ohne Kenntnig von bem Enthufissmus der Nation, wollte nicht 
‚ vorwärts rüden, obwohl ihn dazu ſowohl feine Soldaten, als auch die 
Öffentliche Meinung aneiferten. Man muß leider befennen, daß feit ber 
erſten Theilung, das ift ſeit 1772, Polen ein Öffentliches Leben 
hatte, und baß die fremden Regierungen mit Fleiß einen Theil der 
Nation in der vornehmeren Claſſe zu demoralifiren trachteten. Lelewel 
als Profeffor hätte fid) daher auch in der Gewalt nicht erhalten koͤn⸗ 
nen, wenn er diefelbe nur für einen Augenblick befefien hätte. In Po⸗ 
Ien mußte man den Ruhm eines Chlopidi, oder den Namen einer 
alten polnifhen Familie haben, um zu regieren. Lelewel, feiner un- 
begreiflich myſtiſchen Weife zufolge, Eonnte nicht offen, ſondern blos 
im Geheimen und Dunkeln handeln. Deswegen wurde er auch den 
Derfonen verdächtig, welche nicht zur Verſchwoͤrung gehörten, welche 
aber nichts defto weniger in der Regierung einen großen Einfluß ausüb: 
ten. Aus diefem Grunde ließ ihn auch der Dictator den 11. Januar 1831 
nebſt mehreren anderen Perfonen verhaften. Die Bewegung der zur ur 


Lelewel. 707 


ſpruͤnglichen Verſchwoͤrung Gehoͤrigen noͤthigte dem Dictator, Lelewel 
alſogieich wieder frei zu geben. Nach Chlopidi’s Niederlegung der 
Dietatur follte Leiewel, anflatt der erſten Stelle in der proviſoriſchen 
Nationalcegierung, welche ihm von Rechtswegen zugelommen todre, 
die zweite befleiden. Die Wahl entfchied bereits für ihn, als in Folge 
eines Formfehlers diefelbe für ungültig erklaͤrt wurde, und Intriguen 
ihm kaum die fünfte vergoͤnnten; von biefer aber follte er ſich jedes 
Mal entfernen, wenn ber Oberfeldhere in Warſchau gegenwärtig war. 
Auf diefe Art war Lelewel’s Einfluß ganz unbedeutend, und bie aus, 
fünf Mitgliedern zufammengefegte Regierung beſtand aus ganz verfchie: 
denartigen ‚Elementen; jede nöthige Energie ging ihr ab. Diefelbe 
dauerte doch bis zum 15. Auguft 1831. An biefem Tage hatte das 
Volk, aufgeregt durch Rußlands Agenten und duch die Nachricht 
von dem Herannahen des Feindes, fi ruſſiſcher Spione und für 
Dienftfehler verhafteter Generate bemdchtiget und biefelben niedergemacht. 
General Graf Krukowiecki, angeregt durch Neid und Eiferfucht, viel 
leicht auch durch feindliche Geld, trug das Seinige dazu bei, um bie 
fen Brand zu ſchuͤren. Zufolge diefer Unruhen gab die Nationakegie: 
tung ihre Entlaffung, und Krukowiedi ward zum Präfidenten der 
neuen ernannt. Lelewel nahm hierauf feinen Sig in ber Landboten⸗ 
tammer ein; man ſchrieb ihm gleichfalls einen großen Theil der Er⸗ 
eigniffe vom 15. Auguſt zu — ob mit Recht oder Ünrecht: das iſt nicht 
mit Gemißheit zu beftimmen. 

Nach der verrätherifchen Uebergabe Warſchaus ging er mit einem 
fremden Pafle, einen Torniſter auf den Rüden, nad) Preußen über, 
von wo er nicht ohme Schioterigkeiten den 29. October 1831 in Paris 
anfangte. Später war er Mitglied bes proviſoriſchen Comites, unb 
dann Präfibent des polnifhen Mationalcomites. Diefes übergab eine 
Töne Petition an das englifche Unterhaus; von ihm erging auch ein 
Aufruf an die polnifhen Juden, die Ungarn und die Ruffen. Diefe 
letztere war vorzüglich Urſache, daß die franzöfifche Regierung, auf An- 
ſuchen des ruſſiſchen Gefanbten, den polniſche GomitE auflöf’te, wor⸗ 
auf Lelewel am 1. Januar 1833 Paris verließ und ſich nach Lagrange, 
dem Landgute Lafayette's, begab. Aber auch von dort entfernte ihn 
die Polizei nach Tours, obwohl General Lafayette gegen biefe--in fei- 
nem Haufe vollbrachte Gewaltthat öffentlich proteflirte- Dort erhielt 
er endlich den 3. Auguft 1833 den Befehl, Frankreich zu verlaffen, von 
wo er nach Belgien ging. Hier auch befahl man ihm, das Land zu 
verlaffen; auf das Anfuchen vieler einflußreihen Bürger wurde jedoch 
diefer Befehl nicht ausgeführt. Lelewel wohnt bis heut zu Tage (Ende 
Decembers 1839) in Bruͤſſel. Während der Bildung der freien Uni- 
verſitaͤt trug ihm der Senat eine Profefforftelle der Geſchichte an; er 
nahm diefelbe nicht an, aus dem Grumde, weit er ſich nicht ſtark genug 
fühlte, einen jo erhabenen Gegenftand, wie die Geſchichte, in einer frem⸗ 
den Sprache vorzutragen. Lelewel, als politiſche Perfon, hat in der 
heutigen Emigration viele Freunde, aber auch dafür miete viele Geg⸗ 


’ 





‘ 


708 Lelewel. — Lefefreiheit. 


ner. Diefes kommt von feinen tepublicanifchen Ideen her, welche, wie 
er behauptet, Polen befreien follen. Was feinen perſoͤnlichen Charakter 
anlangt, fo achten ihn alle Parteien. Lelewel nahm weder im Lande, 
als Mitglied der Nationaltegierung, noch im Ausland als Fluͤchtling 
Gehalt und Subfidien an. Er Iebt fehr, fparfam; etliche Kreuzer 
reihen ihm zu feinem täglichen Unterhalt hin. B. 
Leſefreiheit. — Die Freiheit zu leſen haͤngt genau zuſammen 
mit der Preßfreiheit, zum Theil auch mit der Lehrfreibeit. 
Wenn und in ſo weit der Staat Preßfreiheit anerkennt, wird er auch 
ben Bürgern Leſefreiheit geſtatten. Die Rechts- und politifchen 
Gründe für bie erflere fprechen auch für die letztere. Und natürlid 
ift es, daß Schriften, die einer rechtsguͤltigen Beſchlagnahme ober 
einem gerichtlichen Unterbrüdungsurtheil unterliegen, nicht Öffentlich, ver: 
kauft und zum Lefen vermiethet oder an Öffentlichen Drten ausgelegt 
werden dürfen. Die Heiligkeit ber perfänlichen Sreiheit und der Haus: 
freiheit wird dagegen bei freien Voͤlkern nicht geflatten, den Privat: 
befis und die Privatmittheilung ſolcher Schriften zu verfolgen, fo weit 
die Iestere nicht gewerbmäßig Statt findet, oder je nach den Umſtaͤn⸗ 
den in Gemäßheit allgemeiner Rechtsgrundſaͤtze als Beftandtheil einer 
befonderen Rechtsverletzung, etiwa einer Injurie oder einer Ausführung 
eines andern Verbrechens, erfcheint. Wollte man etwa in Beziehung 
auf öffentliche Leihbibliotheken, weil aus denfelben Minderjährige und 
überhaupt unerfahrene Perfonen ſchaͤdliche Nahrung ſchoͤpfen Könnten, 
andere,’ als die von rechtsgültiger Beſchlagnahme oder Unterdrüdung 
getroffenen Bücher ausſchließen, fo würde bier eine einigermaßen 
paffende, die Willkuͤr befeitigende Grenze nicht zu finden fein. Aud 
würde der Zweck verfehlt werden. Denn die hier zuruͤckgewieſenen Buͤchet 
würden nun, da fie ja Seder Laufen und aud von Privaten leihen 
kann, wegen der erweckten Neugierde doppelt gelefen werden. Hier 
Eann und muß nun die Erziehungsauffiht und Leitung der Eitern, 
Vormünder und der Lehranftalten fi) wirkſam ermeifen. Auch lehrt 
die Erfahrung, daß die Stantöpolizeiaufficht gerade bie moralifch ver: 
derbiichften, fhändlichften Schriften faft niemals ausfchlieft, fondern 
nur auf die Schriften fahndet, die für die Mächtigen unangenehme 
Dinge enthalten. Kirchliche Gefellfchaften, welche die Lehrfreiheit be: 
(hränten und überhaupt eine bevormundende Gewalt über ihre Ange: 
hörigen anfprechen, merden freilich, unabhängig von den allgemeinen 
Rechtsgrenzen, die Xefefreiheit beſchraͤnken. Und bekannt genug find 
die kirchlichen Verdammungen, Berbrennungen, Hinwegnahmen und 
Gonftscationen von Büchern, die Verbote felbft der heiligen Schriften. 
Solche Maßregeln widerfprechen aber den im Artitel „Lehrfreiheic” 
enttwidelten Grundſaͤtzen. Sie verrathen und erweden wenig Glauben 
an die Wahrheit der Firchlihen Lehre und an ihre Fähigkeit, wahre 
Prüfungen zu beftehen. Sie werben auch in unferer Zeit wenigftens 
meift ihres Zwecks verfehlen. ebenfalls aber hat der Staat das Recht 
und die Pflicht, zu wachen, dag folhe Maßregeln nie die bürgerlichen 





Leſefteiheit. — Lefegefellfchaften: 709 


Sreiheitsrechte der Bürger verlegen, alfo nur gegen Einwilligende aus: 
geübt werden, und daß die kirchliche Gewalt ihre anerfannten ver- 
faffungsmäßigen Gefellfchaftsrechte nicht mißbrauche oder überfchreite- 
(nicht zu einem appel comme d’abus an den weltlihen Schuß Ber: 
anlaffung gebe). 

In Staaten aber, in welchen, flatt der Anerfennung einer nur 
techtlih begrenzten Preßfreiheit, vielmehr der Regierung zugeftanden 
wird, daß fie, vermittelft der Cenſur und der beliebigen Erlaubniß zum. 
Druck der Zeitſchriften und Buͤcher, in Beziehung auf die Mittheilung 
der Wahrheit alle Buͤrger gleich unmuͤndigen Kindern bevormunde:, da 
iſt natuͤrlich dieſe despotiſche Bevormundungsgewalt mit ihrer vollſten, gren⸗ 
zenloſeſten Willkuͤr auch wirkſam gegen die Leſefreiheit. Da werden 
ſogar Bücher, die ſelbſt die Cenſur nicht unterdruͤcken wollte oder 
konnte, da werden die Werke der auslaͤndiſchen Literatur, da werden 
die Zeitungen anderer Nationen oder verbuͤndeter Staaten nach regel⸗ 
loſer Willkuͤr oberer oder unterer Behoͤrden verboten, oder, was eben ſo 
verletzend iſt, von dem regelmaͤßigen Poſtverkehr ausgeſchloſſen. Ja, ſie 
werden, mit Verletzung auch der uͤbrigen rechtlichen Freiheit, den Pri⸗ 
vaten und Privatgeſellſchaften hinweggenommen, wohl gar die Auslie⸗ 
ferung bei Spee geboten, oder ihr Privatbeſitz und ihre Privatmit⸗ 
iheilung als Vergehen beſtraft, oder endlich es werden die auf dem 
natuͤrlichſten Rechte beruhenden Leſegeſellſchaften willkuͤrlich aufgehoben 
oder unterſagt. Es iſt in der That eben ſo empoͤrend fuͤr das natuͤr⸗ 
liche Rechtsgefuͤhl, ſolche der Gerechtigkeit und der menſchlichen und 
buͤrgerlichen Freiheit widerſprechende ungluͤckſelige Folgerungen eines 
ungluͤckſeligen Syſtems naͤher zu verfolgen, als es fuͤr jeden deutſchen 
Ehrenmann kraͤnkend iſt, wenn, gegenuͤber faſt allen civiliſirten Natio⸗ 
nen, in unſerem deutſchen Vaterland noch ſolche Geringſchaͤtzung der 
Buͤrger, ihrer Ehre und ihres Rechts und ſolches aͤngſtliche Mißtrauen 
der Gewalt in ihre eigne moraliſche Kraft und in die freie Achtung und 
Treue des Volkes zum Vorſchein kommen. Nach Grundfägen einer 
vernünftigen Staatsweisheit aber läßt ſich diefe an ſich bodenlofe Will: 
für nicht regeln und ordnen. Deshalb verzichten wir auf jeden Ver⸗ 
ſuch einer folhen Regelung. Die Gründe, die vom Standpunct ber 
Gerechtigkeit und währer politifhen Weisheit gegen fie fprechen, ent: 
halten übrigens die Artikel „Genfur der Drudfchriften‘ und „Preß- 
freiheit.” ©. Th. Welder. 

Lefegefellfhaften. — Es laſſen ſich vorzügli dreierlei Ars 
ten von Vereinen zum Lefen oder zu gemeinfchaftlicher Benugung der 
Schäge der Literatur unterfcheiden: 

Die erfte befteht in einer Wereinbarung , gewiſſe Schriften in 
einer gemeinfchaftlihen Verfammlung mit einander zu leſen. Solches 
gemeinfchaftliche Lefen, bei welchem einzelne Mitglieder der Gefellfchaft 
allein, oder mehrere, oder auch alle abmechfelnd vorlefen, findet theils in 
religiöfen Vereinen, theild außerdem zu gemeinfchaftlidher Belehrung 
oder Unterhaltung Statt. Seine Hauptvortheile, im Vergleich, gegen 


\ 
N 


gemeinfchaftliches Leſen, wenigſtens cin gemeinf: 
hören, fehr zweckmaͤßig und heilfam mit mancher 
mit manden Abteilungen in Strafgefängniffen un! 
verbinden. Schon allein die negative Wirkung cı 
richtung. Es können nämlich duch folde zwec 
Vorlefungen Verkehrtheiten der verfhiedenften Art, 
deren Mittheitung, Verdummung und Abftumpfun 
dur immerwährendes Stillſchweigen, ohne geiftig 
durd den Mechanismus einförmiger Arbeiten befei 
mindert werden. Auf diefee Grundlage Binnen 
paffender Wahl der Lecture für Belehrung, Bildu 
wenigſtens bei Vielen, gewiß fehr große Erfolge erre 
da ſowohl für Fabrikarbeiter wie für Steäflinge a 
welche für ihre Belehrung und Beſſerung durch gei 
beſtimmt wird, viel zu kutz iſt, und diefe Mittheil 
wegen Mangels an gehörigen Grundlagen, wegen ! 
wegen längerer Unterbrechung durch die eingemurzelt: 
ihre gute Wirkung verlieren. Noch heilfamer aber ı 
tefungen da wirken, wo unter verftändiger Leitur 
mohlthätige geiftige Selbſtthaͤtigkeit der zu Bildenden | 
Vorlefen, durch Fragen und Antworten und durch 
den werben koͤnnte. So wie durch die fortdauernde 
Angewoͤhnung, Uebung und Ordnung die Eörperlic 
fo müffen vor Allem auch die Vorftelungen, Gefuͤl 
Gefinnungen der zu Bildenden und zu Veffernden € 
tung und Tuͤchtigkeit erhalten, wenn wahre Bildu 
für das Leben gewonnen werden follen. 

Eine zweite Art der Lefevereine befteht darin 
ber mit gemeinſchaftlichen Mitieln ſich Bücher anſch 


mach einer norahrehsten Moihsfalas in ihren Mrinn 


Lefegefellichaften. ou 


ſicht find diefe Vereine doppelt wichtig und heilfam für ſolche, welche, 
tie 3. B. Handwerker oder wie Schullehrer ober auch Geiftliche und 
Beamte auf dem Lande, einer Erleichterung der Anfchaffung ber für 
fie heitfamften Bucher und, bei vieler anderweitigen Beſchaͤftigung, 
einer äußeren Anregung zum Lefen und Durchdenken berfelben bes 
dürfen. Bekannt iſt es, zuerft wie Franklin in Amerika, dann Lord 
Brougham in England durd) ſolche Leſevereine der Handwerker uners 
meßlich wohlthätig und höhere und edlere und auch induſtriell tüchtigere 
Ausbildung diefer wichtigen Claffe der Stantsbürger wirkten. Beide hiels 
ten dabei ſtets die Grundbedingung des Gebeihens heilfamer ges 
ſellſchaftlicher Wirkſamkeit — die Freiheit und Selbſtthaͤtigkeit — ent⸗ 
ſchieden feſt. In’ unferem überall bevormundeten Deutfchland dagegen 
mißgiäden oder verfümmern alle ſolche wohlthaͤtigen Einrichtungen 
durch Beamten: und Polizeicontrole und Bevormundung ‚ durch Mans 
gel an feeier Deffentlichkeit, an Freiheit und Gemeingeift. Äuch bei 
diefen Wereinen bedürfen übrigens, wenn fie zweckmaͤßig eingerichtet 
find, die negativen wie die pofitiven Vortheiie keiner weiteren Ausfähs 


rung. Die geiftige und moralifhe, ja immer mehr felbft die induftrielle , 


Cultur der neueren Welt beruht zu einem großen Theile auf der Lite⸗ 
tatur und waͤchſt täglich durch diefelbe. Man muß an biefer Literatur 
Antheit nehmen, wenn man ſich möglihft auf die Höhe audy nur des 
eigenen Lebensberufes hinaufſchwingen wil. In allen Claſſen des Lebens 
aber ift die Gefahr, duch die Beſchaͤftigung mit Unedlerem, mit 
Roherem und Verderblicherem oder mindeftens mit Unnuͤtzlichem Zeit 
und Kräfte zu verlieren, fehr groß. Gemeinſchaftliche Vereinbarung zur 
Anregung für’ Beffere, zur Auswahl und Benugung des möglichft 
Beten ift Mittel und Fortſchritt der Veredlung, der Humanität, 


der Wiffenfhaft und Kunſt. Beſchaͤftigung ſelbſt mit Gutem und mit " 


Nüglihem auf Koften des Velten und Nothwendigſten iſt gefährliche 
Verſchwendung der wenigen Zeit und Mittel, bie bem Menfchen zu: 
gemöffen find. Es gilt biefes befonder6 aud in Beziehung auf die 
kectuͤre, boppelt in einer Zeit, wo, wie in der unfrigen, fo fehr viel, 
natürlich alfo audy fo viel Schlechtes gefchrieben und gelefen wird. 
Eine dritte Art von Lefevereinen, bie noch mehr als bie erſte 
und die zweite in unferer Zeit fi vermehrt hat, befleht in den im 
engeren Sinne fogenannten Lefe: oder auch Mufeums:. ober 
Harmonie:Gefellfhaften. Bei diefen werden in einem gemein⸗ 
ſchaftlichen Locale für die Benugung der Gefelfhaftsglieder von ihnen 
auserwählte Schriften, geröhnlidy politifche und andere Zeitfchriften und 
Erſcheinungen der neueften Literatur, wohl auch die nöthigen Reallexika 
zum Nachſchlagen, zuerft im Gefellfchaftslocale aufgelegt, und dann 
auch als eine gemeinſchaftliche Leihbibliothet von der Gefellfchaft benugt. 
Zugleich verbinden ſich in der Regel mit biefem ernfteren Itede bie 
Zwecke gefelliger Unterhaltung, des Geſpraͤchs, bes Spiels, ber Reſtau⸗ 
ration; der Muſik, des Tanzes u. f. iv. Diefe Vereine haben ſich in 
Deutſchland vorzüglich feit ben Beftelungsktiegen außerordentlich vers 





. " “ [1 “ 


712 Lefegefellfchaften. oo E 


mehrt und find in den meiften Ländern felbft in ben kleinſten Städten, 
ja zumeilen fogar in Dörfern zu finden. Und dhnli entfliehen auch 
jest in Ungarn feit dem höheren Auffchwung dee Nation folche Ber: 
eine. Der feit jener Zeit in Deutfchland erwachte höhere patriotiſche 
" Sinn und Gemeingeift, die Annäherung ber verfchiebenen Stände umd 
der Trieb nach höherer Bildung und Unterhaltung haben fie in's Leben 
gerufen. Der Drud und die Verſtimmungen, die aͤngſtlichen und 
kleinlichen Sefichtspuncte feit dem Eintritte der Reaction, die Unter 
drüdung der Freiheit, insbefondere die der vaterländifhen Preſſe und 
die Hinweifung auf die materiellen und felbftfüchtigen Intereſſen haben 
es freilich verhindert, daß biefe Vereine jenen edlen Richtungen und 
Zweden in der Art hätten dienen und nüsen innen, wie es in einem 
edleren freieren Zuflande der vaterländifchen Angelegenheiten zu ermar: 
ten gewefen wäre: Dennod find fie gewiß nicht ohne große und nüf- 
lihe Folgen für die Bildung der Nation. Es wirken dieſe Vereine 
insbefondere auch für eine höhere Bildung und für erhöhtes Selbfl: 
gefühl des Bürgerftandes. Und überhaupt gelten für fie in erhoͤh⸗ 
tem Grade die ſchon von den beiden erften Vereinen erwähnten nega⸗ 
tiven und pofitiven Vortheile. Diefelben werden um fo größer werden, 
je mehr die Regierungen dadurch die höheren und edleren Richtungen 
der Bürger, ihren edleren vaterländifhen Sinn und Gemeingeift ber: 
vorrufen oder wenigſtens ſich ungehindert entwideln laſſen, daß fie uns 
die Sreiheit nicht vorenthalten, welche faft alle andern civilifirten Völker 
des Welttheils, mit Ausnahme des Deutfchen, genießen. Und biefed 
wird gewiß endlich gefchehen. Hat ja doch die deutſche Nation fo 
feierlich anerkannte vollgültige Rechtsanſpruͤche auf dieſe Freiheiten! 
Und find ja diefelben — die Pflicht gebietet, ed zu widerholen — allein 
im Stande, unfer Baterland zu Eräftigen und gegen fo furchtbare Er: 
niedrigungen und Gefahren, wie wir fie zu Anfange diefes Jahrhun⸗ 
derts erlebten, zu fichern. Es ift auch gewiß Zeit, daß die hohen ſchoͤ⸗ 
nen Worte endlich zu Thaten werden, eben fo, damit nicht hier hohle 
lügenhafte eitle Wortmacherei, als auch damit nicht dort Unzufriedenheit 
und Kraftlofigkeit wachſen. Schon im Jahre 1803 erklärte officiell ein fo 
eben dahin gefchiedener Monarch: dag „der Unterdrüdung der 
„Preßfreiheit“ (womit alle Freiheit zufammenhängt) „ein allge: 
„meiner Nachtheil immer auf dem Fuße folge”*. Und 
wahrlicd), das furchtbare Unglüd von 1806 zeigte diefes. Der Himmel 
bewahre uns, daß uns aͤhnliche Lehre nothwendig gemacht werde! 
Wird aber wahre Freiheit uns nicht laͤnger vorenthalten ſein, alsdann 
werden in der Literatur wie in der Unterhaltung und an den Feſten in 
den Trinkſpruͤchen und in den ſie begleitenden Reden, eben ſo wie in 
dem freien und maͤchtigen England, eben ſo wie bei uns in den Frei⸗ 
heitskriegen und kurze Zeit nachher, wieder alle hochherzigen und edlen 
Gedanken und Gefuͤhle der Freiheit, des Patriotismus, des Gemein⸗ 


*) Klüber, oXffentliches Recht $. 504. Note a, 


⸗ 





Levante: — Piberal, Liberalismus; 713 


geiftes laut werden Binnen, ohne daß Spione und Polizeifchergen lauern 
und denunciren, und die Bürger und Beamten zittern und fi) vom 
Edleren hinweg und allein zu ben niederen gemeineren Gedanken und 
Lebensgenüffen hinwenden. Alsdann erft können uns diefe Vereine 
viele der beſſeren Erſcheinungen und Wirkungen des öffentlicheren Lebens 
und der Volksfeſte der. Alten und unferer freieren Vorfahren gewähren. 
Menigftens ift für das höhere Süd, wie für die edlere kraͤftigere Bil: 
dung und für die Vaterlandsliebe eines Volkes nichts fo wichtig, als daß feine 
Bergnügungen, feine Gefellfehaft, Erholungen, Feſte, Gaſtmahle einem 
höheren Gedanken und Zwede dienen und durch fie veredelt werden. 
Wehe alfo denen, die ihrem Vaterlande dieſes edelfte Gluͤck, diefes 
trefflichfte Veredlungs⸗ und diefes Eräftigfte Schugmittel rauben oder 
verfümmern! C. Th. Welder. 

Levante, f. Orient und Tuͤrkei. 

Fester Wille, f. Erbredht. 

Liberal, Liberalismus. — Wenn es Sklavenvoͤlker gibt, 
denen die Fähigkeit, fi) zum Gefühle der freien Menfchenmwürde und der 
Menfchenrechte zu erheben, verfagt zu fein fcheint, fo gibt es ander: 
feits auch Völker, die mit dem Inſtinct der Freiheit geboren find. Doch 
felbft unter den leßteren wird kaum eines zu finden fein, das durch alle 
Stufen nationaler Entwidelung feine Sceiheit zu bermahren weiß. Es 
Hegt im Weſen alles pofitiven Rechts, bag mit den Zeiten fid) die Wir- 
tungen der Inſtitutionen und Gefege ändern, und je mehr diefelben 
urfprünglid) aus einem unmittelbaren Zeitbebürfniffe hervorgegangen find, 
um fo gewiſſer verkehrt fi) mit dem Wechfel der Verhältniffe ihre Ans 
fangs mwohlthätige Natur in's Gegentheil. Werbindet fi nun mit den 
" Wirkungen der Zeit auf die Gefege und die Rechte audy der Einflu 
der Macht, die überall zur Weberfchreitung ihrer Grenzen und zum Miß- 
braudy hinneigt, fo geht der Schug, den die Vereinigung unter einer 
ordnenden und Ientenden Gewalt gewähren foll, faft unausbleiblich mehr 
oder weniger in Unterdrüdung über. Vorzüglich aber ift e8 die qn fid) 
naturgemäße Bereinigung getrennter Sprah= und Stammgenoffen in 
größere Staats: und Nationallörper, was durch den Despotismus der 
Gentralifation und firenge Unterordnung unter einen Willen eine Pe: 
riode innerlihen Drudes und gemaltfamer Befchräntungen der indivi⸗ 
duellen und Iocalen Freiheit herbeizuführen pflegt. 

So fehen denn die meiſten Voͤlker, bis ihr phyfifchee Organismus 
gehörig erftarkt ift, und ihr Außerliches Dafein Confiftenz gewonnen bat, 
ihr innere® Leben mannigfach gefeffelt und gehemmt. Wenn aber nun 
mit der Vollendung ihres Lörperlihen Wahsthums auch die höhern See= 
Ienträfte reifen und ein geiftigerer Sinn fidy regt: alsdann erwacht der 
Trieb, die allzu ſchwer gewordenen Feſſeln abzuftreifen, dem Individuum 
feine Setbftftändigkeit, den Gemeinden, Corporationen und ganzen Pro: 
vinzen ihre Geltung zurückzugeben, und die verlorene Freiheit wieder zu 
erlangen. Der Liberalismus ift es dann, der den erwachten Geift der 
Freiheit auf vernünftige Principien zurüds und feinem höhern Ziel ent» 


[} 
N I 


714 ziberal, Liberalismus. 


gegenführt, oder, wo er ‚noch ſchlummert, durch bildende Inſtitutionen 
und durch Aufklärung des Volks über feine Rechte und Intereſſen ihn 
zu weden ſucht. Er will den trüb gewordenen Strom der Menfchenfa: 
kungen von feinem Schlamme fäubern und das verdorbene, verfälfchte 
Recht aus feinem ewig frifhen, immer reinen Urquell, der Vernunft, 
erneuern. Wenn an die Stelle des Geſammtwohls das egoiftifhe Son: 
derintereffe eines einzelnen Gewalthabers, einer herrſchenden Partei oder 
einer bevorrechtelen Kaſte ſich gefeßt hat, fo leitet der Liberalismus bem 
Staatszweck wieder auf das zurüd, was die Gefammtheit in ihrem ver 
nünftigen Sntereffe will oder wollen muß, und biefen Staatszweck ſucht 
er mit möglichft geringer und möglichft gleicher Beſchraͤnkung der Frei 
beit Aller zu erreichen. Eben deshalb bleibt, auch fein letztes Ziel, auf 
dem Wege naturgemäßer Entwidelung bes Volkslebens die Stufe zu 
erreichen, auf welcher die höchite und die gleichfte Freiheit Aller möglich 
iſt. Welcher Grad von Freiheit und von Gleichheit aber moͤglich fei, 
ohne die vernünftigen Zwecke des Staats, und namentlidy den, alk 
andern Staatszwecke bedingenden , der friedlichen Goeriftenz der Staats 

genoffen zu gefährden oder zu vereiteln, ift nach der Verſchiedenheit des 

Nationalcharakters, dee Culturperiode und der übrigen Momente dei 

Volkslebens fehr verfchieden. Diefelben Inſtitutionen, welche bei einem 

gebildeten Wolke die Schugmehr aller Freiheit und die Lebensbedingun⸗ 

gen des Fortfchritts find, Preßfreiheit, Volksvertretung, Schmurgericte, 

Mationalbewaffnung, koͤnnen bei einem ungebildeten, noch auf ber Kind: 

beitsftufe der Entwidelung ftehenden Volke eine Duelle ber Zerrättung 

und Gefeglofigkeit, ein Werkzeug der Gemalt und Unterdrückung werden, 

und von der blos privatrechtlichen Freiheit und der rein paffiven Gleich⸗ 

heit eines von jeder Theilnahme an der Staatsgewalt ausgeſchloſſenen 

Volks bis zur demokratiſchen Selbftregierung liegt eine weite Stufen: 

reihe liberaler Inftitutionen. in der Mitte, von denen ber vernünftige 

Liberalismus keine weder unbedingt verwerfen, noch für die abfolut heil: 

bringende erklaͤren wird. Er gibt derjenigen den Vorzug, welche der je: 

weiligen Durhfchnittsbildung, der Gefittung und Aufklärung eines br: 

flimmten Volles die entfprechendfte und zugleich bem Fortfchritte zu bi 

berer Entwidelung die günftigfte if. Aber immer bleibt fein leitender 

Gedanke die möglichfte, mit der fihern und vollflindigen Erreichung der 

vernünftigen Staatszwede vereinbare gleiche Freiheit. 


Und eben diefer Grundgedanke, ift nur die Anwendung des höchften 
Nechtögefebes auf den Staat. Das wahre Recht ift nichts Andere, 
als die ausgebehntefte und gleichfte Freiheit Aller, die ſich mit friedliche 
Goeriftenz verträgt ; und da der Staat auf die Idee des Rechts gegrün: 
det ift, da im Vernunftftaat ſtets und überall das Recht regieren fol, 
da der Liberalismus nichts iſt, als der Inbegriff der auf Herſtellung 
eines vernünftigen Rechts gerichteten Beſtrebungen: fo bat wohl fein 
Princip mehr als irgend ein anderes politifches Princip gerechten Anfprud) 
auf die allgerneintte Anerkennung, an ber es ohne Zweifel aud nicht 





Liberal, Liberalismus. 713 


fehlen würde, wenn nur daffelbe den nod in vielen Ländern uͤbermaͤch⸗ 
tigen dynaſtiſchen und ariftofratifhen Intereſſen günftiger wäre. 

Daß unter dem gleichen Rechte und ber gleichen Freiheit Aller, 
welche der Liberalismus fordert, nicht die Außerliche Gleichheit von Be⸗ 
fig und Macht gemeint fein koͤnne, indem Rechtsgleichheit himmelweit 
verfchieden iſt von materieller Gleichheit des Beſitzes, und die bleibende 
Duchführung der Iegtern ohne einen die Freiheit bed Verkehrs, des 
Eigentbums und der Verträge vernichtenden Despotismus gar nicht 
denkbar wäre, — dies wird zwar allmdlig von ben Gegnern bes Libe⸗ 
ralismus eben fo gut, als von den Liberalen felbft eingefehen. Aber 
14 Liberalismus ift darum nicht minder Gegenſtand ber leidenfchaftlichiten 

nfemdung und der gehäffigften Vorwürfe, unter denen bie gewoͤhnlich⸗ 
ften die find: dag derfelbe im Grunde nichts fei, ale ein grober Egois⸗ 
mus; baß er, indem cr als oberſtes Geſetz überall nur den wandelbaren 
Willen dee Majorität gelten laſſen wolle, das Recht zu etwas rein Zus 
fälligem, Willtürlihem und Aeußerlichem herabfege; daß er methodiſch 
darauf ausgehe, den Staat von jeder fittlich=religiöfen Grundlage los⸗ 
zureißen und deswegen unvereinbar fei mit bem chriftlihen Staate und 
mit dem Traͤger der gefammten europäifchen Cultur, dem Chriftenthum. 
Derfelbe fol ferner, bei feiner egoiftifch-materialiftifhen Zendenz, auch 
alles pofitive Recht zerflören, alle erhaltenden Principien des wahren 
Rechts untergraben, jedes Band der gefellfchaftlihen Ordnung auflöfen 
und, wenn es ihm zuletzt gelungen, alle Beſtehende umzuflürzen, an 
die Stelle von Recht und Freiheit Anarchie und Poͤbelherrſchaft oder 
ein Syſtem despotifcher und unnatürlichee Gleichheit fegen. 

Es ift nur zu gewiß, daß in der Gefchichte der Freiheitsbeftrebun- 
gen und Steiheitstämpfe Züge vorfommen, die zu diefer Schilderung 
paffen. Allein bier muß zuvoͤrderſt doc daran erinnert werben, daß, 
fobald man, wie es fein fol, die Perfonen von den Sachen unterſchei⸗ 
det, nicht jeder Mißgriff, jeder Fehler auch redlicher Liberalen, fofort 
auf bie Verantwortung des Liberalismus felbft gefegt werden darf. So: 
dann möchten, da alles Gute und fogar nur das Gute mißbraucht wer: 
den Tann, die Verbrechen derjenigen, welche unter der Maske ber 
Freiheit und Gleichheit ſelbſtſuͤchtige Zwecke verfolgen, dem Liberalismus, 
als folhem eben fo wenig zur Laft fallen, als das Chriftenthum bie 
Scheiterhaufen der Inquifition und die Heidenbekehrungen durch das 
Schwert zu verantworten bat; und menn endlich aud) der Egoismus 
unferer Zeit nicht felten ſich des Liberalismus als eines Werkzeugs und 
Vorwands bedient, fo iſt doch erfterer nicht des legtern Quelle. Denn 
die Anerkennung einer urfprünglichen Gleichheit aller Menfchen ift nichts 
Egoiftifhes, und offenbar ift derjenige weniger egoiftifh, der im Geifte 
allgemeiner Freiheit blos gleiches Recht für fic) begehrt, als der, welcher 
Vorrechte verlangt; offenbar meint e8 derjenige mit feinen Nebenmen- 
fhen beffer, welcher die gleichen Mechte Anderer vertheidigt, als ders 
jenige, welcher fie den Mächtigen verräth und Preis gibt. 

Unterfucht man aber den Gehalt bee weitern Anklagen genauer, 


⸗ 


klaͤrt er insbefondere jede Mehrheitsentfcheidung, welche 
gegen ihren Willen nah einem andern Geſetz behanb 
derjenigen, welches die Mehrheit auch für fih als bi: 
und für unbedingt verwerflich gilt ihm jeder Majoritä: 
dem Moralgefege zumiderläuft. Jenes Princip der größtmd 
Freiheit Aller oder der gleichen Achtung jeder vernünftk 
Leit ift aber mindeftens eine eben fo unvergänglide Grun 
thatfächlich Beſtehende, was die Confervativen heilig fpre 
irgend eine pofitive Offenbarung, welche bie Jünger 
Rechts in ihrem Sinne deuten. - Denn Vernunft und 
den ewig die Gleichheit aller Menſchen ober die gleich 
fremden Perfönlichkeit, welche man für bie eigene anfpei 
und eben dieſes Princip flimmt auch ‚mit ben Geboten d 
Sittenlehre fomohl, als insbefondere mit dem chriftlich: 
fo innig überein, daß faſt nur böfer Wille behaupten kan 
des Liberalismus zerftöre die fittlichen Elemente bes St 
bürgerlichen Gefellichaft. | 
Indeſſen ift nicht zu leugnen , bag es Kiberale gibt 
nem andern Staatszweck ald dem Rechtsſchut und ber € 
Sicherheit und die Bequemlicyleit des aͤußern Dafeins w 
lichen, religioͤſen und intellectuellen Interefien aber ganz f 
laſſen wollen. Allein das oft hervorgetretene Beſtreben, 
keit des Staats einfeltig auf den moͤglichſt engen Umkreit 
ten, bat feinen Urfprung. nur darin, daß flatt des wirkl 
wohls allzu häufig die felbftfüchtigen Zwecke und Interef 
Lieblingsideen und individuellen Anfichten der Gewaltt 
werden; es muß von felbft aufhören, fobald ald Staats, 
anerkannt wird, was bie Geſammtheit wirklich als in ih 
"Tiegend will, und fobald die Staatsgewalt von jener fal 


E. ru Mamas Bin mis Mahatın uch Mache 


Liberal, Liberalismus. 717 


Rechtöverlegungen, nicht auch Verletzungen der Sittlichkeit die Thä- 
tigkeit der Staatsgefeggebung in Anſpruch nehmen und felbft der Straf: 
gewalt des Staats verfallen innen, muß für die Öffentliche Sittlich⸗ 
keit verberblich wirken. Aber es ift keineswegs Gleichgültigkeit oder gar 
Auflehnung gegen das moralifche Gefeg, wenn der Liberalismus gegen 
eine allgemeine fittlihe Bevormundung der Staatsbürger ducch bie 
Staats: oder eine vom Staat autorifirte Kirchengewait ſich ſtraͤubt. 
Diefer Widerwille hat vielmehr feinen guten Grund in der Erfahrung, 
tie mißlich und mie wenig förderlich es der wahren Sittlichkeit ift, 
einen Menfchen zum bewaffneten Gewiſſensrichter des andern zu machen, 
wie viel Unheil durch unduldſame, befchränkte, herefchfüchtige, oder 
durch heuchlerifche und ſelbſt fittenlofe Sittenrichter angerichtet wer⸗ 
den kann. 

Eben fo wenig ift es ein Zeichen von Irreligion, wenn der aufs 
gektärte Liberale den Genuß ber flaatsbürgerlihen echte nicht, von | 
einem beftimmten Glauben, fondern von ber Erfüllung der ſtaatsbuͤt⸗ 
gerlihen Pflichten abhängig gemacht wiffen till; und wenn wirklich 
der Liberalismus ſich von der Kirche abgewendet hat und nicht felten 
auch dem Chriftenthum entfremdet erfheint, fo find daran gleichfalls 
diejenigen Schuld, welche nicht aufhören, den blinden unbebingten Ge: 
horfam als erfte chriſtliche Buͤrgerpflicht zu predigen , diejenigen, welche 
die Kirche der weltlichen Gewalt dienfibar gemacht, oder bie Lehre des 
Evangeliums entflelt und mißbraucht haben, um den Menfchen geis 
flige und leibliche Feſſeln zu fchmieden, fie in Drud, Dumpfheit und 
Aberglauben zu erhalten, fie zu plündern und herabzuwuͤrdigen. Der 
Liberallomus bedarf der Religion allerdings nicht, um rechtlich unhalt⸗ 
baren Anmaßungen eine trügerifche Stüge zu verleihen, und dem miß- 
braͤuchlich fogenannten göttlichen Rechte muß er ein Recht von wahr: 
haft goͤttlichet Art, das Recht der Vernunft, entgegenfegen, in beren 
Ausfprüchen der ewige Schöpfer ſich eben fo gewiß fund geben wird, 
als in den pofitiven Dffenbarungen, bie ja ihte legte Beglaubigung für 
ein dentendes Wefen doch audy nur durch ihre Uebereinftiimmung mit 
den Gefegen feiner Vernunft erhalten koͤnnen. Allein wo immer bie 
Kirche zur urfprüngfihen Reinheit der Chriflustehre zuruͤckgekehrt und 
aus einer Dienerin oder Verbündeten ber Gewalt, aus einem Werk: 
zeuge der Anmaßung und Unterdrüdung wieder zur Tröfterin, Erleuch⸗ 
terin und geiftigen Erlöferin der Menfchheit geworden Ift, ba merden 
auch die Achten Liberalen gern bekennen, dag nichts auf Erden wirk- 
famer fein koͤnne, um jene Kraft aufopfernder Entfagung und Hin⸗ 
gebung zu erzeugen, unb, alle jene fittlihen Motive zu verftärken und 
zu heiligen, von deren ungeſchwaͤchter Wirkſamkeit allein fie den voll- 
fländigen Triumph ihrer Sache erwarten dürfen. Denn Chriftenchum 
und Buͤrgerthum haben ja theilwelfe einen Zweck und gleicyes Biel; 
nur wenden fie verſchiedene Mittel an. Auch das Chriſtenthum till, 
daß Fein Menſch über Seinesgleihen ſich wiilkuͤrliche Gewalt anmafe 
und feinen Nächten unterbrüde, daß Jeder dem Andern thue, was er 


amertennt, beugt-er ſich aud) vor jener höhe geheim 
die durch die Stimme des Gewiſſens zu der ganzen 
amd an beren Innere Offendarungen er glauben mu 
Glauben am ſich felbft und an die Menfchheit mid 
Der denlende Liberalismus verkennt alfo Be d 
menhang von Recht, Moralitit und Glauben; er 
Stante Deigiem und Sitte nicht gleihgüttig ſein duͤrf 
ſelbſt nicht unheilbare Wunden ſchiagen will; und wer 
zichtet, das, was feiner Natur — nicht erzwingbar 
fand direeter Bmangsgefege machen zu — — 
wohl, daß Nefigiofität und Sittüchteit und alle 
effen eben fo gut der — — er alı 
daß auch fie nicht nur auf Schuß, fondern auf 
vermöge des vernünftigen Staats wecks Anfprudy Br ade 
zalen find es ja gerade, welche thatfächlich am 

jerung ber materiellen Zuftände, fonderm auch 
Auftlärung, auf Volfserziehung, auf ie 
dungsanftalten dringen. 

Wie mit dem Vorwurf des politiſchen Materiat 
ſich im Wefentlichen = mit der angeblidy deſtructiver 
bespotifchen Tendenz ber Liberalen. Wie nicht leicht . 
Erfehütterungen ein neues Element in die Weltgefchich 
gen 8 in der —— Staatsumwaͤtzung 


a geltend macht, ehe Erfahrung und Nachb, 
fen um — Haben. diefe Peuode, — 
—* iſt —— —— Shaun Kan = 
holen, mo die Freiheit durd) derftodten, blinden und | 





Liberal, Liberalismus. 719 


ben unentweibhten Patriotismus der Völker, an das hingebende Ver⸗ 
trauen, das fie in ihre Fuͤrſten festen, und an die Befcheidenheit der 
Forderungen, welche damals gemacht und als gerecht anerkannt wur: 
den. Wie in Spanien die Revolution der Gortes und die Julirevo⸗ 
Iution in Frankreich urfprünglih einen reinen Charakter edler Mäßis 
gung gezeigt, den nur Taͤuſchung und Gewalt von oben in fein Ge: 
gentheil verkehren und durch Aufregung gehäffiger Keidenfchaften ver: 
giften Eönnen: nicht minder rein und edel war au in Deutfchland 
jene patriotifhe Erhebung, welche eben fowohl der Wiederherftellung 
der Volksfreiheit im Inneren, alö.der Abwehr eines Außeren Seindes 
galt; und hätten die Machthaber im Geift der Jahre 1813—15 fort: 
gehandelt, wäre der deutfchen Nation ihr volles unverkuͤrztes Recht 
geworden — Fein Sand und Löning wäre aufgeftanden, kein bewaff: 
neter Arm des Bürgers hätte in deutfchen Ländern ſich gegen die, 
Staatögewalt erhoben, Fein Frankfurter Attentat hätte den deutfchen 
Zürftenrath in feinem Bundesfig bedroht, Leine politifchen Verfolgungen 
' hätten die Gefängniffe mit Angefchuldigten, das Ausland mit Slücht: 
lingen angefüllt. 

Dem wahren Wefen ber Freiheit iſt gewaltfame Zerſtoͤrung und 
despotifches Nivelliten fremd. Auch find die heutigen Liberalen wohl 
der großen Mehrzahl nach darüber einig, nicht unmittelbare Volksherr⸗ 
ſchaft, fondern einen ſolchen Zufland zu erfireben, in welchem eine 
dem entichiedenen Volkswillen und Volksintereſſe beharrlich widerftrebende 
Regierung nicht mehr moͤglich iſt. Zwar vindicirt der Liberalismus das 
Recht der legten Entfcheidung über alle gemeinfamen Angelegenheiten, 
im Staate wie in jeder andern freien und felbftftändigen Gefellfhaft, 
urfprünglic der Majorität, ald dem natürlihen Organe der Ge— 
fammtheit, in denjenigen Fällen, wo Stimmeneinhelligkeit nicht zu er: 
langen und einen Beſchluß zu faffen doch nothwendig if. Auch gilt 
ihm diefed Recht für ein unverdußerliches, weil, fobald daffelbe unmwi- 
derruflich veräußert ift, der Staat aufhört, eine Gefellfchaft, eine Ge: 
fammtperfönlichkeit zu fein (mie unter dem Artikel „Fuͤrſt“ gezeigt ift). 
Deswegen aber verlangt der vernünftige Liberale doch Feineswegs, daß 
die Staatdangelegenheiten unmittelbar durch allgemeine Stimmgebung 
entfchieden werden. Ein folcyes Begehren wäre allerdings deſtructiv; 
es würde beftändig in den Urzuftand der bürgerlichen Geſellſchaft zurüd: 
führen und den flantögefellfchaftlichen Organismus in lauter Atome 
zerfplittem, um feinen Aufbau immer wieder von vorne anzufangen. 
Dabei waͤre gänzlich uͤberſehen, daß zur Freiheit auch das Recht der 
freien Selbſtbeſchraͤnkung wefentlic gehört, und daß, wo es entſchie⸗ 
dener Wille der Mehrheit iſt, daß die vom Volke anerkannte Staats: 
gewalt die Öffentlichen Angelegenheiten beforge, oder bag an ber Be: 
forgung biefer Angelegenheiten geroiffe Claſſen der Staatsbürger vor⸗ 
zugsweifen Antheil nehmen, die Mehrheit das, mas eine von Män- 
nern ihres Vertrauens umgebene Regierung befchließt, im Ganzen wohl 
auch dem befonnenen Volkswillen gemäßer finden wird, als mas durch 


3 





720 Liberal, Liberalismus. 


allgemeine Stimmgebung in jedem einzelnen Fall befchloffen werden 
tönnte. Blos wenn der Zuſtand des hiſtoriſchen Rechts ein fo verdor- 
bener if, daß er dem natürlichen Rechte ſchlechthin unuͤberſteigliche 
Hinderniffe entgegenftellt, kann es nothwendig fein, auf einen tiefen 
Standpunct der gefelfchaftlichen Entwidelung oder gar auf ben gefel: 
ſchaftlichen Urzuftand zurüdzugehen, um .nur die Möglichkeit des Sort: 
ſchritts wieder zu gewinnen. Sonft achtet flets der Anhänger des ver: 
nünftigen Rechts nicht weniger, als der Vertpeil 


ter und vernünftiger Freiheit georbnete und organifch ſich entwickelnde 
Staat die allgemeine Stimmgebung erfegen muß; er achtet fie, fo 
lange fie dem Willen der Gefammtheit nicht unzweifelhaft zuwider find, 
und eben fo lange gilt ihm auch für unerlaubt und rechtswidtig, zur 
Geltendmadjung des Geſammtwillens ſich anderer Mittel zu bedienen, 
als die das beftehende Gefeg und pofitive Recht geflattet. Denn bir 
Forderung des Rechts ift genug gethan, wenn ein Volk fo viel Frei: 
heit und Gleichheit befigt oder auf friedlichen, gefeglihem Wege fih 
verfchaffen kann, als es ſelbſt haben will, und als mit d_ geficherten 
Erreichung aller vernünftigen, vom Wolke felbft gewollten Stantszwede 
vereinbar ifl. Und mehr darf auch der Liberalismus nicht begehren. 
Verlangt er für die Gefammtheit der Staatöbürger oder für einzelne 
Glaſſen derfelben mehr Freiheit, als nach Maßgabe ihrer Bildungs: 
ftufe, ihrer politifchen Reife und Selbftftändigkeit, mit der Erhaltung 
des Staats und feinen Zwecken, befonders aber mit dem erfien und 
abſolut wefensfichen Staatszwecke einer friedlichen Coerifteng verträglich 


ift: fo zerftört eine foldye Freiheit, tie das Beifpiel_der zu früh eman- 





Liberal, Liberalismus. 721 


bewegen kann, mithin die Ungemißhelt über ben wahren Willen der 
Sefammtheit und Über den Grad ihrer Mündigkeit und Reife, was 
den Liberalismus verführt, feine Zuflucht zu ben Mitteln der Gewalt 
zu nehmen und einem Voike eine Freiheit aufzubringen, welche es nicht 
haben will ober bie e8 ohne Mißbrauch zu ertragen noch nicht fähig iſt. 
Ein wildes, übereilte® Jagen, ein in gewaltfamen Ertremen ſich bewe⸗ 
gender Sturmfchritt, iſt keineswegs an fidh ber Freiheit eigen. Viel⸗ 
mehr ift Langfamkeit bes Fortſchrittes eine Eigenthuͤmlichkelt der Freiheit.’ 
„In einem freien Lande” — fagt Bentham, und das Beifpiel feines 
freien Vaterlandes bezeugt es — „haben alle Meinungen eine Kraft, 
die ihnen Widerftand geftattet, und fie weichen nur der Ueberzeugung. 
Nicht im der Freiheit, fondern in der Unterdrüdung und der Rechtes 
verweigerung liegt demnach die Gefahr, die heut zu Tage dringender als 
irgend eine andere die Ruhe ber Staaten bedroht, und der Mißbrauch 
der Staats» und Kirchengewalt zur Unterdrüdung ber rechtmaͤßigen 
Freiheit ift es, mas den reinen Liberaliamus in libercien Materialismus, 
Rabicalismus und Despotismus verkehrt, die Loofung zum Würgerkrieg 
und Xerrorismus gibt, dee Anarchie und Willkuͤrherrſchaft breite Straßen 
bahnt. Denn wie die Sünde Sünde gebiert und wie eine Uebertreibung 
in naturnothwendiger Folge die entgegengefegte Uebertreibung hervorruft: 
fo macht überall der Mißbraudy aud den rechten und wohlthaͤtigen 
Gebrauch verdächtig, Vertrauen, Hingebung und tilliger Gehorfam 
fhwinden, mwo eine Saat ber Taͤuſchung ausgeſtreut wird, und ber 
Geift der Auflehnung, durch Willkür und Unrecht erzeugt, durch ein 
ewiges Verſagen groß gejogen, durch den Mißbrauch heiliger Namen, 
hinter denen die Gewalt und Anmagung fid birgt, an allem Glauben 
iregeworben, überfliege nur allzu leicht fein Ziel. Aber nicht die Negers 
ſtlaven dürfte Amerika, nicht die Irländer dürfte Großbritannien, nicht 
die Völker dürfen die Regierungen anlagen, wenn eine lange Rechtes 
verweigerung zum ſchlimmen Ende führt, und biejenigen, melde «6 
unmöglid machen, die Wunden der Gegenwart zu heilen, indem fie 
Vergangenes und Aufgeloͤſ tes wieberherftellen, die Lebenbigen den Todten 
unterwerfen und bie Weltgeſchichte zu einem ruͤckſchreitenden Gange 
zwingen wollen, die Abfolutiften des Staates und der Kirche, ſowohl 
Artftokcaten als Servile, haben keinen Grund zu triumphiren, wenn es 
die Kräfte ihrer Gegner überfleigt, in wenig Jahren wieder gut zu 
machen, was Jahrhunderte des Drudes verdorben und zerrättet, noch 
haben fie em Recht, zu fehmähen, wenn jene, nothgebrungen und 
gewaltſam fortgeftoßen, eine Bahn betreten, auf der das Innehalten oft 
nicht mehe vom freien Willen abhängt. 

Wenn aber die Ausſchweifungen eines unaͤchten oder mißverſtan⸗ 
denen Liberalismus nichts Anderes als Werirrungen find, verfchuldet 
duch die Mißhanblung bes Achten, fo Binnen jene auch dem Werth 
des legtern keinen Eintrag thun. Daher begnägt man fi, befonders 
in Deutfchland, nicht mit den Vorwüͤrfen melde blos den faiſchen 
treffen, fondern greift mit ſyſtematiſchem Uebelwollen, mit affectirter 

Staats » Lerikon. IX. 46 


728 Biberal, Sheralimad, 


Verachtung und mit offener Verleumdung aud ben wahren an. Ja 
Deutfhland, wo nad) den verflogenen Slufionen. der Befreiungskriege, 
wegen ber fortdauernden- Trennung der Völker und ber immer engen 
Verbindung der Regierungen, die Volksſache von Anfang an faft ohne 
Ausfiht war, und der Geift des Jahrhunderts feit ber Julirevolution 
doch aud fein Recht unwiderſtehlich geltend machte, in Deutſchland 
wird nicht bios ber Liberalismus gefliffentlich mit allen Auswüchfen bes 
geaffeften Radicalismus identificiet, ſondern nicht felten auch den com 
flitutionellen Liberalen ihre Mäßigung zum Vorwurf gemacht, indem 
man fie Heuchler oder zahme Revolutionäre nennt, bie ſich vor den 
Gonfequenzen ihrer eigenen Grundfäge fürchten; und ſeitdem bie Re 
action ſich ihrer ganzen Uebermacht bedient hat, um den Liberalismus 
waffenlos zu machen, erhoben ſich von allen Seiten Tauſende von 
Stimmen gegen ihn, bie fonft geſchwiegen hätten, ober aus einem 
ganz andern Tone ſich würden vernehmen iaſſen. Es ift fo leicht, 
den, welcher vom Erfolg verlaffen iſt und nur mit halber Stimme 
oder gar nicht fprechen darf, vor der Welt in ein ungünftiges Licht zu 
flellen, den Wechfel der eigenen Grundfäge oder das Verleugnen, wenn 
es nicht mehr lohnend iſt, fie auszufprechen, in's Gewand der Vater 
Iandeliebe und beforgten Pflichtgefühls zu leiden, ober felbft anklagend 
und verdammend jenen gegenüberzuttefen, welche ben unveränderten 
Anforderungen des Rechtes und der Pflicht auch unter veränderten Ums 
fländen zu genügen fuchen, und darum noch nicht das Unmoͤgliche zu 
verlangen glauben, teil fie auf Forderungen beftehen mäffen, melde 
nicht erfült werden. Wie aber von jcher die Apoftel des Despotismus 
den Völkern die Uebel, melde jener ihnen zugefügt, noch zum Ber 





brechen machten und, gleich dem Wolf der Fabel, die Freiheit befcul- 


Liberal, Liberalismus. 723 


Wuͤnſche, Zurüdweifung ihrer Anträge etwas fo Alttägliches ift, dag 
fie Regierungsmarime geworden zu fein fcheint, wird jeder Widerftand 
von ihrer Seite gegen Maßregeln, bie dem liberalen Princip zumibder: 
laufen, als fpftematifche Oppofition verfchrieen. Wenn fie auf Sicher: 
ſtellung ber verfaffungärhäßigen Freiheit dringen, fo foll das feinen 
andern Zweck "haben, nis den Regierungen Verlegenheiten zu bereiten. 
Wenn fie die Intereffen der Gefammtheit wahren und das unver: 
Außerliche Recht des Fortfchrittes geltend machen, fo find das Träume 
eines kranken Gehirns, ober es iſt Umfturz des Beſtehenden, Anarchie 
und Poͤbelherrſchaft ihr geheimes Ziel. Weil ſtets die Mafle eines 
Volles für daB, was fie will und braucht, der Führer und Vorkaͤmpfer 
bedarf, meil fie nicht bei günfligem und bei ungünfligem Erfolg mit 
gleihem Eifer ſtets ihr Ziel verfolgt, fo ſoll auch der liberale Aufſchwung 
in fo vielen Ländern nur das künftliche Erzeugniß weniger Webelgefinnten 
oder Schwärmer geweſen fein, die in der Volksmeinung, in dem 
gefunden Sinn bes Volks, keinen Boden hatten. Weil in den klei⸗ 
neren Staaten eine Vollsvertretung ohne Preßfreiheit, ohne Recht der 
Stenervermweigerung und unter ber bewaffneten Gontrole der abfoluten 
Mächte, für das Wohl des Landes wenig ober nichts vermag, fo foll 
das klar beweifen, daß das ganze Mepräfentativfpflem nichts taugt. 
Dos Zuſammenwirken Gleihgefinnter, ohne das doch ein Erfolg poll 
tifcher Beſtrebungen undenkbar ift, fol nur den Regierungen erlaubt, 
bei den Vertretern des Volks hingegen dem geleifteten Eide zumider und 
ein Zeichen blinder, gewiffenlofer Parteiwuth fein. Selbſt die Erfolgs 
fofigkeit ihrer Bemühungen wird den Liberalen von denjenigen vors 
geworfen, an deren Gegenwirkung fie gefcheitert find, und während bie 
Ultrablätter des Abfolutismus und bes Feudalismus alle Wege gebahnt 
finden, um die Parteilüge für Recht und Wahrheit, Infolenz und 
binterliftigen Angriff nody für Schonung auszugeben; während officielle 
Lobredner der Gewalt verfihern, die Kreiheit der Aeußerung fei unbes 
ſchraͤnkt, fobald man nur in einem Zone zu fchreiben wife, ber die 
Pfiihten eines guten Bürgers nicht verlegt, ift die freifinnige Preffe 
enfmeher gefeffelt oder in dem größeren Theile von Deutfchland ganz 
geächtet. 

Dazu fommt noch von andern Seiten der in Deutfchland vors 
zugsweiſe einheimifche Fatalismus einer Traͤgheit, welche immer lieber 
zufieht und abmartet, als durch einen muthigen, entſchiedenen Ents 
ſchluß ſich blosſtellt; Lieber den beflehenden Zuftand, wenn man nidıt 
perfönlich dabei leidet, gut und preißwürdig und die ganz unleugbaren 
Gebrechen unvermeidlich findet, als für mögliche Verbefferung ein Opfer 
bringt. Man bält es häufig ſchon für eine große Unparteilicykeit, 
wenn man erflärt, man fühle fidy nicht berufen, weber ben Ankläger, 
noch den Lobredner ber Regierungen zu mahen; man möchte zwar 
nicht durchaus Alles rechtfertigen, was von Seiten bee Machthaber 
geſchieht, man will auch nicht gerade behaupten, daß die jegige poli⸗ 
tifche Stellung ber beutfchen Natlon bie wärbigfte fe, ober man findet 





726 Liberal, Liberalismus. 


Kampf mit Waffen des Geiſtes zu fein, er ift ein Kampf ber mare 
riellen Macht, der alle Waffen zu Gebot ftehen, gegen eine Partei, 
welcher nur flumpfe Waffen noch zum Schein geblieben find, — en 
Kampf, der eben deshalb mehr geeignet ift, bei denen, Die nicht prüfen, 
Mißachtung und Gteihgältigkeit, ais Spmpathieen für die Sache con: 
flitutioneller Freiheit zu ergeugen. 

Wenn nun vollends die Pforten zur Macht den Liberalen vır 
fchloffen oder nur um den Preis ber Apofkafie geöffnet Find; wenn bie 
geringe Anzahl werkthätiger Liberalen, die, um nichts unverfucht zu 
taffen, was die Ehre fordern koͤnnte, in hoffnungslofer Zeit neh 
Schritt für Schritt das urkundliche Recht vertheidigen, von Indife 
tenten und Ultraliberalen als beſchraͤnkte Köpfe behandelt werten: 
wenn einer verleumdeten, duch numerifhe Gewalt zum Schweigen 
gegwungenen Minorität, anjtatt des Troftes, die Wahrheit, obgleik 
ohne Erfolg, gefprohen zu haben, nur die Genugthuung übrig bleibt, 
das Bild ihres Wirkens und Wollens in cenfiten Blättern bis jur 
Unfenntlicheit entſtellt zu fehen: fo ift von ſelbſt Mar, bag in Deutid: 
land die Volksſache aud nicht auf jene Widmung aller Kräfte und 
Gedanken rechnen kann, ohne bie fie überall nur kuͤmmerlichen Fort: 
gang hat, und daß von einem blos noch in Drudfdriften von mehr 
als zwanzig Bogen und auch hier nur unter poligellihen und gericht⸗ 
lichen Beſchraͤnkungen aller Art zum Wort kommenden Liberalismus 
ihr fein fihtbares Heil erwachſen kann. 

Wird aber diefes Alles zu dem von der Reaction gewuͤnſchten Bicle 
führen? Oder muß, wenn vor der Hand bie Molle bes durch die 
Gongresbefhlüffe von 1834 vollends niedergebrüdten Repräfentatie: 
ſoſtems in den conflitutionell genannten deutſchen Staaten ausgefpiit 














Liberal, Liberalismus. 727 


wenig untergehen, als die Vernunft felbft untergehen kann. Das 
Gefühl urfprünglicher Gleichheit der Rechte. von dem fid die Freiheit 
naͤhtt, lebt in der Menſchenbruſt fo unvertilgbar wie die Stimnie des 
Gewiſſens, und von allen gegen den Liberalismus vergebracten übeln 
Nachreden ift Leine grundloſer ald die, mit welcher man befonders in 
Deutfhland der Polemik gegen die Freiheitsbeftrebungen die Krone 
aufzufegen meint: der Liberalismus fei eine Erfindung feichter Köpfe 
oder hohler Sdeologie, ein Spiel mit willkuͤrlichen Abftractionen ohne 
innere Wahrheit und Nothmwendigkeit, eine Sammlung unfruchtbarer 
Augemeinheiten, gut, um den Pöbel eine Zeit lang zu beraufhen und 
befchränkte Fanatiker zu wilder ieberhige zu entzünden; aber gleich 
unfähig, organiſches Leben zu erfchaffen, wie organifches Keben zu 
begreifen, önne er hoͤchſtens einen todten Mechanismus, nie eine 
lebendige pofitive Weltordnung begründen. 

Die Erfahrung widerſpricht denen, die folhe Behauptung aufs 
ſtellen, und ihre eigene Sucht ſtraft fie Lügen. Denn dag im Kampfe 
gegen ganz Europa bie franzöfifhe Revolution Ianue Beine fefte Geſtait 
gewinnen Tonnte, und daß ber Zuftand Frankreichs heute noch ein 
ſchwankender ift, daß in Polen und Itallen die Freiheit fremder Uetere 
macht unterlag, daß ber Liberalismus in Spanien und Portugal, 
unter ben Erſchuͤtterungen eines durch auswärtige Unterftügung genaͤhr⸗ 
ten Bürgerkriegs, über den ganzen unheilvollen Nachlaß eines duch 
viele Menfchenalter fortgefegten geiftlihen und meltlihen Despotismus 
nod nicht Here geworden, daß in Deutfcland die conflitutionellen 
Formen ohne. das Wefen des Nepräfentativfgftems fruchtlos geblieben, — 
dieſes Altes beweiſ't noch Feine Unfähigkeit des Liberalismus zu organifchen 
Schöpfungen, fo wenig als es eine Unmacht oder ein Erloͤſchen des 
organifhen Bildungstriebes in den Voͤlkern, melde fih ben Zeitideen 
zugewandt, beiweif’t, wen der Affociationdgeift oft vergebens gegen den 
noch uͤbermaͤchtigen Zunft» und Kaftengeift, das Princip der freien 
Wahl gegen das Princip der Erblichkeit ankämpft und wegen bes 
übermächtigen Widerſtands nichts Zeitgemäßes, Dauerndes geſtalten 
ann. Gegründet auf das Lebensvolifte, Schöpferifchefte, mas es gibt, 
die Freiheit, verlangt auch der Liberalismus keine tödtende, mechaniſche 
Gleichfoͤrmigkeit, wenn er auf Anerkennung gewiſſer allgemeiner Gefege 
deingt und, bei gleichen hiſtoriſchen Elementen und Grundlagen, bei glei 
her Stufe der Intelligenz und Bildung, auch gewiſſe gleichartige polis 
tifche Grundformen fordert. Eben fo wenig ift e8 ein Zeichen von Unfähigs 
keit, die reiche Mannigfaltigkeit des realen Dafeins zu verftchen und 
die Keime individuellen Lebens zu befruchten, wenn häufig noch der 
Kampf um feine allgemeinen Principien die beften Kräfte des Liber 
lismus in Anfpruch nimmt und ihm unmöglich macht, auch die befons 
den örtlichen, gemeindlichen und provingiellen Intereſſen nady ihrer 
Eigenthuͤmlichkeit gehörig zu berüdfichtigen. Endlich kann wohl auch 
das nicht gegen den Liberalismus zeugen, wenn ben Fortfchritten, deren 
ex ſich ruͤhmt, im andern Lebensfreifen und Culturgebieten Küdfcritte 


728 Liberal, Liberalismus. 


zur Seite gehen. Denn in dem ewigen Kreislauf von Werben un 
Vergehen fteigt bie eine Reihe der Entwidelung, während andere falm, 
und eine gleichzeitige Bluͤthe aller Lebenskraͤfte ift den Voͤlkern fo wenig 
als den Individuen vergoͤnnt. Der Freiheit dürfte es daher nicht zuge 
rechnet werden, wenn neben der wachſenden Macht bes politifchen Ee 
ments bie Kraft religisfen Glaubens abgenommen Hätte, oder eine 
Schwächung kuͤnſtleriſcher und poetifher Production bemerklich wir. 
Gewiß iſt aber, daß die kuͤnſtlich unterbrüdte oder willkuͤrlich geſtick 
Enttoidelung einer Lebensrihtung die welkende Bluͤthe einer ander, 
deren Zeit einmal vorüber iſt, nicht mehr erfeifhen und verjüngen kann. 

Und find denn die Leiſtungen des Liberalismus da, wo er in freiem 
Bahnen ſich bewegt, fo unbedeutend? Wiegt im Verhältniß zur Gefammt: 
entwidelung unferes Geſchlechtes die Freiheit fo leicht, daß in der Det 
der Menſchenfreund Urſache hätte, die Herifchaft eines andern Geflims 
zuruͤckzuwuͤnſchen? Iſt die beifpiellofe Zunahme ber Bevoͤlkerung und 
des allgemeinen Wohlftands in den Ländern des nordamerikanifden 
Freiſtaats für nichts zu achten? Fehlt es in England, wo ber Liber 
ũemus nicht erſt von heute oder geftern iſt, ber Sreiheit an einem fe: 
gefugten lebensvollen und lebenskraͤftigen Organismus? Haben Frant- 
reich und Belgien ihrer jüngern Freihelt gar nichts zu verdanken, um 
das man in Deutfchland Urſache hätte, fie zu beneiden? Stehen bir 
wahren Repräfentatioftaaten den abfolut vegierten an Bluͤthe, Madıt und 
Reichthum, an lebendiger Entfaltung jeder Nationalkraft nady? Und 
haben nicht bie abfoluten Staaten felbft von dem Spfteme, daß fie anfein: 
ben, bie reelifte Frucht geeentet, gerade weil fie von den Kämpfen, melde 
feine Gegner jenem überall bereiten und dann wieder zum Werbreden 





machen, frei geblieben find? Zwingt nicht bie Sucht vor dem Gefpmf 
ber Revolution die abfoluten Regierungen zur Mäfigung in dem &: 
brauche der Gewalt, zu abminiftrativen und materiellen Werbefjerungen, 


*  Siberal, Liberalismus. 720 


Noch maͤchtiger und unbeſiegbarer muß aber ber Liberalismus 
dann erfcheinen, wenn man ſich überzeugt, daß er nichts Anderes ift, 
als ber auf einer gewiſſen Stufe menſchlicher Entwidelung nothwendige 
Uebergang bes Naturftaats in den Rechtsſtaat. Wie es im Leben ber 
Individuen eine Periode gibt, wo mit dem Erwachen eines höhern 
Berußtfeins an bie Stelle des Inſtincts und ber Gewöhnung, des 
Gehorfams und bes Glaubens, präfende Reflerion und eigenes Nach⸗ 
denen tritt, fo gibt es auch im Leben ber zu einer höhern Entwidelung 
beftimmten Völker eine Zeit, wo fie das unabweisliche Bebürfniß fühlen, 
ftatt des bewußtiofen Naturtriebs und gedanfenlofer Unterwerfung unter 
eine beöpotifche ober hierarchiſche Gewalt zur Grundlage des Staats 
das Recht, und zwar das unveränberliche, Allen gleiche Recht, welches 
die denkende Vernunft ihnen offenbart, zu machen; und diefes Be— 
dürfnig wirkt um fo unmiderftehlicher, je mehr der Naturftaat durch 
den Mißbrauch der Gewalt entartet war. Der Liberalismus ift dem⸗ 
"nach keine blofe Theorie, wie man fo oft behaupten hört, und felbft 
wenn er es waͤre, iſt denn das, womit man ihn bekämpft, iſt die 
hiſtoriſche Anficht, iſt die Lehre des Herrn v. Haller, ift die Ableitung 
alles Rechts auf Erben aus dem Sündenfall nicht auch eine Theorie? 
Allein fowohl der Trieb nad Freiheit als bie Freiheitstheorieen find 
Zolge eines natürlichen Entwidelungsproceffes, und gleich in feiner 
erſten und gewaltigften Offenbarung, der franzöfiihen Revolution, 
erfcheint der Liberalismus nicht als eine unbegreifliche Zulaffung Gottes, 
fondern al8 eine natürliche Reaction des politiſchen Lebens gegen despo⸗ 
tiſche und hieracchifche Lebensunterbrüdung. Ohne biefe Reaction 
mürben bie europäifhen Wölker einer allgemeinen Auflöfung entgegen: 
gehen, und das Geſchick des roͤmiſchen Weltreichs müßte ſich an ihnen 
wiederholen. Aber die noch unerfchöpfte Lebenskraft der Völker erzeugte 
nah einem geiftigen Naturgefeg bie Revolution, und dieſe mußte, 
gleichfalls nad, einem Naturgefeg des Geiſtes, die neue Zeit eröffnen 
mit ber ſchroffen Gegenäberftelung von Exitemen, bie erft allmdlig 
toieber ſich ausgleichen konnten. Sogar in feinen Ausfchweifungen iſt 
demnach ber Liberalismus das Ergebniß natürlicher Gefege des Geifters 
lebens, und welch’ einen befchränkten Begriff vom Leben der Natur 
und ber Geſchichte müffen daher dlejenigen haben, welche beftändig 
von natürliher und geſchichtlicher Entwidelung reben und doch den 
Liberalismus als eine natuͤtliche Entwickelung des gefchichtlichen Lebens 
nicht begreifen wollen! Wie engen Gelſtes, ober wie verbiendet und 
befangen muß man fein, um glauben zu koͤnnen, das, was feit einem 
halben Jahrhundert bie europäifche Menfchheit bis in ihren tiefſten 
Srund beivegt, was ganze Völker mit elektriſcher Gewalt ergreift und 
au ben höchften Kraftanſirengungen begeiftert, fei eine in ben Lüften 
fhwebende Metaphyſik, und ein fo gewaltiges Clement koͤnne, von 
der Weltgefjichte einmal in ſich aufgenommen, durch menſchliche 
Anftrengungen wieder vernichtet werden! Wie twiderfprechend klingt es, 
wenn man ein tiefer Kenner der Geſetze bes Entſtehens und Vergebene 








730 Liberia. 


in ber Weltgefchichte fein, — und doch nur das Gemorbene, nicht mt 
das Werdende in feinem hifterifhen Zufammenhang durchſchauend — 
den freifinnigen Ideen die Lchensfähigkeit abfprechen will, teil fie ac 
eine Ausgeburt des modernen Zeitgeiftes feien ! 

Eben weil die freifinnigen Ideen Erin todtes Erbftüd aus derr 
kenen Jahrhunderten, fondern der lebendige Ausdrud des Zeit 
find, und weil die herefchenden Gedanken jedes Zeitalter deffen geftit:: 
ticher Kebensentwidtung ihre Richtung geben, ift der Liberalismus ur 
Mörbar. Er ift die Ruͤckkehr zu den Grundfägen bes verndnfin 
Rechts, bie denkende, bemußte Freiheitsliehe, bie mit dem Heranıc'n 
der Völker zur Mündigkeit, zum Selbftdenten und Selbfthanden. ft 
entwickelt, und mit Naturgewalt verlehte Formen und verjährte Zt 
bricht. Mir die Geſtirne ftetig ihre Bahn verfolgen, duch wenn Au he 
ummölftem Himmel einem Auge fichtbat ſind, fo fchreiten, end 
von dem Hauch der Freiheit angeweht, die Geifter imaufhaltfem mr 
märts, wenn auch Snftitationen und Gefege jeitweis rüchtdets fir 
Die Ideen des vermünftigen Rechts etwachen immer wieder, um hr 
Freiheit findet, wenn aud noch fo oft zurüdgebränge, nad al 
Zäufhungen, die fie bereitet, mac allen. Opfern ,- die" fie auferes 
doch immer wieder im der Bruft der Völker einen Mitderhall. Des 
die Freiheit iſt jegt eine Nothmwendigfeit geworden, und Feine menfdlit 
Gewalt darf hoffen, jene weltbewegenden Ideen zu erſticken, die Ike 
Weg durch alle Henmmniffe und Schranken finden werden, bi fe 
Bahn, bie eine höhere Hand gezeichnet hat, durchlaufen iſt. 

i 
Liberia. — Das Negerſklaventhum in den Belt 
von Nordamerika und die harten Maftegeln, welche man dort Iüt 














Liberia. 131 


bigen fei in der amerikaniſchen Staatögefelfchaft eine ſelbſt noch unguͤn⸗ 
ftigere, als. bie der Sklaven. Auch behauptet man, daß fie von ihrer _ 
Sreibeit Beinen fehr lobenswerthen Gebrauch machten; nur bie Affen 
der Aeußerlichkeiten der Weißen feien, bagegen jede angefttengte Arbeit 
fcheueten, hoͤchſtens als Bebienten, Boten, Marqueure dienten, am 
Liebften fi) dem Muͤßiggange ergäben und biefes allemal thäten, ſobald 
fie nur Brot für ben naͤchſten Tag hätten. Ja, recht ehrenmwerthe 
Männer find der Meinung, die ganze Rage, um mid; diefes wibders 
lichen Ausdrucks zu bedienen, fei einer höheren Entwidelung unfähig ; 
fie fei, wie man fie am Härteften bezeichnet hat, nur eine edlere Art 
von Affen, milder ausgedrüdt, eine unvollfommen oraanifirte Mens 
fhengattung. Darüber fpdter. ebenfalls find diefe Menſchen eine 
große Laft und eine furchtbare Gefahr für die Vereinigten Staaten, und 
nit das mag das geringfte Webel des Zuſtandes fein, daß er, wie 
allemal eine Gewaltherrfchaft, auch auf die herrfchenden Glaffen demo⸗ 
ralifivend gewicht, ‚fie zu folhem Daß, ſolcher Grauſamkeit, folder 
Beratung menfhlicher Weſen und zu allen Vorurtheilen des Far⸗ 
benftolzes geführt hat. Um fo achtungswuͤrdiger find unter dieſen Ums 
ftänden die Bemühungen edler Amerilaner, auch diefen verachteten Un» 
gluͤcklichen ein beſſeres Loos zu bereiten, und biefe Abficht hauptfächlich 
ift für bie Stiftung dee Colonie Liberia in's Auge zu Yaffen. Denn 
die vielleicht anfänglich gehegte Hoffnung, auf biefem Wege eine frieds 
liche Ableitung ber Gefahr zu ermitteln, bat man wohl frühzeitig 
aufgegeben; erfennend, daß es nicht möglich fei, eine der jährlichen 
Zunahme ber Sklaven entfprechende Ueberfiebelung befteiter Farbigen 
zr bewirken. 
Unter mehreren Geſellſchaften, die zur Verbeſſerung des Zuſtandes 
der Neger zu wirken ſuchten, zeichnet ſich die Colonization Society 
aus, welche fich zu Anfang des zweiten Decenniums dieſes Jahrhun⸗ 
bertö bildete und den Gedanken faßte, die Neger in ihr Stammland 
zurücdzuführen, da man baran verzweifelte, fie im Gonfliete mit ber 
ſtaͤrkeren Civilifation der Meißen und den Worurtheilen der Lebteren 
gedeihen zu fehen. (England hatte durch die Stiftung von Freetown 
ein Beifpiel bazu gegeben.) Man Eaufte zu diefem Ende 1821 einen 
Landftrih in Oberguinea auf ber Weſtkuͤſte von Afrika, ſuͤdlich von 
Sierra Leone, bei dem Cap Mount oder Mefurado, der fih zum Cap, 
Sallinas erftredt und ſowohl durch alle Annehmlichkeiten des Klimas, 
ald durch eine hohe Fruchtbarkeit des Bobens unterftügt if. Bereits 
1822 wurden bie erften Anfiedler, unter Leitung bes Dr. Apres, dorthin 
geführt, und 1824 verlieh man bem Gebiet den bezeichnenden Namen 
Liberia; erweiterte es auch durch Anfauf eines Küftenflrihe von etwa 
150 englifhen Meilen. Die Golonie hatte glei Anfangs mit Krank 
heiten, welche wenigſtens den Weißen gefährlich waren, und noch mehr 
mit der Feindſchaft der benachbarten eingeborenen Stämme zu kaͤmpfen. 
Um ihre erfte Befeſtigung machte ſich in dem erften ſechs Jahren befons 
ders der amerilanifche Agent Jehudi Aſhmun verdient, welcher bie 





‚782 bgweria. 
hoͤchſte Auctoritaͤt ausübte, während alle üͤbrigen Beawmtenſtelen kt 






Mahl von Seiten bes Volks befegt wurben. Unter feinem Ci 
organifirte man einen lebhaften Handeleverkehr mit ben benudkm 
Stämmen, nadjdem man bdiefelben mehrfach energifch gezuͤchtigt ka 
Der Handel der Colonie ift durch den großen, fchiffbaren St. Jebech 
und andere Ströme, ſo wie durch die reichen Ertraͤgniſſe des fr 
begünftigt, und bald rüftete diefelbe eigne Handelsfahrzenge aus. 8: 
erbaute bie zu Ehren bes Präfidenten Monroe Moneovis ker 
Stadt, fo wie Caldwell, Neugeorgien, Edina und Millsburg. mie 
dürfte die Zahl der bis jest aus Amerika nach Liberia übergifige 
Farbigen nur wenig über 2000 betragen, und damit mwenigkeit 
Seite des Plane, wonach man von ihm eine günftige Rüdzite 
auf Amerika erwartete, als trügerifch erfannt worden fein. Dat sw 
nichts ausmachen; wenn nur bie Menſchen, die man in dieſe Zufet 
ftätte retten kann, ſich beffer befinden. Wie Wenige es im Bas 
zu fo vielen Leidenden fein mögen, ber edle Menfch thut menistn 
was er Tann, und es iſt nicht minder Iohnend, den Einen ju mr. 
wenn auch Yaufende neben ihm untergehen. Indeß fo weit bis ik: 
Nachrichten von Liberia reichen, ſcheint ſich wenigſtens fo vie hrs 
zuſteilen, daß es noch Beine Ausſicht gibt, durch ſich feibft ker 
zu koͤnnen, und daß fein Flor, ja feine wiederholt von feines 
Stämmen gefährlich bedrohte Eriftenz von dem Schuß und ber Ir 
ftügung abhängig find, die ihmen von Außen her gebracht mer 
mögen. Man bat auch hier die Bemerkung gemacht, daß diefe Ist 
am MWenigften zum Aderbau Luft zeigten, und daß man fie, mi 
auf den Landbau zu verweilen, wenigſtens von ben Küften rm 
mußte. Mehr Neigung verriethen fie für den Handel und haupt 
für bie mechfeinde apätigkeit eines gefhäftigen Müßigganges, ms 








Liechtenſtein. 783 


und andern Voͤlkern des füblichen Afrikas nicht fo unguͤnſtig beant- 
wortet wird. ebenfalls ift e8 eine Anmaßung, aus jener Unfähigkelt 
ben Schluß zu ziehen, daß fie gerade fchlechter, fintt: daB fie anbers 
organffirt, zu Anderem berufen find, als wir. Einzelnes, namentlich 
ihre Sucht bes Sklavenhandels, iſt allerdings von der Art, baß es mit 
keinem Begriff von Civilifation verträglich if. Aber wird nicht der 
Sklavenhandel erft durch den Antheil, den Europder daran nehmen, 
möglich gemacht? Haben wir keine Seelenverkäufer in Europa gehabt? 
War es nicht blos eine andere Form berfelben Handlung, mas deutfche 
Fuͤrſten noch im vorigen Sahrhuberte mit zufammengepreßten, in den 
ploͤtzlich gefchloffenen Kirchen zufammengepreßten Soldaten vornahmen ? 
Hat der SHavenhandel, das SHavenwefen nicht lange Jahrhunderte bei 
hochgebilbeten Völkern Europas und Aſiens, bei den Urvaͤtern unferer 
Givitifation beftanden? Haben mir nicht unfere Eroberungstriege mit 
Sengen und Brennen und Hinmorden von Tauſenden, bat nicht der 
Katholicismus feine Inquiſition, der Proteſtantismus feine Hexenproceſſe, 
hat nicht ber Despotismus feine Schaffotte und feine Feſtungen und 
die Revolution ihre Guillotinen und ihre vepublicanifchen Hochzeiten 
gehabt? Wird nicht eine fpätere Zeit fo Manches, was bei uns beſtan⸗ 
den hat, oder noch beiteht, und das uns nur deshalb nicht auffällt, 
weil wir uns daran gewöhnt haben, und meil es in aͤußerlich rechtlichen 
Formen auftritt, für nicht weniger inhuman erklären? Wäre es nicht 
möglih, daß Afrika auf anderen Wegen, als bie zeither verfuchten, 
von feinen ſchlimmſten Geißeln befreit würbe, und daß fich ein Zuſtand 
in ihm begründete, der zwar nicht durch unfere Erfindungen und unfere 
Bücherweisheit glänzte, wo aber dem Lichte weniger Schatten, dem 
Gluͤcke weniger Elend beigefellt wäre, die Menfchen fanfter und lebender 
mit einander lebten, einfacher und inniger an der Bruft der Natur 
hingen und die Derzen Eindlicher zu dem großen Allvater auffchlügen? 
Ueber Liberia geben übrigens die Jahresberichte der betreffenden 
Geſellſchaft nähere Auskunft; fo wie: Inne, Liberia. Edinburgh, 1831; 
Carrey, on the colonization Society etc. Philadelphia‘, 1833; 
Jay, inquiry into the character and tendency of the American 
colonization and anti-slavery Societies, New-York, 1835. 
Bülau. 
Liehtenflein, fouveränes Fuͤrſtenthum, der Heinfte der deut⸗ 
(hen Bundesſtaaten, iſt wefllih vom Canton St. Gallen, ſuͤdlich vom 
Canton Graubuͤndten und Öftli vom Vorarlberg begrenzt; es umfaßt 
24 Qundratmellen mit ungefähr 7000 Einwohnern in 11 Ortfchaften 
(morunter der Hauptort, Markt Vadutz, jest Liechtenflein, mit 
altem fürftlihen Schloß), die meift von Feld⸗ und Weinbau, Vieh: 
zucht und Forſtnutzung leben. Das Land iſt bergig und maldig und 
zum Theil rauh; der Länge nad) befpült es ber noch junge Rhein, 
und hohe Schneeberge umftehen es im Süden. Der Landvogt in 
Vadutz nebft einem Rentmeifter verwalten das Fuͤrſtenthum. In 
Civil: und Criminalfachen fteht das Oberamt in zweiter Inſtanz unter 


734 — 


der fürfihen Gaza iz Ben. mer bie weise Beuen; 














tageb; in ir Pirnarserlammiung bx e tie 25. 2 
Vıritftimme. Sein Bentesernungent bemäss 55 Riem, ki 
3. Dieiſita bes 8. Armecırps Foien. Pie Erntica to jie 
thums betragen 17,005 Gun. 

Schon im Jabt 942 ırife man auf Ahnberzen det Dacia ie 
tenftein, das unbefkritten ben deflen adelichen Grat: 
Siterreicufden Ertiande gehört und in Diefen große Beripumgrm aaa 
hat. Nach dem Tode Harimann's VI. (seit. 1585; teein die 
Soͤhne Kari und Gundaccar, Herren von Liechtenüen, mr 
ihren Vater wieber vereinigt geweſenen Befigungen dee Das 
murden, Karl 1618, Gundaccar 1623, von dem Kir zr 
erblichen Reicsfürftenwürde bekleidet. Karl erlangte 1614 w: 
Matthias das Fuͤrſtenthum Troppau und 1623 don Kaifer Zr 
d16 Fuͤrſtenthum Jaͤgerndorf, beide in Edleften. ein Exk. 
Johann Adam Andreas erkaufte 1699 von ken Ge— 
Hobenembs die reichsunmittelbate Grafſchaft Vadus nebi ie 
fd;aft Schellenberg und erlangte auch ein fürftliches Worum ım = 
bifdpen Kreiſe. Da er 1712 flarb und die mdnnliche Nadtigw 
Garolinifhen Linie mit ihm erlofh, fo fielen die fänemtlicde ke 
an die damaligen Häupter der beiden Aeite der Gumdaccaz'ic 
nämlidy an Johann Anton Florian (Enkel Gundaccm) # 
Joſeph Wenzel (Urenkel Gundaccar’s). Erfterer erbte das io 
fteinifche Majorat, Legterer die unmittelbaren Graf» umd Dackt 
Vaduz und Schellenberg, verkaufte fie jedboh nachher am den PR 











Liechtenfteim 785 


Theil bee Güter des Haufes zugefchrieben worden. Franz Joſeph 
ſtarh 1781, und fen Sohn Aloys Joſeph (geb. 1769) 1805, 
worauf des Lesteren Bruder Johann Joſeph (geb. 1760) als 
„Fuͤrſt und Regierer des Hauſes“ folgte. Letzterer hat fih in ber 
oͤſterreichiſchen Geſchichte einen ehrenvollen Namen als muthiger und 
einfichtsvoller Kriegsführer und als Diplomat erworben; fo durch bie 
Eroberung ber Seftung Coni (1799), in vielen Schlachten gegen Frank⸗ 
reich, bis zum zweiten Wiener Frieden, und als erſter oͤſterreichiſcher 
Bevollmaͤchtigter zu den Friedensſchluͤſſen von Preßburg (1805) und 
von Schoͤnbrunn (1809). Bei Schoͤpfung des rheiniſchen Bundes war 
Johann Joſeph, ohne fein Wiſſen und Verlangen, in denſelben 
aufgenommen worden; doch hatte er die ihm zugedachte Souveraͤnetaͤt 
für feine Perfon nicht angenommen, fonbern das Fuͤrſtenthum Liech⸗ 
tenftein mit der Sowveränetät feinem dritten, bamals nur dreijährigen 
Sohne Karl beſtimmt: ein Verhaͤltniß, welches mit ber Auflöfung 
bes Rheinbundes (1813) fi endigte. Nah Johann Joſeph's, 
am 20. April 1836, erfolgten Tode folgte ihm in ber Regierung fein 
ältefteer Sohn, der nunmehrige Kürft Aloys Maria (geb. am 26. Mai 
1796), vermählt am 8. Aug. 1831 mit Franziska de Paula, bes 
Srafen Franz Joſ. v. Kinsky Tochter, aus welcher Ehe mehrere Kinder 
vorhanden find. — Die Religion ber Zürften von Liechtenftein ift die 
katholiſche; deren regelmäßiger Wohnfig: Wien. — Außer Liechtenflein 
befigt der Kürft anfehnliche Fuͤrſtenthuͤmer, Herrfchaften und Güter in 
Deftereeih, Böhmen, Mähren, Ungarn, Steiermark und in der Laufig. 
Sie übertreffen an Umfang, Einwohnerzahl und Einkünften bei Wei⸗ 
tem denjenigen Theil feiner Befigungen, welche ihn zum deutfchen Sous 
verän und Mitglied des beutfhen Bundes mahen. In den mittels 
baren Gütern iſt dee Kürft öfterreichifcher Vaſall, und wegen Troppau 
und Jaͤgerndorf Sfterreichifcher und preußifcher Stanbeshere. Der Titel 
des Fuͤrſten von der regierenden ober Sranzifchen Linie lautet: „Von 
G. Sn. (fouveräner) Fuͤrſt und Regierer des Haufes Liechtenflein, Herr 
zu Nicolsburg, Herzog zu Troppau und Jaͤgerndorf, Graf zu Miet 
berg.’ — Die jüngere (Karlifche) Linie, mit dem zweiten Dajorate des 
Hauſes dotiert, zu welchem die Derefchaften Großmeſeritz und Zhorz in 
Mähren, nebſt andern Gütern gehören, bat gegenwärtig zu Ihrem Haupt 
den Fuͤrſten Karl Borromaͤus (geb. 23. Det. 1790), 8. k. oͤſterr. 
Kämmerer, General» Major und Brigadier in Nieberöfterreih (Wien). 

Fuͤrſt Johann Joſeph hatte den Verhandlungen des Wiener 
Congreſſes durdy feinen Gefandten beigewohnt und war ber Wiener Buns 
desacte (8. Juni 1815) beigetreten. Um ben 13. Art. dieſer Acte zu 
„erfüllen ,”' ertheilte der Kürft am 9. Nov. 1818, datiert Eisgrub, fels 
nem Fuͤrſtenthume eine „Werfaffung*).” Ex erklärte im $.1 ders 


*) Sie ift vollſtaͤndig abgebrudt in der Allgem. Beitung vom 9. u. 10. 
Februar 1819; ſodann in: „Die Gonftitutionen der europäifchen Staaten feit 
den legten 25 Jahren.“ Leipz., 1820, 3. Thl., S. 483, und in deren neuges 
ordneter, berichtigter und ergänzter 2. Aufl, unter bem Titel: „Die europäis 


der Geifttichtett werden alle Beſiter geiftlicher & 
gebe Sommeniken Sgefin. „Diesen 


ehtheit Stimmen aus ihrer Mitte auf Lebı 
putirte, und zwat zwei für die Geiſtlichkeit der Graf 
einen für jene der Graffchaft ftel 
ar au Waduit zur —— ne * 
geifttichen Vfründe ftgen! 
ſteuerung untertworfenes Bermigen { Gulder 
einem ſolchen E— zu den Rand 
teägt, ein auf die (68) € 
fdaft wird die n ober Ric, 
Ancht der Ensfanäphufe Bde aber an ae Beige 
en 
ie ihre Perfon einen Steuerſat von 2000 Gulden 


ale, von unbefholtenem ımd unelgen! 
und verträglihjer Gemüthsart find. 4.) 
Lanbftänden foll in alten amtlichen L 
——— 
* je eine 


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Liechtenſtein. 737 


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Uns behalten, fondern lediglich jene Ausgaben darunter 
begreifen werden, welhe zur inneren Verwaltung und 
ruͤckſichtlich der Außeren Verhältniffe erforderlich ſind, 
fo Haben Unfere getreuen Stänbe fih nur über bie Ein- 
bringlichkeit der poftulirten Summen zu berathfchlagen 
und dafür zu forgen.” Alle liegende Beſitzungen follen, ohne 
Unterfchteb des Eigenthümers, nad einem gleichen Maßſtabe in bie 
Steuer gezogen werden ($. 12). Jedem Landflande ift die Befugniß 
eingerdumt, auf dem Landtage Vorfchläge zu machen, die auf das 
allgemeine Wohl abzielen. Dem Fürften fleht jedoch Über den 
darüber erfolgenden Landtagsbeſchluß das Recht der Genehmigung oder - 
Verwerfung zu ($. 13). Diefe Vorfchläge dürfen aber folhe Gegen: 
ftände nicht betreffen, die entweber, gemäß Urbarien, oder altherge: 
brachter Uebung, die fürfllichen eigentlichen Dominicalgefälle oder bie 
Privatrenten betreffen, „well fie” (wie die „Verfaſſung“ bemerkt), 
wenn fie gleich den Namen von Lanbesregalien führen, 
gleihwöhl Unfer Privateigenthum find, das außer dem Wir- 
kungskreiſe ftändifcher Befugniffe liege” (6. 14). Der $. 15 Tautet 
dann woͤrtlich: „Dagegen geben Wir aber Unferen getreuen Unterthanen 
Unfere gnädigfte Werfiherung, daß Wir bei Einführung neuer 
allgemeiner Abgaben, in wie welt fie nur aus der Landeshohelt 
gerechtfertigt werden koͤnnen, benfelben alfo fein Dominicaltitel zum 
Grunde liegt, bie ftändifhe Berathbung vorausgehen Laffen, 
und ihnen in gerechten und billigen Fällen Unſere hoͤchſte 
Genehmigung nit verfagen werben.” Der $:16: „Vor⸗ 
ſchlaͤge im bürgerlichen, politifhen und peinlihen Fade 
tönnen Wir aus dem im $. 1 fhon vorgdtommener 
Grunde, und Vorfhäge, die äußeren Staatsverhditniffe 
betreffend, Dürfen Wir, wegen des nöthigen Miteinvers 
fländiffes mit anderen mädtigeren deutfhen Staaten, 
Unferen getreuen Ständen nicht erlauben.” Die abfolute 
Mehrheit ber Stimmen der am Landtag gegenwärtigen Stände bildet 
einen Landtagsbefchluß, welcher durch Die fürfllidhe Genehmigung Ge⸗ 
ſetzeskraft erhält ($. 17). Die Ertheilung der „Verfaſſung“ wurde 
hierauf vom Fürften der deutſchen Bundesverſammlung angezeigt (Prot. 
dev B.⸗V. von 1819, 9.4). — Die Stände follen alfo Vorſchlaͤge 
machen dürfen, bie auf das allgemeine Wohl abzielen, aber 
diefe Berechtigung ift dann wieder fo modificirt, daß jene Vorſchlaͤge 
faft nichts, als gerade bie unbedeutendflen Vermaltungsangelegenheiten 
zum Gegenftande haben können. Noch unbebeutender iſt der Einfluß 
der Stände auf's Steuerweſen, mo ſelbſt bei Einführung neuer 
allgemeiner Abgaben bios ein berathendes Votum Ihnen zu⸗ 
getheitt ift. — Dagegen herrſcht in $. 16, in Bezug auf die aͤußeren 
Verhaͤltniſſe, eine Naivetaͤt und Aufrichtigkeit, welche Anerkennung 
verdient. — In den „Eonflitutionen der europdifchen Staaten feit ben 
legten 25 Jahren” (vgl. die Note) heißt es: „Wenn gleich hreim Inhalte 
Staats sEeriton, IX, . 47 


‘ 


im Cum 
faftem tes deurfhen Bundes fehlen.” — Dazu Die geographiide Kim 
heit des Staats, ber, von einer greßartigen und gewaltigen Rx 
umgeben, mebe in jemer, als in biefer bie Anhaltspumcte feiner Eis 
kürgerlihen Inflitutionen geiucht zu haben fcheint. 

Den Behandlungen, meihe ter Biene E hlußacte Verausginge 
hatte Für Johann Jofeph duch feinen mit andern Bram 
deueihen Fuͤrſten gemeinfhaftlihen Bevollmächtigten beigemetz = 
mar ihe (am 15. Mai 1820) beigetreten. Kart Bukkı 

efland, f. DRfer-Proningen. 

Lineal-Succeffion, f. Succeffion. 

Lippe, Gürftenthum, vormals Stafſchaft des rheinifs:mi 
phdlifhen Kreiſes, auch Lippe-Detmold genannt, im Gaais 
von Schaumburg-Lippe oder Lippe-Büdeburg, mir mie 
Namen der im Befise einer jüngeren Linie des lippifchen Hat 
befindliche Theil der vormaligen Graffchaft Schaumburg bezeihert =e 

Die Grafen und Edlen Herren zur Lippe, mie lin 
nennen pflegten, indem fie bie letztere Rangbegeichnung höher a a 


Grafentitel anfhlugen, führen ihren Urfprung bis im’s 10. Jahckate 
zuch@. Die Wiege diefes alten Dymaftengefchledyes ift am der sen 
Lippe, von welchem Fluſſe der Name entlehnt worden, Unter fir 
Ahnherren hat ſich zuerft Bernhard IL, ein ausgezeichneter Fate 
Heintich s des Löwen, in der Geſchichte einen Namen erworben. It 
einem vielbewegten thatenteichen Leben trat er noch im Hohen Ir 








Lilberal, Liberalismus. : 729 


Noch mächtiger und umbeflegbarer muß aber ber Liberalismus 
dann erfcheinen, wenn man fidy überzeugt, bag er nichts Anderes ift, 
als der auf einer gemiffen Stufe menfdhlicher Entwidelung nothwendige 
Uebergang des Naturftaats in den Rechtsſtaat. Wie es im Leben ber 
Individuen eine Periode gibt, wo mit bem Erwachen eines höhern 
Bemußtfeins an bie Stelle des Inſtincts und der Gewoͤhnung, des 
Gehorfams und des Glaubens, prüfende Neflerion und eigenes Nach⸗ 
denken tritt, fo gibt es auch im Leben ber zu einer höhern Entwidelung 
beftimmten Voͤlker eine Zeit, mo fie das unabweisliche Beduͤrfniß fühlen, 
ftatt des bemußtlofen Naturtriebs und gedankenloſer Unterwerfung unter 
eine bespotifche oder hHierachifhe Gewalt zur Grundlage des Staats 
das Recht, und zwar das unveränberlidhe, Allen gleiche Recht, welches 
die denkende Vernunft ihnen offenbart, zu mahen; und biefes Be⸗ 
dürfniß wirkt um fo unmiderftehlidher, je mehr der Naturſtaat durch 
den Mißbrauch ber Gewalt entartet war. Der Liberalismus iſt dem: 
"nach keine blofe Theorie, wie man fo oft behaupten hört, und felbft 
wenn er es wäre, ift denn das, womit man ihn befämpft, ift bie 
hiftorifche Anſicht, iſt die Lehre bes Herrn v. Haller, ift bie Ableitung 
alles Rechts auf Erden aus dem Sündenfall nicht auch eine Theorie? 
Allein fowohl der Trieb nad) Freiheit als die Freiheitstheorieen find 
Zolge eines natürlichen Entwidelungsproceffes, und gleich in feiner 
erſten und gemaltigften Dffenbarung, der franzöfifchen Revolution, 
erfcheint der Liberalismus nicht als eine unbegreifliche Zulaffung Gottes, 
fondern als eine natürliche Reaction des politifchen Lebens gegen despo⸗ 
tifhe und hierarchiſche Lebensunterdrüdung.. Ohne biefe Reaction 
würben Die europäifhen Voͤlker einer allgemeinen Auflöfung entgegen- 
gehen, und das Geſchick des roͤmiſchen Weltreihs müßte ſich an ihnen 
wiederholen. Aber die noch unerfchöpfte Lebenskraft der Völker erzeugte 
nach einem geifligen Naturgefeg die evolution, und dieſe mußte, 
gleichfalls nad, einem Naturgefeg des Geiftes, die neue Zeit eröffnen 
mit der fchroffen Gegenüberftellung von Ertremen, bie erſt allmälig 
wieder ſich ausgleichen Eonnten. Sogar in feinen Ausfchweifungen iſt 
demnach der Liberalismus das Ergebnig natürlicher Geſetze bes Geiflers 
lebens, und welch' einen befchränkten Begriff vom Leben ber Natur 
und der Geſchichte müffen daher ;diejenigen haben, welche beftändig 
von natürliher und geſchichtlicher Entwidelung reden und doch den 
Liberalismus als eine natürliche Entwickelung bes geſchichtlichen Lebens 
nicht begreifen mollen! Wie engen Geiftes, oder wie verblendet und 
befangen muß man fein, um glauben zu koͤnnen, das, was feit einem 
halben Sahrhundert die europäifche Menfchheit bis in ihren tiefften 
Grund bewegt, was ganze Völker mit elektrifcher Gewalt ergreift und 
zu den hoͤchſten Kraftanftvengungen begeiftert, fei eine in ben Lüften 
Thwebende Metaphyſik, und ein fo gewaltiges Element koͤnne, von 
der MWeltgefchichte einmal in fi aufgenommen, durch menfchliche 
Anftrengungen wieder vernichtet werden! Wie widerfprechend klingt es, 
wenn man ein tiefer Kenner der Geſetze bes Entftchens und Vergehens 


N mac 5 üben‘ 
J 





— 





- Sippe = Detmold. 739 


einen großen Theil von Weftphalen, insbefonbere auch die Iippifchen 


Lande, gänzlich verwuͤſtete, die Städte Lippſtadt und Soeſt jebody vers 
gebens belagerte. 

Das im Jahre 1445 rüdfichtli der Stadt Lippftabt vereinbarte 
Condominium befteht bis zum heutigen Tage fort. Die den vorma⸗ 
tigen Strafen zur Mark eingerdumten Miteigenthumsrechte "gingen nach 
der Theilung der jülichsbergfchen Exrbfhaft auf das Haus .Bran- 
denburg über. Duch einen im Jahre 1819 zwifchen den beider: 
feitigen Regierungen errichteten Staatsvertrag find die Verhaͤltniſſe der 
Stadt von Neuem georbnet worden. Darnach gelten zwar bafelbft die 
preußifchen Gefege; in allen übrigen Beziehungen find aber die Rechte 
beider Stammthronfhaften ganz gleih. Die Anftellung ber Beamten 
gefchieht gemeinfchaftlih, und die eingehenden Steuern werden getheilt. 
Nur die Recruten hat Lippe für eine beftimmte Reihe von Jahren an 
Preußen überlaffien, wo hingegen letzteres einen verhältnigmäßigen Theil 
des lippifchen Bundescontingents zu ftellen übernommen bat. 

Außer Lippftadt befist das lippifhe Daus an dem 'Lippefluß 
nur noch zwei Meine von Preußen reclamirte Gebietstheile, naͤmlich 
das Amt Lipperode und bas Stift Cappel. Daſſelbe hatte fchon 
in aͤlteſter Zeit mehr oflwärt® zwilchen der Wefer und dem Teutoburger 
Walde, in bem jegigen Fürftenthum Lippe, feſten Fuß gefaßt, wo es 
im 14. und 15. Jahrhunderte zu feinen Stammbefisungen auch die 
Grafſchaften Schmwalenberg und Sternberg hinzu erwarb. 

Das Tippifhe Haus blühet gegenwärtig in zwei Dauptlinien, 
ndmlih: Lippe oder Lippe: Detmold und ShaumburgsLippe 
oder Lippe-Büdeburg. Die erftere Dauptlinie hat wiederum zwei 
apanagirte Nebenlinien: Lippe: Diefterfeld und Lippes Weißen», 
feld, welche ſich weit verzweigt und nach mehreren Seiten bin vers 
breitet haben. 

Der naͤchſte gemeinfchaftliche Stammvater aller jest lebenden Fuͤrſten 
und Grafen zur Lippe ift Simon VI., welcher nad) einer 5Ojährigen . 
ruhmvollen Regierung im Jahre 1613 mit Hinterlaſſung von vier 
Söhnen verftarb. Derfelbe hatte das bereits 1368 in feinem Haufe 
grundgefeglich eingeführte Primogeniturreht im Jahre 1598 vom 
Kaifer Rudolph IL. beftdtigen laſſen, errichtete jeboc vier Juͤhre 
fpdter ein Teſtament, worin er, unbefchadet der dem älteften und erſt⸗ 
geborenen Sohne zuftehenden Landeshoheit und Regierungsgemwalt, den 
nachgeborenen Söhnen gemwiffe Däufer oder Aemter zu ihrem ſtandes⸗ 
mäßigen Unterhalt vermächte. Diefes Simon’fche Teſtament ift die 
Quelle endlofer Streitigkeiten und Iandverderblicher Proceſſe geworden; 
kaum dürfte ein anderes deutfches Fuͤrſtenhaus den vormaligen Reiches 
gerichten fo viel Arbeit verurfacht, zugleich aber auch ben Publiciften 
1 ie Stoff zu flantsrechtlihen Eroͤrterungen geliefert haben, als das 

pifche. | 

Bon den vier Söhnen Simon’s VI. fliftete der aͤlteſte, 
Simon VIL, bie regierende Hauptlinie zu Demi, der zweite, 

er 


— 





| j - j 5 | i . peter vor! 


730 Eippe- Detmold. ꝓ 


Otto, bie Nebenlinie zu Brake, der dritte, Hermann, verftarb 
bald nach des Vaters Tode Pinderlos, und der vierte, Philipp, ward 
der Stammvater der alverbdiffifchen, fpäter fchaumburg « lippifchen 
Linie, welche noch gegenwärtig zu Büdeburg fortblüht. Der Lestere 
gelangte durch ein Bufammentreffen glüdlicher Umftände zum Befige 
eines Theils der vormaligen Graffhaft Schaumburg. Als nämlich im 
Jahre 1640 Graf Otto VI. von Holftein-Schaumburg, ber Letzte feis 
nes Geſchlechts, verftorben war, machte neben mehreren anderen Erb: 
fhaftsprätendenten auch deſſen Mutter, eine geborene Gräfin zur Kippe, 
Anfprühe auf den Nachlaß und übertrug ihre Rechte auf ihren jüngften 
Bruder, den Grafen Philipp jur Lippe. Den Bemühungen deffelben 

gelang e8, nach mehrjährigen Unterhandlungen Im Jahre 1647 einen 

im Artikel XV bes meitphälifchen Friedens beſtaͤtigten Vergleich zu 

Stande zu bringen, vermöge melches die Graffhaft Schaumburg, 

nachdem einige Aemter an Hannover abgetreten waren, zwiſchen 

Heffen:Caffel und dem Grafen Philipp zur Lippe getheilt wurde, 

jedoch fo, daß Letzterer die Eeinere- Hälfte erhielt und diefe von Heſſen 

zu Lehen tragen mußte. Diefer Iippifche Thell ber vormaligen Graf: 

(haft Schaumburg bildet das jesige Fuͤrſtenthuum Schaumburg: 

Lippe, welches nicht nur geographiſch von dem Fürftentbum Lippe 

völlig getrennt iſt, ſondern aud fo menig hiſtoriſch als politiſch mit 

bemfelben in icgend einer Beziehung fteht. 

Die vom zweiten Sohne Simon's VI. geftiftete brakiſche 
Mebenlinie, melche vier lippifche Aemter im Paragialbefig hatte, er: 
lofh im Sahre 1709. Die Theilung Ihres Nachlaffes veranlafte zwi: 
[hen der regierenden Hauptlinie zu Detmold und der jüngeren Linie 
zu Büdeburg den heftigften Streit, welcher fi) über ein Jahrhundert 
fortgefponnen und erſt neuerlich durch zwei ergangene Austrägalerkennt: 
nifje feine endliche Erledigung erhalten hat. Der Fürft zu Schaum: 
burg⸗Lippe befaß aus dem brakiſchen Nadlaffe das Amt Blom⸗ 
berg; er behauptete aber, daß feine Linie bei der Theilung diefes Nach⸗ 
laſſes verkürzt fei, weshalb er noch zwei andere Iippifche Aemter in 


Anſpruch nahm, und zwar fo, daß er über biefe feine lippifchen Be: 
ſitzungen die volle Staatshoheit ausüben und diefelben mit feinen 


fhaumburgifhen Befisungen zu einem Staatsgebiete vereinigen molte 
Das zu Detmold regierende Haus beftritt nicht nur diefe Anfprüce 
der jüngeren Linie, fondern nahm auch, vermöge des im Tippifchen 
Haufe beftehenden Primogeniturrehts bie big bahin fireltige Souve⸗ 
ränetät über das im Befige des andern Theils befindliche Ame Blom⸗ 
berg für fi in Anfpruch. Ueber diefe mechfelfeitigen Anfprüche wurde 
mit mehrfachen Unterbrehungen von 1818 bis 1830 beim Bundestage 
verhandelt. In dem letztgedachten Fahre erfolgte, nachdem ein vers 
gebliher Verſuch zur gütlihen Vermittelung gemacht worden, bie 
Ueberweifung diefer Streitigkeiten an das großherzoglich ba: 
dbifhe Oberhofgeriht zu Mannheim, als erwähltes Austrägals 
gericht, weiches am 20. und 22. December 1838 zwei Erkenntniffe des 





_ Lippe» Detmold. 74 


wefentlihen Inhalts erließ: daß Schaumburgskippe mit feinem 
vierfahen Klagbegehren abzumeifen, die Souveränetät über das Amt 
Blomberg aber mit allen nach dem Staatsrechte des beutfchen Buns _ 
bes daraus hervorgehenden ‚Rechten dem fürftlihen Haufe Kipper 
Detmold zuzuerkennen fe. 

Diefe beiden Austrägalerkenntniffe find für die flaatsrechtlichen 
Verhaͤltniſſe bes Lippifhen Haufes und Landes von der größten Wich⸗ 
tigkeit, da das Princip der Einheit und Untheilbarkeit des Landes, 
welches ſchon ſeit 1368 urkundlich feitftand, dadurch feine praktiſche 
Anerkennung gefunden hat, und ber Fürft zu Schaumburg » Lippe in 
feiner Eigenfchaft eines erbherrlichen oder Paragialbefibere des lippifchen 
Amts Blomberg der Souveränetät bes zu Detmold regierenden Haufes 
unbedingt untergeordnet iſt. 

Das Fürftentpum Lippe liegt auf dem linken Ufer der Weſer, 
zwifhen diefem Fluſſe und dem Zeutoburger Walde, welcher in ber 
mittleren Gefchichte auch unter dem Namen DOsning vorlommt. In 
der aͤlteſten Zeit waren bier die Wohnfige der Cherusker, melde 
im Bunde mit den benachbarten deutfchen Volksſtämmen ben Kampf 
gegen roͤmiſche Oberherrfchaft ſiegreich beftanden, indem fie im Jahre 
9 nad Chriſti Geburt den Varus mit feinen Legionen in ihren Berg: 
ſchluchten vernichteten.. Zum Andenken an diefes welthiſtoriſche Ereigniß, 
welches Deutfhland vor römifdyer Anechtfchaft bemahrte, wird gegen- 
wärtig dem Cherusterheiden Hermann oder Arminius auf eine 
vorfpringenden Kuppe des Teutoburger Waldes, in der Nähe von Det: 
mold, ein wuͤrdiges Denkmal errichtet. Auf einem maffiven Unterbau 
von 84 Zug Höhe erhebt ſich bas koloſſale Standbild des Helden, aus 
Kupfer getrieben, vom Fuß bis zum Scheitel 40 Fuß meflend, als 
ein weithin leuchtendes Wahrzeichen für den gemweiheten Nationalboden, 
auf welchem des deutfchen Volkes Name, Sprache, Sitte und Freiheit 
gerettet und der Weltgefchichte erhalten wurden. Das Schlahtfeld ent: 
faltet fih zu den Füßen, und meithin fchweift der Blick von der. Berg⸗ 
fette der. Wefer bis zu den fernen Gebirgen bes Rheinlandes. 

Nachdem das Volk der Cherusker mit anderen deutfchen Volks: 
ffämmen verfhmolzen und in ber Geſchichte untergegangen war, bils 
bete das Fürftenehum Lippe einen Theil des alten Sachſenlandes. 
Auch jest wiederum mar biefe Gegend der Schauplas biutiger Kämpfe, 
welche auf die Geflaltung Deutſchlands einen wichtigen Einfluß Außer: 
ten. Die Heerzüge Karl's des Großen gegen das Volk der Sacıfen- 
nahmen mehrerntheils ihre Richtung vom Rhein in das jegige Fürften- 
tbum Lippe. Hier und in der Umgegend erfocht derfelbe bie biutigen 
Siege, welche nach einem IOjährigen hartnddigen Kampfe die Sachfen 
zur Unterwerfung und zur Annahme des Chriftenthums nöthigten. 

Das FürftenthHum Lippe bildet, mit Ausnahme der oben ers 
>» mwähnten Keinen Gebietstheile an ber oberen Lippe, ein mohlarrondirte® 
Ganzes, ungefähr 20 Quadratmeilen begreifend, auf drei Seiten von ber 
Pöniglich preußifhen Provinz Weftphalen, auf ber vierten aber von 


14 Sippe: Detmolb. " ! 


ebenfalls 7 zu wählen haben. Die Ritterfehaft, deren Gnmiia 
nur aus 28 Gütern von mäßigem Umfange befteht, ift hiemah « 
Stärkften vertreten. Fruͤherhin war der Adel ein nothwendiges Rızt 
ber Landſtandſchaft; nad) dee neuen Verfaffungsurkunde werden inz 
von den 7 Abgeorbneten bes erften Standes zwei aus ber Mitte & 
bürgerlichen Nittergutsbefiger gewählt. 

Die Landftände theilen fi in zwei Curien, — nach dem Pure 
fen Entwurf folte nur Eine beſtehen — indem bie Abgeortusr 
der Nitterfchaft die erfle Curie, bie der Staͤdte und des platten Bunle 
zuſammen aber die ziveite Curie bilden. Die Werathung gefdieh: 
gemeinfchaftlicher Werfammlung, die Abflimmung aber curimar: 
jedoch wird in allen Steuerfaden durchgeſtimmt, fo daß hier, cz: 
Ruͤckſicht auf den Stand, lediglich die Mehrheit ber Stimmen mise 
det. Den jegigen Ständen find alle diejenigen echte zugeſite 
welche ben alten zugeftanden haben, namentlid das Recht der Einz 
bewilligung, die Theilnahme am Generalhofgeriht, an ber Atzr 
ſtration der Landescaffen und an der Landes-Tutel, fo oft dem 
ordnung ſich nöthig macht. Der alte Streit über das Votum 
tativum oder megativum iſt aber auch jest unemtfchieden get 
Die Wahl der Landesabgeorbneten gefchieht jedes Deal auf die £ 
von ſechs Jahren. Das Wahlfpftem ift etwas complicirter Att. E 
den erften Stand find gar Feine Wahlvorfhriften erlaffen, ba dir 
terfchaftliche Corporation: ſich hierin freie Hand behalten hat. Inh 
Städten wird ein eigener, Wahlkoͤrper gebildet, beftehend aus den In 
gliebern des Magiftrats, den Repräfentanten der Bürgerfchaft und # 
einer gleich großen Anzahl von Wahlmännern aus der Mitte der ie 





gen Bürger. Auf dem platten Lande finden Doppelmahlen Statt, is 

zuerſt die Wahlmänner und von diefen die Abgeordneten ermählt w 

den. Der Regel nach fol alle zwei Jahre Landtag gehalten wma 

deffen Dauer auf 14 Tage bis 3 Wochen beftimmt if. Sm ber de 

ſchenzeit hat ein Ausſchuß, wozu jeder Stand einen feiner Abgenı 
ie fändii BIN ei = 





Eippe - Detmolb. 743 


fuͤhrte, eine durch vortreffliche Eigenſchaften des Geiſtes und Herzens 
ausgezeichnete Regentin, welche ſich unter ſchwierigen Verhaͤltniſſen um 
die Wohlfahrt ihrer Unterthanen große und bleibende Verdienſte erwor⸗ 
ben hat. Um die Selbſtſtaͤndigkeit des Landes zu ſichern, ſah ſie ſich 
genoͤthigt, im Jahre 1807 dem Rheinbunde beizutreten, nach deſſen 
Aufloͤſung ſie ſich dem deutſchen Bunde anſchloß. In der engeren 
Verſammlung bildet Lippe gemeinſchaftlich mit Hohenzollern, 
Liehtenflein, Reuß und Waldeck die 16. Curie. 

Nachdem die Zwingherrfchaft der Franzofen gebrochen war, teclas 
mitten die alten Stände des Fürftenthums Lippe die Wieberherflellung 
der vormaligen ftändifhen Verfaſſung. Die Fuͤrſtin Paulina, von 
dem lebhaften Wunfche befeelt,, ihrem Lande eine zeitgemäße Verfafſung 
zu geben, ging auf diefe Reclamation nicht ein, ſondern erließ im 
Jahre 1819 eine neue Verfaſſungsurkunde, welche auf einer zeitge- 
mäßen Bafis, naͤmlich auf einer eigentlihen Repräfentation, bes 
ruhete, indem alle Claſſen der Unterthanen zu der Wahl ber 21 Lan» 
besabgeorbneten concurriren follten. Auch der Bauernfland gelangte 
auf diefe Weife zu dem Befitze des vollen Stantsbürgerrehts, nachdem 
bereits im Jahre 1808 das Leib: und Gutseigenthum, welches in einer 
wiewohl fehr milden Form bis dahin fortbeftanden hatte, vermittelft 
einer landesherrlihen Verordnung aufgehoben und dadurch bie lebte 
Spur ber Unfreiheit verwifcht worden war. 

Einige Mitglieder der alten Stände hatten ſich inzwiſchen beſchwe⸗ 
rend an den Bundestag gewandt, wo das fürftliche Haus Schaum⸗ 
burg=£ippe, melches mit dem zu Detmold regierenden lippiſchen Hauſe 
damals in keinem guten Vernehmen fland, die angebrachten Beſchwer⸗ 
den lebhaft unterftügte, vorgebend, daß fene agnatifchen Rechte bei 
diefer Frage weſentlich intereffict felen. Es hatte dies eine Aufforderung 
von Seiten des Bundestags zur Kolge, bie neue Verfaſſungsurkunde 
vorerft außer Wirkfamkeit zu fegen und den Weg gütlicher Einigung: 
zu verfuchen. Nachdem der jest regierende Für Paul Alerander 
Leopold im Jahre 1820 die Regierung angetreten hatte, wurben 
mit den alten reclamirenden Ständen neue Unterhandlungen ange: 
knuͤpft, welche nach mehrjährigen Unterbrechungen doch endlich zu einem 
erwünfchten Reſultate geführt haben. 

Nachdem naͤmlich die Regierung ſich mit den Reclamanten über 
die wichtigſten Streitpuncte vereinigt hatte; fo wurde im Jahre 1836 
ein Landtag nad alter Form zufammenberufen, auf welchem die alten 
Landflände ihre Zuflimmung zu der vorgelegten neuen Verfaſſungs⸗ 
urkunde erflärten, deren Publication als Landesgrundgefeg fodann 
am 6. Suli 1836 erfolgte. Diefelbe ſtimmt im Wefentlichen mit der 
Paulinifhen Verfaffungsurtunde vom Jahre 1819 überein; jedoch hat 
ſich die Regierung zu mehreren Gonceffionen zu Gunſten des erfien 
Standes oder der Ritterfchaft genoͤthigt gefehen. Die Zahl dee Abs 
geordneten beträgt auch gegenwärtig 21, wovon die Nitterfchaft 7, 
die Städte 7 und die bäuerlichen Grundbefiger des platten Landes 








144 Lippe= Detmold. ' 


! 
ebenfalls 7 zu wählen haben. Die Ritterfhaft, bern Grunbbefis 
nur aus 28 Gütern von mäßigen Umfange befteht, iſt biernady am 
Staͤrkſten vertreten. Fruͤherhin war der Abel ein nothwendiges Requiſit 
ber Landftandfchaft ; nach der neuen Verfaffungsurkunde werben jedoch 
von den 7 Abgeordneten des erſten Standes zwei aus der Mitte de 
bürgerlichen Nittergutsbefiger gewaͤhlt. 

Die Landflände theilen fich in zwei Curien, — nad) dem Paulini⸗ 
ſchen Entwurf folte nur Eine beftefen — Indem bie Abgeordneten 
der Ritterfchaft die erfle Curie, die der Städte unb bes platten Lanbes 
zufammen aber die zweite Curie bilden. Die Berathung gefchieht in 
gemeinfchaftliher Verſammlung, die Abflimmung aber curienweife; 
jedoch wird in allen Steuerſachen burdhgeflimmt, fo daß bier, ohne 
KRadfiht auf den Stand, lediglich die Mehrheit der Stimmen entſchei⸗ 
bet. Den jesigen Ständen find alle diejenigen Rechte zugeficert, 
weiche ben alten zugeftanden Haben, namentlich das Recht der Steuer: 
bewilligung,, die Xheilnahme am Generalbofgeriht, an ber Abmini- 
ration der Landescaffen und an der Landes⸗Tutel, fo oft deren An; 
ordnung fich nötbig macht. Der alte Streit über das Votum sonsul- 
tativum oder negativum iſt aber auch jetzt unentfchiedben geblichen. 
Die Wahl der Landesabgeorbneten gefchieht jedes Dial auf die Dauer 
von ſechs Jahren. Das Wahlſyſtem ift etwas complicitter Art. Für 
den erften Stand find gar Feine Wahlvorfchriften erlaffen, da die rit- 
terfchaftliche Corporation ſich hierin freie Hand behalten bat. In den 
Städten wird ein eigener Wahllörper gebildet, beftehend aus den Mit: 
gliedern des Magiſtrats, den Repräfentanten der Bürgerfchaft und aus 
einer aleich großen Anzahl von Wahlmännern aus der Mitte der übe: 
gen Bürger. Auf dem platten Lande finden Doppelmahlen Statt, indem 
zuerft die Wahlmänner und von biefen bie Abgeordneten ermählt wer: 
ben. Der Regel nad ſoll alle zwei Jahre Landtag gehalten werben, 
befien Dauer auf 14 Tage bis 3 Wochen beftimmt if. In der Zwi⸗ 
fhenzeit hat ein Ausfhuß, wozu jeder Stand einen feiner Abgeorb: 
neten erwaͤhlt, die ftändifhen Rechte und Interefien zu wahren. 

Der erfte Landtag nach Maßgabe der neuen Verfaffungsurkunde 
wurde im Sommer 1838 gehalten. Das Land verdankt demfelben 
einige nicht unmichtige Gefege, wie 3.8. ein Ablöfungsgefeg, ein: 
Berordnung megen Einführung der Maifchfleuer flatt der bis 
betigen Blafenfteuer u. ſ. w. Ein heftiger Conflict erhob ſich im 
Laufe der Verhandlungen zwifchen der eriten und zweiten Curie in Be 


treff der Frage wegen Beftleuerung des erimirten Grund: 


eigenthbums. Die abelihen und einige andere eremte Güter haben 
naͤmlich zu den allgemeinen Landesbebürfniffen bisher überall keinen Bei: 
trag geleiftet; da nun von Seiten bes zweiten und dritten Standes 
auf deren Heranziehung zur Grundſteuer gedrungen wurde: fo verließen 
ploͤtzlich die fammtlichen Abgeordneten ber Ritterfchaft, um nicht in 
dieſer Steuerfrage der Majoritaͤt zu unterliegen, ben Landtag und 
Tonnten nur durch eine ernftliche Aufforderung der Regierung zur Ruͤck⸗ 


u 





Lippe- Detmold. 745 


kehr auf ihren Poſten vermocht werden. Die Streitfrage felbft bat 
übrigens ſuspendirt werden muͤſſen und wird erft auf einem ber naͤch⸗ 
fien Landtage ihre Erledigung erhalten. Auch ber Anſchluß an ben 
großen Zollverein Lam auf dem Landtage von 1838 zur Sprache, fand 
«jedoch bei den Ständen Beine günftige Aufnahme, wiewohl bas Land 
I auf allen Seiten von preußifhen und hanndverifhen Zollſtoͤcken und 
Schlagbaͤumen umgeben ift und ihm daher, wenn es fich nicht ganz 
ffoliten und feine Intereſſen vermittelft eines gefährlidhen Experiments 
in eine feindfelige Oppofition mit denjenigen feiner mächtigen Nachbar⸗ 
flaaten fegen will, eine andere Wahl übrig bleibt, als ſich dein großen 
Tationalvereine, deſſen fegensreihe Wirkungen in ganz Deutſchland 
dankbar erkannt und von dem Auslande mit neidifchen Augen betradjs 
tet werden, anzufchließen. — Andere nicht unmichtige Gefege, nament⸗ 
ih eine Landgemeindbeordnung und ein Heimathsgefes 
find vorbereitet und merden mwahrfcheinlid auf dem naͤchſten Landtage 
zur fchließlihen Berathung und Iandesherrlihen Sanction gelangen. 

Die Verwaltung der Juſtiz und Polizei ſteht in erſter Inſtanz 
in den Städten den Magiftraten und auf bem platten Lande den 
Aemtern zu, deren es dreizehn gibt. An ber Spige der gefammten 
Landesverwaltung ſteht die Regierung, welche bie oberfte Inflanz in 
Dolizei: und Verwaltungsſachen bildet und zugleich bie Stelle des 
Minifteriums oder Cabinets vertritt. Für die Verwaltung der Civil: 
juftiz beftehen zwei Obergerichte, bie Suftizcanzlei und das Hof: 
gericht, von welden die Appellationen an das für das Herzogthum 
Braunfchweig, bie Fuͤrſtenthuͤmer Lippe, Schaumburg-Lippe und Walded 
gemeinfchaftlich errichtete Oberappellationsgericht zu Wolfenbüttel gehen. 
Für die Criminalſachen ift ein befonderes Griminalgericht angeordnet. 
Es wird jedoch eine Verfchmelzung diefer verfchiedenen Gerichtsbehoͤrden 
und eine Vereinfachung der Juſtizadminiſtration beabſichtigt. Es gilt 
übrigens im Fuͤrſtenthum Lippe das gemeine deutſche Recht und 
der gemeine deutfhe Proceß; die Einführung eines befonderen 
Strafgefegbuches wurde auf dem legten Landtage beantragt. 

Die Kirchen und Schulen flehen unter der Aufſicht unb Lei: 
tung des Confiftoriums. Diefer Zweig der Öffentlichen Verwaltung hat 
fi) der befonderen Fürforge fomohl der verewigten Fuͤrſtin Paulina, 
als auch des jegt regierenden Fürften zu erfreuen gehabt. Namentlich 
ift für das Volksſchulweſen, fehr viel geſchehen, indem das Dienft: 
eintommen der Elementarlehrer , felbft bei den kleinſten Landfchulen, 
auf 150 Zhaler gebracht worden if. Die Schullehrer erhalten ihre 
Bildung auf dem Seminar zu Detmold. Außerdem find zwei wohl: 
befegte Gymnaſien, zu Detmold und Lemgo, vorhanden. 

Ueber die Sinanzen des Landes laͤßt fich nicht wohl eine ge= 
drängte Weberficht geben, und zwar aus dem Grunde nicht, weil nah ' 
alter Sitte für jedes Staatsbedürfniß eine befondere Caſſe fundirt, aud) 
die Nettos von ber Bruttoeinnahme nicht gehörig feparirt ift, und 
manche Ausgaben ber Öffentlichen Verwaltung unmittelbar aus den 


erhoben wird. Die Verwaltung der vom Kande auf 
fleht, wie ſchon oben bemerkt mworben, unter ber 
flände. In der lippifchen Sinanzverwaltung hat fei 
nien ein verftändiger Geift der Sparfamkeit geherrfcht 
tet der im neuerer Zeit fo fehr geftiegenen Staat 
Dedung noch immer möglich gemwefen ift, ohne bi 
neuen drüdenden Abgaben zu belaften. Ja, man 
tegten Landtage felbft im Stande gefehen, einen X 
brachten Contribution vorläufig für die Dauer von 3 
laſſen. Vielleiht find in keinem andern deutſchen 
Öffentlichen Abgaben fo wenig drüdend ale im F 
Nur die Beſteuerung der Branntweinfabrication wurd 
eingeführt, zur Beſtreitung der fo fehr angewachſenen 
für welchen Zweck die älteren Mittel durchaus un 
Die gefammten Einkünfte dürften fi approrimativ aı 
veranfchlagen laffen. Schulden hat das Land wen 
wenn ndmlid) die ausftehenden Activa mehrerer € 
werthvolle Grunderwerbungen dagegen in Anfchlag ge 
As das erfte Gewerbe muß die andwirthfch 
den. Der Bauernftand, beffen geiftige und leibli 
fihtbaren Aufblühen begriffen ift, bildet den Kern 
Der Aderbau wirb mit Fleiß und Einfidt betrieben 
geachtet der im Ganzen nur mittelmäßigen Bodenbefd 
ſtarken Bevölkerung von ungefähr 5000 Einwohnern auf 
nicht nur alle etſten Lebensbedürfniffe im Lande felb 
noch einen Weberfhuß von Producten für das Aus 
einem blühenden Zuftande befindet ſich namentlih bi 


Ehe Kanam Warchlimn Auch has ham Ginnalanın mahlhaln 





Lippe⸗ Detmold. — Lippe - Schaumburg. 747 


bem Snbsfteiegieige laͤßt fi auf 4 bis 500,000 Thaler veranfchlagen. 
Einen andern wichtigen Induſtriezweig bildet die Btegelfabricatton. 
Es verlaffen nämlich jedes Jahr mit den erften Strahlen der Früh: 
lingsfonne 2000 bis 2,500 der Träftigflen Arbeiter den heimathlichen. 
Herd, um zahlreiche Biegeleien, namentlidy in den Küftenländern ber ' 
Nordfee vom Dolart bis zur Mündung der Elbe, in Betrieb zu neh⸗ 
men, von wo fie im Spätherhft mit dem verdienten Lohne in dem 
Schooß ihrer Familien zuruͤckkehren. Alle übrigen Gewerbe leiden mehr 
oder weniger unter dem Drude der von ben Nachbarſtaaten eingeführten 
Grenzſperre. P..... t. 
Lippe: Schaumburg oder Schaumburg-Lippe. — Der 
Name dieſes Fuͤrſtenthums bezeichnet keineswegs einen jetzigen oder ehe⸗ 
maligen Territorialverband mit dem Fuͤrſtenthume Lippe⸗Detmold, mit 
welchem es nie in einem andern ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe geſtanden 
hat, als demjenigen, welches aus der Verwandtſchaft der jetzt regieren⸗ 
den beiden fuͤrſtlichen Familien hervorgeht. Oberhalb des Punctes, wo 
die Weſer durch die Bergoͤffnung der Porta Weſtphalica in die Ebene 
von Minden und die nördlichen bis zum Meere ablaufenden Niederungen 
tritt, bildet fie, durch Gebirgszuͤge gedrängt, von DOften nach Welten 
und dann von Süden nad, Norden gehend, einen fharfen Bogen, in 
welhem auf dem rechten MWeferufer von den Höhen des Süntel und 
des Deifter bis zur Weſer und dem unter dem Namen des Steinhuber 
Meeres bekannten Lanbfee eine gebirgige Landſchaft ſich hineinzieht, 
deren fübmweftlichfter, im dußerften Winkel der Flußkruͤmmung liegender 
Theil zue Zeit der Sauverfaffung den Namen des Budigau führte, 
während ber übrige Theil bdiefer Landfchaft den Gauen Merftemen, 
Seleffen und Loſa angehörte *). Diefelbe war früher von ben 
Agrivarieen bewohnt und bildete fpäterhin einen Theil des Tächfifchen 
Engern. Schon im eilften Jahrhunderte wohnte im Budigau ein 
Grafengeſchlecht, beffen Stifter Adolf (vielleicht nur der Nachfolger 
noch früherer Grafen) die Schauenburg (fo und nicht nach der jet 
übrigens officielen Schreibart Schaumburg ift der richtige Name **) 
erbaute, audy feine Grafengewalt durch Stud und kluge Benugung der 
Umftände über die urfprünglichen Grenzen feiner Grafſchaft hinaus 
und namentlich in die oben bezeichneten Nachbargaue, zum Theil auch 
auf das linke Weferufer ausdehnte. Sein gleichnamiger Sohn oder 
Enkel erwarb durch Friegerifche Verdienfte vom Kaifer Lothar zugleich 
die Grafenwuͤrde in Holftein, welches von nun an oft der Hauptſitz 
der Samilie wurbe, oft aber auch durch Theilung an eine einzelne Linie 
kam, zu manchen Sehden führte, mehrere Male als Beute in die Hände 
fiegreicher Feinde fiel und zuletzt ganz verloren ging. („S. Dänemark.) 


*) A. v. Werfebe, Beſchreibung ber Gaue zwifchen Eibe, Saale und 
Unfteut, Wefer und Werra. Hannover, 1829. 4. ©. 209 — 222. 
**) Wenigftens nennt Lerbecke in feinem Chron. comitum Schawen- 


burgensium den Berg, auf welchem bie Burg erbauet wurde, mons specu- 
lationis, 





UNE HERAP P_ YULL KUppe > AHAUvAUI]JFUR uvett 
den, Beaunfipeig und Maberhamn sur Cöfkurt De 
morüber bie Auseinanderfegung mit Minden am Schtwierigfi 
— Folge hatte, und erſt im — 
dem — tr 5 —* ei Ki dem Gtafen SDbi 
beiinhen Dat ſin, theils Ya bebeute 
und. lehnbarer Juftragung d — — Schuge| 
— wurde *). Das ei biefe in —— and 
ie von nun an den ‚Namen der Graffchaft 
Hacmalt mußte inde& nach dem Endes Ze 
a Seiebrih ga (1777) dee Mannef 
N Lippe- Alverdiffen. erneuert werden, 
len Ernft, Vater des jegt —— — 
—— 1787), ift. daher der Stifter einer 
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Sippe: Schaumburg. 749 


lippiſchen Gebiets. Sein Flaͤcheninhalt umfaßt etwa 9 Quabratmeilen 
größtentheils gebirgigen ober body von Hügeln durchbrochenen Landes, 
auf weichen 27,437 Menfcyen wohnen. Das Land liefert Steinkoh⸗ 
ten, Holz und Korn, woraus, fo wie aus der Verfertigung von Garn 
und Leinewand, bie Haupterwerbsmittel gezogen werden. Mit Garn 
und Leinewand wird insbefondere ſtark nach Holland gehandelt; fonft 
ftehen Handel und Gewerbe nicht eben befonders in Biuͤthe. 

Die Verfaffungsverhättniffe des Landes haben In ben älteren Bti- 
ten ziemlich denfelben Enttvidelungsgang genommen, wie in allen deut⸗ 
fen Staaten. Die allmälige Verwandlung des Eaiferlichen Grafen 
amtes in die Territorialhoheit gab auch hier die Veranlaffung zu einer 
beftimmten Ausprägung des Verhaͤltniſſes zwiſchen den Freien und 
dem Erbfuͤrſten, und eben fo ift auch hier der Urfprung einer landſtaͤn⸗ 
difchen Verfaffung nicht ſowohl in einer einzelnen Hifkorifchen Thatfache, 
als vielmehr theils in ber ber potitifchen Erfheinung aller deutfchen 
Stämme im größten wie im Meinften Kreife zum Grunde liegenden 
Idee der Voltsfceiheit, theild in dem lebendigen Zufammenhange aller 
einzelnen Verhättniffe des öffentlichen Lebens aus einer laͤngeren Periode 
zu ſuchen. Die Rechte des Landes wurden ben Ständen durch foge- 
nannte Privilegien gefichert und bei verſchiedenen Gelegenheiten — 
zumal bei Regierungswechfeln und ftändilhen Bewilligungen — ber 
ſtaͤtigt und erneuert. Das aͤlteſte urkundlich vorhandene Hrivilegium 
(wahrſcheinlich aber aud nur die Erneuerung und ſchriftliche Aufzeiche 
nung ber fon früher vorhandenen und in Uebung erhaltenen Rechte) 
ift vom Jahre 1389 und erwähnt nur der „Mannen, Ritter und 
Knechte“, fo daß alfo damals die Landesvertretung eine rein ariſtokra⸗ 
tiſche war. Der geifttiche Stand hat nie das Recht der Landſtandſchaft 
gehabt, und die Städte, obgleich zum Theil wenigſtens ſchon im brei- 
zehnten Jahrhundert entftanden, nahmen doch erft im funfzehnten 
Jahrhundert und einige noch fpäter Theil daran, hauptſaͤchlich wohl 
deswegen, tell die meiften von ihnen zu Mein und ſchwach waren, um 
ſchon in ben ftürmifchen Zeiten des fpäteren Mittelalters einen politiſchen 
Einfluß zu gewinnen. Inbeß traten mehrere Umftände zufammen, um 
die Vebeutung ber Stände dem Grafen gegenüber höher zu hiben, 
als dieſes ſonſt in dem kleinen Ländchen wohl der Fall geweſen fein 
möchte. Auswärtige Fehden, in melde bie Grafen -theild durch die 
unſicherheit des Beſitzes von Holfteln, theils ducch eigene Neigung ver⸗ 
widelt wurden, und an welchen fie meift in fremden Kriegsbienften 
Theil nahmen, zwangen fie oft zu längerer Abweſenheit aus dem 
Lande, ſchwaͤchten dadurch die Macht des fürftlichen Anfehens, welches 
in der unmittelbaren Nähe der Perfon des Fürften die ficherfte 
Stüge findet, und ftürzte fie in Schulden, von benen fie dann nur 
durch die erbetene Hülfe der Randflände fich befreien konnten. Die 
Abhängigkeit, in welche fie dadurch von den Ständen geriethen, wurbe 
von biefen theils zur Sicherſtellung gegen aͤhnliche Verſchuldungen, 
theils aber auch zur Erweiterung des eigenen Einfluffes benugt. So 


Vereinigung über die Nachfolge in der Regierung 
Zwat half zur Verſorgung der übrig bleibenden Prin; 
Kirche aus; allein auch den geäflihen Domberrem , 
bifhöfen in esheinn, Minden und Göln gefiel «8 
priefterlichen Würde ungeachtet, ald Mitbewerber um di 
zutreten oder folche als Vormünder im Namen des m 
unter der Zahl der jüngern Brüder wohl noch nicht 
"ten — Regierungsnachfolgers in Anfprud) zu nehmen 
Umftänden hing bei einem Regierungswechfel für die v 
tendenten regelmäßig. viel davon ab, die Landſtaͤnde fü 
nen, und der Einfluß, welchen dieſe auf ſolche Weife 
fanden von dem regierenden Grafen in felnem Teſt 
eftimmmung anerkannt und befördert, daf von den 
Söhnen der Würbigfte die Regierung übernehmen | 
Dazu kam noch befonders die eigenthuͤmliche Geſt 
haltniſſe durch die Reformation. Die Grafenfamilie 
durch Verſorgung ihrer nicht zur Regierung gelangen 
iftlihen Yemtern zu große a von der kathol 
Babe, ‚als daß fie ſich fogleich im Anfı und freiwill⸗ 
tion’hätte anſchlleßen Eönnen. Die Einführung derſelb⸗ 
von den Geiſilichen ſelbſt und dem Wolke aus und 
Grafen mehr aus Noth genehmigt, als-beförbert und in 
trat Otto IV., unter welchem biefe Veränderung vor | 
ſelbſt zum Proteftantismus über, jedoch mehr aus poli 
als aus’ religisfer Ueberzeugung*), und auch unter fein 
Nachkommen findet ſich no einige Zeit hindurch Eei 
mung im det kirchllchen Anſicht. Darin lag denn bei eir 
mechfel fuͤr die gleichberechtigten Bewerber eine meiten 





Lippe- Schaumburg. 751 


Landſtaͤnde zu gewinnen, und für diefe, durch Religionsverficherungen 
auch den neuentflandenen kirchlichen Zuſtand garantiren zu laſſen und 
ihren politifchen Einflug auf alle Regierungshandlungen 'zu erweitern, 
welche für die Regierungsnachfolge von Bedeutung fein konnten. So 
blieben fie nicht nur im Beſitze ber uralten freien Steuerbewilligung 
und der Mitwirkung bei der Landesgefeggebung, fondern ihre Zuftim- 
mung wurde auch eingeholt bei Verheirathungen des Landesfürften, fo 
wie bei Teflamenten, ja fie wählten fogar den Nachfolger (mie Adolf 
XII.), wenn berfelbe nicht auf andere Weife beftimmt werben Eonnte. 
Aber fo ſehr war die landesfuͤrſtliche Macht unter der Gewalt ber Um: 
. fände und den Folgen des eigenen Üüblen Haushalts niedergebeugt, daß 
man nad) dem Tode des Grafen Dtto IV. dem Verlangen ber Lanb- 
flände gemäß im Jahre 1577 ſich dazu verftiehen mußte, zehn Jahre 
lang gar Beinen Lanbesfürften zu haben, fondern das Land durdy eine 
aus Regierungsräthen und den Landfländen beftehende Commiſſion re 
gieren zu laſſen: eine Einrichtung, welche freilich nur bie 1582 beftand. 
So hatten ungeachtet des Beinen Staatsgebiets die Lanbitände eine 
politifhe Wichtigkeit und Bebeutung erhalten, wie kaum in einem 
anderen deutfchen Staate. Aber diefelbe ſank auf die nämliche Weife, wie 
fie emporgelommen war. Die Faͤlle, wo mehrere Regierungsprätenden- 
ten zuſammenkamen und ber Einfluß ber Landſtaͤnde unter ihnen ent: 
fcheiden Eonnte, wurde immer feltener; dagegen ſtarb allmälig eine 
Linie des vielverzweigten Geſchlechts nach der anderen aus, und der. 
Straf Philipp (1646 bis 1681) führte das Vorrecht der Erſtgeburt 
in der Regierungsnachfolge ein. Auch geftalteten ſich die Lirchlichen 
Verhättmiffe ſehr bald fefter, die Eandeshoheit bildete ſich unter den 
Stürmen des breißigiährigen Krieges, welcher auch die Graffchaft 
Schaumburg ſchwer heimſuchte, vollftändiger aus, und die nad) dem 
Tode des lesten Grafen aus dem [haumburgifhen Mannsſtamme eins 
getretene Theilung des Landes mit Kurhefien ſchwaͤchte das ftändifche 
Anſehen durch Zerfplitterung des Corporationsbanbes, von welchem ihre 
Bedeutung weſentlich abhing. Zwar follte nah dem Sinne jener 
Theilung das Land doch in mefentlihen Puncten noch ein Ganzes 
bleiben, und bis 1661 wurden auch gemeinfchaftliche Landtage gehalten; 
allein feit dieſer Beit trennten fich die Landftände freiwillig und geries 
tben immer mehr in Unthätigkeit. Die allgemeinen und belannten 
Urfachen, die fundamentale Umformung des Militärwefens, die geän- 
derten Verhaͤltniſſe des Adels, welcher feine frühere Eriegerifche Selbfts 
itändigkeit aufgab, um in fürftlihen Dienften Ehre und Unterhalt zu 
fuchen, bie Sortfchritte, welche durch das Steuerwefen die Entwidelung 
eines neuen Stuatsbürgerthums machte, neben dem bie ftändifchen 
Privilegien immer mehr als unnatürlihe Vorrechte einzelner Glaffen 
erfchienen, je höher die Aufklaͤrung flieg, der Mangel an thätiger Für: 
forge für den durch Grundlaſten ſchwer beladenen kleineren Grunbdbefig, 
felbft nur für Aufhebung der Leibeigenfhaft unter den Bauern: 
biefes und andere Umftände machten e8 unmöglich, daß bie Landſtaͤnde, 


⸗ 


152 ippe⸗Schaumburg. 


welche fruͤher in einem bedeutenden Grade zugleich die Inhaber der 
phyſiſchen Macht geweſen waren, jetzt, nachdem fie dieſe verloren hatten, 
in ber moraliſchen Unterſtuͤtzung ber oͤffentiichen Meinung einen Erſatz 
finden konnten, und befoͤrderten eben ſo ſehr das Gedelhen des Monar⸗ 
chismus im achtzehnten Jahrhunderte. Immer mehr wurden die fuͤrſt⸗ 
lichen Rechte auf Koſten der ſtaͤndiſchen erweitert, bie fiscaliſchen An⸗ 
ſpruͤche vermehrt und die Freiheit in der Steuerbewilligung beſchraͤnkt. 
Den letzten, aber ſchon auf ohnmaͤchtige Huͤlfloſigkeit deutenden Verſuch 
zur Wiederherſtellung oder Rettung ihrer Befugniſſe und zum Schutze 
gegen landesfuͤrſtliche Eingriffe machte die Mehrzahl der Corporationen 
im Lande (die Stände ſelbſt, als ſolche, nähmen nicht Theil daran) in 
den legten Regierungsjahren des Strafen Philipp Ernft (ft. 1787) 
durch einen beim Meichefammergerichte erhobenen Proceß, beffen ganzer 
dürftiger Erfolg aber in dem durch preußifhe Commiſſarien im kaiſer⸗ 
lihen Auftrage mit der Vormundſchaft bes minderjährigen Grafen 
Georg Wilhelm vermittelten fogenannten Randesvergleiche von 1791 
(publicirt 1792) befland. Das Land Eonnte darin nichts weiter erreis 
hen, als die Zufiherung, baß jährlich für die fürftliche Kammercaſſe 
nur zwölf monatliche Gontributionen zu den laufenden Beduͤrfniſſen, 
und Beiträge zu außerordentlihen Ausgaben nur auf erfolgte Nachweis 
fung des Bedarfs erhoben werden follten, fo wie bie Feſtſetzung der 
Beitragspflicht zur Schuldentilgung und zum Chauffeebau auf beflimmte 
Quoten. Wegen der Meierverhättnifie und ber Leibeigenſchaft blieb 
Alles im Wefentlihen beim Alten, und einige Befhränfungen ber Ab- 
miniftrativgewalt in einzelnen Dingen find fo geringfügig, daß man eben 
aus deren Aufnahme in die Vergleichsurkunde abnehmen ann, wie fehr 
die Alteinherrfchaft der Regierung ſchon jede Selbftftändigkeie der Indi⸗ 
viduen und Corporationen zurüdgedrängt hatte, und wie man es ſchon 
Jals Geroinn betrachten mußte, nur fo dürftige Sonceffionen zu erlangen. 
Die Aufhebung des deutfchen Neiches und die Feſtſetzung der frans 
zöfifchen Herrfchaft in Deutfchland hatte für die Verfaffung Schaum: 
burgs zunaͤchſt die Folge, daß die Thätigkeit der Landſtaͤnde factiſch 
ganz und gar aufhörte; im Ganzen ohne fonderlidhe Theilnahme des 
Volks, welches auch durch bie Gefchichte des ganzen legten Jahrhun⸗ 
derts allerdings nicht an eine großartige Auffaffung des Inftituts ge- 
wöhnt war- Die gute Folge hatte indeß das franzöfifche Gleichheits⸗ 
princip, baß die Regierung nun endlich zur Aufhebung der Leibeigen⸗ 
{haft fchritt (1810), obgleih man auch babei auf einen höheren Stanb- 
punct der Beurtheilung ſich nicht erheben Eonnte, vielmehr ber Gerech⸗ 
tigkeit nur fo weit nachgab, dag die dem Landesfürften felbft zuftehende 
| Leibherrlichkeit unentgeltlich aufgehoben werden follte, wogegen die 
Leibeigenen der Privatgutsherren ihre Freiheit duch ein gefeglich be⸗ 
fimmtes Aequivalent erfaufen mußten”). 


— 





*) Zur Ehre der Wahrheit muß hier indeß bemerkt werden, daß manche 
Entſchaͤdigungsanſpruͤche der Privatieibherren binnen ber vorgefchriebenen und 





Eippe-Schaumburg 753 - 


Auf Veranloffung des Art. 13 der bdeutfchen Bundesacte führte 
der Fürft Georg Wilhelm vom 15. Januar 1816 eine landftändifche 
Verfaffung wieder ein. Diefelbe legte freilich in Anfehung des Beſteue⸗ 
rungsrechts den Landesvergleich von 1791 zum Grunde und flügte ſich in 
fo fern auf ältere, biftorifch entftandene Verhältniffe, war aber felbft 
nicht die Folge einer zwifchen Fürft und Ständen errichteten Ueberein- 
kunft, vielmehr in ihren wefentlichen, das ditere Verhaͤltniß umändern- 
den Bellimmungen octroyitt. Die Landesvertretung befteht demnach 
aus den fünf Befigern adelicher Güter, vier Abgeordneten der Städte - 
und Flecken, und ſechs Abgeordneten der Landbewohner in den Aemtern. 
Die Abgeordneten der Städte und Fleden werden durch den Magiftrat 
gewählt, die der Landleute durch Wahlmänner, jedoch aus ihrer Mitte. 
Die Mitglieder der Landſtaͤnde aus ber Ritterſchaft müflen das fünf: 
undzwanzigfte, die Abgeordneten aus den Städten und Zleden, fo wie 
aus dem Bauernſtande das breißigfte Lebensjahr zurüdgelegt baben. 
Die Rechte der Stände find fehe kurz gefaßt und beftehen in Folgen« 
dem: Prüfung des, Staatsbebarfs in Gemeinfhaft mit ber Regierung 
nach Maßgabe des Landesvergleichs von 1791 und Bewilligung ber 
darnach erforderten Steuern ; Berathung ber neu zu erlaffenden Gefege 
und Zuſtimmung, wenn diefelben auf die Landesverfaffung 
einen wefentiichen Einfluß haben; Reviſion der Rechnungen über 
bie verausgabten Lanbesfteuern ; enblid das Recht der Vorſtellung und 
Befchwerde. Die für bie Verhandlungen der Landflände verheißene 
Geſchaͤftsordnung ift noch nicht erfchienen; auch iſt nicht, wie die Ver 
ordnung beftimmt, alljährlich, fondern etwa alle drei oder vier Jahre 
feitvem ein Landtag gehalten. 

Diefe Verordnung gilt noch jet als das Grundgeſetz des Fuͤrſten⸗ 
thums und erfordert daher eine, menn auch nur kurze Prüfung Die 
Zulaſſung des Bauernflandes zur Landesvertretung ift wohl der wich: 
tigfte Sortfchritt, welchen das conflitutionelle Princip darin gemacht 
bat, wogegen die Webertragung der Wahl ber ftädtifchen Abgeordneten 
an die Magiſtrate diefem Principe, und die Unterfcheidung der adelichen 
Mitglieder von den bürgerlichen und bäuerlichen bei der Beſtimmung 
bes erforderlichen Alters der MWählbarkeit dem einen integrirenden Xheil 
ausmachenden Grundfage der Gteichheit widerſtreitet. Durch die Art, 
wie das Steuerbewilligungsrecht begrenzt ift, kann (bei vorausgefeßter 
Feſtigkeit der Stände) wohl eine Ueberfchreitung des herkoͤmmlichen 
Maßes der Steuern verhindert, nicht leicht aber deren Verminderung 
von den Ständen ducchgefegt werden; eine Einwirkung auf den Gang 
der Regierung durch den Gebrauch des Bewilligungsrechts ift völlig 
ausgefchloffen. Der Antheil an der Gefeggebung, welcher ben Staͤn⸗ 
den bewilligt wird, umfaßt freilich noch mehr, als was man felbft in 
neueren und neueften Zeiten vielfach für zuträglich hält, Inden doch wes 


im folgenden Jahre noch durch eine befondere Aufforderung verlängerten Praͤ⸗ 
judleiaifriſt micht angemeldet, alfo flilfhweigend aufgegeben find. 
Staats⸗ Lexikon. IX, U 48 








754 Lippe Schaumburg. 


nigftens in einzelnen Faͤllen neben dem ſtaͤndiſchen Getiitn 
zugleich die Eintoilligung gefordert wird; dem vernünftigen Staatkeir 
ift aber damit noch nicht Genuͤge gefchehen, und außerdem durd = 
Unbeftimmtheit der Faſſung der Keim zu vielen Streitigkeiten übe ti 
Frage gelegt: welche Gefege ihre Wirkſamkeit auf die Kandesn 

faffung dußern, und welder Einfluß ein mefentlicher ſei? Dit 

manche wichtige Beſtimmung fehlt, 3.8. über die allgemeinen fa 

bürgerlichen Rechte, über bie in der Bundesacte geficherte Freiheit ic 
Preffe, über bie ſchon im aͤltern Staatsrechte anerkannte*) mir: 
twortlichkeit der Minifter oder fuͤrſtlichen Räthe, Über Oeffentüchket m 
ſtaͤndiſchen Verhandlungen u. ſ. w, mag nad dem bamaligen Et 
puncte ber Gonftitutionspoliti®, beſonders im nördlichen Deut. 
der Verordnung nicht zum Vorwurf gemacht werben; doch mürmm 





uns daraus, fo wie aus der Unvollftändigkeit des Ganzen übequm | 


daß die Verordnung denjenigen Anfprüchen, welche man auf dem bew 
tigen Standpuncte an eine liberale Verfaſſung macht, wohl fchmeit 
noch) genügt. 

Das MWichtigfte, was man mit der neuen Verfaſſung für be 
Augenbli zu reguliren hatte, waren die Finanzen des Landes Dr 
älteren Schulden waren wohl getilgt, allein die legten Rriegsjahrr hun 
deren neue verurſacht, und es fragte fich, wer diefelbern zu dibemamn 
habe. Berner hatte durch Errichtung des deutfchen Bundes und 
neue Mititärorganifation die Landesverwaltung eine veraͤnderte Gmb 
lage erhalten, und die nach der althergebrahten Finanzeinrichtung init 
Verfaſſungsgeſchichte bei jedem einzelnen Falle vegelmäßig twieberkehtee 
Zweifei darüber, melde Ausgabe das Land, und weiche ber SHR 


übernehmen habe, bedurften auch hier einer Erledigung da mal 








Lippe: Schaumburg, 0.7665 


terhaltung bes Militärs in Sriedenszeiten ift fpäterhin dahin verglichen, 
daß aus der Kammercaffe die Garnifonen unterhalten werben und aus 
ßerdem noch ein Zehntheil zu den Koften des Bundescontingents bei- 
getragen wird, "wogegen die übrigen Koften dem Lande ebenfalls zur 
Laft fallen. — Die fonfligen Refultate des Landtags find für die all 
gemeinen Verhältniffe des Landes ohne befondere Wichtigkeit. 

Die weitern Landtage befchäftigten ſich meift mit Gegenftänden 
von untergeorbneter Bedeutung. Auch das Jahr 1830 ging ohne 
wefentliche Bewegungen vorüber, obgleich das nad) der Julirevolution 
duch ganz Deutfchland fühlbare Zuden, und die befannte Aufregung 
im benachbarten Heffifhen wie auch in Hannover keineswegs ohne leb⸗ 
hafte Xheilnahme blieben, welche im eigenen Lande befonder® durch er: 
höhete Holzpreife materiell genähet wurde. Die Regierung hatte inbeß, 
durch die bedenklichen Erfcheinungen in andern Ländern aufmerkſam ge 
macht, bei Zeiten durch Steuererleihterungen und Beſchaͤftigung der 
Armen der außerdem aus einer verfehlten Ernte zu beforgenden Noth 
einigermaßen entgegengewirkt, und derfelbe Zweck wurde noch durch 
mehrere auf dem naͤchſten Landtage vorgelegte Propofitionen verfolgt. 
Auch von den Ständen wurden über funzig Anträge (Defiderien) echo: ' 
ben und zum Xheil erledige. Durchgreifende Reformen in den, be- 
fiehenden Verhältniffen hielt man indeß nicht für nöthig; auch war bie 
Zheilnahme des Volks an conflitutionellen Fragen in dem Beinen Lande 
ziemlich gering. Selbft die ſeitdem und zum Theil fchon früher in 
allen Nachbarländern gefeglich ausgefprochene, aud auf dem Landtage 
von 1831 ſchon in der Ständeverfammlung zur Sprache gebrachte Abs 
Lösbarkeit der Grundlaften hat im Fuͤrſtenthume Schaumburg bis zum 
heutigen Zage noch Feine Anerkennung gefunden. Kleine Privat: und 
Local = Angelegenheiten, Adminiſtrations⸗ und Steuerfahen bildeten zum 
geößten Theile die Gegenflände der Iandftändifchen Belchäftigung. 

Bemerkenswerth ift nod das Mefultat des kurzen Landtags vom 
Jahre 1837, auf welchem der Anfchluß an ben zwiſchen Hannover, 
Braunfchweig und Oldenburg beftehenden Zoll: und Steuerverband von 
bee Regierung in Antrag gebracht wurde. Denn als bei der Abflim- 
mung fi Stimmengleichheit fand, folgerte man baraus die Annahme, 
weil es fih um eine Propofition ber Regierung handle. Eine grund: 
gefeglihe Beflimmung ließ ſich für ein ſolches Verfahren freilich nicht 
anführen; man glaubte indeg die Analogie anderer Ständeverfamm: 
lungen für fi) zu haben, und die Stände beruhigten ſich dabei*). Die 


— — 


*) Wie gang anders ift die conftitutionelle Anfiht in England! Hier 
entfcheidet bei Stimmengleichheit im Unterbaufe der Sprecher; es ift aber 
berfömmlich, daß derfelbe alsdann gegen bie von der Regierung vertheibigte 
Meinung flimmt, weil man annimmt, daß die Regierung gewiß bie Mehrheit 
haben würbe, wenn ihre Anſicht wirklich bie beffere ware. Schmalz, 
Staatsverf. Großbritanniens. Halle, 1806, ©. 101. Aus ber Natur ber 
Sache ergibt fih übrigens fehr leicht, daß, wenn die Annahme eines neuen, 
nod nicht vorhanden gewefenen Zuſtandes, alfo ein Ja ausgelprochen werben 


feit einiger Zeit auf ‚einen befriedigenderen Stand % 
als auf welhem «8 fi bis bahin. befunden en 
mer an einem _burchgeeifenden Schulpiane fehlt, und 
— mit —— N; ag — 8 
t war 
den neh bei * hauptſaͤchlich nur 
Bildungsanftalt 


für die Candidaten des Lehramt 
Grofe wirkungsteiche Bewegungen find, in einem 
zu ertonsten 5 ber — muß bei der 
ben, ob. man: aud) bier mente die ing. der 


den gröj [deinungen f2 
an om am * Ka durch Ausılihung 


Ben aan Tan, meche. die fr 
und. zu „ ohne. weiche 

fhwetich „gegen dis efle 
eren ice 





J 


Inhalt des neunten Bandes. 













Kärnt! 
Kaas f. Zitutatur, . 
er a fenfäaft. — Bon Dr. Molfg. 








































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Selaborfafu "88 2 
—— 1.Bsem 
— les: des — Bunde, 
1, Sentinent, Hescdann. . . ss 
Keonämter, f. Holämter. - . 508 
Kronanmalt, Staatsanwalı. vn BD 
1 Wörrebung Ser eubestuät: Kun, Infignien. . . ss 
(Ming. — Bon Depp... 209 Kuhasten, [. Pat ind ss 
* ti ——— Sunteitchen,j, Sek — 
meet; uber un, {m Sufammenkange init" Giaaf 
Arönesar: Kagıe der Oneisaeon und ’politit. — Bon ©. vos 
Be ci ach SEE ABEL Ania me 
ehe gegenüber der Gtantb- wahl. ahlcopitulation.— Bon 
* —— Kante 33 86 al —83 
10 Bafapette, f. Bapette, I x 
Rice, Kirdenoesfafung, erangelft Sagestuß, [. Kataher & 
Don 328 Sancafter Tee * on © az 
Ki — —V— . 306 Sand, [. Staat und Staategebiet, und 
Richenvermögen , Kirdengüter. — Bon * herteniofe Gaden. 0 
Se Eee 
andfeieben, f. deutfäe Gefdichte, um 
39 _ Faufe * 
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Sandfaflat. — Won G, Kühl. 
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deutfihes Stantsccht. * 
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