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Full text of "Staats- und Gesellschaftslexikon / 1. Aachen bis Almosenier"

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Staats⸗ 


und 


Geſellſ chafts⸗Lexikon. 


Herausgegeben 


von 














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Neues Converſations⸗Lexikon. 


————— 


Siaats 
Geſellſhaſt— ſerikon. 





In Verbindung mit deutſchen Gelehrten und Staatsmaͤnnern 
herausgegeben 


von 


Herrmann Wagener, 
Königl. Preuß. Juſtizrath. 


Erſter Band. 





Aachen bis Almofenier. TEL "il: 





Berlin. 
Edi 
1859. 


3 * 
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N a a 








Vorwort zur zweiten Ausgabe. 


Die Theilnahme, welche die bisherigen LXeiftungen des „Staatd: und Geſellſchafts⸗ 
Lerikons“ gefunden haben, veranlaßt uns, eine neue Ausgabe veffelben in Liefe- 
rungen zu veranftalten, um die Anfchaffung des ftetig fortichreitenden MWerfes einem 
Theil des befreundeten Nublicums zu erleichtern. 

Fünf Bände liegen abgefchloffen vor und laſſen bereits ein ficheres Urtheil über 
den univerfalen Geift zu, in welchem der großartig angelegte Wlan, den das Vor: 
wort zur erftien Ausgabe für die Darftelluing und Vertheidigung der confervativen 
Interefien und Grundfäße aufgeftellt hat, zur Ausführung gefommen ift. Der fechete 
Band, den Buchftaben E beinahe zum Schluſſe führend, wird in Kurzem auöges 
geben und das Unternehmen in dieſem Jahre mit dem achten Bande, da es die 
Zahl von 15 Bänden nicht überfchreiten fol, über die Hälfte hinausgeführt werden. 
Binnen vier Jahren wird das Werk vollftändig in den Händen des Publicums fein. 

Das Unternehmen fonnte faum in einer günftigerert Zeit ald der jebigen in's 
Leben treten. In einer Kriſis wie der jebigen, wo die Revolution mit der Lehre 
vom allgemeinen Stimmrecht die Völfer Europa's bethört, um fie nach der Zerſtörung 
von Recht und Glauben in eiferne Ketten zu fchmieden und die Gewalt zum Staats: 
recht von Europa zu erheben, ift ed die Aufgabe der confervativen Wartei, und 
zwar vor Allem in Deutfchland, den Beweis zu führen, daß fie nicht nur die Hüterin 
der Grundlagen der Gefellichaft, fondern die reformatorifche und fortbilbende. Partei - 
ift, Die unter dem belebenden Einfluß der Freiheit und Selbftregierimg, auf der ſichern, 
Muth und Vertrauen erweckenden Grundlage ftändifcher Gliederinz "und Volks⸗ 
vertretung die deutfche Arbeit in Kunſt und Wiffenfchaft von Neuem beleben, beit: 
ſches Recht ver juriftifchen Fremdherrſchaft entreißen, deutfchen Genserdefleif wieder 
ermuthigen und endlich auch wieder eine deutfche Politif in's Leben rufen wird. 
Die Revolution, die Völker durch die Herabwiürdigung und Entartung, die fie ihnen 
bringt, enttäufchend — der Liberalismus entweder in feige Paffivität verfunfen, oder 
durch feine Drohung, fich der Revolution in die Arme zu werfen, fich in einen 
augenblidlihen Refpect verfeßend — Branfreih, den Verfall und vie Feigheit des 
Liberalismus als den Rechtstitel feiner europäifchen Oberherrfchaft benugend — 
England, der gepriefene Mufterftaat der Gonftitutionellen, im Schlepptau Frankreichs 
und im revolutionären Gejchäft mit diefem concurrirend — das find die Afpecten, 
bie, an fich troftlos genug, die confervative Partei Deutſchlands umgeben, aber aud) 
ihren Muth befeuern und ihr die Größe ihrer Aufgabe vor Augen führen. Die 


| 





Vorwort zur zweiten Ausgabe. 


Arbeit an uns felbft, Schärfung des eigenen Gewiffens für die Verlodungen, welche 
franzoͤſiſche und romanifche Lebensanftcht auf die deutfche Entwidlung von je her aus⸗ 
geübt hat, Reinigung unferer felbft von den Einflüffen der Revolution, denen der 
Dentfche nur zu oft ausgefegt war, — diefe Pflichten find ernft und fchiwierig genug, 
um uns vor GSelbftüberhebung und vor der Einbildung, als hätten wir das Ziel 
fchon erreicht, zu bewahren. Doch glauben wir im Hinbli auf die zahlreichen und 
gehaltvollen, bis jegt vorliegenden Arbeiten des Lerifond über Ficchliche Intereſſen, 
Staatöverfaffung, Kunſt und Wiffenfchaft, Gerichtöwefen und Gewerbe, Staats⸗ 
wirthfchaft und fociale Fragen, Militärwefen und Kriegöwiffenfchaft; ferner im Hin⸗ 
bli€ auf die biographifchen Artifel, in welchen befonder& Der deutfche, englifche und 
franzöfiiche Nationalgeift nach vielen Seiten bin gedeutet wird, endlich mit Verweis 
fung auf die zahlreichen und beveuienden gefchichtlichen und geographifch : ftatiftifchen 


Artikel, die ein neues Licht auf das Leben und die Entwidlung der Völker werfen 


und in ihrem Zufammenhange ein Bild von dem gefammten Gulturleben der Erde 


geben, — annehmen zu dürfen, daß die werthvollen Sräfte, die fich bisher dem 


Lexikon gewidmet haben, nicht umſonſt thätig gewefen find. Die Echwierigfeit des 
Unsernehmend war groß, — das fagte und nicht nur der Zweifel, der und von 
gegnerifcher Seite anfangs entgegentrat, indeffen nun längft vollfommen verftummt 
ift, dieſe Schwierigkeit haben wir ſelbſt lebhaft genug gefühlt. Allein dies Gefühl 
war den Mitarbeitern, wie die bi jegt vorliegenden Leiftungen hinlänglich beweifen, 


nur eine Mahnung, fih um fo inniger und angeftvengter der großen Aufgabe zu 


widinen, und wir Dürfen demnach hoffen, in wenigen Jahren ein univerfales Merf, 
welches der conferpativen Partei ald Eammelpunft und der deutjchen Literatur zugleich 
nicht zur Unehre gereichen wird, dem Nublicum abgefchloffen darbietert zu können. 








VPorwort. 


En —— — 


Das Staats⸗ und Gefellſchafts⸗Lexikon, das wir hiermit der großen 
confervativen Partei nicht Preußens allein, fondern des gefammten Deutfchlands, ja 
dem ganzen deutſchen Volke, fo weit ed mit feinem Ramen auch feinen Charakter. 
bewahrt, darbieten und widmen: — «8 ift natürlich befcheiden genug, weder mit 
großen Anfprüchen, noch mit hochtoͤnenden Verheißungen vor das Publicum zu treteh. 
Der erſte Berfuch conjervativer Publiciftif und Wiffenfchaft auf diefem Gebiete, — 
ein Verſuch, der feine Träger überdies erfahrungsmäßig weniger unter den berühniten 
Männern der Wiffenfchaft, die nur ausnahmsweiſe und felten auf das Gebiet der 
eigentlichen Preſſe und Journaliſtik „herabfteigen”, als unter denen finden wird, bie 
noch jung und unberühmt genug find, um ältere Lorbeeren nicht auf das Spiel zu 
fegen und ein wenig Spott und Hohn nicht zu bitter zu empfinden, — kann es 
zunächft feine andere Legitimation beibringen, als neben dem dringenden Wunſch, 
dem Baterlande und den Gefinnungs-Genofien einen Dienft zu leiften, das Bewußt⸗ 
fein, in der Geftaltung der Zufunft zugleich das eigene Schidfal zu geftalten. Wir 
nehmen deshalb auch feinen Anftand, feine Fehler und Schwächen ale felbftverftänd; 
lich zu behandeln. 

Wenn wir nichts deſto weniger ohne Furcht und Zagen an das Werf ges 
gangen find, fo ift der Grund weder in Weberhebung unfer felbft, noch in Gering⸗ 
fhägung unferer Gegner zu fuchen. Wir werden und niemals zu der Selbfigefälligfeit 
erheben, die Schriftfteller und Wortführer Der Gegner den unferen als „Ignoranten” 
gegenäber zu flellen. Damit ift ed natürlich fehr wohl verträglich, wenn auch wir 
bie bisherigen Leiftungen der Gegner auf dem in Frage ftehenden Gebiete feines» 
weges für Meifterwerfe halten; wir halten auch Die unferen nicht dafür. Wir werben 
ed jo gut machen, als wir eben fünnen, und wer uns tabeln will, der mag es 
beſſer machen. 

Die lächerliche Infinuation, als ob wir das ganze bisherige Culturleben des 
deutſchen Volkes, Alles, was deutſche Wiffenfchaft und Kunft, was deutfcher Fleiß 
und deutſche Tiefe bis dahin geleiftet und errungen, mit bornixter Geringfchäbung' 
betrachteten, ald ob wir im runde nichts Anderes, ald den finfteren Plan verfolgs 
ten, den beutichen Urwald wieder anzufaamen und. in Bärenfellen um den Steins 
Altar zu tanzen, auf dem wir einen Tag um den anderen einen beutfchen Bhilofophen 
und Raturforfcher zum Opfer brächten, — eine foldhe Infinuation wird vor ernft> 
haften Leuten faum einer Widerlegung bedürfen. Wir wollen weder Humboldt noch 
Kant, weder Fichte noch Schelling, weder Schleiermacher noch Hegel, weder Schiller 
noch Goethe, noch irgend eine andere deutſche Celebritaͤt ihres luterariſchen Ruhmes 

Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 


2 Vorwort. 


berauben. Freilich aber verſtehen wir dieſe Anerkennung nicht ſo, daß wir den von 
jener Seite ſonſt ſo weit abgeworfenen „blinden Glauben“ nun plötzlich auf das 
Gebiet der Kunſt und Wiſſenſchaft verpflanzten, unſere ſelbſtſtändige Prüfung und unſer 
eigenes Urtheil unter den Ruhm jener Männer gefangen nähmen, und damit den 
„Cultus des Genius” an die Stelle der, Heiligen: Verehrung fepten. Wie Kant 
durch Hegel, wie Fichte duch Schelling, wie Schleieemacher durch Beide, wie Lebtere 
durch ihre weiter fortgefchrittenen Schüler bald in ihren Prämiflen, bald in ihren 
Schlüſſen widerlegt worden find, wie jeder Weife und jeder Naturforjcher, je größer 
er ift, um fo bereitwilliger "einräumt, dem Wefen und Urgrunde der Dinge nur durch 
Hypothefen näher getreten zu fein und eigentlich Nidyts gelernt zu haben, als daß 
er Nichts wiſſe; wie jeder Fortfchritt der Naturwiffenfchaften immer einfachere Ge⸗ 
feße zu Tage fördert und zugleich in fich die Regation eined Theil des früheren 
Stadiums volßieht; wie Schiller und Goethe und andere Männer der Kunſt ſelbſt 
In den Augen ihrer begeiftertften Verehrer nicht ohne Mängel und Flecken daſtehen: 
fo nehmen auch wir das Recht in Anfpruch, Jedermann, undfei er augenblidtich 
noch fo beruͤhmt, in unferer Weltanichauung und unferem Syſteme die paflende 
Stellung anzuweifen, unbefimmert darum, ob diefe den Gegnern gefällt oder nicht. 

Sonft haben wir bei der vorliegenden Arbeit feinesweges den Zweck, weder 
ein neues philofophifches, noch ein neues naturwifienfchaftliches Syftem zum Beften 
zu geben; wir wunſchen nur, daß vor unferen Lefern neben Kant und Hegel auch 
Baader und Stahl, neben Schleiermacher und Fichte auch Luther und Spener, neben 
Schiller ımd Goethe auch Klopftod, Herder und Claudius, neben Humboldt auch 
Schubert und Wagner, neben Adam Smith und R. Mohl auch F. Lißt ımd Stein, 
neben Gervinus und Prutz auch Leo und Menzel, und neben der bunten Schaar 
der felbftgefälligen Phllofophen und Naturforfcher in Schlafrod und Pantoffeln auch 
das Heer der chriftlichen Blutzeugen und "Glaubenshelden zu Worte komme. 

- Dabei aber gehen wie freilich vor allen Dingen darauf aus, trotz aller bes 
rühmten Männer von geftern und heute die Principien der chriſtlichen Religion 
und Kirche in Staat und Gefellfchaft, in Wiffenfchaft und Kunſt, in Philoſophie und 
Natur, fo weit e8 in unferen fhwachen Kräften fteht, wiederum zur Anerfennung 
und Geltung zu bringen. 

Nicht daß wir bis dahin zu viel Whilofophle, d. h. ungefärbte Liebe zur Wahr: 
heit in der Welt gefunden; im Gegentheil hat fogar die formelle Beichäftigung mit 
den Yhilofophifchen Syſtemen in bevenflicher Weife abgenonmen. „Es liegt — fagt 
Stahl — das Anfehen der Philoſophie darnieder, wie zu feiner Zeit In der Ge: 
ſchichte gefitteter Völker. Faſt ift die Grinnerung an fie erlofchen. Man findet kaum 
mehr eine Erwähnung auch der berühmteften Philofophen in der Tagespreffe, im ge: 
felffchaftlichen Verkehr, in den Werfen pofttiver Wiffenfchaft, in den. großen Ber: 
bandlungen des Staates und der Kirche. Wird ‚ein philofophifcher Lehrftuhl erle⸗ 
digt, fe fragt Niemand mehr, durch wen er wieder befeßt werde. Es ift ein wohl: 
verdientes Gericht über die Nhilofophie ergangen.” Dabei dürften die füngften, 
kaum noch philofophifchen Producte des fich ſelbſt überlaffenen Menfchengeiftes, der 
Geift und die Philofophle, die, wie ihre Vertreter naiv genug verfichern, lediglich 
aus dem Magen fommen, auch dem Blinveften über die Gefahren der Situation 
und die Nothwendigkeit der „Umkehr“ die Augen geöffnet haben. 

Kicht daß wir die Kunſt und Wiſſenſchaft an ſich gering achteten oder vers 
"wirfen und etwa mit dem Gedanken umgingen, den Kalifen Omar zum preußifchen 


Born. 8 
Ober⸗Bibliothekar zu ernennen, — doch Tennen wir auch Die Grämge, welche zu 
überſchreiten dem Berftande und der Phantafie des Menfchen nicht gegeben vder 
geftattet iſt. Zn ii) 
Die nadte und heidnifche, die frivole und tenbemziäfe Kunſt, wie fie jetzt m 
Muſeen und Häufern, in Sammlungen und auf öffentfichen Pläpen Eingang gefun- 
den; die Kunft, welche Durch ihre heidnifche Form gezwungen iſt, auch ihren Inhalt 
nur dem Heidenthum zu entlehnen; die Kunft, welche Chriſtenthum und Vaterlands⸗ 
gefühl gleichmaͤßig verläugnet und ignoriert und von ihrer erhabenen Stelle als Vor⸗ 
bildnerin der Erlöfung der Natur ımd der Menfchen zu einer Dienerin der Lüfte 
und Leidenfchaften und zu einem Werkzeuge vorübergehender Zwede und Tendenzen 
herabgeftiegen iſt, — mit_einer folhen Kunſt wollen wir unverworren bfeiben. Um 
fo mehr freuen wir und, auch auf diefem Gebiete in dem Wiedererwachen chriſtlicher 
Kunft ein unverkennbareds Symptom der Umfehr begrüßen zu ‚Finnen. 

‚ In’ gleicher Weife find wir außer Stande, eine Wifienfchaftlichfeft, welche bie 
„Königin der Wiſſenſchaſten“, die Theologie, als ihren hauptſaͤchlichſten Gegenfag: be- 
handelt, mit unferen Sympathieen zu begleiten. Eme feile Dirne anf dem Altare der 
Bermunft: das ift dee Schluß jeder von dem Boden des Chriſtenthums losgelbſten, 
ſich ſelbſt überlaffenen Philoſophie und Humanität. „Was im Geiſte hoher Wiffen- 
ſchaftlichleit begonnen, Kat im Yleifche des weit verbreiteten Materialismus. geenidet.“ 
Sonſt begleiten wir gern den redlichen Denker bis an die Granze menſchlichet Ge: 
danfen, d. 5. bis dahin, wo, wie ſchon Fichte anerkennt, die überfinmliche: Welt fich 
dem wifienfchaftlichen Berweife des Fur und Wider gleichmäßig entzieht und der’ 
menfchliche Geift auf das gläubige Ergreifen und Anſchauen götilicher Offenburun⸗ 
gen und auf die Bewahrung und Befeftigung feined Glaubens durch Uebung und 
Erfahrung, duch Empirie und Praxis hingewieſen bleibt. Sonft gedenken wir ‚Und 
von den fogenannten „MWiffenfchaftlichen“ weder in der Luft und Schärfe ves Den⸗ 
tens, noch in der Freude an den Refifitaten der Spannkraft und Energie des menſch⸗ 
kichen Geiſtes, ſondern lediglich, aber freilich much In allen Confequenzen, dadurch zu 
unterſcheiden, daß wir nicht Das infallible ſelbſtgenugſame „Ich“, ſondern den leben⸗ 
digen perfönlichen Gott als das A und DO unſerer Philoſophie und Raturforſchung him⸗ 
fielen, — eine Vorausſetzung, die und unvergleihlich viel mehr wiſſenſchaftlich und phi- 
bofophifch zu fein fcheint, als die Ungeheuerlichkeiten, deren der philoſophiſche Unglhube 
als Stügen feiner mit den Generationen wechfelnden Ariome und Hypotheſen bedarf. 

Noch weniger gebenfen wir unter der Firma oder dem Vorwande chriſtlicher 
Brincipien und Tendenzen in Staat und Kirche irgend ein ſelbſtausgeſonnenes Ey- 
flem, irgend eine von uns felbft ausgefponnene Verfafftung durch Güte oder Gewalt 
zur Geltung zu bringen. Wil haben durchaus Feine befonderen Sympathlen -fük 
ein fogenanntes „göttliches Recht”, welches das Hiftorifche ignorirt, oder welches, 
wie der Engländer Blackſtone draftifch bemerkt, „für das Etabliffement ver Kinber 
Sfeael beftanden haben mag, welches aber unbekannt iſt den Geſetzen und Gewohn⸗ 
‚ beiten dieſes Landes." Wir haben durchaus Feine Sympathie mit jener Auffaffing des 
Regiments „von Gottes Gnaden“, welche die Regierung zu eittem Privatrecht. Ber- 
unterdrüdt und die Berantwortlichkeit der Regenten lediglich in das Jenfelto verlegt, 
— eine hriftlich gefärbte conftitutionelle Fiction, auf welche der lebendige „Gott 
in der Gefchichte”, der Fürften ein- und abſetzt, bis dahin nur wenig Ruͤdficht ges 
nommen. Wir haben durchaus feine Sympathie mit den Regenten, welche von ihrer 
„Birma” Keinen anderen und beſſeren Gebrauch zu.machen wiſſen, als ihre nım wenig 

— 1* 


j x 








4 |  Borsent. 


correfpondirende Regierungs > Thätigfeit damit zu beveden. Wir haben nur wenig 
Sympathien mit dem Staut, der feinen Charakter und feine Aufgabe ale „chriſtli⸗ 
her Staat” durch Mediatifirung der chriftlichen Kirche zu erfüllen gedenkt und im 
ſich ſelbſt die Thaten wiederholt, um deretwillen der feiner Selbftverantwortlichfeit 
vor Gott ih bewußte Theil der Chriftenheit ven Banıı einer fleifchli und weltlich 
gewordenen Kirchengewalt von -fich abgeftreift. Wir haben durchaus feine Gemein: 
ſchaft mit jener höheren Geiftigfeit und Sittlichfeit, welche dem Einzelnen geftattet, 
im Namen des Rechtes fich über das Geſetz zu erheben und gewiſſen politiſchen 
Ideen und Borfhwebungen gegenüber Eid und Pflicht, Untertbanen - Berband und 
Verfaſſungen lediglich nach jenen Zweden zu modeln und zu deuteln, — eine Moral, 
weiche leider in der Regel nur bei dem Gegner das verdiente Urtheil empfängt. 
Ebenfo ift es nicht unfere Sache, Luftfchlöffer — fei es auch aus chriſtlichen Ge⸗ 
danken — zu erbauen. 

Nicht beſſer freilich denken wir von jener Auffaſſung des Staates und der 
Politil, welche, anſtatt die Güte der Verfaſſungen lediglich mach der eigenthümlichen 
Natur, nach dem durch die territorialen Berbältniffe, durch Lage und Zuſammen⸗ 
ſeyung und durch die Bildungsgeſchichte bedingten beſonderen Charakter und ben 
daraus reſultirenden kirchlichen und politiſchen Aufgaben des Stdates zu beurtheilen, 
die Ermittelung und Feſtſtellung der Verfaſſungen auf das Gebiet der Ethit und 
Metaphyſik verlegt und, anftatt die Staaten aus ſich felbft zu erklären, zwar nicht 
bie Poftulate des Chriftenthums, ‚wohl aber ein willfürliches, felbfternachtes, abftractes 
Princip der füttlichen und rechtlichen Freiheit zum Ausgangspunkt gemacht und dabei 
natuͤrlich überall zu äͤußerſt logifchen Erzeugniflen gekommen ift, die nur den einen 
Fehler Haben, daß fie eigentlich für Niemanden paflen, außer für den, der fie gefer- 
tigt. War aber Died — wie ein neuerer Schriftftellee bemerft — ſchon Wahnſinn, 
ed lag doch wenigftens noch Methode darin. Noch bunter und widerfinniger wurde 
bie Sache, ald man „auf den noch viel wunderlicheren Einfall gerieth, daß es in 
ber Nordſee eine gewiſſe Infel gebe, wo die Normal-VBerfaffung für die ganze civili⸗ 
firte Welt zu finden wäre,“ oder daß wir aus einer großen Stabt jenfeit des Rheins 
neben den gangbarftien Muftern in Reifröcken und Grinolin auch das Neuefte in 
Berfaffungen und Eidſchwuͤren zu begiehen hätten. Gewiß follten gerade bie, welche 
in dieſem unmethodifchen Wahnfinne befangen geweſen, fich am wenigften legitimirt 
finden, den chriftlichen Idealismus ihrer Gegner anzuflagen. 

Was und den Staat zu einer göttlichen Inftitution und jede Obrigkeit (die 
Magiſtratur in der Republif nicht minder, als den König in der Monarchie) zu einer 
Obrigkeit von Gottes Gnaden macht, das ift die Thatfache, daß Etaat und Obrigfelt 
das, was fie find, in ihrer Beftimmtheit und Befonderheit, in ihrer Verfaffung und 
in ben perfönlichen Trägern ihres Regiments nicht ohne Gottes Fügung und Durch 
- fein Walten in der Gefchichte geworden find; das ift die Erwägung, daß, wie. die 
Ehe nicht als bloßer Begriff, fondern nur als concretes Verhaͤltniß zwiſchen beftimmten 
Perſonen unverleplich, weil verletzbar, ift, fo auch Staat und Obrigkeit nicht als 
bloße Ideen, GedanfensDinge, ſondern als concrete lebensvolle Geftaltungen, ale 
inhaltsreiche Realitäten und Offenbarungen deſſen, der als „Menfchenfohn” die Welt 
regiert, den Widerſchein der Majeftät an ihren Stirnen tragen; das ift die Wahr⸗ 
nehmung, daß es den Völkern zwar gegeben ift, wie das Leben überhaupt, fo auch 
Die überfommene, von Gott geordnete Form ihres focialen und politifchen Lebens zu 
jerträmmarn und von fich zu werfen und in: ihrer Auflehnung thatfächlich Gott zu 





Voruort. | 5 


läftern, daß «8 aber bis dahin noch Feiner Revolution gelungen ifl, etwas Beſferes, 
Dauerhaftered an die Stelle des Alten zu ſetzen, fo daß felbft in England, wo bie 
Revolution nur das Königthum reformiren wollte, der Erfolg Fein anderer war, al6 
die Zerflörung der königlichen Gewalt; das ift Die Wahrheit, daß von fich felbft Fein 
Menſch obrigfeitlihe Gewalt über andere Menfchen haben kann, auch nidht die 
Sämmtlichen über den Einzelnen, daß auch ditech Vertrag Obrigfeit und obrigfeitikche 
Gewalt nicht begründet werden können, und daß das Gefeh nur dadurch Hecht wird, 
daß es eben nicht das Product und die Formulirung menſchlicher Willkür, ſondern 
der concrete Ausdrud und die adäquate Anwendung eines Gebotes, deſſen Sanckon 
auf eine en Autorität als die des Menſchen zurädzufüßren if. 

In jenen beiden Borberfägen, in den durch Gefchidke und territoriale Geſtel⸗ 
tungen gegebenen raͤumlichen und zeitlichen Borausfegungen und Bedingungen, und 
in den durch das heile Licht des Chriftenthums verflärten idealen Grundlagen umd 
Endgielen der Staaten bewegt fich der Inhalt jeber wahren Stantsfumft, jene cancrets 
ivenle Geſtalt, der wir insbefondere in der Anwendung auf unfer Baterland trog 
Hohn und Spott der Geguer in dem Poftulat des chriftlich »germanifchen Staates 
das Bürgerrecht zu gewinnen gedenken. 

Erfreulicher Weife greift diefe Erkenntniß auch im immer weiteren Keeifen Platz / 
und ſelbß der Liberalismus kann ſich dem Zugeſtaͤndniſſe nicht mehr entziehen, „daß 
jedes türhtige und würdige Leben. des Einzelnen wie der Volker feſchalten muß an 
den ewigen Grundlagen der Religion und Moral, an der Gerechtigkeit und. ihrem 
Maße, Daß ed auch in dieſer Beziehung fich anfchließen muß an Die ‚Achte Lehre 
unferer heiligen Religion, die überall und fo auch in Beziehung auf Freiheit und 
gejegliche Ordnung das Höchfte und Tiefſte Iehrend, die untergeordneten fcheinbaren 
Gegenfäge zu vereinigen weiß und fo, mehr als irgend eine Lehre der Welt, die 
Revolutionen befeitigt und doch mehr ats jede andere höoͤchſte geſellſchaftliche Freiheit 
heiligt und fördert,“ — nur daß man natürlich über die Gränzen feines eigenen 
Glaubens nicht hinaus kann und in den meiften Yällen anftatt des pofitiven. hiftes 
riſchen Chriſtenthums irgend ein, wenn auch ein zuſammengeſtoppeltes, Moralſyſtem 
old „Religion der Gegenwart” an den Dann zu bringen fucht. | 

Eben fo ift der tiefere Conſtitutionalismus bereits zu.der Ueberzeugung durch⸗ 
gedrungen, daß, wie. fich Jeder lächerlich machen würde, der beftrittene Rechtsver⸗ 
haͤltniſſe des geringften Gefellfchaftövertrages, z. B. einer Club⸗Geſellſchaft, nach feinen 
eigenen individuellen ‚oder allgemeinen philofophifchen Zwecken beitimmen wollte, dies 
noch in verftärkterem Mage eintritt, wenn es ſich um Staat ımd Kirche Handelt, — 
nur daß man hier Recht und Gefchichte etwas freifinniger behandelt; daß ferner bie 
weſenilichen logifchen Folgefüige aus der Natur des Staates oder, was daſſelbe il, 
feine Fundamente nagürlich feiner willfürlichen Stimmenmehrheit unterliegen und nicht 
aufgehoben werden können ohne Zerftörung des Staates felbil, — nur daß man im 
ſonderbaren Widerfpruch diefe unantaftbaren Fundamente doch wiederum aus nichts 
Anderem, als aus einem Vertragsverhältniß Kerzuleiten weiß. Ja, was noch mehr 
it, ed wird ausdrüfluch anerkannt, „daß ein Staat nur dadurch entfiehen und dauern 
lann, daß das höchfke Princip der einzelnen Geber (d. h. doch wohl das diriftliche!) 
als gemeinfchaftliche Grund⸗Idee oder als gemeinfchaftlicher Endzwech, als ein 
höherer Gemeingeiſt feine Glieder zur vereinten Krflrebung der Höchiten 
Aufgaben, der Menfchheit beftimmt, in biefer Bereinigung unter ſich und mit: ber 
allgemeinen. Vollendung erhält und leitet.“ Es iſt Dies eine Auffafſung, die faft über 


— Vorwort. 


hie Graͤnzen unſeres chriftlichen Staates hinaus in das Gebiet der Kirche hinein⸗ 
fuüͤhrt. Jedenfalls aber muß, wer nach ſolchen Praͤmiſſen dennoch den „chriſtlichen 
Staat". ald Poſtulat ablehnen kann, entweder felbft das Chriſtenthum innerlich abge⸗ 
ſtreifthaben oder feine Mitbuͤrger als Helden betrachten. 

Micht iminder. hat fich die Zahl der Verehrer des fogenannten „Rechtöituntes®, 
jenes früheren Ideals des continentalen Liberalismus, auf das Erheblichfte vermin⸗ 
dert und die Ueberzeugung Raum geiwonnen, daß der Staat Beides fein fol, ein 
Reich: des Rechtes, ein „Rechtsſtaat“, und ein Reich der Sitte, ein „ſittliches Ge⸗ 
meiaweſen“. Dan beginnt endlich der politifchen Action Hinter die Couliſſen zu 
fehen. Insbeſondere haben fir die Schärferblidenden unter allen Parteien jene 
Spielatten. ed Rechtsſtactes, wo man die MWillfüe zum Geſetz und dadurch den 
vermeintlichen. Rechtöftaat zum Superkitiv des Polizeiſtaates erhebt, fo wie jene neuere 
römische Dectrin, welche ven Staat, wenigſtens den evangeltfchen, alles poſitiven 
fittlichen Inhalts entleert, auf Schuß von Perfon und Eigenthum, fo wie auf Be- 
waäſſerungen und andere nügliche Anlagen befchränft und anfcheinend wiederum — 
wie vordem — zum Gerichiövollzieher der römifchen Hierarchte herunterdrücken möchte, 
ihr Urtheil bereit8 empfangen. Lefen wir doch ſelbſt in Welder’s „ſyſtematiſcher 
Eucnclopädie”, daß die Staaten nicht hervorgehen aus einzelnen untergeorpneten 
Zwecken deo menfihlichen Lebens, fondern daß fie ein lebendiges Ganze find, die 
lebendige Oyganifntion des gefellichafttichen Volkolebens und der Cultur, Die ihrerfeits 
wieberum von’ dem menſchlichen Gefammtzweck des Bolfes, von der Religion ımd 
Moral nicht getrennt werben können. „Wäre der Staat — heißt es dort — lediglich 
eine äußeriiche Eicherungs⸗ und Zwangs⸗Anſtalt, fo Hätte er auch nur einen fehr 
bedingten. untergeordneten Ruͤtzlichkeitswerth, nicht die höhere Würde, welche alle 
Bolker ihm bedlegen. Es wäre ferner der Tod für das Vaterland, d. h. die Hin- 
gabe: aller: Sicherheit oder des Zweckes felbft für den Staat, ald ein bloßes Mittel 
ber Sichenheit, ein Widerſinn“ — eine Bemerkung, welche auch bie Berechtigung 
des: Koemopolitismus auf ihr rechtes Maß zurüdführen dürfte. 

Aus“ dieſem Grunde lobt man fogar Die praftifche Volksweisheit der Alten, 
lobt man die Staatörecht6-Kehrer von Artfloteles bis zu dem „praftifchen Thomaſius“, 
weiche und weil. fe den Staat als einen Menfchen im Großen betrachtet: eine 
Auſchauuug, welcher wir uns unbedingt anſchließen, nur daß wir in der Durch⸗ 
führung der meiften jener Philoſophen, von den Phantafien des Plato bis zu ben 
Meanfchenrechten: und Staatöbiwger » Theorien der feanzöfifchen Revolution, den 
wirklichen Dienjchen, den Menſchen mit Leib, Seele und Beift vergeblich ſuchen und 
ſtatt :veffen irgend ein auf Spiritus gesogenes, Immerhin geiftreiches und Intereffante® 
philofaphifches Ungethuͤm erbliden. Wir werden dies Alles an dem geeigneten Orte 
nöher seleuchten. — 

„Das Werk, an das wir hiermit Herantreten, foll natürlich eine, Tendenzſchrift“ 
waben, eine Zendenzfchrift nicht im dem Sinne, daß wir Theorie und Praris, 
Wahrheit: und Gefchichte nach unferen Zwecken zufchneiden und modeln, fondern — 
wie: dies auch der erflärte Hauptzweck ähnlicher Arbeiten unferer Gegner ft — daß 
wir darauf ausgehen, die Grundſaͤtze, Richtungen und Intereffen unferes Syſtems 
offen ‚ohne Rück⸗ und Vorbehalt auszuſprechen, das, was unfere Partei’ will und 
porbeeh, wolle und’ fordern muß, im Zufammenhange barzuftellen und dadurch 
gefunden politifihen: Sinfichten und Richtungen, als welche wir bie unferen betrachten, 
er: allen: Slaffen der Geſellſchaft eine möglichft große Werdreitung und Anerken⸗ 


Bewer. T 


nung zu verfehaffen. Es iſt dies für uns und unfere Stellung um fo wichtiger und 
unabweiglicher, als die gegnerifche Prefie jeden Kaliberd ſeit Jahrzehnden darauf 
ausgegangen ift, unfere Partei und deren pofitifche PBrincipien und Tendenzen im 
ginftigften Falle ald Caricatur, im weniger günftigen ald befchränfte und böswillige, 
jelbfifüchtige und Binterhaltige, lichtſcheue und freiheitöfeindliche darzuftellen: — 
Infinuationen, die wir nicht Durch philofophifche Lehrbücher und vielbändige Gefchichte- 
werfe, fondern nur dadurch befeitigen werben, daß wir dem populären Angriff mit 
gleicher Bertheivigung begegnen, der gegnerifchen Caricatur ein Geſammtbild unferes 
Syſtems gegenübderftellern und unfere Vorberfäge und Thegrien durch unfere Praris 
und Schlußfolgerungen legitimiren. 

Zugleich ift das fich gegenfeitig gründlich Kennenlernen die VBorausfehung aller 
Anerfennung und Verſtändigung, und es ift deshalb weniger des Streited wegen, 
defien wir Doch genug haben, ald um des endlichen Friedens willen; daß wir dem 
Syſtem des Gegners das unfere gegenübertreten laffen und dadurch ein gruüͤndliches 
Urtheil nach beiden Seiten ermöglichen. 

Zu dieſem Zwede werben wir geeigneten Ortes nachweifen oder wenigſtens 
nachzuweifen verfuchen, daß, weit entfernt, verfaffungsmäßige Freihelt und organifche 
Selbſtregierung zu verwerfen, umfere Principien und Poftwlate die einzige Grundlage 
find, auf welcher dad Gebäude wahrer wejentlicher Freiheit und Selbſtregierung 
dauernd gegriindet werden fann, und daß, was noch von Freiheit in Europa vor⸗ 
handen ift, der Liberalismus und Conftitutionalidmus nicht fich und ihren verkehrten 
revolutionären Beflrebungen, fondern uns und unferen Gefinnungs - Genofien zu 
danken haben. „Aus dem Streben nach zu großer Freiheit wird — wie ſchon das 
alte franzöjifche Sprichwort fagt — Nichts als zu große Knechtſchaft geboren.“ 

Freilich fuchen wir unfere Freiheit und CEelbftregierung nicht in.dem Abhub 
und den Brofamen von Dem Tifche der franzöfiichen Revolution, nit in ftanzöſi⸗ 
fcher Rechtspflege und Adminiſtration, nicht in bureaufratifcher Centralifation und 
Algemigfamkeit, ſondern lediglich in dem Feſthalten der natürlichen Gliederung: und 
Organifation und der geſchichtlich überfommenen Verfaſſung ber Välfer und Staaten. 


Wir willen — und die Erfahrung hat es beftätigt — daß man fein Gebäude‘ 
auf Lügen grandet, wenn man nicht den Menfchen, wie er ift, den Menfchen mit 


feinen Schwächen und Gebrechen, mit feinen Mängeln und Simben, mit feinen vers 
ſchiedenen Zweden und Bedürfniſſen, mit feiner verfchiedenen Bergangenheit und! 
feinem verſchiedenen Befig, in feiner verfchiedenen Stellung und Geltung, d. h. das 
Belt in feiner äußeren gefchichtlichen Befonderheit und Gontinuität, in feinen ver- 
ſchiedenen Klaſſen und Ständen, fondern den Menſchen, wie er fein follte, feiner 
Schwächen und Leidenſchaften entfleivet, der Bedingungen des irdiſchen Daſeins ent: 
hoben, als abfiract vernünftiges, tugendhaftes Weien, als freien und gleichen. Stante- 
bürger, d. h. das Volk ald ein willfüriches . Stud der Menſchheit, als eine unters 
ſchiedsloſe Maffe polltiicher Atome den Inftitutionen des Staates zum Grunde legt. 

Wir wien — und die &edhichte Frankreichs ftellt. es uns täglich vor Mugen: 
— daß bie confequente Durchführung der franzoͤſiſchen Principien die höchfte Stei- 
gerung des Despotiemus .ımabweislich forbert und im Gefolge bat, daß die Reali⸗ 
fation der Poſtulate der von dert überfommenen Staatöfunft die Freiheit des Volkes 
für immer. ımmöglich macht, und daß insbeſondere wer vielgenriefene Conſtitutio⸗ 


nalismus, weit entfernt, eine befonders hohe bis dahin dan Menichengefchlecdht vers 


hällt geweiene Form der politiſchen Freiheit zu fein, nichts Beſſeres war, als ber 


V 


8 Vorwort. 


Inbegriff der Principien und ber Apparat der politischen Herrfchaft des Gelbcapitals, 


der mit hochtönenden Phrafen verfchleierte Verſuch, die Staatsgewalt im alleinigen 
Intereffe der befigenden Klaffe auszubeuten, und die — in der allgemeinen Gorrup- 
tion offenbar gewordene — faule politifche Frucht der Selbſtſucht und des Mammo⸗ 
nismus der Regierenden wie der Regierten. 

Wir wiſſen — und das Gericht der jüngſten Kriſis ruft es laut in jedes noch 
nicht ganz verſtockte Ohr — daß man mit der Beſeitigung der „Feſſeln der freien 
Bewegung“ auch die Schranken zertrümmert, welche den Schwachen vor dem Star⸗ 
ken geſchützt, daß man mit der Freigebung der unbedingten und unbeſchränkten Con⸗ 
currenz, oder, was daſſelbe iſt, mit der Herrſchaft des ſchrankenloſen Egoismus die 
Grundlagen der menſchlichen Geſellſchaft erſchüttert und auf dem gewerblichen Gebiete 
ein Yauftrecht etablirt, viel gefährlicher und intenfiver, ald das mittelalterliche, welches 


doch immer nyr in ifolirten Raubzügen verlief, und daß ed daher der Staatögewalt 


nicht länger erlafjen bleiben Fann, auch die gefährlichften Mächte der Gegenwart, die 
Geldmächte und die Geld-Barone zu bewältigen und mit flarfer Hand zu leiten und 
damit den „Frieden“ auf dem gewerblichen Gebiete zurüdzubringen. 

Aus dieſem Grunde wollen wir feine importirte Verfaffung, weber aus Eng⸗ 
land noch aus Franfreih, am wenigften — wonach jest Vieler Sinn zu tracdhten 
fcheint — die des kaiſerlichen Frankreichs. Wir fuchen den Schug der Unter 
thanens Rechte, beſonders derer, welche ſich ſelbſt nicht zu fchügen vermögen, in einer 
ſtarken und felbfiftändigen Eöniglichen Gewalt, in der Gewalt, welche allein im 
Stande ift, wenn auch nicht über den Parteien, doch über allen Interefien zu ſtehen, 
und die, wenn fie anders ihren Beruf und ihre Aufgabe in der Gegenwart richtig 
erfaßt, nie aufhören wird, die Sehnfucht und Hoffnung der Mafle des Volkes zu 
fein. Wir fuchen die Freiheit nicht in der Theilung der Souverainetät, Jenem Hirn- 
gefpinnfte ideologiſcher Staatsrechts-Philofophen, jenem anatomifchen Präparate der 
englifchen Berfafiung, fondern vielmehr in der -angemeffenen Ordnung und Organi- 
fation der Regierungs s Organe und der richtigen Vertbeilung der Regierungs - Ge 
walt.. Wir fuchen fie nicht in dem Nennen und Jagen nach Stellen und Gehalt, 
in dem Kämpfen und Hafchen um Minifterftühle und Gewalt; wir fuchen fie vor 
Allem und zunächft in der Entwidelung der Gommunal- Freiheit in Gemeinden, 
Kreifen und Provinzen, in der Theilnahme des Volkes an der Regierung und Ders 
waltung in den felbiges zumächit und unmittelbar berührenden öffentlichen Ange 
legenbeiten. 

Damit wollen wir indeß die Thellnahme des Volkes an feiner Geſetzgebung 
in feiner Weife ausgefchloffen wiſſen: es ift diefe Theilnahme in unferen Augen 
etwas fo Natürliched und Gegebenes, daß es der ganzen Verfehriheit des revo⸗ 
Iutionären Liberalismus bedurfte, Diefelbe fo wie gefchehen in Mißerevit zu bringen. 
Freilich wird jene legislatoriſche Mitwirkung des Volkes nur dann ihrem, Begriffe 
entiprechen, wenn fie von jorial und politifch felbfiftänbigen, fich felbft regierenden 
und verwaltenden &orporationen getragen und zugleidy von einer Rechtöpflege be⸗ 
gleitet wird, welche nicht, wie bie franzöfirende, die fchlimmfte Art des „erimirten 
Gerichtsſtandes“ für die Beamten reſervirt und insbefondere auf dem criminalsrechts 
lichen Gebiete — des Inftituts der Staats - Anwaltfchaft einftweilen zu geſchweigen 
— an bie Stelle fefter bindender Formen, dieſes fefteften Bollwerkes wahrer bürger- 
licher Freiheit, Die moralifche Veberzeugung treten läßt, ein richterlicher Grund, ber 
namentlich in politifch erregten Zeiten mit Willkür ziemlich identifch wird. 








. Bewer. 49 


Richt minder wird ed unfere Aufgabe fein, auf dem gewerblichen und in⸗ 
duſtriellen Gebiete jenen Infinuationen entgegenzutreten, welche und als beichräntte, 
unbedingte und unverföhnliche Gegner der Concurrenz und Induſtrie, des Capitals 
und der Mafchinen, der Banfen und ähnlicher Inſtitute der Gegenwart lächerlich 
und verdächtig zu machen ftreben. 

Wir verwerfen nicht die Concurrenz an fich, wir verwerfen nur bie unfitts 
liche und ausbeutende Concuyrenz, nicht die Goncurrenz, welche den Wetteifer 
anfpornt und den Erfindungsgeift rege macht und in ber Bethätigung der freien 
Perſonlichkeit und der Herfiellung des freien Werthes das Güterleben gewiſſermaßen 
über fich ſelbſt erhebt; nein, nur die Concurrenz, welche, ohne dabei in der Wahl 
ihrer Mittel fonderlich ferupulds zu fein, lediglich fich felbft und das eigene nächfie 
Interefie als Ausgangs⸗ und Zielpunft behandelt, „Fußgänger, Wagen umd Reiter“ 
auf denfelben Weg zufammenzwingt und, indem fie den Schwachen ſchutzlos in den 
Kampf mit dem Starken treibt, die Kleinen bier fchneller, dort langfamer, aber un⸗ 
erbittlich und rettungslos dem Größengefege der Capitalien opfert. 

Sonft wollen auch wir Feine weiteren Beſchraͤnkungen und Garantien, als bie 
mit der Sache felbft gegeben find: Garantien des fittlichen Inhalts der Eoncurrenz 
in der corporativen Organifation der Eoncurrenten und der darauf bafirten Selbf- 
regierung und Gegenſeitigkeit der gewerblichen Ehre; Garantie der materiellen Baſis, 
indem wie nach dem Borbilde unferer einfichtigen und befonnenen Väter die ſtatiſti⸗ 
ſchen Erfahrungsfäge und Geſetze auf dem gewerblichen Gebiete auch wiederum 
formel als ſolche fanctioniren. 

In gleicher Weife find wir nicht Feinde des Eapitald an fich, weder bes 
fleinen, noch de& großen — wir haben es felbft recht gern; auch nicht der Banken 
und Aetien, in weldgen legteren wir bei richtiger Anwendung den Anknüpfumgspunft 
der Concurrenz des fleinen mit dem großen Gapital erkennen, — fonderr nur ders 
jenigen Behandlung und Wirkfamfeit des Capitals, welche dem Gelde und folge: 
. weife dem Geld⸗Capital, feiner Natur und Beftimmung zuwider, eine iſolirte, felbfte 
fländige, von den Bedingungen und Refultaten des ganzen fonftigen Güterlebens 
und inöbefondere der reprobuctiven Verwendung der Güter, ald dem Kernpunfte 
aller Vollswirthſchaft, abgelöfete und unabhängige Exiſtenz zumelfet, die Eoncenr 
tration überwältigender Geldfräfte ohne jedes befiimmte concrete Ziel geftattet und 
einen Zuftand ermöglicht, in dem man, anfcheinend ausgehend von der Voraus⸗ 
fegung, daß das Geld lebendige Junge zur Welt bringe, den Credit ale ſolchen 
ausbeutet und fich fehmeichelt, Bapitalien, anftatt durch Stoff und Arbeit, durch 
Geder und Papier erzeugt zu haben, eine Alchymie, neben welcher der „Stein dev 
Weiſen“ fidz verkriechen muß. Daß „Alles nur Schwindel geweſen“, und daß der 
auf fingirte Gapitalien gegründete Eredit mit der erſten Meacdion ber Realitäten 
ſpurlos verſchwindet: dieſe Einficht ſcheinen wir erft durd bittere Erfahrungen ger 
winnen zu follen, Erfahrungen, die um fo bitterer werben birften, wenn man in 
der That dazu fortfchreitet, wicht bloß den „Verdienſt ohne Arbeit und den Reich⸗ 
thum oBne Ehre” von der redlichen Broduction und Arbeit aufbringen zu laffen, 
fondern auch die Verluſte auf deren Schultern abzjuwälgen und die Heilung ber 

ſchwindelhaften Speculation in deren Steigerung und Bollendung zu fuchen. 
| Ebenſo verwerfen wir ımferer Seite nur den Induſtrialismus und den Mas * 
terialismus, nicht aber ven Gewerbefleiß und die Induſtrie, Deren Nutzen und An⸗ 
nehmlichfeiten wir im vollen Maße zu windigen willen und in benen wir auch 


— 


”._ Yun! . 


unferer Echte. .die theilweiſe Beihätigung dev Herrfchaft des Menſchen uͤber Die Natur 
mit Freuden auerfennen. Wie wollen deshalb auch weder die Eiſenbahnen noch die 
Mafchinen, weder den Gewerbefleiß noch den gewerblichen Beſitz von ber Erde ver; 
ſchwinden lafen. Was wir hinwegthun wollen, ift lebiglich Die Alleinherrfchaft 
und Alleinberechhtigung der Beweglichkeit und des gewerblichen Beſitzes; das 
ift: lediglich derjenige Betrieb und Gebrauch des Gewerbefleißed und der Mafchinen, 
weiche ven Menfchen nicht als Zweck, fondern ald Mittel, ald ein umvolllommenes' 
Stück Maſchine beivachten und achten, welche in der maß- und fchrandenfofen 
Steigerung her Production nicht. allein ſich felbft entwerihen, ſondern auch, indem 
be vie Maſſe des Voll je fänger deſto mehr conjumtionsumfähig machen, ſich ſelbſt 


den beiten Shell ihres. Gebietes, den inneren Markt, verjchließen und verfünmern. 


So, wie und fo weit wir Die Geſetze des forlalen und des materiellen Güter⸗ 


lebens erfaßt und begriffen haben, ift e& gerade die Eigenthümlichfeit der einen Art 


des Beſitzes mb. deren Fefthaltung, welche die Gefahren der anderen befetigt und 
aufhebt, fo daß inäbefondere der Grundbeſitz und der gewerbliche Beſitz ſich gerade 
im deu Anerlennung und Feſthaltung ihres befonderen Charakters gegenfeitig bedingen 
und tragen und mit der Mohllificung des unbeweglichen Befiges der beivegliche 
unvermeiblich dem Schwindel anheimfält. Selbfttevend wollen wir aus bemfelben 
Grunde auch nicht die ausfchliegliche Herrſchaft, noch auch nur ein vorwaltendes 
Vebergewicht:einer Art und eined Maßes des Beſitzes, alfo auch nicht des Grund⸗ 
befiged. Die wahre, der Idee des .entwidelten Lebens entſprechende Ordmg des 
Beſitzes iſt allein in dem gleichzeitigen Vorhandenſein und in der gleichen Berechti⸗ 


gung aller Arten und Maße des Beſthes wie der Arbeit gegeben, doch mit ber 


Maßgabe, daß die Vertheilung des Grundbeſitzes den Charakter der Beflg-Vertheilung 
überhaupt: beftimmt. Nur in der Harmonie der Jutereſſen dev Arbeit und des Befiges, 
des, großen und des kleinen Capitald, nur in der Ueberwindung der felbftjächfigen 
Einſeitigkeiten dee verſchiedenen Gefellichaftöklaften ift ein nachhaltiger und ſegens⸗ 
reicher ‚Zortfchritt der Induſtrie zu finden; jeder andere Weg führt durch Eingel- 
Reichtum une Mafien-Armuth, durch Geld⸗Goͤtzenthum und Proletariat, Durch Klaſſen⸗ 
Herrſchaft und Klaſſen⸗Kampf zur ſocialen und politiichen Auflöfung der Staaten 
und Volker: Wahrheiten und Thatſachen, die demnächft an betreffenber Stelle ihre. 
näbere Beleuchtung und Reditfertigung finden werden. 

‚Hier zum Schluß nur noch zwei kurze Bemerkungen, einmal: warum wir den 
gegenwärtigen Augenblid zur Herausgabe eines folchen Werles fir befonders geeignet 
und indicirt betrachten, und ſodann, daß wir die Beſorgniß nicht theilen, als ob es 


der comfervativen Partei an dem geeigneten geiftigen und wißtenfchaftlichen Kräften 


für. ein derartiges Unternehmen gebreche. Woran ed der confervativen Partei bisher 
gefehtt, das war die Moͤglichkeit und ein Cenſtum gemeinfamer cooperativer Action, 
und was insbefonbere die jüngeren geiftigen Säfte vielfach gehindert, auf dem Kampf: 

platze zu erſcheinen, das war das Ifolirtfein und damit Das theilweife : Verſchwinden 
und Richtbemerktwerben der Perſonen und Beitrebungen, das war ber Mangel gegen 
feifiger Wörberung und Unterftügung, Der gerade in unferer Zeit mit Rückſicht auf 
bie befannse. Todtſchweigungs⸗Tactik der Gegner doppelt ſchmerzlich empfunden. wird, 
das war die eigenthünliche Richtung des Buchhandels, der, weil ihm von der an⸗ 
dene Seite weder ein gemägender Reiz, noch ein entſprechendes Object geboten wurde, 
bio im Die neueſte Zeit. mit wenigen principiellen Ausnahmen feine Aufgabe, weil 
fein Interefie,.in der Colportage des Liberalismus fand. 





Vorwort. 11 

Rah allen diefen Richtungen meinen wir durch unfer Werk zwar nicht fofert 
die Heilung, doch aber den Anfang derfelben zu bringen. 

Und wenn wir es verftehen, uns in die Zeit zu ſchicken, dann werben wir eilen, 
die Paufe, welche momentan in der Bewegung und Entwidelung der Staaten und 
Bölfer eingetreten ift, auf das Befte zu nugen und auszufaufen und nicht allein 
Das, was wir, bis dahin erfämpft und errungen, in dem Bewußtfein der Voͤlker zu 
rechtfertigen und zu begründen, fondern auch unfere weiteren Schritte und Eroberim- 
gen geiflig vorzubereiten. Es if die deutſche wie «urobäifche Aufgabe Preußens, 
die Gegenfäße der Zeit in fih zum Austrag zu bringen und zugleich in feinem 
eigenen inneren Abfchluffe die Möglichkeit und Faͤhigkeit zu einer großartigen Po⸗ 
litik Deutichland und Europa gegenüber zu bewahren und beziehungsweiſe wieder 
zu gewinnen. 

Das Zaudern und Schwanken, das Vermittelnwollen zwiſchen Deutſch und 
Waͤlſch, dad Octroyiren und Revidiren, das Ausgleichen demokratiſch atomiftifcher 
Conceptionen mit den hiſtoriſchen, corporativen, conſervativen und ariſtokratiſchen 
Elementen in Bolf und Staat, das Abthun der Reſte der jüngften Revolution gleich⸗ 
fam im Verfafſungs⸗Proceſſe mit den Häufern des Landtags, doch ohne die rechte 
principielle Entſchloffenheit und mehr vircch Verhältniffe und den vermeintlichen Eins 
druck befitumt und getragen: kurz, der Brudy mit’ der Revolution, ohne doch an die 
Ueberwindung und Umwandelung na) irgend einem großen Maßſtabe und 
Beincipe hesanzutretn — dad mag eine Zeit lang eim unvermeidliches Webel 
gerveien fein. Als dauernder Gharufter der preußifchen Politik aber wiürve ein folcher 
Zuſtand und eine foldhe THätigfeit nicht allein zur Neutralität In auswärtigen Dingen 
von felbit zwingen, fondern auch in der dauernden Nechts-Unficherheit und in ver 
forigefeßten Spannung der politifchen Parteien den Glauben an die Stetigfelt und 
Machwolllommenheit des preußifchen Staatsweſens im Volke und nach außen gleich- 
mäßig. erjchättern. ' 


Wagener. 


\ 


Einleitung. 


————— —— 


Unſere Ziele und Tendenzen bezeichnete offen das „Vorwort“, die Principien, 
auf welche wir uns gründen, haben wir in dem erſten Artikel dieſes Werkes, „dem 
politiihen AP E*, niedergelegt, und es erübrigt und an dieſer Stelle nur noch, Die 
Grundfäbe über Auswahlund Behandlung der faft überwältigenven. Fülle 
des Stoffes und das Syſtem des Werkes in furzen. Zügen darzulegen. 

In dieſer Beziehung nun ift unfer erfter leitender Grundfag der geweſen, mit 
einitweiliger Beifeitlaffung Der formellen Vollftändigfeit eines Converſations⸗Lexrikons 
num diejenigen ‘Berfonen und Sachen in den Kreis unferer Befprechung zu ziehen, 
welche mit der Gegenwart und deren geiftiger Arbeit, fei e8 auf dem materiellen und 
focialen, fei es auf dem politischen, Firchlichen und religiöfen Gebiete, im einem näheren 
oder entfernteren Cauſal-Zuſammenhang ftehen und aus und in denen ein Beitrag, 
jei ed zum bejjeren Verftändniß, fei es zur Verföhnung und Löfung der —— 
und Streitfragen Der Zeit, geſchöpft und gewonnen werden kann. 

Nicht minder haben wir überall den Geſichtspunkt feſthalten zu müſſen — 


daß das begonnene Werk hauptſächlich dem großen Publicum und dem gebildeten 


Laien dienen fol und demgemäß die Aufgabe Hat, auch dort, wo es fih um die 
Beleuchtung und Verbreitung der neueren und neueften Refultate der Wifjenfchaft 
handelt, von der fpecififch wiflenfchaftlichen Borm abzufehen und eine Darftellungs- 
weife zu wählen, welche, ohne der Gründlichfeit und dem Ernſt der Forſchung Eintrag 
zu thun, doch auch geeignet ift, das Intereffe und Verftändniß aller Klaffen des Volkes 
wach zu rufen und zu fördern. 

Ganz befonderd werden wir den Doctrinarismus fogenannter wiffenfchaftlicher 
Formeln und Theorien zu vermeiden fuchen, ohne dabei den Werth und die Bes 
deutung einer wahrhaft fuftematifchen Darftellung irgendwie zu verfennen oder zu 
ignoriren. 

Richt allein, daß jeder Zeit und jeder Generation auf allen Gebieten des 
Strebend und des Wiffend eine beftimmte gleichmäßige Grundanſchauung und Richs 
tung und damit auch ein beftimmter Grund⸗Irrthum innewohnt und beifpielöweife 
eine atomiftrende Staatsrechts⸗Lehre mit Zuverläffigfeit auf den entfprechenden Irrthum 
auf dem Gebiete der Naturlehre ſchließen läßt, es ift ja auch — wie fchon anderswo 
fehr treffend bemerkt ift — das Syſtem überhaupt nichts Anderes, ald das „Orga⸗ 
nifche in dem Lebendigen der wirklichen Lebensgeftaltungen“, und jede Darftellung 
des wirflichen organifchen Lebens ift und muß zugleich eine fuftematifche fein. 

Freilich bietet Die Betrachtung des wirklichen Lebens ein durchaus anderes Bild, 
als die des wiſſenſchaftlichen Syſtems; was hier neben und nach einander, erfcheint , 


’ Einleituug 13 


dort in und mit einanderz dennoch aber wie neben ber unendlichen Fülle feiner ein- 
zelnen Erjcheinungen der menfchliche Leib doch nur eimen anatomifcken Organismus 
enthält, jo wird auch dad Ganze und feine Kraft in jedem Einzelnen erkannt, „Die 
Scheidung von Praris und Theorie, dad Gefpenft der Abſtraction vom Leben ver 
ſchwindet,“ und in ber. um- und nabildenden Kryſtalliſation des Lebens bleibt doch 
der anatomifche Organismus der Völker ebenfo wie der einzelnen Menfchen oder, was 
daſſelbe iſt, das Syſtem des Volkslebens unveränderlich daſſelbe. 

Dies wirkliche Leben nun hat (ef. Stein, Vollswirthſchaftslehre S. 21) drei, 
wenn auch an fich felbftftändige, doch ſich gegenfeitig bebingende und durchdringende 
Gebiete. Das erfle, „Das des Güterweſens, in dem die Perfönlichkeit ſich das 
Natürliche zu ihrem Zwede unterwirft und es durch ihre Thätigkeit beffimmt und 
beherrfcht ; das zweite, das der Gefellfchaft, in dem diefe Herrfchaft der einzelnen 
Perfönlichkeit zum Bewußtſein kommt und von dem natürlichen Leben auf die Ordnung 
der Perfönlichfeiten unter einander übergeht; das dritte, das des Staatts, m dem 
die Geſammtheit der Perfönlichkeiten fich als perfönliche Einheit zuſammenfaßt und 
in der Erfenntniß ihres eigenthümlichen Lebensgefepes wie ihres Berufes ihre leben- 
bige Kraft auf die Elemente diefes Einzelnen fchügend und helfend zucäcdwenbet.“ 

Was hieraus folgt, ift zunaͤchſt, Daß jede befondere, durch die natuͤrlichen 
und gefchichtlichen Unterlagen des Volkes: Lage, Klima, Hauptbeichäftigung u. ſ. w. 
bedingte Form des materiellen Güterlebens eine befondere GeſellſchaftsOrdnung 
und umgefehrt ergeugt und zu erzeugen ftrebt, nicht minder aber, daß jede beftimmte 
Geſellſchafts⸗Ordnung ihren eigenen Staat und jeder Staat feine eigene Gefellfehaftd: 
Ordnung zu bilden tradhtet, daß jede Veränderung der Geſellfchafts⸗Ordnung 
unbedingt eine Beränderung der Rechts- Ordnung nach fi) zieht, und daß jede 
Staatsverfaſſung und Verwaltung ebenfo wie die Rechtsordnung durch die gefells 
ſchaftlichen Berhältriffe und Formen faft auf allen Punkten erſt ihre wirkliche concrete 
Gehalt erhalten. 

Richts kurzſichtiger und feuchtlofer daher auch, als das Beflreben, die Verfaſ⸗ 
fig und Berwaltung eines Staates formen und umformen zu wollen, ofme gleich, 
zeitig das materielle Güterleben und die Gefellfchafts-Orbnung ber individuellen 
Geſellſchaft, welche wir Volk nennen, in das Auge zu faffen und in Angriff zu nehmen. 
Nichts gefährlicher und verhängnißvoller, als die Illuſton, das materielle Güterlebem 
und das Gefellichaftsieben eines Volkes fich felbft überlaffen und doch die Würde 
und Bedeutung bes Staates wie feiner Repräfentanten und Organe feſthalten 
zu fönnen. 

Die Theorie des Inissez faire und laissez aller iſt nichts Anderes, ald bie 
Emancipation des materiellen und forialen Volkslebens aus der Macht ımd Gewalt 
des Staates und, weil das individuelle und nächfte Intereffe, darum auch Die Parole 
ber jedesmal herrſchenden Geſellſchaftsklaſſe, welche ficher ift, dadurch die Staats gewalt 
ſelbſt und ausſchließlich in die Hand zu bekommen. 

Nichts gewiſſer deshalb auch, als daß, wenn und ſo lange die Staaten und 
insbeſondere die Monarchien auf den edelſten und geſegnetſten Theil ihrer Aufgabe 
verzichten, die Vormunder und Pfleger der materiell und foclal abhängigen und bes 
herrichten Klaffen des Bolfes zu fein, in biefen das Beſtreben lebendig bleiben und 
wachfen wird, mit eigener Macht fich felbft zu helfen: ein Streben, das bereits in 
dem Poftulat der „forialen Republif“, jener Staatsform der Verzweiflung der materiell 
und focial abhängigen Volksklaſſen, feinen prägnanten politifchen Ausdrud gefunden. 


⸗ 





u Gate 


Nichte gewiſſer besgleichen, als daß die Ariftofratie und beren gefchichtliche 
Glieder und Elemente, fo lauge fie fich lediglich mit fich felbft und ihren eigenen 
Intereſſen beſchaftigen und die weientlichften Aufgaben des Staates auch ihrerfeits 


nicht mit einem Finger anrüihren, vergeblich danach ringen werden, ihre fantliche 


Berentung zu bewahren und: wieder zu gewinnen oder vie Ariftofratie des abſolu⸗ 
tiſtiſchen Staates, Die Bureaufratie, von ihrem Plabe zu verdrängen. Der 
abfolutiftifche Staat ift ja der Staat, der Feine Rechte mehr anerkennen kann, weil 
Niemand außer feinen eigenen Beamten, der Ariftofratie dieſes Staates, in ihm. mehr 
Pflichten erfüllen. will. Nicht einmal zu einer Partei, höchftens bis zu einer. mehr 
oder minder mächtigen Clique, werden fie ed brirtgen, und es wird ihnen fehließfich 
Wichte. bleiben, als — was bereitd anhebt fich zu entwickeln — fich auch ihrerfeits 
in den: Induſtrialismus zu ſtürzen und fo, wenn auch nicht das wahre Königthum, 
wenn (auch nicht die Stellung und Bedeutung einer Föniglichen Ariftofratie, doch 
wenigftend ihre materielle und fociale Gelbftftämdigkeit zu vetten und dadurch an ben 
ſocialen und politifchen Brärogativen der herrfchenden Geſellſchaftsklaſſe des induſtriellen 
Stanted Theil zu nehmen. 

„Mit: der Revolution bredien”: es ift vies. unzweifelhaft ein fehr loͤbllicher 
Borfap, Hoch geht ed mit und und unferen politifchen Beitrebungen in der Kürze zu 
Ende, wenn wir ber energifchen Praxis der Gegner nichts Anderes entgegenzufeben 
haben, als eine immerhin wohlingende wid wohlgeneinte Theorie, eine Theorie, 
mis der man fich uberbieß im engften Kreiſe bewegt, und die, wenn fie irgendwo 
Fleiſch und Blut gewinnen will, faft nivgend einen größeren Schreden erregt oder 
einen Turzfichtigeren Widerſtand findet, ald in dem Kreife ihrer eigenen lauten Be: 
fenner. Selbſtredend fehlt es hier noch nicht an rühmlichen Ausnahmen, doch das 
Gros der fach Beute felbft fo nennenden Confervativen iſt in der That eine „wenig 
"bewundernewerthe Partei”. Ihr Ideal find — wie es fcheint — die Tugenden 
eines Subaltern » Beamten, und von dem Bruch mit der Revolution ift ihnen wenig 
mehr geblieben, als die Bewunderung und Nachahmung des „großen Mannes”, 
der in Frankreich auf der Baſis der glorreichen Principien von 1789 durch eine 
&ontresRevolution much das contraire de la revolution hergeftellt zu haben memt. 

Richt ohne Beſchämung vernehmen wir die Brage, wer und wo die Männer 


find, welche im Befig der Gewalt mit unferen Brincipien wirflich Ernſt gemacht; 


weiche und wo die, unferen Tendenzen und Verheißungen entfprechenden Inftitutionen 
nd, welche wir feit jenem Bruche mit den Revolutionen ind Leben gerufen?! Bo: 
ligei und abermals Polizei, und was das Bedenflichfte: aus unferer Mitte ift es, 
daß Diefer Ruf eihoben wird, unfere Partei⸗Genoſſen find es, welche deutfche Freiheit 
im franzöfihen Praͤfectenthum zu fuchen beginnen. 

Es if: Wider nur zu begründet, wenn unfere Gegner heute den Vorwurf er⸗ 
heben, daß es faſt allenthalben die herrſchenden Stände geweſen ſind, welche, anſtatt 
das Bolf in der Beſchaͤftigung mit den Problemen der ſocialen und ſtaatlichen Or: 
genifation. zu erziehen, wie auf Parole die Schleufen der Speculation, der Agiotage, 
des perfönlicden Reichwerdens ‚geöffnet, ven fchmusigften. Egoismus, Die Berachtung 
der Arbeit und des redlichen, aber mäßigen Erwerbes förmlich patronifirt und dem 
„ſouverainen Staatsbürger” ald Entfhädigung für den verlorenen „freien. Staat” 
wenigftens geftattet haben, die gefelichaftliche Anarchie auf ihre höchſte Spitze zu 
treiben, ımbefämmert darum, daß der geſellſchaftlichen Anarchie Die volitiſche auf dem 
Fuße folgt. 


[4 


— — 


Vuoleitung. B 

„Die Kriſe, die von Se: Louio Bis nach Stockholm ihre Opfer niedetgemaͤht 

hat, der Bankbruch von Amerika bis zum höchſten ſcandinaviſchen Norden, war Die 

Antwort auf jene Politik der Entnervung und Depravation“ und hat den erlogenen 

Glanz und den erborgten Schimmer der Matadote der Speculation und der Wort⸗ 

führer des modernen Induſtrialismus gerade in. den Metropolen ihrer Racht und 
Herrlichkeit auf lange in den Schmutz getreten. 

Mag diefe Kriſe daher auch in ihren großen Symptomen und in ben oberen 
Kreifen im Verſchwinden begriffen fein, in den inneren Organismus der Geſellſchaft 
und in die Kreife der Steinen wählt fie fich eben jett erft vecht tief, immer tiefer 
ein, aber freilich wird fie dort auch — und beffen freuen wir ung — die unabwede: 
liche Wirkung haben, „dad Syſtem der politifchen Einfchläferung, Die Practik, den 
Menſchen durch fpeculative Derivation zu bemeiftern und ihm die großen Ideen des 
Jahrhunderts durch Goldflauſen und Agiogrillen aus dem Kopfe zu treiben,” dies 
Syſtem in den Banquerott ihrer Erfinder hineinzuziehen und für immer zu Grabe 
zu tragen. Eine umfaflendere Berwegung der Geifter, voiffenfchaftlich, focial und 
politiſch, Hat bereitö wiederum begonnen, eine Bervegung, in der auch wir unfere 
Stelle geſucht und mit dem vorliegenden Werke gefunden zu haben vermeinen. 

Es {nicht allein „vie Fritifche Lage eines großen Nachbarlandes, aus deſſen 
geöffneteer Pandorabüchſe plötzlich einmal entweder der Sturmwind der Revolution 
oder die geharniſchte Geſtalt eines europäiſchen Krieges emporſteigen“ und unſere 
Ruht_ bedrohen kann, was die Menſchen wiederum ſtill und nachvenklich gemacht 
und die Blicke aller wahren Vaterlandsfreunde nach Innen und auf die Feftigkeit 
der heimiſchen Zuſtaͤnde gewandt; es find nicht beſtimmte Details oder providemlielle 
perfönliche Heimfuchungen, welche die gegenwärtige Situation als eine bedeutende, 
inbaltsreiche, zufunftövolle Fennzeichnen; es ift nicht die ſociale und politiſche Apathie 
und Rathlofigfeit allein, was die Schritte dee Staatsmänner hemmt und ihre Ent 
ſchlüſſe laͤhmt: es ift trotz alles augenblidlichen Hier und dert auftauchenden Inbels 
das dunkle inſtinctive, Durch alle Klaſſen der Gefellfchaft gleichmäßig verbreitete 
Gefühl, daß Europa in ein neued Stadium feiner Entwickelung eingetreten ift, daß 
die bloße Negation, Paß- Polizei und Sicherheits⸗, Geſetze“ niemald Geſetze fein 
werden, den Staat und die Gefellfhaft nicht retten können, daß die Zeit dringend 
und gebieterijch ein pofitived Wirken und Schaffen auf ficherer Grundlage und nach 
feiten Zielen erheifcht und die Feftigfeit der Throne und die Dauer der Dynaftien 
ſchließlich doch nicht allein -in der Intelligenz und Disciplin einer zahlreichen Bureau: 
Fratie, noch weniger in den Seitens des Dolchs‘ und des Knallfilbers mit fcharfer 
Concurrenz bedrohten Regiernngsmitteln ded.Weftend, fondern in dem freiwilligen, 
auf Liebe, Treue und Dankbarkeit gegründeten Gehorſam «nicht eines einzelnen 
Etandes, und fei Died auch das zahlreichfte und wohlgefchultefte Heer, fondern allein 
des gejammten Volkes gefucht werden darf und gefunden werden kann. 

Bei diefem Suchen auf allen Gebieten des Lebens hülfreiche Hand zu leiften 
und unferer Seits dem, was die Zufunft bringen mag, wenigftens mit gutem Ge: 
wiſſen entgegen zu gehen, ift das eigentliche und tiefite Motiv, welches uns von 
Neuem auf den Kampfplag. ruft. Gleich fern von eitler Selbftüberfchäbung, welche 
gefunden zu haben meint, bevor fie fuchte, und nicht felten auch vergeblich fucht, wie 
von unwürbiger Furcht, welche anftatt dem Gegner dreift in das Angeficht zu fchauen, 
vor deſſen durch die Dämmerung des politiichen Tages ausgeredtem Schatten 





— 


16 Ginichtung: 


erſchrocken zurücdweicht, legen wir unverzagt Hand an dad MWerf und getröften und 
des Ausſpeuchs des Dichters, „daß der Menfch mit feinen Zweden wächft.‘ 
Politiſche Principien und politiihe Zwede, nicht Rüdfichten auf die Perſo⸗ 
nen; die fich zulegt Doch immer, mehr oder weniger, bewußter oder unbewußter, auch 
anf perfönfiche Motive reduciren: bewußter, pofitiver und thatfräftiger Bruch mit 
der Revolution und deren Urſachen und Principien auf allen Gebieten des Lebens 
und Wiſſens, nicht confervative Stil- und Rede⸗Uebungen mit thatfächlicher Vers 
laͤugnung ber eigenen Grundfäge in jedem einzelnen Falle: Nachweis der Harmonie 
defien, was wir denfen und wollen, nicht allein mit den Lehren und Boftulaten des 
Chriſtenthums, nicht allein mit den materiellen und hifterifchen Vorausſetzungen und 
Bedingungen des preußifchen Staates und feiner weiteren Entwidelung, fondern 
auch mit dem, was in den Grundfägen und Beftrebungen unferer Gegner felbft das 


Mögliche, Richtige und damit‘ Weberzeugende und Gewinnende ift: kritiſche und 


hiſtoriſche Darlegung endlich, daß der von den göttlichen Offenbarungen abgefallene 
menfchliche Verſtand auch in der Gefammtheit des menjchlichen Geſchlechts es zu 
nichts Beſſerem und Höherem zu bringen vermag, ald zu Gedanken, die ſich unter 


einander verklagen oder entfchuldigen, und daß die Aufklärung, die er verheißt, 


Nichts if, als ein Funke von der Kadel deſſen, der fich felbft den „Lucifer“ nennt. 
Birlleicht, daß wir durch folche Arbeit den Bildungen einer ringenden Zeit, 
in der das Alte verloren und das Reue noch nicht gewonnen ift, Helfend entgegen: 
kommen und theilnehmen bürfen an der Beförderung eines wirklichen Fortſchrittes, 
ber gewonnen wird durch die Kraftanftrengung und Sräftevereinigung des ganzen 
Volkes, Feiner abgeſchloſſenen Bartei allein. Denn die Intereffen, denen wir bienen, 
find nicht in 'vorübergehenden Neigungen und Abneigungen befchloffen, fondern fie 
umfaflen dac ganze preußifche, Eönigliche, deutſche, chriſtkehe —Vateriend, und ihm 
zu Liebe werden wir eben fowohl ohne Vorurtheil die Gegner prüfen, als unnach- 
fichtlich Die Freunde beurtheilen, insbefonbere die, welche Die Kämpfe des Tages auf dem 
Ruhebette Fritifisen. Platon amicus, amicior verilas. Dazu helfe Gott der Herr! 


x 





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a ar 1 Zu 
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A. 

ABC, politiſches. Unſer politiſches ABC find die ſocialen und politiſchen 
Vrincipien des Chriſtenthums, die Principien, welche, wie ſie von Anbeginn und 
bei ihrem: Eintritt in die Geſchichte die Geſtalt und die Grundlagen der antiken Welt 
gleich einem vergehrenden Feuer aufgelöft und vermandelt Baben, ſo auch dazu beſtimmt 
find, in ihrer Vollendung und in ihrem Gegenfabe die moderne Welt und bereit end» 
liche Geſtaltung abzufchließen. Be E zu 

Nicht daß wir den Sieg fchlieflih von uns nnd unferen Principien erwarteten, 
nicht daß auch wir den Traum eines fletigen Fortfchrittes und einer allmählichen Boll 
endung der Menfchheit träumten: es ift — wenigftend für diefe Zeit — nun einmal, 
wie ein tiefer katholiſcher Schriftfleller der Neuzeit, Donofo Cortes, fagt, „erwiefen und 
augenfällig, daß bienieden das Boͤſe jederzeit damit endet, fiber das Gute zu flegen, und 
daß der Triumph über das Bäfe Gott perfünlich vorbehalten ift*, ein Zuſtand, ver 
an einer andern Stelle von ihm bezeichnet wird als „der natürliche Triumph bes 
Bdien über dad Gute und der übernatärliche Triumph Gottes über das Böfe 
durch das Mittel einer directen, perfönlihen und fouverainen Xction.* 

Nichts deſto weniger kann auch diefer Touveraine Kortfchritt, eben weil er kein ma⸗ 
giſcher oder mechanifcher ift, fondern mit der menfchlichen Sretheit und Selbftverant- 
wortlichleit Sand in Hand gebt, eined Anknüpfungspunftes in der Gegenwart nicht 
entbehren,, oder, mit andern Worten, jeder Fortſchritt in der Gefchichte wird dadurch 
bedingt, daß zuvor in einem, wenn auch noch fo Fleinen Kreife die geftaltenden Ideen 
der Gegenwart in ihrem vollen Umfange anerkannt und zur Vollendung geführt werben 
und Daß dadurch auch ihr Gegenfak zum Gerichte reif wird. Go war ed, als das 
Chriſtenthum in die Welt trat, fo wird es fein, wenn in der Ehriftenheit das Unkraut 
und der Weizen mit einander reifen. 

Um deswillen find auch die gehaßte und gefürchtete „Reaction auf dem chrift- 
lihen und kirchlichen Gebiete und der gewaltige Widerſtreit, der eingeftanderiermaßen 
gegen das Ehriftenthum fich regt, das Zunichtemerden alles halben Wefens und Heuchel« 
ſcheines und der principielle Kampf göttlicher und menfchlicher Orbnung nichts als 
eben fo viel Symptome, daß die Kraft des Chriſtenthums noch nicht gealtert und daß 
die gewaltigften Fragen, welche diefe Zeit bewegen und deren foriale wie politifche Ruhe 
und Entwidelung entfchieden haben, wenn in ihrer Tiefe erfaßt, fich darauf zurüdführen 
laflen, ob die Orundfäge des Chriſtenthums wiederum praftifch zur Geltung kommen 
folfen oder nicht. 

Gelbſtredend fragen wir Hierbei nicht nach den Dogmen bed Chriftenthums, wir 
haben bier nichts zu thun mit feiner Theologie im engeren Sinne, wir fragen bier 
nur nach feinen Die weltlichen Berhältniffe erfafienden und umbilbenden Principien. 

Dabei fei vorweg der Irrthum abgethan, al8 ob die Bewegungen und Strebungen 
der Begenwart ausfchließlich oder auch nur überwiegend in ben materielfen Interefien 
wurzelten, als 06 Hunger und Thrannei die Quelle der Mevolution. Die Nevolutionen 
find die „Krankheiten der reichen und freien Völker" und haben in jedem Volke ihren 
Schwerpunkt gerade in ber am meiſten begünſtigten Klaffe (in Rußland Adel und 
Armee, in Frankreich liers Etat, in Preußen der Stand der Intelligenz und feine haupt⸗ 
fachlichſte Vertretung in der Bureaufratie); der Kern der Mevoluttonen aber, er Liegt in 
den Gelüften der Menfchen, in den Gelüften, die von Gott gefeßten Ordnungen und 
Schranken. nicht zu achten und zu überfchreiten. Ihr follt fein wie Die Reichen, 
das ift Die Formel der focialen Revolution gegen die beftgenden Klaffen. Ihr follt 
fein wie die PBrivilegirten, das ift die Formel der Revolution des dritten 
Standes gegen die Ariſtokratie. Ihre follt fein wie die Könige, das iſt bie 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 2 


o 





18 AUG, politiſches. 


Formel der Revolution der Ariftofretie gegen das Königthum. Ihr follt fein wie 
Gott, „das ift feit Adam, dem erften, bis auf Proudhon, den letzten Rebellen, die 
Formel aller Revolutionen geweſen.“ - 

Sind aber hiernach Keim und Wurzel der Revolution von geiftigem Stoff, fo 
fönnen fie fich der Wechfelwirkung mit der entfprechenden Urfraft des Chriſtenthums 
nicht entziehen. Es ift unmöglich, im Geifentgum dem Chriſtenthum fich zu entwin- 
den; man kann e6 läftern, aber man Tau ihm nicht mehr entfliehen. Schwerlich daher 
auch, daß ein Poftulat oder Schlachtruf der Feinde eine nachhaltige Wirkung gehabt, 
in denen nicht das geübte Auge alsbald. eine (Caricatur eines chriſlichen Gebantens 
entdeckt. Sp die beraufchende Theorie der Menfchenrechte, fo der langtönende Ruf za 
Freiheit, Gleichheit und Brüberlichkeit; fo bie in ein diaboliſches Shflem.. gebrachte 
Freu des Gonmunidmus, fo die im Imperinlidmud verkörperte Sehnjudht nach 
. Autorität 

Stellen wir diefem bie wahren Prineipien des Chriſtenthums gegenüber, ſo war 
fein er ſter Grundſatz und feine erfie Wirkung die Verinnerlichung des Men- 
fen, die Nüdfehr des Einzelnen aus allen ven halb zufälligen, halb nothgebrungenen 
Beziehungen, in welche die Verhältniffe einer durch und durch zerrütteten Welt ihn ges 
trieben hatten, damit allerdings auf der einen Seite Die Steigerung und das 
Bemußtfein von einem gewifjen perjönlihen Werthe eines jeden 
Individuums. Hineintretend in eine Zeit und in ein Gefchlecht, wo ber perfünliche 
Werth. des Einzelnen auf das Tiefſte herabgedrückt war und eine allgemeine Erfchlaffung 
ſich der Geiſter bemächtigt hatte, brachte e8 der Menfchheit eine Wiedergeburt und Er⸗ 
quidung, die den innerften Kern der Perfönlichkeit ergriff und bei dem Blauben und 
durch ben, Glauben an Gottes Perſoͤnlichkeit auch den Glauben an. die eigene Perſon⸗ 
lichkeit wieder herſtellte. Schon das Judenthum haste eine ähnliche Wirkung gehabt. 
Das Volk, welches ſich als das beſondere Volk Gottes ſelbſt erkannt hatte, das die 
— in ſich trug, den Einen und allein wahren Gott anzubeten, während alle 
anberen Völker nur den Goͤtzen dienten, mußte nothwendiger Weife in feinem Selbfl- 
gefühl fo weit über alle übrigen Völker erhoben werben, als fein Gott bie Götter Der 
übrigen Völker überragte. Und wenn bie Gefchicdhte des jüdiſchen Volkes und Das 
wunderbare Schaufpiel vorführt, wie unmöglich ed geweſen ik, dies Volk aufzulöfen 
und feine nationale Perfönlichkeit zu ertödten, fo gewaltige Verſuche auch immer Dazu 
gemacht worden ſind; wenn es aus allen Wogen und Stürmen, die über daſſelbe hin⸗ 
weggingen, immer wieder aufgetaucht ift und eine unverwüftliche Dauer. bewiefen hat, 
fo liegt der Grund allein in dem zähen Sefthalten an feinem Gottesbegriffe, der dem 
ganzen Molke. wie der PBerfönlichkeit der Einzelnen jene nicht zu laͤugnende Energie, und 
jenen unvertilgbaren Charakter mitgetheilt hat. Denn zwiſchen dem Bewußtſein. welches 
ein Volk oder ein Menſch von ſeinem Gotte hat, und ſeinem eigenen Bewußtſein beſteht 
eine unmittelbaxe Wechſeibeziehung, oder vielmehr das Bewußtfein und die Kraft eines 
Volkes oder eined Menfchen wird unmittelbar bedingt durch fein Gotteöbemußtfein, . 

Höher und tiefer Daher auch noch das perjönliche Bewußtſein Des Chriſten. Die 
menfchlichen Unterſchiede der Höhe und Tiefe verſchwanden ganz vor Der. einen gemein⸗ 
ſamen Beziehung zu dem Höhenpuntte Chriſtus. Kine. bis dahin im ber Manſchtzeu 
unerhoͤrte Gleichheit und Brüderlichkeit Aller war dadurch hergeſtellt. 

Mas aber hat die Gegenwart aus dieſer koͤſtlichen Frucht gemacht? Deu wah- 
ten Hoͤhenpunkt bat fle verloren ober verläugnet und kaun beshalb nicht — 
nicht raſten, bis fie — und dies iſt das Geheimniß der Popularität des nivellirenden 
Despotismus — ein neues widerchriſtliches Centrum und einen neuen Alles über 
waͤltigenden antichriftlichen Hoͤhenpunkt ‚aufgerichtet, an dem ſie ihre von Gott abgelöfle 
Gleichheit und Brüderlichkeit anknüpfen und von dem aus fie diefelbe weiter entwickeln 
Tann, um über ihren vermeintlichen Menfchenrechten bie Chriſtenpflichten zu vergeſſen um 


M verl 
en wir weiter, wie auch im Einzelnen dad nene Bewußtſein, das mit Dem 
iſtenthum in. Die Welt getreten war, als ein ſtilles, aber mächtiges Teuer ‚alle Ver⸗ 
ältuiffe, welche den Gharakier der alten. Welt ausmachten, durchdrang und- verwandelte⸗ 
gahgtte ber antike Staat feine ſociale und politiſche Eigelb in einer x Dei 








| BE, yoltifgen. u 


und Tramb gewordener Verhaliniſſe: in der beſondern Stellung des Mannes 
zum Weibe, des Freien gu dem Sclaven — und Dies find bie. gefelligen 
und geſellſchaftlichen Beftimmtheiten antiker Staatsbildung; — ferker in feinen 
ctentralen Anfgaben, nämlich ber Stellung Des einzelnen Bürgers im Staate 
und sum Staate, und: zweitens Bed Bolfes zu den übrigen Völkern. 
Nach beiden Beziehungen wirkte das: Ehriftenthum zwar zuerſt nur durch feine geiftigen 
Aufhauungen, aber nah und nach als eine unwiderſtehliche, umbildende Macht: Die 
Samilien-Osdnung, bie Verfaſſung und foctale Gliederung des Staaten, die Beziehungen 
ver Böller zu einander verklärten ſich; ſtatt des antiken Staated erhob fich der chriſt⸗ 
liche Staat, eine’newe Welt, die Schipfung des Chriſtenthums. 

Die Familie, das erſte Wollen Gottes bei der Entwidelung ber Menfchheit; 
allet politiſchen und jochalen Bildung erſtes und hauptſachlichſtes Clement, wurbe 
von dem Geifle des Chriſteathums zumächft und auf das Tieffte ergriffen. Das Weib 
wer bis dahin dee Gewalt des Mannes obme ein. eignes Recht untergeben gewefen. 
Keine Geſetze erhoben fich zu ihrem Schutze, der Hann war unbebingter Herr über fie, 
feinem Weohlwollen :oder feinem Uebelwollen war das Weib machtlos unterworfen. 
Wie unglücklich in Folge deflen das Loos des Frauen war, außer dem Bereiche des“ 
Chriſtenthums bis auf dieſen Augenblick iſt ‚and ohne Chriſtenthum wieder werben 
wird, bedarf. feiner: Ausfährung: Niemals im Heidenthum wurde ihnen und wird ihnen 
der wolle Renfchenwerth zugeſprochen. Ob bie Seelen der Frauen auch unfterblich 
feien, ebenfo wie die der Männer, ift bekanntlich eine nicht .nur im Heidenthum, ſon⸗ 
dern nu: bei Muhamedanern and Juden oft aufgemerfene und vielbezmweifelte Frage 
geweſen. — Seine Winde erhielt das Weib durch das Chriſtenthum, welches Ichrte, Die 
Ehe anzufeben als ein hoch über Die Erbe erhabenes Geheimniß. Das Weib ſelbſt ward 
fortan dem Mann zum heiligen Symbol. Und dem entipraih, daB uud einem Frauen⸗ 
ſchooße der Heiland aller Welt geboren, daß ein Weib ald Die Gebenedeiete des gan⸗ 
zen Menſchengeſchlechtes auderkoxen, vor den: Belle als eine „Butter der Erldfung“ 
mit halbgättliher Ehre ausgeflattet ward! Wer. kann den Einfluß folch eines Ereig⸗ 
niffes ermeſſen! Wie trat et das Weib in ver chriftlihen Geſchichte je mehr und 
mehr im den Vordergrund! Selbſt die Ausartung der Verehrung der Weiblichkeit in 
der Zeit des Nittertgums, felbft Die jegige vielfach übertriebene und unnatürlicdje ge= 
ſellſchaftliche Stellung ber Frauen, felbft die kirchliche Berirrung, durch welche ber 
Butter die Ehre gegeben wird, die allein dem Sohne gebührt, find Zeugniſſe von der 
mächtigen Wirkung, welche. die Thatſachen des Chriſtenthums auf Die Umgeſtaltung ber 
Stellung des Weibes ausühten. 

Ratürlich, daß mit Der Stellung der Mutter auch bie Stellung ber Kinder zu 
deu Eltern und namenilich dem Vater ſich entfprechenn aͤnderte, daß die „wahre Frei⸗ 
heit eines Chriftenmenfchen" ſchon im dem aufbluͤhenden Sproß anerkannt und die 
heidniſche Gewalt des felbſt zur Töbtung berechtigten Vaters ſogleich durch jene verklu⸗ 
rende Segnung beſeitigt wurde, welche die chriſtliche Taufe auch auf das Haupt Des 
lezten Krivvels legt. 

Ein Verhy aͤltniß, welches der alten Welt ihren eigenthümlichen 
Charakter gab, war: dad der Herren oder Freien zu Den Sclaven. Die Selas 
verei raubte im Altertum einen Theile der Menfchheit, und zwar dem zahlreichſten 
derſelbon, den Werth perfdnlicher Weſen und brirdkte fie zu der Bedeutung einer bloßen 
Suche herab. Sclav mar ein Mentrum im Altertum. Die Sclaven waren das Eigen 
tham deſſen, der fie. beſaß, er Eonnte mit ifmen fchalten und über fle verfügen, fo wie 
über irgend Anm anderen beweglichen oder unbeweglichen Theil feiner Habe. Und daß 
e8 anders fein koͤnnte oder fein follte, Daß ein Stant ober die menfchliche Geſellſchaft 
überhaupt des Selaven entbehten Tönnte, Iag felbR den Philoſophen, welche das Ideal 
einer Staats⸗Verfafſung aufpiflelleh verfuchten, einem Blato und Ariftoteles, völlig 
fern. GSie fahen ic Schaverei ald ein gegebenes und nicht zu umgehendes Berhältnip 
ar; He behielten fein ihrem idealen Staate be. . Bon seiner Behauptung „allgemeiner 

Menſchenrechte“, wonach die Sclaven eben ſo gut. zur Freißeit und zum Mitgenuß aller 

| Bee! des Stuates berufen waren, wie ihre Herren, findet ſich im ganzen Alterthum 
Ads Spur: Wir Hören wohl von' Schaven- Auffländen, von Empbsungen, aber fle 
2. 


29 NBE, politiſches 


waren nicht besvorgegangen aus dem entflammten Zorm über ihre unssrbrädten es« 
fohenrechte, fondern es waren eben Sclaven, Die ihr Joch zerbrachen und die, wenw: fle 
zu ihrem Ziele gefommen wären, nicht Die Freiheit Aller wieder hergeſtellt, ſondern —— 
wie ſich dies bei allen ähnlichen Bewegungen ber mobernen Selaven und Heiden‘ wie« 
derbolt — einfach dad Loos ihrer Herren in ihr eigenes und ihr eigenes in das ihrer 
Herten verwandelt Hätten. Dad war Die Ordnung ber alten Belt, das wird ſtets die 
Dehnung der natürlihen Welt fein. 

. Wie anders warb auch dies Alles durch das Chriſtenthum. Zwar vrebizten 
die Apoſtel und ihre Jünger feine Sclavens Emancipation, aber ſie wandten ſich an 
die Gewiflen der Hersen wie ber Sclaven, und das war genug. Es führte dies zu⸗ 
nächft dahin, daß innerlich die Stellung der Herren zu den Sclaven und umgekehrt 
eine ganz andere wurbe, daß von ber einen Seite die Willkimn, die Unbarmherzigkeit, 
die Nichtachtung und. auf der anderen Seite die Erbitterung, der Ungehorfam, Ber 
Troß ſich verlor, indem Beide, Herren und Sclaven, ver einem höheren, geifligen, 
ewigen Verhältnifie ſich als Eins und gleich bereihtigt, als Brüder anzufehen Hatten. 
Auch Die Sclaven fingen an als Perfonen geachtet zu werden, unb chriſtliche Herren 
fanden es mit ihrem Gewiſſen unwertraͤglich, dad alte Vethaͤltniß feſtzuhalten. So 
geſchah es im Einzelnen, jo demnaächſt im Ganzen und Großen, die Sclaverei im Sinne 
der alten Welt hörte auf nnd andere DVerhältniffe der Unterordnung und Abhängigkeit 
traten an deren Stelle. Nicht anders geſchah es mit der Stellung ber einzelnen Bürger 
unter fi und zum Gtaate. 

Kein Schwert war gezogen, keine Pflugfchar zerbrochen worben, und doch hatte, 
fo ſchnell wie ein Wind über die Erde weht, eine neue Ordnung der Dinge bei allen 
Einzelnen, die dem Kreuze demüthig fich unterwarfen, Eingang gefunden und über 
hoben. und imponirenden Ruinen antiker Lebensweisheit ſich aufgebaut. Diefe nen? 
Lebensregel, welche die alte „Tamilia“ bi! auf den Namen unverflänplich machte — 
im Altertbum verftand man unter diefem Worte eigentlich nichts als den Sclaven⸗ 
ſtall —, mußte auch auf die größeren Kreiſe einwirken, in welchen die immer zahl⸗ 
reicher. und darum wenn auch gegen ihren Willen mächtiger werdenden Chriften wohnten. 
Der antife Staat mußte, Angefichtd der neuen Sonne, zerichmelsen. Hafch geftalteten 
ſich in ihm neue Staaten; jede cheiftlicde Familie eine Ufurpation gegenüber dieſem 
antifen Staate, und jedes chriftliche Bekenntniß ein zesflörender Bligfchlag gegen feinen 
Hebelpuntt, den nationalen und politifchen Gott. 

Der antike Staat war hervorgegangen — natürlich nicht, ohne Daß ein Anhalt 
an einen Reſt uralter göttlicher Offenbarung in und an der Menfchheit wäre vorhan⸗ 
den und erkannt gewefen — aud einem tiefen DVerfalle der Berfönlichkeiten. Sei es 
auf dem Wege eines wirklichen contrat social, fei es auf bem ber Vergewaltigung, 
gleichgültig für alle Folge, jedenfalls entſchloſſen fich gleichmäßig in Aeghpten wie an 
den Ufern des Liber und an ven Geſtaden des Curotas die Menfchen, die eben 
no im Haß einer Kriegsfeindfchaft, wie fle die Folge der erſten Sünde war, Alle 
gegen einander, jeder Einzelne gegen jeden Andern geſtanden hatten, 
der Einzelne nicht mehr für ſich zu fein; einem „Semeinwefen”, an dem jeder Ein- 
zeine nur in foweit einen Autheil hatte, als er ſich von allen Sonberinterefien frei zu 
halten wußte, fügte fi das ganze plöglich zur Erfcheinung gekommene Volk; alle 
Willkür aller Einzelnen warb in die eine unſichtbare Hand des neu erfchaffenen 
Weſens gelegt uud nach einer langen Meihe notbwendig merbender Eliminationen, in 
denen viele Gegenſaͤhe zwifchen dem erſten beften Diefem und Ienem umtergingen, 
Necht genannt, und fo fam es ſchließlich, daß über einem Gefchlechte, das fcheinber 
und formell das freiefte biefer Erde war, das fogar feine Götter nach feinem Belichen 
und feinen Temperamenten erfchuf, das feine Lieblingöfünden im wirflicden Siune bes 
Wortes in den Himmel erhob und verfeßte, sin geheimnißvoller Druck laſtete, wie ihn 
eine hriftliche Zeit Angeſichts der Zeugniffe des Altertbums wohl ahnen, aber nicht 
mehr würdigen und wägen kann. Kein Mann hatte ein Hecht, alles Recht 
hatte der Staat; diefer machte ben Mann heut zum Gonful, morgen flürzte er ihn 
ungebört in bie Schlucht unterhalb des tarpefifchen Felſens, und felbft in ven feltenen 
Fallen, wo. es innerhalb biefed Staates zum Kampf um Mechte kam, da. galt es nicht, 





AUG, politiſthet. | a 


für irgend welche Perſonlichkeit oder für. irgend welche fimbifche Reihe von PBerfön- 
lichbeiten ein echt feſtzuſtellen, ſondern darum, ein anderes Bolt beraufzuführen, ein 
nenes Gtaatörecht zu begründen, dem dann auch natürlich, wie dies der Kampf in 
Rom zeigt, eine andere Verwaltung und eine andere Gemeinde» und Agrarverfaflung 
entſpricht. 

Als wlenloſes Rad in der Mafchine, erfüllt aber von einer faft brutalen An⸗ 
dacht gegen dieſe Mafchine, ging der größefte der Griechen und der größefle der Romer 

feine ſtaatliche Laufbahn. Eben noch Herr des Senated ober der Agora, eben 
noch an der Spige der Legionen, verwandelt er ſich nach Ablauf feiner u meageit mit 
einer Haft, die mit dem heutigen Patriotismus gar nichts gemein bat, in einen kohl⸗ 
hauenden oder im Eril hungernden Privatmann. Und ald dann dieſe Epoche des 
„Breiftaates der Unfreien“ ihre Blüthe vollendet Hat, was if da der Ref? Die 
Edfaren und die Neronen. 

Die von Keinem und von fich felbft nicht verftandene Menfchennatur baͤumt fich 
endlich in Der Trunfenheit .eines wild gewordenen Roſſes empor und vollendet aus 
alten niewrigften Anlagen der phyſiſchen und pfychiichen Creatur ein fcheußliches Zerr⸗ 
gebild, das Gegenſtück des Schoͤpfungswerkes, welches zugleich die Berneinung aller 
Entwidelung menfchlicher Kraft und Beftimmung in ſich trägt. Die entſetzlichſte Faäul⸗ 
niß aller moralifchen Verhaͤltniſſe iR die Antwort ‘auf bie freche Frage, ob ed denn 
noch ein Schickfal und einen Logifchen Verlauf der Dinge, ein Zufammenhärngen von 
Urfache und Wirkung, eine innere Schwerkraft und Gefeglichkeit der Welt, einen Willen 
in umb über der Welt und über die Welt gäbe? 

Und in diefe Faͤulniß trat der Chriſt, für ſich als Einzelner durch feinen Glau- 
ben wie. durch Wall und Graben gefchügt, mit ber Geftalt der erften Gründe -und 
Unterlagen einer gefunden und überhaupt möglichen Geſellſchaft durch feine Familie 
und ihren muftergültigen und auch für weitere Kreife nachahmungswertben Bau befannt 
gemadt. Welch eine Macht konnte ihm gegenüber noch der antike Staat entfalten? 
Wie lange konnte er Ehriften gegenüber noch ‚beftehen, auch wen.. fle Feine Hand gegen ihn 
erhoben? Nicht Odoaker und Alarich haben Das antike Nom geftürzt, ſondern bie ftillen 
und friedlichen Eolonen, die nicht3 Tannten ale den Weg von der Baſilika zum Ader 
und vom Pflug zur Baſilika. 

Da Staat konnte dem Ebriften nicht mehr das Höchfle und nicht mehr der 

Werthmeſſer und Werthbeftimmer der perſoͤnlichen Würde eines jeden Einzelnen fein; 
der Slanz der Caͤſarenkrone erblich neben dem Dornentranze, dad Forum warb leer, 
während die Katakomben fich füllten, eine wunderbare Lehre war aufgefommen, ber zu» 
folge e8 eine Tugend war, Unrecht zu leiden. Ja es war das hoͤchſte Hecht ber 
neuen chriſtlichen Republik, dies Unrechtleiden. Was wollten, was fonnten da noch 
Die alten Rechtskategorien Roms und des Areopagus? 
Unabhaͤngig vom Staate, ganz ungekannt vom Staate, hob und erniedrigte ſich 
fortan der einzelne Menſch und nahm er in Folge deſſen feine Stellung in einer immer 
mehr veränderten GSefellichaft ein. Es war zu Ende mit diefem alten Staate, und bie 
Frage, deren Eriftenz das alte Byzanz fo Angftlih und ſelbſtſachtig laͤugnete, war nur 
die, ob weiterhin wirklich ein Staat möglich ſei? 

Was endlich Drittens der alten Welt ihren beſonderen Charakter verlich, war 
Das BVerhaͤltniß, welches damald die Völker zu einander einnahmen. ‚Ueberalf 
harte Scheibungen, jedes Volk abgefchlofien für fi. Bon der einen Seite wurde 
Diefe Scheidung befeftigt durch die Religion. Das Judenthum ftand fehroff und un» 
verföhnlih dem Heldenthum gegenüber, der Haß war gegenfeitig töbtlih. Auf ber 
anderen Seite richtete die „Bildung” — das Wort in einem urfprünglichen Sinne 
genommen — ihre Schranken auf, die Griechen verachteten die „Barbaren”, felbft 
wenn dieſe nach ihrer Art noch fo gelehrt waren, und wo Fein anderer Unterfhieb 
übrig blieb, da blieb Doch ber Unterſchied der Nationalität, an fi ſchon genügend, 
baf Die Völker der’ alten Welt fih wie harte Steine an einander fließen und fich gegen 
fektig zermaluten. Kein Band umfchlang die Menfchheit; wer einem anderen Volke 
angehörte, war ein Zeind, fo lange er nicht als Gaſt aufgenommen war. Allerdings 
tauchte Die Idee einer Art von Velchurgeiham auf, als durch die römifche Herrſchaft 








22 | ABC, politipe⸗ 


alle Nationalitäten. weit amcher zerfchlagen waren. Ein Säuglicher Trof: Die RMenſch⸗ 
heit fand erſt ihr Einigungöband, Als Fe ihren gemeinfamen: Herem ‚gefunden hatte. 
Die. Vülfer fingen.an, mit anderen Gefühlen ſich gu beivadıten, die alten: —— 
ſchwanden in dee neuen, großen, wunderbaren. Einhett. Und als das roͤmiſche Wel 
reich zuſammenbrach und neue Nationen aus ihrem traͤumeriſchen Daſein von den 
Strahlen des Chriſtenthums erweckt und unter dem Ginfluffe deſſelben ergogelt in bie 
Gaſchichte eintraten, da konnte auch in ihren Beziehungen zu einauber nicht mehr Ber 
Zuſtand der alten Welt ſich erneuen, es beſtand für fie als chriſtliche Volker ein Band; 
das der alten Welt fehlte, das fie ald Angehörige einer Zamtlie umfehlang. . 2 
Es darf nicht überrafchen, daß die Neuzeit diefe Aufgaben des Erriſtenthums 
auf ihre, Weile zu verwirklichen ſucht. Man will die Wirkung ohne Die Urſache, man 
will die Frucht ohne den Baum, man will die Schale ohne den Kern. Zerflörung 
der Familie, Unbotmäßigkfeit der Kinder, Emancipation des Weibes, Beſeitigung jeder 
Untereehnung und Abhängigkeit, abſolutes Aufjichfelbfigeftelltfein 28 Indwiduums, 
unbedingte Reichaunmittelbarkeit und Selbftserantwortlichkeit der Perſon, vaterlandBlofer 
Kodmopolitismus und ewiger DVölferfrievde: wer erfennte nicht. leicht in Wem die 
Caricatur, wer fähe nicht darin die Rückkehr zu Zuftänden, ſchlimmer als das‘ Helden 
thum, weil mit dem Fluche der Rüge belaftet! 

Wie aber hat die Menfchheit dahin gelangen fönnen, die Segnungen des Ehriſten 
thums in ihr Gegentheil zu verkehren und aus ben Hoffnungsreichen Buftänden . chrifle 
licher Freiheit in die Sclaverei des ahgefallenen Despotismus zurinkzufchten? Haupt« 
fächlich um deswillen, weil man es unterlaffen, dem gefteigerten yerfänlichen Werth 
und dem erhöhten Bewußtſein Des einzelnen Menfchen ein zweites Princip als Cor⸗ 
rectiv zur Seite zu fielen, das Princip der Organifation oder Befaffung 
der Menſchheit unter den ſichtbaren Ordnungen des unſichtbaren 
Gottes. 

Mit dem Himmel der alten Goiter ſchwand auch die alte Erde mit ihren: — 2 
dahin beſtehenden Geſetzen und Ordnungen, geſellſchaftlichen Einrichtungen und Sitten. 
Allein das gefleigerte Selbflbemußtfein war, wenn ‚auch genügend, bie alte Welt auf 
zulöfen, nur dann außreichenn, eine neue zu. bauen, wenn eine gmeite ihm inwohnende 
Idee, die von der Sündigfeit und tiefen Hülfsbebürftigkeit jedes einzelnen Individuums, 
erfannt ‚und beachtet wurde. Sonſt lag die Gefahr nahe, daß bie Erhöhung DeB indi⸗ 
vinuellen Werthed „und Bewußtſeins in Gefegloftgkeit umfchlage,. in eine MWerachtung 
jeder Ordnung, die ohne Unterordnung und. Gehorſam ja nicht heflchen kann. Die 
gleiche Beziehung auf den einen gemelufamen Mittelpunkt, vie Wahrheit, daß vor Gott 
fein Unterſchied der Perfon, Hätte dazu führen fünnen — und bat auch leider nur zu 
oft Dazu geführt — Alles in eine atomiſtiſche Gleichartigkeit aufzulöfen,.. were wicht 
der erften Wahrheit die andere zur Seite getreten wäre, daß von dem unſichtbaren Gott 
Pr „gnanig, helfender Hank für Die Gefallenen, die in Die neue Entwidslung traten, 

tbare Den auf Erben gefebt feien, dazu beſtinmnt, nicht Die Freiheit und Selbſt⸗ 
le der Einzelnen zu beeinträchtigen, nicht Die Reichsunmittelbarkeit und Sekt 
verantwortlichfeit in ihrer hoͤchſten Spike aufzuheben, fonbern lediglich das Verhaͤltniß 
zu dem unſichtbaren Haupte aus dem Nebel ſpiritualiſtiſcher Gefichle auf Das coucrete, 
handgreifliche Gehiet realer menſchlicher Verhaͤltniſſe zu verſetzen und in der Ergreifung 
des ganzen Menſchen nicht allein die Lauterkeit feiner Stellung zu prüfen, ſondern and. 
Jeden je nach feiner Eigenthümlichkeit zur: Vollendung zu bringen, bei aller Gleichheit 
eine wunderbare orgmifche Gemeinfchaft, bie: nur in dem Geflige des menſchaichen Ki 
bes ihr entfprechended Abbild fand, 

‚ €8 ift bekannt, welche Streitfeagen von Anbeginn und auch heute auf viefem ‚Gr 
biete die Kirche bewegen; was aber ſchwerlich fihon genügend erivogen worden; dad if 
die tiefgreifende Bedeutung dieſer Streitfragen auch für das ſociale und politiſche Se⸗ 
biet, ber Zufanmtenhang der Frage, ob nur. die „Idee des Staates“, over dor Allem 
und recht eigentlich deſſen concrete Gliederung und Geſtalt, ob nur die Principien und 
Geſetze der Geſellſchaft, oder zunaͤchft und als Probe Deren actuelle Unterſchiede und 
Organe durch die Majeſtat des unſichtharen Hauptes geſchügt und getragen werben. 
dem Widerſtreite dieſer beiden Gegenſaͤze verläuft inobeſondere die. Geſchichte der 





— — ggg | — 


1 polichhacun * 


romiſchen And: proteſtautiſchen Kochen und der durch ſie gebilbeten and beeinflißten‘ 


Staaten, bier mit dem Uebergewicht der Auflöfung dem kirchlichen, dort auf dem 
ſtaatlichen Geblet. Doch aber iſt die ſtaatliche Auflöſung auf. van Gebiete ver roͤmi⸗ 
ſchen Kirche ihrer ſcheinbaren kirchlichen Feſtigkeit ungeachtet tiefgreffender und unheil⸗ 
barer, weil ihr nirgend, wie In den proteſtantiſchen Kirchen, das Bewußtſein der Selbſt⸗ 
verantwortlichkeit des Individuums als Correctiv gegenübertritt. Be 
Inden hätte — wie Died bie Geſchichte wiederholt an die Hand gegeben — auch'“ 
diefer zweite Grundſatz allein nicht ausgereicht, Den alten Zuſtand ohne Gewalt und 
Unordnung in einen neuen binüberzufügten. Es mußte noch ein Drittes, das eigent⸗ 
lich Gonfervative, -Welterhaltende, vazu fommen, und das iR der Grundfak der 
Erhaltung der Ordnungen dieſer Welt in der Erwartung einer 
zu künftigen. Erſt hierdurch wurde und wird der Chriſt aus dem Nebeln und: 
Schwebeln idealer Gedanken und Pläne auf den Boben des conereten, poſitiven, menſch⸗ 
lichen Rechts und auf deffen Entwidelung in der Gontinnität des Rechts geftellt. 
Allerdings konnten das Chriſtenthum und die Kirche nichts enthalten, was nicht der 
Melt zum Vorbild dienen follte, alferdings mußten Autorität und Selbſtverantwort⸗ 


.licgkeit, Gehorfam und Freiheit, Unterordnung und Gleichheit, Obrigkeit und Brüder⸗ 


lichkeit, wie fie in der Kirche zur Grfcheinung kamen, das Ideal und ber BPrüfiläin 
auch fer die Welt werden und bleiben. Doc aber bildeten Pie Ordnungen, die in 
und mit ber „Kirche gefegt wurden, eigentlich fein fociales und politifches Element. 
Sie galten wur für die Kirche und nicht für die Welt. 

Ebenfo fehlte dem Chriftentbum, welches nicht, wie dad mofaifihe Geſetz, für ein 
einzelnes indivinuelles Volk, fondern dazu beflimmt war, die gefammte Renſchheit zu 
einem Dolfe Botted zu erziehen und zu verbinden, jened pofltive, -concrete Geſetz, 
welches dem jüdifchen Volke ald feine Richtſchnur überantwortet war. 

Nicht minder war die Hoffnung der erſten Ehrifien gar nicht darauf gerichtet, 
Daß das Chriſtenthum noch in dieſer Welt einen langen geſchichtlichen Verlauf Haben 
werde, vielmehr hofften diejelben mit Zuverficht auf die baldige Erfcheinung des Kb» 
nigreichs ver zukünftigen Welt. So fehr ſie ſich aber dadurch auch von dieſer Welt 
gelöjet. und eines Höheren Bürgerthumd tbeilbaftig fühlten, jo klar und Deutlich 
die Unvollkommenheit und Verderbtheit bir Welt und bern Orbnungen vor ihren 
Augen lag, fo fühlten fie. ſich dennech in ihrem Gewiſſen verbunden, auch nicht im 
Aeinſten zum Umſturz dieſer Orbnungen die Band zu bieten, fondern im Gegentheil 
ihr Beſtehen auf. alle Weiſe zu erhalten und zu befefligen. Sie erkannten auch in ber 
verberbten Welt die heiligen Ordnungen Gottes, durch welche diefelbe zuſammen⸗ 
gehalten wurde. Und wie haben. fie dies ‚ausgeführt? Nicht durch Weltſcheu ober Welt⸗ 
werachtung, nicht durch Widerſtreben ober Empdrung, nicht in phantaſtiſchen oder fana⸗ 
tiſchen Beftrebungen, die Geſetzlichkeit des Judenthums umd.doffen Inftitationen in ber 
Chriſtenheit zu reprodueiren, nicht im fruchtlofen Verfuchen, gewiſſe chriftliche Ideale 
ohne Nüdfcht auf Das yofitive cunerete Recht und auf bew-vellgidfen und fittlichen 
Bildungsſtand des beſtimmten Vollo⸗Individuums zu realiſtren, nicht dadurch, daß fle 
die Ordnungen der Kirche in das. Fleiſch zogen und die kirchlichen Autoritäten 


"zu: weltlichen. Herren machten. Sie predigten ven Unterthanen Gehorſam zegen die 


Obrigkeit, den Sclaven Gehorfam gegen ihre Herren, den Kindern - Sehorfam 
gegen: ihre. Eltern, den Weibern Gehorfan ‚gegen ihre Männer, und nicht bloß gegen 
die, von welchen file Gutes empfingen und die dieſen Gehorſam ihnen leicht machten, 
ſondern auch gegen die Unbifligen, Grauſamen, Bavaltthätigen; ſie lehrten Gottes Ord⸗ 


nimg: anzibrkennen, auch we Menſchen ſie verzerrten und den Segen berfelben im bad 


Gegentheiliizu verwandeln⸗ſuchten. Und wenn der Apoſtel Jacobus einen. jüdiſchen 
Bruder aus dem Arbeiterſtunde über Dad, was ſie zu dulden haben, zu tröften ha 
fo beſchoͤnigt ev zwar ‚mit nichten bie Simbe ihrer Unterdrlicher, vielmehr ſo ſchmarzli 

ergießt ſich feine Klage und fo: drohend erhebt fich fein Wort, daß man fragen könnte, 
08: Staͤrkeres in unferen Tagen von. benen, die ſich zu Vertretern der Armen und Un⸗ 
terdrückten aufgeworfen haben, gefagt werben fd. Was aber ik: man bie. Ermahnung, 
die er daran fchließt, wad der Troft, mit dem er Die fo Groß als. Klein aufzurichten 


ſucht? Bern liegt ihm jeder Gedanke von Empdrung, von Selbſthülſe, fondern das 1; 


4 Hader, Bepirungeiaiet. 


Der Troſt, den er ihnen bietet: „Sp fein nun gebulbig, lieben Bruder, bis auf die 
Zukunft des Herrn.“ Gac. 5, 1—7.) 

Vor Allem und in ber Hauptfache alſo Stärfusg, Aufrechtbaltung und Neu⸗ 
hegrünbung der von Gott ſtammenden Grund - Einrichtungen und Verhaͤltniſſe, welche 
von jeher darauf abgefehen waren, daß die menfchliche Gefellfchaft eine genrbnete und 
geflttete wäre, Anerkennung und &efthaltung der Obrigkeit, des Unterſchiedes der Stände, 
der Ehe und aller Berhältniffe ver Familie, voller, unbedingter Gehorjam, freilich mit 
der Maßgabe, daß man lieber den Tod erleidet, ald dem Goͤtzen des Imperatorenthums 
Weihrauch fireut. Fürchtet Gott, ehret den König! 

. Wir bleiben in ihren Wegen, indem wir ihrem Beijpiele folgen. 

‚Aachen, xheinpreußifcher Regierungsbezirk. Er umfaßt auf einem Flaͤchen⸗ 
raum von 75,55 geographiſchen Quadratmeilen, welche nach der Zählung von 1855 
von 436,352 (im Jahre 1849 yon 411,525) Einwohnern bewohnt waren, von ben 
Gebieten der vor -Auflöfung des deutſchen Reichs beftehenden Staaten und von ben 
Beflgungen ehedem regierender Fürſten, Grafen und Herren folgende: , 

1) Von dem Kurfürftentfum Trier (von dem Dberftifte veffelben die Hälfte bes 

Amtes Hilfesheim und Den größeren Theil des Amted Schönberg). 

2) Bon dem Kurfürftentfum Köln (von dem Oberftifte deflelben den größeren Theil 
des Amtes Hardt und einige Ortfchaften des Amtes Zülpich mit. der Unterherr- 
ſſchaft Mübersheim), . | 
3) Von dem Herzogthum Jülich (von dem Unterquartier die Aemter Eoßlar und Bar- 
men, Aldenhofen, Boßlar, Geilenkirchen, Millen, Nanderadt, Heinsberg, Waſſen⸗ 
berg, zur Wehe, Efchweiler, Wilhelmftein, Stadt und Herrlichkeit Erkelenz, Den 
. Dingſtuhl Pier und Merken und die Bogtei Schönforft und Theile der Aemter 
| Jülich, Sittard, Born und Dahlen, von dem Oberquartier die Aemter Wehrmei- 
flerei, Montjoie, Heimbach, Haufen und Theile der Aemter Caſter, Nörvenich, 

Nideggen und Münftereiffel). - 
„4 Bon den öflerreichifchen Niederlanden: 

A. Bon dem Herzogthum Ruremburg. (Die Herrfchaften Neuland, Vütgenbach 

und St. Vith [legtere mit Ausnahme einiger Drtfchaften, welche nach dem 
Grenz Bertrage vom 26. Juni 1816 dem Könige der Niederlande überlaffen 
wurden], die unter Luxemburgiſcher Landeshoheit dem Herzoge von Aremberg 
gehörige Herrſchaft Schleinen mit Mürringen und den größeren Theil der dem 
Grafen von Manderfcheid« Blankenheim, fpäter dem Grafen v. Sternberg 
gehörigen Herrfchaft -Gronenburg). 

B. Bon dem Herzogthum Limburg (von dem eigentlichen Herzogthum die Hoch⸗ 

bank Walhorn und einige Ortfchaften der Hochbanken Bälm mit der Stabt 
Eupen und Mongen, von dem fpäter mit bemfelben vereinigten Länbchen 
Serzogenrath den auf dem zechten Ufer des Wurmfluffes liegenden Theil defiel- 
ben, mit Einfluß der Stadt Herzogenrath, eines Theild von bem Dorfe 
Sperpenfeel und dem Hofe Valkerhofſtadt, und die entfernt von bemfelben 
liegenden Enclaven Welz und Roerdorf). 
cd en Herzogthum Geldern. (ben Hfllih des Stadt Roermonde liegen« 
en The), 
5) von on Reichsabtei Stavelot und Malmedy (die Abtei Ralmedy mit ihrem 
ebiete). . ' 
6) Bon den Beflgungen der Serzoge von Aremberg (den weftlichen Theil des Fiu⸗ 
ſtenthums Aremberg, die Serrfchaft Harzbeim, die Hälfte der Herrfchaft Mechernich, 
welche Die Herzoge von Asemberg mit den Grafen von Neflelrode- Reichenflein 
gemeinſchaftlich befaßen, und einige Dörfer der Herrſchaft Commern). 

Bon, den Beilgungen der Grafen v. Blanfenheim-Manderfcheid (die Grafichaft 

Blankenheim mit einziger Ausnahme des, dem Regierungs- Bezirke Trier überwie⸗ 

fenen Dorfes Mirbach, Die Herrſchaft Dollendorf und einige Ortfchaften der Graf⸗ 

ſchaft Gerolſtein und ber Herrfchaft Junkerath). 
B) Die Grafſchaft Salm⸗Reifferſcheidt. 
9) Die Reichsſtadt Aachen mit ihrem Gebiete. 





Anden, Regierungsbezirk. P 1 


10) Die Reicht⸗Abtei Burtjcheib. 
11) Die Reichs⸗Abtei Gornelimünfter (mit Ausnahme ber Sersicgaft Nieper-iaßenhoh,, 
welche dem Regierungs⸗Bezirk Köln überwiefen worben). 
12) Bon der reichsunmittelbaren, dem Grafen v. Quadt gehörigen Herrſchaft wid 
bie Herrſchaft Schwanenberg. 
13) Die Reichsherrſchaft Mechernich (dem Herzoge von Aremberg und dem Grafen yon 
Reftelsode-Reichenflein gemeinfchaftlich gehörig). 
14) Die Herrfchaft oder dad Sonnenlehn Schönen (dem Grafen von Blonde, ſpater 
dem Freiherrn von Broich gehörig). 
15) Bon den zur Reichsritterſchaft gehoͤrigen Herrſchaften nur Die Lerrſchaft 
Schmidtheim. 
Die Beſitzer dieſer Bänder gehörten, in fofern fie Kreisflände ware, nach der bis 
zum Jahre 1794 beſtandenen Kreis⸗Eintheilung zu dem Burgundiſchen, Chur⸗ ober 
—— und Weſtfaͤliſchen Kreiſe. Außerhalb der Kreis⸗Cintheilung befan⸗ 
den ſich die Reichs⸗Abtei Burtſcheid, Die Reichsherrſchaft Mechernich und die Here 
fHaft Schönau. 
Die mannichfaltigfien und intereffanteften Bildungen deutſchen Mechtes erblüheten 
auf dieſen verfchiedenartig geftalteten Herrſchaften, und iu Städten wie in „Unterherp- 
fhaften" und ähnlichen Geſchloſſenheiten hielt fich vielfach laͤnger als andemswn in 
Deutichland die alte Freiheit lebendig. Aus der unüberfehbaren Menge der RNechtsge⸗ 
Raltungen beben wir nur Die zweiundvierzig im Herzogthum Jülich beflandenen „Untes- 
herrſchaften“ hervor, Beſthungen, die mit den auägebehnteften Rechten und Freiheiten 
begabt waren. Der Zwed der Unterherrentage war gleich dem des Landtages... Die 
ihn begingen, bewilligten auf ihmihre Stenern, jedoch nur ald subsidja charitaliva und gegen 
Empfang von Reverjalen, welche ihre Rechte der Steuerfreibeit ac. ausdruͤcklich verfichertem.. 
Ihre Beſther hatten eigene Eivil- und Criminal» Gerichtsbarkeit über ihre Unterthanen, 
Die nur ihrem Unterherrn, niemald dem Herzog, den Hulbigunggeid leifteten. Bis ins 
12. und 13. Jahrhundert fcheinen diefe Unterberrfchaften nach reichöfrel geweſen zw. fein.: 
Die Inhaber begaben fich dann aber unter den Schuß der mächtig gewordenen Herzoge 
von Iülich, feeilih mit Vorbehalt mehrerer Hoheitsrechte, die indeß bie Zeit verwildgte,, 
Wie bier, fo ‚tritt auch in den anderen Gegenden dieſes altpeutfchen reich begabten. 
Landes die centralifirende Macht flärfer und flärfer hervor; an den Grenzen erhaben 
ſich neue europäifche Mächte, das fpanifche Habsburg, dann vie republilanifchen Fran⸗ 
zojen, drücken und erfchüttern die Zuftände, und nach manchem DBerfall und mit Nuinen 
der alten Burgen und Kirchen und bevrohlicheren Ruinen ber alten Verfaſſungen bedeckt, 
kommen endlich alle dieſe einzelnen Gebiete in die Hand Preußens, das ſchon früher 
durch Grbfchaftdanfprüche dieſer Gegend Deutſchlands nahe trat, zufammen und. Kildon,: 
nachdem burch den Aachener Grenzvertrag vom 26. Juni 1816 zwifchen Preußen und Hol⸗ 
land die neuen Orenzen definitiv feftgeftellt, fortan einen Bezirk ver Rheinprovimg. Der Regie 
rungsbezirk Aachen zerfällt in elf Kreife: Stadtkreis Hachen, Landkreis Aachen, Düren, 
Erkelenz, Eupen, Geilenkirchen, Heinsberg, Jülich, Malmedy, Montioie, Schleiden. Dep. 
Sauptfluß des Megierungsbezixts ift Die Moer oder Ruhr, welche die Inde, Merz, 
Wurm und Urft aufnimmt und faft den ganzen Regierungsbezirk mit nördlicher uub 
norhweftlicher Abdachung dem Maas» Gebiete einverleibt, während im Sühwelten Kill, 
und Dur der Mofel zufliegen und bie oberen Erft- und AbrsThäler zum unmiitelbagen 
Rhein⸗Gebiet gehören. Der Süden wird von den Eahlen und rauhen Plateau-Flähem. 
Der Eifel erfüllt, an welche zwifchen Malmedy und Eupen bie: nebelbedediten Hochmogre 
der hohen Been flogen, die ſich norbwärts zu den fruchtbasen Hügellandfchaften des 
niebercheinifchen Tieflandes verflahen. Die Hauptnahrungszweige ber —— Bub, 
Bergbau, Lebderfabrifation, reicher Aderbau und Viehzucht, endlich eine vielfach 
belebte, Durch Die Nähe der Steinfohle und des Eiſens geförderte Induſtrie in ‚Metall 
waaren, berühmten Tüchern . Naͤchſt Erfurt iſt Aachen der einzige Regierungähszief: 
Des preußiſchen Staats ohne Binnenfchifffahrt, dennoch aber einer der erſten Handelo⸗ 
Diſtricte. Er hat im Duschfchnitt über 5500 Menfchen auf ver Q.«M. In Die deutſche. 


"Bevölkerung mifchen fich weftlich fränfifche und walloniſche Elemente,. dach giebt. bie: 


ſach ſiſche Stammesart den wichtigfien und fruchtbarften Strichen des Vezirks ihren, 





* Aauchen 9 EUR 


arakter. Es iſt darum Feine That befonderer ſtaatsmaͤnntfcher Weisheit geweſen, 
Amverrheintfegn Ackerebene, welche den Kern Der beiden Regierungsbezirke Aacheu 
und Düſſeldorf bildet, mit den ſüdlichen und weſtlichen Theilen der gegentwiirtigen 
oo tzu ledn em Verwaltungsbezitke, deſſen Normen votzugéweiſe nach - fran- 
kiſch⸗rheiniſcher Art bemeſſen waren, zu verbinden. Jene niederrheiniſche Ackerebene 
Deitte beffer zu Weſtfalen als zur: Rhelnprovinz gepaßt, waͤhrend ſie gegenwärtig ir 
Bezug auf Gemeinde⸗Ordnung und ahnliche wichtige Dinge mit dem incongruenten 
Maße gemeſſen werden maß, das Für die frankiſch⸗ allemanniſchen Theile der Rhein⸗ 
provinz erfunden ward. Mit Ausnahme von ungefaͤhr 11,000 Evangeliſchen und 2000 
Juvba⸗ Bekennen ſich die Bewohner zur Eathollfchen Kirche. | 
Aachen, die Stadt, der Sig der Negierung, zweier landraͤthlicher Behoͤrden, 
enes Landgerichtz, einer Handeldtammer und eines Handelßgericht®,  Hegt' unter 50° 
47 n. Bi und 339 45° 5. L., bei’ einer Seehöhe von 550 F. in einem fruchtbare 
Keſſelthale, welches voyn ber Wurm bewäflert und von den Vorhöhen der Höhen Veen 
Ä zt wird, Die Stadt zähle 53,406 Civil⸗Eimwohner, darunter 2000 Protektanten 
und einige Hundert Juden. Sie bat viele Fatholifche Kirchen, unter denen der Riünfter 
ie Vaſtlika Karl's des Großen, eines ver feltfamften und: ehrwürdigſten Bauwerke ded 
Metelalters) mit feinem Kaiferthrone und feinen Heliquien herborragt, ein Collegialftift 
mit einem Propſte, eine proteſt. Kirche und eine Synagoge; fie befitzt ein Gymnaſium, 
eine hohere Bürger- und Gewerbeſchule, eine Bau⸗ und Handelsſchule und ein gut 
göbnttes Theater. U. bildet inmitten eineß üppigen Feld⸗ und Gartenbaues den Eentrals 
Pakt bluͤhender Induſtrie, Die ſich beſonders andzeichnet in Näh- und Stednadeln (fit 
mehr als 200 Jahren), fowie in Tühern und Budffind, welche felbit den engkiſchen 
Waaben anf ben amerikanifchen Märkten gefährlich werden. Als Haupiſtation der 
bgithein. Ciſenbahn, forbie durch Die Bahn von Ruhrort nach Düffelborf und Aachen, 
wie Birth die Aathen⸗Maſtrichter Bahn, welche gegenwaͤrtig im Landen an die belgiſchen 
Buhrrer-fich anf@alleßt und auch einen’ directen Verkehr Auchens mit Motterdam erdffnet- 
bit, iſt Aachen zu einem wichtigen Stapelplatz des preußiſchen Handels geworben. 
20Machen bewahrt viele Der ehrwürdigſten Erinnerungen der deuntſchen Geſchichte. 
Kurt wer: Große, fedenfalls An der Naͤhe Aachens, an den waldreichen Ufern der Mans’ 
zwiſchen“ Luttich und Maſtricht geboren, gruͤndete ihren: Weltruf. Er ließ um 796 den 
ſhon drhunbenen Palaſt, die ſogenannte Kälferpfalz, eben fo die Kapelle, in welcher 
Bee Pibin 766: das Weihnachtsfeſt feierte, von Grund aus neu bauen. "Beide 
Gebauberwurven vurch einen Saͤulengang verbunden, . ver aber kurz vor des Kaiſets 
ie bilder in Trummer ſank. Während bie Ruinen des Palaftes fpäter zur Grunde 
lage des Jegigen · Rathhaufes verwendet wurden, bildet die Kapelle (Bafilifa Karla :de® 
Großen) 2ijoch jehzt den Kern des Mimflers. Diefe alterthuͤmliche Kapelie bat die Form 
etuner Maptörts, weldhes oben von einem Bon: uralten Säulen getragenen Chor umktaͤnzt 
iſ In: der ‚Mitte des Achtecks Bejeichnet kin Stein mit der Infehrtft: „Carolo Magno 
DE: Stelle‘ des Gewolbes, in welchem einft -Rarl ver Große beigefeßt wurde. Mehrere‘ 
Kutter äffheten Das Grab, Otto HI. (000) ſand den Gewaltigen noch wohl erhalten‘ 
im Srnate, mit; dem Scepter in den Händen, dad Evangelium auf den Knien,- ein‘ 
GEHE des heiligen: Kreuzes auf'dem Haubte und die Pilgertaſche um die Hüfte, anf 
ed ru ſthen und Heß nach Ausbeſfernng des Schabhaften das Gewölbe 
wre vernicuern ie der Chroniſt erzaͤhlt, waren Die Naͤgel der Hände Durch bie 
\ de. gewachfen und einwunderbarer Duft erhob ſich von dem Leichnam.) Nirdye 
van Friedrich 1. 1105 Was Grad: wiederum Hatte öffnen laſſen, wurden die Ge⸗ 
Berke in. diem Sargkaſten von Golb und Silber beigeſezt und zum Gedaͤchtniß ein 
geoßer ſchoͤn Fearbeitetet Kronſenchter tiber dem Grabe aufgehangen. Friebrich M. Lie: 
TRAB: Vie Neberreſte des Kaiſers in eine koſtbare Truhe ſchließen, in ver ſie noch jeht 
in · dree Sutriſtel aufberwahrt werden. Der bei: feierlichen Belegenhetten mit Goldplatten 
bei⸗gte vuße: Harmorfinhl Biente bis 1558 Bei Kaiſerkroͤnungen dem Reugekronten zum 
RA rear der Begtlißimg der fremden Fürſten? beut ſteht er, feines Schnuckes 
euttenet oben inr? Chor: der Baſtlika; die Reichsinſignien ſins 1795 nad Wien ger 
Wa DAR im⸗Byjgairtiniſch /n Geſchmack errichteten Achteck wurde gegen: Ofen im 
Sri ER Jahrh/ im gold: Stil ein Chor angebaut, während: Ag ihm weſtlich 


ee unuren N" 


ein virrediiger"Gkottenigurm !whfihlieht, neben bein: zwei rinde Kvebpelithaduech ai ran 
HBetligthamatamurer führen. Diefe. verwahrt Die ſogenauuten: Froßen Mektaniee;: 
noch jet alle Heben Yahre im Bali :uun der Tharıngalitie dem Volke“ gezeigt! w 
wa: niele Tunfene Premier: nach Wachen rufen. Derischrwärdige und. ans 
seien fe reiche Bam: (3. am: Wolfspurtif). ward in ben. fpftereh Jahrhuaserteu 
Yard. mancherlei Geſchmatkloſtgkeiton ungemein werunftäktet. - Dee 1849 vegruͤndete RUE 
verein ift jedoch dieſer Barbarei. bereits mit Erfolg —õ und id 
fegendrektes Werk eifiig fort. Das Nathhaus, das: die Olefte des Kal es in 
ſech ſchließt, begrengt mit Feines iniponirenden, in jünfgfter Belt ebenfalis TcRahkiriem 
Facade und Freitreppe Die «ine Seite des breiten Rarktplatzes. Seine Flanken veckta 
zwei Aharmo, deren einer, dirfter und ſchwer, amd. Mönıerzeit herrührt. Gin im 
Jahre 1850 aufgefkhrt.. Dee im Innern: des Rathhauſes beftnvliche Rrbunnngb jan, 
182. — lang und 60 8. tif, warb im vorigen Jahrhundert durch: Hölywände in Yet 
gefpakten, wovon bie eine wieberunt in drei Meinere Säle und eine Treppanis 
—*5 getheilt wurde. Gegenwaͤrtig hat wart. biefen von eruus ſtarken Saulen getva⸗ 
gewen, gewölbten Saal, in welchemn 37 :veusfdre Kaifet und 11 Kefferinnen Heirat 
wurden, in ſeiner urfprünglichem Maeftät wiederhergefiellt. Oir Warcde weeveni durch 
große Sreßenmalereien, ‚Some aus vem Reben Karns d. G. varſtellcad, anf Mei 
der Habt und des Düſſeldorfer Kunſtvereins für Rheinltend amd Welfalen heſchachcte 
Alfred' Rethel von Frankfurt, ein hochbegabter Hiſtorienmaler, übernahm: die 
rang, aber nachbem er in einer Wolfe, die ihn neben bie erſten Dieter ſtelle, ven 
Sturz der Irmenſaͤule, die Sarazenenfchlacht, den Einzug Karl’E: deu Geoßen pa 
ww die Eröffnumg der Giwft Kl’ durch Dito IM.. gentulf hatte, aAberkan "Mas 
dieſen heerlichen Geiſt, und: Joſeph Kehren, ein Ouſſeldorfer Hiſtorienmaler, Abrrnaha⸗ 
es, die Abrigen Vilder aus Karl's Leben, die Taufe des Wittekind, Katl's Kronuaß 
zu Won, Bau des Aachenet Münfters und. die Kröttung des Sohnes Karls zu Roy: 
auszuführen... In einem kleineren Saale des Rathhauſes befinden ſich dis Benſton⸗ 
bes Napoleon's und Jofephinen's von J. 2: Dayib gemalt, welche der Statt) ae 
eimer:!ber. AD , guten? dod Reicher, vom Kalſer ſelbſi geſchenkt wurden. 1.2Btar:: bie 
Rathhauſe ſteht eia ſchͤnetr Springbrunnen mit der Bronzeſtutue: Karl veDes er 
Sehendowerch iſt au der Dicht vor der Stadt: gelegene grufärtige- Bau: DB: Avuinid 
Dirgerhofpituls, Aus den freumdltchen zum: Theil parkaetigen Umgebangen Auchens 
erhebt fi der Lousbergirder Louisberg zu 781 Fuß Seehdhe, mit an Aasfiıpi 
einem trigonometriſchen Signale umd- dem reizenden Belvedere. Gine Viertelſtunve von 
A. beſtiibet ſich, aus ihren romantiſchen Trümmern rien aufgebaut, Bit daffdrufati⸗ 
Ftankenburg, ver: ſagenreiche Lieblingsaufenthult Karlv d. G. und Faſtrudad. Gaqh 
in ber Nahe und el elegante: Neubauten mit der Stabf verbunden, Meg Buriſch Au 
Der“ Name 3 ſchon deutet’ uf romiſchen Urſptung. Dern an NR Says 
hundert auftretende Name Aquidgranum mag von granus, einem Beinamen Web MtpniRs 
hergeloltet fein, var die: NAbmer bet Thermen verehrten. Der frany. Name Ark-Ie 2* 
polle rührt von ber Kapelle dro Malaſtes her. Im Mittelalter zahlte dieſerfrble Relchs⸗ 
flavt (des weſtfal. Areiſec) mehr als 100,000 S., im rhekaiſchen Stavtetbiendſwickes 
fe. ine ſehr bebrutende Rolle. gu A. wurden feit Ludwig dem Frommen!'blot 
Ferdinand . (818 1331) die Kaiſer gekront. Dielchsoevſammlungen ſead un 
Müttern 17, Pebvingial⸗ Concitien 11 abgehalten wordm. Div Derlegung here 
nach Frankfurt, Inmere :Strotinketten: (f. unten den Arlelitiber teinurRädt.:Merf.),?eihe 
große. Keuersbrunft, die 1656. geggen 4000 Haufe der Stabt: einäfthertej und" Anderes 
bdachte allmahlich das tinft fo. reiche und bluhende Gemeinwveſen in Verfall: Im I. 
170Frmbe A; Ton: den’ Franzvſen befopt:'und Bam durch die Zriedensſchlliſſe Ar’ Cambo⸗ 
Fotniio: und za. Lunsoille: vilig an Fraukreich and 'mard Die Suuneftube des Dwari 
mento: der Rear; 184%: endlich ſtel Die Stabt Preußen zu. — — — — 
"Die Anden Mineralguelten, ſechs warme und zwei⸗ tale, weten: * 
im: Altetthum bekanut. Bie Marnten⸗ Quellen, zu den affaliſch⸗ nut Schu 
thermen . gehösents, haben Fans Tell eine A ereprrahre KB ABER RL: Ben werden: ge 
Birke: meit großem Sefohgt bonutzt. Die bewährte Hehklinfe Ver Macke -Qaellen 
us Stadt nach ſeigt⸗Faͤhrtich Yirke: Kurgaſto I oligleich bemert worden iſt, Buß aucht 








2 Aachen, KReichsßaduiſche Berfaffung. 


menig⸗ reiche Auslander, Die fonft: regelmäßig wiederlehrten, feit ber Aufhebung ver 
dientlihen Spielbank, der einzigen in Preußen, andere Bäber —* haben. Die 
Pank gab.:au Die Stadt zu Perſchoönerungen und wohlthätigen Zwecken faͤhrlich eins 
bedeutende Summe. Der feit der Aufhebung Der Bank entſtandene Ausfall, verbunden 
wit auderen Verluſten, welche bie Stadt trafen, haben die Communalboerhaltniffe, welche 
* wie in anderen rheiniſchen Staͤdten, im Seiner glänzenden Lage befanden, empfindlach 


—* (Reichsſtadtiſche Verfaſſung). Aachen, im niederdeutſcher Rund⸗ 
a. Aken, galt lange Zeit für des deutſchen Reiches Hauptſtadt und Die eigentliche Mer 
Menz des NReichs⸗Oberhauptes. Aachen nannte ſich den königlichen Stuhl, d. i. Thron ober 
wach Reſidenz, und des heiligen roͤmiſchen Reichs (freie) Stadt, ja die römifchen Kaiſer 
war. Könige nannten fie eben ja — bis zum lintergang des deutſchen Reichs, oder wiel« 
mehr bis zu dem Zeitpunkte, wo Aachen: der Sitz eined MPräfecten für das Departe⸗ 
ment Der Moer (ſprich Ruhr) ber einen und untheilbanen franzöflichen Republik wurde, 
waß 1801 Durch den famoſen Frieden von Luneville geſchah, Den Graf Cobenzl, Ma⸗ 
mens ſeines Kran, des Königs -zu Hungarn, Erzherzogs zu Oeſterreich, und — ohne 
dazu befugt zu fein, fürd Reich — mit dem Bürger Joſeph Bonaparte, nachmaligem 
Könige in Neapel, und darauf in Spanien (f als Graf Survilliers), abzuſchließen ſich 
haausnahm. In Aachen follte auch Die Krönung eines romiſchen Königd oder Kaiſers 
vergenemmen werden und: ſolche Krönung bie eigentliche beutfche Krönung fein. Zur 
don legten Zelten des Reichs⸗Veſtandes gefchah aber Die Krönung in der Wahlſtadt, 
im Bartholomäud-Dom zu Brankfurt a. M., doch wurde der Stadt Aachen jebesmal 
ein, MRererd andgefellt, daß die Krönung ihrer Mechte unbeichadet in Frankfurt voll⸗ 
zagen werde. Im Münfter zu Aachen, der Stiftöfiehe zur heil. Maria, Mutter Gots 

» 


aufbewahrt. Sie heftanden in dem Schwert Kaifer® Karl, einem Evangelien« Buche 
ung einer mit Edelfteinen befegten goldenen Kapfel, in ber, wie mar behauptete, etwas 
von der Erde aufbewahrt wurde, auf welche Das Blut des heil. Stephanns bei feiner 
GSteinigung gefloflen, Sie wurden bei Gelegenheit einer Krönung gegen einen Revers 
und in Frankfurt unter großen Feierlichkeiten übergeben. Die anderen Reichs⸗ 
* wie Die, goldene Krone, das ſilberne Scepter, der goldene Meichsapfel ıc., 
wurden: in. Nürnberg aufbewahrt. Die Aachener Narien⸗Kirche (der Münfter) rechnete 
jene Reihsleinodien zu ihren Tleinen Reliquien, vie jedem Neugierigen leicht ger 
zeigt wurden; fie beſaß aber auch fog. große Meliquien, Die man alte fliehen Jahre 
afſentlich ausflellte und aufer dieſer Zeit nur regierenden Herren auf deren Begehren 
zeigte, was ſodaun in Gegenwart der ganzen Körperfchaft des großen Raths ber Stadt. 
und ſaͤmmtlicher Geiftlichen des Stifte, Propſt, Dechant und Kapitel, geſchah. Der. 
jeyedmalige. Kaifer mußte fich gleich nach der Krönung zum Chorherrn des Marienftif- 
tod aufnehmen laſſen. 
.. Machen fa auf Der Rheiniſchen Bank im reichsſtaͤdtiſchen Collegio des Meichso⸗ 
tages zu Megenaburg, und ebenſo unter ven Reichsſtaͤdten, welche auf ben Kreistagen 
u wergällfihen Kreiſes, zu dem Aachen gehörte, Sik und Stimme hatten, auf dem 
Zweiten e aber, den erfien Platz beanfpruchen zu Tönuen, nes die Stabt 
Koln eimnahm. Aachens Meichömatriluler- Aufchlag war. felt 1683 nur 100 ., und 
zum. Unterhelt nes Kammergerichts gab die Stabt zum einfachen Siele 155 Thlr. 
50 Kr. Als Kaiſer und Reich 1704 eine außerordentliche Viſitation des Kammer⸗ 
gevichtö anordnete, gehoͤrte Aachen mit zu den Viſttatoren. 

Der Titel der. Stadt⸗Obrigkeit war biß zur Mitte des 18, Jahr , auch 
ſpaer * Vurgermeiſter, Schöffen und Rath des heil. roͤm. Reichs freier "Sur 
Aachen. ied ſich von dem Titel aller anderen Reichsftaͤdte dadurch, daß des 
Schöffen — gedacht wurde, weil zu Aachen gewifiermaßen zweierlei ganz von ein“ 
ander verſchiedene Gollegien beftannen, nämlich Birgermeifter und Rath und der Schöffen- 
unhl. Diefer behauptete, unmittelbar unter den Kaifer und Meich zu fbeben, und führte: 
m, . Titel: Schöffenmeifter und Schöffen bed königlichen Stuhls und der heil. roͤm. 
ib Gtadt Aachen, oder auch pas hohe weltliche Schöffengericht. Es war eine Appella⸗ 
ans-Auſtanz für nah und fern gelegene Orte. und Gertfchaften, von her nur noch hei: 





Aachen, Meichsſtadtiſche Berfafiung. u 


ven höchſten Reichogerichten Brrufung: eingelegt werden könnten Das getſtlche Bundes 
oder Synodalgericht beſtand aus dem Erzprieſter, vier Stadtpfarrern un ſeben 
weltlichen Sof Der Crzprieſter warde aus ben Ganonkiiß des Stifte zu N. e. B- 


Der Bezirk ber Stabt innerhalb. der Ringmaner ward in den SturtsGefegen in ‘ 
Graficheften eingetheilt. Oas Stadtwappen was em fihmarger Adler mi ausgebreitet 
Flügeln, deſſen Haupt, Krone, Fühe und Klauen vergoldet waren, im ſilbernen Felde 

Aachen, zwiſchen den Herzogthimmern Julich und: Limburg gelegen, hatte felti uralten 
Zeiten durch :Tatfwellche Licbertragung. zur Wahrnehmmg der echte der Krone, wie 
der durch kaiſerliche Privilegien bewilligten fäbtifchen Freiheiten die Herzoge zu Yalkıy 
zu Schup- und Schirmherren. Darüber aber, wie weit dieſe Schrtherrlichkeit NR 
erſtrecke, hatte ed. mehr ald einmal Streit gegeben: Jüullich beſaß die Releret eder Vogtel 
zu Aachen und: hielt, vermöge derfelben, in der Stadt rinen —— * welcher fig; 
mindeſtens noch vor 180 Jahren, das Mecht heraminahın, jeben Beſcheid von Biryers 
meifter und Math; zu vollziehen. Hiernach war bie Meichefeetheit und Nelch umitiel⸗ 
berleit der Stadt Auen, mindeſtens de facto, fehr beſchrankt, winwoht Das jus pro» 
tectionis in diefer Auſdehnung von ihr beſtritten wurde. Auch nach ander: Goerecht⸗ 
fame nahm Der Herzog zu Shlich, oder vielmehr fein Bogintajor, in. Aufſpruch. Diefe 
Schutz herrlichkeit des Julich ſchen Herzogs fcheint ſich Aachen aber‘ in der Folge abge 
wälzt zw haben; wenigſtens war von ihr in dem Verfafſungs⸗Cutwurfe von 1790, bu 
den wir weiter unten zurieckkommen, gar nicht mebr die Rede. " 

Die meiſten Eimwohner ver freien Reichsſtadt Aachen waren ber ehmifägen Kirche 
zugethan und in den Tagen ber Reformation ohne große Anfechtung geblieben. Im 
geiſtlicher Beziehung gehörten fie zur Didreſe des Biſchofs zu Lättich. Doch gab'e® 
auch viele Beoteftanten in Aachen, meift Flüchtlinge aus den Riederlanden, vie ven 
bisstigen Berfolgungen des Herzogs von Alba entronnen waren und wegen thres Gex 
werbfleißed, namentlich der Iuchweberet, in Aachen willige Aufnahme fanden. Deffent« 
liege Uebung ber Anbetung Gottes nach ihrer Weile war ihnen aber nicht ‚geftattet, 
dafür Hatte der Bifchof zu Lüttich geforgt und feine Untergebenen bei ber Stiftälieige 
m U. 2. F. in. Aachen, troß des Normaljahrs 1624, wie «8 beim weſtfſallſchen Frie⸗ 
densigluh feſtgeſtellt worden war. Die Proteflanten mußten 2 Stunden Weges von 
der Stadt in bie Kirche geben nach Vaels (ſprich Vaals), einem Dorfe des Yankee 
Hertogentade in demjenigen Theile des Herzogthums Limburg, der zu den Gewernlltätds 
Lanken der Republik der fichen vereinigten Provinzen der Niederlande gehbste. Im 
Vaels gab es drei reformirte Kirchen, eine niederdeutfche oder hollandiſche, eine hoch⸗ 


dentſche und eine feanzönfche, außerhem eine Iuthesifche Kirche und ein Ka ie ee 


Mennoniten. 

Dad Gebiet der Stadt hieß Imperium Aquense im Gurialftil, das geich von 
Aachen, 't Rijk von Alten, in niederdeutſcher Mundart, Die bie allgemeine —— 
—— war. : Die Umfangolinie dieſes Reiches bildete, wie bie ber Ringmauer ber 

‚fa einen vollfonmenen Kreis von einer deutſchen Mille Durchmeſſer. : Eine 
bezeichnete. die Grenze gegen Iälich und Limburg. In dieſem Gebiet gab + 


Pre. 
vor 100 Jahren gegen 3000 Gimvohner, welche zwar der Stadt Unterthauen hießen, 


in: der That aber daſſelbe Bürgerrecht genoflen, wie bie Bewohner ber Stadt. Dee 
Fluß Wurm theilte das Gebiet in zwei Hälften yon ungleidger Größe. An der ef 
feite des Flaſſes Iagen die Dörfer Orsbeek, Horbock, Kalthoven, der St. Laurenz⸗ und 
der St. Salvstoräberg a0., an Der Oftfeite aber Würfelen, Wenden und Haaren. 

Die republikaniſche Verfaffung der Stadt Aachen war von jeher die reinſte De⸗ 
molvetie. Es iſt ficherich Fein Tadel des Vorfahren und Urheber einer Berfuffung; 
wenn man fast, daß fie etwas Menjchliches und der Verbeſſerung Bähiged gelieſert 
Daben. . Jede bürgerliche Einrichtung muß ber Zeit, In welcher fie entſtand, uud den 
in biefer Zeit obweltenden Umſtaͤnden angemeflen fein; wie die Zeit fortfchreitet wahr 
mit ihr der Dilnungsziftann der Geſellſchaft, alfo die Umſtaͤnde ſich andern, fo witd 
auch eine Arnderung der Verfaffung nothwendig. Zu ft, zu früh veraͤndern Fan 
geoße Machtheile Dee führen; aber fich unter allen Umſtaͤnden fir unverbefierlich Halten, 
iR Die gefährlichfle aller. Krankheiten für den einzelnen Menfchen, wie für tie .‚behilbe: 








“ Soden, Strigafibtiftie Brrinfitng: 


freie, age dieſ⸗ klein oder groß ſein⸗Mit dieſer ſranthen det und dien echenev 
Dempkratie mehr als sin Mal zu kaͤupfen gehabt. 

“ Wi zum.Sahre 1450 gab ed in Aachen einen rer, ber Pr (n6end hängt 
bleibenden Bürgermeiftern, Beamten, Schöffen und Abgeorpneten der neun Graffchaften 
ker Stadt befand. In jmem Zahre witrde nach langdauernden vorhergegangenen 
Unruhen an Die. Stelle jenes bleibenden ein abwechſelnder Math geſetzt, Den: ale: Achto 
zur Sälfte aus den Damaligen 11 Gaffeln oder Zünften ben; Bärgesfchaft neu richt 
warden ums Der 'daem auch Die gleichfalls abwechſelanden Beamten erwählte. Dieft Ver⸗ 
fefftung beſand nur bis 1477, da Der vorige, lebenslänglich im Amte bleibende Rath 
were eingefuhrt und den Abgeordneten ber Graffchaften die ſchon borhin wieder eingetre⸗ 
wen Schöffen beigefügt werden mußten; hinſichts der Beamten blieb es jedoch beim jahr⸗ 
lichen Wechſel. Rune Unzufriedenheit, Die tumultuariſche Bewegungen moͤthigten 
indeß, 1513 den Gaffelbrieß von 1450 wieder eingaführen, der dann auch das Haupt⸗ 
Grundgeſetz ver Aachen ſcheu Verfaſſung bis zu dem Zeitpunkte geblieben iſt, wo Aachen 

aufhaͤrte, eins deutſche Stadt, eine freie Reichoſtadt zu fein, und zu einer Praͤſeetur⸗ 
Stadt, zum Sitz eines Laudvogta der demokratiſchen Republikaner, herabgewürdigt wurde, 
bie won ben Unterthanen der grande nation unbedingten Gehorſam verlangten. 
„+ Desinbeß in dem Gaffelbriefe von: 1450 über ſehr wiele Kalle die befimmten Ber- 
fsiften, gänzlich fehlten, jo mußten Diefe nach Dem Herkommen beſtimmt werben, auf 
weichen in der That: mehr beruhte, als auf dem geſchriebenen Geſetz. Man ſuchte 
dieſes Herkommen durch neue Gaffelbriefe, bie 1552 web darauf 1681 angenommen 
wiarden,: au: befeſtigen; allein dieſe neuen Grundgeſetze kamen alobald außer Gäbrauch, 
aber warden foͤrmlich abgefchafft.: Doch wurden Die Borfchriften: der letzteren, offenbar 
weil fie aur das frühere Herkommen enthielten, bis zum Untergang ‘der Reichafreiheit 
wirklich hefelgt und nähere Grlaͤuterungen oder Beſtimmungen, wenn es erſforderlich 
war, durch einzelne Verorduungen hinzugefügt, Die aber faſt immer nur nach dem: be⸗ 
ſondern Intereſſe ider jedesmal herrſchenden Partei abgemeſſen waren. 
iteu Natirtlich maßte eine Verfaſſung, bie auf einfache Sitten und Verhaltuiſſe be⸗ 
rechnet: war, immer mehr ihren Zweck verfehlen,: je. mohr die Sitten ſich anderten und 
die: Verhaͤltniffe verwickelter wurden. Bei jeder Verfaſſung, auch weun ſie auf eihem 
jchriftlichen, eine Menge von Fällen beſtimmenden Grundvertrage beruht, iſt dies eime 
nochwendige Folge; ganz. unvermeidlich aber, wenn Obſervanz und eine fe erllarende 
Billhr ger Hauptoorſchrift wird. 
So veränderte auch in Aachen bie Berfaffung allmaͤhlich ganz ihre Pater. man 
fepte: Das Voit vegiert!“ Aber Iedermann wußte, daß es die Negierung ur ein 
paar Wohn’ im Jahre Abte, um fie einem: &inzigen zu überlafien, der bie Mittel zu 
finden wußte, oft 20 bis 30 Jahre hintereinander dieſe Negierung zu behaupten und: 
deren Brepter eben fo unumfchränkt: zu ſchwingen, wie nur immer ein monarchiſcher 
Negentutin Autokrat. Darum fagte man. in Aachen: „Unter Der Regierung von Bür⸗ 
germeiſter · Kaht, Lonneux u. ſ. w.“, um eine Rethe oft von vielen Jahren zu brzeich⸗ 
nen/ ſo gut wle man im. Frankreich ſpricht: „Unter Ludwig XIV. oder XV.“; uub 
wenn man ſich des ˖ Ausdrucks: „Unter Der vorigen Regterung“ bediente, ſo verſtand 
mon: ceineſsweges, wie ed nach der WVerfuſſung fein. ſollte, die Regierungi deo maͤchſt vor⸗ 
herzehenden Jahres, ſondern derjenigen Partei, welche vor der zeitweillgen: die ham. ' 
füekiße wurn: Dieſer Sprachgebrauch liefert einen Beweis, wie tief die Mißbrauche ges 
weuzelt.. und. bie. Brundverfaffung verderbt hatten. Um ſich auf: eine fo bange Reihe 
von Jahren In Mimi: zu erhalten, bediente man fi des Kunftgriffer daß es ein Zahr 
nar ırigenem : Nahen :: und Das folgende Jahr unter dem Mamen beffen erlangt wurde, 
Leu gmiwillig genug: war, nur feinen. Namen -herzugeben; mb dergleichen Gumillige 
gan:eB in- Menge. ı Diefe Oberherrſchaft dawerte fo. Iange, als es den Staathaupte ges 
Iang,swie Mehrheit feiner Partei unter, ven Beamten na im Rath zn behmmpten. Um 
Mefe Mehrheit gegen: pie Jährliche Erfchhtterung duvch die Abwechſslung des halben Maths: 
zu: erhalten/ neußten daun All’ Die Mittel angewandt werben; "bie jeher Aachener unter 
dem Amen: ;Mäbelei* nur zu gast kannte und jener Hechtichaffene verabſcheute. 

"Dei Parteh welche Die Regierung für ſich gu erhalten wünfchte, mußte wetinlich 
Didtetten Mit anwenden, zb fo währte.ein innerer Kyleg: fo : länge fort, bis endtich 





Yen, Reigshinife VBerſoſſautz | 


eine hacticheade Rartei vurbräugt war, welches felten ohne tumulineriiche Berunguung 
nor fach ging, ‚wobei ed auf. Menfchenleben eben nicht anfam. Die fiagreihe Danke 
trieb num bajelbe Spiel. Zuweilen kam es auch vor, daß fich zwei ſtreitende Varttien 
uber hie Theilung. ber Herrſchaft verglichen. So wurde 1732 ein Vergleich geſchloſen 
nach. welchen Die Rathö- und Beamten⸗Stellen jährlich zu gleichen Theilen aus Heinen 
Barteien erwaͤhlt werden unb bie Haͤupter im. Bürgermeifles-Amte abwechſeln Sollen 
Diefer Vergleich befand wirklich bis über die Witte des 18. Jahrhunderts, und dech 
übten die Zünfte alljährlich Das, was man „freie Wahl” zu nennen ſich herausnahm. 

Die Gewohnheit verberbte in Aachen den Bürger immer mehr; bie vesvielfältigtem 
Dedürfniffe neuerer Zeiten erhöhten den Preis, für den er das ebelfle ſeiner politiſchen 
echte verfaufte, und machten auch bie Entichädigung größer, Die ber, welcher den Preis 
bezahlte, aus dem gemeinen Stabtfädel entnehmen nwufte, und des verflenb er auf 
dem Grunde nach Anleitung hundertjahrigen Beifpield und Vorbildes, nach eigenc 
Iangjähriger Uebung! Schlechte Verwaltung des Stabtjädeld in jeher Rückſicht hulseke 
oder begümnſtigte gar Vergehungen und Nachläfjigkeiten aller Art, Unmöglichleit einer 
‘guten Nechtäpflege und Polizei⸗Handhabung waren fchlechterbings undermeibliche Golges 
dieſes Verderbens. 

So kam es dann, daß im Jahre 1786 die Unzufriedenheit under ber Bürge- 
fchaft Aachens ihren höchften Gipfel erseichte und wieberum Unruhen ausbsachen, due 
am Johannistage des gedachten Jahres. bid zum gewaltfamen Angriffe det in Auskbung 
feiner Amtspflichten verfammelten Raths gefleigert wurben. 

Weil alle Obrigkeit aufgehört hatte, mußte das Kreid- Direstonium beb. nee 
fälifchen Kreifes in Aachen einfrbreiten. Die. Directoren dieſes Kreifes waren Day. Künf« 
bifhof zu Münfter und neben ibm wechſelsweiſe die Kurfürften zu Braudenburg um 
zur Pfalz, als Herzoge zu Eleve und Jülich. Don dieſen Beinen wer vie Reife am 
Herzoge zu Gleve. Zur Wieberherftellung der Ruhe und zur Handhabung Im obrig⸗ 
feitlichen Rechte und Pflichten entfenneien die Divectoren eine Kreis + Disecioelnl» Kay 
miſſion nach Aachen, die auch vom Zaiferlichen und Heichd » Kammergericht Ian drei⸗ 
fachen Auftrag erhielt: erftlih — rechtliche Unterfuchung der ausgebendgenen Imwuhenz 
zweitens — ebenmäßige Unterſuchung der bürgerlichen Beſchwerden über ſchlechte Var⸗ 
waltung des fläbtifchen Wermögens, welche das Bolt: in die Bährung brachten, wopon 
jene Unruhen legte Solgen wurden; und, brittens — Unterſuchung und Abſtellung den 
in die Verfaſſung dieſer Reichsſtadt eingefchlichenen Mißbraͤuche, durch welche allein ze 
ſolchen Beſchwerden und ihren trauxigen Folgen der Anlaß gegeben: worden mag. 

Seitens des Kurfürſten zu Brandenburg war Friedrich Wilhelm von Dohm Sie» 
viſcher Subdelegat bei dieſer Kreis-Direstorial-Gommifflon. Er war et, der deu „Une 
wurf pt einer verbeſſerten Conſtitution der kaiſerlichen freien Reichsſtadt Aachen“ an 
arbeitete. und denſelben nach jahrelangen Mühen endlich im April 1790 „ihren ‚nateien 
tifchen. Bürgern" zur Begutachtung und Beurtheilung vorlegte. Diefen Entwurf, Net 
fih auf den Gaffelbrief von 1450 ftüßte und das, theild aus artenmäßigen, theils ** 
wündlicger Ueberlieferung ſammende Herkommen : zu firiren und den Bedirfniffen ber 
fortgeſchrittanen Zeit anzupaflm trachtete, zerfiel in 25 Gapitel. 

.  - (Ein Ueberblit über Die Verfaſſung der ferien Reichsſtadt wird ‚hier om. var--Shelle 
fein: Die Banbed- Hoheit, welche der Meichöftent Uaden, als einem. unmiksihanse 
Stande des Deutichen Neiched- ;zufland, befand fi) bei geſaumter, in 14 Zünfte: abgen 
theilter Bürderfchaft. Diefe- gefammte zünffige Vürgerſchaft wan- allen Maifer.- mul: 
Reich unterworfen. Die einzelnen ‚Glieder -Diefer zinftigen Bürgerſchaft nahmen in 
gleiches Art an der Ausübung der Landes ⸗„Hoheit Theil, Nur ver zürftige Mürgeo 
hatte dieſen Antbeil, jeder. andere Einwohnee von Aachen aber gleichen Anſprach auf 
den Schuß der Geſetze. Es ‚fand. in Aachen Leine Aeufjerung ner Laudes⸗Hoheit ud 
hochſten Gewalt ſtait, als im Namen und durch u⸗bernogong geſ⸗wonen anftisæ 


Der beſtandige Vertreter her zunftigen VBurgarfchaft ud Berwefen der: gende 
hoheit war ‚ein. von berfelben Dazu mwähltes und beſtellter Math. Diefor- Mash: Ichen 
Die geſetz gehende Gewalt in all’: dew Fällen auf, wo gefamuater Bürgerfcheft nicht, um 
mittelbar dabei mitzuwirken vorhchalten war. .-Er- furgte für Die Vollſtrackuug; und. Abe 








Rn . Haken, Reicheſtübtiſche Berfaffung. 


Kllfang: der Gefetze; er hatte die Oberaufficht Aber die Pflege der Gerechtigkeit; er 
wit Berwalter des gefammten ſtaͤbtiſchen Vermoͤgens und der von zünftiger Bürger» 
ſchaft bewilligten Abgaben; Alles in der durch die Berfaflung näher beflinnmten Ark. 
Der Rath war — heilig und unverleglich; er war die majestas, der Niemand Gehor- 
fan verweigern durfte. Der Rath war, als Verweſer der Landes⸗Hoheit, nur Katſer 
und Deich unterworfen, unb von feinen Handlungen Niemand als gefammter zünftiger 
Brrgerfepaft Rechenſchaft ſchuldig. 

Dee Aath beforgte die Geſchaͤfte der Stadt durch Beamte, auf deren Vortrag 
er. feine Schlüffe faßte, fo wie für beſondere Fächer durch Deputationen, die bom Rath 
gleichfalls zu Gutachten aufgefordert werben Fonnten. Die Beamten wurden gewählt. 
Ste waren allein dem gefammten Rath unterworfen und ihm Rechenſchaft von ihren 
HYundlungen ſchuldig. Dagegen mußte aber auch der Math alle Handlungen feiner 
Beamten vertreten, Die er außprädlich oder ſtillſchweigend gebilfigt hatte. Zu unter« 
geordneter Beſorgung der Gefchäfte hatte der Math noch Civil-⸗Bediente, und zur Aufs 
rechthaltang der öffentlichen Ruhe und Sicherheit Militär. Alle Eivil- und Militär- 
Beblente raten überhaupt dem geſammten Rath umd Jeder im Befonderen den ihm 
vorgefeßten Beamten und Oberen unterworfen. 

Mach dem Haffelbriefe von 1450 follte der Rath „in treflichen Nothfachen Die 
Einſicht der beiten und ftandhaftigften Bürger aus den Baffeln zu Hülfe nehmen, * 
eine Vorfchrift, Die ganz in Bergeflenheit gerathen war. In der verbeflerten Berfaflung 
wurde fle Durch einen Ausſchuß der Bürger- Vertreter firtet, der zwifchen dem. Rath 
wird der gefammten Bürgerſchaft in der Mitte fland und dem bad Recht beigelegt wer⸗ 
den folßte, alle oder einzelne Bürger zu vertreten, von der Verwaltung bes Rathes, fo 
wre von den Sandlungen ber Zünfte Kenntniß zu nehmen und feine Meinung zu fagen, 
wo er es für noͤthig finden folkte. 

- &n Bürger der Reichsſtadt Aachen war ein freier Mann, Niemand, als den 
GSefetzen des Deutichen Reichs und diefer Stadt unterworfen, Niemand Gehorfam und 
Folge ſchuldig, als der durch Die Geſetze über ihn geftellten und nach den Gefeßen 
handelnden Obrigkeit. In allen Handlungen, welche durch die Gefege nicht beftimmt 
find, war ber Bürger von Aachen unbefchräntt und Niemand Reechenſchaft ſchuldig. 
Alle Bürger waren einander gleich und hatten zu den flädtifchen Aemtern, wenn fte 
wegen ihrer Faͤhigkeit und Tugend dazu berufen wurden, gleiches Mecht. Das gemeine 
Veen und die Regierung der Stadt ficherten dem Bürger, der nach ben Geſetzen lebte, 
fein Leben, bie Breiheit feiner Perfon und fein Eigentbum. Niemand war zu Abgaben 
verbunden, die nicht auf gefeßlichem Wege bewilligt waren. Jeder Bürger hatte das 
Recht, Der jährlichen Mechnungs- Ablage beizumohnen und ſich von der guten Verwal⸗ 
tung des ſtadtiſchen Bermögend felbft zu überzeugen, auch feine Gedanken über Mängel 
und Fehler der Stadtregierung entweder dem Math oder dem Bürger-Ausfchuß vorzulegen. 
Lepterer war nuch dazu berufen, Beſchwerden der Bürger entgegenzunehmen, ſie zu prü⸗ 
fen, event. zu vertreten. 

Secrſchieden von dem allgemeinen Bürgerrecht ber Stadt Aachen war ihr 
zünftiges Bürgerrecht. Jeder zünftige Bürger hatte Theil an der, gefammter zünfs 
tiger Bürgerſchaft zuſtehenden Landeshoheit und höchften Gewalt. Er gab bei allen 
Beratöfiglagungen feiner Zunft und bei den Raths⸗ und anderen Wahlen feine Weis 
nu und Stimme nad) beftem Wiffen und Gewiffen mit volffommenfter Kreiheit, ohne 
wegen feiner Aenßerungen zur Rechenſchaft gezogen werden zu Eönnen. 

» Der Sohn eines Aachenſchen Bürgers erbielt durch die Geburt das Bürgerrecht. 
Er wurde aber nicht cher zum Buͤrger⸗Eid zugelaffen und in das Bürgerbuch eingetra« 
gen, bis er das 21. Lebensjahr angetreten hatte, feiner Perfon und Handlungen eigener 
Herr and für ſich ſelbſt in der Stadt ober dem Meich von Aachen etablirt war, au, 
ed fei in liegenden Grimden oder durch fein Gewerbe, fo viel Vermögen beſaß, daß er 
ich felbR feinem Stande gemäß nähren konnte, ohne dem gemeinen Wefen ober feinen 

Aehäsgern zur Laft zu fallen. Auch jeder in der Stadt oder dem Neid von Aachen 

zeborene konnte, wenn fein Bater auch nicht Bürger war, unter denfelben Bedingun⸗ 

en das Bürgerrecht erwerben; ebenjo jeder Fremde, doch erfl dann, wenn er ſechs 

Könabe. in Aachen. gelebt hatte. Der Erwerb des Bürgerrecht war, auch für ben 


Anden, Reigöfkibtifche Brrfuffung. | 


Gingebornen, an die Grlegung eined Bargergeldes geknupft. Far den Wesmben betrug 
es das Doppelte deſſen, was ber Ginbeimifche zu zahlen hatte. Durch Urtheil nud 
Recht konnte wegen Berbrechen ober Bergebangen ber Verluſt des Bürgerrechteß für 
imsmer ober auf beflimmte Zeit auägefprochen werben. 

Die ganze an der Regierung Theil nehmende Bürgerfchaft war von Alter& des, 
um in vorfommenden Källen ihre Meinung mit größerer Leichtigkeit einziehen zu koͤnnen, 
in Eleinere Gefellfchaften vertheilt, die man Zünfte oder Gaffeln nannte. Lehyterer Aus⸗ 
deuck ſcheint aus einer verderbten Ausfprache des Worts Gabe entflanden und hat die 
ſelbe Bedeutung mit Zunft. Es gab zuiegt 14 Gaffeln und diefe biegen: Stern- 
Werkmeiſter⸗, Bord, Bäder, Metzger⸗, über, Schmide, Kupfermeiftere, Krämer, 
Zimmer», Schneider», Pelzer-, Schuflers, Brauer- Zunft. Sie waren bürgerliche Körper⸗ 
fhaften und von den Handwerks - Innungen oder Zünften gänzlich verfchieben. Die 
vom Handwerk beibebaltenen Namen dienten bloß zur linterfcheivung, ohne daß beB- 
halb eine Bürgerunft mit dem Handwerk, von dem fie nach altem Braucd den Namen 
führte, eine nähere Verbindung gehabt hätte, ald mit jebem andern. Urfpränglich 
waren Handwerks⸗Innungen und BürgerrGaffeln ohne Zweifel Eins geweſen. Ginige 
Saffeln Hatten Linter-Abtheilungen, fog. Spließen, deren Witgliever nicht volllommen 
gleiche Rechte batten, was als ein Mangel angefeben wurde, dem das verbeiferte 
Grundgeſetz durch Verleihung gleicher Nechte durch alle Zünfte abhelſen ſollte. Am 
zahlreichſten mar die Kräamer- Zunft. Sie follte %, ihrer Mitglieder zur Verſtaͤrkung 
der übrigen Gaffeln abgeben. Niemand konnte Mitglied von mehr als einer Zunft 
fein, doch fland es Jedem frei, aus einer Zunft in eine andere überzugeben, was 
jedoh an beflimmte Bedingungen gefnüpft war. Niemand konnte aber überhaupt 
Zunfiglied ober zünftiger Bürger werben, wer nicht das allgemeine Bürgersecht ber 
Stadt befaß. Leber die Aufnahme in die Zunft entſchied die Mehrheit der Stimmen 
ihrer Mitglieder. Der Aufgenommene batte den befondern Eid “eines zünftigen Bürgers 
zu leiften und ein Antrittögeld zu entrichten im boppelten Betrage des Bürgergelbes. 
Der Fremde gab auch hier noch ein Mal fo viel, als der Eingeborme. Jede Zunft 
hatte einen Borfteber, ven man Grau (Graf) nannte und der alle vier Jahre nach been⸗ 
Digter Rathswahl durch Mehrheit der Stimmen aus ihren Mitgliedern gewählt wurbe, 
&r mußte dad 30. Jahr vollendet haben, und wenigftens vier Jahre Mitglied der Zunft 
gewefen fein... Ihm war ein engerer Ausfchuß zugeordnet, welcher ber Tiſch hieß umd 
aus einer ungeraden Zahl von Perfonen beftand, welche nicht über 15 geben burfte. 
Zum Tifch gehärten in jeder Zunft die vier an Jahren alteſten Glieder, die übrigen 
wurden durch Mehrheit der Stimmen gewählt. Sie blieben Tiſchgenoſſen, fo lange fle 
lebten und in der Zunft waren. 

Ordentliche Zunft Berfammlungen fanden flatt: zur Rathswahl alle zwei Jahre, 
womit alle vier Jahre die Gravenwahl verbunden war, und zur Aufnahme neuer Mit 
glieder, auch zur Mechnungsr Ablage alle ſechs Monate. Außerordentliche Verſamm⸗ 
lungen fanden ftatt: wenn neue Auflagen gemacht, alte erhöht, Gapitalien zur Laſt 
der Stabt aufgenommen werben follten; wenn bie Lebensftrafe auf ein MWerbrechen ger 
fegt werben follte, welches bis dahin mit geringerer Strafe belegt war ac. Gämmts 
liche Zänfte verfammelten ſich zu gleicher Zei. Die Mehrheit der Stimmen aller 
Zuuftbürger entſchied in allen Zällen, nur dann ausgenommen, wenn von Grhöhung 
oder Veränderung der Abgaben die Mede mar. Alsbdann reichte ', der Stimmen 
fänsmtlicher Zunftbürger bin, um den Antrag des Raths zu genehmigen. Bel ber 
Mathéwahl und in außerorbentlihen Sitzungen flimmte Jeder, der ein Jahr Glied der 
Zunft war; bei der Graven⸗ und Tifchgenofienwahl genügte. eine ſechswöͤchentliche 
Mitgliedſchaft. Ein Rathsherr, ſtaͤdtiſcher Beamter und Jeder, der in ſtaͤdtiſchen Civil⸗ 
oder WMilitärdienfen ſtand, auch wer eine ſtädtiſche Pachtung hatte, war, fo lange 
dieſer Dienft ober die Pachtzeit währte, nicht flimmfählg und durfte den Verſamm⸗ 
Inngen der Zunft, worin die Rathswahl geſchah, gar nicht beimohnen. 

Jeder Rathsherr hatte Theil an dem gefammten Math, als Vertreter zunftiger 
Bürgerfchaft, an der von biefer übertragenen und in ihrem Namen auszusbenden Der 
wealtung ber Lanbeshoheit und höchſten Gewalt. Diefer hohe Beruf beſtimmte Die 
Pflichten des MRathöheren. 


Wagener, Staate⸗ u. Geſellſch⸗er. 1. 3 


- 


. 
4 Anden, Reichefsitifie Berfaffang. 


Der gefammie ober große Math folkte aus 56 Perſonen beſtehen, die von ben 14 
Zünften, von jeder 4, ermählt wurben, und vier Jahre Verwalter der Landeshoheit 
und Repräfentant der zimftigen Bürgerichaft bleiben. Er follte fig in zwei Hälften 
fpalten und die eine davon der Eleihe oder figende, die andere der ruhende Rath ge⸗ 
nannt werden. Nach zwei Iahren ging ber gende Math ab und der ruhende wurde 
ſthender Rath. An die Stelle dieſes letztern wurde ein neuer ruhender gewählt 
Sigender und ruhender Rath vereinigt machten den großen Rath. Alle vier Jahre 
aber ward der Rath ganz abgewechſelt. Seine Glieder hatten die eriten zwei Jahre im 
ruhenden Rath einen entfernteren und feltneren und die legten zwei Jahre im ſitzenden 
einen nähern und ununterbrochenen Untheil an der Regierung, zu dem fie fi im 
ruhenden Rathe durch nähere Einfiht vom Gang der Gefchäfte vorbereitet hatten. Der 
ſitzende oder kleine Rath verfammelte jich regelmäßig umd ohne vorgängige Berufung 
alle Freitag. In anferorventlichen Fällen wurbe er Abends vorher vom regierenden 
Bürgermeifter eingeladen. Der große Rath verfammelte ſich nur duf eine derartige 
. Einladung, bie drei Tage vorher erfolgen mußte, dringende Fälle außgenonmen. Eine 
Berfammlung des fleinen Raths wurde nur dann für volffläudig gehalten, wenn 
wenigftens 19 Glieder anweſend waren, und zur Beichlußfeffung des großen Mathe 
waren minbeftens 41 Amweſende erforderlih. Der regierende Bürgermeifter führte im 
Heinen wie im großen Mathe den Vorfig. 

Der Gefchäftskreid des Fleinen Raths umfaßte die gefammte cxecutide Gewalt, 
die er entweder ald einheitliche Körperfchaft oder durch Depmtationen ausübte; er hatte 
alle eigentlichen Hoheits⸗ und Megierungsfachen zu beforgen, alle mit auswärtigen 
Staaten in- und außerhalb des deutfchen Reichs vorkommenden Gejchäfte, Alles, was 
auf das Derhältwig mit Neich und Kreis und Behauptung der Gerechtfame der Stabt 
Bezug hatte, einzuleiten und zu behandeln; er führte Die Oberauffiht der Berwaltung 
der Zufliz und arbeitete Borjchläge zur Aenderung beſtehender Gefeße oder zur Abfaf- 
fung neuer aus, behufs ihrer Berathung im großen Mathe, dem die Beichlußnahme 
darüber vorbehalten war. Diefem lag auch die Wahl der Bürgermeifter und der übrl- 
gen Deamten ob, die Beratbung und Beftätigung von Verträgen mit einem auswär- 
tigen Staate, die Beflätigung oder Milderung von höheren Strafurteln als Preijähris 
ges Gefängniß 2c., während über niebrigere Strafen der Fleine Rath entſchied ums 
bei entehrender Leibes⸗ oder Lebendilxafe die Meinung des Bürger » Uusjchufjes einge 
holt werben follte. Abändberungen im Militärmefen hingen außfchließlich. som geoßen 
Bath ab, ver auch den Befehlshaber der Stabtjolvaten beftellte und vereibete. Haupt⸗ 
Beränderungen in geiftlichen und Schulfachen, fo wie auch in Armen- und Vormund⸗ 
fhafts-Angelegenheiten Eonnten nur mit Zuflimmung des großen Raths vorgenommen 
und Privilegien auf Gewerbe ugd Handel nur von ihm ertheilt werben. 

Nach der neuen DBerfafiung batte der Bürger⸗Ausſchuß, aus 14 Binger⸗Vertre⸗ 
teen, aus jeder Zunft einem, beitebend, die Beſtimmung, das zu thun, wogn ber ein- 
zelne Bürger zu ſchwach, die gefammte Bürgerfchaft zu zahlreich ik. Ex Hatte nicht 
das Mecht, Geſetze zu machen, wohl aber follte ex forgen, daß Die beſtehenden Gefepe 
beovbachtet würden. Ihm war weder Die volljichende, noch Pie richterlihe Gewalt bes 
fimmt, aber er follte wachen, daß beide immer thätig, immer auf dad gemeine Wohl 
gerichtet feien; überhaupt war ihm eine Aufgabe von weitefler Auspehnung geſteckt. 
Die Beamten wurden die erften Diener des Staats genannt. Durch ſte beforgte 
der Rath alle Gefchäfte; fie hatten alle Sachen vorzubereiten und durch ihren Vortrag 
den Rath in den Stand zu feßen, über diefelben Entichlüffe zu faflen, wobei ihnen 
ſelbſt Feine Stimme zuftand; doch Tonnte der Math Feinen Schluß faflen, ohne bie 
Beamten mit ihrer gutachtlichen Meinung gehört zu haben. Diefe. bildeten kein Colle⸗ 
gium für fich, ſondern konnten fich nım im großen und Tleinen Rath verfanmeln. 

Die Beamten waren: Zwei Bürgermeifter, zwei Syndici, zwei Finanzräthe, ein 
Juſtizrath, ein Schul⸗ und Kirchenrath, ein Polizei- und Milttärrath und zwei Rathe⸗ 
Secretarien. 

Bon den beiden Bärgermeiftern mußte der eine, nach altem Brauch, ein Mitglieb 
des Schöffenftuhls fein und hieß deshalb Schöffen Bürgermeifter, der andere aber mußte 
ein Jahr in der Stadt oder dem Reich von Aachen gewohnt haben; er hieß Bürger Bürger 


- — 


ne 


| 
Aachen, Keicheſtadttſche Verfaſſung. —2 


meiſter; jeber von ihnen mußte über 30 Jahre alt fein. Beide waren einander völlig gleich, 
hatten den oberften Sig im großen und feinen Math und führten mit jährlicher Ab⸗ 
wechslung den MVorfig des Raths; der Präflpirende war dann regterender Bürgers 
meifter, dem. die Oberleitung und Ober » Aufficht über den Bang der Gefchäfte oblag. 
Tach der neuen Berfaffung ſollten beide Bürgermeifter vier Jahre im Amte bleiben; 
fe Hatten den Rang vor allen Rathsherren und ven anderen Beamten, führten auch 
den Rath an, wenn derfelbe Bffentlich erfcheinen mußte. Die übrigen Beamten, deren 
Geſchaftskreis durch ihren Titel audgebrüdt ift, waren auf Lebenszeit angeſtellt und 
fanden ſich nach Maßgabe des Dienftalters im Range gleich, mit Ausnahme der beiden 
Serretarien, die wieder unter fi im Range gleich flanden. Im gefellfchaftlichen Leben 
hatte ein Beamter den Rang vor dem einzelnen Mathöheren, bei dffentlihen Gelegen⸗ 
beiten aber folgten die Beamten dem gefammten Heinen und großen Nathe nach. Bor 
dem vollendeten 26. Jahre follte Niemand zum Beamten gewählt werden; Fremde aber 
follten bei der Wahl nicht zugelaffen werben. Die Rath8-Serretarien wurden von ben 
Beamten dur Mehrheit der Stimmen gewählt ; die Kanzleis und andere Unter-Bebiente 
beſtellten dagegen Die beiden Bürgermeifter in Gemeinfchaft mit dem Beamten, in defien 
Fach fle gehörten; Rathsdiener die Bürgermeiſter allein. 

Ein Bürgermeifler follte während des Jahres feines Praͤſidii 1200 Thaler und 
während des andern Jahtes 800 Thaler, zu 54 Mark, Beſoldung haben; jever andere 
Beamte aber 1000 Thaler. Weber Bürgermeifter noch andere Beamte erbielten Bräs 
fenz Gelder, außer als Glieder der befonderen- Deputatlonen, noch irgend andere Accis 
dentien, es fei denn, daß fie in ſtaͤdtiſchen Gefchäften Reiſen zu thun hätten, da ihnen 
nei Billigkeit und den jededmaligen Umſtaͤnden vom fihenden Math Tagegelder zuge⸗ 
Ranben wurden. Kür einen Raths⸗Secretaͤr waren 500 Thaler Gehalt beftimmt. Auch 


Me Rathsherren follten ihr Amt nicht bloß Ehren halber befleiven; für fle war eine. 


Jährliche Entſchaͤdigung von 60 Thalern im fihenden und von 30 Thalern im ruhenden 
Math audgefept, und außerdem für jede Verfammlung ein Praͤſenzgeld von 16 Mark 
fm Heinen und von 32 Mark im großen Rath. Bei den bejonderen Deputationen 
wurde ein Präfenzgeld von 16 Marl gegeben. 

Es beſtanden 6 ordentliche Deputationen für dad Kirchen- und Schulwefen, für 
das Bupilienweien, für die PolizeiAngelegenbeiten, für die Sanitäts-, die Milttär- 
und für die Fabriken⸗ und Handelsſachen. Außerordentlich wurden, fo oft es die Um⸗ 
fände erforderten, zu auswärtigen umd Juſtiz⸗Sachen gleichfalls Deputationen ernannt, 

In den zwei erften ordentlichen Deputationen hatte der Kirchenrath, in der britten 
and vierten der PBolizeirath, in der fünften der commandirende Offizier, in der fechften 
das ältefte Mitglied, in den beiden außerordentlichen Deputationen ein Syndikus oder 
der Juſtizrath den Vortrag. Die Deputationen beftgnden fonft aus Mitgliedern bes 
Naths, des fihenden ſowohl als des ruhenden. Bur Sanitätd-Deputation infenderheit 
wurden außerdem zwei Aerzte berufen. Die Fabriken⸗ und Handeld » Deputation aber 
beſtand aus 4 Tuchfabrilanten, 2 Nadelfabrtkanten, 6 Kaufleuten, die im Großen Handel 
oder andere Gattungen von Fabriken als die von Tuch und Nadeln betrieben, nnter 
denen aber wenigftend ein Faͤrber und ein Weinhändler fein mußten. Diefe Mitglieder 
blieben zeitlebend. In befonderen Fällen Tonnte die Deputation felbit noch zwei We⸗ 
ber⸗ und Scheerenmeifter zuziehen. Jede dieſer Deputationen führte Ihre Gefchäfte auf 
Grund einer Inftenction. 

Zwar fand ed jedem Einwohner der Tatferlichen Reichsſtadt Aachen frei, über 
dasjenige, was ihm in dem Grundgeſetz noch Höherer Vollkommenheit fähig fehien, feine 
Meinung auch öffentlich mit der gehörigen Befcheidenhelt zu äußern. Da aber Feſtig⸗ 
Zeit einer beſtehenden Verfaflung ein größerer Bortbeil iſt, als öfterer Wechfel ſelbſt 
des Beſten, nnd nur die Erfahrung eine längeren Zeitraumes gegen die Täufchungen 
des Parteigeiftes und augenblidlicher Unbequemlichkeiten hinlänglich fichert und das 
Urthetl aber das wahre Gute und DVerbeflerliche einer Verfaffung reifen kann, fo wurbe 
verordnet, daß das erneuerte Grundgefeg — fünf und zwanzig Jahre lang durchaus 
and in allen Punkten unverändert bleiben follte.e Wären nach Ablauf diefer Frift 
Betbefferungen nothwendig geweſen und beliebt worden, fo follten Rath, Bürger-Auß- 
ſchuß und ein Drittel aller zünftigen Bürger feftfehen, ob alsdann vielleicht in einem 

3° 


‘ 


3 Ancyener Congreß. 


uoch längern Beitraum als fünf und zwanzig folgenden Jahren bie Verfaſſung unter 
ändert bleiben follte. . 

In dieſe Lage iſt indeß die Eaiferl. freie Reichsſtadt Aachen nicht gelommen. Nach 
der für die öfterreichifchen Waffen unglüdlich abgelaufenen Schlaht von Jemappes, 
6. November 1792, überfchwemmten die Franzoſen die öfterreichiichen Niederlande und 
drangen bis an den Mhein vor; am 16. December hatte Dumouriez, ihr Oberanführer, 
fein Hauptquartier in Aachen, während man am 22. deſſelben Monats in Regensburg 
beim Reichstage noch Beraihungen hielt und endlich zum Concluſum darüber Fam, wie 
viel Mannfchaften nem Reichsfeinde entgegen geftellt werben follten! 

Statt der alten guten Sitte, am erflen Tage ded Monats Mai auf dem mit 
jungen Mai-Bäumen ausgeſchmückten Rathhaufe, mit verfammeltem Math und mit Zus 
lafjung eines Jeden, feierlichen Sottesdienft und eine an den Math über feine Pflichten 
gerichtete Predigt halten zu laffen, tanzten und fprangen nunmehr Aachens freie 
"Meichöbürger wie befeflen um den Baum der Freiheit, den ihnen die neufränfifchen 


RKepublikaner vor dem uralten Stadthaufe aufgepflanzt Hatten, toll und voll des 





Schwindels für Verheißungen, die durch Dumouriez' Mund von Parid ber tönten: 
Abfhaffung aller Auflagen und Abgaben, Briebensbotfchaft und Botfchaft der Hälfe, 
der Brüderlichfeit, Freiheit und Gleichheit, der Volld-Souverainetät! Aachens Bürger 
haben jene Tollheiten arg büßen müflen. Der Friede von Luneville, 9. Februar 1801, 
vereinigte ſie flantörechtlih mit der — großen Nation! Der Briede von Paris, 
80. Mai 1814, löfte diefe Bande, mit denen, wer kann es läugnen? das jüngere Ges 
ſchlecht ſich ausgefühnt Hatte. 

Aachener Congreß. (1818, 30. Sept.— 21. Nov.) Die „fürmlihe Begrün, 
dung ber europäifchen Bentarchie" (W. Menzel) bildete den Gegenftand dieſes Con⸗ 
grefled. Die drei Monarchen der heiligen Allianz, König Friedrich Wilhelm IU., Kaifer 
Stanz und Kaifer Alexander J. waren auf ihm gegenwärtig, neben ihnen bie erften 
Staatsmaͤnner Europa’s, Wellington, Caſtlereagh, Canning, Hardenberg, Uler. Hum⸗ 
boldt, Bernflorff, Metternich, Capo d'Iſtria, Neſſelrode, Bozzo di Borgo, Alopaͤus und 
Fürſt Lieven; dazu eine Reihe untergeorbneter Staatömänner und Generale; endlich die 
Weltbanquiers Baring und Rothſchild, Publiciften wie Gent, die Kartenfchlägerin 
Lenormand, Nekromanten, Gauller und Buhlerinnen. Man fah ig dem Congreß eine Art 
Fortſetzung ded Wiener. Es handelte ſich darum, die neue Geftalt Europa’ zu vollenden, 
die Auönabmgftellung Frankreichs, der fünften Großmacht, aufhören zu machen. Schon, im 
April 1817 war ein Theil der Befagungdtruppen der Alliirten aus Frankreich abmarfchirt. 
Wellington, der an der Spige der Befagungsarmee (150,000 Mann) fland, war gegen 
ihre Beibehaltung. Daß Frankreich feine Zahlungen an die Allürten eingehalten, ſchien 
ein fehlagender Beweis des guten Zuflandes des Reichs, in dem vergebens die Königlich- 
gefinnten eine neue burchgreifende Organifation der Monarchie anftrebten und eben fo 
vergeblich auf die ungeheueren Gefahren binwiefen, Die Seltend der inneren Feinde 
Frankreichs drohten. (Vitrolles fchrieb in einer geheimen den Großmächten gewinmeten 
Denkichrift: „La rövolution oceupe tout jusqu’aux dernieres classes de Ja nalion...“) 
Die Sroßmächte waren nicht geneigt, die Eriftenz diefer Gefahren ganz zu läuguen, — 
ein Wort, das Gent kurz vor ver Eröffnung des Congreſſes ausſprach: „Die Der 
gangenheit efelt mich an und die Zukunft fürchte ih", laͤßt einen tiefen Blick in bie 
Stimmung der Machthaber, deren Feder nicht bloß, fondern deren denkender Kopf 
Gentz vielfah war, thun —, aber der Leichtfinn und das Vertrauen auf Die äußere 
Macht übermog die Bedenken derjenigen, melde die großen Schäden der Zeit von 
innen heilen wollten. Der erfte Miniſter Frankreichs ſelbſt, Herzog von Nichelieu, 
theilte dieſe Zuverficht, er hoffte viel von dem moralifchen Einprud, den die Räumung 
Frankteichs auf feine empfindlichen Landsleute machen würde, und am 1. October 
hatte ex bereitd von den Mächten dad Verſprechen fofortiger Räumung erreicht. Auch 
über den Heft der von Srankreich zu machenden Zahlungen verfländigte man fich fchnell, 
(dad Wohlmollen Kaifer Alexander's für Nichelieu, der in den Zeiten der franzöflfchen 
Revolution einer der oberften Beamten feiner Krone geweſen war, förderte die Unter⸗ 
bandlungen ehr) und am 7. October waren bie wichtigften Gegenflände der Thaͤtig⸗ 
keit des Congreſſes georbnet und wurden nun in Form befonderer Verträge Fraukreichs 


— — OA 


Aachener Friebenöthläfe: 3 


mit den einzelnen allitrten Höfen feſtgeſtellt. Frankreich ward am 9. October als fünfte 
Nacht in den Rath der europäifchen Großmächte aufgenommen; doch behielt man für 
die Gventualitäten einer neuen Gefährbung des europälfchen Friedens Die frühere 
Allianz der vier Mächte bei und beflimmte für dieſe Fälle die Beſatzungsrechte Eng⸗ 
lands und Preußend Hinfichtlih ver belgifchen Feſtungen. Nah Beendigung des 
Gongreffeß gingen König Friedrich Wilhelm und Kaifer Alerander felbft nach Paris, 
und bereit im November 1818 warb die vollfländige Räumung der franzöſtſchen 
Provinzen in’d Werk gefeht. Am 15. Rov. unterzeichneten die Bevollmächtigten der 
fünf Mächte ein von Geng .abgefaßtes PBrotocoll, welches im Geifte der heiligen Alltang 
die Srundfäge der Politik der Zukunft ausſprach und eine bleibende Vereinigung der 
Gropmäcdte „zur Aufrechterhaltung einer paix generale fondee sur le respect religieux 
pour les engagements consignes dans les trait&s, pour la totalit6 des droits qui en 
derivent* proclamirte. 

Der Aachener Eongreß erhält eine tiefteaurige Bedeutung für Deutfchland und 
die Welt durch das, was in feinen geheimen Bor- und Neben» Berathungen vorging. 
(Andeutungen darüber finden wir u. U. im Briefmechjel zwifchen Fr. Gent und Ab. 
Müller. Stuttgart. Cotta 1857.) Auf der einen Seite ftelte ſich dort in den Er⸗ 
Örterungen, welche über die Lage der europäifchen Finanzen zwifchen den Staatdmännern 
und den erftien Mäaͤchten der Faufmännifchen Welt (Rothſchild, Baring, Labouchere, Pas 
riſh, Delmar ıc.) gepflogen wurden, die Gefahr des herrichennen Geld⸗ und Credit 
fyſtens Flar beraus, „alle großen Staaten hatten fi ſchon damals einer unbefonnenen 
Ueberfpannung des Rentenſyſtems ſchuldig gemacht, und man konnte fich nicht wundern, 
wenn dad Geld die Menten nicht mehr bezwingen konnte, nachdem man Frankteich ges 
zwungen hatte, in ungefähr vier Monaten beinahe taufend Millionen neue Schuld 
papiere zu creiren.” (Gens ©. 267.) Einen Ausweg auß diefer fleigenden Verlegenheit 
Europa's ſah man nicht, und man wandte ſich Halb verzweifelt und halb Ieichtfinnige 
heiter von dem Anblid der Gefahr ab und verließ fi auf den Zufall. War man aber 
durchans nicht geneigt, Diefe wichtige und fundamentale Frage in ihrer Tiefe zu erörtern 
und von innen heraus zu loͤſen, fo kümmerte man fich noch viel weniger um bie 
übrigen Probleme ver flantlihen und nationalen Entwidelung. Wo der Volksgeiſt 
beftigere und unregelmäßigere Bewegungen zeigte und mit Gefahren zu drohen fchien, 
da wurde ihm gegenüber auf die Außerlichjten Mittel der Gewalt verwiefen. Ban 
begann fchon in Aachen Die Profecte zu erörtern, welche auf den fpäteren Congreſſen 
mit fo großem Beifall angenonmen wurden und die auf eine unbarmberjige Verſtuͤmme⸗ 
fung des beutfchen Geifteß abzieltn. Zwar war man im Mechte, ‚wenn man einzelne 
Seiten des herrſchenden Zuftande& tadelte und verurtheilte, aber wenn man darum das 

e Turnen ald ein „Ungeheuer“ anfab, wenn mau darum eine Gefammireform ber 
Univerfitäten und ihrer Disciplin für nothmendig erklärte, wenn man endlich den linter- 
thanen vie Ausficht auf fändifche Vertretungen abzufchneiden begann, fo überjchritt 
man in leichtfertigfter Unfenntnig der Tiefe und Meife der deutfchen Nation jeded vers 
nimftige Maß. Der Eindruck der damals eben erfchienenen Schrift des ruſſiſchen 
Staatsraths Stourbzn über den Zufland der deutſchen Univerfitäten, eine Schrift, welche 
in Deutfchland überall nur das Morgenzoth der Mevolution aufleuchten fieht, beherrſchte 
Die Stimmung der Congreßmaͤnner. Gens kommt burch dieſe Schrift auf ben Gm 
danken eined „neuen gründlichen Verbefierungsplans für Deutfchland*, aber der ehrliche 
Adam Müller erwiedert ihm herb und entjchieden: „Ihre Zufrienenheit mit der Stourbza- 
ſchen Piece Hegreife ich nicht. Das heiße ich an beiden Tifchen fehmaufen wollen, ven 
melancholifchen Ernft eines fich nach Gottes Ordnungen fehnennen Gemüthes und alle 
politiſche Leichtfertigkeit, allen fiöcalifchen Despotismus und alle unächte Humanität 
anfere® Jahrhunderts zufammenrühren." Und die VBerbefferungspläne und Polizei 
Speale der Diplomaten in's Auge faflend, ruft er traurig aus: „Kür Europa giebt es 
nichts als einen vernünftigen Feudalismus oder bodenloje Schulden- und Rentenfpfteme 
(endlich mit dem Schwinden aller Gultur verbunden), kein Drittes." (Briefwechjel 271). 

Aachener Friedensſchlüſſe. — Friede vom 2. Mai 1668 — Friede vom 18. Or 

1748. 


Der srfte Aachener Friede wurde (1668) gwifchen Rudmwig XIV, König vom 





begnügen. 


38 Yahen-Düffeihorieluhronher Chenbahn. 


Frankreich; und Karl U. (+ 1700), dem Tegten Habsburger in Spanien, geſchloffen. 
Obgleich Ludwig XIV. bei feiner Heirath mit Maria Thereſta, Tochter Philipp's IV. von 
Spanien, auf alle Känder der fpanifchen Monarchie verzichtet hatte, jo muchte er Doch 
nach Philipp’ Tode Anfpruch auf Die brabantifchen Fürftenthümer, indem er das dort 
bloß in einzelnen Städten für Private geltende Devolutions- oder Heimfallsrecht (wor⸗ 
nach den Töchtern erfter Ehe ein Erbrecht vor den Töchtern zweiter Che zuftand) will⸗ 
Fürlih für fich geltend machte und den Devolutionsfrieg (1665 — 1668) gegen bie 
unter der ſchwachen Regierung Karl’s 11. wehrloſen Niederlande begann, Schon Hatte 
er durch Turenne und Condé einen großen Theil von Flandern und Hemmegau erobert; 
auch die Freigrafichaft Burgund beſetzt, ald die Durch den holländifchen Rathspenſtonaͤr 
Joh. de Witt zu Stande gebrachte Triple-Allianz von England, Holland und Schwer 
den ihn nöthigte, den Frieden zu U. zu fchließen und einen Theil feines Haube 
herauszugeben und ſich mit Ryſſel (Lille) und eilf anderen belgiſchen Stäbten zu 


Der zweite Aachener Friede (1748) wurde zwiſchen ber Kaiferin Maria Thereſta 
von Defterreih und den legten Gegnern der pragmatifchen Sanction geſchloſſen amd 
beendete den boſterr. Erbfolgefrieg (1741-1748), welcher durch Die Anfpräche des Kure 
fürften Karl Albrecht von Bayern auf die von Maria Therefia 1740 angetretene öſterr. 
Erbſchaft angefacht wurde. Die lange Linie der Feinde, welche gegen Naria Thereſta 
aufgeflanden war, verkürzte fich indefien im Laufe dieſes Krieged immer mehr. Friedrich 
dee Große machte nach den beiden glücklichen ſchleſtſchen Kriegen 1745 zu. Dresben 
Friede, eben dort zu gleicher Zeit Kusfürft Mar Iofepb, der Sohn Kaifer Karls VII: 
(Rurfürften Karl Albrecht von Baiern); Spanien batte ebenfalls fchon Den Krieg im 
Italien gegen Defterreich aufgegeben, und fo hatte Marla Therefla ſchließlich nur nach 
mit den Franzoſen in den öfterreichtichen Niederlanden zu fchaffen, die allerdings unter 
ihrem tapferen Führer, dem Marſchall Morig von Sachfen, den verbündeten Oeſter⸗ 
zeichern und Engländern genug zu fchaffen machten. Das Herannahen eines rufftfchen 
Heeres unter Repnin, welches die Katferin Elifabeth der Kaiferin Maria Therefta zur 
Külfe fandte, bewog indeß Frankreich, deſſen Politik in den fchlaffen und unreinen 
Händen Ludwig’ XV. lag, zum Frieden. Es wurden in biefem zweiten Aachener Fries 
ben alle früheren Sriedensjchlüfle mit den einzelnen Gegnern Oeſterreichs und bie Ga 
rantie der pragmatifchen Sanction beftätigt und der Beſitzftand ber Mächte, wie er 
vor ausgebrochenem Kriege geweien, im Allgemeinen zur Grundlage des Friedens bes 
fimmt. Frankteich gab außerdem feine nieberländifchen Eroberungen wieder heraus; 
Sardinien bebtelt die während des Krieges abgetretenen mailändifhen Plage; Barmm, 
Piacenza und Guaftalla wurden an den fp. Infanten Philipp, Eliſabeth's zweiten 
Sohn, unter gewiſſem Vorbehalt des Rückfalls an DOefterreich, abgetreten; Preußen 
ward der Beſitz von Schleflen und der Grafſchaft Glatz garantirt, England der Afitento> 
Tractat (nach welchem die englifche SüpferEompagnie ausfchließlih zum Solavenhan⸗ 
del nach dem fpan. Amerika berechtigt war) für vier Jahre von Neuem beflätigt und 
Dünlirchene Befeſtigung von der Landſeite gewährt, ‚dagegen der englifche Kron » Bräs 
tendent Eduard aus Frankreich verwiefen. Vorzugsweiſe buch Die Bemühungen des 
Minifters Kaunitz kam Oefterreih mit fehr geringen Opfern weg, während Englaudb 
trotz feiner glänzenden Seeflege ohne fonderlichen Gewinn mit einer zu SO Mi. Pf. St. 
gefteigerten Schuldenlaft aus dem Kriege ſchied. 

Aaden- Däffelborf» Auhrorter Eiſenbahn. Die Einladung zur Bildung einer 
Geſellſchaft zum Bau diefer Bahn erfolgte am 17. März 1844, die Genehmigung. bes 
Gtaats und die Beflätigung der Statuten am 15. September 1845 und beziehentlich 
am 21. Auguft 1846 unter der Birma Aachen» Düffelvorfer Eiſenbahn⸗Geſellſchaft. 
Eröffnet wurbe Die ganze Bahn in einer Ränge von 117 Meilen mit einem Geleife 
am 17. Sanuar 1853. Das urfprüngliche Anlagecapital war auf 4,000,000 Xhle. 
veranſchlagt und wurde durch Actien A 200 Thlr. aufgebracht, Zu dieſem Anlage 
Capital find fpäter noch drei Prioritdätd-Anleihen vor 1,600,000 Thlr., 1,500,000 The. 
in Actien A 200 Thle. gu 4 pCt. und 850,000 Thlr. in deugl; Actien zu: 41, pCt. 

ekommen, fo daß fi das ganze Anlagecapital auf 7,950,000 Thlr. befduft. Zw 
ostifation jener Aetien ift pCt. nebft dem erſpart werbenden Zinſen beftimmt. — 


Anhen-Meftr. Gifenk:: Aachen Wänd.:Gemmieräcerungs-Beichid. I 


Yai -Yahre 1848 ⸗hat der Saat eine Zinsgarantie von 3/, pt. für das Ictimcapisel 
kberusmmen.,, woflr ihm bie Bollendung und dann Die Verwaltung und ber Betrieb 
ber Dad füz immer überlaffen worden iſt. Legtere beine befinden fi in den Händen 
ber Zimigl. Directien ber „Aachen - Düflelanrf» Ruhrorter Eifenbahn in Aachen”, neben 
welcher eine von der Gefellichaft gewählte Deputation von 5 Mitgliedern und 5 Stell⸗ 
vertretern mit der Befuguiß beftebt, jährli; im Auguſt eine Generalvesfaunlung ein- 
zuberufen. Zur Bildung des Reſervefonds wird nach Deckung aller dad Unternehmen 
beiaftenden Ausgaben 1 p&t. des Anlagerapitald verwendet. Die vom Staate garan- 
tieten 8%, pCt. Binjen werben halbjährlich und zwar am 2. Ianuar und 1. Juli jeben 
Yahres,; Die über 3%, pt. etwa auffommende Dividende aber nach Ablegung der jähr- 
lichen Betriebsredmung gezahlt. Frequenz und Einnahme ſind in den letzten Jahren 
im Steigen begriffen geweſen. 
WMachen⸗Maſtrichter Eiſenbahn. Sie ift 438 Meilen lang, wovon jedoch nur 
1,, Reiten auf das preußifche Gebiet kommen. Am 1. October 1856 fchlofien ſich 
ige am die Sirede Maftricht- Haffjelt, in einer Länge von 3,4 Meilen, und die 
Gerede Haffeli«Lunden, durch Betriebs - Uebernahme in einer Ränge von d,raı 
Meilen; fo daß ſeitdem die ganze Betriebölänge der Aachen - Maftrihter Bahn 12,, 
Meiten beisägt. Das Sefammi-Anlagerapital beläuft fich auf 5,550,080 Thlr., in welcher - 
Summe nur 2,750,000 Ahlr. urfprüngliches Actiemcapital in Actien zu 200 Tble. eu 
halten if. Der Heft iſt duvrch wieberholte Prieritätd - Anleihen aufgebracht. 
ener Feuerverſicherungs⸗Geſellſchaft. Diefslbe zählt zu den Actien⸗ 
Gefchtgeften und wurde im Jahre 1825 mit einem Actiencapitale von 1 Mill. Thaler, 
geheilt in 1000 Actien, jede zu 1000 Thalern, in Aachen gegrimbet, wo fle ihren 
Hanptig nahm. Auf jede Aetie find 20 Procent baar eingezehlt, eine Nachſchuß⸗ 
zahlung aber nod) niemals eingefowwert morben. Nach dem Gamburger Braude (1842) 
vermehrte fie dad Arctiencapital auf 3 Mill. Thaler. Bis zum Jahre 1834 waren von 
der erſten Actien⸗Eemiſſion noch 260 Stück unbegeben; man trug fie der k. bayerſchen 
Wegierung an, und biefe übernahm fie zum Nennwerthe, wogegen bie Gaſellſchaft Die 
Mechte einer inländiſchen Auftalt erhielt und feit dieſer Zeit den Namen Aachen 
Minchener 5.2... führt. . Statutmäßig darf nur Die eine Gewinnhaͤlfte an bie 
Ychionäre veriheilt und die andere mnf zu gemeinnützigen Zwecken verwendet werben. 
Aus dieſer Gewinnrate entſtand 1834 der „DBerein zur Beförderung Der 
Ucbeit*. in Aachen; fpäterhin wurde die jährliche Gewinnhälfte. bis auf Beute zur 
Auſchaffung uud Berbeilerung der Yeuerlöfch - Anftalten au ſolche Commmen bed In⸗ 
und Auslandes vertbeilt, wo die Gefellfchaft viel Gefchäfte macht. Mit Ausnahme 
Seſterreichs if die Anflalt in allen deutſchen Länbern vertreten und genießt in ben 
meiſten durch bie den Behörden zur Verfügung geftellten. Summen aus ber Gewinn⸗ 
Gälfte ganz beſondere Vorrechte. Diefem Umſtande, fo wie ihrer gefchicten und politi⸗ 
ſchen Bermaltung überhaupt, ift es beizumeſſen, daß fie die hervorragendſte Stelle 
unter alten übrigen Üenerverficherungd « Gefellfchaften einnimmt, mie fie denn über 
beupt--Tein erlaubtes Mittel fcheut, fich Macht und Ansehen zu verfchaffen. An der 
Spige der Berwaltung ſteht ein aus 5 Actionären gebilveter Dirertorislratd und ein 
eben :fo. ſtarkes Directoxium; die ſpecielle Reitung der Gefchäfte beſorgt ein General 
Agent; der jegige ift Der Hofrath Brüggemann. Gegenfland der Verſicherung iſt alles 
bewegliche Eigentum mit Ausſchluß von Schießpulver, dergleichen Fabriken, Theer⸗ 
kochereien, Schauſpielhaͤuſern, Dorumenten, Gold⸗ und Silberbarsen, Edelſteinen, aͤchten 
Berlm und Golb, und da, wo es die Landesgeſetze geſtatten, verſichert die Geſellſchaft 
a Zumobilien. Bach dem Iepten Mechnungs⸗Abſchluſſe Ende 1856 betrug bie lau⸗ 
Gesine. Berficherungsfumme 792,307,555 Ihle. und Die im Jahre 1856 eingenommenen 
Peisnien: Maufpreid der Verſicherung) 1,499,077 Thlr. Die bezahlten Brandſchaͤden, 
Dermaliungsloften nad Midverficherungs - Prämien. (f. Nüdverfi ) nahmen bie 
Sumnu vom. 1,164,696 Thle. in Anſpriech, und der Jahresgewinn nebſt Zinfen flellte 
Sau 432,009 Ihe. Die Aetionäre erhielten Davon 216,000 Thlre. oder 72 Ihn 
zuo ‚Ace, uud 216.000 Thle. wurden zu gemeinnügigen Zwecken verwendet. Die 
Fe »00 1857. auf die Iawfenden Verſichreungen hettug 1,865,028 Ihle 
u ir.ↄi. Mehnigens -Ininen die Mechnungs·Abſchlufſe diefer Geſellſchaft fahr an Epetialb 














% .Aachenhal. Anden. 


täten, was gleichen Tadel, wie ihr Syſtem der Gewinnvertheilung, verdient, beun bi 
andere Gejellfihaften ihren Actionären bei voller Austheilung bes jährlichen Gewinnes 
nicht höhere, wohl aber in der Negel nur niedrigere Dividenden zahlen konnen, fo Liegt 
e8 auf dee Hand, daß dieſe um fo höhere Prämien nehmen muß amd bie Bexficherten 
darunter leiden. 
Aachenthal, ein romantiſches, ſowohl von Reifenden aberhaupt, als auch ven 
Mineralogen und, Baläontologen insbefondere häufig befuchtes Thal, welches mit feinen 
"Berzmeigungen deir norböftlichen Winkel der dflerr. gefürfteten Graffchaft Tirol bildet, 
eingsum von fehr hohen Bergkoloffen umſtanden ift und am linken Ufer bes Ian 
bet Innbach in dieſes Hauptthal des Landes ausmündet. Diefed Thal beherbergt den 
4750 Klafter langen und 300 Fuß tiefen See gleiche Namens, der: 2067, nach An⸗ 
deren 2907 oder wenigftens 2886 Fuß abfoluter Höhe hat. 
Aalborg, Stadt und Hauptort des gleichnamigen bänifchen Stifte, welches den 
ſeit 1825 zu einer Infel gewordenen nörblichften Theil von Jütland begreift. Sie 
- biegt am Lymfiord, nach dem Kattegat zu, füblih und 12 Meilen vom Borgebirge 
Skagen, iſt der Sit eines (lutheriſchen) Bischofs und eines Stiftsamtmannes, welcher 
Letztere das biefige alte Fönigliche Schloß Aalborgbuus bewohnt, bat eine Maviga⸗ 
tions» und. eine ausgezeichnete gelehrte Schule, eine Börfe, Leber-, Zuder- und Tabaks⸗ 
Babriken, treibt Handel, befonders mit Getreide und Heringen, ſodann Schifffahet it 
mehr ald 100 eigenen Seefahrzeugen und bat 8300 Einwohner. Ä 
: len, Stadt im Königreih Württemberg, am Kocher, da wo das Thal Diefes 
Fluffes den Steilabfall der ſchwaͤbiſchen Alb durchbricht und dieſer Bergzug bie Son⸗ 
desnamen bed Aalbuchs und Härtfeldes trägt. Malen war eine ber 31 freien Heid 
fiadte im fdmeäbifchen Kreife des deutſchen Reichs, zwifchen den Gebisten der gefür⸗ 
fleten Propftei Elwangen und der Reichsſtadt Gmünd. Ein Graf von Dettingen, 
dem die Stadt gehörte, foll fie an den Grafen Eberhard zu Württemberg für 20,000 
Gulden verpfändet, dieſem aber im Sabre 1380 Kaifer Karl IV. ſte eingelöft un’ ans 
Reich erkauft haben, bei welchem fle zu erhalten die Kaifer Wenzel 1387 und Rus 
precht 1401 feierlich angelobten. Seit der Zeit bat Aalen beinah fünftehalb Jahr⸗ 
hunderte feine NeichBunmtttelbarkeit behauptet. Im Beitalter der Kirchmverbefierung - 
führten Bürger und Obrigkeit Die evangelifche Lehre bei fi ein. Auf dem Reichstage 
Hatte Aalen unter den Reichsſtaädten her fchmäbifchen Bank die.35., beim ſchwaͤbiſchen 
Keeife aber unter feinen Genofien die 26. Stelle. Der Reichs⸗ und Kreis⸗Matrikular⸗ 
Anſchlag dieſer Reichsſtadt war 1728 auf 38 Fl. gefeht worden, nachdem er ehedeffen 
60 1. betragen hatte. Zu einem Kammerziele gab fie 18 Fi. 56%, Kr.; und von 
ihrem Stadtſchultheißen⸗Amte entrichtete fie jährlich 10 FE in das Waibel- Amt der 
Reichs⸗Landvogtei Altorf. Zu ihrem Gebiete, das ſich am Fuß der Alb auf ungefähr 
1%, Meilen in der Länge und Y, Meile in der Breite ausdehnte, gehörten die Wei⸗ 
ler Ober- und Unter⸗Rombach, Hammerſtadt, Rothenberg und Klein-Suweblingen. Wie 
fat in allen den kleinen fchmäbifchen Meichöftänten, war die Berfaffung von Aulen 
dem Hechte nach eine demokratiſche Republik, Die aber in der That fich zu einer Oli⸗ 
garchie ausgebildet hatte. | 
AB nachdem Luneviller Frieden, 1801, Deutſchland die Schmach erichen und 
erdulden mußte, daß ein repwblitanifcher Conful und ein abfoluter Autofrat Eurapa!d 
fi zufammenthaten, um den beutfchen GErbfürften durch die berüchtigte Declaration 
vom 8. Auguft 1802 zu befehlen, wie fle die gute Beute ver geiftlichen Lauer 
und der Meichöftänte unter fich theilen follten, da gehörte, im Meidy6 + Deyutationd- 
Hauptſchluß vom 25. Februar 1803, die Reichsſtadt Aalen mit zu dem Looſe dee 
Herzogs Friedrich Wilhelm zu Württemberg ($ 6 des Meceffes), dem überdem gleich⸗ 
zeitig Die fo fehnlichft erwünfchte Ehre zn Theil wurde, mit Dem Kurfürſtenhut bekleidet 
zu werben ($ 31 des Receſſes), ver aber dem ehrgeizigen Fürften auch nicht genügte; 
zwei Jahre. Später ſetzte er fid Die Königskrone aufs Haupt und legte ſich die vol» 
len Souderainetätörechte bei, „ohne jedoch aufzuhören, ein Glied des dentfchen Buntes 
(cenföderation ‘germanique) zu fein“, wie ed in der betreffenden Urkunde hieß (Prebs 
durger Wiebe; 26. December 1805, Art. 7). Welche Verwirrung ber Begriffe! Gabe 
venn 4805. ſchon einen veutichen Bump? Schon in Preoburg wurde das deutſche 


Ser. Aargan. u- 


il; zu den Tobten geſchrieben und ber deutſche Kaiſer feiner Gewalt beraubt, ein Tab 
Yahr ſpaͤter erfolgte des veutichen Reiches gänzliche Auflöfung; es konnte und bwrfet 
auf Erden nur Gin Mei; geben — l’Empire franzais de la grande nation, mit eitwm 
Buonayırte als Gänptling an der Spige!! 

Aalen if der Sit eines koͤniglich wirttembergifchen Ober⸗ Amtmanns, der unter 
Regierung bed Jaxtkreiſes zu Elwangen flieht. Seine 3000 Einwohner find von 
Zeiten ber fehr gemerbfleißig, wie das in allen Reichöfläbten, gegen und kleinen, 

; fie waren bie eigentlichen Träger der technifchen Iupäflrie in Deutſch⸗ 
die einzigen den kleineren unb Eleinen Fürſten⸗Ländern gegenüber, in deren 
man nur für Hofleben, Kofbaltung und Regierungs⸗Maſchinen alter Art 
Zeit hatte. Die Hauptthätigleit der alten Reichsſtädter von Aulen bewegt 

Wollarbeiten, infonderheit Bandfabrikation, Rothgerberri. Bon befonderer 
igleit in der Reihe zonenartig am Steilabbang ber Alb hervortretenden Jura⸗ 
find der Ciſenſandſtein und der Eiſenrogenſtein, die ari vielen Orten, beſon⸗ 
Derd aber bei Aalen, auch bei dem nahgelegmen WWafferalfingen, zu bedeutendem Berges 
baur und Gifenbättenbetrieb Beranlafjung gegeben Haben. 

Aar, Die, ein Rebenfluß des obern Rheins, der fie zwiſchen Schaffbaufen und 
Bafel linie aufnimmt. Sie entſteht aus drei Quellen am obern Aargletſcher in ven 
Berner Algen, durchfließt das Haslithal, wo fie bei der Senhutte Handeck den 200 Yuß 
hohen Aarfall bildet, bildet. ferner den Brienzer und ben Thuner Ser, und Ihre Fluß⸗ 
länge beträgt, vermdge des gefränmten Laufed Durch die Kantone Bern, Solothurn 
und Yargan, 40 WMeilm. Ihre Nebenfläfie find zechts: die Große Emmen. (vom 
den Bierwalbftädter Alpen kommend und unterhalb Solothurns nıindend), die Wigger 
(auf dem. Napfberge entfpringend und bei Aarburg mündend), Die Suren (kommt aus 
dem Sempacher See und mündet bei Aarau), die Neuß (entſteht durch zwei‘ Quell⸗ 
fiäfle auf dem St. Gotthards⸗Gebirge und der Furka, durchfließt das Urferem Thal, uns 
Urmerlod und den Bierwalsflänter See und mimdet bei Brugg im Canton Aargau) 
und die Limmat (fer kommt ans dem Zäricher See und hat ihre Mündung diche 
unterhalb derjenigen der Reuß); — links verftärkt fich die Aar vorwehmlich durch ne 
Saane (fle fommt von ben Gletfchern des Sanetſch, durchfließt die Gantone Vern, 
Waadt und Freiburg und ergießt fich unterhalb der Stadt Bern, nach einem Laufe von 
16 Meilen, in die Aar), außerdem durch Die Zieh! (Mbfluß des Neuenburger nd 
dann des Dieler See'd). — Andere Flüffe dieſes Namens find 1) Aar oder Ahr in ber 
preußifchen Rheinpresinz (ſ. Ahr), 2) die Aar, welche in bie Lahn, und 3) die Aar, 
weiche in die Dille fallt, beide in Naffau, 4) die Aar, in Walde, welche in bie 
Twiſte fällt. 

Aarau, Hauptſtadt des Cantons Aargau, Sig der Behörden, mit 5500 mei 
reformirten Einwohnern, liegt an der Aar, über welche bier eine herrliche Ketienbrüde 
führt, dem fifchreichen Sußbache und den Abhängen des Jura, etwa 1100 Fuß über 
der Meeresflähe. Sie Hat Fabriken in Eifen, Seide und Baumwolle, ein bläahendes 
Gymnaſtum umd eine nicht unbedeutende Gantond » Bibliothel mit der Sammlung Des 
Generals Zurlauben und zahlreichen für die fehmeizerifche Gefchidte merkwürdigen Ma 
aufceipten. Um bie im. 11. Jahrhundert vom Grafen Rohr erbaute Burg erhob. ſich 
aktmählich Die Stadt, Die fpäter an die Srafen von Habsburg kam und bis zur Er 
oberung durch die Berner 1315 bei DOefterreich blieb. Am 9. und 11. Auguft murbe 
daſelbſt der den Toggenburger Krieg endende Frieden gefchloffen. Während der fran- 
zöftfehen Gerrichaft war Aarau für kurze Zeit Hauptſtadt der Cidgenoſſenſchaft. Ia 
Aarau wohnte und bichtete in feinem Hanfe zur Blumenhalde Heinrich Iſchokke, ver 
bekannte Novelliſt. 
‚ &anton der fchmweizerifchen Eingenoffenfchaft, an der Grenze Deutſchlands 
gelegen, ein burch die Ausläufer des Ima gebilvetes Hügelland mit breiten Thaͤlern 


—A 
3 — 


— 


AUnd vielen Hochebenen, waldreich und fruchtbar, einer der geſegnetſten Cantone ber 


Scahweiz, deſſen Tultur fchon zu Romerzeiten begrüundet warb, enthält auf 24 :Quabrab 
Meilen eine Beoblkerung von 200,000 Einwohnern, von denen etwas mehr ala bie 
HSatfte Reforminte find, In zwei Dinfern (Endingen und. Yongnan) wohnen Jude, 
2408 au des Zahl, welche aber auf dieſs Wohnfige beffminft find: und Rantöbinger 





4 
ur a [ y ” 1 
12 rar Aargau. San 


She Nechte nicht genichen. Die. Einwohner Hefdheiftigen::firh ı:zummift: ımik Ackerbaut, 
daneben (nicht. bloß in ihren eilf Stäbten, fonbern auch auf dem Lande) mit Leinewand⸗ 
wur Baumwollen-abribntion und Strohfleckterei. In dieſent Ganton, in dem Winkel 
zwifchen Uar, Neuß und Limmat, gründeten bie Roͤmer eines ihrer Guuphvafienpläße 
in -Densfchlann; hier au der Reuß lag die große berkhmte roömiſche Feſte Binponifla 
dest Dorf Windiſch); im naächſter Nähe von Winbifch erheben ſich Die Trümmer Der 
Burg Al⸗Habsbuwg, von der eine zweite Weltmacht audging. Auf dem feiten Schioffe 
bes Baden, dem noch heut wie zur Romerzeit berühmten heißen Schwefelbade in biefen 
Fantone, refldirten die Öfterreichifchen Gerzoge oft. Bon biefem Schlefje, „ver Stein* 
gengent, war Kaiſer Albrecht I. eben herabgeritten, als er (hei Windiſch 1808) ‚von 
feinem Neffen Iohann (Barriciva) ermordet warb. 
v. Der Bnuton Aarau ift aus Drei verfihiebenen Gebieten entftanen:, dem digeni 
lichen Aargau, ver: zu Dern gehörte, Baden und den Kreiämtern, bie ebenfalld zu au⸗ 
deren Gentonen im Unterthanenverhaͤltniß ſtanden, und dem Frickthal, das bid zum 
LAmeviller Frisden .öflerreichiich war.- Der Einbruch der Franzoſen in Die Schweiz (17083, 
welchen es durch die revolutionären Bewegungen im Lande möglich gemacht wurde, Pardei 
gu nehmen und dadurch in der Eingenofienfchaft Boden zu gewinnen, zerftörte Die uralte 
Berfaflung, ‚welche eine außerordentliche, zu Aarau 27. Dechr. 1797 aufammengesufene 
Angedfapung in ohmmächtiger Begeiferung noch einmal — baſchworen hatte, Benz 
parte ſtand ald Dietator bereitd im Hintergrunde aller Bewegungen, „der Schatz von 
Bern .follte die nöthigen Belpmittel zur Eroberung bed uralten Landes ver Pyramiden 
Mefeeng noch - lange nachher ſah man Müngen mit dem Bären an den Ufern des MH 
im Umlauf“ (Monnard, Schweizerbilder, 1855. Elberfeld, Friedrichs, ©. 189), außer 
dem Tammte der Corſe die Bedentung der Alpen für die Sicherheit und Macht Krank 
weicht zu gut. Nachdem es ihm gelungen, die Schweiz innerlich aufzulöfen, berief em, 
Sen erſte Conſul der franzöftfchen Republik, eine heivetiiche Conſulta zu ſich nach Paris. 
Miemals bot eine Berfammlung von Schweigen einen klaͤglicheren Anblick, „ed: war 
micht mehr bie Zeit, wo die fahmeizerifchen Abgeordneten, zur Tufe ber Tochter Heime 
vrich'a Il. eingeladen, ald gute und ſtolze Gevattern den glänzenden Geremeonien des Hofes bei⸗ 
wohnten.” (Monnard S. 261.) Ste fügten fi ohne Weitered dem nemen VBerfaflungd- 
gefeße, das der Eroberer ihnen dictirte, und Aargau. warb einer: der neuen Cantane. 
Jener Impuls, der von Bonaparte zu Barid der Schweiz gegeben warb, ‚wirkte in-allen 
mweitesen Bewegungen derfelben bis auf den heutigen Tag nach, ihre Entwidelung:- iſt 
nur and: dem revolutionären Urfprung ihrer neuen Gehalt, aus der revolutionaren 
Mieberwerfung ihrer alten Verfaſſung zu erklären. Aaran erhielt eine demokratiſche 
Mepräjentativ » Berfaffung; nach Napoleon’8 Sturz verfuchte man ohne großen Grfelg 
eine Meuction gegen den Radicalismus; die Parifer Juli⸗Revolution gab den alten 
feanzöfifchen Einflüffen neue Bebeutung; am 6. December 1830 Tam «8 im Aargau 
zu einem Aufftande, in deſſen Folge am 15. April 1831 durch einen von fämmilichen 
ürgern unmittelbar gewählten DBerfaflungsrath eine nme Conſtitution entworfen 
mb bald darauf von den Mebrheiten aller Urverſammlungen angenommen ward. Die 
Kakhotiken hatten, wie dies in ben meiften Ländern zur Zeit. ver Julie⸗Redolutien 
geſchuh, die. Bewegung lebhaft geförbert und dafür au den Vortheil geerntet,. daß 
ifmen, obgleich fte im Canton an Zahl geringer waren als die Reformirten, vallſtan⸗ 
dige Barität in Bezug auf bie Zahl der Abgeordneten ıc., ja ſogar auch Die Vertretung 
beider Belenntniffe in der hoͤchſten Gantonal- Behörde verbürgt wurbe. Uber nur. zu 
bald mußten die Katholiken den Unſegen eines ſolcher Geſtalt errungenen Vortheils 
erfahren. Abgeordnete aus ſieben Cantonen (darumter auch Aargan) vereinigten ſich 
zu den Badener Conferenzbeſchlüſſen, zur Conſtituirung einer katholiſchen Landestlirche 
Dayfi Gregor XVI. verdammte dieſe Beſchlüſſe. Die Regierung von Vergau hielt 
deſſen ungeachtet daran feſt, und Die katholiſchen Gemeindan Aargau's, Merk, und: Vramj⸗ 
gerten, ſtanden gegen ſie, indeß ohne Erfolg, auf. Die: Folge mar, daß die Refer⸗ 
——— — die Paritat wicht weiter anetkennen wollten und. dab .am-5.: Saumpr 
16423. eine neue Conſtitution, welche die Wahlen Ana Der Kopfzahl anorenete, im 
wer wefogmirten und katholiſchen Mejerität in Dem Urnerfammlungen angenommen rl. 
Derauf nener von ben: Albfierm genährier uns. geſſtützter⸗Aufrachr her kathaliſchen · de 


— — — 


Aarhuus Abach. 9 


zirke, deren Reicorpo bei Vilmergen gefchlagen werden. Die. egiebuug hebt Darauf 
Die reichen Kloͤſter des Aargan's, weil fe ein Heerd der Revolten feien, auf und oge« 
ſascirt ihre Guͤter im Betrage von 5 Millionen. Der päpftliche Nuntius im: Schragg 
Legt fofert feierlichen Widerſpruch ein; ber üflerreichifche Geſandte, Genf von Bom— 
belle, macht im Ramen feines Heren, ala Abfömmlings des Stifters von Kloſter 
Muri und erblichen Schutzoogts Diefed Stifted, Die Megierung von Margau für jene 
Beichübigung ber. en ꝛe. verantwortlich: Fürſt Metternich fordert in siner Note 
vom 27. Februar 1841 Die Wiederherflellung. der Klöſter. Der Artikel des Bunbes« 
vertrages, welcher alle Kldfter der Schweiz garantirte, war zwetſeldohne verlegt, mehrere 
Gantone erkannten dad auf der Tagesfagung ausdrücklich au und‘ forderten: ebenfalis 
Wiederherſtellung der Klöfter. Uber nachdem drei Tagebſatzungen darüber zw keinem 
Veſchluß Hatten kommen Tonnen und endlich ber große Rath von Aargau ſich erboth, 
vter Nonnenkloͤſter wieder herauszugeben, erklärte die Mehrheit der Tagesſathung -(Akı 
Auguſt 1843) den Handel für geſchlichtet. Die Revolution Lonnte fernerhin auf Mar⸗ 
gan zählen, es ſtand in den vorderſten Reihen der radicalen Reformer and Die Agt⸗ 
—* auf dem Gebiete feiner Berfaffung kam deshalb niemals zur Ruhe. Freigewaͤhlte 
Berfaffungsräthe arbeiteten immer wieder neue Conſtituttonen aus sumb endlich gelang 
es ihnen 1852 (22. Febr.), ein neues Grundgeſetz in den Urverſammlungen durchzu⸗ 
Dad Boll in den Urverſammlungen (im Ganzen: ungefähr 36,000 Stumm⸗ 
berechtigte) erhält dadurch noch größere Macht, es ann durch divecte Stimmgebemg 
foger die nur auf vier Jahre gewählten gefeßgebenden Behörben abſetzen. Die Ben 
fefung des Cantons Aargau beficht demgemäß aus. einem großen Math, zuſammen⸗ 
gefegt aus 260 Mitgliedern, welcher vom Volke in 48 Urverfammlungen auf vier 
ef gewählt wird. Er ernennt auß feiner Mitte den kleinen Rath, die eigend⸗ 
liche Regierung, aus fieben Mürmern beſtehend, aus allen Stuatöhürgern fichen Mib⸗ 
glieder des Obergerihts und die Beamten ber 11 Berufe (Die Gerithtöven 
faffung if fehr mangelhaft, ein Gaffationsgericht fehl.) Alle diefe Menerungen, In 
benen ſich bie Theorien ber ungemeſſenſten Demokratie erfüllen, haben aber doch daB 
Bolk noch nicht zufeieden geftellt, und nach Befriedigung akfer politifchen Wunſche iM 
mar dahin gelommen anzuerkennen, daß fie bei dem. Borkandenfein ſocialer Uebelftäude 
wenig Bebrutung hätten. Die Regierung fuchte Die indirecten Steuern. "ganz. zu befeitigen 
wu es gelang dies .auch in den meiften Büllen, aber eine nene Steuergeſetzgebung, weidhe 
Directe Steuern feftfeßt, konnte man noch nicht zu Ende führen. Das- Budget von 1858 
wieß neben einer Ginnahme von 1,700,000 Fr. ein Deficit von 150,000 Ir. nuch. 
Aarhmus, Stadt und Hauptort des gleichnamigen daͤniſchen Stift, weiches den⸗ 
jenigen Theil Jütlands begreift, ‘der zwiſchen dem -Kattegat und bem. (den mitilewen 
inneren Theil von Jutland umfaflenden) Stifte Wiborg liegt. Die Stadt felbft Imegt 
an Ratieget, fünlih und 14 Meilen von Aalborg, ift der Sig eines (Iuther.) Bifgufs 
und eines Stiftdamtmanned, und hat 3 Kirchen (worunter. Die 1201 ‚gegründete fehend« 
werthe Domkirche mit geſchichtlich merkwürdigen Grabmälern), eine Domſchule oder 
Gyamaflum, eine Miſſions⸗ und Tractat⸗Geſellſchaft, Handſchuh⸗, Tabaks⸗ und ander⸗ 
Fabriken, große St. Olufsmeſſe (pie namentlich auch von Kopenhagener. Kaufleuten 
beſucht wird), Schifffahrt (zum Theil mit eigenen Schiffen), Seien, Nebesfabrt nach 
Kallandborg auf Seeland und 7350 Einwohner. 

Herde, eine im Kleinen Belt liegende ſchleswigſche Inſel, welche poear zur einem 
geringen Umfang, aber fehr fruchtbaren Boden hat und beren Vewohner von Ackerbau, 
der Schifffahrt und Bifdherei leben. Ste ift nicht mit der. fünlich und: 5 Meilen von 
ige entfernt liegenden und welt :geößeren Imfel Aeroͤe oder Arrde (die übrigens ebene 
falts zu Schleäwig gehört) zu vermechfeln. 

„Marktflecken an der Donau im bayeriſchen Kreife: Nienen« Bayer. im- 
Regenorurg, mit 600 Einwohnern. In der Nähe das A. Wildbad mit Falter, eiſen 
haltiger Schwefel⸗Quelle, welche zum Baden bei Lähmungen, Gicht, Rheumutienen, 
Gautandfchlägen aec. Bmupt werd. Bei A. in ber. nach ihm benannten Heinriekuuk 
werd Kaiſer Heinrich III. geboren. Am Id April 1809 fand. bier ein Gefecht zwiſchen 
ben Deſterreichern unter Ezperzog Karl und > den Gomzefin u une  Denonfi ſtatty was 
fü legtere ‚günftig ausſtel. Min. Liest 

















7% Abaelarbus. 


Maclarhuß iſt der Zuhame, welcher dem groͤßten unter ben franzoſiſchen Scho⸗ 
laſtikern beigelegt worden iſt, wie die Einen meinen, wegen ſeines Bienenfleißes, nach 
Andern in Folge eines Scherzes, den ſein ungeduldiger Lehrer in der Arithmetik in 
mittelalterlichem Latein über ihn gemacht hatte. Sein Vorname iſt Pierre, und er fl 
1079 als Sohn des Herrn von Palais (Palatium) geboren (daher P. P. Petrus Pa- 
katinus). Obgleich zum Kriegsdienſt beflimmt, folfte er doch das trinium durchmachen. 
Diefes (die Grammatik, Dialektik und Rhetorik) feffelte ihn fo, daß er dem Waffenhund⸗ 
werk entſagte und fich dieſen Theilen der Philofophie widmete. (Daher zu jenen noch 
einmal P. P., d. h. Philosophus Peripateticus.) In feinem 20. Jahr kam er zu dem 
berühmteften Dinlebtiter feiner Zeit, zu Wilhelm von Ehampeaur nach Paris, Lehrte 
Darauf felbft mit großem Beifall in Melum und dann in Gorbeil, mußte aber in Folge 
des Ueberarbeitens die Lehrihätigkeit Durch längere Reifen unterbreihen. Diefe brachten 
ihn auch zu Roscellin von Gompiegne, und fo bat er ald perfönlidder Schüler ven 
extremſten Realiſten (f. Realismus), und den übertriebenften Nominaliſten Eennen, dabei 
aber auch einfehen gelernt, daß ſowohl die Formel des Einen: universalia sunt ante 
res, als die des Andern: sunt post res, zu Wiberfinnigkeiten führe." Dies wies er, als 
ex, nach Paris zurückgekehrt, bei Wilhelm Rhetorik hörte, dieſem nach und hatte von 
da ab ihn zu feinem Todfeinde, der nicht nur feine mit ungeheuerem Beifall begommenen 
Borlefungen an der Barifer Domjchule unterbrach und ihn nöthigte, ald er, nach einem 
abermaligen kurzen Aufenthalt in Melun, nach Paris zurücdfehrte, außerhalb der Ring⸗ 
mauer auf dem Berge von Gt. Genevioͤve zu Iefen, fondern auch zuerfi den h. Bern⸗ 
hard gegen Abälard einnahm. Dennoch war biefer im Jahre 1113 das anerkannte 
Saupt aller Dialektiker, der durch Klarheit und Schönheit der Vorträge Alle über 
ſtrahlende Lehrer in Barid. Neue Lorbeeren, aber auch neue Feindſchaften erwarb er, 
ala er zur Theologie überging, erft ein Schüler des Anjelm von Laon, dann fein glück⸗ 
licher Rival wurde, und nun mit einem Ganonicat andgeftattet, vor Taufenden Phlilo⸗ 
ſophie und Theologie lehrte. Da wird auf dem Gipfel des Ruhmes und Glücks feine 
Kiebe zu der geiftreichen fechzehnfährigen Helotfe fein Unglüd. Der um 21 Jahr ältere 
Abälard wird ihr Hausgenoffe, Lehrer, Verführer; endlich, nachdem fie einen Sohn 
geboren Hat, um ihren Obeim, den Ganonicus Fulbert, zu verföhnen, ihr Gatte. Bas 
das anftöpige Berhältnig nicht bewirkt hätte, fo bekannt e8 war, das wäre die Folge 
geweien, wenn feine Ehe bekannt wurde: die Ausfiht auf Micchliche Ehren, ja vie 
Univerfitätöwirkjamfeit war dahin, da die Sitte auch von dem Kehrer, der, wie Abaͤlard, 
nicht Priefter war, den Chlibat verlangte. Darum war es eine haͤmiſche Bosheit vor 
Fulbert, Daß er die gefchlofiene Ehe proclamirte, und war es Heroismus ſelbſtverlaͤug⸗ 
nender Liebe, wenn Heloife öffentlich wiberfprah und ihr Verhaͤltniß ein verbre⸗ 
chetiſches erklärte. Die fcheußliche Hache Fulbert's, der den Abaͤlard entmannen ließ, 
damit die Tanonifchen Gefehe ihm den Weg zu den Tirchlichen Ehren verfperrten, führte 
den VBerflümmelten ald Mönch in das Klofter von St. Denis. Auf fein ausbrirkliches 
Berlangen nahm die achtzehnjährige Heloife den Schleier im Klofter von Argenteuil. 
Bald warb der ernft gewordene, nur tbeologifchen Studien obliegende Mann dem leicht⸗ 
fertigen Klofter unbequem, und fo vereinigten fie ihre Bitten mit denen feiner aufrich« 
tigen Freuude, um ihn zu erneuter Lehrthätigkeit zu bewegen. Es gefchah mit dem 
früheren Beifall in der Priorei von Maifonville; die eiferfüchtigen Freunde des Wilhelm 
von Champeaux und Anfelm von Laon fuchten nach Blößen, das Erfchelnen von 
Abaͤlards Introductio ia theologiam ſchien eine folche zu bieten, und wirklich gelang 
es, auf einer Kirchenverfammlung zu Soiffons im Jahre 1121: das Buch zum Beier, 
den Autor zum Gefängniß im St. Medardus⸗Kloſter verurtbeilen zu laſſen. Der Auf 
enthalt nach überflandener Strafzeit im eignen Klofter zu St. Denis war noch qual⸗ 
voller als fie; Bucht, endlich nach vielen Anſtrengungen bie Erlaubniß, außerhalb des 
Klofterd Ieben zu dürfen, befreite ihn von dem Zufammenleben mit den weltlich gefinnten 
Aoſterbrudern. Eine der h. Dreieinigkeit geweihte Einſiedelei mit Kapelle nahe bei 
Nogent fur Seine nahm den Geplagten auf. Wie im Nu edhoben fih Zelte und 
Sitten, von gelehrigen Schülen bewohnt, um ihn, und bald ſtand an der Stelle der 
von Rohe erbanten Betkapelle ein großes von nielen Schkleen bewohntes Inftitut da, 
weiches, dem Paraklet geweiht, ein Klofter der Wiflenfchaft genannt werben Tann: und 


begreiflicher Weife das Miftrauen Solcher, die nur auf ein den Andachta⸗ Uebungen 
geweibtes Leben Gewicht legten, wie der h. h. Norbert und Bernhard, hervorrief. 
Um ihren Unfeindungen zu entgehen, nahm er den Antrag, das Klofler St. Gildas⸗ 
ee units an der Bretagniſchen Küfte ald Abt zu übernehmen, an, führte aber hier, van 
oerwülberten Menfchen auf der einen, von raubſüchtigen Nachbarn des Kloſters auf der 
andern Seite gehetzt, ein trauriged Leben, vesbittert noch dadurch, daß, als es fein liebes 
Paraklet Heloijen gefchenft hatte, jede Reife zu der früheren Gattin und jetzt Schweſter 
im Herrn Spott und Verleumdung hervorrief. ES Fam enblich fo weit, daß feinem 
Zeben nachgeftellt und er dadurch bewogen ward, fein Klofter heimlich zu verlaflen und ein 
verborgenes Aſyl zu fuchen, in dem er jenen Brief an eine vielleicht fingixte Perſon fchrieb, 
welcher die Geſchichte ‚feiner Leiden erzäblt uud die Veranlaſſung geworben ift, daß 
Heloiſe einen Briefwechſel mit ihm anfing, der noch exiſtirt. Endlich dur papftliche 
Erlaubniß der Führung feines Klofterd entbunden, genießt er für eine Zeit lang Ruhe 
sad benugt dieſe zu einer Mevifion aller feiner bisher geſchriebenen Werke, auch ber in 
Soiſſons verbrannten Einleitung. Daß fie anfingen in weiteren Kreifen zu circulixen, 
war wohl noch mehr ald der Umſtand, daß Abälard im Jahre 1136 wieder auf dem 
Berge St. Genevioͤve zu lehren anfing, für den 5. Bernhard dad Signal, gegen ihn 
zu machiniren. Als nun gar Abälard felbit den Erzbiſchof von Send erſt neranlafte, 
im Jahre 1140 ein Concil zu berufen, das feine Vertheidigung anhöre, baun aber, ald 
die Anklage verlejen war, jede Antwort verweigernd fortging, warb es dem 5. Bernhaxd 
leicht, Die Berurthrilung von vierzehn Sägen burchzufegen, ein Urtheil, welches dann 
der Bapft beftätigte und durch einen Verhaftsbefehl verfchäzfte. Sept entichloß ſich der 
gebrochene Mann, ſich in Mom perfönlich zu vertbeidigen. Als ex erſt das Kofler 
Jung erreicht hatte, hinderte die Erfchöpfung- ihn weiter zu reifen. Der Biſchof des 
Klofters, Peter der Ehrwürdige, behielt ihn bei fich, bewirkte feine Ausfühnung zuerſt 
mit Bernhard, dann mit dem päpftlichen Stuhl, fo wie, daß er ald Mönd in's Klofles 
Gluny treten durfte. Beten, Lefen, Schreiben und Dictiren war binfort fein Leben. 
Schon Trank, warb er, um befiere. Luft zu genießen, nach dem Klofter St. Marcel bei 
Chaͤlons gebracht und ftarb Dort am 21. April 1142. Sein Reichhnam warb von da 
heimlich nach Paraklet zu Heloiſen gebracht; nach mannichfachen Wanderungen zuben 
feine und der 21 Jahre nach ibm verftorbenen Heloiſe Gebeine in einem fleinernen 
Sarge, demjelben, in den man ihn zuerft getban hatte, auf dem Kirchhof Pere Lachaise 
in Barid. — Die Werke Abaͤlard's gab famumt Den Briefen der Heloife und einigen De& 
5. Bernhard nach den von Br. Amboije gefammelten Ranufcripten Ducheöne (Quoroelanus) 
heraus, Paris 1616. Diefe Ausgabe enthält aber weder die Werke, die Rheinwald 
(Anecd. ad hist. eccl. pertin. 1831. 35) herausgegeben bat, noch auch das Sic et 
neu und die Dialektik, welche Couſin zuerft veröffentlichte (Ouvrages inedits d’Ahelard, 
Paris 1836). Der Letztere hat auch vor Jahren eine Gefammt- Ausgabe aller Wexte 
bed Abalard begonnen. Die beite Monographie über den Abälard ift Die von Nemujat 
(2 Bde. Parid 1845). — Obgleich Abälard alle der Scholaflif gefehten Aufgaben. zu 
löfen ſuchte, fo zeigen doch feine Schriften ihn nicht, wie den Anſelm die feinigen (f. 
Anjelm), immer fie alle gleicjzeitig berückſichtigend. Vielmehr abftrahirt er in feinen 
dialektiſchen Unterfuchungen ganz von der Theglogie, gebt bloß darauf aus, den Geiſt 
im Diftinguiren zu üben, und flieht, wenn er den Formeln Wilhelm’8 und Roscellin's 
bie vermittelnde Universalia sunt in rebus eftgegenftellt, von allem Dogmatifchen ganz 
ab. Daß die AUllgemeinbegriffe nicht, wie die Nealiften behaupteten, res, daß fie auch 
uicht bloße nomina find, wie die eben deswegen Nominaliften Genannten Iehrten, jon- 
bern Inbegriffe (conceplus), und daß alfo der Eonceptualismud die einzig richtige Anficht 
ik, das beweift er nicht durch die Solidarität Diefer Lehre mit einem Dogma, ſondern 
lediglich durch Raifonnement. Ebenfo wieder erfcheint er in feinem Sic et non, bad 
ſchwerlich im fEeptifchen Intereſſe gefchtieben ift, als ein fpflematifch ordnender Autori⸗ 
täten-Samnıler, den ed gar nicht beunruhigt, wie die Widerfprüche, die ſich da zeigen, 
zu löfen find. Hier nicht, dena daß er nicht gemeint iſt, Die Sache überhaupt in Zweifel 
zu laſſen, dad beweift er in feiner Einleitugg und feiner Chriftliden Theologie, wo bie 
Lehren yon Trinität, Weltfchöpfung u. f. f. fo fehr ald mit dem Verſtande überein- 
ſtimmend bargeflellt werden, daß ihm vorgeworfen wurbe, er maße fich eine erfchöpfenne 


| | 
| | ab⸗lariai # 


4 Abandon. Abano. 
s 


edamtnif Gottes an. Daß aber die Dialektik und das Dogma fi ſchon fo in than 
teerinen konnten, bat zu feiner Folge, daß aus feiner Schule ein Gilbert de la Porroͤe 
und ein Petrus Lombardus hervorgehen Eonnten, deren Siner nur Dialektiter ift umd 
dee Andere nur ein Sentenzenfanmmler wie Abälard in feinem Sic. et non. Auch bet 
rationaliſtiſche Charäfter, den man der Scholaftil des Abälard nachzufagen pflegt, hat 
hterin feinen Grund. Wie fo oft, tritt auch hier gegen den trennenden Scharfiinn der 
eombinirende Tieffinn zurüd. 

Avandon) iſt * in gewiſſen Fällen erlaubte Abtretung verſicherter Gegenſtaͤnde 
an den Verficherer gegen Empfangnahme der Verſicherungsſumme. (S. Verfihernug.) 
Die Geſetze geftatten ein folches Abandonniren regelmäßig nur bei der See- Affe- 
eurany,®) d. 5. einem DVerficherungsvertrage des Inhalts, daß Iemand gegen Em 
pfangnahne einer Pramie die Haftung für jeden durch ein See⸗Unglück eintretenden 
Schaden übernimmt. Der Verficherer haftet Bier für jeden nicht durch Schuld des Ber 
ficherten entſtandenen Schaden, den der Gegenftand der Verficherung, welcher ſowohl das 
Schiff ſelbſt, als auch die Ladung fein kann, während einer beftinmten Seefahrt erleidet. 
In der’ Fällen nun, in welchen der entitandene Schaden, der übrigend durch öffentl 
Beftelfte Dispadjeurs oder Iaratoren abzuſchätzen ?) und dem Berficherer fofort am 
Ines ift, von der Art ift, daß er nicht total zerftörend und vernichtenb auf bie 

iſtenz ded verficherten Gegenſtandes wirkt, fondern nur den Werth deffelben 
fhr den Etgenthümer, fei ed ganz aufbeht, fei e8 bedeutend berab- 
fest, — in folden Fällen nur geftatten die Gefeße dem Verficherten, den läbirten ober 
Boch 'verföhlechterten Gegenftand gegen die Empfangnahme der bedungenen Peſigerunge 
fumme an den Verſicherer zu überlaſſen, zu „abandonniren“. Solche Faͤlle find z. B 
wenn daB Schiff, ohne daß ein Fehler in der Bauart oder Ausrüſtung daran Urfadhe 
wire, während der Fahrt unbrauchbar wird; wenn es firandet und die Koften der 
Reparatır des Wracks mehr beitragen, ald das Schiff werth fein würde; wenn bad 
Schiff oder die Ladung durch den Feind aufgebracht oder fonft mit Befchlag belegt 
wörden und die Befreiung ungewiß oder doch weit ausſehend ifl; wenn der geborgene 
Theil der Ladung nicht mehr fo viel werth ift, al® bie Koften für die Fracht betragen; 
wenn ein Schiff über die zus Reiſe gemöhnliche Beit ausbleibt und ketne Nachricht 
son ihm eingeht?) u. f. f. 

Die einmal abgegebene Erklärung des Berficherten, von dem Recht zu abandon⸗ 
kiten Gebrauch zu machen; ift unwiderruflich, Tann nur unbedingt gefchehen und iſt 
gewoöhnlich an eine folenne Form gebunden. Das preußifche Landrecht verlangt, daß 
Die Erflftung gerichtlich ober durch einen Notar ober vereideten Makler geſchehe. 

Ä Alles, was nach gefchehenem Abandonnement vom Berficherer noch gerettet ober 
fret gemacht wird, kommt ihm allein zu Gute, ſelbſt wenn ber abandonnirte Getzen⸗ 
ſtand nicht zu feinem vollen Werthe verſichert geweſen iſt. 
Die Klage. des zum Abandon Berechtigten verjährt nach ben geieglichen Be 
ſtintmun gen der meiſten europaͤiſchen Laͤnder in ſehr kurzer Zeit. 5) 
Abano, eine große, über 5300 Einwohner umfaſſende, aus vielen zetſtreut lie⸗ 
genben und mit befonderen Namen belegten Säufergruppen (Frazioni) gebildete Land⸗ 
gemeinde in der öfterreichifchevenetianifchen Provinz und im Diſtricte von Padua, mit 


7) Gingehend if diefe Materie behandelt von: Benede, Syſtem bes Aſſecuranz⸗ and 
Bobmereiwefene. Hamburg 1805—21. Band 3. p. 485 flg. Bb.. 4. 
ar: preußifches Landredit Th. 1. Tit. 8. 8. 2330 u. 2331. 

Ueber das preußische Recht ef. bad allgemeine Kandreht Th. I. Tit. 8. 8 — 

9 In dieſer Besiehung geftattet das preubifche Net das Abandonnement nad Abfauf von 

3 Mondten, wenn das Schiff nad) einem Hafen der Oſt- oder Nordſee; von 6 Monaten, wenn 66 

nach einem anderen enzopäifchen Hafen; von 18 Monaten, wenn es nad) einem außereuropaiſchen 

Hafen beſtimmt war, aber ohne den Aequator paſſiren zu müſſen; endlich von 3 Jahren, wenn 

*. he ge hatte petzen ſollen. Ch. Das allgemeine Landrecht für die preußiſchen Staaten 


g. 
) S. d. —— und Havarei⸗Ordnung ber Stadt Hamburg vom J. 1731, XVIl. 1.- 
Code rl commerce, Art. 432. — Allgemeines Landrecht für bie preußischen Staaten Th. IL 
Tüt. 8.. 5 2346 flg. (If der Schaden in ber, Nord: oder Oſtſee vorgefallen, jo verjährt.die Klage 
in. $ d —* wenn im Mittellaͤndiſchen Meere, in 1 Jahre; wenn in entfernteten PWelttheilen, 


P 4 








Abetreri. Wander. — 


wem besülmien Badeorte gleiches Namens, welcher etwa zwei Ständen (5 —b italleniſche 
Miglien) von Padua entfernt am Buße der vulcaniſchen euganeiſchen Hügel, in einer 
Baumreichen, hoͤchſt fruchtbaren Ebene liegt, die fih, von breiten Kunſtſtraßen durch⸗ 
ſchnitten, vom Bacchiglione⸗Fluſſe und dem Banale della Battaglia bewäffert, oſtwaͤrts 
bis an das Geſtade der venetianifchen Kagunen des Adriatiſchen Meeres erſtreckt. Er ift 
(nad der Zählung vom Yahre 1851) von 2787 Einwohnern bewohnt. Diefer Maxrkt⸗ 
flecken (Borgo) ift durch feine heilfräftigen heißen Quellen, die beißeften Schwefel“ 
quellen m Europa (da fie eine Temperatur von 34—67 1 Roͤaum. haben) beruhmt, bie 
eine- Biertelftunve ſüdweſtlich vom Orte aus Der Mitte des Montiron, einer etwa 12 Fuß 
hoben und bei 50 Klafter im Umfange meflenden, Freißrunden Tuffftein-Anböße, ar 
verſchiedenen Drien hervorſprudeln und ſo waſſerreich ſind, daß ſie durch einige kleine 
Baͤche ablaufen, deren einer, in hoͤlzerne Rinnen aufgefaßt, eine Mühle treibt, wahrend 
ein anderer fein Bett fo fehr erhöht, daß es eine gegen 3 Buß hohe Tuffſteinrinne 
gebilvet Hat. Selten wird man in einer anderen Gegend anf fo Eleinem Raume fü 
vielerlet an Hihegraden, Mineralbeflandtheilen und Heilfräften verſchledene Waſſer an» 
treffen, als hier. Dieſe Heilwaſſer werden in der Bagni grandi del orologio 
genannten Gruppe fehöner Gebäude benutzt. Koch⸗ und Bitterfälz, ſchwefelſaurer Kalk, 
kohlenſaure Kalkerde und etwas Thonerde bilden die Hauptbeſtandtheile der Quellen, 
deuen ſich ein Antheil von ſchwefelſaurem Waſſerſtoffgas beigeſellt. Site bewaͤhren ſich 
beſonders heilkraͤftig bei chroniſchen Hautausſchlaͤgen, Gicht, veralteter Syphilis u. dgl. m. 
und find doch verhaͤltnißmaͤßig ſehr ſchwach beſucht, woran wohl nur die geringe Bor⸗ 
Hebe Der Italiener für den Gebrauch der Mineralwaſſer ſchuld ift. 

Abatucei. Die Eorien haben ein Sprüdmort: „Hinter jedem Buſch fint wenige 
ſtens ein Abatucci!“ Ihr Gefchlecht war alfo in jedem Zall ein fehr zahlreiches auf/ 
jener merfwürdigen Infel; fie gehören zu den vielen corfifchen Familien, die in Folge 
ver franzöftfgen Revolution fich einen hiftorifchen Namen gemacht haben, nur ift ihr 
hiſtoriſcher Name nicht gerade einer erfter Größe, er iſt einer von denen, Die viel mehr in 
ven Zeitungen genannt werben bei Lebzeiten des Trägers, als einft in Buche der Ger 
fenichte nach deſſen Tode. Obgleich damit Die Bedeutung des Trägerd für feine Zeit, 
für beftinmte Verhältniffe und befondere Kreife durchaus nicht in Abrede geftellt wer⸗ 
ven fol. Jacob Peter A., geb. 1726, war das legte nationale Parteihaupt der 
Gorfen, ee war ein Gegner Paoli's, aber auch ein Gegner der Franzoſen, er war ber 
letzte Häuptling, der ſich Ludwig XV. umterwarf. Als Eorfica franzdfifch geworben 
war, nahm er Dienfte in der Königl. Armee und vertheidigte Gorflca 1792 nicht ohne 
Ruhm gegen die Engländer und gegen feinen alten Gegner Baoli; er flarb 1812 als 
inactiver Divifond-General. Sein Sohn Iohann Earl X, geb. 1770, diente von 
Jugend anf in der franzöfifchen Artillerie und Fämpfte in allen Feldzügen, die dad veon«' 
Intionäre Frankteich machte, mit großer Bravour; er war 1794 Pichegru's General» 
Anjutant in Holland, wurde 1795 Brigades General, im folgenden Iahre ſchon Divi⸗ 
fiond = Gemeral und vertheibigte den Bruckenkopf von Hüningen gegen den "Eriberzög' 
Earl son Oeſterreich. Er fiel bei einem Ausfall; auf einer Eleinen Rhein⸗Inſel vor 
Himingen errichtete ihm General Morem 1801 ein Ehren» Denkmal. Des Generals’ 
Hefte Carl A. Hatte das Schwert mit der Robe vertaufcht und foll namentlich 
während der Juli» Negierung eine wichtige Rolle bei den inneren Beziehungen ver’ 
Bonapariiſtiſchen Partei 'gefpielt haben. . Er fah in der Xegislative und wurbe ani 
22. Januar 1852 Juftizminifter und Großftegelbewahrer von Frankreich; am 2. De⸗ 
cesiber deſſelben Yahres auch Senateur. Als folder ftarb er 1857. Sein ältefter 
Sohn Earl A. ſaß neben ihm in der Kegislative und wurde fpäter General-Secretär 
im ZuflieMinifterium; der zweite Sohn Severin U. vertrat Corſica im gefehgeben- 
vn Körper. 

Abanfvar, Eomitat in Oberungarn mit dem Hauptort Kafchau, mit 167,000 
Seelen auf 53 Quadratmeilen. Die große Mehrzahl feiner Bewohner (gegen zwei‘ 
Drittel) find Magharen, welchen im Süden ein rein mägyarifcher Gebietstheil benachbart 
iſt. Die aufflänvifchen Bewegungen früherer Iahrhunderte fanden daher bier einen 
bereiten Heerd, und auch der Nevolution von 1848 und 1849 fchloß flch der großte 
Theil der Bevdlterung an. 





4 Abbas⸗Mirza. Abbas⸗Paſcha. 


Abbas⸗Mirza, ver zweite Sohn des Schahs von Nerſien, Feth⸗Al-Khan, zum 
Thronerben beftimmt, weil ihn eine Tochter der Kabfchareny des alten perfifchen Here 
fchergefchlechtes, zur Welt gebracht hatte. Abbas⸗Mirza war 1785 geboren und erhielt 
durch den Vorzug, den ihm fein Vater gab, fehr jung die Statthalterfchaft von Ader- 
beitſchan. Mit befonderer Neigung für England führte er allerlei Reformen, zunächſt 
beim Heerwefen, ein, batte aber bald Gelegenheit ſich zu übergeugen, daß dieſe ober⸗ 
flächlichen Aenderungen nicht binreichten, um den Ruſſen zu widerftehen, die in zwei 
Feldzügen, 1803 und 1813, Sieger über ihn blieben. PBerfünlie Bravour „zeigte 
Abbas » Mirza übrigens bei mehreren Gelegenheiten. Der Prinz, feit dem Tode ſeines 
älteren Bruders, im Jahre 1820, ganz unbezweifelt der Thronerbe Perſiens, verfolgte 
gun wieder bis zum Iahre 1826 jenen leichten Weg der Neformen, die meift nur die 
Außenfeite treffen, fammelte in feinem Palaft zu Tauris Fremde um ſich und wurde in 
- Europa ald der Träger einer neuen Zukunft für Aflen gepriefen. Der Krieg gegen 
Rußland, der 1826 begann, zeigte Die ganze Unzulänglisgkeit des Abbas -Mirya, ald 
Feldherr ſowohl wie als Negent, die Nufien zogen flegreich in Taurid ein und beſetzten 
Die ſchönſten Provinzen des Perferreiches, 1828 ſchloß ber Frieden von Turkmantſchai 
dDiefe Kämpfe, bei denen Abbas» Mirza feinen Ruhm gewann. Als 1829 her Pöbel 
von Teheran, aufgehegt Durch geheime Agenten, die rufitfchen Geſandten ermorhet hatte, 
ging Abbas⸗Mirza nach St. Peteröburg, um den Kaifer Nifolaud zu befänftigen; er 
bielt fich, eine Art von Geifel, längere Zeit im Eaiferlich ruſſiſchen Hoflager auf und 
fehrte reich befchenkt und mit guten Bedingungen für fein Vaterland heim. Seitden 
war Abbas-Mirza ein Freund Rußlands; er ftarb 1833 und hinterließ 24 Söhne und 
26 Töchter; in dieſem Punkt war der haſtige Neformator ganz Aflat geblieben. Als 
im folgenden Jahre 1834 der Schah Feth⸗Ali⸗Khan ftarb, fuccevirte ihm Abbas⸗Mirza's 
ältefter Sohn Mehemet⸗Mirza in der Negierung des perfifchen Reiches. 

Abbas⸗Paſcha. ALS der greife Vice» König von Aegypten, Mehemed⸗Ali, am 
2. Auguft 1849 farb, war ihm der gefürchtete Ibrahim⸗Paſcha, fein Adoptiv⸗Sohn 
und her Genoffe feines Ruhmes, bereitd in den Tod vorangegangen, es folgte ihm 
Abbas⸗-Paſcha, fein Enkel, geboren 1813 zu Debba in Arabien. Nach den Linfällen 
von 1840 und den Verträgen von 1841 war Mehemed⸗Ali wieder ein Bafall der Pforte 
geworben, er war eö aber nur dem Namen nad, denn der Großfultan wagte nicht, 
den alten Löwen zu reizen, und begnügte fich mit einer nominellen Oberberrlichkeit. 
Als aber Abbas⸗Paſcha, der von feines Großvaters Härte und Mißtrauen viel, wenig 
aber von deſſen Ehrgeiz und Thatkraft geerbt hatte, die Herrfchaft antrat, machte bie 
Bforte bald Anftalten, fich auch thatfächlich wieder in den Beſitz der Oberhoheit über 
Aegypten zu fegen. Sie begann damit, den Vicefönig zu tabeln, daß er eigenmächlig 
einer engliſchen Gejellfchaft die Conceſſion zum Bau der Sueg-Eifenbahn ertheilt habe. 
Abbas⸗Paſcha mußte fich fügen, da die Verträge zu laut für die Pforte ſprachen und 
es auch bei England den gehofften Schug nicht fand; doch ſcheint er dieſem erften 
bepeutenderen Anfpruch der Pforte noch feine befondere Wichtigkeit beigelegt zu haben, 
obwohl e8 ihm fein Geheimniß war, daß Nejchin-Pafcha ihn mit verfchiebenen Gliedern 
feiner Familie zu entzweien trachtete, um ihn gefügiger gegen die Befehle aus Konſtan⸗ 
tinopel zu machen. Die Einführung des Tanjimatgefeges bot Der Pforte neue Bor 
wände, das Anſehen des Vicefönigs zu befchränten, obwohl dieſer und zum Theil mit 
Mecht einwenbete, ſchon Mehemed Ali babe mehr gethan, ald das Tanſimat fordere. 
Für den Bicefönig handelte es fich dabei hauptfächlih um das jus gladii, um das 
Recht über Leben und Tod. Das war ein Necht, das er freilich im weiteften Umfange 
bis dahin ausgeübt Hatte. Nach dem Tanfimat mußte der Sultan allerdings jedes 
Todesurtheil beftätigen, es Fam aber, wie die Folge zeigte, ber Pforte bier gar nicht 
darauf an, die Unterthanen vor der vicefüniglichen Willkür zu ſchützen, ſondern lediglich 
dem Birrfönig ein bisher geübtes Souverainetätörecht zu entziehen. Abbas⸗Paſcha 
wehrte fich Lange, er ließ ein Mal fogar alle europäijchen Confuln in Alexandrien 
zufammenfomuen und erklärte ihnen, Daß er nicht mehr für Die Sicherheit -ihrer Landes⸗ 
angehörigen einftehen fünne, wenn man ihm das jus gladii nahme; er fand aber Feine 
Unterflügung, und fo fchloß er denn endlich im Mai 1852 einen Vertrag mit dem 
Pforten-Commiffär Fuad⸗Effendi, nach welchem er fich verpflichtete, den Tanſimat ein- 





ben und Außban 4 


zuführen. Die Pforte dagegen zeigte deutlich, worauf ed ihr hauptſächlich ankam, indem 
fle dem Birefönig das jus gladii für gewifle Faͤlle auf fieben Jahre ließ. Diefer Ver⸗ 
trag kann für ein Meifterflüd des berühmten Diplomaten Fuad gelten, denn um ſich 
Das jus gladii zu erhalten, das für ihm allerdings unentbehrlih, mußte ſich der Dice 
könig der Pforte willfährig und ergeben zeigen. Durch diefen Bertrag erſt ift die 
Dberhoheit der Pforte über Aegypten wieverhergeftellt, und von dem mächtigen Reich, 
das Mehemed Alt einft gründete, ift feiner Familie jeht fchon nichts meiter geblieben, 
als die Erblichkeit des Vicekdnigthums. Die Viceidnige von Aegypten find erbliche 
Beamte der hohen Pforte, nichts weiter. Als die Lage im Orient drobend wurde, 
verlangte der Sultan Geld und Solpaten von feinem Bafallen; Abbas⸗Paſcha gehorchte 
augenbliclih, er fandte im Juni 1853 cine Flotte unter Haſſan⸗Paſcha und 15,000 
Mann unter Selim⸗Paſcha. Die Schiffe taugten nicht viel, die Soldaten aber 
ſchlugen ſich gut, und ihr Führer zeigte ſich feined Lehrmeifters Ibrahim⸗Paſcha würdig. 
Urberbaupt mußte Abbas» PBafcha'8 ganze Haltung der Pforte zur Zufriedenheit gereichen, 
denn im Fehruar 1854 verlobte der Gropfultan Abdul⸗Medſchid⸗Khan jeine Tochter 
Binire-Sultane mit dem Sohne des Bicefönigs Ilhami⸗Paſcha, und ſchwerlich würde 
man dem fo getreuen Bafallen nad Ablauf der fleben Jahre das jus gladii entzogen 
haben; doch erlebte Abbas⸗Paſcha diefen Zeitpunkt nicht, er flarb am 14. Juli 1854 
plöglich, angeblih am Schlagfluß. Es verſteht fih von felbft, daß man fofort fagte, 
er fei vergiftet worden. Ihm folgte, ohne Widerfland zu finden, fein Oheim Said» 
Paſcha, als Aeltefter der Familie. Abbas⸗Paſcha hatte Aegypten nicht beſſer und nicht 
feglechter regiert, als die türkiſchen Pafcha’3 überhaupt zu regieren pflegen. Cr verdient 
weder dad unmäßige Lob, noch den unmäßigen Tabel, der ihm von entgegengefeßten 
Barteien gefpendet worden. inter dem niedern Volke ſcheint er eine Art von: Popular 
rität gehabt zu haben, ein Correſpondent der Allgemeinen Zeitung verſicherte wenigftenß, 
das Volk habe ihn „Bater Abbas" genannt. 

Abbau und. Ausbau. Wan verfteht darunter Errichtung von Gebäuden an ent- 
legenen Stellen eines ohuehin mit Gebäuben verfehbenen Grundſtücks. Der Ausbau 
bat vielfach dazu gedient, die Umgebung der Städte zu colonifiren und neue Borftädte 
zu ſchaffen. Nach viefer Richtung bin hat fidy Die Sitte des Abbauens für die Eultur 
der fäbtifchen Adergrundftüde und den Wohlftand der Aderbürger fegensreich gezeigt, 
weil vie Aderflächen fich oft flundenmeit über die Käufer der Stadt hinauserſtreckten, 
Gontrole und Bewirthſchaftung von dort aus erfcjwerten und fo die Errichtung von 
Wirthſchafts gebaͤuden auf der Feldmark nothwendig wurde. Diele bier und da zerſtreu⸗ 
ten Wirthfchaftögebäude gruppirten fi allmählich zu Colonien und Dörfern. Einen 
anderen Charakter zeigt der rein ländliche Abbau. Hier dient der Abbau felten dem 
Zwed der befferen Bewirthſchaftung des Landes, wenn er auch in demfelben Sinne 
vorkommt, wie die fogenannten Vorwerke größerer Güter; der Hegel nach bezweckt er 
bier neue ſelbſtſtaͤndige Anftevelungen auf Trennftüden. . 

Wenn ein folcher länplicher Abbau nicht fehon entweber in ber Lage des betref⸗ 
fenden Ortes, oder in ber Perfönlichkeit des Unternehmers eine fichere Garantie für feine 
Zweckmaͤßigkeit und Heilfamfeit im Intexefie des Gemeinwohles Hat, fo follte er von 
der Gefehgebung nur mit größter Vorficht zu geftatten fein. Denn nur in feltenen 
Faͤllen wird ein wahrer Nuten aus dem Abbau für dad Gemeinwohl und dad Empor« 
blühen einer gefunden Staatswirthfchaft in eiwilifirten Staaten erfprießen; meiftend wird 
er dad Sonderintereffe des Einzelnen auf Koften des Gefammtinterefied befördern. 

Die Gründe gegen den Abbau fallen mit dem, was gegen die Zerfplitterung und 
leichtfinuige Zerfchlagung, das fog. „Ausſchlachten der Höfe and Güter”, zu fagen ift, 
zufammen. Wie die Gefchloffenheit der großen Güter und Bauernhöfe ein Haupthebel 
ber Blüthe des Aderbaues und folglich des gefammten Staatswohles fei, das bat fchon 
allein vie Erfahrang an den Beifpielen entgegengefeßter Art zur Genüge gelehrt, und 
ed wird mit Recht die freie Theilbarkeit des Grunbbeflges als eine der traurigften Ideen 
bezeichnet, die Deutfchland von der erften franzöflfchen Nevolution überfommen bat. 
Wenn von fo vielen Seiten für die freie Theilbarkeit der Güter und alfo auch für die 
freie Abtrennung und Selbſtſtaͤndigmachung einzelner Barcellen und Gebäude angeführt 
wird, es müſſe ein Vorrecht des freien Stantsbürgers fein und bleiben, über fein Eigen- 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Ler. J. 4 


‘ 


30 Abbun und Aubbau. 

thum met volliger Freiheit zu disponiten, und es fet dabei eine allzu ſtarke und ge⸗ 
fährliche Zerſplitterung des Bodens oder das Entſtehen von Latifundien nicht zu bes 
fürchten, ‘weil Der verſtaͤndige Sinn und das wahre Bedurfniß ſtets den richtigen Maß⸗ 
ſtab abgeben wärben, fo iſt dieſe Behauptung m ſolcher Allgemeinheit falſch; denn das 
Eigenthumsrecht des Einzelnen iſt gerade fo gut wie feine perfünliche Freiheit alten 
den Befchräntimgen unterworfen, welche dad Gemeinwohl und öffentliche Veſte noth⸗ 
wendig verlangen, und auf ben das wirkliche Bebürfnig nicht überſchteitenden verftän« 
digen Sinn der Grundbeſitzer kann fich Feine vernünftige Gefeggekung mit Stchercheit 
verlaffen und darf e8 um fo weniger, da im entgegengefegten Falle dad. Wohl des 
Bauernſtandes, das wenigftend in den beutfchen Laͤndern eine der wichtigften Bebingun- 
gen blühender Staatswirthſchaft ift, in wenig Decennien bein Proletariat angelangt fein 
würde, wie ſich dies in verfchiebenen Gegenden, z. B. im Bezirk Koblenz, im württen⸗ 
bergijchen Oberlande, im Fürſtenthum Göttingen-Grubenbagen u. f. w., beteits in bee 
teaurigften Weife gezeigt hat. — Wenn man (ferner) die Trennung der Höfe mis Rüds 
ſtcht auf das beſſere Gedeihen der Landwirthſchaft felbft, in fofern Zeit und Arbeit, 
folglich Betriebscapital erjpart, die Arbeiten, namentlich die Ernten, ſchneller und au 
forgfältiger beendet, das Geſinde leichter und gründlicher beaufiichtigt, Die Geraͤthſchaften 
und Gefchirre minder abgenugt, im Ganzen daher ein größerer Roh⸗ und Reinertrag 
erzielt werden fünnte, — wenn man aus dieſen Gründen bie Diemembrationen ſogar 
für wünſchenswerth erachtet, fo iſt eine folche Annahme fo fehr unrichtig und fo wenig 
durch eine Erfahrung gerechtfertigt, daß in Wahrheit gerade das Gegentheil «ld geltend 
anzuerkennen if. Gin einziger Blick auf und in den Betrieb und Stand der Ban» 
wirtbfchaft, 3. B. in Schleswig⸗Holſtein, in Oftfriesland, im Lünchurgfehen, in Alte 
burg, im mwöürttembergijchen Unterland u. f. w., muß davon überzeugen. !) — Die 
Rückſichtnahme endlich der Vertheidiger der Dismembrationen auf Die arbeitende Kluſſe, 
die Tagelöhner und Handwerker, möchte in den meiften Fällen nicht einmal von dieſen 
felber bei einiger Erfahrung gebilligt werden. Denn «8 liegt auf der Hand, daß Dies 
ſelben, zumal wenn fle, was die Megel ift, eine Familie zu ernähren haben, fi bei 
binreichendem, fletenn Lohnverbienfte beſſer fliehen, als in der Eigenfchaft von unbe» 
mittelten, oft verfchuldeten @igentbümern eines Fleinen, allen Chancen ded Zufall und 
Unglüdd ausgejegten Grundſtücks. 

Ein zweited nicht minder wichtige Bedenken gegen den Abbau bietet der Um⸗ 
fland, daß in der Megel Die mit der Zerftüdelung zugleich erfolgte neue 
Anfiedelung völlig ifolirt und abgelegen von gefchloffenen Orte 
haften entſteht. Die Vermehrung der Bevölferung, die Ausbreitung der Induſtrie, 
Babrifen und fünftiger gewerblicher Etabliffementd auf dem Lande, ſowie die freie 
Theilung des Grumpbefiged und der lebendigere, vorzüglich durch Erweiterung der ECiſen⸗ 
bahnen angeregte Berkehr haben vielfach Die Erfcheinung hervorgerufen, daß ganz ifoliste und 
vereinzelte Wohnungen, Etabliffements, ja Häuschen und Hütten, abgelegen und getremnt 
von bevölkerten Orten, oft mitten im freien Feld, oft hart um MWaldesfaum, ſich erho⸗ 
ben. Dies Eonnte nur dad Ergebniß von Dismembrationen fein. Die Erfahrung Bat 
aber gelehrt, daß folche Dismembrationen, welche mit einer nenen Anftevelung vertwüyft 
find, ohne Die aͤußerſte Wachfanıkeit der Obrigkeit die allergefährlichften zu fein pflegen: 
Denn durch die Vereinfamung und, Berftreuung der Gehöfte über weite Streden Landes 
wird theild die gleichmäßige Ausbreitung der Civilifation gefährbet; theils die Aufrecht⸗ 
erhaltung der Gefege, namentlich in Beziehung auf Kirchen» und Schulwefen, auf die 
Interefien der Gemeinden rüdfichtlih der Communalverbände, der Armenpflege, des 
Hypotheken⸗, Steuer» und Kutaftermeiend, erſchwert; theild die Polizeiverwaltung, vor 
Allem die Verhütung von Forſtfreveln und Felddiebſtaͤhlen, anbererjeitö von Einbrüchen, 
Brandftiftungen ꝛc. ganz oder zum Theil verhindert; theils endlich fünnen vie Intereſſen 
der Einzelnen in ihrer Eigenfchaft ala Nachbarn und anliegender Brunbbehter von 
ber neuen Anſtedelung aus leicht und ungeflwaft verlegt werden, — 3. B. durch 





) Cf. Fallati, Ein Beitrag aus Württemberg zu der frag aͤber ben Verkehr mit Grund 
u. Boden. hhiuser Beier für d. geſammte Staatewirthfcaft. 

Helferih, Studien über die württembergifchen — ihid. Bd. 9 u. 10. 

Bunde, Die heilloſen Folgon der Bodengeriplitterung. Göttingen 1854. 





D) 
% 


unberechtigte · Benntzung der: Weiden, :Abfrefien der Saat durch Thiere n. dergl. m. — 
Wenn aus diefen Grimden dem Abbau‘ fhon an fi fo gewichtige Bebenken entgegen». 
rien, daß vie Geſetzgebung eines civälifirten Staates (denn daß in Rändern, wo es 
iR, Urwalder zu lichten x., ‘der Abbau ein im ſich gerechtfertigtes und nur beilfames 
Mittel zur Entwickelung bei Cultur if; ift ar) ihn niemals, ohne wenigſtens zugleich 
bie Inttreſſen der Gemeinde, der Kirche. und Schule, fo wie ber Boligei-Berwaltung zu 
ficherm; geſtallen fallte, jo wird fie um jo mehr zur Vorſicht genäthigt, wenn die Vers 
muthung für das Eintreten gener Uebelſtaäͤnde noch durch die beflimmte Perfünlichkeit 
des Aufiedlerd um ein Bedeutendes verfiärkt wird; namentlich afo, wenn unver- 
mögenbe. note" gar beicholtene Perſonen einen nemen Bau an gemeingefährlichen, un⸗ 
— polizetlich vieleicht: gar nicht gehörig, zu beaufſichtigenden Orten anlegen 


‚Die Geſedgebung m Preußen wendet ſchon ſeit geraumer Zeit dem Anſtedlungs⸗ 
weten und der Atomiſtrung des laͤndlichen Grundbeſitzes eine ſorgſame Aufmerkſamkeit 
zu. Es iſt nicht zu läugnen, daß der Gegenſtand, da die Prohibitivmaßregeln der 
Poltzei allein anvertraut werben Tonnen, in fofern ein diffitiler iſt, als Einſchräͤnkungen 
ver: peivatrechtlichen Eigentkumäbispofition bie unliebfanıften ſind, wenn ſie in das 
Ermeſſen ver Behörde geſtellt werden. Dazu kommt, daß die bisherigen Erfahrungen 
gelehrt haben, daß alle derartigen geſehlichen Berhinderungsmittel umgangen werben. 
Durch Gefeh-vom 3. Ianuar 1845, das in diefer Beziehung noch heute gilt, wurden 
bei nenen Anfledlangen mei Fälle unterfchleben , wenn nämlich auf einem unbewohnten 
Orunbflüc, welches nicht zu einem anberen bewohnten Grundſtück gehört, Wohngebäude 
errichtet werben ſollen und wenn ein bereit8 mit Wohngebäuden verfehenes Grundſtück 
vom SHaupigut abgetrennt und nicht einem anderen fchon bewohnten Grundſtück zu⸗ 
geſchlagen wird. Die kepte Art der Anſiedlung ließ man frei, die erfte knüpfte man 
am verſchiedene Cautelen, 7. B. Widerfpruchörecht der Nachbaren der Gemeinde, hin⸗ 
reichendes Wermögen und frhlieplid an die Genehmigung der Berwaltungsbehörbe. 

Diefe Geſetzesbeſtimmang wurde feitdem in einer großen Anzahl von Bällen durch 
fraubulofe Umgehung 'tlluforifch gemacht, und zwar recht eigentlich mit Hülfe des Abbaues. 
Ber mit einem Anfiedler einen Parcellirungsvertrag umgeftört fchließen wollte, baute 
fh erft aus, d. h. er errichtete ein Wohnhaus auf dem abzutrennenden Bodenftüd und 
veilaufle dam ohne den Conſens das Trennflüd. 

Die von der Megierung in der Sefllon von 1858 im Herrenhaufe gemachte, nadh 
laugerer Debatte zurädigezogene Gefetzesvorlage wollte deshalb auch den Abbau dem Con⸗ 
fenfe Den Berwaltungsbehörbe unterwerfen. Gegen dieſe Ausdehnung der polizeilichen 
Gewalt erhoben ſich gewichtige Summen und in der That feheint die beabfichtigte Maßregel 
in ihrer einfchneidenden Schärfe aber Das Gebiet der dem Gemeinwohl ſchuldigen Opfer 
ber Eigenthumdfreibeit hinwegzuragen. Mehr Beifall erhielt und verbient der von der 
Gommiffton gemachte Vorſchlag, welcher ſich an das fpeciell für Weftfalen geltende 
UAnftedlungsgefeg vom 11. Juli 1845 anlehnt, wonach — den Ball der Vererbung 
ausgenommen — der Conſens der Behörde nothwendig werben foll, wenn Wohngebäude 
innerhalb Der erften 5 Jahre nach ihrer Erbattung von einem mit Wohngebäuden bes 
fegten Grundſtück abgetrennt und Anſiedlern zum Eigenthum überlaffen werben. Freilich 
iſt auch bier Die Unigehung nicht ſchwer; der Anſiedler braucht nur die erſten 5 Jahre 
aid Mieter oder fonftiger Pofſeſſor in die Wohnung zu geben, oder auch der Eigen- 
mhaner des Hauptgutes trennt dies von ber eigentlichen Parcelle ab — ftatt umgekehrt 
=- und tauſcht nachher mit dem Anſiedler. — 

Bei den Bergbau kommt der Begriff „Abbau* in eine ganz heterogenen Bes 
Deutung: vor. Mat fpricht hier wicht bloß von einem „Abbauen“, wenn ber Bergbau 
wegen Erſchͤpfung des ganzen Erzgehalts einer Grube aufgegeben wird, fondern auch, 
wenn er fo weit -gevichen..ift, daß er reinen Gewinn «bwirft, fo daß die Kur-Inhaber 
ſich den Ertrag wo rata zuwenden konnen. 

Abbe. Urfpränglich wurden mit dem Worte in Frankreich bis zur erſten Revo⸗ 
Intion diejenigen bezeichnet, welche fich für den geiſtlichen Stand beſtimmt und auf 
theolo giſchen Lehr - Anftalten ihre Studien mit Erlangung eines afademifchen Grades 
durchgemacht hatten. In biefem Sinne iſt das Wort ungefähr ſynonym mit Candidat. 

4* . 


32 Abbeinſung. 


Der Abbe wartete in die Zahl der abbes commandataires zu Worin, 
wie Diejenigen hleßen, denen der König eine Abtei als Sinecure, d. h. einen gewiffen 
Theil, gewöhnlich ein Drittel der Yahred- Einkünfte eines Klofterd auf Lebenszeit wew 
lieben hatte. An eine folcye Bergabung knüpfte ſich Aufangs die Bedingung, Daß ver 
Abbéè binnen Jahresfriſt die geiſtlichen Weihen nehmen follte; fpäter, als banfike 
Dispenfationen and Rom gebräuchlich geworden, fah man in den meiſten Faͤllen von 
der Ordination gänzlich ab. Auch war es nicht erforderlich, daß der nbbd commar 
dafaire in feiner Abtei den Wohnſitz batte; feine Gefchäfte und OÖbliegenbeiten im dem 
Klofter beforgte der prieur clanstral, über welchen dem Abbe feine Gontrobe ‚ober fon 
ein Necht zuftand. Die Rente, welche er bezog, ermöglichte ihm einen verhultnißenaßig 
bedeutenden Aufwand; das Einfommen mechfelte je nad der Abte von 2000 Bis 
150,000 Livres. Nicht felten wurden mehrere Abteien durch Gumulation auf einen 
Inhaber übertragen,‘ zumal wenn fich derjelbe einer einflußreichen Protection vder vor- 
nehmen Geburt zu erfreuen hatte. Bisweilen wurbe wie ein Regiment, fe auch eine 
Stelle ald abbe commandataire einem Kinde in die Wiege ald Pachengeſchenk von 
dem Könige gelegt. Die beffer votirten Abteien fielen meiftend den jüngeren Söhnen 
des Adels zu, während die bürftiger dotirten als Benflonen für dusgezeichnete Welchrte 
dienten und eben’ deshalb abbaycs des savans hießen. Nicht wenige Abbés wer letztern 
Gattung Haben ihren Ramen zur Geltung gebracht und fich bleibende Berbienfte in 
verfchiedenen Wiffendgebieten erworben, theilmeije auch ale politifche Linterhänbler ur 
biplomatifche Agenten; indgemein aber verbrachte die Mehrzahl der Pfriinden⸗Inhabet 
ihre Zeit in Paris, bei Hofe, wenn bie Geburt es geftattete, oder doch in einer de 
größeren Städte und vie Befchäftigung des Unbefchäftigten beftand in der Regel im 
dem Auffuchen von Zerftreuungen, Gefellihaften und Vergnügungen. Mebenbet wurde 
fAjöngeiftiger Dilettantismus betrieben, die Gafes und Theater frequentirt und galnnte 
Abenteuer aufgefuht. Das harakteriftifche Gepräge des Standes ift gerade von biejem 
Theile ausgegangen und bat das Typifche und Tonangebende dieſer Kreife eine un. 
verfennbare Achnlichkeit mit dem Tonangebenden und Typifchen in der heutigen Literaten- 
welt. Daß fich Viele Abbe nannten, welche niemals zu einer Abtei: gelangten, begreift 
fh leicht. Das Ziel ihred Strebend war erreicht, wenn ſie eine Stelle als Erzieher 
erhielten. In der dußern Tracht deutete der Abbe auf den Geifllichen nicht dutch 
den Schnitt, nur durch die dunfle (braun oder vietett) Farbe feines Kleides. Die 
Tonfitr fehlte. | 

Abbernfung (franzoͤſifch rappel) ift die gewöhnlichfte, wiemohl nicht alleinige 
Aufbebungsart einer viplomatifchen Function und entfpricht, da letztere im Weſentlichen 
als ein Auftrag fich charafterifirt, der revocatio mandati im Privatrechte. Die Gründe, 
dur welche ein Souverain zur Abberufung ſeines Geſandten veranlaßt wird, Tönnen 
fowohl äußere wie innere und überhaupt der verfchiedenften Art fein. In allen Fällen 
bewirkt diefelbe zwar das alsbaldige Aufhören des biplomatifchen Manbateverhältniffeh 
mit allen daran gefnüpften Rechten und Verbinvlichkeiten; der Repräſentativ⸗ 
Ebarafter des Gefandten erliſcht jedoch erft mit dem Zeitpunkte, wo er ſich bei dem 
fremden Staate officiell verabfchiedet. Dies gefchieht durch Liebergabe bes fogenannten 
Abberufungsfchreibens (lettres de recreance), welches don Geſandten erfter und zmeitet 
Klaffe und Minifter-Mefidenten in einer eigenen Aubienz an dad Staatsoberhaupt, von 
Gefandten dritter Klaſſe (Gefcbäftsträgern) an den Chef des auswärtigen Amtes, jeder⸗ 
zeit aber an diejenige Perfon überreicht zu werden pflegt, bei welcher der betreffende 
diplomatifche Agent bei Antritt feiner Functionen beglaubigt worden war. Mur in dem 
feltenen Falle, wo ein Geſandter fhon vor feiner definitiven Abberufung in die Hei⸗ 
math zurückgekehrt oder fonft perfönlich behindert ift, wird fein Abberufungsfchreiben 
ausnahmsweiſe von feinem Nachfolger, gleichzeitig mit deſſen Beglaubigungsfchreiben, 
übergeben. Auf das Abberufimgäfchreiben erfolgt in der Megel eine Eurze Antwort 
(fogenannted Recredentialſchreiben), worin der Tätigkeit des Gefandten in mehr odet 
minder verbindlicher Weije gebacht wird; auch ift ed unter befreundeten Staaten Sitte, 
dem Abberufenen durch die Verleihung eines Ordens oder ſonſtigen Ehrengeſchenkes 
eine Anerkennung feines Verhaltens zu Theil werden zu laſſen. — Die völferredt- 
liche Stellung eines Abgeſandten und die daraus folgende Unverlegbarkeit und Er⸗ 


Usbeville. Abbitti 53 


tertioiialtitat doffelben aiberdauert noch feinen repräfentativen Charakter und endigt erft, 
madom ec, fammt den mit ihm befriedeten Perſonen und Sachen, das Gebiet des 
frenchen Staates verlafien oder fein Verbleiben in letzterem als Privatmann erklärt 
Sat. In beiden Beziehungen kann ihm eine angemejlene Friſt gefeßt werben, vor beren 
Ablaufe Leine anderen gerichtlichen oder außergerichtlichen Hoheitsacte gegen ihn unter« 
nommen werden Dürfen, als folde, welche felbft jchon während der Ausübung der 
gefandtſchaftlichen Functionen zuläjfig waren. ) Berbleibt ein diplomatifcher Agent 
nach gänzlicher Ablegung feines völferrechtlichen Charakters in dem auswärtigen Staate, 
fo leben gegen ihn aud alle dadurch gehemmten Rechtöverfolgungen in Anfehung ver 
Gintlaniprüche, nicht aber in Betreff etwaiger zur Zeit der gefandtfchaftlichen Stellung 
begangener Delicte auf, da erftere durch das Völkerrecht felbft geſchützt find, letztere 
hingegen ſtets nach dem Principe der Erterritorialität bemeſſen werben. 

Abbeville (Abbatis villa). Bedeutende Stadt im franzöfffchen Departem. Somme, 
an dee Somme, mit 20,000 E. Gut gebaut befigt fie außer einem Juſtizpalaſt und 
der gothiſchen Kirche zu St. Bulfcan anfehnliche Fabriken in Wolle, Tuch und Teppichen, 
deren eine von dem Holländer Ban Robais auf des Miniſters Eolbert Betrieb angelegte 
aber 500 Arbeiter befchäftigt. Die Somme läßt zur Fluthzeit Schiffe bis zu 150 
Tonnen zu. A., urſprünglich Meierei der Abtei St. Niquier, wurde von Hugo Capet's 
Sohn, der ſich zuerft Graf von Ponthieu nannte, zu einer Grafichaft erhoben. Später 
ward ed, von Ratur fchon durch feine von einer Höhe beberrfchte Lage begünftigt, 
befeſtigt. In feiner Nähe kämpften im. Mittelalter oft Franzoſen und Engländer gegen 
einander. Bei Green (1346) und Azincourt (1415) in der Nähe der Somme wurden 
bie Franzoſen von den Engländern gefchlagen. 

- Abbitte einer Ehrenkraͤnkung Adeprecalio injuriae) ift neben dem Widerrufe 
(palinodin, recantalio inj.) und der einfachen Ehrenerklärung (declaratio honoris) 
ein dem vömifchen Mechte unbekanntes, in Deutfchland- aber durch einen fehr alten, ger 
meinrtechtlich noch jetzt geltenden Rechtögebrauch fanctionirtes Mittel, dem Beleidigten 
eine beſondere perfünliche Genugthuung zu verfchaffen. Dem deutſchen Rechtsſtune ge- 
nügt nämlich die Beitrafung des Beleidigers, nicht, weil damit das Vergehen zwar ge: 
Mont, aber die Verletzung der Ehre des Beleidigten nicht unmittelbar wieder aufge: 
hoben wird. Um diefen Zwer zu erreichen, wird der Ehrendieb angehalten, je nachdem 
Der Fall dazu angethan If, entweder in einer bald mehr bald weniger demüthigen⸗ 
den Form (mimblich, fehriftlich, vor Zeugen, vor Bericht, bei befonderd ſchwerer Ver⸗ 
ſchuſnung kniend) un Berzeihung zu bitten, oder, wenn es fich um eine Verleum⸗ 
dung bandelt, die üble Nachrede zu widerrufen und fich felbit der Rüge zu zeihen (ehe⸗ 
mals mußte man ſich dabei wohl gar felbft auf den Lügenmund fchlagen), oder end- 
lich, wenn die Infurie in Zorn und llebereilung begangen ift, zu erflären, daß er den 
Berlegten für eine unbefcholtene, ehrenhafte Perfon halte und nichts Nachtheiliges gegen 
deſſen Ehre getban haben wolle. Zur Befefligung dieſes Nechtögebrauches hat ohne 
Zweifel das kanoniſche Recht, weldyes von den Geifllichen die Abbitte einer begangenen 
Infurie bei Strafe der Degradation fordert, und die Kirchenlehre, welche allen Glaͤu⸗ 
bigen ein reummhtbiges Bekenntniß der Schuld und Ausjöhnung mit dem Beleidigten 
zar Bilicht macht, viel beigetragen. Die Einführung des römifchen Rechts hat daran 
um fo weniger etwas andern können, als dafjelbe mit feinen, dad germanijche Rechts⸗ 
gefühl in Feiner Weife beftiedigenden Injurienftrafen das Bebürfniß nach einer außer» 


dem noch zu gewährenden Genugthuung nur noch fühlbarer zu machen geeignet if. 


Es iſt daher in der Theorie und Praris anerkannte Megel geblieben, daß der Injurient, 
abgeſehen non der verwirkten Strafe, auf Verlangen des Beleivigten nach Verſchieden⸗ 
Get des Falles abbitten, widerrufen oder eine Ehrenerflärung geben mußte und Daß 
ſeine Weigerung: bie Anwendung von Zwangsmaßregeln (Geldbußen, Gefaͤngniß) reiht 
fertigen, damit DIE duch ihn verlegte Ehre wieberbergeftellt und fo der angerichtete 
Schaden erfegt werde. Die bieranf gerichtete Klage kann aber, weil fie ımr Schaben- 
efag bezweckt, fowohl mit der Klage auf eine Privatgelbftrafe (actio injuriarum aesti- 
matosin), als auch mit dem Antrage auf dffentliche Beftrafung verbunden werden, 


er — — —— — 


V Beffter'oVollerrecht 9 230, 

















54 Abhrehen des Geſegtz. a ⸗ ⸗viger. 


Manche Rechtslehrer find, im Widerſpruche mis der Praxick der boruvaligen Neichs⸗ 
gerichte, freilich entgegengeſetzter Anſicht, indem ſie die Leiſtung jener Satiähachlen, 
wegen der darin liegenden Beſchaͤmung, ſelbſt ſchon für eine Strafe halten. Aus Dame 
felben Grunde ift man neuerdings auf deren gängliche Beſeitigung bedacht geweſen, da 
eine gegen den bartnädig Widerfirebenden unausführbare Strafe ſich allerdings nmicht 
empfiehlt. Die neueften deutſchen Steafgefegbücher geben mit wenigen Anänahmen,: zu 
denen das bannoverfche und oldenburgiſche gehören, dem Beleidigten Heine anbere Ge 
nugtbuung, al3 die öffentliche Bekanntmachung des Strafurtbeils. 
Abbrechen bed Gefechts ift das freiwillige, bewußte, geregelte Aufgeben deſſelben 
durch diejenige der beiden Fämpfenden Parteien, welche aus feinem Berlauf: die Iinmdg- 
lichkeit der Erreichung des durch daſſelbe angeſtrebten Eriegerifchen Zwetkes erkaunß hat, 
E3 ift eine entfchiedene Vervollkommnung der Kriegkfunft, daß, während +8 
früher nur die Wahl zwifchen Sieg und Niederlage gab, der durch die weuure Taktik 
weſentlich veränderte Charakter der heutigen Schlacht ein ſolches Abbrechen möglich 
macht, welches nur durch. frifche Truppen auszuführen iſt; es muß aber feit Verlegung - 
der Schlachtfelder aus der Ebene in das burchichnittene Terrain die Auſsbehnung ber 
Schlachtlinie, ſtatt wie früher in die Breite, im die Xiefe gehen, da aus dem Kam 
um die einzelnen Dertlichfeiten die Nothwendigkeit Der Bereithaltung vom Reſerven ſich 
ergiebt. Hierdurch bat die Entfcheidung den ihr früher eigenthümlichen Eharabin 
des Rapiden verloren, die Schlacht brennt, nach dem Ausorud dei Generals v. Clau- 
fewig, wie nafles Pulver Iangfam ab, die frühere Ertenfität der Gluth wird Buch 
deren Intenfltät erfeht, melche Die Kräfte der Fämpfenden Truppen allmaͤhlich bis auf Die 
Schladen verzehrt, und nicht mehr plößlich buch den Stoß des gangen Heeres, fon 
dern nach und nach Dusch Gewinn oder Behauptung wichtiger Terrain Buntte macht 
ſich die Ueberlegenheit des. Einen und damit die Nothwendigkeit, das Gefecht abzu⸗ 
brechen, für den Andern geltend. Letzteres bat ſtets und um fo größere Schwierig⸗ 
feiten, je mehr Truppen in das Gefecht verwidelt Ind; es ˖ erfordert Die größte Usber⸗ 
gen und das fchnellfte Ineinandergreifen der Befehld- Ertbeilung und Abe 
führung. 

Meift ift Die der freien Entſchließung des Feldherrn zugemeflene Zeit nur kuarz, 
nach deren Ablauf ex zulegt willenlos dem ihm durch den eijernen Deu des Segnurd 
angewiefenen Impulſe folgen muß, daher gehört ein nicht gewöhnlicher Charakter dazu, 
mitten im Getümmel mit altem Blut und Harem Blick den Ausgang der Schlacht zu 
diagnoftieiren und den Punkt zu erkennen, über den hinaus dad Beharren auf wer 
Erreihung feines Zweckes nicht mehr Stanphaftigfeit, ſondern Thorheit wird. 

Der günftigfte Moment für das Mbbrechen ift nach einem abgefchlagenen: feind- 
lichen Angriff, da die Zeit, welche der Feind braucht, um die in feinen Reihen geläfle 
Ordnung berzuftellen oder frifdye Truppen von rückwaͤrts heranzuziehen, che er gur 
Verfolgung fchreiten ann, für den Abziehenden ein entfcheinender Gewinn iſt. Die 
Placirung der Reſerven in einer für diefen Fall vorher beftimmten rüdwärtigen Stellung, 
die wo möglich den nachrückenden Gegner flankirt und unter deren Schuß die in bad 
Gefecht verwidelten Truppen allmählich abziehen, fo wie Dedung des weiteren Rückzugs 
durch die Reiterei find die Damme, an denen ſich bei ruhiger Eontenance ber Trppes 
ſtets die Woge der Berfolgung bricht. 

Muftergültig ift das Abbrechen ber Schlacht von Banken durch Die Verbündeten, 
den 21. Mai 1813, nach dem Verluſte der Krechviger Höhen, wobei 40 @srabrend 
. unter Umaroff den ohne jeden Verluſt fortgefegten Ruͤckzug deckten. — Napoleon bar 
gegen bei Waterloo, flatt nach dem Erfcheinen ver Preußen in feiner rechten Flanke De 
Schlacht abzubrecgen, wie er vollfländig in der Hand hatte, ſetzte wie ein banteroktet 
Spieler Alles auf die letzte Karte — die Meferven unter Raripah Mey — ud 
verlor Schlacht, Reich und Freiheit. 

A⸗V⸗C⸗Bücher find die erſten der Kindern in die Hände gegebenen Bücher, welch⸗ 
gewöhnlich mit lodenden und belehrenden Bildern, in früherer Zeit mit Hriligenbildern, 
geihmäcdt find und welche, nach dem Vorgange des von Luther um 1530 herandge 
gebenen, das Eleine und große deutſche und Iateinifche Alphabet, die Ziffern, alle zwei⸗ 
lautigen Silben, die zehn Gebote ohne Erklärung, den Glauben, die nothwendigſten 


Anhaen — 


täglichen ·Qebete und eine Anzahl Neime für den Zweck des Leſenlernens enthalten. 
Mehr. namlich brauchte es ſonſt nicht, um. den Kindern die Kunſt des Leſens beizubringen, 
fo Jauge war ihmen noch Die Namen der Buchſtaben mühſam zinprägte, fie zwei⸗ und 
Sana mehrlastige Silben buchſtabirend auswendig lernen und endlich jene Eleinen vor⸗ 
bechſtahirten und vorgeleienen Lefeftüde jo lange nachbuchftabiren und nachlejen ließ, 
bis ſie ehanfalld vom Gedaͤchtniſſe für immer gejaßt waren. Die ganze Schwierigkeit 
beſtand bloß in der treuen Ausdauer des Lehrers und in der Wahl zweckmaͤßiger Hülfs- 
mittel für ben Maſſenunterricht; die Methode felbft war aber durchaus naturgemäß, 
warid: fie ſich on das Gedaͤchtniß ald an die erfte und weientliche Srelenfraft der Kinder 
wandte und die fir. alles wirkliche Lernen, d. i. Aneignen, nötbige Abftraction ber 
geoferen oder geringeren Faͤhigkeit der Kinder felbft überließ. Aber jchon früh firebte 
mon, Zum Gedächtniſſe die Arheit zu erleichtern, Dex Deflauer Schulpirector Baſedow 
ließ feinen A⸗B⸗C⸗Schützen (Schügen hießen anmwachjende, umlaufende Knaben unb 
Schider, wahrſcheinlich von „Ichügen — hüten“, jehwerlid von „fchießen“ — ftehlen) 
oder A⸗⸗C⸗Teufeln (nad) einem alten Schulfcherz benannt) die Buchftaben zum Fruͤh⸗ 
Bud baden und verzehren, che ſie die gedrudten zu ſehen befamen; der Leipziger 
reiſchul⸗Direchor Plato theilte feinen Knaben A⸗B⸗C⸗Karten, A-B-&- Würfel, feinen 
Maͤdchen A⸗Be⸗C⸗Docken aus; der Lehrer Bienrod in Wernigerode fügte hinter dem 
Ittelblatt mit einem großen Kahn zu jedem Buchflaben ein Bild mit Thieren oder 
Mexaͤthen bei und feßte dazu Die. allbefannten Meime (wie: der Affe gar pofiirlich ift, 
zumal wenu er vom Apfel frißt; rin toller Wolf in Polen frag den Tifchler fammt dem 
Winbelmaß; der Dachs im Loche beißt den Hund: Soldaten macht der Degen fund). 
Jehaunn Balldern malte unter den Kahn ein Ei und wurde dadurch der Ahnherr aller 
MBerichlimsmbrfierungen,; Splistegart fehte bad A-B-& in Muſik und ließ es abiingen; 
in:Dem- (bemald zum Nürnberger Gebiet gehörenden) Altorf erfchien der „A-B-&-Budh- 
ſabir⸗ uud Lejetrichker, burg dep man den Kindern das Lejen in einer Geſchwindigkeit 
Seibringen und gleichſam zsimtrichtern kann.“ Der Rationalismud des vorigen und biefes 
Aahrhunderts wirkte (nach dem freilich damals laͤngſt vergefienen Vorgange des zu der 
Bartet Karlſtadt'a, des Wittenberger Bilderflürmers und Sacramentirer, gehörigen 
Valentin Idelfamer) auch auf den Leferlinterriht. Alles follte begriffen, alles mit 
Bensätiein geihan, nichts mehr auf Auterität hin, auf Treue und Glauben angenommen, 
nichts mehr gedaͤchtnißmaͤßig eingeprägt und geübt werben. Daß ein Wort mit den 
drei Buchſtaben d, a und 8 das heiße, wollte man nicht mehr lehren, fondern gleirh- 
(am wie wenn die Buchſtabenſchrift von den Kindern noch einmal erfunden werben 
müßte, oder als ob fie alle taubitumm wären, aus den Lauten der drei Buchftaben 
faden, begreifen und, wie man fälfchlidy meinte, für alle Bälle willen und behalten 
lafien, wollte zugleich die Phyilologie der Sprachorgane erklären und die Mundſtellungen 
für ‚jeden Laut‘ zeigen und nachmachen laſſen. Dies führte (durch den Deffauer Lehrer 
Olivier und durch den Pfarrer Stephani) auf die Rautirmethode, die unter mannich⸗ 
faltigen Zujäten, Veränderungen, Ausihwüdungen ac. noch heute Die deutſchen Elementap- 
faulen beherrſcht und bie A-B-E- Bücher völlig daraus vertrieben bat. An die Stelle 
der AB Bücher. find Bibeln getseten mit langen DBerzeichniffen von Äinnbebeutenden 
as oft finnlofen Silben und Wörtern und Sammlungen von Liedchen, Fabeln und 
Erzaͤhlungen, die felten werth find auswendig gelernt, aljo dem Lefenlehren zu Grunde 
gelegt zu werden. Indeflew, wenn die A-B-G« Bücher auch aud den Schulen ver- 
$@wunden find, von den Jahrmaͤrkten bringen Väter und Mütter ihren Kleinen doch 
immer noch das Bienrod'ſche Büchlein mit feinen achten Kinderreimen ober cine von 
den Hunderten von Nachahmungen, wenugleich mit fchlechteren Verſen, mit nach Haufe 
an» vornehmere Eltern befchexen eines her neueren, nach dem Vorbilde des Orbis pictus, 
mis ichöneyen und reicheren Pildern verſehenen U-B-C-Bücher. 
Abtchaſen, "non den Ruſſen und Türken Abafa und von den Georgiern Abchaßi 
ader Apcqchaßi genammt, woraus die Europaͤer Abafen, Abaftner, Awiaſen, Abiaſeten, 
Ab haſiner, Mbrhaßer, Abanfen und Abafechen gemacht haben, bewohnen die Küften 
Beh. Schwatzen Maexeq und den weltlichen Theil des Kaukaſus. Sie nennen fi ſelbſt 
Myfus una. gehöre wahrſcheinlich, mie alle Kaufafus- Völker, mit Ausnahme Dar 
ofen, der grafien Qruppe der ligrotatariichen Völker an, eine Anficht, deren Haupt⸗ 








56 Mqheſen | 
vertreter Nast in feinem Werke „Meder das Alter und die Gchtheit der. Heudſprache! 


ift, nachdem ſchon Klaproth auf dieſe Vermandtfchaft, namentlich mit ben Fiumen und 
Samojeden, als einen bemerkenswerthen Umſtand in der Geſchichte ihrer Sprache auf 


merkſam gemacht hatte. Dagegen haben Bopp und Raſun eine Affinität deu Abe 


fifchen fomohl, wie der Sprachen einiger anderer kaukaſiſcher Volker mit dem indo⸗ 
germanifchen Sprachflamm nachgewiefen, was Pott und Koch, Legterer freilich ein 
incompetenter Gewaͤhrsmann, nicht anerkennen wollen. Wie dem nun-fein mag, ſo 
läßt wenigftens die abchaſiſche Sprache auf urfprüngliche Verwandtſchaft mit: der yon 
den Küftenvölkern des Schwarzen Meered in: verfchledenen Dialekten geredeten Spräche 
der Ifcherkeffen oder Adige, wie fich dieſes Volk ſelbſt nennt, ſchließen. Das Gebiet 
der Abchafen wird durch die große Kette des Kaukaſus in zwei Hälften gefondert und 
begreift in der fünlichen Hälfte zroifchen der Noſymtha und den Ingur: das Laud ber 
Samurfahan zwifchen dem Ingur und der Galidſa; das eigentliche Abchaflen, zwiſchen 
der Galidſa und dem Bſyb; das Land der Dſhghethi, zwiſchen dem Biyb und ber 


Sſotſcha, und das der Saddenf, an den Quellen des Bſyb und der Mofymtha; Im 


(4 


der nördlichen Häffte: das Rand der Bafchaghl und der geflüchteten Kabarder, zwiſchen 
den großen und Fleinen Selentfhuf; das der Abadſa, zwifchen dem Urup und dem 
großen Selentfhuf; das der Bafchilbey, an den Duellen des großen Selentſhuk und 
des Urup; das der Wyſylbé y, der Tamm und der Schagirey, an ben Quellen der 
großen und Kleinen Laba; das der Bagh, an den Quellen des Chods, und endlich das 
der Barakai, an den Quellen des Gups. Im Allgemeinen find die Abchafen Das 
alferrohefte Volt des Kaufafus, fie haben weder ven ritterligen Sinn der Tſcherkeſſen, 
noch die Biederfeit Der Georgier, noch den ®ewerbfleiß der Lesghier, noch Den portiſchen 
Hang der benachbarten Mingrellee und Imeretir — kurz feine der hervorſtechenden 
Eigenfchaften, wodurch die übrigen Gebirgsvölker fih mehr oder wertiger von einander 
auszeichnen. Wie In ihren gefellichaftlihen Zufländen, fo auch m Phyſtognomie und 


Körperbau unterfcheiden ſich die Abchaſen wefentlich von ihren tſcherkeſſiſchen Machbars- 
voͤlkern. Bei dunkler Farbe und unregelmäßiger Gefichtsbildung bat ihr Geſicht einen 


bei Weltem roheren Ausdruck; ihr Körper ift bager, gewöhnlich von mittlerer Größe, 
dennoch aber Eraftvoll und gut gebaut, ihre Haare find ſchwarz, doch findet men auch 
nicht ſelten blonde Individuen unter ihnen. Mit der Außerften Unwifſſenheit verbinden 
fie einen graujamen, argliftigen und rachfüchtigen Charakter, der ſich ſowohl in ben 
Kämpfen gegen die ruffifchen Truppen, in ihren häufigen Seeränbereien, fo wie in ber 
ewigen Blutfeindfchaft gegen die benachbarten Stämme fund thut. Ohne Geferg wand 
ohne Burcht vor ihren Fürften vertrauen fie nur auf ihre Waffen, die fie nte ablegen; 
übrigens find fe gleich allen Bergvoͤlkern gaftfrei und abergläaubtjch. Ihre aus Reiſtg 
zufanımengeflochtenen und mit Lehm überkleiveten Wohnungen Tiegen in geringer Ent 
fernung von einander und find von einem Gehege aus Reiſig oder Dornhecken 
umgeben, der Hof befteht aus einer freien Bläche, wo man abfichtlich einige Bäume 
ſtehen Tieß, unter denen die Famille im Sommer ihre Mahlzeiten halt. Die Abchaſen 
treiben nicht unbebeutenden Aderbau, bearbeiten indeß nur fo viel Beld, als nöthig HR, 
fie dad Jahr hindurch zu nähren; die zu bebauenden Strecken wählt Jeder nach Gefallen, 
denn eine gejegliche Abtheilung der Laͤndereien findet nicht flatt und bis jetzt bat Fi 
dartıber Fein Streit erhoben. Maid und Kukurus (eine Art Hirfe) find die wichtigſten 
und faft einzigen Getreivearteri, welche man baut, Weizen fehr wenig und. Gerfte faf 
gar nicht. Die Viehzucht ift bebeutend, ihr Hornvieh iſt fräftig, aber klein, bat fehr 
ſtark bervortretende Augen, aber ein fehmadhaftes und fettes Fleiſch; die Schafe find 
von vorgüglicher Güte; die Ziegen die beften im wefllichen Theile des kaukaſiſchen 
Zanded und ihr großer und fchöner Pferdeſchlag ift berühmt. Trotzdem ſich die Exifley 
des Abchafen auf Viehzucht ftügt, Tegt er doch niemals Wiefen an, und obwohl haͤnftg 
ein firenger Winter eintritt, fo denkt er doch nicht daran, Worrathe von Heu einzu 
fammeln, weshalb nicht felten Viehfall vorkommt. Die Weiden find Gemeingut; Im 
April zeigt ſich das Gras und fleht bis in den Spaͤtherbſt in Fülle und vorzuglicher 
Güte da. Weinbau betreiben die Abchaſen in großer Ausdehnung und gewinnen 
was den nicht fehr großen, aber ungemein zarten Trauben ver allenthalben an ben 
niederen Abbängen der Berge und in den Ebenen üppig wachfenden eben einen ſtatken 


Siheien. u 


Bern in bebeutender Menge, aus welchem bie Armenter einen angendhiten Bramutwein 
zu deſtilliren wiſſen. Auch Bienenzucht wird in ziemlicher Ausdehnung betrieben, ihr 
Honig iſt jene von dem gewöhnlichen verfchieden: er ift das Erzeugniß wilder Biene; 
welche in ven Belfenfpalten haufen, Wachs und Honig bilden beinahe Eine kryſtalliſtete 
Maſſe von augenehmem Geſchmack und Geruch. Es ift Fein Zweifel, daß in Den von 
don Abchaſen bewohnten Bebieten fich Metalle jeder Art und namentlid Ehen ſfindet, 
aber das rohe Volk verfieht nicht fle- aufzufucken; fchon vor alter Zeit hat man eine 
Btelader in dem Duellland des Fluſſes Gumiſta aufgefunden und bearbeitet fie. inmer 
noch: hat man einen Stein losgebrochen, fo braucht man ihn nur Einmal. zu fchmotzen 
wid gewinnt ein Blei von vorzüglicher Güte. Auf gleiche Weile wird das Blei vom 
Berge Jeswinuſt, dem Dorfe Akakna gegenüber, gewonnen. Die Erzgruben ‚gehören 
Aiemand beſonders, ſondern Jeder bricht berans, jo viel er bedarf, rin Umweſen, 
von Aupland binfüro fleuern muß. Die Producte des Gewerbfleißes ind fehr unbe 
Deutend: außer, daß man an mehreren Orten des Landes Gewehre, Säbel und Dolche 
verfertigt aus den Eifen, weiches man von den Türken erhaͤlt, giebt es Handworker, 
weiche Silber und Gold zu einem ſchwarzen Email kunſtlich zu verarbeiten willen. ist 
den Hausgebrauch bereitet man in jedem Haufe ein dickes Tuch von: grauer oder gelbe 
Barbe, eben fo Bilzmäntel und bünne Zeuge aus Baumwolle, weiche mau aus Der 
Türkei erhält. Der Haupthandel wird mit den türkischen Stäbten Batum und Trapo⸗ 
zent geisieben und befteht in Eiſen, Salz, Waffen jeder Art, jeidenen und baumwollenen 
Stoffen, Saffian von verfehiedenen Farben und beſonders Pulver. Dagegen geben fis 
Mais, Schiffbauholz aus ihren reich mit Eichen, Ahoenbäumen, Buchen und Platanen 
beſtandenen Wäldern und: Palmenholz, d. i. Muchsbaumholz, ferner Gunig, Was 
und früher Gelaven, d. 5. mweggefangene Ruſſen und Mingrelier. Vehterrm Sambel IR 
gekeuert, wie in der Reuzeit wurch bie ruffifche Regierung vie Realiſtrung des hochſten 
Wunſches der abchaflichen jungen Mädchen in ein türkiſches Sarem zu kommen, zu 
einer Unmöglichkeit geworden if. Die Abchafen haben feine eigenen Münzen: die bei 
pam umlaufenden Gold⸗ und Gilbermängen find ruſſiſche oder türfifche; eben fo Den 
hält es fich mit ven Maßen und Gewichten. Das Volk der Abchafen- befisht aus ww 
Gtänden: 1) Bauern, zu denen auch die Sclaven oder Kriegsgefangenen gerechtot 
werben; 2) Edelleute and 3) Fünſten, große Grunpbefiger und Haͤuptliuge. Außer 
dieſen drei Ständen giebt es noch einen vierten, Tſchinanſcha genannt, weldger DA 
Leibwache des regierenden Fürſten bildet, und, obwohl aus dem Bauernſtande ent⸗ 
ſproſſen, dennoch Adelsrechte genießt. — So uncultivirt, wie bie Abchaſen find, De 
ſeit Jahrhunderten in ihrem rohen Zuſtande vegetiren, ohne je einen weſentlichen Fori⸗ 
ſchritt zum Befferen zu machen, fo können ſie auch keine Geſchichte haben, wenn man 
anders nicht die Verheerung szuge fremder Völker, deren Zeugen fie waren, ober die Auf⸗ 
zahlung einer Reihe blutiger Kämpfe, an welche ſich keine andere Ynee als Die des Raubee 
und Mordes knüpft, Geſchichte nennen will. Range und zu wiederholten Malen Hals 
Abchafien unter der Botmäßigkeit fremder Eroberer. Die beiden Volker, weite fi 
am Längften in der Herrfchaft des Landes behaupteten, waren Wie Georgien und die 
Iürtn. Schon unter Juſtinian wurde burch griechifche Mifflonare- das Chriſteuthuui 
in Abchaflen eingeführt, doch war es bier wie ein edles Reis auf: ven wilden Baum 
des alten Aberglaubend gepfeopft, das wieder verborrte und abfiel, ehe denn #6‘ Fukdiie 
getragen. Unter der Königin Thamar, welche ‚Abchaflen ihrem Weiche «inverleibt hatte, 
wweden die Abchaſen aufs Neue zum Ghriftenthum bekehrt. Heutzutage findet man 
Beine anderen Spuren mehr davon, ald die Ruinen der zum Thell prachtvollen Alstluke 
und Kloͤſter, wo das Evangelium einft verfündigt wurde. So large Die Herrſchaft 
Der Georgier dauerte, waren die Abchafen dem Namen nach Ehriften; unter ber. Herr⸗ 
ſchaft der Türken wurden fle Muhamedaner und ficherlih waͤren fle eben. fo gute Juden 
geworben, als fie Gäriften und Muhamedaner waren, hätten ‚die Kinder Iſrael einmal 
das Land erobert. Heimlich blieben jedoch Die Abchaſen immer ihren alten Sitten 
und ber Verehrung ihrer alten Gdtzen treu, obgleich #3: nit ausblaben Tannde, 
vos fi Nanches aus dem Chriſtenthum und dem Yslamı mit ihrem Gulens "nem 
miſchte. So feiern fe mehrere Feſttage, eſſen Schweinefloifch und halten bdas Kung 
heilig nach der Weiſe der Chriſten; auf ber anden Sitte brobachten fie Aufn and 


”s Spalt 


Waltungisn en das Streugſte war bufden Vielmeikersi nach are Weife:aen Maölamk 
Die alten. Kischen und Klöfter, obgleich fie unbenupt daſtehen, gelken. dem Volke für 
heilig. Auf ihren Altäsen legten die Abchaſen früher und legen fin, vahrisheinfich jetzt 
wi nach Rückkunft eines glücklich beendigten Streifzuges simen Theil der Beute alæ 
MQufen nicher. Wie Mefiticha, der Gott der Wälber, einer ihree wenuchwilen:Sätter ‚na 
jo heben ſe noch heute eine große Verehrung vor alten Bäumen und beſonders nor 
Eichen... Ieder Stamm beiigt eine folche auserkorene Eiche, welche bei. feierlichen Ver⸗ 
handlungen gleichjam ald Zeuge angerufen wird. Vor jeder gemeinſam wichtiges 

g, und bejonders per ‚einem Feldzuge, verfammeln fe ſich um Die ehrmin⸗ 
digſten Sichen des Waldes, fchmüden die Achte mit Waffen und bunten Tüchen, 


. Beeähsen den Stamm mit ihren Schwertern und fprechen habei ein auf ide Vorhabes 


begkigliches ·Gelubde aus. In den der Küfte näher wohnenden Staͤrmen, wo fick her 
Einfluß: Ard Islam fchon mehr geltend gemacht hatte, find Die alten heidniſchen Bebräucht 
Far .gngmerichwunden, während fie im Innern der Hochgebirge noch in ihrer urfiprüng« 
lichen Rigentbünlichkeit fartbeftchen. — Die Abchafen ſtanden früher, wie Die gaacgiſche 
Ehronit᷑ äh, unter Königen, welche faſt fortwährend Mit des benschbansen Wölfen 
bar: Kriege begriffen waren; ſpaͤter, ald das Land felbft zu mirbsrholten Malen die 
Beute fremder Herrſcher wurbe, loͤſte fi das Königtbum auf, und das Volk Ichte 
Yahrlsınnonte lang unter ähnlichen Verhaältniſſen, mie wir fie heute noch bai pen Tſchat⸗ 
Laſſea finden. Die jetzige Dynaftie wurde yon einem georgiſchen Fürſten auß der Kangikie 
der chermaſchidſe gegründet, der fich gleich feinen Rashfolgern in der letzten Gälfke 
des vorigen Jahrhunderts gewiſſermaßen ald türkifcher Unterthan betrachtete. Im Jahre 
1808: oder 1807 gemährte der Finſt Kelem Bei nem durch Freundſchaft und Vermandi⸗ 
ſchaft mit ihm verbundenen, aber von der Pforte abgefepten Leber Paſcha von Trape⸗ 
mon einen Zufluchtöort; der Sultan verlangte feine Auslieferung, aher . Kelen Bi 
ſchuͤtzte Die Unmöglichkeit vor, dad Mecht der Baftfreundfchaft zu veriehen, beichränke 
ſich herauf, ihu aus feinem. Gebiete zu emtfernen und verfchaffte ihm Die Mittel nach 
Nußland zu geben. Die Bforte, außer. Stande, der Ungeharſamen zu firafen,: wiegelke 
feinen eigenen Sohn Aslan Bei gegen ihn auf, indem fie ihm für. ben Kapf feinse 
MWeters die Belehnung mit Abchaflen und noch andere Ehren verſprach. Die Begierus 
wach Unabhaͤngigkeit und eigener Herrſchaft machte Adlan Bei zum Vatermoͤrdex, am 
Mei 1808; da er jedoch im Volke keinen hinzeichenden Anhang hatte und die 
chung Sokum⸗Kaleh, wo er ſich nach begangenem Verbrechen einſchloß, von. Ren 
Nuſſen angegriffen usb bald esobert wurde, fo floh er zu den Tſcherkeſſen. Won. Disfer 
Bet an datirt die Oberherrſchaft Rußlands über Abchaflen,. deſſen jetziger Fürſt 
Michael Rußland feine Bildung, fo wie die Anerkennung ſeiner Herrſchaft Seitens aller 
Abchaſen nach Niederwerfung eines abermaligen Aufſtandes im Jahre 1824 zu banfın 
Bet. obgleid, feine Herrſchaft üben das Volk, namentlich über diejenigen, welche ſich zum 
muhewedaniſchen Glauben bekennen und die zwei Drittheile der ganzen Bevoͤlkerung 
aismachen, ſehr beſchraͤnkt i t. Zu 
Abdecker (Schinder, Caviller, Fold⸗e oder Wafenmeifter, Freiknecht) find die Knechte 
Den Scharfrichters. Während dieſem die Vollziehung ver nicht eatehrenden Todeaſtraf⸗ 
der Enthauptuug und bei ben übrigen. die Beauffichtigung der. Vollfisedung ‚ohliegt, 
haben, jene. hie: entehrenden Todesſtrafen ned Haͤngens und Raͤderns, in ältern Zeiten 
euch des Sädend, Kolterns, Stäupens, ‚der Ereutionen im Bildaiß, des Widerrufs 
in sine: Andern Namen, des Verbrennens ber zum euer verurtheilten Schriften, des 
Besbnechend ver Wappen u, bergl. zu verzichten. Doc find in. manchen Rändern. hictzu 
auch beſondere Denker angeftellt, während binwieberum in andern, 3. DB. is. pglanı 
won Spanien, zu den Kimsichtungen Tagelöhner gemiethet werden. uch in, Frauk⸗ 
voii, wo Übrigens im neuerer Zeit für alle Todesſtrafen die Guilletine angawendet 
weh, — iſt die Berechtigung des Henkers nicht fo amfaſſend, als in Deutſchland, iv 
Deus: Bien. nie Scharfrichten. in Den Regel für alle in einem gewiflen Bezirk vorfommyp- 
Yun nthespiungen angeſtellt find. Außerdem bat der Abdecker das gefallene eh 
wegzuſchaffen, qu häusen aber abzufenern und zu verſcharren. Gewoͤhnlich erhält, er aid 

Dafür Die Flechſen tgum Reimsfieden), währenn das Fell, Die Haare, Hörner und Hal 

var Cadaver dem Mchaifrich er zufallen. Mach dentſchem Recht waren bis, Abpeder 





..Biitederdi. | 


oies, odar minbefiens doch antachig. Me bekanntes altaevaches 

Lautat: „Baer, Schaͤfer, Schinder find Geſchwiſterkuader.“ Ihre Kinder: aber, weun 

Be nicht des Vaters Gewerbe ergriffen, blieben gewähnlich im vollen Beſchh der 

lchen Mhre. In neueren Zeiten if das Vorurtheil gegen Die Abdecker von der Gefeg 
reprobirt; man bat jogas in Preußen ihnen Die Waflenehre verliehen, und, we 

ihmen das Einfangen bes Hunde übertragen. ift, felbft verſucht, den Charalter mb. * 
ben der Polizeibramten für fie in Anſpruch zu nehmen. 

Abdederei Echarfrichterei, Cavillerei, earnibeina) if bie Wohnung. des Som 
eirßtent, auf welsher in Der Regel das Amt und bie Gerechtigkeit wuht, fo Dab:gewüle- 
Uch Scharfrichter nur werden Bann, wer. ein ſolches Grundſtack erwirbt... Haufig Kilnen 
“auch die Scharfrichter noch sine beſendere Zunft unp mo dies den Fall, da geben. Me 
Scharfrichtereien nur auf Kinder van Scharfricktern oder ſolche über, welche ‚ala. Frch⸗ 
Imechte gebient haben. Den Scharfrichtereien klebt zumeiſt auch Die Abdekete⸗Merech⸗ 
tigkeit an, veren rechtlicher Urſprung fehr verſchieden if. Theils gründet ſich Dizfeiße 
in einem Lehno⸗, Erbpins-, Gobpachtd-Verhältsig, — feltener in Zeitpacht, — - woikel 
Dis Lehnseigenſchaft ft verdunkelt, bie Beobachtung der desfaltſigen geſeglichen Bow 
ſchriften ft außer Acht gelaſſen iſt; theils auf perſonlicher Mewerbe ⸗ſßoneeſſſon uf 
Grund gutsa⸗- und gerichts obrigkeitlicher Rechte; theils in Verjährung und eigentheen⸗ 

Durch Kauf etworbenem Beſitz; theils in. bloß ſtillſchweigender Duldang Seitens 
des Staats. Häufig auch war das Eigenthum ber Abdeckereien mit den Rittergätere 
:serbunben oder den Gommunen zugehörig. In ben älteren — 
Pesvinzen ſind Die mit den Abdeckereien verlindenen Scharfrichtereien in der Megel 
6 Aemter und Gerechtigkeiten betrachtet und vom. Landesherrn in ber Form Yan 
Lehen verlichen. Auch bat Der Staat ſeit 1720 die Anfegung der Scharfeichter ls 
ein then zuſtehendes Recht vindicirt, in Folge befien fie — nementlich in der Maul 
Braubenburg — der Jurisdietion einer beſondern Scharfrichter⸗ Commiſſton (des bp 
und Hof-Tägermeiftets und Hausbogts), ſpaͤter der Juſtizbehoͤrden unterworfen wurdest. 
Seit 1843 find aber die Regierungen ſelbſtſtaͤndig mit Bearbeitung der Shurfpigterds 
un Abbedevei-Angelegenbeiten beauftragt. 

Ebenfo verſchieden wie ihre Entftchung iſt auch ber Umfang der Nohedruch- Ge 
rechtigkelt. Oft beſteht fie nur in einem Zwangd- und Bannrecht, d. 4. Der Vetech⸗ 
gung, von den Einwohnern eined gewiſſen Bezirks die Ueberlaſſung des gefulkenin 
ser abfländig gewordenen Miches zu fordern; oft auch in einer ausſchließlichen .Gir 
werbeberechtigung,, d. i. dem Mecht, Anderen den Betrich des Abdeckerei⸗ Gewerbes zu 
unterfagen oder fie darin zu beichränfen. Da, wo die Abdeckerei⸗Derechtigkeit «ld ‚cin 
Nealtecht auf einem Grundſtück rebt, äußert ſie ihre Wirkſamkeit in der Regel .unch 
beiven Richtungen. Nicht felten unterliegen den Zmwangs- und Bannreckt micht: alle 
Biehgattungen; insbefondere hat der Abdetker gemeinhin Fein Hecht auf. Die. in dena 
Schaͤfereien gefallenen Schafe, in Defterreich auch nicht auf die gefallen ober. 46 
ſtochenen Bilitärpferde, indem hier jeder Solbat fein gefnllenes oder unbrauchbar gr 
wordenes Pferd ſelbſt abdecken muß und der, Erlös für die Haut der Militäckaffe ‚ge 
flleßt. Auch iſt oft zweifelbaft, ob dem Zwangs⸗ und Banusecht nar das verendeir 
‚oder auch das kranke und zum landwirthſchaftlichen Gebrauch untüchtig gewordene Bin 
unterworfen ift; ob ben Vichbefigern freifteht, ihr Vieh ſelbſt oder durch Ihre: Lente 
abzuledern, oder ob fie verpflichtet find, das gefallene Vieh anzufagen und den Ab- 
deckern zu überlafien. Was diefer dem Eigenthümer ald Bergüsigung dafür zu ger 
-wähsen oder davon zurüdzugeben bat, ift nah Ort uns Gewohnheit ſehr verſchleden. 
Zar Betreff der durch ein Privilegium verliehenen Abdederei» Gerechtigkeit iſt im Iabee 
4853 feftgeftellt, daß fle dem Berechtigten a. die Befugniß gebe, in dem ihm ange 
‚miehenen Bezirk jeden Anderen: vom Abdecken bed Viches (dem Gewerbößetrishe). * 
:yafchlieien; b. auch gegen die einzelnen Viehbeſther und Bewohner feines Bezirksein 
NHwangsrecht begründe; ferner c. ein ſolches Abdeckerei⸗Privilegium nicht durch: hei 
‚Ust. 42 der Verfaſſungs⸗Urkunde vom 31. Januar 1850 betroffen und aufgehoben 
Sei... Nidgt nur dieſe Uinficherheit und Verdunkelung in dem Hechtöguftanbe der .Beredie 
iger und Verpflichtsten, ſondern auch. Die unldugbare Thatiache, daß das ruhe Da 
Arthoil gegen Die Verrichtungen des Abdeckers beinahe ganz. geſchaveniden tb, sub. dag 


ze Abberb·ſcher. 


"et. Laudwirchſchaft haben den Wunſch rege gemacht, vie Abloſung: Ber 
Abdeckerei⸗ Gerechtigkeit anzubahnen. Man machte geltend, daß durch Einführung. Ber 
Rebichlächtereien und fonftige eigene Verwerthung der Thiercadaver Seitens ber: Be 
theiligten den Abvedern mehr und mehr die Stoffe ihres Gewerbes entzogen werben; 
anderer. Seits, daß fowohl dem größeren Grundbeſttzer und hauerlichen Wirthe, wie ben 
ſegenaunten kleinen Leuten durch Befreiung von dem Zwangs⸗ und Bannvecht ber 
Abdecker das einzige Mittel zum theilweiſen Erſatz ihres Schadens und die Moͤglichkett 
gewährt werde, ihr Eigenthum von laͤſtigen Feſſeln zu befreien und ben Zeitverhaͤlt⸗ 
niſſen angemeflen zu verwerigen. Man if daher in Dreußen ſchon feit 1829 mis Erlaß 
nes neßfalffigen Geſetzes beſchaͤftigt, deſſen Erfeheinen bis dahin nur noch Durch das 
Bedenken aufgehalten war, einer Seite, ob dad Bebürfniß bes Geſehes für Den ganzen 
Umfang der Monarchie anzuerkennen, anderer Seitz, ob bie Ablöfung unter Mitwirkung 
ner Staatskaſſe — analog den Grundfägen der Algen. Gewerbe⸗Ordn. vom.17. Jau. 
1845 — herbeizuführen und als gefeglich allgemein anerkannte Nothwendigkeit auszu⸗ 
ſprechen, oder — analog den Grunpfägen des Abloͤſſungs⸗Geſetzes vom 2. und 14. 
Wär; 1850 — von dem Antrage der pflichtigen DViehbefiger abhängig zu machen und 
durch .eine von den Zwangs⸗ und Bannpflichtigen aufzubringende Entſchädigung auszu⸗ 
führen je. In dem immitteljt zur Annahme gelangten Geſeze vom 15. Iannar 1858 
bat man ſich für die letztere Alternative entſchieden. Die weſentlichſten Beſtimmungen 
dieſes Geſetzes find folgende: * 

. 1 Die Aufbebung oder Ablößbarfeit der mit den Abdeckereien verbunbenen 
Hwangs⸗ und Bannrechte. Letztere fallen in Folge der Publication der Gefetzes Vor⸗ 
iage fofsrt ohne Entſchädigung weg, wenn fie Dem Fiscus oder einer Kämmerei oder 
Vemeinde zuſtehen. Oder aber die in. Dede fiehenden Zwangs⸗ und Bannrechte find, 
wein fe anderen Berechtigten, als den oben erwähnten moralifihen Perſonen zustehen, 
gegen Entſchadtzung ablösbar, jedoch nur in Folge einer Provocation der Banupflich⸗ 
ugen nach Analogie des F 5 der Gewerbe⸗Ordnung vom 17. Januar 1845. — 
U.. ‚Ballen in Folge der Publication des Geſetzes fofort weg: a. die Berechtigung, 
Conceſſionen zur Errichtung von Abbederei-Anlagen oder zum Betriebe des Abdedeseh 
Gewerbes zu ertbeilen; b. alle Abgaben, welche für den Betrieb des Abdederri ⸗Ge⸗ 
werbes entrichtet werden, und c. die Berechtigung, dergleichen Abgaben aufzulegen. — 
Auch diefe Berechtigungen fallen wiederum ohne Entſchadigung weg, wenn fie dem 
Fiſcus .oder. einer Kümsmerei oder Gemeinde zuftehben; wenn fie aber anderen Berech⸗ 
tigten ‚zufiehen, fo wird. dafür eine Entichäbigung aus der Staatskaſſe gewährt. + 
Die von den ÜbbedereisBefigern zu zahlenden Abgaben, welche ald „Grund» Abgaben‘ 
smzufehen: find, bleiben beitehen, find. jedoch nach. denfelben Regeln wie alle übrigen 
Grund Abgaben ablößlih. — Hl. Micht alterirt werben die audjchließkichen Abdeckerei⸗ 
Berechtigungen, wenn ſie nicht mit Zwangs⸗ und Bannrechten verbunden find, ımd die 
Hent- Gewerbe⸗Berechtigungen der Abpeder. In foweit nicht ausſchließliche Gewerbe⸗ 
Bereihtigungen entgegenfteben, follen die Regierungen befugt fein, Abbederei ⸗Bezirke 
einzuführen; ‚bingegen foll den. Inhabern einer bloßen Real - Berechtigung kein Wider⸗ 
Mruchsrecht zufsehen, und foll ihnen nur geflattet fein, innerhalb der Grenzen des Ba 
zirks, auf welche wie Berechtigung fich bezieht, auch ferner ihr Gewerbe auszuüben. 
(S. im Uebrigen Scharfrichterei. 

.  Abdsel-Kader (Sivi EL Habfchi Abd⸗el⸗Kader Ben Mahiddin). Hätte dm. Bar 
ſchall Graf Bourmont nicht Algier erobert und die Herrfchaft des Dey's vernichtet, fo 
wurde Sidi Mahiddin's Sohn wahrjcheinlich ein berühmter muhamedaniſcher Geiftlicher 
gemejen, vielleicht ein Heiliger geworden fein, denn. er ftammt aus einem Prieſtergeſchlecht, 
Dub niemals. Die. gwiefache Legitimität der türfifchen Herrichaft in Mordafrika, die vom 
weltlichen, wie. vom geifllihen Oberhaupt des Muhamedanismus audging., beſtritten 
Haben würde, obwohl dieſe Herrfchaft fchwer genug auf den eingeboren Stämmen 
daſtete. Abpsela Kader wurde 1807 in der Ghetna von Mascara geboren, bart 
nshielt er feine Erziehung in der Bildungsanftalt für muhamedaniſche Prieſtet, 
die dort unter der Leitung feines Vaters. Sidi Mahiddin beſtand. Die Keitumg 
dieſes Seminars fcheint erblih in Abbrel» Kaver's Familie geweſen zu fein. Schen 
dam achten Lebendjahre begann Abd⸗el⸗Kader feine Laufbahn, indem er feine erſte Pilger⸗ 


Abb⸗el⸗Order. | 4 


feet nach Melle und Medina that; ſeitdem führte er den Ehrennamen el Gaufahe; 
dr Pilger. Sobald bie. in den Augen der Araber legitime Serrſchaft Der Türken 
gefallen war, erhoben fih die Stämme zum Kanıpf gegen die. Ungläubigen. Ubbreis 
Kaber's DBater predigte den heiligen Krieg und war auch zu Aufang ber Fiber im 
domfelden; als‘ er «ber fühlte, daß er dem Oberbefehl nicht gewachfen, lenkte er bi 
Arfinerkſambeit wer Araber auf jeinen Sohn, dem einft ein Derwilih zu Melkı nit 
Sulteuswürde prophezeit hutte. Abd⸗el⸗Kader, von dem man fagen. kann, daß er BE 
guten Gigenfchaften feiner. Stammedgenofien im höchſten Grade, Die ſchlimmen aber 
ner in geringem Maße: in fidh vereinigt, deſſen Sittenreinheit namentlich ſehr gerüͤhent 
wird, begann nım jenen wunderbaren Krieg gegen bie Branzofen, bir ihm weit in dei 
ganzen Welt einen Hamen gemacht bat. Nach vierfährigen Kampfe ſchloß Ab⸗el⸗ 
Kader: Friiten erſten Frieden mit Frankreich, am 26. Februar 18334, Dei ihm ai 
Erir vie ſonveraine SHerafchaft über Mascara zugeftand. Der veligibfe Fanalid⸗ 
ward, ber den jugendlichen Emir befeelte, den er ben Arabern mitzutheilen verſtand, 
hatte: Große8 gewirkt und der Erfolg gab ihm das höchſte Anſehen unter den mahs⸗ 
mebanifipen Bevollerungen. Wit großer Klugheit, ungehinvert von dern Bramgofen; 
geundete Abd⸗el⸗Kader feine Macht fefter und fefter,  untermarf nad und nacdh-eiiE 
um Madeira wohnenden Stämme, zuleht felbft den mächtigen Bei der Duaird uund 
Hwelas, und gewann die Sefchlagenen und Unterworfenen danach durch Nachficht und: 
Ritve. Am höchften fiteg das Anfehen des Emirs, ald er den Scheich Mufia-cuDeake 
tni, der als ein Held des Glaubens aus der Wüfte beranzeg, mit Hülfe feiner Ar⸗ 
Wilerie belegte. Muſſa⸗el⸗Darkui wollte erft den Emir züchtigen, weil er mitIew 
Mnglänbigen Frieden geſchloſſen, dann aber die Aranzofen ſelbſt vernichten: Nach ef 
Miederluge, die ihm Abd⸗el⸗Kader beigebracht, verſchwand er ſpurlos in der Wäſte: 
Yept wurde Abo⸗el⸗Kader von allen Stämmen: der Provinzen Oram und Titeni "ai 
Sultan anerkannt und die Prophezeiung des Derwiſchs in Meta war erfülkt, and 
tauchte nun die Sage auf, daß AbdselsKader aus dem Stamme Safchem, ve’ Dem 
Fatimttiſchen Kalifengefchlecht ffamme und berufen fei, das Kaltfat wieder aufzurichten 
Das gab ihm eimen neuen mächtigen. Halt in den Gemüthern der Bevolkerung. Lange 
widerſtand Abd⸗el⸗Kader damals dem Anbringen feiner Glaubensgenoſſen, er hielt He: 
fange von einem neuen Kriege mit Frankreich zurüd, bis die Franzofen ſelbſt den Frieden 
Prahen, beunruhigt‘ duch die fleigende Macht des Sultans. Abd⸗el⸗Kader flegte tue 
Int 1885 ber General’ Irezel an der Malta, nöthigte Clauzel zu dem verluſtvollen 
Rückzug nad Themfan, focht meiſt firgreich in mehreren. Gefechten gegen Bugeaud na 
ieh endlich nach der Schlacht an der Tafna am 30. Mai 1837 den Frieden an Dei 
Xufıra, in welchem ihm die Franzoſen ald Sultan von Mascara und Titert anerkannten: 
Hauptmann v. Muralt, der Abd⸗el⸗ Kader bei einer Zufammenkunft mit General Brigewtib, 
in jener Zeit fah, fagt von ihn: „Abbd⸗el⸗Kader ift von kleiner Figur und. ſtark gebmut, 
feine Stien iſt ſehr außgebikbet, fein Mund ziemlich groß, ſein Auge fanft. Der Aus⸗ 
druck feiner Züge verräth Froͤmmigkeit. Bei jener Unterredung ſagte Bugeaud zu ihm: 
„Bielleicht haben wir nur einen Waffenftillftann gefchloffen, ‘aber Du «allein gewinnt 
dabei. Firchteſt Du nicht meine Artilerie? Und wenn ich Deine Ernten zeeflöte und 
verbeenne? * Abd⸗el⸗Kader erwiederte: „Die Sonne ift meine ‚Artillerie, die Deine Heere 
vernichten wird. Verbrenne immerhin einen Theil unjerer Ernten, wir werden anderswo 
Getreide finden.“ Der Emir machte einen ſolchen Eindruck auf Bugenub, daß er nach 
ber Unterredung zu feinen Offizieren fagte: Quel homme fier! Mais je l’ai forré de 
se lever.“ Das letztere bezog fih auf ein eigenthümliches Ereigniß, das fir Heike 
Mämrier Fehr charakteriſtiſch if; Abd⸗el⸗Kader und Bugeaud lagen bei jewer Untenrebunegi 
an ber Erde; als der franzöftiche General auffland, blieb Abd⸗el⸗Kader gleichgültig 
liegen, Bugeaud wurde ungeduldig, er faßte den Arm des Emirs, hob ihn auf und 
ſtellte ihn auf die Füße. Abd⸗el⸗Kader Tächelte dankbar und bie adhttaufenb gefpenfttz 
ſchea Meter ringsum brachen in einen wilden Zuruf aus, ſie glaubten, der franzöſiſche 
General leifte ihrem Sultan einen Sclavendienft, Bugeaud dagegen bifbete jic ein, eins 
Peine Heldenthat verrichtet zu haben. 1838 erlangte Abbsel-Kaber die Anerkennung 
eirieß Theils Der Kabylenfkämme und Louis Philipp empfing zu Paris einen Geſaudten 
von ibm. Bas war ver Höhepunkt feiner Macht. Im folgenden Jahre ſchon wang 


_ sn 








ihe e Ungedule fohner Unterthanen auf 3 Aare zum Kriege gegen: Frauckreich, cerburfte: 
wicht Kinger zoͤgern, wenn or feinen Einfluß nicht gefaͤhrden on De v 
a des —** don Orléaus durch einen Theil ſeined Gebieted gab ihm Veranluſſang, 
ober beſſer, einen Vorwand und nun fuhr er wie freſſend Feuer mis ſeinen blihſchnellen 
Schaaren tiber Dad Land, vernichtet fanden die franzdfifchen Colonien dahin, ee‘ new 
Str botall in grien,. die Franzoſen höchftens fo weit, als ihre Kanonen vweichten. 
Die ganze Colonie ſchien für Franbreich verloren, da fand Bugeaud drei Offigtere, vie 
fahtg wween, ſein Syſtem ateguführen:: Lamoriciöre, 'Gwpatgnac und Shangarniet. Ge 
cærutirten jenes: furchtbare NRazziaſyftem, gegen das ſelbſt die ablergleiche Kühnhelt 
Ab⸗el⸗Kader⸗s erliegen mußte. Rubend, ſengend mb Seenstend durchzogen bie fra 
zöſiſchen Eolonnen das Land, die ODörfer vernichtend, bie Städte zerſtörend, jedem 
großeren Ochlage aubwrichend. Wier Jahre lang trotzte die ſtühlerne Beharrlichkeit des 
Guss auch dieſem Syſtem, aber er konnte ſich bald nicht mehr verhohlen, daß es mit 
feines Macht zu Ende ging. Seinr Siege, die ihn mehrmals bit vor die Tore Ar 
giersfirhrten; wirgten ihm nichts mehr, ein Stamm nach dem andern flel von ihm ab, 
denn Tri dem Schein der brennenden Dörfer erblich der Zaubergianz des GindB, ver 
Mo⸗eb⸗Kader's Stirne umfirablte, denm Allah iſt, nach dem Glauben der Ataber, nur 
ib: em Nanne, ver große Erfolge hat. Abd⸗el⸗Kader verlor feine eigene Macht, aber 
er/ war eben jo rafch bereit, ſte durch eine fremde zu erfehen. Abb⸗el⸗Kader wendete 
fü im Jahre 1842 nach Marokko und verfuchte, den Sultan von Narokko in da 
Kampf gegen Ftankreich zu ziehen, aber Der Plan mißlang, Sultan Muley Abdurrhameut 
werbor "den Muth ſchon nach Bugeaud's Siege am I6ly und wurde Abdeeb⸗Kadern 
Ddeind. Mau fagt, Abd⸗el⸗Kader babe ihn entthronen und fi zum Gulten machen 
weiten, gewiß batte er im Lande eine große Partei für fh. Mit wechfelnvem nk 
Nanpfte Abdsel-Raber, zwijchen die Franzofen umd die Marokkaner eingellemmt, bad zum 
December 1847. Am BB. December ergab er ſich an den General Lamdriciere unse 
der Besingung, daß ihn Die Frangoſen nach Aegypten ober nach St. Sean d'Acre über⸗ 
en ech. Die Franzofen mußten den Mann Fehr. fürchten, dem fie ſolche Benin 
gen zugeftanden. Am 24. übergab der Emir dem Herzoge von Aumale zu Nemouts 
* res ‚Pferd als Zeichen feiner völligen Unterwerfung. Wärdig und gefaßt ‚zeigte 
a in der Gefaugenfchaft ſtets die Haltung eines in Gottes Willen ergebenen Mufeb 
wunwehi Noch am felben Tage, 24. Deeember 1847, wurde er auf deu „Asmobee* 
wudh- Frankreich eingefibifft; flatt nach Aegypten oder Anatolien, nie man ihm ver 
fpecchen, btachte man den mir mit feiner Familie nach dem Fort von Lamealguk. 
Dort: faß dieſer fucchäbarkte Gegner der franzoͤſifchen Heroichaft in Afrika einige Jahre, 
während der Wirren der Revolution faft vergeflen. Später wurde er nad)‘ Ambotſt 
getewigt unb 1852 freigelaffen, ex hielt fich eine Zeit lang in Paris anf, ein Gegen 
ſtid Der frivolen Meuglerbe der Pariſer, dann Iöfte ver Bonaparte dad Wort, das ber 
Oridans bem Emir im Namen Frankreichs gegeben, er ließ ihn 1853 nach Kleinaſten 
zurfeinen Slaubeus genoſſen führen. Abbͤ⸗el⸗Kader lebt jeitbem zu Bruſſa, mit der 
afostifchen Nebungen feiner Religion befchäftigt. 
:n Abdera, eine berühmte Stadt an ber Thragkichen Küfte in der Nähe ber Mündung 
des Flufſes Neſtud, urfprüngli eine Gründung ver Phüniker, die auch auf den naher 
Juſel Thaſos anſaͤßig waren und in Iberien eine Stadt gleichen Namens beſaßen. 
Ra den Perſerkriegen war die Stadt blähend und müchtig und wurde vergeblich von 
ven Thruziern angegriffen, Fam unter die Gewalt Philipps und der verſchiedenen fpäseren 
GSebleter dieſer Küfte, bis die Römer fie erft plünverten und dann befreiten und ihr 
den O umen einer freien Stadt noch unter den erſten Kaiſern Tiefen. No im Mitteln 
alter setfiheint: fle bel den Byzantinern. Ruinen der Stabt zeigt man bei Polyſtilo oder 
MWeatyſtonon: Abdera war die Vaterſtadt außgezeichneter Winner, der Philoſophen 
Demorrituß, Protagoras, Anararhus, des Dichters Micnenetus wähı 
des "Befsicjtfchreibers Hecataeud Trotzdem flanden bie Einwohner diefer ‘Stat: 
te Alterthuine in dem Mufe des Stumpffinnes und geiftiger Beſchrankthrit, fo daß 
Ahern eines Abalihen NRenomme's wie unfer Schilaburg, PBolhwig, Krähmintel u. f. w. 
ſich wrfeetite.. Wodurch Abdera Dies verſchuldet, möchte: Emm zu ermitteln fett. In 
der MWechiihte Der Stadt bis auf bie Derrſchaft Der Macedonier finbet fi auch 


Adicatien. Abdrnd. & 


% der enifernicite Grund jedes üblen Rufes, und die Schriftſteller er Altea: "FEN 
noch Beine Ahnung Yon einem felchen Eprürkworte gehabt zu haben. Mebuhe 
über alte Länder und Völlberk. S. 235 jagt: „Abbern ift berühmt durch die 
Sage von dei Albernfeit feiner Bewohner, die bid zur böchften Abgeſchmacktheit ia 
deu Wieland'ſchen Roman „Gefchichte der Abderiten? ausgebildet merken di 
Ucher dieſe Mäbrihen bat mean fait vergeffen. daß Dewmocritus, einer ber größten 28 
Geriechenlacds, Hier geboren worden war.“ Vilmar Geſch. der d. Nationalliter. ©. 5 
nennt Wielans's Roman eins der beſten, wenigſtens genießbarſten ſeiner Beer 

Mdieation. Abdautung, iſt der abliche Ausdruck für dem Verzicht eines Nongrchec 
leines Sorveraine per eineß Landetherrn im Sinne ber vormaligen dertſchen Roichs⸗ 

auf feine Herrſchaft. Beiſpielsweiſe mag bier mur an die Abdaubeng 
dos‘ Reife Karl V. (1556), der Königin Chrifline von Schweden (1654), bes Könige 
Bhillpp V. von Spanien (1724), Aarl's X. von Frankreich (1830), Wilhelm's 3 Der 
Niederlande (4840) und aus neurfter Zeit an den in Folge der Ereigniſſe des Jahres 
1848 erfolgten Nüdtritt des Branzofen- Könige Ludwig Philipp, des Kalfers Ferbinan 
von Defiamreich, der Könige Ludwig von Bayern und Karl Albert von Serpügien rinnert. 
werden. "Ein folcher Verzicht, mag der Entichluß dazu ohne äußere Veranlaffung gefaßt 
oder durch Staatsrückſichten herbeigeführt fein, iſt rechtsbeſtändig und unreiberruflleht 
Der Thron wird dadurch erledigt, fo daß in der Erbmonarchie ber nach ber beichenbum 
Gucceffiond » Orbnumg zunächft berufene Thronfolger, oder wenn biefer, mie Gropfark 
Eonſtantin beim Tode ves Kaiſers Alexander 1. von Nußland (1825), der Herzog von 
Angouleme (1830) und Erzherzog Kranz Karl von Oeſterreich in Jahre 1348, Die Arame 
ablehnt, Der zweitnaͤchſte Succeffor fofurt zur Megierung gelangt. Die Abbieatiow get 
Gunßen eines Anderen ift unftntthaft, in fofern die Theanfolge von dem Willen Det 
jeweiligen Inhabers nmabbängig iſt. Der Abpieirende behält zwar aus Courtoiſte bit 
mib Ber Herrſcherwürde verbundenen Ehrenrechte, dagegen entäufßert er ſich aller wirklichen 
HMechte der ‚Souverainetät und Wajeftät gänzlich unb für immer; jedoch kann ein aud⸗ 
weückticher Borbehalt des Wiederantritts der Regierung für einen ſpaͤteren Erledigungbali 
acht als unſtatthaft amgefehen werden; auch ift fein Geunb vorhanden, bie erſt nach 
der Abdientton gebomen legitimen und cebenbürtigen Nachkommen des abgetretenen 
Negenten von der Thronfolge auszufchließen. 

Abbeud,. Ban bezeidinet mit diefem Worte verfchiedene Begriffe. Biumachft 
bedeutet Abdruck die Vervielfältigung eines Schrift- oder Bilämerds 
Dur mechaniſche Mittel. Als Mittel konnen Leitern, Holzftörte, Platten, Stein⸗ 
Bienen, je nachdem eine Druckſchrift, ein Holzſchnitt, ein Kupferſtich oder eine Lithographie 
Gegenftand ver Vervielfältigung ift. Das Berfahren des Abdrucks ſelbſt iſt dieſes, daß 
vie, fei es nun erhaben oder vertieft geftellten, gefchnittenen ober gefischenen Beumuem; 
nachdem fie mit einer Farbe überzogen find, auf einen anderen befiimmten Stoff, z. Wi 
Bapier, durch einen Dru oder eine Breffe übertragen werden. — Gebr gebraͤuchlich 
M in dieſer Beziehnng die Bezrichnung Abdruck beim Buchdruck für wie Verviel⸗ 
faltigung eines Druckwerks in neuen Auflagen. — Wichtig iſt die Unterſcheidung der 
verſchiebenen Abdrücke bei Kupferſtichen, indem ſich ver Werth der leſteren danach 
verfchienen beiktmmt. Die erſten und koſtbarſten Abdrücke eines Kupferſtichs erſcheinen ohne 
gend’ welche Unterſchrift: ſog. o»preuves d’artiste. Dann folgen die zweiten, mit den Ramen 
ves Künſtlers, aber noch ohne jede Unterſchrift verſehenen ſog. Abdrüucke avant In lotlre. 
Ihnen koͤmmen zumächft die Abdrücke mit bloß eingeriſſener Unterſchrift, ven iellre 
grtse; ober: Abbrüde avant la lettre finie. Die letzte Klaſſe bilven die am ıwenigften 
koſtbaren, die gewöhnlichen, in ben offenen Handel fommenden mb mit volter: Umer⸗ 
ſchrift ausgeftatteten Abdrüucke. — In einem etwas anderen Sinne verfieht man unter 
Ühdrud: die Nahahmung irgend eines Körpers durch Abformen def« 
felben in weicher Maffe, die fodann erhärtet wird, um als WMufer 
für Den abzubildennen Körper dienen zu fönnen. Ran macht Abdeucke in 
Wachs, Thon, Gyps, Metall ꝛec. — Solche Abdrücke werden oft zum Zweck der Ber⸗ 
abung eines Verbrechens angefertigt, fo z. B. Abdrücke von Sclüffeim, Stempeln ic. 
So wenig dies im Allgemeinen von der Gefeßgebung verhindert werben kann, fo noth⸗ 
wendig iſt es, daß wenigſtens alle Abdrucke von Stempeln, Siegeln x. die ser beſtimmten 


ip 


“u Abhul Mebfihib. 


Dffentlicgen Behoͤrden zur ausfchließlichen Berfertigung beſtimmter, offentlichen Glauben 
beaunſpeuchender Documente ıc. dienen, verboten werden. Es wärbe ſonſt dad Gemein⸗ 
weſen und bie öffentlihe Orbnung im Staate bedeutend gefährdet fein. — In dieſen 
Sinne beftistmt für das Königreich Preußen das Strafgeſetzbuch vom 14. April 1851, 
Dub Jeder mit Gelobuße bis zu 50 Thlr. oder Gefängnig Bis zu 6 Wochen beftraft 
werden Tolle, weicher ohne fchriftlichen Auftrag einer Behörde den Abdruck von Stempeln, 
Biegen, Stichen, Platten oder anderen Formen, die zur Anfertigimg von Metall- ober 
Papiergeld,) von Stempelpapier, öffentlicgen Befcheinigungen oder Beglaubtgungen 
dienen können, unternimmt, oder Abbräde an einen Anderen, als bie Behoͤrde, 
bverabfolgt Die betseffenden Stempel, Siegel ıc., oder Abdrücke follen conſtscirt 
werven.) — Endlich bezeichnet Abdruck in der Geologie die auf ver Oberfläde 
den Mineralien oder von fonfligen Bertinentien des Erpbodens 
bur den Druck von Fels⸗ oder Erdſchichten entflandenen Abbil— 
Bungen organifcher Wefen. Beifpiele find die oft fich findenden Ichtyolithen, 


Dendriten u. vergl. m. 


Abdbul Medfchid, Sultan der Türkei, („Sa Majeste l’Empereur des Ottomans“ 
und „Sa Majests lmpérialo le Sultan* in der diplom. Sprache), geboren 20. April 
1888, folgte am 1. Juli 1839, ſechszehn Jahr alt, feinem Vater, dem Padiſchah 
Mabmud 1., in Ber Regierung. Das meite Rrich, das die reichfien Küften dreier 
Welttheile umfpannte, befand ſich in der bedenklichſten Rage Mit vieler Kühnheit und 
einer :barbarifchen Energie hatte Mahmud H. durch Die Nledermetzelung der Janitſcharen 
one: ABolitif der Meformen feftgeftellt, weiche in feinem Volke viel und mächtige Feinbe 
fand. Gin faft unabhängiger Bafall, Mehemed Ali, Bicefönig von Aegypten, zog von 
dieſem Innern. Gegenfab geſchickt Nugen und verfolgte, durch Erfolge ermuntert, immer 
Sahrer den Plan eined neuen alttirfifchen Reiches, deſſen Schwerpunkt fünmärtd von 
Konftlantinopel und wieder in Aſten liegen follte. Syrien war bezeitö feine Beute, 
und in Krankreich fand er eine wichtige Stüge. Zwar hatte Mahmud, unter Beiſtim— 
mung Rußlanvs und Englands, einen Aufſtand der Kurden (1837) benutzt, um ben 
VBerſuch zu einer MWiebereroberung Syrien zu machen, aber fein Feldherr Hafis ward 
wenige Tage vor feinem Tode, 24. Juni 1839, bei Nifib am Euphrat von Ibrahim 
Paſcha, den Pflegefohn Mehemed Ali's, aufs Haupt geichlagen. Abdul Medſchid Hatte 
eben ben Thron. beſtiegen, als die Nachricht dieſer verhaͤngnißvollen Niederlage feine 
Hanpiftdbt erreichte. Er war ein fanfter, faft verzärtelter Jüngling, der ſich den rohen 
wad wilden Inſtincten feiner Nation fremd fühlte und für deſſen PBerfönlichkeit es 
bezeichnend ift, daß der Volksglaube ihn ald den Sohn einer Chriſtin (einer ungari« 
ſchen Predigertochter) wiederholt bezeichnet hat. Kranfreich, dad die Zufammenhaltung 
des wartiſchen Reiches wünschte, konnte ihm wohl den alten, aber thatkräftigen Vice⸗ 
Fönig Aegyptens vorzichen. Die eigenen Unterthanen glaubten nicht met an ben 
Stern des Sultans, überall im Reiche brachen Aufftände aus; der Kapudan Bafıha 
Achmed Fewzi, der mit der Ylotte gegen die Aegypter gefandt mar, ging vor Aleran 
dria mit alfen feinen Schiffen zu Mehemed Ali über. Der letzte Augenblid der euros 
paiſchen Türkei war gelommen; da traten zuerft Rußland und England, dann auf 
Die ‚übrigen Großmächte mit Ausnahme Frankreichs in's Mitte. Fürchteten fie die 
Aufrichtung einer neuen alttürfifchen, energifchen, erobernden Macht, oder war ed nur 
die Eiferſucht der einen Großmacht gegen bie andere, welche jede Entſcheidung ber 
orientalifchen Frage binausfchob? Defterreich, England, Preußen und Rußland fchlof 
fen zu London am 15. Juli 1840 einen Vertrag zum Schuge des Sultans; Frank⸗ 
reich drohte Dagegen mit Krieg. Bald legte Mehemed Ali die Waffen nie 
ver, fügte fih (27. November) in die Londoner Beichlüffe und gab Sprien 
und Kreta, ſo wie bie türkiſche Flotte dem. Sultan zurüd. England hatte ia 


N Dem Papiergelve ficken nad) F 124 des Str.⸗G.⸗B. v. 14. April 1851 gleich: bie von bem 
prenßildyen oder einem fremden Staate, oder unter beren Auctorität_ von Gorporationen, Geſell⸗ 
ſchaften oder Brivatperfonen ausgeftellten, auf den Inhaber lautenden Schulbverfchreibungen, Actien, 
oder deren Stelle vertretende Interintsiceine oder Duittungen, fowie die zu diefen Bapieren gehö⸗ 
renden Coupons, Zins: oder Dividendenfcheine. 

*1. S.: Strafgeſetzbuch für die preufifchen Staaten vom 14. April 1861, $ 340 Nr. 4. 


® 


ba! Nebiäib. 6 


dieſen Zeiten ver Bedraͤngniß mehr, Boden am tärkifchen Hofe gewonnen, und 
der Sultan näherte fi, fo weit feine Unentſchloſſenheit es erlaubte,. der Reform⸗ 
partei, an Deren Spike. Redſchid Paſcha ſtand. Sir Stratford Canning, ſpaͤter 
Lord Gtratford de Redeliffe, trat in Konſtantinopel auf, um dort eine Rolle zu ſpielen, 


wie fie felten einem Diplomaten zuertheilt wird. Aber die Ihätigkeit der Gabinete 


und des gefammtien Europa’3 warb in den folgenden Jahren von näher liegenden Din 
gen, ald die Türkei es war, in Anfprucd genommen, und man überließ zunächft den 
Sultan und fein Reich einem orientalifchen Traumleben, in das die Intereflen des 
Sultans für gewifle Zweige europäifchen Comforts und europäifcher Cultur einige 
Abwechſelung brachten. Die Revolution von 1848 erregte indeß auch in einem, wenn 
auch entfernten und nur loſe mit dem Mittelpunkte verbundenen Theile des Reichs, in 
den Donaufürſtenthümern, eine aufrühreriſche Bewegung, in der der Fürſt der Walachei 
vertrieben ward. Am 8. Juli trafen ruſſiſche Truppen in Jafſſy „zur Erhaltung ber 
Integrität der Türkei, welche die Grundbedingung bed europälfchen Friedens fei”, ein. 
Der Sultan zeigte dem walachifchen Aufftande gegenüber große Unfchlüffigkeit, Sulei- 
man Paſcha, der mit türkifchen Truppen bald nad den Ruſſen in die Walachei ein- 
rüdte, beftätigte bie Reformen der Aufſtaͤndiſchen; fein Nachfolger, Fuad Effendi, ver- 
einigte ſich mit dem ruſſiſchen General gegen dieſelben. Es fehlte in KRonftantinopel 
in der That an jedem Maße, mit dem die Bewegungen, in denen dad Abendland nady 
Veränderung feiner flaatlicden und gefellfchaftlichen Zuftände rang, gemeflen und mit 
Hülfe defien fle verftanden werden Eonnten. Nichts defto weniger zeigte ſich in ben 
oberfien Kreifen und jedenfall auch beim Sultan ein eifriged Bemühen, den Forde⸗ 
rungen des Weſtens gerecht zu werden und alle Dinge nachzuahmen, in denen Europa 
etwas Schöned und Gutes ſah. Der Sultan fandte junge Türken in europaifche Bil⸗ 
dungsanftalten, er kaufte europäifche Gemälde und befchenkte franzöftiche Dichter, denen 
er Die DVerficherung geben ließ, daß er ihre Verſe mit Entzüden lefe. Und Reiſende, 
welche vor dad Antlitz des Padiſchah treten durften und feine Rede hörten, bemerken, 
daß allerdings in feinem blaflen, melancholiſchen, verlebten Geſichte, aus dem dunkle 
und kluge Augen hervorſtrahlen, ein nachdenklicher ſinniger Zug, der der Poeſie und 
dem feineren Lebensgenuß hold ſcheine, hervorleuchte. Von der Art und Sitte ſeiner 
Bäter aber blieb ihm nichts, nicht einmal das plößliche Aufflackern einer wilden Leis 
beufchaft, und kein Herrfcher Eonnte fich frievendfüchtiger und fchwächer zeigen, denn er, 
als 1850 im Mai der leidige Streit um die heiligen Orte, durch Frankreich bervor- 
gerufen, zwifchen diefem und Rußland begann. Die Gefchichte dieſes Streites und 
feiner denkwürdigen und blutigen Folgen gehört nicht in bie Biographie eines nur’ 
ſehr nebenfächlichen Theilnehmerd der orientalifchen DVerwidelungen und des Krie- 
ge8; aber immerhin ift doch für den Charakter des Sultans der rege Wille, «8 
Allen recht zu machen, bezeichnend. Er bewilligt dem Marquid von Lavalette, 
dem franzöftfchden Gefandten, alle Forderungen, eben fo dem ruſſiſchen Geſandten 
Harn von Titoff; enblih in bie Nothwendigkeit, eine Entfcheidung zu treffen, 
verſetzt, überläßt er ſich ganz den wechjelnden Einflüffen feiner Umgebungen und der 
mächtigen und fcharfen Bereptigmkeit Stratfords, "der, mit Zuflimmung ber übrigen 
Gefandten, mit der Gewißheit des Siegerd in der zwölften Stunde (21. Mai 1853) 
der Pforte, welche durch Mentſchikoff's Ultimatum gedrängt wird, feinen Rath fürmlich 
verweigert, „da keine Befugnif vorhanden, in einer Frage, welche die freien Entſchluͤſſe 
und bie Souverainetät ded Sultans fo nahe berühre, eine Anficht auszufprechen.“ Die 
ruſſiſchen Truppen überfchreiten den Pruth, die rufflfche Grenze (3. Juli 1853), 

Konftantigopel bricht eine lebhafte Bewegung der Kriegöpartei aus, der Sultan sieht 
ihr für einen Augenblid nach und entläßt feine Minifter, nimmt bald darauf aber ge= 
mäßigten Rath an, ſetzt ſie wieder ein und erklärt den Krieg nicht. in dunkeles Ge- 
webe verfchiedener Einflüffe umfchlang den Sultan dichter und dichter. Ihn feffelte bie 
altsosmanifche DBerfaffung, die noch eine richterliche Prieftermacht neben, ſelbſt über 
ber feinigen anerkennt, und dieſe Gegenmacht erhigte fich immer mehr und drängte auf 
Krieg. Die Großmächte entwarfen am 31. Juli 1853 zu Wien eine DBermittelung3- 
Mote, die ganz geeignet fehien, der Türkei und Rußland genug zu thun, und ſchon am 
3. Auguft Iangte in Wien die telegraphifche Botfchaft an, Kaifer Nikolaus habe diefe 

Wagener, Staats, u. GeſellſchLex. I. 5 


6 Aber · Neheun 


Note angenommen; nicht fo die Türkei. Die Macht der Kriegsopartei war: ſtürkes als 
die des Sultans, ein türfifcher Staatsrath aus ſechszehn Miniftern und, dem Scheils 
ul» Islam, dem oberflen richterlichen und priefterlichen Haupte des Muhamedanismus, 
beftehend, befchloß, die Note zu verwerfen, ſelbſi wenn fie amendirt würde. Die euro- 
päifchen Gefandten machten vergeblich theils ernſtlich gemeinte, theils ſcheinbare Ber 
mühungen, einen frieblicheren Entfchluß der Pforte herbeizuführen. Aufſtände ber 
Kriegspartei im September fehüchterten den Sultan und Die Breunde bed Friedens noch 
mehr ein; nach einigen unbeveutenden Verhandlungen erläßt der Sultan am 4. October 
1853 ein Manifeft nebft Kriegserflärung an Rußland. Noch dauerten die Vermitte⸗ 
Iungdverfuche fort, und es war daher für Die Kriegspartei eine bindende That noth- 
wendig, follte nicht noch fchließlich ihre Rechnung plöglich ducchftrichen werden. Sie 
fanden in Omer Pafıha, einem zum Islam übergetretenen Proteftanten, der früher 
in der dfterreichifchen Armee gedient hatte, ihren Mann, am 6. Detober richtet er auf 
Befehl des Sultans an den Fürften Gortſchakoff die Aufforderung, binnen vierzehn 
Iagen die Donaufürftentfümer zu räumen, widrigenfall® die Feindſeligkeiten eröff⸗ 
net werden würden; am 10. erwiedert ihm Fürſt Gortſchakoff, er babe dazu keine 
Vollmacht, aber auch dazu Feine, Krieg zu führen; am 21. erlangt Lord Stratforb, 
von den Gefandten der anderen Mächte unterftüßt, von der Pforte einen Aufichub 
der Beindfeligkeiten auf zehn Tage; am 23. eröffnen auf Omer Paſcha's Befehl die Kar 
nonen der türkfifchen Feſtung Iſakſcha ihr Feuer auf die Auffen und ihre Schiffe; der 
Befehl der Pforte, die Feindfeligfeiten zu fuspendiren, Fam in Schumla zu fpät an; bet 
Krieg war eröffnet. Ein Hineinfpielen demofratijcher Elemente in die legte Bildung Frieges 
rifcher Entfchlüffe in Konftantinopel ift dabei nicht zu verfennen, aber ed bleibt unaufgeklärt, 
wie weit der Einfluß der feit der Beflegung des ungarifchen Aufftandes in die Türkei 
aufgenommenen Revolutionärd den Fanatismus der türfifhen Kriegspartei geftirkt Hat, 
Der Sultan tritt fernerhin ganz zurüd: in Konftantinopel berrfchen Die Geſandten Eng» 
lands, Frankreichs, Defterreichd, nur als eine ganz Außerliche Decoration wird der Pas 
difchah noch Hier und da gebraucht, und ald dann nad) vielen Wechfelfällen der Krieg 
Bid zu einem gewiffen Punkte entwidelt ift, wo er endlich feine Ausdehnung nothges 
derungen in ein richtigered DVerhältnig mit der Größe der Friegführenden Mächte hätte 
feßen müffen, ſchlägt Frankreich, das fid mit England über die Art der Weiterführung 
‚nicht zu verfiändigen vermochte, einen Frieden vor, und man fchließt ihn ab, ohne ein 
befondere8 Intereffe dafür zu zeigen, welches die Anficht der Pforte über die Wahl des 
Zeitpunftes fein möchte. Der Sultan erließ noch vor Eröffnung ded Barifer Friedens⸗ 
congrefied einen Firman, der die Rechte und Freiheiten der Ebriften feines Reiches 
ausdrücklich ficherftellte, die Herftellung gemifchter Gerichte befahl, Gleichheit der Ben 
fteuerung und des Militärdienftes für alle Untertbanen einführte, und die Bevollmäch⸗ 
tigten des Briedendcongreffed nahmen aus dieſem ihnen mitgetheilten Firman Veran⸗ 
laflung, im Art. 7 des Parifer Friedens vom 30. März 1856 feftzuftellen, daß bie 
Bürften und Mächte Europa’8 „die hohe Pforte der Vortheile des öffentlichen euro» 
päifchen Rechtes und des europäifhen Concerts theilhaftig erklären", und Rußland 
fonnte in feinem Friedensmanifeft (31. März) fagen, „die Vorſehung babe ein Ereigniß 
herbeigeführt, defien Verwirklichung der Grund des Krieged gewefen: die Anerkennung 
der Rechte der Ehriften in der Türkei." Der Sultan bat in diefem Frieden „Die einſt⸗ 
weilige Integrität feine Reiches mit dem Aufgeben des alttürkifchen Syſtems und 
muhamedanifchen Monopols erfaufen müſſen.“ Die chriftlichen Mächte haben, anfnüpfend 
an dieſe Iudifferenz, Die einer der leßten Enfel des Eroberers von Konftantinopel zeigte, 
ihm hriftlihe Ehren angethan. Die höchften Orden des abendländiſchen Ritterthums, 
das im Kampfe gegen die Ungläubigen entftand, find ihm verliehen: der englifche Hoſen⸗ 
band » Orden, der preußäfche fchwarze Anler- Orden. In der Ritterfapelle zu Windſor 
hat er feinen Kirchenftuhl und fein Gebetbuch mitten unter den chriftlichen Nittern. 
Abd:ur-Rahmän, regierender Sultan von Fez und Maroffo, warb den 28. Novbr. 
1778 geboren. Bei dem Tode des Vaters 1794 vermochte er feined jugendlichen 
Alterd wegen nicht zu verhindern, daß fein Oheim, Mulei Suleiman, den ihm gebüh⸗ 
renden Platz ald Sultan einnahm. Mulei war indefien getteöfürchtig genug, in feinem 
legten Willen den Neffen als feinen Nachfolger zu beftimmen und fo gelangte Abd⸗ur⸗ 


" ur Hühınkn. " il 


Nahmin 1883 zur Geglierung rüber ein Land, das Mc zu einen Theile ſtets nur in 
fcheinbarer Abhängigkeit von ihm befunden Hat und in dem einzelne Stämme gleich 
Anfangs ſich auf einen förmlichen Krieg gegen ihn einließen. Er iſt ein eifriger Muſel⸗ 
mann, aber weit weniger fanatifch als fein Bolt und fucht ‚gegen Juden wie Chriften 
gerecht zu fein; bie Strenge ber früheren Kaifer in Vollziehung graufamer, fürchterlicher 
Strafen ſoll er feiten üben. Mit Europa Fam er in manchen Conflict, mehrmals mit 
Spanien, Frankreich, England und Pertugal.  Defterreich führte mit ihm 1828 einen 
formligen Krieg. Die Marokkaner hatten ein venetianiſches Handelsfchiff, das nach 
Rabath gekommen war, auögeplündert und die Mannfchaft in Ketten gelegt, weil Kaiſer 
Franz ſich weigerte, den von Venedig bisher entrichteten Tribut, von 25,000 Thalern 
zu zahlen. Gin dfterreichifches Geſchwader unter Admiral Bandiera erfchien darauf 
an den Küften von Marokko, Lonnte aber weder durch das Beſchießen von Larafch, 
noch wegen der Uebermacht des Feindes vor Mabath etwas ausrichten. Nichts deſto 
weniger bielt die marokkaniſche Regierung für gerathen, Brieden mit Oeſterreich zu 
ſchließen, fle gab daB geraußte Schiff heraus und verzichtete auf den alten Tribut. 
Dur die Hinrichtung des fpanifchen Eonfular» Agenten Victor Darmon entftand mit 
Spanten 1844 eine ernfle Differenz; der Unglückliche war jo unvorfichtig gewefen, einen 
mmollanfhen Agenten auf ber Jagd zu verwunden. Spanien forberte Genugthuung, 
erhielt dieſelbe aber fo wenig, daß die Muroffaner vielmehr ein fpanifches Schiff nahmen 
md die Befakung mordeten. Erſt die englifhe Vermittelung verfchaffte auf diploma⸗ 
Wichen Wege eine Genugthuung. Den durch die fpanifchen Kriegd-Drobungen auf das 
KHöchfle gefleigerten Fanatiamus der marokkaniſchen Bevölkerung verfland der Emir 
Abdsel Kader gegen Frankreich zu wenden. Er gewann durch feine auf den Glauben 
der Mufelmänner geftügten Vorftellungen vom Sultan ein Seer von 10,000 Mann 
und brach mit ihm gegen die Sranzofen auf. Es Fam am 30. Mai 1944 auf fran- 
zöftfchem Gebiete zu einen Rampfe, der mit der gänzlichen Niederlage der Araber endete. 
Nach längeren Beinpfeligkeiten und Kämpfen wurde endlich, gleichfalls unter Englands 
Bermittelung, ein Frieden gefihloffen, der den Sultan von Maroffo verpflichtete, feine 
Truppen von der algierifihen Grenze zurückzuziehen und dafelbft nicht mehr ala 2000 
Mann zu halten, Abd⸗el⸗Kader, falls er in feine Hände falle, in eine Stadt des Innern 
zu vermweifen und die marokkaniſchen Häuptlinge, die den Frieden gebrochen, zu beftrafen. 
Seitdem wurde das friedliche Verbältnig zwiſchen Frankteich und Maroffo auf ernfte 
Weiſe nicht welter bebroßt. | 

Am Mittelmeere, von Centa bis zur algierifhen Grenze, erſtreckt fich ein Küften- 
ſtrich in einer Länge von flebenundfunfjig Meilen, das Rif, die gebirgige Küftenzone, 
von den Arabern Sahel genannt. Dad Land fleigt unmittelbar aud dem Meere auf, 
indem es Felſenwaͤnde, die nahe an 2000 Fuß hinanreichen, und fchroffe Vorgebirge 
bifbet. Hier wohnen die Rif⸗Bewohner ober Bene Gulaffe, die nur dem Namen nach 
unter dem Sultanat von RNarokko flehen, tbatfächlich aber frei und unabhängig find. 
Sie treiben Geeräuberel und plündern jedes Schiff, welches ungünflige Winde oder 
ein Zufall in ihre Gewalt bringen. Im Jahre 1853 Hatten fle die preußifche Handels» 
being „Lange weggenommen und den Gapitain nebft der ganzen Mannfchaft ermordet. 
Zu Anfang des Monats Auguft 1856 paſſirte der Momtral Prinz; Adalbert mit 
feiner jungen preußifchen Marine auf einem Schiffe vie afrifanifche Küſte. Am 6. 
Auguft hatten Die Boote der „Danzig“ ſich der Küfte genäbert, waren aber, da fie 
diefelbe von den Eingebornen befegt fanden, die ihre Gewehre auf die Mannfchaft an⸗ 
legten, und da fie auch weiter Teinen Grund zur Landung hatten, zum Schiff zurüde 
gerudert. Am folgenden Morgen, den 7. Auguft, fuhren die Boote, den Prinz⸗Admiral 
an der Gpipe, abermals dem Lande zu. Sobald fle fich näherten, ward auf fie Feuer 
gegeben. Die Boote erwiederten mit einer Salve und Eehrten zum Schiff zurüd, aber 
jegt wurben bie beiden Kutter und vie Tolle bewaffnet. Unter dem Schuß der Kanonen - 
der. „ Danzig* ding Die Bemannung and Land und raſch war der etma 200 Fuß hohe 
Rohang weftlegen, der. fich ummittelbar an der Küſte erhob. Alsbald brechen von allen 
Seiten die Feinde hervor und unterhalten, etwa 300 Mann flark, auf die Mannfchaft, die 
wo etwa 400. Schtitt vorruͤckt, ein wohlgezieltes Feuer, das von diefer indeß bald nicht 
mehr "ermiedett: werden kann, well die Patronen Sei der Landung naß geworben. Der 

5% 


68 Abegg, Bruno Geha. 


Prinz felb wird außer mehreren Anderen verwundet, fein Abjutant ihm zur Seite tädt- 
lich getroffen. Der Admiral befiehlt Den Rüdzug, die Räuber drängen wüthend nad, 
der langjanıe Rüdzug wird mehr und mehr bejchleunigt und es gelingt, Die Boote zu 
erreichen. Kurze Zeit Darauf griffen die Spanier unter Anfübrung des Platzgouverneurs 
der an der afrifanifchen Küfte nahe dem Rif gelegenen Zeitung Welilla die Rifpiraten 
ebenfalld an, indeß gleichfalls ohne weiteren Erfolg. In der naͤchſten Zeit zeigte ſich 
ein eifriged Bemühen, die See-Öroßmächte zu einer That gegen Maroffo zu bewegen, 
und Frankreich hätte dazu wohl gern die Hand geboten, aber die Eiferfuht Englands 
binderte jede Aenderung des berrfchenden Zuſtandes. 

Der Kaiſer von Marokko darf direct allerdings für die Unthaten der Rifpiraten 
nicht verantwortlich gemacht werden, denn ſie zeigen ſich gegen ſeine Regierung ſtets 
als unbaͤndig und ungehorſam. Nichts deſto weniger iſt eine Pflicht des Kaiſers anzu⸗ 
erkennen, Stämme, deren Oberherrſchaft ihm rechtlich zukommt, auch zur Beachtung 
des Dölferrechts anzuhalten. Er bat wenigftend den guten Willen dazu gezeigt, 
gelingen wird dies ihm freilich nicht. Zukunft kann auch in Marokko nur europäifches 
Regiment: haben. 

Abegg. Bruno Erhard, ward ben 17. Januar 1803 zu Elbing geboren, wo fein 
Vater Kaufmann und Commerzien- Rath war. Auf dem dortigen Gymnaſtum ausge 
bildet, ftudirte er in Heidelberg und Königäberg, wo er 1826 den Doctorhut erhielt, 
die Rechte. Dann betrat er zuerſt in Danzig Die juriflifche Laufbahn und mar fpäter 
bei dem Oberlanded-Gericht in Königsberg befchäftigt. Nachdem er 1831 Königsberg 
verlaffen und im Kreife Fifchhaufen ein Gut erworben, wurde er einige Zeit nachher 
zum Landrath dieſes Kreifes erwähltl. Im Herbſte 1835 Tam er ald interimiflijcher 
PolizeisPraäfivdent Durch den damaligen Ober-Präfldenten v. Schön nad) Königsberg und 
wurde Dafelbft im nächften Jahre definitiv angeftellt. Den ihm bei der Huldigung 18340 
angebotenen Übel lehnte er ab. Noch vor Schön’d Rücktritt von der Verwaltung ber 
Provinz erfolgte feine Verſetzung nach Berlin. Hier einige Zeit beim Finanz⸗Miniſterium 
interimiftifch beichäftigt, Fam er mit dem Titel eined Geh. Regierungs⸗Rathes als Eönigl: 
Commiſſar der oberfchl. Eifenbahn nach Breslau. Das Jahr 1848 fand ihn in biefem 
Amte. Am 21. März empfing der König unter vielen andern aush eine Deputation 
der ftädtifchen Behörden von Breslau und Liegnitz, welche Städte den Beifpiel der 
meiften größeren gefolgt waren und die Öffentliche Aufregung durch politifche Debatten 
innerhalb und außerhalb ihrer Gemeinde Collegien lebhaft gefördert hatten. Abegg 
ftand an der Spige dieſer ſtaͤdtiſchen Deputatipnen und verlangte vom Könige nichtd 
Geringered, als den ausdrücklichen und vollftändigen Bruch mit den biäherigen Ver⸗ 
fafjungs- Zuftänden Preußens. Der König follte, fo verlangten die Vertreter der Come 
munalsInterefien Breslau's und Liegnitz's, dad neue Wahlgefeg felbft, ohne flänpifchen 
Beirath erlaſſen. Der König ging, energifch und weiſe an feiner Pflicgt feſthaltend, 
auf Diefe Forderung nicht ein, wies fle vielmehr fogleich zurürf und übergab Dem am 
27. April 1848 zufammentretenden Bereinigten Landtage den yon dieſem dann auch 
beratbenen und amendirten Entwurf eines Wahlgefehed für die zur Vereinbarung des 
preuß. Staatd-Berfaffung zu berufende Verſammlung. Eine königl. Proclamation vom 
22. März hatte die an Abegg gerichtete Zurückweiſung wiederholt und zugleich eine Reihe 
von Punkten aufgezählt, welche der König der Volks⸗Vertretung vorlegen wollte. Abegg 
war, nachdem die Revolution ihren Weg in die Provinzen gefunden und fich an ber 
Feigheit der zur Vertheidigung der beftehenden Ordnung Berufenen ermuthigt und geftärft 
hatte, natürlich in vollften Sinn Mann des Volkes, der Mafle geworben, und ed ent. 
fprach ganz biefer von ihm gewonnenen Stellung, daß man ihn in jenes ſonderbare 
VBorparlament fandte, das fich in Frankfurt ohne Vollmacht und ohne Befugnifie verfammelte, 
um ber beutfchen Einheit Wege zu bahnen. Der Kreid Kreuznach wählte ihn ſodann 
in Die preußifche National Berfammlung. Seine Wirkſamkeit war hier, da fein leidender 
Zuftand diejelbe läͤhmte, nur unbedeutend, Doch trat ex entfchieden auf Seiten ber 
Demokratie, was ſchon fein Votum nach der Debatte. über den Behrens ſchen 
Antrag („die hohe Verſammlung wolle in Anerkennung der ‚Revolution zu Pto⸗ 
tocoll erklären, Daß die Kämpfer des 18. und 19. März ſich wohl um's Vaterland 
verdient gemacht haben”) zeigte. Er flimmte gegen die vom Abgeordneten Zachariä 


Abegg, Heim. Burkhard. Abeken, Bernh. Rudolf. 69 


beantragte motivirte Tages⸗Ordnung. Er fehlt in der. nach Brandenburg verlegten Ver⸗ 
femmlung, „mit Angabe der Gründe“ (Krankheit), und ſtirbt zu Berlin 16. Dec. 1848. 

Abegg, Heinrich Burkhard, geb. zu Heidelberg 1791, Sohn des daſelbſt 1840 
geſtorbenen Kirchenraths und Profeſſors d. Theologie A., der Better des Vorigen, iſt 
Commerzien⸗ und Admiralitäts- Rath zu Danzig. Cr war Mitgliev der preußifchen 
Prosinzialftände feit 1837, der in Berlin verfammelten fländifchen Ausfchüffe von 1847 und 
1848, fo wie ber Bereinigten Landtage von 1847 und 1848. In diefem gehörte er 
zu den 138 Mitgliedern, welche unter Vortritt des Abg. von Vincke den Landtags- 
Marſchall von Rochow eine fehr ausführliche Erflärung übergaben, in welcher das königliche 
Batent vom 3. Februar 1847 als hinter den früheren Berfprechungen zurückbleibend be» 
zeichnet und audgefprochen wurde, daß Die Hundertachtundpreißig „im Hinblick auf Die 
Gegenfäge zwifchen den Berorbnungen vom 22. Mai 1815 und 17. Ian. 1823 einerfeits 
and der Verordnung vom 3. Februar 1847 andererſeits die Ueberzeugung” begten, daß 
die mebhrermähnten älteren Gefeke in den von ihnen hervorgehobenen Punkten noch zu 
Recht beſtehen.“ Abegg gehörte fonach zu der prineipiellen Oppoſition des Landtags, 
und er flimmte dann auch dem offenkundigſten Intereffe feiner heimtfchen Provinz entgegen 
gegen Die Regierungsvorlage; betreffend den Ausbau der Oftbahn, welche Borlage 
befanntlih am 8. Iumi 1847 mit 360. gegen 179 Stimmen verworfen ward. In die 
Rational Berfammlung von 1848 gewählt, blieb er im Hintergrunde der politifchen 
Schaubühne In der principiell wichtigen Sigung vom 9. Juni, in welcher der Antrag 
Behrens („die Kämpfer: des 18. und 19. März 1848 haben fich um das Baterland mohl 
verbient gemacht“) berathen und Durch die motivirte Tages⸗Ordnung Zachariä’8 abgelehnt 
wurbe, feblte er, hoffentlich abſtchtlich., 

Abeken, Bernhard Rudolf, Schulrath und Director des Raths⸗Gymnaſiums zu 
Oanabrück, geboren dafelbft any 1. December 17830 aus einer altbürgerlichen Familie, 
welche fhon am Ende des fünfzgehmten Jahrhunderts in der Stadt vorkommt. Osna⸗ 
ben Hatte manche höhere Elemente auch in bedeutenden biftorifchen Erinnerungen; 
Möfer’s Geift war nicht ohne Wirkung geblieben, dabei mit viel guter alter Sitte 
auch viel wunderliched Alterthum, welches den empfänglichen Knaben früh mit Luſt am 
Alten, mit confervativem Sinn und Pietät erfüllte. Nach vollendeter Ausbildung auf 
dem Gymmaſium, dem der fonft gelehrte und fromme Klender freilich wenig genußt 

Hatte, ging ee 1799 nah Iema:zum Studium der Theologie, vertaufchte aber dieſe 
fpäter mit der Philologie. Iene Univerfität war gerade in ihrer Glanzperiode: Schiller, 
Auguft Wilhelm und Friedrich Schlegel, Grieſebach, beide Hufeland, der jugendliche 
Schelling und mehrere jüngere Lehrer fanden in der auftretenden Generation einen em⸗ 
pfänglihen Zuhörerkreis. Abeken lebte hier befonders mit H. Voß, Solger, Ukert, 
Teig und Chriſtian Schlofler, verkehrte aber vorzugäweife in dem Haufe des windig⸗ 
alten Griesbach, Dem er durch einen liebevollen Nekrolog in den Zeitgenofien (1829) 
ein fihönes Denkmal gefeht hat. Hier fchon. fand er Gelegenheit, Goethe, Schiller, 
Wieland, welche in Griesbach's Familie ald Freunde eintraten, näher Eennen zu lernen. 
Nach dem Schluffe der akademiſchen Studien in bie Heimath zurückgekehrt, fand er 
fon 1802 durch die Empfehlung der Tochter Moͤſer's, Frau v. Voigt, eine Stelle 
als Hauslehrer zu Berlin im Haufe des Juſtiz⸗Miniſters v. d. Rede. Im Jahre 1808 
werd er durch Griesbach der Witwe Schiller's als Erzieher ihrer Kinder vorge - 
ſchlagen und verlebte als folcher zu Weimar zwei Jahre, die ihn mit Allem, was Weimar 
und Jena damals noch Bedeutendes hatten, in nähere Berährung brachten, namentlich 
anch Goethe auf Ihn aufmerkſam machten, der ihm bis an feinen Tod eine wohl⸗ 
wellende Theilnahme erhielt und namentlich oft hervorgehoben bat, wie angenehm ihm 
die ernſte fittliche Betrachtung fei, welche Mbefen feinen Werfen zuwende. Im 
Sehbjahre 1810. wurde er an das Gymmafium zu Mupolftabt berufen und ſchon im 
Semmer Director der Anflalt. Die vortrefflihe Fürſtin von Schmarzburg-Nudolftadt, 
Caroline Louife, geb. Prinzefiin von Homburg, welche ald Bormund ihres Sohnes 
regierte, forgte für dad Land auf eine Weile, daß fle den erhabenften Muſtern weib- 
licher Fiſtentugend an die Seite geftellt werden kann. Ihr Vertrauen beglädte den. 
neuen Schul⸗Director, welcher ihr noch näher trat’ durch die Verheirathung mit ihrer 
von ihe jelbft exzogemen Hofdame Chriſtiane v. Wurmb, einer Coufine von Schillers 





RB 2 hellen, Wilh. Baba. Albert. Abeken, Geiusich, 


Frau. Die Fürftin ſuchte und fand bei ihm vielfache geſſtige Anregung: . fo las fie 
mit ihm den Dante, deſſen Studium eine ber Lebendaufgaben Abeken's mar. Die.Ber- 
haͤltniſſe Liegen ihn nur zu einer Deröffentlihung von „Beiträgen zum Etudium ber 
göttlichen Komödie Dante Aligbieri’s, Berlin 1846" kommen; eine vollſtandige Ueber⸗ 
fegung nebft Gommentar if bei der Menge zuvoreilender metzifcher Ueberſegungen imw 
Pulte liegen geblieben. In Rudolſtadt wirkte Abeken bis 1815, wo er einem. Biufe 
in feine Vaterſtadt folgte, um als Gonrector im Bereine mit dem Diresior Fortlage 
das dortige noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe ftehende Gymnaſium neu: zu 
organifiren und zu behen. Der bald blühende Zuſtand hefielben ift wefentlich mit fein 
Dervienft, vor Allem haben ihm feine zahlreichen Schüler ben fücheren Gewinn aus 
der reinen Lehre Des Chriſtenthums zu banken, indem er ihren. fittlichen Gharakter: durch 
richtige Belehrung über den dauernden menfchlichen Werth der alten Welt uab ihrer 
Klaſſiker zu beleben, ihr Rechtsgefühl an dem Hergang der Gefchichte zu. Erdftigen fl: 
bemühte. Im Iahre 1841 ward er zum Director des Gymuaflums ernannt und 1858 im 
Anerkennung feiner Verdienſte durch den ſehr felten verlichenen Titel Schuirath geehrt. 
Mit der ftillen Thätigkeit ald Lehrer und Director ging eine fortsauernde wiſſenſchaft⸗ 
liche und literariſche Thätigkeit Hand in Hand, felbft Durch einen fleten nur durch den 
Tod der Freunde unterbrochenen Briefwechfel mit H. Voß, Gries dem Ueberſeher, 
dem Praͤſidenten Keßler in Arnsberg und Anderen; eine ‚Menge einzelner Anffäge über 
Möfer, Goethe, die Klaſſiker, pädagogifche Gegenſtande erfchienen theils ſelbſiſtandig 
theils in Programmen und Journalen. Am wichtigften und nachhaltigfien iſt: feine 
Ihätigleit geworden bei der neuen mit Zufägen und einer Emleitung zur 
Möfer’s vermehrten Ausgabe von „Möſer's fämmtlichen Westen‘, 9 Bände, Berlin 
1842 und 1843, welde. mit dazu beigetragen bat, biefen Schag politiſcher und 
ſocialer Weisheit bekannter zu machen. Auch bat er hauptfächlic den Gedanken anger 
regt, für Juſtus Möfer ein Denkmal in Osnabrück zu errichten, welches, von Drafe m 
Berlin angefertigt, am 12. September 1836 enthüllt ward. Von vier Söhnen ſtarb 
ber eine ald Knabe, die Drei anderen als Iümglinge und Männer, als der letzte im 
3. 1854 der fjüngfte: Hermann, Direetor des ſtatiſtiſchen Bureau’s zu Hannover, Ver⸗ 
fafler einer Schrift über die Sclavenfrage in Amerika und des nach feinem Tode dewvch 
Stüve herausgegebenen und mit einem ebrenden Nachruf verfehenen Werks „der Ein» 
teitt der Türkei in die europälfche Politik des achtzehnten Jahrhunderts“. (Berlin 
1856.) Der ältefle Sohn, ’ 
Abeken, Wilgelm Ludwig Albert, geboren zu Rudolſtadt am 80. Aprif 1818, 
verliebte feine Schulfahre auf dem Raths⸗Gymnaſtum zu Osnabeh umter Leitung 
feines DBaterd, dem er in Sinn und Weſen Abnlih war. Auch er begann feine 
akademiſchen Studien mit der Theologie 1833 zu Berlin, warb. aber bald yon Der 
Philologie und vorzüglih durch E. Gerhard's Bekanntſchaft won der Archaͤo logie 
angezogen, Deren Studium er unter Carl Otfried Müller in Göltingen ſortſetzte. 
Nachdem er bier im Sommer 1836 mit einer gebiegenen Abhandlung Aber: don Ber 
griff der künſtleriſchen Nachahmung bei Pinto und Ariftoteles promovirt hatte, ging er 
im Herbfte d. 3. mit dem Bildhauer Drake nah Nom, wo er von Gerhard umb 
Bunfen ganz dem Inflitute für archaologiſche Correſpondenz gewonnen ward, dem er 
feine Thätigkeit bis 1842 als Secretär widmete. Meben dieſer Befchäftigung, deren 
Frucht zahlreiche Aufjäge in ttalienifcher Sprache waren, und die ihn in bie eugſte 
Verbindung mit dem zu früh verkkorbenen Kelleemann, den Archäologen Emil Braun; 
Dtto Jahn und Urlichs, Dem Aegyptologen Lepſtus, dem Hiſtoriker Papencordt brachte, 
arbeitete er an einem größeren Werke über die Altefte mittelsitalifche Kunſtgefſchichte, 
welches er in Deutfchland, wohin er im Sommer 1842 zurückkehrte, vollendete: Aber 
er follte die Herausgabe nicht erleben, er flarb zu München am 29. Ianuar 1943. 
nad) kurzer nernöfer Krankheit, in. welcher Sulpiz Boifferee ihn pflegte Dieſer altere 
Freund gab auch nach dem Tode das: im Drud begonnene Werk heraus „Mitte Italian’ 
vor den Zeiten römijcher Herrfchaft, nach feinen Denkmalen dargeftellt. Stuttgart, Cocha 
1843", defien bleibender Werth für diefen Theil der Kumnftgefchichte anerkannt if: 
Abelen, Heinrich, Geheimer Legationsrath im WMinifterium der auswärtigen An 
gelegenheiten zu Berlin, geboren am 19. Auguf 1809 zu Osnabrüd, ward ‚frühzeitig 


- 


. Bibel 1 


derch feinen vorermähnten Onkel B. M. Abeken zu gelehrten Studien erzogen, widmete 
ſich zu Berlin der Theologie umb warb Bann Arsiger bet der preußifchen Geſandt⸗ 
ſchaft zu: Rom. Im Jahre 1842 begleitete er aus wiſſenſchaftlichem Intereſſe - den 
Brofeffos RM. Lepſtus bei der ügyptifchen Expedition, welche Se. Majeſtat König Friedrich 
Wilhelm: IV. von Preußen auf Fürſprache der Akademie der Wiffenfchaften zu Berlin 
ausfähren. ließ. Im Jahre 1848 zum Legationsrath im Minifterium der auswärtis 
gen Ungelsgenheiten befaͤrdert, faßte feine gewandte Feder unter H. v. Arnim's und 
v. Siohowig' damaliger Reitung der audmärtigen Politik den größten Theil der Denk⸗ 
ſchriften und Noten ab, ‚weiche Die preußifche Megierung in ber bentfchen Sache, 
Namentlich zum Drei⸗Köonigsbündniß, erließ. Im Jahre 1853 warb er zum Geheimen 
Lrgationds unb vorteagenden Neth im Miniſterium der auswärtigen Angelegenheiten 
ernannt. Er iſt Verfaffer mehrerer Heiner Schriften kirchlichen und liturgiſchen In⸗ 
halts; bekannt iſt in weiteren. Kreiſen fein ſcharfes, geiſtreiches Sendſchreiben an die 
‚Bein Hahn „Babylon und Jeruſalem“. 
- bel (Karl vom), bayeriſcher Binifter von 1888—1847; geboren.17. September 
1888 zu Wetzlar, Sohn eines: Profeffosd der Nechte an ber dortigen 1814 geſchloſſenen 
Rechtaſchule, ſtudirt 1806-1909 zu Gießen, tritt in bayerifihe Dienfte, wird 1818 
Polizei und Stadttommiſſar zu Bamberg, 1819 Regierungsrat zu München,. 1827 
Miniferialutb im ‚Miniflertum des Innern und wird geabel. Seine Energie und 
Gewandtcheit der Mebe wie der Feder empfahlen ihn der Regierung als Commiſſar 
vor dem: Landtage. Er gab hier Proben jeined Mebnertalentes, zugleich auch fein 
neu Geſchicklichkeit, in der ihm gegenübrrgeftellten Bewegung verwanhte Elemente zu 
entdecken, denen er gesccht werden umb Durch die er auf die Bewegung von Einfluß 
werden kounte. Über es fehlte Diefem ſtarken Geiſte in Bayern an Terrain; er fand 
hier .Teine Aufgabe und Teine Ziele. Eine Beit lang vesfuchte er ſich auch in ber 
auömwärtigen Politit; 1832 zum Geheimen Legationsrath und Mitglied der Megentfchaft 
in Griechenland ernannt, befreundete er fick fehnell mit einem Boben, dem er ſtets 
feaud gewefen war. Seine Borliebe für Oefterreich und bie Parteiftellung des poli⸗ 
tifchen Kachslicismus in Europa trat damals zuerft fohärfer hervor. 1834 kehrte er 
in's Minifterium des Innern nah München zurüd, vertrat wieberum vorzugsmeife 
die egtering vem Lanbtage gegenüber und fchloß fich emtfchieden den von Wien aus⸗ 
en Decttinen und ihrem Widerwillen gegen die Mitregierung der Stände an. 
1838 erhidt er Die Stelle des bisherigen Minifters bed Innern, des Würften von 


Dettingen « Wakerfein, und fett erhebt er fich zum Mepräfentanten des herrſchenden 


Syſtems im Bayern. In der Landtagsſeſſion 1839/40 tritt er dem befcheivenen Auf- 
ſchwunge ded bayerljchen Liberalismus mit der vollen Wucht jener Patholifchen Politik 
entgegen, vor der die Grenzen eines beutfchen Mittelſtaates nicht eriftiren. In München 
Hatte vieſe tomantiſche, berauffgende Weltanfchauung damals ihre glaͤnzendſten Vertreter : 
der Muth und die Energie, weiche Abel in feinen fländiichen Kämpfen und in feinen 
Mafregeln gegen Peoteftanten und mattgläubige Katholiten zeigte, fanden in den Idern 
eines Görres, Philips, Lafſſaulx, Dökinger reihe Nahrung. König Ludwig von 
Bayern fand and vollſter Ueberzeugung auf Seiten diefer ernftgläubigen, idealiſch 


geſtimmten Männer, Riemalo konnte auch einem Furſten uns allen nach großen fichexen _ 


Dronungen verlangenden Geiftern ein beſſeres Syften geboten werben als dad, welches 
damals von den Fatholiichen Reſtaurationsphiloſophen errichtet war: ine allmächtige, 
vom Stellvertreter Ehrifti regierte Kirche, der Fürften und Ver gleichmäßig gehorchen ; 
fie Abertraͤgt einen Theil ihrer Gewalt dem Fürften ; allee Gehorfam erhält eine tiefere 
felorliche Begrümbung. : Wie fehr mußte fich in einer Beit, in der die Vorfieber der 
Heestation in Allem Gliebern ver Bolfekörper zudten, in der bie Unorbnung überall 
hervorbrach, fol; ein Syſtem ven matten und Franken Geifteen empfehlen! Und wie 
verachtlich mußte ihnen Angeſichts der Folofialen Berhäftniffe defielben der Charakter 
derjenigen erſcheinen, welche dieſem Syſtem entgegenarbeiteten! bel zeigte dieſe feine 
Amßfjachtung gegen den Landtag auf das Deutliche, er engte die Befugniffe defielben 
fo weit ale möglich ein, und er bot auch bem mächtigen Zörberer des Liberalidmus, 
Doms Fürften Dettingen-Wallesftein ſelbſt Trog, ja forderte ihn am Schluß des Landtags 
(1840) geradezu herauo; innen er ihn, der als Minifter ein. außgebehntered Recht 


S 








72 Abenderg. 


der Stände auf Steuerbewilligung anerfannt hatte, als feylimmften Feine der Orbmung 
und des KRönigthumd dem Lande Iennzeichnete und förmlich und ausdrücklich feine Hal⸗ 
tung und feine Grunvfäge verdammte. Wallerftein forderte ihn damals zum Duell. Abel 
zeigte fernerhin ganz offen, daß er mit allen erlaubten Ritteln eine Vernichtung des Pro⸗ 
teſtantismus anftrebe, Bayern galt ihm als ein durchaus katholiſcher Staat, und ebenfo 
wie die proteftantifchHen Soldaten vor den Heiligthümern des katholiſchen Gottesdienſtes 
niederfnien mußten, duldete er auch die proteftantifhe Staatsrechtalehre des Herrn 
v. d. Pforbten und die veligiöfe Philofophie Schelling’8 nicht. Den Prosefianten 
Bayerns verbot er Theilnahme am Guſtav⸗Adolfs⸗Verein und Die Annahme der Unter⸗ 
ſtützungen deſſelben. Geiftlihe Genfur, Errichtung von Kloͤſtern und Stiftern und 
fatholifchen Volksfchulen follten das Volk vollends in dem Spfteme Abels befeſtigen. 
Das Königreich Bayern, das feit der Neuordnung Europa's zu feinen katholiſchen 
Gebietstheilen einen reichen Erwerb an proteftantifchen Bolle im Norden und im 
Weſten gemacht hatte, Eonnte fich freilich niemals in dies fremdartige Syſtem, bad viel⸗ 
leicht für Spanien paßte, finden, und felbft in München und ſelbſt in den Kreiſen, für 
welche died Syſtem alle möglichen Vortheile zu beseiten ſchien, fehlte der rechte Glauben 
daran. Mitten in die Glorie des wieder auferflannenen Mittelalters trat eine Ballet 
tänzerin, Lola Montez, und König Ludwig führte fie bis an Die Stufen eines Tbronst, 
der von dem Segen der Kirche eben erft berührt und gefräftigt war. Abel fand fi 
ſchmerzlich enttäufcht; Fanatiker, aber ehrlich von Herzen, nahm er mit feinen Kollegen 
am 13. Februar 1847 feine Entlaffung. Er ward zum Staatörath im ordentlichen 
Dienfte und zum bayerifchen Gefandten in Turin ernannt und trat 1849 noch einmal 
als Mitglied der zweiten bayerifchen Kammer öffentlih auf. Allein er erkannte bald 
auf das Klarfle, daß er in dieſer Zeit ein Srembling geworden fei, und zog ſich in bie 
Stille des Brivatlebend zurüd. Auch feine körperlichen Kräfte find erfchäpft und feine 
Freunde fürdhteten im Frühfahr 1858 fchon feinen Tod. Ä 
Abenberg, eine ehemalige Graffchaft in dem fränfifchen Mangan, mach ber 
gleichnamigen zwifchen Spalt und Schwabach gelegenen Burg benannt, umfaßte dad 
Gebiet der Orte Abenberg, Marienburg, Wernfels, Spalt, Pleinfeld, Sandſee, Roth, 
Edersmühlen, Wallifau u. a. m., und entfprachen fonacdh ihre Grenzen „ungefähr denen 
des heutigen Landgerichts Pleinfeld in der Eönigl bayerifchen Provinz Mittelfeanten. 
Die Grafen von Abenberg — nicht zu verwechfele mit den baperifchen Gpa⸗ 
fen von Abensberg an der Donau — find von fraͤnkiſchen Hiſtorikern, welche fle gern 
als Ahnherren des preußifchen Königshaufes anfehen möchten, oft zum Gegenfland ger 
lehrter Unterjuchungen gemacht worden, ohne daß jedoch ihre Gefchichte bis jet zu 
einen befriedigenden Abfchluß gediehen wäre. (S. Hand, der Rangau und feine 
Grafen. Erlangen 1853. Vgl. die Gegenfchrift von Marl, Hans’ Abenbergifche 
Phantafien. Berlin 1853.) Us urkundlich feſtſtehend dürfen wir folgende hiſtoriſch⸗ 
genealogifche Data annehmen. Zum erften Male finden wir ven gräflich Abenbergifihen 
Namen im Jahre 1071, wo Sraf Wolfram und fein Bruder Otto von Aben- 
berg — Sprößlinge eined der gaugräflichen Geſchlechter des Rangau — in einer Ur 
funde des Klofterd Banz auftreten. Wolfram, der das Amt eines Stiftsvogts von 
Bamberg bekleidete, erzeugte mit feiner Gemahlin Gerhild einen Sohn Adelbert, welcher 
bambergifher Kanonikus wurde; Otto aber erzielte in feiner Ehe mit Habewig außer 
einer gleichnamigen Tochter den Stammbaltr Rapoto. Diefer war in den Beiten. 
bed Mieberganges ber Kaifertrone auf das ſchwaͤbiſche Haus — urkundlich kommt er 
feit dem Jahre 1120 bis 1172 fehr Häufig vor — eine der hervorragendſten politiſchen 
Perfönlichkeiten, nicht bloß in feiner fränfifchen Heimath, mo er als Kloflervogt von 
Banz, als Stiftsvogt von Bamberg und als Graf über die bambergiſchen Beflgungen 
im Rangau fungirte, ſondern auch bei Kaifer und Reich. Ein dauerndes Denkmal hat 
er fih als Mitflifter und Hauptförderer des Ciſterzienkloſters Heilsbronn (ber nad 
maligen Sürftengruft ner Hohenzollern) gegründet, in welchen er, nach dem Beifpiele: 
vieler anderer Größen feiner Zeit, feine legten Tage ald Mönch zubrachte, und wo er 
auch für fi und feine Familie die ewige Auheflätte bereitete. Graf Rapoto mar 
vermählt mit Mechthild, der Tochter des Markgrafen Dedo, mit welcher er hebentende 
Befigungen im Pleißnerlande (als Leißnig, Eoldig u. a. m.) erwarb, dieſe aber bald 





\ 


Abenoberg. Abenhland. a 


wießer (1157) an Kaifer Friedrich 1 verkaufte. Wit ihr erzeugte. en, außer einer Tochter 
Bertha, welde Aebtiſſin des Kloſters Kigingen wurde, und einem Sohne, Mein- 
Harp, nachmaligem Bifchef von Würzburg, zwei weltliche Söhne, Conrad und 
Friedrich. Erſterer, welcher ſeit 1161 auftrat und im Kloſter Heilsbronn als ein 
Mitſtifter verehrt ward, hatte mit feiner Gemahlin Sophia nur eine Tochter, Namens 
Hildegard, welche fi mit dem Grafen Conrad Il. von Radz, legtem Burggrafen 
von Nürnberg älterer Dynaſtie, vermaͤhlte. Friedrich erfcheint zuexrft im Sabre 1166: 
und vermählte ih — ungewiß, mit men? — 1167, farb aber frübzeitig (1183) einea 

Todes, beim Kinfturz; eines Gebäudes zu Erfurt, in welchem König Sein« 
rich Die Heichäftände verfammelt hatte. Er hinterließ einen einzigen, gleichnamigen 
Sohn. Diefer Graf Friedrich li. von Abenberg — der fick, gleich ſeinem Vater 
uw Großvater, auch zumeilen „Braf von Frensdorf“ nannte — verkaufte, als 
er Saum zu feinen Jahren gelangt war, bie von feinen Vorfahren ererbte bambergiſche 
Bogtei an das Hochſtift (1189) und Schloß fi bald darauf. dem Kreuzzuge Kalle: 
Friedrich Barborofia’8 an, in weldgem er-aine eigene Hreres abtheilung befebligte. . Er ig den 
vom den Minnefängern gefeimte „junge Helb von Abenberg" und. zugleich De 
legte Sproß feines mit ihm im Jahre 1200 erlofchenen Geldenflummes.. Sein Erbe, 
De Grafſchaft Abenberg, fiel nun — was biäher ein. son allen Hißorikarn uub 
Geneebogen nmaufgeflärter Bunkt war — an bie Tochter jener Burggraͤſin Hildegard, 
geb. von Abenberg, Mamens Sophia, welche außer der im Jahre 1192 von ikumm 
Bater. ererbten Burggrafichaft Nürnberg auch dieſe Grafſchaft ihrem Gemahl, Graf. 
Friedrich von Bollern, den Stammbater bed preußijchen Koͤnigshauſes, zubrachte 

Auch bei der hohenzolleriſchen Dynaſtie lebte der ruhmgekroͤnte Name, 
„Abenberg“ noch eine Zeit lang fort, indem Sonphia's Alterer Enkel, Fried rich UM, 
auf feinem Siegel (vom Jahre 1246) Anfangs neben dem burggräflich närubsrgiichen, 
auch den abenbergifchen Titel führte, ver küngere aber, Conrabd Il. (der Bromme),; 
welcher in der bruͤderlichen Erbtheilung vom Jahre 1260 mit dieſer Grafichaft. abge. 
funden warb, ſich feitvem häufig Graf oder Burggraf von „Abenberg" nannte: 
Mit dieſem Legteren aber exlofch auch der Dynaſten⸗Mame völlig, da Burggraf Gonrab 
im Jahre 1296 Stadt und Belle Abenberg an dad Hoehſtift Eichſtaͤdt verfaufte, 

‚ Gretinenbellanftalt im Schweizercanton Bern, gegründet ven. Dr; 
Guggenbühl, auf einem Berge in herrlicher erquiddenner Umgebung gelegen. Der Gründer: 
und Vorſteher der Anftalt wußte die vornehmſten Kreife Curopa's für fein Unternehmen 
zu interefſtren; Gräfin Ida Hahn⸗Hahn machte ihn durch ein überſchwengliches Bud, 
in dem fie jeine Anftalt ſchilderte, noch -befannter; in neueſter Zeit aber gewannen 
Gerüchte der bedenklichſten Art über den Zuſtand dieſes Inftituis und über die Wirk⸗ 
ſamkeit des Dr. Buggenbühl immer mehr an Kraft und Umfang. Ganz vor Kurgem: 
iR auf Anhalten eines englifchen Diplomaten gegen. ben Doctor eine fürmliche Unten. 
fuchung wegen Hintanfegung feiner Pflichten und Bernachläffigung feines Berufes Seitens. 
der Gantonalbehörden eröffnet worden. Weiteres f. unter Cretinen. 

Abendland. Der Kaifer Theodoſius theilte im Jahre 305 bad von aſiatiſchen 
und germaniſchen Völkern im wechſelnden Anprall wiederholt bedrohte und ſchon mehr⸗ 
fach van Mebreren regiert geweſene roͤmiſche Reich in zwei Hälften, in has reihen. 
oder mosgenländifche und in das weftrömifche ober abendlaͤndiſche Kalfertbum. - Das: 
erftexe erhielt Der aͤlteſte Sohn Arcadius; das Abenpland fiel an den jüngern Honerint,, 
Schon 476 erreichte das abendländifche Kaiſerthum fein Ende. Odoaker, zum Könige 
der vereinien germanifchen Stämme an ber Ober«- Donau, ber Hesuler und Mugler, 
gewählt, fordert ein Drittel von Italien als Wohnfig für feine Völfer, und als. das: 
Belangen verweigert wird, inflallirt er nach kurzem Kampfe, in dem bie entſchiedenſte 
Faulniß aller Berhältnifie in dem abendlaͤndiſchen Kaiſerthum auf das: Brellfte in- wie, 
Erſcheinung trat, feine eigene Herrſchaft. Der lebte Kaifer des Abendlandes, Romulus 
Auguſtulus, wurbe von dem Sieger mit einer Jahresrente von 16,000 Ducaten penjlonizt, 
Obwohl Odoakers Herrichaft in Italien nur 17 Jahre, bis 493 dauerte, wo fle auf Die 
Oſtgothen unter Theodorich dem Großen überging, jo bat doch eine Reſtauration eines 
abendländifchen Kaiſerthums nicht mehr flattgefunden. Die Herrſchaft der Oftgotben ſank 
nach 60 Jahren. Der Kaifer des Morgenlanded, Juſtinian, träumte fi um 535. auf eine, 





4 Abendländ.. Kutferihum. Aendmahl. 


Duty Zeit.uls den Herrn von Italien; der Traum zetrann, als Rarſes, der beleidigte Seld⸗ 
bass Jaſtintan's, die Longobarden aus Rache 568 herbeirief. Die Herrſchaft der letztern wirs 
wach Die Franken unter Karl dem Großen geftürzt. Als geographiſche Brzeichnung blieb: in⸗ 
deß Die Auſsdrucksweiſe Abendland als Gegenſatz von Morgenland in Geltung und Brauch, 
wie ſte⸗als ſolche auch bereits vor der Theilung des Threodoſtas üblich und allgemein 
geweſen. Auch: bei der Darſtellung son Culturzuſtaͤnden, zumal der religibſen WVerhalt⸗ 
nit) zur Bezeichnung des Antagonismus der griechtſchen und der roͤmſſchen Kircht 
beriente man ſich Im: Mittelalter, insbeſondere zur Zeit des Kreizzuge, des alten Aus⸗ 
Deuts Morgenland und Abendland; man ſprach von der abendlandiſchen und der 
a & — — 

Aendlaͤudiſches Kaiferthum, ſ. Rom. 
z. Abendmahl oder Rachtmahl ſchlechthin Heißt jene feierich⸗ Int Gebete 
Senalung, welche der Gere Jeſus Chriftus am Borabewde feines Todes zum immer 
wilenden Gedachtniß deſſelben veranflaltet hat und Die Kirche ) laut "feines. Befehls 
boftandig wirberbolt; Daher auch heiliges Abendmahl, Abenpmahl des Herrn, Bacra coena 
AR vodna dominica (griech. äyız ouvakıc, Seinvov xuprandv) u, f. w. nennt. Vier 
orchnitte De8 neuen Teſtaments, die Evangelien nad) Matihäns (Rap. 26), Mareus: 
(Bay. 14) und Lucas (Kap. 22), ſowie der Apoſtel Paulus (1 Kor. 10% geben’ une 
über biefe Einfegung des Herrn Die authentifchen und fafl bißs aufs Wort Abenchw 
ſannenden Berichte Das Stillſchweigen des Evangeliums Johannis über. biefen, wie 
über fo manche audere Bunte der Geſchichte Jefu erklaͤrt ſich aus jener ſpateven 
Ab ſaſſung, dei der jene durchaus genügenden Beridyte Über das Thatſuüchliche ſchon vor⸗ 
Eugen: und: in Die Haͤnde dev Ehriften übergegangen waren. Wenn dagegen Johannes 
ubetall deſto ausführlicher if in der Mittheilung ſolcher Reden des Herrn, in denen 
er das gottliche, bis in den Schooß des ewigen Vaters hinaufreichende Geheinmiß feines 
eaqgenen Weſens und die wunderbaren Tiefen feines Thuns erſchloſſen hatte, fo ermangelt 
auch das letzte Evangelium eines umfangreichen Abſchnittes (Job. Eur. 6 wicht, Bm‘ 
ſich auf den. innern Gehalt des heil. Abendmahls bezieht. " 
nr. war das jüdiſche Feſt bes Rafſah und ber ungefäuetten Brote (ſ. Ofen), 
an welchem ⸗FJeſus, wie er borauß wußte, dem Leiden übergeben werben und bald’ au: 

zu' ſeiner Herrlichkelt eingehen follte — Ber Urheber und ſelbſt der Erſtling einer ewigen, 

— Erloſung. Die fſüdiſche Feſtfſeier des Paſſah war die von. Gott anbefohlone 
Brogegewwärtigung der einſtigen Erlöjang Iſraels aus der Knechtſchaft Aegyptens und 
zugleich beftindige vorbildliche Hindeutung auf jene wahre Befreiung durch Den Mufflat; 
‚Me: verfelbe Gott Durch die Propheten feinem Volke verheißen hatte Denn beides, der 
ROASLIc: Auf Das vormalige und Der Ausblick auf das zukünftige meſſtaniſche⸗Heil, Tag 
im Bewußtſein der Iſraeliten jener: Zeit auf's Innigfte Beifammen und erfüllte die Seelen 
der Frommen vornehmlich auch bei den Ceremonien des Paſſahfeſtes. Jeder Hausvatet 
brachte am Nachmittage des 14. Niſan (der in fofern ſchon der erſte Tag des Fu 
heißen konnte, Matth. 26, 17; Luc. 22, 7) ein Lamm zur Opferſchlachtung Inder 
Aempel, welches dann zu Haufe zubereitet und nach Sonnenuntergang, d. i. um Bes 
ginne: des 15. Niſan und des eigentlichen Feſtes, nebſt ungefüuertem Oftetbroden il 
bitteren Keautern von den Hausgenoſſen aufgezehrt ward, waͤhrend im Bisifcherränmen 
und zum: Befchluffe mehrmals ein befonderd gefegneter Kelch umbergereicht mund Die 
beſtimmten Palmen (Pf. 113 — 118) gelungen wurden. Die großen Grundgedanken 

batter Religion, die fich bereitö beim Auszuge aus Aegypten in ben jenem Nätdat 

vechenden Ahatfachen verfinnlicht hatten, fanden ‘in demfelben einen bilblichen Aus⸗ 
Denk; was fonft im täglichen Cultus des Tempels, in feinen Thieropfen, "Speids: mh 
Mankopfern, Schaubroden und Kelgen 1. f. w. großartig audeinandergelegt war; Daß 
eefähien zufammengebrängt und ward jedem Iftaeliten vergegenwärtigt in diefer haus⸗ 
lichen Feier: — eine Erldfung und Nenbelebung dar Opferblut, eine Nahtung und 
Starlung, die, beruft durch den Genuß eined außergemöhnftchen, göttlich veroͤrdneten 
VBrodes und Trankes, auch auf das - höhere, nicht bloß‘ leibliche Neben fick beidgr. 


H Alle Barteien der Getauften begehen das heil. Abendmahl, mit einziger Ausna me bes, 
Duke bie and, bei biefem Sacrament, den äußern Vollzug veriwerfend, bie geiftlithe jahrheu 
der Sache lebiglich kraft eines innern Borgangs zu beſthzen meinen. 


- 


rntah % 
Dieſe Bedeutungen des Beta die vem Iſvaeliten freillch nur: 88! Bar 
bekaunt fein konnten, ale vorſchwebende Erinnerungen vergangenen ober Ahnungen 
zuliımfliger Guabenthatn Gottes, empfirgen bei wer jedten Opferſeier Hei eine ale 
VDegriffe überſchreitende reale 
Zunäachſft kann wicht wohl beWafelt werden, daß Jeſas das heil ben 
wirklich bei Gelegenheit bes jüdiſchen Paſſahmahles ringefeht bat, nuchdem er dirfes 
ſteeng nach dem Gefege und daher auch gleichzeitig mit dem übrigen Volke begangen 
hatie, Man bat naͤmlich mit Berufung auf einige Ausorucke der Ithunmeifdyen: Erd 
zählung von dem Ichten Tage Jeſa (Ioh. 13, 1 u. 18, 28) nicht felten geeint, em 
müßle bereitö am 14. Niſan gefreugigt worden fein und daher Des jidiſche Vaffah 
entweder einen Tag boraudgefeiert oder wohl auch gar nicht abgehalten, -Forkbern: am 
13. Miſan ein anderes Abendmahl, nämlich eben nur fein eigenes, viel bedentfametes, 
mit den Yangern begangen haben. Allein, was in den ſynoptiſchen Edangelien wiederholt 
ausvräkklich hervorgehoben wird, daß Iefus das Ofterlamm wirklich und zur geſeßlichen 
Heit gegeſſen Hat, kann nicht aus zweien Auspräden des Johannes, die ich überdies 
im beſten Einklang mis ſenen erklären laſſen, beſtritten werden. Much "Der wu 
und Abend des 14. Nifan fonnte nämlich noch als „vor dem Belt“ (306. 213,1) 
bezeichnet warden, und bie Juden hatten waͤhrend des Feſtes außer dem Ofterlamm noch 
andere Heilige Opfermahle, vie unter dem „DOftern effen * (Joh. 18, 28) milbegriffen 
werben müflen. Geringere ſcheinbare Schwierigkeiten, welche die bibliſche⸗ Zettangaben 
üben das letzte Mahl des Herrn betreffen, verſchwinden bei genauerer Wärbigumg ebenfults. 
Alſo gerade bei’ der Baftahmahlzeit, Der Heiligen Stiftungsfeter des iſraelitiſchen 
Yunded mit: Gott, vollzog und verordnete Ehriſtus die geheimnißvolle Hundlung, Mi 
. deren: Kuaft: Diefer alte Bund bereits abgeſchloſſen, abgethan wurde, Indem fle'thn 
geiftläche Wirklichkoeiten erfhllte, erfehte und zu einem neuen umwandelte⸗ Denn wa 
dee alttefamentlichen Opfer und Gimrichtungen nur prophetiſch angedeutet hatten, WB" 
war in Chriſto, dem fleiſchgewordenen Sehne Gottes, weſentlich erſchlenen: ein — 
genlgendes Suhn⸗ und Löfeopfer für die 'in- der Sünde’ geknechtete Renſchheit, 
Sehens» und Nahrungsquell, aus dem fie nach Geiſt und Mriſch erneuert werden (oe 
für ewig. Das wahrhafte Lamm Gottes, welches hinwegnimmt die Günben Der LDR,' 
war ewblich gefunden und bereitet, um durch die Haͤnde Der Schuldigen; Fir die es 
Verſohnung fliften ſolite, geopfert -zu werden. Schon war Chriſtus nach -beik' BIER’ 
des Vaters und nadı dem Entfchluffe ſeines eigenen Gehorſams dem Tube Abergeben, 
* er an demſelben Abend ſagte: „Ich bin nicht mehr in: der Welt“ (Joh. 17, 11) 
© viel an ihm lag und an feiner allentſcheidenden geifligen That, fo war er fihon- 
geopfert, und was übrig blieb, war noch die außerliche Vollbringeng des Schlachtopfers 
an die Gewaltthat der Menfchen, da er Doch zu einer blutigen Opferung fiheriig' 
* Die Hände an ſich ſelber legen ſollte. Aber weil ja Altes ankam anf die Frei⸗ 
it des Sohnes Gottes, auf-feine geiſtliche Selbſtdarbringung, don welter dt 
* Tage auf Golgatha, da er der Gewalt feiner Feinde hingegeben war, kein 
deutliches Zeugniß gegeben werben konnte, fo woHte Chriſtus, nioch’ehe er verrachen und 
berantivsrtet war, ein ſolches Zeugniß vor Bott dem: Bater und vor feinen Imgern: 
aufſtellen. Und dies war eben die Handlung, mit der er 'fich' ſelbſt als dad wahee 
Vaſſahlamm unblutig aufopferte und hingab, indem er unter den Symbolen des Oſter⸗ 
—— und Kelches myſtiſcher Weiſe fein eigen Fleiſch und Blut Gott darbrachte "mt 
dann feinen Jingern als Frucht des Opfers und Nahrung des ewkgen Lebens aubtheilke 
Dean unter der Paſſahmahlzeit nahm er dad ungefaäuerte Oſterbrod, das' ja anſich 
ſchon zum heiligen Gebrauche gewidmet und das Sinnbild der altteſtamentlichen Stk! 
tieng war, in feine heiligen und ‚göttlich mächtigen Sin zu einem viel erhabeneren 
Oebrauche, als Symbol und Mittel feiner eigenen neuer Stiftung. ' Damm fegnete und 
weihete ur es (söhoynses Bei Matth. u. Marcus, woher der griechtfche Name der Hell: 
Sawslung Eulogie, Weibung), oder er dankfagte damit (ebyaporfans bei Michd a.“ 
Dantırs, woher die in ven allgemeinen Sprachgebrauch übergegangene Bezeichnung 
Eudariftie, Dankfagung, Bankopfer), d. 5. mit Lob und Dank gegen Gott, ek‘ 
Schöpfer aller Dinge and ben Urheber ber nun zum Abſchluß kommenden wigen 
Erlöfung, weihete er Ihm das, was er in den Händen hielt, brachte ein nicht erwu 





“ Ahenmehl: 


hieß wörtliches, ſondern thatiädliches Lob⸗ und Danfepfer. Endlich brach er «8 
(wonach das Ganze geradezu „das Brodbrechen“ genannt wird, Apoſtelgeſch. 2, 
42. 47 u. d.) und erwieß daburch nicht ſowohl ſeine bevorſtehende bingebung in den 
Tod, als die gegenwärtige Darbringung ſeines. heiligen Leibes vor Gott: gerade iM 
jenem Augenblicke warb dieſer Leib, zwar noch nicht äußerlich, wohl aber myſtiſch und 
Doch nichts weniger wahrhaftig gebrochen und dahingegeben (f. die Präfentia des Grund⸗ 
textes &rööuevov, xAmpevov). Erſt nachdem Died Alles vorausgegangen war, das 
Nehmen, Danken und Brechen des Brodes — Handlungen, bie gegen Gott gerichtet 
waren, wandete fich der Herr zu den Jüngern, indem er ed ihnen gab und dabei die 
Erklärung. feines ganzen Thuns und den Befehl zu deſſen Wiederholung binzufügte: 
„Das iR mein Leib, der für euch gebrochen wird", und: „Solches thut zu meinem 
Gedaͤchtniß“. Bleicherweije verfuhr er am Schluffe des Mahles mit einem des Paſſah⸗ 
lelche, indem er auch den nahm, mit Dankfjagung Gott weihete und zulegt feinen. 
Jungen austheilte mit dem Aufichluß: „Dies iſt dad neue Teflament in meinem Blute“ 
— das Opferblut des Lammes Gottes, auf defien Ausgießung der neue unauflößlice 
Pund zwiſchen Bott und Menſchen ſich gründet — und mit dem wiederholten. Befrbl, 
auch dies oftmals zu thun zu feinem Gedaͤchtniß. 

- + Aus der eingehenden Betrachtung diejer Abendmahlsberichte erhellt num auf's: 
Deutlichke: esftens daß die Erklärungen, mit denen der Herr Die Austheilung bes. 
Vrodes und des Kelches begleitete, eben nur Erklärungen, verſtaͤndnißoͤffnende Verkan⸗ 
Digungen feined vosangehenden Thuns waren und nicht erſt Die Babe zn dem machten, 
mwefür Se gelten ſollte. Was irgend die Den Jüngern gefpendete Gabe war, Das war 
fie ſchon zuvor Dadurch geworben, daß der Herr nahm, dankſagete und brad. Des 
vorangabende Theil der Handlung, die Dankſagung, Weihung und Darbringung des 
Broded und Kelched ald des Leibes und Blutes Gbrifti, war zum Wenigften chen fo 
wichtig ‚und. weientlich, alö der beichließende, die Ausſpeudung und offene Erfldeung am 
die Jünger. Und daher war zweitend ber Befehl: Solche thut u. ſ. w. nicht bloß 
auf Died letztere, ſondern auf die ganze Handlung bezogen, fo daß die Eirchliche Abend⸗ 
mahlsfeier dad unverfümmerte Abbild, die beftändige Wiederholung der Stiftung Chriſti 
noch deren gauzem Berlaufe fein folte, 

Dusch die Einfegung des h. Abendmahls gab der Here erſt den rechten Schlüſſel 
zum Verſtaͤndniß und zur Ausführbarkeit der Neben, die er früher geführt hatte de 
Die Nothwendigkeit, fein Fleiſch zu eſſen und fein Blut zu trinken. „Das Brod, das 
ich: geben werde, if mein Fleiſch, das ich geben mwerbe für bad Beben ber del“ 

„Mein Fleiſch iſt die rechte Speife und mein Blut ift der rechte Trank” (vergl. Joh. 
6, 48 u. f. w.). Daß er darımter etwas Beſtimmteres verſtanden hatte, als bie rein 
innerliche Aneignung feines göttlichen Weſens oder feiner geifligen Einwirkungen, bas 
haben jene Rapernaitifchen Zuhörer aus feinen Worten Doch richtiger herausgehoͤrt, als 
viele feiner Belenner, bie ihren Anftoß an jener „harten Rede“ nicht eben fo offen einge- 
ſtehen möchten. Jeſus hatte da. allerdings von einer wirklichen Genießung feineß Flei⸗ 
ſches geiprochen, aber mit auöbrüdlicher Sinweifung ‚auf den Geift, der es erft lebendig, 
geiftlich verklaͤrt und mittheilbar machen müſſe. Das Bleifch, wie es die Juden gröblich 
mißverſtanden, dieſes finnliche Fleiſch der unverklärten Natur fei nichts nüge; nur indem. 
er nicht von dieſem, fondern von feinem verherrlichten und darum geiſtlich wirkſamen 
Bleifche geredet. hatte, waren feine Worte Geift und Leben (vergl. Joh. 6, 61—63). 
So hatte Jeſus ſchon damals von einer Mittheilung feiner Lebenskraft geſprochen, 
Die in. jedem Sinne wahrhaft Speife und Trank (aljo auch aͤußerlich mittheilbar) 
fein. und doch zugleich eine geiftliche Natur und Wirkung haben follte, Er hatte mit- 
Ginem Worte die. farramentale Mittbeilung feines Leibes und Blutes in jener Rede 

angedeutet. Aber über die Art, wie dieſelbe nun wirklich erfolgen follte, - belehrte m - 
erſt Durch Die Thatſache Der Sarramentseinfegung felber. Da gab er endlich fein Fletſch 
und fein Blut als ein Bott geopferiedö, Sünden vergebenved und geiftlich belebendes 
fo dahin, daß es unter der Hülle bed Brodes und Kelches die beftändige Nahrung 
feiner Jünger fein konnte. Denn ficherlich wollte er durch die feierliche Handlung nichts 
Geringeres, nichts weniger Inhaltvolles geben, als er durch fine früheren Reden in. 
Ausficht geſtellt hatte. 


U 


Sbenbuuhl. R || 
Freilich draͤngt ſich gerade hier die Frage auf, wie es habe gefchegen: konnen, 
daß Jeſus noch dieſſeits des Todes und der Auferſtehung, alſo noch im unverwandelten 
Leibe fein Fleiſch und Blut in facramentaler Form habe darreichen können, da doch die 
fecramentale Mittheilung die geiftliche Verklärung bes Leibes vorausfeht? Dieſer ſchein⸗ 
bare Wiberfpruch bat von jeher einen der beliebteſten Beweiägrinde für bie Meinung 
berjenigen abgeben müffen, welche das Sacrament jebed himmlifchen Subſtanzgehaltes 
entleeren und für eine rein ſymboliſche Erinnerungsckremonie ausgeben wollien; waͤh⸗ 
send auch manche der Glaͤubigeren ſich zu der Annahme drängen ließen, daß —**— 
Die Einfegung noch Feine eigentliche Sacramentsfeier, ſondern nur Die authentiſche Bor» 
ſchrift für das erſt nach der Himmelfahrt Chriſti und der Ausgiefung des Geiles 
möglidg gewordene wahre und wefentliche Abendmahl geliefert habe. ine bedenkliche 
Unterfcheidung zwifchen der euchariftifchen Feier Chriſti und derjenigen ver Kirche! Zwar 
iR es ganz richtig, daß die Jünger den Befehl zur Wiederholung des Sacramentes we 
dann mit bimmlifcher Wirkfamkeit vollziehen Fonnten, als fle durch die Ausrüflung mit 
wem heiligen @eift den erhöhten Haupte geeinigt und befähigt worben waren, Pie 
Werkzeuge feines Thuns zu fein. Allein was den Herrn felbft betrifft, fo iſt ſeine 
Macht, ſich felbft, feine verklärte Lebensſubſtanz auszuſpenden, wicht auf wie. Zeit nady 
der Auferftehung einzufchränten, obwohl fie erft feitvem ununterbrocdyen auögeäßt wer⸗ 
den konnte. Vielmehr gefiel. e8 Gott, an Ihm, der fonft in allen Städen ıms gleich 
gemacht und mit aller Schmwachheit des fterblichen Bleifche® umgeben war (aufgensumen 
die Sünde), einzelne Aeußerungen, gleichſam vorausleuchtende Strahlen feiner zuktnf« 
tigen Herrlichkeit hervorbrechen zu laſſen, auch ſchon während feiner Erniedrigung uud 
deeſſeits feiner Auſerſtehung. Die ewigen Rathſchlüſſe Gottes, "die ſich für die Men⸗ 
fiyen in einer gewiſſen Zeitfolge offenbaren, find nicht fo an biefe Zeitpunfte ihrer 
indifchen Berwirklihung gebunden, daß fie nicht nach göttlicher Verfiigung auch voraus 
wirfen und ihre endliche vollfommene Erfüllung in vorläufigen Thatfachen ankimdigen 
fdunten. So faben die Jünger an Jeſu bei jeinen Wunderwirkungen mit den Augen 
des Glaubens fchon die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Bater (Inh: 1, 
14; 2, 11; 11,10); fo erfchien auf dem Berge der Berklärumg die ganze Kühe feiner 
bevorſtehenden Glorie fogar ſichtbarlich; fo theilte er nach der Auferkehung deu Iüm- 
gern den heiligen Geift mit, ehe veffen eigentliche Ausgießung eingetreten war. Und 
ebenſo konnte er auch in einer myſtiſchen und nur dem Blauben an fen Wort faß⸗ 
lichen Weiſe, obwohl noch im irbifchen Leibesleben, unter der Geſtalt des Brodes und 
des Kelched dennoch wirklich fein eigen Fleiſch und Blut in feine Hände nehmen, bamit 
dankfagen uud es den Jüngern ausſpenden. So ift allerdings bie Verklaͤrung der 
Leiblichkeit bei dieſer Handlung vorauszufegen und jeder Gedanke an die finnliche 
Materie bleibt ausgeichlefien; aber jene war bei dem Herrn, da er die Gudarifie ein» 
fegte, ſchon vorhanden und wirkſam, weil und wie Gott es wollte. 
Wurde oben jchon. das Verhaͤltniß der euchariflifchen Stiftung zum Nreugesopfer 
Jefu angedeutet und darein gefetzt, daß ſie eine freiwillige geiſtliche Vorausnahme deſſel⸗ 
ben wer und daher in keinem Betracht der Verdienſtlichkeit und Wirkſamkeit für. das 
Heil von dem letzteren loszutrennen, gefchweige denn mit demfelben in Gegenfa zu 
ſtellen if, fo ergiebt fich aus dem fo eben Ausgeführten auch ein wichtiger Aufſchluß 
über ihre Beziehung zu dem Werke des in den Himmel erhöhten Mittlers. Wenn 
nämlich die mit der Auferſtehung und der Himmelfahrt angetretene Erhöhung bed 
Menfchenfohnes nichts Anderes ift, als die offenbare und dauernde Beflgnahme. jewer 
bimmltfchen Berklärung, die fchon bienieden in feiner erniedrigten Menfchheit durch Dem 
Empfang des Geiftes gepflanzt, befchlofien und gelegentlich Nach Gottes Willen auch 
geäußert werden war — fo zeigen fich die einzelnen, noch vor ben Tode gewirkten, 
Heußerumgen feiner Serrlichkeit als fo viele Vorbilpungen feines jegt zum Daten erhaͤhten 
Lebens und Wirkens. un willen wir, daß Ehriftus, nachdem er fein Berfbeungsr: 
opfer am Kreuze gebracht und in der Aufesflehung das Zeugniß von deſſen Wohl⸗ 
gefälfigkeit und Annahme empfangen ‚hatte, zu Gott in das Aklerheiligfte des Gimtmeeld: 
eingegangen ift, um dort als ein Priefter von neuer und ewiger Orbnung,. ber Drbnung. 
Nelchiſedel's (Hebr. 6, 20 u. ſ. w.) für fein Bolt zu opfern ımb zu bitten. Denn wiefern 
ee Prieſter iR, muß er nothwendig auch etwas zu opfern haben (Sehr. 8, 3 u. |. we). 


", 


Li, Wenlncht 


Geis hinusaliſqh /o Opfer fan aber wiederum in nichts Anberem beſtehen, als in 
ihm ſelbſt mit ſeiner, aus goͤttlicher Liebe angenommenen, am Kreuze dahingegebe⸗ 
wen und num verherrlichten Menſchheit. Was er auf Golgatha zur blutigen Sühne 
geprfert, das ſtellt er nun verkläͤrt und vollendet, als immerwaͤhrendes Damkopfer 
oden· Gedaͤchtnißopſer des am Kreuze Vollbrachten, vor dem Vater bar. Und diefe Dar⸗ 
bringung feiner ſelbſt, dieſe thatfächliche Geltendmacheng feiner Reiden, iſt der Grund 
und der Mafpruc, auf: den ſich feine unfehlbare Fürbitte fir Die Kirche und vie Welt 
Rügt un kraft deſſen er Leben und Nahrung: des Lebens für fie empfängt und .an fie 
austheilt: Im dieſem Zuſammenhange betrachtet erfcheint dann die Abendmahloftiftung 
als die vollkoumenſte, ullumfafiende Borbildung feines himmliſchen Brieftertbums. Ste 
iR in der That ein jo genauer Abdruck von dem Opfer und der Gabenſpendung bed 
himmlifchen: Melchiſedek, wie Die Natur: der Dinge bdieffeit der Herrlichkeit ihn nu 
geſtatten ober ertragen mag. Dem da bus Opfer und die Gabe, wenn doch Die im 
vor Welt ;gireistkbleibenden Jünger fie fern und genießen follten, in einer Form geſche⸗ 
- Jen mußten, die mit: deren Lebensbedingungen übereintommt, fe warb fie nothwendig 
faramental, d. haſſo, Daß Die wirklichen Gimmeldgüter Doc) in der dem Menfchen faß⸗ 
lichen @eftals und unter der Kite feiner beſten irdeſchen Opfer⸗ und Nahrungsmittel 
dacgeboten wurden. | 
Mögen wir hiernach die Abendmahlsſtiftung im ihrer Beziehung auf dad einmalige 
Krenzedopfer oder auf den fortwaͤhrenden Opferbienft des himmliſchen Prieſters betrachten, 
immerhin konnen wir fie nur — und jede Abendmahlsfeier, fofern jede eine unverkürzte, 
gleichbebenitenne Wiederholung der erften fein foll — als eine eigentliche Opferhandlung, 
als Anfangs. ein Opfer und zum Schluß ein Opfermahl bezeichnen und dafir Halten, 
daß der Herr den Apofteln mit dem Befehl, feine euchariſtiſche Handlung zu wiedet⸗ 
Selen, eine wirklich priefterfiche Vollmacht übertragen bat. If doch in ihr Die Selbſt⸗ 
darbringung Chriſti, Die.eingige, die im neuteſtamentlichen Bolffinn „Opfer” heißen Tann, 
mach ‚allen ihren Seiten hin zus Barftellung gebracht, namlich zunächft fein Melchiſedek⸗ 
ſcher Dienſt vor Bott in einem facramentalen, für Die Menfchen zugänglichen unb doch 
weſens vollen Abbilde, und damit auch fein Kreugedopfer in einem tbatfächlichen Ge⸗ 
dachtniß, in einer realen Bergegenmärtigung ber That, die ein fir allemal auf Golgatha 
vollendet ward. Die uchariftie iſt das Opfer Chriſti in. feiner Titurgifchen, für den 
Gebrauch feiner Kirche beftimmten Form: fie iſt Das vernünftige und unblutige Opfer 
wos neuen Bundes. Der blutige Opfertod Jeſu bleibt darım doch der legte Grund 
und Due des Geild; feine Eingigkeit und alleinige Geltung wird durch das euchari⸗ 
ſtiſche Opfet jo wenig beeinträchtigt, daß er durch daſſelbe vielmehr erſt auf Die rechte 
und wöärdigfte Weife gerüähmt, gefeiert, verkünbigt wird. Denn zu den Worten ober 
den innerligen Acten, mit denen wir Ghrifti Kreuzestod preifen und bewähren mögen, 
tritt in dem Gedächtnißopfer der Euchariftie noch das Iebendige Abbild jener erhabenen 
Erwähnung hinzu, die Chriſtus felbft im Himmel davon thut. Eine höhere Verherr- 
liägung des Rreuzesupferd kann e8 nicht geben, als diejenige, die Chriſtus felbft bewirkt, 
indem er vor dem Vater erfcheint als das gefchlurhtete Lamm (Off. 5, 6. 9); und dag 
euch ariſtiſche Opfer der Kirche iſt nur Das Gegenbild, der irdiſche Ausdruck dieſes himm⸗ 
liſchen Dienſtes, fofern die Kirche als fein Leib nicht umbin Tann (felbft abgefehen von 
fomem ausdrücklichen Befehl), zu thun, was fle im Geiſte ven Herrn thun flieht, gleich“ 
wie er 'einft von fich fagte: Was ich den Vater thun fehe, das thut alsbald auch der 
Sohn. Oder wird etwa das Kreugedopfer dadurch in Schatten geftellt, daß Chriſtus 
immerwährend und täglich mieberholt als Priefter im Himmel thätig ift, opfert? Wahr- 
lich, mit faſt beſſerem Scheine, ald von dem euchariſtiſchen Opfer, könnte man von jedem 
anberen wörtlichen ober. thatlichen Opfer, 3. B. aud) von dem neuerdings (in proteftan«. 
tiſchen Litutgien) fo fehr betonten Selbftopfer der Ehriften meinen, daß es eine Beein- 
trächtigung ves einmaligen und genugfamen Kreuzesopfers Chröfti fi! Aber allerdings 
nicht minder weſentlich iſt das zweite Moment der Euchariftie, nämlich daß. fe ein icher« 
notice Mahl. ift, deſſen Genuß nach Ehrifli Wort. das Bauptmittel bleibt zur Sta 
kang des geiftlichen Lebens ober ver Heiligungs⸗ und Auferſtehungskraft in denen, die 
an CEhriſtuni gläabig geworden und deshalb nach himmliſcher Kräftigung begterid 
ftaße .: I zenes Moment, das Opfer, die: hoͤchſte Kirchliche Berberrlihung und An 








Aendwahb a 


beiung Gottes, fo. iſt dieſes, die Communion, bie erhabanſte und wirhfampe. veilosebe 
für Die Menſchen. 

Daß rechte Verſtaͤndniß und. die Tautere Vollziehung⸗ des auchariſtiſchen Dias 
und Mahles bilvet feiner Natur nach erft ben fruchtbaren Boden, auf welchen, „wie 
alles übrige geiftliche und Eixchliche Leben, fo namentlich die fchönfte Blüthe deſſelben, 
ber Cultus, Die Anbetung Gottes in Geift und Wahrheit, einzig erwachien Tann, Der 
Berlauf der Kirchengefchichte hat freilich nur zu fehr gezeigt, wie ſich gerade. am die 
Guchariftie, ald an das Edelſte, der Irrtum und Mißbrauch feft angebeftet haben. 

Seit der Gründung der ‚Kirche ward das 5, Abendmahl ſowohl zu Ierufalem, 
als in den fpäter entflandenen Gemeinden täglich begangen. Während die iſraelitiſchen 
Ghriften den Tempels und Synagogencultus noch ganz wie ihre übrigen Volkgzgenoſſen 
hielten, fo „brachen fle das Brod hin und ber in den Haͤuſern“ (Apnflelgefch. 2, 46): 
Die GSedächtnißfeier des Todes Chrifti lieferte den Hauptgrund für die beſonderen Ver⸗ 
fammlungen der Chriften; fie warb von Anfang an der Wittelpunft, um den fi Ras 
Gemeindeleben anjegte und ausbildete, jo daß 48 endlich die völlige Ausſcheidung amd 
dem juͤdiſchen Organismus vertragen, ja dadurch nur freier und kraͤftiger werben Tonuk, 
„Wir haben ja einen Opferaltax, yon dem die Juden nicht efien fönnen“, war ber Troſt, 
auf den der Hebräerbrief die Durch des Sanhedrins Bannftrahlen beftürgten : Zube 
chriſten hinwies (Hebr. 13, 10); und diefer Altar mit feinem binmlifchen Dienfe und 
Mahle war ihnen an allen Orten ihrer Pilgrimfchaft der veichfte Erfag für Alled, mas 
fe in der Welt verloren. Die euchariftifche Feier warb die Hauptfache, ja die Summe 
des chriftlichen Gottesdienſtes. Alle anderen Cultushandlungen bildeten, ſofern fie: nicht 
in jene miteingefügt werben Tonnten, nur nebengeorbnete, entweder vorbereitende oder 
abgeleitete Beiern. Demgemäß hatten fchon die Apoftel das h. Abendmahl mit gottes⸗ 
dienftlichen Bormen umgeben, die feiner Natur und Bebeutung entfprachen. Es ent⸗ 
fand durch ihre Verordnungen fofort eine gewiſſe Gliederung und Folge, eine Liturgie 
feiner Vollziehung. Mit Necht hat man die Grundzüge deſſelben fchon in einer Stelle 
der Apoflelgefchichte (2, 42) gefunden, wo das innere Leben und Verhalten der Am 
gemeinde fo beichrteben wird, daß fle beftändig oblagen „ver Lehre der Apofkel, her 
Gemeinſchaft, dem Brodbrechen und dem Gebete”. Die Verfammlung, eröffnet ohne 
Zweifel mit Gebet und Pfalmengefang, horchte zunächft den Belebrungen den 
Apoftel, die — ſchon nah dem Borbilde der Synagoge — ficherlih auf andgen 
wählte Schriftunslefungen gegründet waren. Dann folgten jene rührenden Aeußernungen 
der brüderlihen Semeinfchaft: die Gläubigen brachten von ihrer Habe dar, wa& 
irgend für die gemeinfchaftlichen Bebürfnifie, fo wie für die Pflege der Armen erfor« 
derlich Ichien. Aus diefen Gaben ward dad zum Abendmahl Nothwendige una Geeig⸗ 
nete, Brod und Wein, abgefondert — der Reſt ward für dad gemeinfchaftliche Liebes⸗ 
mahl aufgefpart (f. Agapen); dann, nachdem noch, wie ſich's nicht anders denken 
läßt, ein Dankgebet für die göttlichen Gaben und Gnaden vorausgefchidt war, erfolgte 
dad Brodbrechen, die Gonferration und Darftellung des Leibes und Blutes Chrifi 
nach feiner Einfegung, woran fick, um die Vergegenmwärtigung feines priefterlichen Wertes 
im Himmel zu verbollftändigen, dad Gebet unmittelbar anfchloß, die Yürbitte, welcha 
Die Gemeinde gerade dann auf Grund der vorliegenden Unterpfänder der Leiden und 
Liebe Iefu am andächtigften und wirkffamften darbringen konnte. Daß endlich ber 
Kommunion aller Gläubigen ein Schlußgebet und Segen folgte, ann für ſelbſtver⸗ 
fändlich gelten. Cine ganze Reihe Liturgifcher Formeln, die fich bei der fo oftmaligen 
Wiederholung der Beier, felbft ohne ausbrüdliche Anordnung, von felbft feftftellen muß« 
ten, find gleichfalls fchon apoftolifchen Urfprungs, wie z. B. „Der Herr fei mit euch”, 
Friede fei mit euch”, „Erhebet die Herzen”, „Das Heilige den Heiligen”, „Ehre fei 
dem DBater und dem Sohne und dem heiligen Geifte“ u. a. m. Aber vor Allem, men 
kann in jenes neutefiamentlichen Andeutung die Hauptftüde und die Aufeinauberfolge 
der liturgiſchen Formen erkennen, welche die Kirche des Oſtens wie des Weſtens mit 
wunderbarer Mebereinftimmung in ihrer Abenpmahlöfeier bewahrt hat. Die Zufäge und 
ceremomiellen Uebexladungen, ‚welche die fpäteren Jahrhunderte einführen, Tonnten jene: 
Grundſaulen apoſtoliſcher Liturgie verunſtalten und verſchütten, aber nicht von ber: 
Stelle rücken. Die. Borkefung und. Auslegung von Schriftperikopen, als Mittelpunktt 


Abenbmahl. 

eines einleitenden und weſentlich lehrhaften Theiles, ferner die Darbringung irdiſcher 
Gaben, das Offertorium, weiterhin nach vorangeſchickter Dankſagung oder Präfation die 
Eonferration und das Opfer des Sacramentes felbft, dann die kirchlichen Fürbitten oder 
Gommemorationen, endlich die Gemmunion der Gläubigen wurden von ben älteflen 
Zeiten an als die nothwendigſten und in ihrer Aufeinanderfolge einander bedingenven 
Stüde des chriſtlichen Hauptgottesdienſtes, der euchariftifchen Beier, betrachtet. Die 
erften Jahrhunderte waren bemüht, ſowohl fefte Titurgifche Formen für dieſe Haupttheile 
aufzuftellen, ald auch die Uebergänge derſelben mit geeigneten Zmifchengebeten und 
Geſaͤngen auszufüllen und abzurunden, fo daß bie Kirche fich einer wahrhaft organifchen 
and gotteöwürbigen Geftalt ihres Eultus rühmen Eonnte. Die wörtlihe Faſſung ber 
einzelnen Gebete war wohl verfchieden im Orient und im Decident, und wieberum 
wichen die aftifanifche und fpanifche, bie römifche, die mailaͤndiſche, die gallifche und 
beitifche Liturgie im Einzelnen mannichfach von einander ab, in den Sauptfachen flimm- 
ten alle überein und wurden, jede für ihren Kreis, als gleichberechtigt anerkannt. An⸗ 
fangs dem Gedaͤchtniß oder hoͤchſtens der Privataufzeichnung der Bifchdfe und Priefter 
anvertraut, wurde die Liturgie feit dem 4. Jahrhundert überall niedergefchrieben, ohne 
doch ſchon ihre bleibende Geftalt zu empfangen. Im Begentheil haben gerade die Zu- 
füge der folgenden Periode, die Einführung des Helligen- und Mariencultus, die vielen 
Wiederholungen und die Aufbäufung fumbolifcher Geremonien die Einfachheit und Klat⸗ 
beit der apoſtoliſchen Ordnung befchädigt. Die römifche Abendmahlsliturgie erhielt 
ihre fehige Geſtalt im Wefentlichen bereits durch Gregor den Großen (} 604), obwohl 
manche Nachträge noch viel fpäteren Zeiten angehören; die griechifchen Formulare find 
nicht vor dem 10. Jahrhundert völlig firirt worden. 

Der Ausbildung der Liturgie ging die dogmatifche Erörterung der Kirchenlehrer zur 
Seite. Die größten derfelben in den erften Jahrhunderten: Irendus, Eyprian, Auguftinus 
ww Ehryfoftomus, haben die aus der apoftolifchen Zeit überlieferte und in den älteren Ri⸗ 
twalen ausgeprägte Auffaffung noch rein bewahrt: die Euchariftie die beftändige Gedaͤchtniß⸗ 
feier des einmaligen Kreuzesopfers, dad tägliche Rob» und Dankopfer für die volfbrachte 
Verſoͤhnung, welches die Kirche in Einigung mit dem verherrlichten Chriſtus darbringt. 
Kaum daß fi Hin und wieder einige Ausdrücke von mehr rhetorifcher Färbung finden, 
welche ald Vorzeichen der von Grund auf veränderten Erklärung, die mit Papft Gregor 1. 
auftritt, gedentet werden könnten. Diefer Legtere nämlich ftellt zum erften Male mit voller 
Entfchiedenheit Die Meinung auf, welche in der römifchen Kirche die berrfchende und dann 
im ihrer mittelalterlichen Ausführung ein Hauptquell oder gar der Mittelpunkt für die 
Kirchliche Verderbniß geworben ift: die @uchariftie ſei — von vorn berein im Wider 
ſpruch mit ihrem Namen — ein Sünd⸗ und VBerföhnungsopfer, eine myſtiſche Fort⸗ 
fegung oder Wiederholung des Leidens auf Golgatha, täglich feige Ehriflus geheimniß⸗ 
voll vom Himmel herab, um zu leiden und ſich opfern zu laflen für die Schuld ſeines 
Bolkes, zur Exlöfung der lebenden und fchon geftorbenen Sünder (sacrificium pro- 
pktialorium pro vivis et mortuis). Alfo aus einem Dankopfer für die ein für allemal 
vollbrachte Sühne zu dem Süändopfer eines noch immer fortvauernden Verfähnungs- 
leidens, das war eine fo gewaltige Veränderung der Anflcht, daß, wenn fle einmal gültig, 
ja die allein gültige und befannfe wurde, auch eine entfprechende Veraͤnderung ber 
gefammten Lehre und Prarid der Kicche erfolgen mußte. Dann befam vor Allem bie 
Vrieſterſchaft, in deren Macht vie Vollziehung dieſes Meßopfers, diefe Ergänzung des 
Werkes Chriſti fland, eine Stellung, durch welche dad Verdienſt des einzigen Mittlerb 
nothwendig verbunfelt warb; fie erfchien ald die mehr oder weniger felbftftändige Ges 
hülfin Chriſti bei feiner Verföhnungsarbeit. Durch Die Veränderungen, welche gleich 
zeitig auch die andere Hälfte der Mbenpmahlsfeier, Die Kommunion, erlitt, wurbe biefe 
bedenkliche Wendung nur noch befdrbert. 


Denn fo entfchienen die älteflen Liturgien im Einflange mit ven Stimmen der 


Kischenväter die Idee des euchariftifchen Opfers, des Dankopfers, hervorheben, eben 
ſo Far bezeugen fle die regelmäßige Communion der Gemeinde. Wenn irgend das 
heil; Abendmahl in.der alten Kirche gefeiert ward — in den größern Gemeinden täg- 
lich, in alten wenigſtens fonntäglich — fo wurde e8 auch von allen Getauften genoflen, 


während Den noch Ungetauften ſelbſt vie Anweſenheit, außer "bei dem erſten belehrenden 


MWendmehl. | VN 


Theil der Feier (der daher Katechumenenmeſſe hieß ') nicht geſtattet wurde. Getaufte 
Kinder haben wenigftens von Zeit zu Zeit communicirt. Den Kranfen und Ge 
fangenen warb das Sarrament von den Dienern der Kirche zugetragen, Reifenden auf 
ihre Fahrt mitgegeben. Und damit bei einem undorhergefehenen Bedürfniffe Doch 
Niemand der Lebensſpeiſe entbehren möchte, ward immer ein Vorrath von der letzten 
Sonntagsfeier in der Kirche aufbewahrt. Nur Solche, die durch ein notoriſches Ver⸗ 
gehen gegen die Heiligkeit der Lehre und des Wandels der Jünger Chrifti ſich ver- 
ſchuldet batten, blieben son dem Genuffe, aber auch von der vorangehenden Feier der 
Euchariftie ausgeſchloſſen (ſ. Excommunication). Wer fich aus Gleichgültigkeit ober 
Nachläffigkeit an dem, worin man das erhabenfte Vorrecht der Chriften erkannte, nicht 
betheiligte, vcar in Gefahr, als ein wirklich Ercommunicirter behandelt zu werben. 

Diefe beilige Inbrunft dauerte faft ununterbrochen Durch die drei erften Jahr⸗ 
hunderte an. Als jedoch mit Gonflantind Zeit Schaaren von innerlich unbefehrten 
Menfchen in die Kirche kamen, wirkte die überhandnehmende Unlauterfeit und Laubeit 
des Glaubens fofort auch auf die Betheiligung des Volkes an der Communion. Die 
Predigten des heil. Chryſoſtomus (+ 407) find bereit3 voll von Klagen, daß bei weitem 
nicht mebr Alle, welche der Feier anmohnten, auch zum heiligen Genuffe binzuträten. 
Spätere Concilien fchärferi allen Laien wenigftend eine dreimalige Communion in jedem 
Jahre ein, an den brei großen Feſten, bis endlich das unter Papſt Innocenz II. ger 
baltene große Lateranconcilium 1215 fich fogar mit der einmaligen zu Oſtern genügen 
läßt. Yortan wurden nur noch Klerifer und Mönche Durch ihre befondern Vorſchriften 
zur bäufigeren Gommunion verpflichtet gehalten. Und alle fpäteren Verſuche erleuchteter 
Lehrer, daB Volk zum fleißigeren Gebrauche der bimmlifchen Nahrung zu erweden, 
mußten an ber erflärlihen Abneigung des weltlichen Sinnes fcheitern. Um die Ber- 
antwortlichfeit für dieſen Zuftand abzumeifen und das Firchliche Gewiffen zu beruhigen, 
ward Die theologifche Erfindung der „geiſtlichen Communion“ gemacht, der zufolge flatt 
der facramentalen Genießung eine gewiſſe innerliche Theilnahme, ein herzliches Begehren 
ald in der Regel genügend angejehen ward. Und, auch dies erſcheint noch als ein 
geringeres Uebel gegenüber der unheiligen Art, mit der ein häufiges Communiciren 
auch ohne innerliche Vorbereitung, bloß als opus operatum. hin und wieder betrieben 
und empfohlen ward, wie z. B. von den Jeſuiten in ihrem Streite mit den Janſeniſten. 
Die griechifche Kirche ihrerfeitd hat ſich dazu verftanden, durch die Austheilung der ſo⸗ 
genannten Eulogien oder Antivora, gewiffer geiegneter Brödchen (nicht des confecrrixten 
Abendmahlsbrodes) an die bei der Feier Anmwefenden, eine Art von Schein, eine dürftige 
Heminiscenz der allgemeinen Communion des Volkes zu erhalten. 

In beiden Kirchenabthbeilungen aber wurde eben binburd die euchariftifche Beier, 
während fle die höchfte und empfohlenfte Cultushandlung, der eigentliche Hauptgotted- 
bienft blieb, zu einem der Gemeinde äußerlichen Borgange herabgefegt, zu einem geheim 
nißvollen Schaufpiele, deflen geiftliche Wirkſamkeit durch feinen eigenen vorfchriftäömäßigen 
Bollzug fo binlänglid, verbürgt jei, daß es der facramentalen Betheiligung der Gemeinde 
— menigftend in der Negel — nicht mehr bevürfe. Erſt dann mar der priefterliche Ge⸗ 
ſammtcharakter der Chriften gefährdet, als die liturgirende Priefterfchaft mit dem eucha⸗ 
riftifchen Opfer nicht mehr an der Spige der Gemeinde, ald des mitpriefterlichen Volkes, 
erfehien, fondern dazu fortfchritt, allein vor Gott zu treten, allein zu feiern und zu 
eommuniciren. (Die röm.-fatholifhe Kirche hat von jeher den priefterlichen Charakter 
de⸗ Volkes ohne episcopale Weihe geläugnet. Ihre Auffaſſung des Sacraments f. un⸗ 

Meile”) Zu dieſem Ende hat offenbar unter Anderem auch die dem Volke unver⸗ 
—8 Sprache der Liturgien beigetragen. Das Latein der alten Formulare, das 
man unbeweglich beibehielt, war den neu entſtandenen romaniſchen Völkern, geſchweige 
Denn den germaniſchen von vorn herein unverſtaͤndlich. Im Bereiche der orientaliſchen 
Kirche wirkte diefer Mebelftand doch nicht in gleichem Maße. Die von ihr aus befehrten 
flawifchen Bölfer erhielten die Liturgie in der damaligen Landesſprache. Aber was audh 
Alles dazu beigetragen habe — hörte die euchariftifche Feier erft einmal auf, der Ge⸗ 
meindagotteöbienft zu fein, um fich zu einer fpeciellen Aufgabe des Prieſterſtandes zu 

den eben, wie über den Namen „Mefle” für die Abendmahlsfeier fiehe ben betreffen: 

Bagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. 1. 6 


B2 | MWenbmnahl. 


verwandeln, fo war nur noch ein Schritt zu jener aberglaͤubiſchen Betrachtungsweiſe, 
nach ber fie als ein ſchon an und für ſich ubfolut verdienſtliches und heilvermittelndes 
Merk gilt, dad man durch einen Priefter nur für fich verrichten zu laſſen braucht, um 
ih dadurch jede exwünfchte Gunft des Himmels zu verſchaffen. Die griechifche Kirche 
zwar ift nicht bis zu den legten Conſequenzen dieſes Weges fortgeſchritten. Ihr 
bogmatiſcher und ritueller Beſtand warb gerade um jene Beit abgefchlofien, ald bie 
lateiniſche Chriftenheit eine neue Entwidelungäftufe auch in ihrer Firchlichen Entwidlung 
betrat. Der Orient kennt die eigentliche Privatmeffe noch nicht. Die Euchariftie wird 
nur an den beflinmten Tagen und Gelegenheiten und dann immer wenigftend im Namen 
der ganzen Gemeinde, niemald nur auf Beflellung Einzelner und für deren Privatanliegen 
gefeiert. Ihre Liturgie enthält wenigftend die Aufforderung des Volkes zur Eommunion: 
„Tretet berzu u. ſ. w.“ als ftehende Formel und jedesmal muß außer dem celebrirenden 
Briefter doch auch der Miniftrant und die etwa anweſenden Kleriker, ald Repräfentanten 
des Volkes, communiciren. Anders in der römifcyen Kirche. Aus der ſchon bevent- 
lichen älteren Gemohnheit, derjenigen, die eine befondere Opfergabe angemelbet und 
beim Dffertorium dargebracht hatten, auch mit befonderer Fürbitte nantentlih zu ge⸗ 
denfen, war bereit im 9. Jahrhundert der Gebrauch ausgebildet, für Jedermann, ber 
wit einer genügenden Opfergabe die firchliche Fürbitte für fein oder ber Seinigen 
(Lebender fowohl als Abgefchiedener) ewiged Wohlergehen begehrte, eine befondere Meile 
zu veranflalten. Anfänglich galt noch als Erforderniß, daß ein Solcher, würdig vor⸗ 
bereitet, bei feiner Mefle auch eommuntieirte. Allmälig fiel auch Died weg nnd ber 
Priefter verrichtete Alles allein. 

Bei den gewöhnlichen Meſſen dieſer Art, Die ohne Sang und Klang gefeiert 
werben, blieb ein eingiger Miniftrant ober Chorbiener, der nur die Nefponforien bes 
Rituals zu fprechen hat, die ganze Reminiscenz ber verfchwundenen Gemeinde (moher 
Der Rame Stillmeffe oder Winkelmeſſe, wie die Proteftanten lieber fagten); aber auch 
wo bei größerer Solennität ein ganzer Chor von Klerikern oder Sängern refponbirt 
und als die Neprüfentation der Gemeinde betrachtet wird, fteht dieſe doch eben fo wenig 
in einer inneren geiftlichen Beziehung zu der Feier und bleibt am Opfer wie an ber 
&ommunion unbetheiligt. Diefe Privatmeffen und darunter ganz beſonders die für 
Berftorbene geftifteten, die Seelenmeflen, wurden gleichjam der Inbegriff der Angriffe 
und Wifanwendungen, welche bie chriftliche Abenbmahlsfeier erlitten hat, und fie find 
auch zu allen Zeiten — nicht bloß von Proteflanten — als eine der ſchwerſten Vers 
irrungen des roͤmiſchen Kirchenthums bezeichnet worden; denn nicht nur, daß ihre Ab⸗ 
haltung einmal, mehrmals, oder periodifch, je nach den Mitteln des Veranſtalters, ein 
Begenftand des Handel und des fchnöbeflen Gelderwerbes für den Klerus ward, fo 
verlor man ben geiftlichen Charakter der Beier auch darin aus den Augen, daß man 
jederzeit zur Abhaltung einer Meſſe (Votivmeſſe) nad} der Intention des Beſtellers bereit 
iſt, ohne viel Frage, ob dieſe geiſtlicher Art und gotteswürdig, geſchweige denn gott⸗ 
wohlgefaͤllig ſei. Es würde aber hier zu weit führen, die Geſchichte dieſes Unweſens, 
von den mittelalterlichen Jagd⸗ und Turniermeſſen, Abendmahlsproben u. ſ. w. an bis 
herab auf die modernen Parade- und Demonſtrationsmeſſen, die bei jeder politiſchen, 
hoͤfiſchen oder militairiſchen Veranlaſſung celebrirt werden, zu verfolgen. 

Der mannichfaltige populäre Aberglauben, ber den conferrirten Elementen magiſche 
Wirkungen zufchreibt, war allerdings fchon durch den altkirchlichen Gebraud), den 
einzelnen Gläubigen dad Sacrament auch ind Hand mitzugeben, ermöglicht, wurde 
aber erfi in den Maße verbreitet, als das Volk für Die facrramentale Commmion fein 
Berftändnig umd Verlangen mehr hatte. Und die übertriebenfte äußere. Ehrfurtht und 
Beforgnig für die heiligen Zeichen, welche von ber rituellen Borfchrift gefordert wurden, 
Fonnte jene wahre Ehrfurcht vor dem Sarrament, die in feinem rechten, fiftungsnräßigen 
Gebrauche befteht, nimmermehr erfeßen. Im Gegentbeil, es wurben dadurch noch andere 
Mipbräuche veranlaßt. Aus der Beſorgniß, ed möchte bei einer zahlveichern Laien⸗ 
communion etwas auß ben gemeihten Kelche verfchizttet werben, reicht Die orthodoxe Kirche 
bes Orients den Commmunicanten bie beiden Elemente in einer wffenbar ſtiftungswidrigen 
Miihung: dad gefegnete Brod wird in den Kelch gebrödelt und die einzelnen Fragmente 
fo eingeweiht den Laien mittelft eines Loͤffels ausgefpendet, zugleich ald Leib und Blut 





Kbentmai, 83 


Chriſti. Das auf der getwennten Darreidiung beider Elemente beruhende Symbol bes 
geſchlachteten Lammes Gottes geht damit völlig verloren. Unter demfelben Borwanbe 
ward im Decidente im 12. Jahrhundert die Kindercommunion abgefchafft, nachdem man 
ven Kindern ſchon feit einiger Zeit ſtatt ded gefegneten Kelches einen ungeweihten 
gereicht hatte — ein Scheinwerf, das billig nicht fange vorhielt. Mit auß demſelben 
Grunde erfolgte endlich die verhängnigvolifte Verftümmelung der Kommunion, bie 
Entziebung des Kelches von den Laien und überhaupt allen Communicanten mit Aus- 
aabme des celebrirenden Briefterd. Die theologische Schelaftif des 12. und 13. Jahr⸗ 
hunderts gab hierzu allerdings aud eine dogmatifche Beranlaffung, indem fie in ihrer 
Sarramentöichte den Sag, daß unter beiden Geftalten des Abendmahls der ganze 
Ehriftus gegenwärtig fel und empfangen werde — nämlich kraft der realen Einigung 
mus Zufemmengebörigfeit (concomitantia realis ober naturalis) von Fleiſch und Blut, 
wie von Leib und Seele und von feiner Menfchheit und Gottheit — dahin ausbilbete, 
daß alfo die Doppelgeflalt des Sacraments nicht fowohl zur vollfändigen Anweſenheit 
Der bimmlifchen Güter, ald nur zur formalen Vollſtaͤndigkeit der Sacramentöfeier nathig 
fei. (Eine Behandlung des Geheimniſſes, welche die evangelifche Kirche als eine nur 
materiell verſtandesmaͤßige vermirft.) Es war nicht anders möglich, ald Daß man babei 
auf Abwege gerieth; denn man fpeculixte weiter, daß die formale Wollſtaͤndigkeit ber 
Sacramentsfeier offenbar nur von dem Briefter, der ja auch allein opfere, in allen 
Gtüden beobachtet zu werden brauche, während ed für ben Gemmunicanten wur auf 
die Vollſtaͤndigkeit des fubftanziellen Genuſſes anfomme, die unter jeder von beiden 
Geftalten gleich ſehr geboten werde. Benüge alfd vie Communion unter je einer Geſtalt, 
ja wäre es fogar eine fegerijche Derläugnung der Concomitanz⸗ Gegenwart bed ganzen 
Eheifluß, wenn man die Communion unter beiden Geftalten für bie allein gültige und 
vollkändige erklären wollte — fo verdiene doch Die unter Der Geſtalt des Brodes, der 
gebührlihen Borficht wegen, den Borzug vor der bloß mit dem Kelche, welcher ſo 
leicht verfchüttet wird. Diefe ſcholaſtiſche Thevyrie war nach einigem Schwanken ber 
Meinung im Weſentlichen ſchon fertig, während die rechtmäßige Ausfpenbung beider 
Elemente noch faft aberall, die Kranken» und Kindercommumion etwa auögenommen, 
befland. Uber die Bonfequenz ber bisherigen Entwideling und ber innere Trieb des 
damaligen Kirchenweſens erforverte auch noch diefen Ichten Schritt zur Bereingelung 
des allberechtigten Briefterthums und zur Verkümmerung des allgemein chriſtlichen Ber 
rufes. Die Menſchen des Mittelalters trugen fich nicht lange mit unfruchtbaren Theorien; 
was fie erdichtet, ſuchten fle auch gleich irgenpwie ins Werl zu ſetzen. Es dauerte 
nicht Tange, nachdem Thomas v. Aquino und Bonaventura (+} 1274) die ſcholaſtiſche 
Begründung der communio sub una vollendet Hatten, daß fie auch, namentlid, durch 
ben Einfluß der DBettelorven, in der ganzen lateinijchen Gheiftenheit eingefühet und ' 
endlich durch Die Konftanger Synode (sess. XIII.) 1415 ald „eine gute alte Gewohnheit“ 
kanoniſch beftätigt ward. Ja Died gefchah im Begenfage zu der Huffitiichen Partei, 
weiche die frirhere gejunde Lehre geltenb machte und die Communion unter beiden 
Geftalten bei fich in Böhmen wiederberftellte (movon die Partei fpäter auch Utraquiften 
oder Kaliztiner, Keldyner genannt wurde). In der römifchen Kirche ift die Kelchenizie- 
Kung unantaftbarer Brauch geblieben. Denn die anfcheinende Oeneigtheit gur Wieder⸗ 
herſtellung des vollftändigen Abendmahles, die einige Päpfte in ben bebrängten Ver⸗ 
baltnifien des 16. Jahrhunderts blicken ließen, gebieh nicht bis zur That; das Tridentiner 
Concil aber (sess. XXI. 1562) bat, indem +8 den Konflanzer Beſchluß endgültig beſtaͤ⸗ 
Gate, die Macht zur Eoncefjion des Kelches unter befonderen Umſtaͤnden dem Bapfte 
en 


Um fo entſchiedener hat bie Reformation die Communion unter beiden Ges 
Kalten, als die der göttlichen Stiftung einzig gemäße, überall gleich in ihrem erften 
Anlaufe wiebergenommen und in diefer Hinficht doch wenigftens bei dem einen Drittel 
ver Göriftenheit bie Reinheit und Fülle ber urfpränglichen Anordnung hergeſtellt. 
Dagegen dat fie auch, obwohl nit in allen ihren Bractionen, zum .erften Male feit 
ber Srindung der Kirche die Behauptung laut werben laflen, die Euchariftie fei Bein 
wirkliches Opfer, ſoudern nur im unelgentlichen Sinne und zwar wegen der ihre Beier 
begleitenden Oebete, Befänge und Dankfagungen ein Opfer zu nenne. Aus dem 

6* 


En 


8 Abendmahl. _ 


Zuſammenhange, in welchem bie hervorragendſten Neformatoren und vefotmatorifchen 
Belenntniffe diefe bislang unerhörte Behauptung ausſprechen, erfennt man 'inbefiem 
feicht, wie fle von richtigen Vorderſätzen auögebend auf ihren über das rechte Ziel 
hinausgehennen Schluß gerathen waren. Ihnen lag Alles an der Hervorhebung des 
alleinigen Verdienſtes Ehrifti und der allgenügenden Sühnkraft jeined Opfers am Krenze. 
Durch diefen Glauben und feine Predigt fuchten fie Die Gewiſſen und die. Kirche zu 
reinigen. Diejer Wahrheit aber fahen fie gerade durch das euchariftifche Opfer, fo wie 
die damalige verberbte Praris es in den Mefopfern übte und die auf Gregor d. Gr. 
geftügte fcholaftifche Theorie es erklärte, aufs Bedenklichſte wiberfprocdhen. Eine unend⸗ 
liche Wiederholung des Kreuzesopfers Chriſti, Die jeder Priefler mit gleicher Verſoh⸗ 
nungsfraft verrichten könnte, dieſe Herabziehung der einzigen That ded Herrn auf bie 
gleiche Linie mit dem täglichen Werke der Kirche, diefe äufßerliche Nebeneinanderftellung 
beider Eonnten fle nur als einen entjeglichen Angriff auf den Grund des Heils betrachten. 


Und darum tilgten fie den ganzen Meßkanon, den die eigentlihe Opferung enthaltenden 


Mittelpunft der bisherigen Liturgie, in ihren Gottesdienſtordnungen bis auf die legte 
Spur aus. Daß ſie dabei mit der Epreu anuch den Weizen binausgeworfen haben 
fönnten, kümmerte fle bei dem Eifer um die evangeliſche Grundwahrheit wenig. Sicher⸗ 
lich würden fle einem gefunderen Dogma über dad Sarramentsopfer nicht widerfprochen 
haben — Melanchthon führt in der Npologie der Augsburger Confeſſion den wirklich 
zeineren unverfänglicheren Meßkanon der Griechen dem römijchen gegenüber mit Beifall 
an — aber, daß das recht verflandene und verzichtete Opfer der Euchariftie gerabe bie _ 
wirffamfte Verfündigung und höchſte Verherrlichung der Hauptfache des Evangeliums 
ift, dad Fam ihnen allerdings nicht zu Sinne, und auch über die unvermeibliche Folge ber 
Abfchaffung des Opfers, den Ruin des Firchlichen Eultus, waren ihre Augen verfchloflen. 
Unter den proteftantifchen Gemeinfchaften haben nur die anglifanijhe und bie 
fchottifche Episcopalficche, jene undeutlicher und wie zaghaft, dieſe mit größerer Be⸗ 
flimmtbeit das euchariftifche Opfer in der Liturgie und Theologie geltend zu machen 
gefucht und damit zugleich einen verhältnigmäßig lebenskraͤftigen @ultus bewahrt. Fin 
die übrige Maſſe der Evangelifchen ging die Idee und Handlung des Opfers vollig 
verloren, und es ift eine fchmerzliche Wahrnehmung, daß fie den einen Theil des Altar⸗ 
farramentes in demjelben Augenblick einbüßten, da jie den andern, die Communion, in 
feine urfprüngliche Bedeutung wieder einjegen wollten. Doch zeigte fich. bald genug, 
daß das euchariftiiche Myſterium ein untbeilbared Ganzes if, und Feines feiner beiden 
Stüde ohne das andere zur vollen Würde und Wirkfamfeit gelangen fann, bie Com⸗ 
munion ohne das Opfer fo wenig, ald das Opfer ohne die Communion. Die Predigt 
nahm in den proteftantifchen Gottesdienſten von Anfang an eine zu fehr bominirenbe 
Stellung ein. Gewiß war es hochnöthig, fleißig zu previgen und zu unterrichten, um 
da8 Bol nur wieder über den Grund des Heils aufzuklären und zu einem Bemuptfein 
feined Berufs zu bringen. Allein man gelangte nidyt bis zur höchften Ausübung dieſes 
Berufes, zu dem geiftlichen und wahrbaften Cultus Gottes durch eine priefterlidhe Ger 
meinde, zu welchem die Predigt ihrer Natur nach doch nur die Vorbereitung und 
Anleitung fein kann. Ban machte die Predigt, und zwar die der elementarften chrifte 
lidyen Wahrheiten, den Katechismus, zum Selbflzwed. Bei den Lutheranern war fie 
wohl umgeben von formulirten Gebeten und Gefängen, ausgewählten Bruchflüden der 
alten Liturgie, die durch die neuen evangelifchen Kirchenlieder einen erheblichen Zuwachs 
befamen. Allein dies Alles, des belebenden Mittelpunktes der euchariftifchen Darbringung 
beraubt, hing nur Iofe zufammen und war ohne ein Durchgreifendes anerkanntes Princiy 
geordnet, bier fo, dort anders nach der bunten Mannigfaltigfeit der Tandesfürftlichen 
und reichöftäbtifchen Agenden. Daher gerieth die Gottesdienſt-Ordnung, auch weil man 
fie für etwa3 an ſich Unweſentliches und Willkürliches hielt, in einen immer wechſelnden 
Fluß und endlich im faft völligen Abgang. Die Ealviniften hatten alles Rituelle von 
seen herein faft gänzlich befeitigt. Die Abendmahlsfeier Eonnte daher bei allen Pro» 
Nanten ihre uranfaͤngliche und trotz aller Verkennung dennoch durch ſechszehn Jahr⸗ 
Iert behauptete Stellung als der eigentliche Hauptgottesdienſt nicht mehr behalten. 
N eine Seite, in der ſich der Cultus der Gemeinde gegen Gott eoncentrirt, war 

ſo ein erkannt und durch Die Predigt und den Geſang erjeht; ihr Lieberreft, die Com⸗ 





MWenduuchl. | ” 


munion, mußte nothwendig zum bloßen Anhängfel an Die Prehigt herabſinken. Die 
Heformirten, die in der verfiandesmäßigen Confequenz immer die Stärkeren maren,. 
baben dies Berhältnig auch dogmatiih in. ihrer Abendmahlslehre dahin Durchgeführt, 
daß die Gnadenwirkung der Kommunion von der de3 geprebigten Wortes nur dem . 
Grade, nicht dem Wefen nach verfchieden jei. Bei den Lutheranern ergab ſich das 
Zurüdireten des Abendmahls aus dem gewöhnlichen Gultus, obgleich e8 im Dogma fo 
siel Höher geftellt warb, allmälig fon aus ben äußeren Umfländen — aus dem 
Mangel an Gommunicanten und aus der Unkuft der hbrigen Gemeinde, der Eommunion 
einiges Wenigen noch beizumohnen, nachdem fie bie Predigt bereits gehört hatte. 
Beide proteftantifche Fractionen konnten e8, nachdem fie den Gultus des Opfers und 
damit des Elementes der Anbetung entleert hatten, um dafür die rechte Communion 
Berzuftellen, doch nicht zu jener häufigen Communion bringen, auf’ der die Lebenskraft 
"der Urkirche beruht hatte. Sie haben fich dabei bezüglich der Gommunion in die Bor- 
theile getheilt, welche die alte Kirche an der vollen, ſowohl häufigen, ald von der 
ganzen Gemeinde Begangenen euchariftifchen Beier beſaß. In der Iutherifchen Gewmein⸗ 
fHaft wird — immer nach Beendigung des gewöhnlichen Haupte oder Predigtdienftes — 
das Abendmahl häufiger, in den größeren Parochien meift jonntäglih, bier und ba 
felbft in der Woche gefeiert; allein es ift. eine Privatfeier derjenigen, die ſich gerade ale 
Communicanten eingefunden haben, und fo wenig Gemeinvehandlung, daß nicht einmal 
der farnetionivende Geiſtliche, gewiß der Nepräfentant des Gemeindeförperd, regelmaͤßig 
zu eommuniciren pflegt -—: eine Privatcommumion, wie die rönijche Kirche ihre Privat 
meſſen bat, ein Act der individuellen Frömmigkeit. Die reformirte Partei, wenigftens da, 
wo ihr Typus ftreng durchgeführt und bewahrt ifl, wie in Schottland, Frankreich und der 
Schweiz, bat Die Commımion ale Handlung der ganzen Gemeinde; an dem Communions⸗ 
gottesdienſte nehmen alle Gemeinveglieder Theil, Die der Kirche nicht ganz entfrembet find; 
aber fie veranftaltet dieſe eier meift nur zwei⸗ bis dreimal jährlidy und jedesmal Eraft bes 
fonderer Feftfegung, nicht als Die gemöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Gebühr. — 
Der Romanismus verbarrte und verfeftigte ſich nach dem vorübergehenden. Winde 
der Aufflärungsperiode wo möglich noch mehr in der herkömmlichen Auffeffung und 
Austbung feiner Mefie; er zog die alten Vorwürfe der Proteftanten new verdient auf 
ich, obwohl feine Dogmatifer und Apologeten nichtd verfänmten, was zur Aufſchmückung 
der Lehre dienlich fehien. Aber auch der geſammte Proteftantidmus bat, indem er. +8 
im euchariftifchen Sacramente, dem Herzen des Firchlichen Lebens, lange nicht zu ber 
Stille bringen. konnte, welche fchon die erften Stadien der chriftlichen Gefchichte aufgen 
zeigt batten, offenkundig bewiefen, daß er doch nur eine partielle, noch unzulängliche 
Reformation geichafft hat, und daß fene Vollgeflalt der Kirche, die auch bie ungen * 
ſchmaälerte Herrlichkeit des chriftlichden Altar ſowohl mit feinem Opfer und feiner Ans» 
betang, wie mit feiner Lebensfpeife wieder befäße, noch eine zukünftige war. Das ift 
es, was als Ahnung oder Erkenntniß viele der beiten Männer unferer Zeit, befonders 
in Deutſchland, England und der Schweiz zu dem Verfuche getrieben hat, ob nicht der 
— freilidy ſchon wieder nacjlaffende — religiöje Aufſchwung der letzten Jahrzehnte zur 
Ergänzung diefer Mängel des Proteſtantiomus zu bewegen fei. Kür Die Abendmahls⸗ 
feier wurde wieder mehr Feierlichkeit und Ritual gefordert, daneben find eigene Liturgifche 
Mottesdienſte eingerichtet und der Alleinherrfchaft der Predigt gegenüber geftellt. Kaum 
im 16. Jahrhundert wurde fo viel an neuen Agenden, Gefangbüchern und ähnlichen 
fiturgifiben Borfchriften gearbeitet. Ja, einige der Tieflinnigeren, die ſich von folchen 
Boch bloß äufßerlihen Einrichtungen nicht viel verjprechen mochten, drangen bid zu der 
Einficht hindurch und waren fühn genug auszufprechen, daß es an dem euchariftifchen 
Dpfer fehle Allein, wie wenig von folchen Einfichten und Bekenntniſſen zu erwarten 
iſt bei der Vereinzelung der Erleuchteten, bei der Erftorbertheit der Maffen und Der auch 
we Beſten Hefchleichenden Sucht, ſich in die einmal fchon autorificte Formel zu beiten 
— das liegt zu klar am Tage. Aufhülfe kann nur von einer flärferen Hand, ald Die 
einiger kirchlich geſtunter Theologen und hochſtehender Laien ift, verfehafft.merden. Wie 
die Kirche überhaupt, fo wird ihr hochſtes Sacrament, die Euchariſtie, weil nur Bott 
im Fleiſche ſie ſtiften konnte, auch nur Durch lebendige Veranſtaltungen Gottes zur 
wfprunglichen‘ Fülle und Wirkung wieder hergeſtellt werden koͤnnen. 


84 Abendmahl. _ 


Zufammenbange, in welchem bie hervorragendſten Neformatoren und refotmatorifchen 
Bekenniniſſe diefe bislang unerbörte Behauptung augjprechen, erfennt war 'inbefien 
leicht, wie fle von richtigen Vorderſätzen audgehend auf ihren über das rechte Ziel 
Hinausgehenden Schluß gerathen waren. Ihnen lag Alles an der Hervorhebung des 
alleinigen Verdienſtes Ehrifti und der allgenügenden Sühnkraft jeines Opfers am Kreuze. 
Durch diefen Glauben und feine Predigt fuchten fie Die Gewiſſen und die Kirche zu 
reinigen. Diejer Wahrheit aber faben fie gerade durch das euchariftifche Opfer, jo wir 
die damalige verberbte Praris es in den Meßopfern übte und die auf Gregor d. Gr. 
geſtützte fcholaftifche Theorie ed erklärte, aufs Bedenklichfte wiberfprochen. Eine unmd- 
liche Wiederholung des Kreuzesopfers Chrifti, die jeder Priefter mit gleicher Berföh- 
nungöftaft verrichten koͤnnte, dieſe Herabziehung der einzigen That des Herrn auf bie 
gleiche Linie mit dem täglichen Werke der Kirche, diefe äußerlicye Nebeneinanderſtellung 
beider konnten fle nur als einen entjeglichen Angriff auf den Grund des Heils betrachten. 
Und darum tilgten ſie den ganzen Meßkanon, den bie eigentlihe Opferung enthaltenden 
Mittelpunft der bisherigen Liturgie, in ihren Gottesdienſtordnungen bis auf die legte 
Spur aus. Daß fie dabei mit der Spreu anch den Weizen binausgeworfen haben 
fönnten, fümmerte ſte bei dem Eifer um die evangeliſche Grundwahrheit wenig. Sicher 
lih würden fie einem gefunderen Dogma über das Sarramentöopfer nicht widerfprochen 
haben — RMelanchthon führt in der Apologie der Augsburger Confeſſion den wirklich 
zeineren unverfänglicheren Meßkanon der Griechen dem roͤmiſchen gegenüber mit Beifall 
an — aber, daß das recht verflandene und verrichtete Opfer der Euchariftie gerade die 
wirkſamſte Verkündigung und böchfte Verherrlichung der Hauptfache des Evangelium 
it, dad Fam ihnen allerdings nicht zu Sinne, und auch über die unvermeibliche Folge der 
Abſchaffung des Opfers, den Ruin des Firchlichen Cultus, waren ihre Augen verſchloſſen. 
Unter den proteftantifchen Gemeinfchaften haben nur die anglifanijche unb bie 
ſchottiſche Episcopalkirche, jene undeutliher und wie zaghaft, dieſe mit größerer Be 
ſtimmtheit das euchariftifche Opfer in der Liturgie und Theologie geltend zu machen 
gefucht und damit zugleich einen verhältnigmäßig Iebensfräftigen Qultus bewahrt. Fin 
die übrige Mafle der Evangelifchen ging die Idee und Handlung des Opfers vollig 
verloren, und es ift eine fchmerzliche Wahrnehmung, daß fie den einen Theil des Altar- 
farramente® in demjelben Augenblid einbüßten, da jle den andern, die Communion, in 
feine urfprüngliche Bedeutung wieder einjegen wollten. Doch zeigte fich. bald genug, 
daß dad euchariftiiche Myſterium ein untbeilbares Ganzes ift, und Feines feiner beiden 
Stüde ohne das andere zur vollen Würde und Wirkfankeit gelangen fann, die Come 
munion ohne das Opfer jo wenig, ald das Opfer ohne die Communion. Die Predigt 
nahm in den proteflantifchen Gptteödienften von Anfang an eine zu fehr dominirende 
Stellung ein. Gewiß war e8 hochnoͤthig, fleißig zu predigen und zu unterrichten, um 
das Volk nur wieder über den Grund des Heils aufzuklären und zu einem Bewußtſein 
feines Berufs zu bringen. Allein man gelangte nidyt bis zur höchften Ausübung dieſes 
Berufes, zu dem geiftlichen und wahrhaften Cultus Gottes durch eine priefterliche Ger 
meinde, zu welchen die Predigt ihrer Natur nad doch nur Die Vorbereitung und 
Anleitung fein fann. Ban machte die Predigt, und zwar die der elementarften chrift- 
lichen Wahrheiten, den Katechismus, zum Selbſtzweck. Bei den Lutheranern .war fie 
wohl umgeben von formulirten Gebeten und Gefängen, ausgewählten Bruchflüden der 
alten Liturgie, Die Durch Die neuen evangelifchen Kirchenlieder einen erheblichen Zuwachs 
bekamen. Allein dies Alles, des belebenden Mittelpunktes der euchariftifchen Darbriugung 
beraubt, hing nur Iofe zufammen und war ohne ein Durdhgreifendes anerkanntes Princiy 
georbnet, bier fo, dort ander nach der bunten Mannigfaltigfeit der landesfürſtlichen 
und reichöftäbtifchen Agenben. Daher gerieth die GottesdienſtOrdnung, auch weil man 
 fle für etwas an fich Unweſentliches und Willkürliches hielt, in einen immer wechjelnden 
ISFluß und endlich im faft völligen Abgang. Die Ealviniften hatten alles Rituelle von 
orn herein faſt gänzlich befeitigt. Die Abenpmahlsfeier konnte daher bei allen Pro- 
teſtanten ihre uranfängliche und troß aller Verkennung dennoch durch fechözehn Jahr 
humderte behauptete Stellung ald ver eigentliche Hauptgottesdienſt nicht mehr behalten. 
Ihre\ eine Seite, in der ſich der Cultus der Gemeinde gegen Gott eoncentrirt, mar 
nicht Inerfannt und durch die Predigt und den Geſang erſetzi; ihr Ueberreſt, bie Comes 


\ 


Khenbunehl, .. 8 
munion, mußte nochwendig zum bloßen Anhängfel an die Predigt Heaabfinfen, Die 
Aeformirten, die in der verftandesmäßigen Gonfequenz immer die Stärleren waren; 
baben die Berbältnig auch dogmatiſch in ihrer Abendmahlslehre dahin durchgeführt, 
daß die Gnadenwirkung der Communion von der des geprebigten Wortes nur dem _ 
Grade, nicht dem Weſen nach verfchleden je. Bei den Lutheranern ergab ſich Das 
Zurädtreten des Abendmahls aus dem gewöhnlichen Cultus, obgleich es im Dogma fo 
viel Höher geftellt ward, allmälig ſchon aus ben äußeren Umfländen — aus dem 
Mangel an Bommunicanten und aus der Unkuft ber übrigen Gemeinde, der Gommunion 
einige Wenigen noch beizumohnen, nachdem fie die Predigt bereits gehört Hatte. 
Beide proteftantifche Fractionen konnten e8, nachdem fie den Cultus des Opfers und 
damit des Elementes der Anbetung entleert hatten, um bafür die rechte Communion 
herzuſtellen, doch nicht zu jener häufigen Gommunion bringen, auf der die Lebendfraft 
"der Urkirche beruht Hatte. Sie haben fich dabei bezüglich der Communion in die Vor⸗ 
theile getheilt, welche die alte Kirche an der vollen, ſowohl häufigen, als von der 
ganzen Gemeinde begangenen euchariftifchen Feier beſaß. In der Tutherifchen Gemein 
jchaft wird — immer nach Beendigung des gemöhnlichen Haupt oder Predigtdienfted — 
das Abendmahl häufiger, in den größeren Parochien meift jonntäglih, bier und da 
jelbft in der Woche gefeiert; allein es ift eime Privatfeier derjenigen, bie ſich gerade als 
Communicanten eingefunden Baben, und fo wenig Gemeinbehandlung, daß nicht einmal 
der fanettonirende Geiſtliche, gewiß der Nepräfentant des Gemeindeförperd, regelmäßig 
zu eommuniciren pflegt-—: eine Privatcommunion, wie die römifche Kirche ihre Privat» 
mefien bat, ein Act der individuellen Krömmigfeit. Die reformirte Partei, wenigftend da, 
wo ihr Typus ftreng durchgeführt und bewahrt ift, wie in Schottland, Frankreich und der 
Schweiz, Hat die Commumion ale Handlung der ganzen Gemeinde; an dem Communions⸗ 
gottesdienſte nehmen alle Gemeinveglieder Theil, die der Kirche nicht ganz entfrembet find; 
aber fie veranftaltet dieſe Beier meift nur zwei⸗ bis dreimal jährlicdy und jedesmal Exaft bes 
fonderer Feſtſetzung, nicht als Die gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Gebühr. — 

Der Romanismus verharrte und verfeftigte fich nad dem vorübergehenden Winde 
der Aufflärungsperiove wo möglich noch mehr in ber herkömmlichen Auffeffung und 
Austbung feiner Mefie; er zog die alten Vorwürfe der Proteſtanten new verbient auf 
fih, obwohl feine Dogmatifer und Apologeten nichtd verfänmten, was zur Aufſchmückung 
der Lehre dienlich fehien. Aber auch der geſammte Proteſtantismus bat, indem ex. ed 
im euchartiſtifchen Sacramente, dem Herzen des Tirchlichen Lebens, lange nicht zu ber 
Fülle bringen konnte, welche fihon die erften Stavien der chriftlichen Gefchichte aufge⸗ 
zeigt hatten, offenkundig bemiefen, Daß er doch nur eine partielle, noch‘ unzulängliche 
Heformation gefchafft bat, und daß fene Vollgeftalt der Kirche, die andy bie unge⸗ 
ſchmälerte Herrlichkeit des chriftlichen Altars ſowohl mit feinem Opfer und feiner Ans 
betung, wie mit feiner Rebensfpeife wieder befäße, noch eine zufünftige war. Das ift 
es, wad ale Ahnung oder Erkenntniß viele ber beiten Männer unferer Zeit, beſonders 
in Deutſchland, England und der Schweiz zur dem Verfuche getrieben hat, ob nicht der 
— freilicy ſchon wieder nachlaffende — religiöſe Aufſchwung der letzten Jahrzehnte zur 
Ergänzung: diefer Mängel des Proteſtantiomus zu bewegen fei. Für die Abendmahls⸗ 
feier wurbe wieder mehr Feierlichkeit und Ritual geforbert, daneben find eigene liturgifche 
Mottesvienfte eingerichtet und der Alleinherrfchaft der Predigt gegenüber geftellt. Raum 
im 16. Jahrhundert wurde fo viel an neuen Agenden, Gefangbüchern und ähnlichen 
liturgiſchen Vorfchriften gearbeitet. Ja, einige der Tieflinnigeren, die fi von folchen 
Doch bloß Auferlichen Einrichtungen nicht viel verjprechen mochten, drangen bis zu der 

binburch und waren fühn genug amdzufprechen, daß es an dem euchariftifchen 
Opfer fehle. Allein, wie wenig von folchen Einfihten und Bekenntniſſen zu erwarten 
iſt bei der Vereinzelung der Erleuchteten, bei der Erftorbertheit der Maffen und ber auch 
die Beſten beſchleichenden Sucht, fich in Die einmal fchon autoriſirte Formel zu beiten 
—vas biegt zu Mar am Tage. Aufbülfe kann nur von einer flärferen Sand, ald Die 
einiger Eicchlich geſtunter Theologen und hochftehenver Laien iſt, verfchafft werden. Wie 
Die Kirche überhaupt, fo wird ihr hochſtes Sacrament, die Euchariftie, weil nur Bott 
im Fleiſche fe. fiften: konnte, auch nur burch Iebendige Beranflaltungen Gottes zur 
usfpränglichen Fülfe und Wirkung wieder bergeftellt. werden koͤnnen. J 


5 Abaau⸗qhtoſeit. 


Abruduchlsftreit. Diejenigen Streitigkeiten, welche innerhalb der chriſtlichen 
Keirche zu v denen Zeiten über das Weſen und bie Bedeutung des h. Abendmahls 
ſind gefuhrt worden und noch jetzt geführt werden, pflegt man, in ähnlicher Weiſe wie 
warn Bilderſtreit“, „Ofterftreit” u. dgl. fagt, Abendmahlsſtreitigkeiten, Abendmahls ſtreit 
zu. nennen. So unvermeidlich num auch biefe Bezeichnung iſt, ſo enthält dieſelbe doch 
einem fo empfindlichen Rißklang dusch Die Verbindung ded Mahles des Fricbens, 
Wr commmunio, niit ver Streite zu einem und demſelben Worte, daß fie als eine 
ſcharfe Gewiffensmahnung an Die Kirche und als eine bittere Erinnerung an ihre Welt⸗ 
formigkeit gelten muß. | 

Der weiteſte Kreis, in welchem fi) der Streit um das Sacrament des Abend⸗ 
mahls bewegt, iſt derjenige, welcher von dem Verhaͤltniß des Leiblichen zu dem Geiſti⸗ 
gen beſchrieben wird; der naͤchſt engere Kreis hat zu feiner Peripherie den Begriff des 
MWunders, mithin befaßt derfelbe auch Die Frage, ob und in wie weit Das 5. Abenb⸗ 
mahl eine Gottesthat der eine Menfcyenthat fei; noch engere, don jenen beiden Kreifen 


aumſchloſſene Kampfftätten find Diefenigen, welche innerhalb ber Lehren vom Worte 


% 


Gottes und von der Perfon Chriſti abgeftedt find. Innerhalb bes erften, weiteſten 
Kreifes ſtehen die Eatholifche Kicche und die Iutherifche Kirche zuſammen allen benfenigem 
gegenüber, welche man mit dem allgemeinen Namen Spiritualiften bezeichnen fan, 
mithin nicht alfein der reformirten Kirche, fondern auch den Secten (Sotinianern, 
Gichtelianern u. f. w.) und der rationaliftifchen Auffaffung; auch in dem zweiten Kreiſe 
ſtehen Eatholifche und Iutherifche Kirche im Brincip zufammen (und in fofern wicherum 
jenen Kirchenkoͤrpern und Secten vereint gegemäber), jedoch fo, daß ſich biefriben Bei 
dee Anwendung des Princips von einander trennen. Der dritte und vierte Kreis ber 
fchttehen beide lediglich Tutherifche und reformirte Kampfesichaaren, indem die hier zur 
Sprache kommenden Fragen ber Entholifchen Kirche, theilweife auch den Serien, fern 
Hegen and unverſtaͤndlich find, im fo weit nicht in der Lehre von der Perſen Ghriſti 
die Patholifche Lehre ſich gewiſſermaßen der reformirten Anſchauung zuneigt. 

Die Differenzen über das Weſen des b. Abendmahls lafſen fich in ben ſo eben 
zuesft angeführten allgemeinften Beziehungen auf zwei Grund⸗Anſchutungen zutädführen, 
welche in einer prineipiellen Verſchiedenheit ver Auffaffung des Ber 
hältniſſes zwifchen der Leiblichkeit („Sinnlichkeit", Materie) und der Gei⸗ 
ſtigkeit wurzeln. Die eine faßt die Leiblichkeit als gottgefchaffene® Organ Der Gei⸗ 
ſtigkeit, und, was den Menfchen betrifft, ald nothwendiges, von der Geiftigfeit nicht 
abzuldfenves, werfelden als ihr ummitselbared und fo zu fagen vertrautes Eigenthum 
zugehörige Organ auf, und nimmt demnach aud an, daß Die Leiblichleit n und für 
fih, d. 5. nit eva nur in dem durch die Sünde herbeigeführten Zuſtande der Des 
terlöration, auf die geiftige Tebensfphäre des Menfchen rinzuwirken beſtimmt und fähig 
ſei, daß die Keiblichfeit ein Organ für die Einwirkung Gottes auf die Geiftigkeit, ober 
vielmehr auf den ganzen Menſchen, abzugeben durch die Erichaffung des Menfchen, be⸗ 
ſtimmt fei, und ein ſolches Organ wirklich abgebe. Die andere Anſchauung bält Leib⸗ 
lichkeit und Geiſtigkeit principiel auseinander und laͤugnet, wenn fie auch die Eigen⸗ 
fehaft der Leiblichfeit als eined Organd der Geiftigfeit im Allgemeinen zugefteht, Doch 
die Unmittelbarkeit und Nothwendigkeit, vor Allem aber die Bolllommenheit dieſes Or- 
guns, meint vielmehr, «3 aͤußere fich die Geiftigkeit ohne Gebrauch diefed Organs (vom 
demſelben befreit) vollſtaͤndiger und in ihrer ungefchmälerten Eigenthümlichkeit; jeden⸗ 
fulls ſei dieſed Organ nicht ein in der vollendeten Schöpfung nothwendiges. Am be⸗ 
ſtimmteſten ſtellt dieſe Richtung die Angemeſſenheit, ja bie Möglichkeit einer gött« 
lichen Wirkung auf die Geiſtigkeit (auf die Totalität des Menſchen), welche mittelſt 
ver Leiblichkeit vollzogen werde, in Abrede. 

Die etſtere Anſchauung, melde fih nicht allen als mit der Offehbarung im 
Einklange ſtehend, fondern als aus derſelben entiprumgen und durch bieftäbe nach Ahrens 
ganzen geichichtlichen Berlaufe (durch Die Erſchaffung des Menſchen, vurch den Eintritt 
und die Witkung der Simde, durch die leibliche Gottesnaht, welche durch bie game 
Geſchichte ber Verheißung ftch hinzieht, Durch die Fleiſchwerdung des Sohnes Gotie 
und dutch die Ausſicht auf die leibliche Auferfiehung) als beflätigt anſieht und weiß, 
kann fich demnach nicht befremdet fitden, wenn ihr, was das h. Abendmahl angeht, 





ehe ” 
oma Jeibliche Miiheilumg Chriſti an Die menfchliche Leiblichleit anzuenlennen. zugenmihet 
wird ; im Gegentcheil, fie wird dieſe Zumuthung ale etwas ihrer Sphäre vollkvmmen 
Homogened von vorn herein bereitwillig fich gefallen Lafien, fie wird in dem h. Abend⸗ 
mabl, eine gugleich leibliche and geifige Handlung ſehen, in. melchee von Bott leiblich 
auf ben Leib und duch dieſen auf Den Geiſt gewirkt merde; — fie kann nicht anders, 
a8 eine reale Mitthellung des Leibe und Blutes Chrifti an die menfchliche Leiblich- 
keit annehmen, durch welche leibliche Mittheilung der Menſch in feiner Totalität, mithin 
and): die geiſtige Lebensſubſtanz deſſelben, irgend eine ſchöpferiſche Wirkung Gottes auf 
ach erfährt oder erleidet. Limgefehrt wird die andere Grund-Anfchauung in Dem 
Abendmahl die leibliche Handlung nur als eine lediglich dem Leibe gugehörige Zutbat 
aufehen, weldye in die Welt der Geiſtigkeit bineinzureichen mvermögend, auch gar nicht 
beftimmet ſei; ſolle ja eine Mittheilung der Berfon Chriſti im Abendmahl ſtattfinden, 
fo Fanne dieſe Wittheilung einig und allein eine geiltige fein, nur auf das pneumati⸗ 
ſche (hödere geiftige) Leben des Menfchen, und zwar direct, wirken, wmüffe aber bie 
Reihlichleit des Empfängers ſchlechthin unbetheiligt laſſen, da die Leiblichkeit zum Em⸗ 
pfangen und Tragen geifliger Kräfte unfähig fei. 

Ea iſt nicht fehwer einzufehen, daß, da dieſe beiden Anfchauungäweijen einander aus⸗ 
ſchließen, eine Berfländigung über Weſen und Bedeutung ded 5. Abendmahls auf ber 
übrigen oben bezeichneten engeren Gebieten nicht möglich fein werde, fo lange nicht vie 
Streitenden beiderſeits von einer diefer beiden. Auffaſſungsweiſen ausgehen; jede Ver⸗ 
Randigung, weiche etwa in jenen engeren SKreijen ſcheinbar erzielt wirrde, mäßte, wenn 
noch Uneinigkeit Hinfichtlich dieſer allgemeinften VBorausfegungen vorhanden wäre, fidy 
nothwendig früher oder fpäter ald eine täufchende und die Kluft nur erweiternbe 

ellen 


Beide Anſchauungen finden ſich, wie ſie überhaupt fundamentale Gegenfäge im 
deu menſchlichen Geſammtauſchauung bilden, alfo unter veränderten Verhältnifien überaf 
und kelneswegs bloß auf bem religiöfen Gebiete wieder erſcheinen, binfichtlich des heil. 
Abendmahls jchon im chriftlichen Alterthum vertreten. Die weit überwiegende Mehrzahl 
ver alten Kirchenlehrer flebt auf Seiten dev erſteren Auffaffung, auf der Seite der an⸗ 
deren nur die ältere alerandrinifche Schule (Elemend und Origenes); Origenes hielt 
Die Reiblichkeit für nicht urfprüngli von Bott gefchaffen, ſondern deren Erſchaffung 
für eime Folge des Falles der Geifterwelt, und meinte demnach, die Materie müfle, um 
Sie Maͤglichkeit der Aufhebung der Sünde zu gewähren, gleichſam abforbirt (vernichtet) 
werben; bies fei in Chriſtus nach der Himmelfahrt gefchehen, folglich koͤnne auch im 
Abendmahl nicht fein Leib und Blut, fondern nur Adyoc und nvsüpe wirken; eine 
Meinung, welche, als zu doketiſchen und gnoflifchen Irrihümern zurückführend, noth⸗ 
wenbig verworfen werben mußte. Indeß bildete ſich in den älteren Zeiten von keiner 
Seite eine beſtimmt formulitte Lehre vom Abendmahl aus; man blieb einfach bei ver 
Thatſache der Mittheilung der zealen Leiblichkeit Chriſti an die menfchlicge Leiblichkett 
Regen, wie diefelbe am kürzeſten und ungweibeutigften von Tertullian ausgedrückt wurde: 
Gate pomose ei-sanguine Christi vescitur, ut et anima de Deo saginetur. 

Im neunten Jahrhundert findet fich bei Ratramnus im Gegenfage gegen die ven 
Baschıfus Radbertus ausgebildete Lehre von der Transſubſtantiation zuerſt eine aube 
faßrung, welche der zweiten jener Auſchauungsweiſen im Allgemeinen entfpricht: 
Bes, welches der Leib Chrifti ift, bat zwei Wirkungsweiſen, die eine nach ber Sim 
lichkeit bin, Die andere nach der Geiftigleit bin; die Wandlung Taun nur eine geiftige 
fein, Leib unb Blut GHeifti kann nur geiftlich und figürlich vorhanden fein. Beſtimmter 
wurbe dieſe Auffaſſung im eilften Jahrhundert von Berengur von Tours gegen Lanfranc 
veutreten, wiewshl es ih auch in dieſem Streite eigentlih nur um die Trandjubftan- 
Kntion hanbelte; Berengar meinte jedoch, die Lehre von der Transfubftantiation nicht 
aubers- widerlegen zu können, als dadurch, daß ex die reale Mittbeilung des Leibes uub 
Dinted Ehrifi im Abendmahl ſelbſt in Abrede ‚Fellte und Brod und Wein nur als 
Grinmerungszeichen gelten ließ. Auch bei einzelnen ſpaͤtern Scholaſtikern (Bouanentura, 
Seotus) finden ih Aeußerungen, welche dahin geben, daß eine geiflige Kraft in einem 
korpetlichen Dinge wegen ber totalen Verſchiedenheit von Körper und. Gef nit an⸗ 
geasenmeu ‚werten fünne. Hiergegen trat Thomas von Aquino, bie alten Auſchauuugen 





5 MWenh nahlieherit 


der Kirche mie Strenge feſthaltend, in entſchiedener und flegreicher Weiſe auf: aller⸗ 
dings könne ein Körper von einer geiftigen Subftanz bewegt (erfüllt werden, um von 
ſich aus geiftige Wirkungen zu volfziehen. 

Die reformirte Anfiht vom Weſen des Abendmahis rubet ganz umb gar auf 
jener zweiten Anfchäuungswelie, auf einer bualiftifchen Auffeffung der Menfchemmatun; 
für Zwingli war der leibliche Act ins Abendmahl ein ausſchließlich Teiblicher, welcher 
mit dem geiftigen Leben des. Menfchen fehlechtertings in keinen Contact kommen koͤnne 
(„tein leiblich Ding koͤnne die Eonfeienz reinigen"), und Calvin verließ dieſen allge 
meinen Boden der Abendmahlslehre Zminglid feineßweged, wie benn auch alle Der 
treter der reformixten Abendmahlslehre bis auf die legten herab (4. B. F. A. Lampe, 
der neueften zu gefchweigen) an biejer Auffaffung mit Strenge feitgehalten haben. „Die 
Natur der Sache lehret e8 auch genugfam, daß Leib und Seele allju weit von em 
ander unterfchieven find, als daß die Seele durch eine leibliche Genleßung geiftliche 
Lebenskraͤfte follte empfangen koͤnnen.“ 
| Daß der Nationalismus mie überall, jo auch in der Lehre vom Abendmahl nur 
für die zweite Anfchauungsweife eintreten Fonnte, verfteht ſich aus feinem Weſen non 
feld; ihm war die erfte Anſchauungsweiſe „eine Vermiſchung von Ginnlichen und 
Heberfinnlichem wider die Geſetze der Beraunft“, und eine ſolche Vermiſchung nannte 
der Rationaliömus Aberglauben. 

Andere Gegenfäge in Beziehung auf Die Abendmahlslehre finden fi, wie oben 
bemerkt; innerhalb der Lehre vom Wunder. Hier wird die reale Mittheilfng des 
Leibes und Blutes Chrifti im Abenpmahl ald angenommen vorausgefegt, und es handelt 
fih nur darum, dieſe Mittheilung in ihrer Aehnlichkeit mit ven übrigen, ber Erlöfung dies 
nenden Thaten Gottes aufzufafien. Dürfen wir nun im Allgemeinen Wunder eine jebe 
Sottesthat nennen, welche Gott innerhalb der Welt der Sünde und des Todes zu dem 
Zwede wirkt, um die Sünde und den Tod Binwegzunehmen (fo: daß 3. B. die Gnadenwir⸗ 
fangen der Berufung, Erleuchtung, Belehrung u. f. w. gleichfall® unter den Begeiff 
bes Wunders fallen), womit wir denn felbfiverftännlih auf da8 Grundwunder, bie Ex 
fiheinung des Worted im Fleiſch, zurückkommen, ald deſſen Vorbereitungen und Ent⸗ 
faltungen alle andern Wunder angejehen werden müflen, fo veritehen wir body unter 
Wunder im engeren Sinne eine folche Gotteöthat der bezeichneten Art, welche irgendwie 
in der Naturwelt zur Erfcheinung kommt. In diefe Kategorie fällt, wie leicht zu 
erfehen, Die reale Mittheilung des Xeibed und Blutes Chriſti an die Leiblichfeit des 
Menfchen, und von da aus an bie Geiſtigkeit deffelben, an ven ganzen WMenfchen. 

Bottesthaten zur Bewirkung der Seligfeit, welche in der Naturwelt zur Erſchei⸗ 
nung fommen (Wunder im engern Sinne), find aber nun nicht ſolche, „durch welche 
die Naturgefege um jenes Zweckes willen aufgehoben und dann nach Erreichung bed 
Zweckes wiederhergeftellt werden”, wie der Begriff des Wunders feit Thomas von 
Aquino formulirt zu werden pflegt (denn biefe Vorftellung zerftört ſich ſchon logiſch 
felbft Dadurch, Daß, wie auch Thoma richtig ſah, in jedem Wunder zwei Wun⸗ 
der enthalten find, (miraculum suspensionis und miraculum restitutionis), abgefeben 
von dem heidniſchen Dualismus, auf welchen diefer Begriff gebauet ift, als verbielte 
fih Die Naturwelt zu der Welt der göttlichen Ebenbilplichkeit [Seligkeitswelt] excen⸗ 
trifch, während fie ah concentrifch zu derfelben verhält); fte find auch nicht folche, 
welche nur einen andern Naturproceß, zu beurtbeilen nach den Gefegen der Natur, bat 
ftellten; endlich auch nicht folche, „welche ohne die Naturgefege, aber nicht gegen bie 
Raturgefege zum Zwecke der Seligfeit gewirkt werden”. Es muß vielmehr die Ratur- 
welt als doppelten Gefegen unterworfen gedacht werden; die Naturfubflanzen haben 
nur nach einer Seite bin, unter fich, das Feſte, Unpurchbrechlidge, welches wir als ihr 
ganzes Welen angujehen gewohnt find, fo lange unjere Augen ſich noch nicht ber 
Welt der Erlöfung geöffnet haben; nach der anderen Seite, nad. Gott bin und nach 
der Welt der göttlichen Ebenbildlichkeit hin, find fie andern Gefegen unterworfen, Den 
Geſetzen der Erdöfung (der Freiheit); jene Gefege find hie niederen, dieſe Die höheren 
(die Sonne leiftet ihren Naturbienft ald Centrum der Planetenmwelt nach Gefetzen, welch⸗ 
für. die Planetenwelt undurchbrechlich find; ohne daß jedoch dieſe Gefege aufgehoben 
werben, Zaun fie auch zugleich nach höheren Gejegen andere Dienſte leiften, wie. ip . 


| Shenbineiftsßieit. æ 


Jofna, ZSeſaia [Hella] und damals, als das Licht der Scligkeitäwels im Tode dieſer 
Zeit zu ertäfchen begann). Diefe Doppelfettigfeit des Naturwelt wird uns durch Die 
anze b. Schrift bezeugt, und eben dieſe Doppekfeltigfeit kommt auch in dem h. Abend⸗ 
mehl zur Grfcheinung. .. Die Leiblichkeit des Menfchen darf nicht als eine bloß natür« 
liche Leiblichkeit aufgefaßt werden; fie ift in ſich freilich abgeſchloſſen und durch eherne 
Geſetze gebunden, aber nach der. Seite Gottes bin offen. und ben Gefetzen der Freiheu 
zagemenbet, fo daß fie leibliche Elemente. noch in anderer Welle aufzunehmen fähig if, 
ats fie dieſelben auf dem Naturwege aufnimmt, und anders verwenden: kann, als fie 
Wie nathrlichen Nahrungomittel ſich afſſimilirt. Es giebt eine Leiblichkeit, welche, - wie 
die menfchliche Reiblichkeit überhaupt, fähig war, die in Beinen Raum beſchloſſene Gott» 
beit in Chriſto in Hd, aufzunehmen, ebenfalls durch das eiſernſte Geſetz dieſer Naturwelt, 
ven Raum, nicht gebunden if. Es giebt auch Natutfubflanzen, welche eine ſolche 
Leiblichkeit in ſich aufzunehmen und einer andern Leiblichkeit in ben worher bezelichneten 
Sinne zu überliefern vermögen. Dies ift im Abendmahl Brod und Wein, die fügen 
naunien Elemente (materia terrestris), welche die Leiblichkeit Chriſti (maloria coo- 
lestis) aufnehmen und ſie ald Träger derſelben an bie Leiblichkeit der Communicanten, 
nach Den vorher berührten Befegen, überliefern. ') 

Dies ift der Sinn ber lutheriſchen Kirchenlehre hinfichtlich derjenigen Gotiebchat 
im h. Abendmahl, welche ſich mit Beziehung auf die Naturwelt, an den irdiſchen Stoffen, 

t. Sie redet deshalb von einer manducatio oralis (nuͤndlicher —— 
weiche natürlich (physica) iſt, fo weit ſie ſich auf die irdiſchen Stoffe bezieht, etw 
Wunder aber (hyperphysica) , -fo weit jie die Aufnahme der Leiblichkeit Bor m 
nuſere Leiblichkeit betrifft. 

Die katholiſche Kirche nimmt gleich der lutheriſchen eine Gottesthat an, welch⸗ 
ſich mit Beziehung auf die Naturwelt, an den irdiſchen Stoffen, vollzieht; fie glaubt, 
gleich der lutheriſchen, an ein Bunder im 5. Abendmahl, und es iſt arges Umrecht, 
wenn man biefe Amahme der Fatholiichen Kirche als Magie oder gar ald Zauber 
begeichnet, wie noch neuerlich, in gänzlicher Verkennung deflen, was einerſeins Wunder, 
audererſeits Magie und Zauber if, Schenkel gethan bat. Allerdings aber beſteht ein 
ſehr wefentlicher Unterfchied zwifchen der Auffafiung des Wunders, welche die Lathakfche 
Kirche, und der, weiche Die lutheriſche Kirche aboptirt hat... Die katholiſche Kirche macht 
das Wunder wiederum zu einem Naturprgceffe, indem le lehrt, daß bie Sub⸗ 
Ranzen (Elemente) verwandelt werden in den Leib und das Blut Cheiſfti, und zwar 
fo, Daß die Subflanzen vernichtet und nur Die Accidenzien (Form, Farbe 2.) geblieben 
feien (Transjubfiantiation). Es hängt Died mit der im ganzen Mittelalter nicht 
nur, fondern noch bis auf den heutigen Tag, auch außerhalb der katholiſchen Kirche, 
mehr als billig, weil des Schrift zumiderlaufend, herrfchenden Anfiht vom Wunder zus 
famnıen, vermöge deren das Wunder in nichts Anderem beftebt, als in der Aufhebung 
der Naturgefege durch ein anderes, höheres ober Träftigeres, aber genau berfolben Ka⸗ 
tegorie angehöriges Naturgefeg, wie man 3. B. noch immer die Speifung der Fünf« 
taufend oder Biertaujend uud die Waſſerverwandlung in Cana als einen „beſchleunig⸗ 
ten Naturprozeß“ erklären zu Eönnen fich einbildet. Diefe Anficht meint, die auf Dem 
Wege der Naturforſchung oder Philofophie erkannten Geſetze des Seind der Maturwels 
als allgemeine Gejege gebrauchen und auch auf die göttlichen, der Welt der Gelige 
keit dienenden Willendacte Gottes übertragen zu bürfen, um vermeintlich zu einem be= 
ſtimmteren Verſtaͤndniß Diefer Gottesthaten zu gelangen, wäheend doch gerade im Gegen⸗ 
teil Diejenigen Cinwirkungen auf die Natur, welche der Erldfungswelt angehören, einzs 
gan; anderen Reihe von GBefegen folgen, welche durchaus und an ſich den Naturge⸗ 
fegen unvergleiigbar und dem menjchlichen beebachtenden Galcul abjolut unesreldybar 
ſtad. Sanz richtig Hat dagegen ſchon das ſchwabiſche Syungramma 1525 erinnert, daß 
men bie Mander nicht nach Ariſtoteles beurtheilen durfe. Die lutheriſche Kirche wer⸗ 


maloria terresteis und meieria ooveleslis fleht zwar r ieh, und chem 
—* or —* nur die en Elemente des Sacraments nennt; indeß ift materia coelestis wenig: 
ens ein ungeſchickter, wo nicht unrichtiger Ausdruck, und eben jo unrichtig if es, daß man bie 
Bezriqaun —328 für den irdiſchen Stoff — ebraucht. Man ‚tolle Heber von gie: 
menten überhaupt f Ipeeen und dieſe in irdijche md ‚himmitiche ſcheiden. 








m Wentenahlateit 


wirft; daͤrum auch die Kuansfiıbflantiation nicht deshalb, weil ſie aberglaäubiſch“, four 
dern weil fie ein Philoſophem if (Schmalf. Art), und dieſem Phileſephem glei⸗ 
cher Mang mit Glaubensartikeln (durch das Lateranconcil unter Inuocenz: BI. 1215) 
eingeräumt worden ift; Die vefernirte Kische verwirft He nicht aus Diefem Grunde, Tem 
nen darum, wail in derſelben Me Nealpräfenz des Leibes und Blutes Chrißi in den 
Elementen mit uneußmeichlicher Schaͤrfe ausgepraͤgt iſt. 

Schon die Säge Berengar's würden, wenn ſie conſequent verfolgt worden wüuren. 
zu einer gaͤnzlichen Ableugnung bed Wunders im Abendmahl gefichrt haben; affen aus⸗ 
geſprochen, daß im Abendmahl bein Wunder ſtattfinde, hat guest Williff, freilich zu⸗ 
nachſt nur inı Gegeniag gegen Die Lehre von der Trausſubſtantiation, aber dach fo, 
dep mau fieht, er iſt ganz und gar in der Anficht von ber unbebingten Unvsräuder- 
lichkeit Her Natur, von der anöfchließlichen Geltung der umd erkennbaren Netuwgriehe 
befangen (eine dee bezeichnendſten Stellen ſ. bei Diedpoff, bie evangel. Wendmehla⸗ 
Ichre im Neformationggeitalte k, ©. 155). Ganz ähnlich werhielten fi Die Team 
tm, und eben fo Zwingli, weldyer dad Geheimniß aus dem Fronleichnam entfernt 
wmiſſen welkte, 513 eudlich Oekolampad es ganz unverküllt ausfprach, daß bad. ua 
derbare aud dem Abendmahl gänzlich auszuſchließen ſei. Diefe Vorſtellung folgt cam« 
ſequent au ber erften, vorher befpsochenes Grunbanjchauung von ber puincipiellen 
Trennung des Geiſtigen von Dem Leiblichen, nur dep man Diefer Sonfeguens dadurch 


zu emigaben fucht, daß man einerfeitö reine Naturwunder, andererſeits reine Geiſtwun⸗ 


dar anmimmi; Dadurch aber geräthb men in den bedenklichſten Conflict nicht. allein mit 
ver Mehrzahl Der Wunder Chriſti, ſondern mit dem Grundwunder ſelbſt, der Fleiſch⸗ 


werbung des Sohnes. Zu einem reinen Geiftwunder machten dad Abendmahl Gen. 


ſtadt und: ſpaͤter Schwenkfeld, indem fle die Erneumung des Menſchen (Wiehergeburt, 
Gdifeng, Heiligung) in die Empfaugnahme des in Der Gottheit gänzlich aufgegangenen 
(vergeiteten) Fleiſches and Blutes Ghrifti fegten, welche Enpfangnahme indeß keinea⸗ 
wegs an ben Act des Abendmahls gebunden ift, fo daß hei. ihnen, eben wie: bei 
Zwingli und Defolempad, wenn auch von anderem Standpunkte aus, Der Act ſelbſt 
feiner Cigenſchaft als eines Wanders entkleidet und zu einen bloß bildlichen Suubkung 
herab geſetgt wird. 


Geht man mit den beiden Vormtsſetzungen, der fundamentalen Tremmung: deß 


Zeiblichen: von den Geiſtigen und der Entfernung des Wunderd, an die Kinfehinge- 
worte hed Abendmahls, jo wie am bie Conſtruirung, des Weſens deſſelben Heran., wie 
das Zwingli that, fo kann es nicht fehlen, es müflen Die Einfehungäworke (das „ift“) 
uneigentkich verſtanden, es muß der Act zu einer finnbildlihen Handlung ger 
macht und die Bedeutung des Abendmahls zu einer Gedaächtniß handlung bevakge- 
druckt werben. ) Selbſwerſtaͤndlich ift alsddaun das Abendmahl nicht, wie ad na 
lutheriſcher und katholiſcher Lehre ift, ein Act Gottes, fondern lediglich ein Act nu 
Menſchen, eine Beremonie, Deren Bedeutung einzig darin liegt, den Glauben durch ei 
finnliches Mittel aufzufrifchen, vemfelben von Außen zu Hülfe zu fommen. Daß biefe 
Anſicht in fich zufammenhängenb und confequent fei, wird ihr Niemand abſprechen; 
wit der Geſammtanſchauung von dem Berhältniß Gottes zur Welt und um Mesichen, 
melche und son Der Offenbarung alten und neuen Teftamentö dargeboten wird, beſiadet 
fie ſich nicht im Einklange. 

Calvin fuchte Die zwingliſche Vorſtellung dadurch zu berichtigen — und dieſelbe, 
wie noch heute Viele meinen, der lutheriſchen Lehre naͤher zu bringen (eine Umon ker 
yaftellen), — daß er mit jener Borficluug Zwingli's ein Ge iſt wunder in Verbiudung 
Drake. : Im dem. Aberdmahl find zwei Acte, nicht einer, wie wach lutheriſchet, 


katholischer, und nach zwingliſcher kehre; der eine Wet beſteht im dem Guuf 


ber. Elemente ınit dem leiblichen Munde; indem Diefer Genuß vollzogen wich, wicht .un- 
abhängig von demfelben, ſondern an ihn gebunden, aber nicht mit ihm -inemtifch, Amt 
‚der andere-ein: die Speifung und Tränfung der Seele mit dem Leibe und Blute 
Chriſti, ober vielmehr wicht mit dem Leibe und Blute ſelbſt (die Ausdrücke Ealvin’s 


4 it die Lehre d Soeini das Abenimahi 
nichts, J. — = Haren Fr —— — — —— niner: * 


| 


Shesembiäfiueft. v 
find gernde in dieſen Hauptyunkte feiner Lehre ſchwankbenhd), ſondern mit der Rrch dem 
h. Geiſt vermittelten Kraft des Leibes und Blutes Ehriſti, welche vom Gimmeh.gw 
und niederſteigt (oder: zu welcher wir in den Himmel erhoben werden) Ea if elle 
nicht die ſpeciſiſche Mitheilung des Leibes und Blutes Chriſti, welehe im Abend» 
mahl vor fi geht, fordern die Mittheilung der gefemmtien Erloͤſungskraft Chrißi, Die 
Mittheilung des ganzen Chriſtus. Eine mündliche Niekung des Leibes und Blaßeg 
Chriſti findet eben fe wenig ſtatt, ſondern nur eine geiſtliche Mi Bar Dar⸗ 
ſtellamg Diefee Doppelhandlung (actus in actu) bat man diejenige Form des. 10, Arti⸗ 
kels der Augsburgiichen Confeſſton benutzt, weiche demjelben 1548 von Miauchthau 
gegeben wurde: De..coena Domini docent, quod cum pans et vimo vaio exhi- 
keantur corpus et sanguis Chrisli vescentibus in coene Domini, „vom Heil, Mend⸗ 
mahl des Ham wird gelehrt, DaB mit dem Brote und Weine wahrhaftig geſpendet 
werden ver Leib und dad Blut Chrifti denen, die das Keil, Abendmahl gemiehen", 
(während Die urſprungliche Form, die Invariata, lautet: Do ooena Domini devenk, 
quod vorpus et sanguis Christi vere adsint, et distribuantur veseenübus in coamn 
Domini; et improbant secus docentes, „vom heil. Abendmahl des Herm-wirk eie 
gelchret, daß wahrer Leib und Blut Chriſti wehthaftiglich unter wer Geſtalt bes Brett 
mund Being im. Abendmahl gegemmärtig fei, und da audgekheilt und genommen wind. 
Derhalben wirb auch Die Gegenlehre verworfen”), wiemohl dad cum recht wohl ach 
die Itherifche Lehre yon der jaccamentlichen Ginheit der trbifchen und binwitichen Elemente 
bezeichnen kann. — Die irdiſchen Elemente find hiernach zwar zunaͤchſt auch nur Zeichen, 
wie in Zwingli's Xehre, aber Doch wieder nicht bloße Zeichen, ſondern vielmehr Pfaͤnder 
dafür, dag uns Chriſtus mit feinem wahren Leib und But fpeifen, und bamit alle 
Wohlthaten, melde Er für und ermorden, zueignen wolle: (Zumeilen werben »iefelbem 
von wer ealviniſchen Lehre ald Werkzeuge, instrumenta, begtichnet, durch melde ums 
der ganze Chriſtus übermittelt werde). Hierdurch wird dad Mbenbmehl nech Kalsin’d 
Lehre weniger zu einem Mittheilungs act, ald zu einem Berbaifungdwe (mie 
denn auch die calvinifchen Formeln allezeit Die Berheifung, welche im h. Abend⸗ 
mahl gegeben werbe, in den Vordergrund flellen und oft mudfchliegäich betonen), wa 
mit Ber Iniherifigen Lehre nicht in Einflimmung zu bringen il. Außerdem will ab 
wicht gelingen, die Begriffe: „mitgetheilte Kraft“ und „Pfand bee Mittheilung, 
swer gar „Werkzeug der Mittheilung“ mit einander zu veteinigen. — Weiter aber 
verſteht fich von felbft, daß dieſe Kraft (oder dieſes Pfand) nun wenjemigen zu Ha 
werden koͤnne, welche bereit? an Ehriftam glauben; wer nicht bereit# glaubt, ift Der 
Geupfanguahme diefer Kraft (dieſes Pfandes) unfühig, und empfängt eben nichts alt 
Die Zeichen, irdiſches Brod und irdiſchen Wein. Diefer Bunft zeigt am beutlichiien 
Die Uinvereinbarkeit der calvinifcen Lehre mit der lutheriſchen: es bleibt das Abend⸗ 
mahl nach calvinifcher Lehre eben kin fubjectiver, von den Glauben (bee Wurdig⸗ 
Bert) abhängenver Act, wie in der Lehre Zwingli's, wogegen nach lutheriſcher Lehee 
duſſelbe ein objertiver, von Gott allein und nicht von ven Glauben des Men 
ſchen abhängiger Wet iſt; nach Calvin's Lehre empfangen bloß die Würdigen Kan 
Eeib und dad Blut (die Kraft des Leibes und Blutes) Ehriſti. Nach der Bahre Der 
Intherifchen Kirche empfangen den wahren Leib und dad wahre Olut Chriſti im, mit 
wnd unter den irdiſchen Elementen in gleicher Weife Würdige and Unwyürkige, 
letztere jedoch keinesweges refultatioa („ohne Rug umd Frucht“) wie man ‚von calvini⸗ 
ſcher Seite meint, fonbern mit. dem Reſultat des Gerichts, demſelben, weiches alle 
Theophanieen Der h. Offenbarung für denjenigen begleitet, melcher fich von der Broited« 
erfcheinung abwendet; daß Chriſti Leib und Blut zu dem GCommunioanten kommt, if 
von dem Behalten ves Gommumirknten gaͤnzlich unahhuͤngig, wie Ehrifti Leib und 
Bir zu ihm kommt, Die Wirkung ber materia coeloslis, wird. durch feinen: @laichem 
oder Vaglauben bedingt. Angläubiger Genaß des h. Abendmuhls iſt eine Sortteta 
yerfn aurg, weiche geahndet wirb, wie alle Getteßverfudnngen. ' 

Aus allem dirfen ergiebt ſich Die Differenz zwiſchen der Lehre Kaleins ud: Ian 
Esigerifchen Kirchenlehre, im die Türzefte Form gefaßt, buhin, daß nach calpinifsher Bela 
vu) Abendenchl ein Act if, in weldkem bie Conrmunitanten etwas empfangen, mad nus 
ernpmell von dem verſchieden, eine andere Stufe doſſfen it, was ſie font ven 








AWendnchtotrell. 

Chriſtus“ erhalten, nach Der lutheriſchen Kirchenlehre aber ein Xet,: in welchem bie 
Gomnntmicaneen etwas von Chriſto empfangen, mad ſpecifiſch, in feinen ganzen 

Wehen von dem verfchieben ift, was ihnen fonft von Ghrifto mitgetheilt wird. . 
Die. calsinifche Lehre bat niemald verfucht, ſich gründlich aus der h. Schrift 
ſelbſt nufguerbanen, und es möchte dieſer Berfuch auch jedenfalls mißlingen, da die 
Schrift für dieſe Lehre Anhaltspunkte nicht gewährt; auch wird ihre die oft nachge⸗ 
‚ rühmte Gonjequenz und Klarbeit wohl kaum zuzufprechen fein; fie iſt eben eim-Uniond« 
verſuch, und als ſolcher ſchwankend und unficher. Ob fich diefelbe fortentwickeln“ Kaffe, 

wie von ihren Freunden In neuerer Zeit behauptet wird, muß dahin geftellt Hleiben. 
- Die Differeng zwiſchen der Lehre Zwingli's und der Iutherijchen Kirchenlebre 
binfichtlich des Abendmahls berubt übrigens noch auf einem anderen, menn man jo 
will; tleferen Grundunterſchiede, ald Die beiden bisher ffizzirten Unterſchtede binflchtlidh 
Der: Auffaſſung des Verhaͤltniſſes der Leiblichkeit zur Geiftigfeit und der Auffaſſung des 
Wenders. Es iſt der Uinterfihied in der Lehre vom göttlihen Wort, worauf fidh 
faſt alle: Differenzen zwifchen der lutheriſchen und der reformirten Kirchenlehre zurück⸗ 
fiihren Iafien. Nach altkiechlicher und Lutberifcher Lehre ift ed das Wort Gottes, 
weiches zu den irdifchen Subſtanzen (Elementen) binzutritt, und biefelben zu Trägern 
” 4rehicula) der bimmlifchen Dinge (des 5. Geiſtes in der Tanfe, des Leibes und Blutes 
riftl im Abendmahl) macht; das änfere verfündigte Wort Gottes enthält Die Kraft 
Gott, des Baterd und des Sohnes, enthält den beiligen Geiſt ſelbſt. Nicht fo 
Zwingu, nicht fo die veformirte Lehre überhaupt, wenn die letztere gleich in ihren Be⸗ 
Benntniffen nicht überall die volle Geftalt ihrer Xehre vom Worte berausgefehrt ‚bat. 
Reingli verwarf Die äußeren, leiblichen Dinge ala Träger der himmliſchen (Wafler in 
ver. Taufe, Brod und Wein im Abendmahl), meil Leibliches nicht geiflig wirken Fan. 
Rn iſt aber das gefprochene Wort ſelbſt ein ſolches äußeres, Teibliched (mit leiblichen 
Organen gefprochenes und von leiblichen Organen: aufgenonmened) Ding, alto könne 
auch das verkimdigte Wort Gotted nicht Träger der Gottedfraft, nicht Vebermittler 
dese Neiſches und Blutes Chriſti, nicht unmittelbarer Bringer ded h. Geifles ueber 
Bei der. Taufe, noch bei der Predigt und Sündenvergebung fein. Der Glaube, Die 
Heilung ber Seele, die Seligkeit kommt nicht aud dem äußeren, geprebigten. Bott; 
fondern aus dem inneren Wort, welches der binmelifche Vater in unſeren Herzen 
predigt, durch weiches das Verſtändniß für dad äußere Wort, die Aufnahme une 
Wirkſanckeit deſſelben nicht allein vermittelt, fondern bedingt wird — „fonft 
mäßsen ja alle Denfchen, welche das Wort Gottes previgen, hören oder lefen, gläubig 
und ſelig werben.“ ðbt wirkt alſo zum Voraus etwas in den glaͤubig werdenden, 
wad eben durch dieſe Wirkung, nur durch dieſe Wirkung und ganz durch dieſe 
Werlımg glaͤubig werdenden Menſchen, und durch dieſe Wirkung allein hat das ge⸗ 
previgte Wort, haben die Sarramente ihre Kraft, die dem Wort wie den „Zeichen“ 
an umd für fich gänzlich abgeht. Wir treten, wie leicht zu fehen tft, mit dieſer Lehre 
von Warte über in das Gebiet dee Präpdeftinationslehre, welche von der gen 
fammten reformirten Anfıhauung von den Wort. und den Saeramenten fchlechterdingä 
unabloelich tft: Die Menfchen find Binfichtlich ihrer Seligkeit Producte göttlicher Macht⸗ 
handlungen, ohne Hüdficht auf das verfchledene Verhalten ver Menſchen zu Wort und 
Sarsament. — Beide find nur Zeichen, Spiegelbilder befien, was laͤngſt vorher von 
Gert in dem Menfchen vollzogen worben ifl. Hieraus erſt begreift fi vollſtaͤndig fo 
die Zeich en lehre der veformirien Kirche bei den Sacramenten, wie der den Gläubigen 
(Wördigen) allein zugefchriebene Genuß des Sacramentd des Abendmahls. Daß eine 
Bermittebing diefer Differenzen völlig unnmdglich fei, Liegt auf der Hand. 
EGEubdlich beruht Die Differenz zwiſchen der Iutherifchen und ber reformirten Abend⸗ 
mahlsledre auf der in beiden Kiechenzegionen verjchiedenen Lehre von der Perfox 
GChrifti. Hier Handelt es fi nun nur darum, Die Gegenwart des Leibed und Blu⸗ 
tes Chrifti im 5. Abendmahl binfichtlich ihres Modus aus der Analogie der Offenba⸗ 
ang machgwiseifen. Die Iutherifche Lehre geht Davon aus, daß die beiden Natirren in 
Gtelfto, die göttliche und Die menjchliche, allezeit ungetrennt gefaßt werden mifen, daß 
aberall der ganze Chriſtus, nach feiner Gottheit und nach feiner Menfchbeit fich 
we zu ‚faflen gebe, daß bie Herrlichkeit, in welche Cheiftus erhoben werben fe (das 


Abendmablöftreit. 8 


Eigen zur Mechten Gottes, die Weltherzfchaft) auf feine Menſchheit bezogen und 
fomit angenommen werden müfle, Daß der verherrlichten Menſchheit Ebrifti göttliche 
@igenfchaften mitgetheilt worden feien. Hinfichtlic des Abenymahls komut beſonders 
Die Allgegenwart in Betracht: will Er gegenwärtig fein mit feinem Leib und 
Blut, fo Fann er. dies auch, wo und wann es fei, weil feine Menſchheit den Schranr 
fen ded Raumes und der Zeit durch ihre Verherrlichung emthoben if. Dies laͤugnet 
Die reformirte Lehre, (welche davon ausgeht, daß die beiden Naturen in Chrifto aus⸗ 
einander gehalten und eine Vermiſchung der menjchlichen mit der göttlichen Natur 
müfle verbütet werden), und zwar Idugnet fie ed nach einer, dem weſentlichen Inhalt 
nach fchon bei der Grwägung des VBerbältniffes der Leiblichfeit zur Geifligkeit in Au⸗ 
wendung gebrachten Regel: „daß eine enbliche Natur nicht fähig fei, Das Unendliche 
aufzunehmen (linitn natura non excipit quod infinitum est)", welche Hegel jedoch zu 
piel bemeift, indem nach derfelben auch die menſchliche Matur, das Fleiſch, nicht würde 
fabig geweſen fein, das Wort, pen Logos, aufzunehmen. Da es nun eine nicht geringe 
Anzahl von Schriftſtellen giebt, welche jene Mittheilung göttlicher Eigenfchaften an Die 
menjchlihe Natur Chriſti den Worten nach unzweifelhaft Ichren (Matth. 18, 20. 
28, 20. Epb. 1, 23. 4, 10. Joh. 6, 62 u. m. a.), jo erflärt Die vefermiste Doctnin« . 
diefe Stellen indgefammt für Redefiguren (alloioses).- Inöbefondere bleibt 
dabei ſtehen, daß das Sitzen der Menſchheit Chrifti zur echten Gottes algfeis 
Iocaled Verhaͤltniß müffe gedacht werden, Chrifli Menfchheit an einem be 

Ort im Himmel befindfich (an denfelben gebunden) ufd within nicht fähig jei, am 
einem andern Orte oder an vielen zugleich zu fein. Die lutherifche Lehre faßt Dagegen 
dad Sitzen zur Mechten Gottes ald Weltberrichaft Ehrifti nach feiner menfchlihen Natus, 
und man kann ihr nicht zum Vorwurf machen, Daß die Allgegenmärtigfeit der Menſchheit 
(Zeiblichkeit) Chriſti, welche bei den Galviniften den Namen ubiquitas carais Christi» 
führt, dem Begriffe eines Leibes widerfpreche, indem „es ja eben zum Begriffe eina# 
Leibes gehöre, nicht allenthalben, fonders an einem beftimmten Orte zu fein; mohl 
gehört Died zu dem Begriffe eines Leibes, fo weit und fo lange man benfelben nach 
den NRaturgejegen allein betrachtet, dieſe ald das ganze Weſen des Leibes darflellend 
anmnſieht; daß aber der Leib auch noch ganz andere Geſetze habe, ſolche, auf welche 
die Naturbegriffe von Raum und Zeit nicht anmwenbbar find, dad wird Bund -bie 
Beichaffenheit ver Leiblichfeit Ehrifti nach feiner Auferftehung, zumal durch feine Him⸗ 
meljahrt genugjam bocumentirt; das chen if ed, was den Charakter eines Wamnders 
conſtituirt, und eben Died ift der Inhalt der Intberifchen Lehre Die Eathalifche Lehre 
iR dagegen ſchon in alter Zeit geneigt gewefen, fich die Exiſtenz ber werberrlichtm . 
Menſchheit Chriſti im Himmel local yorzuftellen, und fo if fie. gegen Die Allgegen« 
wärtigfeit- der Menſchheit Ebrifti fehr ſtark eingenommen. 

Die Wirkung des Saeraments des Abendmahls if nach evangelifcher Lehre 
gebunden an die Austheilung der Elemente. Nicht fo nach katholiſcher Lehre. 
Nach diefer iR Dad Sacrament an fich vollzogen durch die Conſecration (Wandlung), 
und wirkt nun in boppelter Weile: ad Speiſung Der einzelnen Serlen zum Leben 
durch die Austheilung, ala Opfer für die Sünden (Wiederholung des Opfers -Ehrifti 
in unblutiger Weije), aber auch für Diejenigen, welche bei .diefem Opfer ſich Dusch. ihre 
Iutention betheiligen (für welche alfo dad Sarrament nur ein Zeichen ifl), und foger 
für Diejmigen, denen daſſelbe durch Die Intention des darbringenden Prieſters zugeeignet 
wird. Dies iſt der wejentliche Inhalt der Lehre von der Meſſe, welche von den 
Proteftanten ſchon darum verworfen wird, weil Die communio (communicakig) fehlt, 
abgefehen von dem Umſtande, daß dad Opfer Ehrifti ein für allemal dargebracht 
worden iſt, und von Menjchen nicht wiederholt werden Eann. !) In dem Meßopfer bleibt 
Chriſtus, der fih doch im Abendmahl auch ald den Verherrlichten zeigt, auf der 
Stand der Erniedrigung beſchraͤnkt. 

Eine untergeordnete Differenz it noch Die über. die Kelch entpiehung (com 
munio sub una, entgegengejegt der communio sub uiraque forma). Die aus mehr 


n n @iner and anderen, weniger confefilonellen Auffaffung huldigt der ne Artikel , Abendmahl“; 
doch iſt in beiden Artiteln fin den Leſer forgfältig allee zu einem ü nöffige Wöterial ins 


Fanrnurhgeftagen. 





u Abenbesih. 

außerlichen Greunden eingeführte Praxis ber Kelchentziehnng für die Laien beeinträdgtigt 
nit 5108 die Integrität, fowdern die Weſenheit (Effentialität) des Sacraments, in 
Gemgaßheit des einen Zweifel nicht zulaſſenden Einfegungsmanbats. Geftägt bat man - 
wachtraglich dieſe Praxis durch die Kehre von dr Concomitanz, nad welcher in 
ven Leibe au das Blut enthalten fein fol. Diefer Theorie laͤßt ſich mit gutem Zug 
wntgegenfegen, daß das Blut, fo Lange ed im Leibe if, eben fein Opferblut, weil 
kein vergofjenees iſt, hierauf aber bei dem Abendmahl gerade alles ankommt; ber 
Leib und das aus dem Leibe vergofjfene Blut find es, Durch melche nicht nur 
im alten Teftument, fondern ſogar im heidniſchen Cultus das Opfer ale folches 
canftitnire wird. . 

Abendroth, Amandus Auguftus, geboren in Hamburg 1767, war vom Jahre 
1800 bis zu feinem im Jahre 1842 wenige Monate nad dem großen Brande erfolg. 
ten Tode, Mitglied des Senated und während ver lebten 11 Jahre Bürgermeifter. ALS 
int December 1810 die Stadt dem franzöflfchen Kaiferreiche einverleibt ward, über⸗ 
nahm er das Amt eined Maire und befleibete vaffelbe bis zur Volkaerhebung im Februar 
1813. Er war ein kraͤftiger, muthiger Charakter, unermüdet thätig, gerade durchgehend, 
mubefümmert am den Schein. Der Baterflabt und feinen Mitbürgern treu ergeben, 
bewaͤhrte er ſich auch in der fchmwierigen Stellung als franzöflfcher Maire, warb aber, 
als er bei jenem Bolkdauffiande perſoͤnlich zur Ruhe ermahnen wollte; angegriffen und 
gefabelich vrrundet. Die Menge verfchrie ibn als „franzäfih geſtunt“, und er 
wußte, obwohl der Serat durch Anerkennung feiner vielen Verdienſte in einer eigenen 
VBtotlamation ihn in der Bffentlichen Meinung zu rehabilitiren fuchte, im Mai 1813 
Hamburg verlaffen. Während der darauf folgenden abermaligen franzöflfchen Ocrupativn 
ſchlug er die Wiederübernahme des von den Machthabern ihm angetragenen Matre⸗ 
Amtes aus und trat außerhalb Hamburgs an die Spite eines Central⸗Vereins, ber 
ſich die Aufgabe ſtellte, den Durch Davouft. vertriebenen, den Außerften Elende Preis 
gegebenen Hamburgern (20,000 bis 30,000 an der Zahl) hülfreich beizuſtehen. Sein 
arten Fi ale Stellung fand allfeltige Anerkennung. (Dal. Perthes Leben 
®. 1. S. 341.) 

Wahrend Hamburg noch von den Branzofen befegt, das dieſer Stadt gehörige 
Amt Migebtttel an der Mündung ber Elbe aber bereits durch Truppen der Verbün⸗ 
deten eingenommen war, sichtete er Bier die Hamburgiſche Autorität durch Uebernahme 
der Amtmannfchaft — einer Yunction, Die er in ven Jahren 1808 und 1810 als 
Senator ſchon verwaltet hatte — zuerft wieder auf. Nach erfolgter Befreiung der 
Stavt nahm er im Senate an der Wienerherftellung ihrer Berfaffung und Berwaltung 
thatigen Aucheil, vermochte aber nicht einer feinem eneraifchen Charakter entſprechenden 
Action auf dem Wege der die Berfaffung fortbildenden Reformen Geltung zu verſchaffen. 
Er trat bald wieder in die ifolirre, dem Hamburgiſchen Verfaffimgsleben faft frembe 
Stellung des Amtmanns in Mitebüttel und übte dort bis zum Jahre 1821 eine auf 
dieſes Amt fich veſchraͤnkende Wirkſamkeit aus, wobei ex ziemlich unabhängig vom 
Smate feinen perſoͤnlichen Anfipten folgen konnte. Merkwürdig ift in Bezug hierauf 
die Aenßerung eines Kar beobachtenden Zeitgenofien, der in einem an Abenbroth 
gerichteten Briefe Das Berhalten Des Senats einer fcharfen Kritit untersteht und mit 
den Worten fehließt: „iR ein Mitglied in ihm, welches ſich beſinnt und gründlich bie 
Bage der Dinge anfleht, nun, fo ergeht es ihm, wie es Ihnen ergangen fi.” 
(Perthes Leben II. ©. 23.) 

Als Schrifekeler bat Abendroth nur Wenige an die Deffentlichkeit gelangen 
laſſen. Die bedeutendſte ferner Schriften fchrieb er im Winter 1818—14 in Kiel; fe 
fahtt den Tirl: „Wünfche bei Hamburgs Wiedergeburt“ und enthält gewiſſermaßen 
das Programm der von ihm angefitebten Reformen. Man chut Ihm aber Unrecht, 
wenn man bie neuere Idee, Hamburgs DVerfaffung von Grund ans umzugeflalten, auf 
tim als Licheber zurückführt. Er war freilich ein reger, ſtets nat Berbefferungen 
awekhamender Geift, der wicht immer die Tragweite feiner Aeußerungen und die Go 
fequenzen feiner Entwürfe vollſtaͤndig überblicte und in feiner abminiftrativen Wirk⸗ 
ſamboit monchmal Dinge winleitete, deren Durchführung auf große praktiſche Schwierig. 
keiten fließ oder wichtigere von ihm nicht erkannte Verhaͤltniſſe gefaͤhrdete, aber er 






Abendroth. MWensberg⸗Traun. 


tiebte umd ehrte Die Grundlagen der Verfafſſung, an weiche durch Eid und Prise 
gebunden zu fein er ſich wohl bewußt war J 

Das Seebad zu Cuxhaven ik ein Werk Abendroth's. Obgleich fpäter Bund 
andere, günftiger belegene Küftenpunfte, insbeſondere durch Helgoland, überfingelt, wur 
es eine Beitlang eins der befuchteften Seebader, und Abenvroth hat unfreitig das 
Berdienſt, zuerft in weiteren Kreiſen bie Anfnerkjamteit auf unfere Rordſerküſten, als 
geeignet zur Cintichtung von Seebädern, gelenkt und praßsifch dafim gewirkt zu haben. 
(Bol. Abendr. Nigebüttel und das Seebad zu Cuxhaven. Hamb. 1818.) 

Abendroth, Auguſt, Sohn des Bärgermeifters, Doetor juris, lebt In Hamburg 
und iſt durch feine chätige Theilnahme an den Wirken aller derjenigen chriſtlichen und 
wohlthaͤtigen Bereinäbeftrebungen, die unter dem Namen „Innere Riffion" mafammen- 
gefaßt zu werben pflegen, auch außerhalb Hamburgs in weiteren Kreiſen wohl belannt. 

Er nahm einen hervorragenden Antheil an der Einführung Der mit Hamburg 
iR Vetbindung ſtehenden Eifenbahnen, fo wie an einigen bamit zufammenhängenden 
Unternehmungen, über deren. Einfluß auf die Entwicktang des Hamburgifchen Verhaͤlt⸗ 

wifje feit dem Jahre 1842 der Artikel „Hamburg“ nachzufehen (ft. 
| Abendroth, Ernſt, Sohn bed Bürgermeifters, widmete ſich von Jugend auf dem 
Seemnunöftande und beftand feine Lehrjahre in der Eaiferlich frangäflichen Marine in 
Breft, während Hamburg mit Frankreich verbunden war. Er befletvet Bad Anıt eines 
Commandeurs und Rosid-Anfpectors im Dienf ber Stabt Hamburg und it abe ſolchet 
zu Cuxhaven ſtationirt. 

Die neueren officiellen Hamburgiſchen Karten ber Elb⸗ Mundung And unter ſeiner 
Direction sermeflen und herausgegeben, auch bat er fi um die Verbefierung des ber 
Stadt Hamburg gehörigen Fanalweſens an der Mündung der Elbe und nm das dor. 
tige Lootſenweſen fehr werdient gemacht. 

Abendroth, Karl Eduard, Sogn des Bürgermeifters, febt in Hamburg in 8 
gerlicher Thaͤtigkeit. Ein beſonderes Verdienſt erwarb er ſich durch ſein offenet, 
ſchiedenes Auftreien gegen Unordnungen in der Verwaltung des öffentlichen Dee. 
denen er in feinem Amte ale Banbürger eine Connivenz erwelfen wollte. Dieb zog 
ihm vom Senate eine Suspenflon feiner Amtsthatigkeit zu, gegen welche er verfaſſungo⸗ 
mäßige Remedur nachſuchte und Die energifhe Unterſtühung der bürgerlichen 
und Der Öffentlichen Meinung fand. 

Abendſchulen, ſ. —— 

Abendſtern, ſ. Venu 

Abensberg, —&æ und Stadt im bayerifchen Oeeiſe Mieder ⸗ahern an der 
Abens, einem Nebenfluffe ver Donau, hat 1400 Einwohner, ‚ein Mineralbav, nicht 
unbetraͤchtliche Brauerei und Wollweberei. Nach den bier wch vorhandenen Spuren 
eines roͤmiſchen Lagers Hält man es für das Abaſina oder Abaſtnum der Böen 
Abensberg iſt Geburtsort des bayerſchen Geſtchichts ſchveibers Thurnmayr, wer ſich 
danach Aventinus nannte Napoleon, an ber Spitze der Franzoſen, Bayern und 
Würtiemberger fchlug bier am 20. April 1809 die Deflerruicher anter Erzherzog Ludwig 
and General Hiller. 

Abensberg⸗ Traun. Die Grafen von Abensberg» Trarm find olme Widerſpruch 
eined Stammes mit dem koͤniglichen Haufe von Bayern, ven Wittelsbachern. Der 
gemeinjame Stammvater Beider ift Werner Graf von Wittelsbach und Pfalzgruf von 
Scheyern; von Werner's Sohn, Otto von Scheyern, fommen die Wittelsbacher, vom 
deffen Bruder Babo die Abensberge (Abensperge). Babo, Burggraf von Regend⸗ 
burg, nahm den Mamen Abensberg von dem Schloß and Städtchen Abensbetg m 
der Abendt in Ober- Bayern an. Bon Babo's Sohn, CEberhardt, kamen die Grafen 
von Abensberg und Rohr, die mit Nicolaus 1485 ausgingen. Die Graffchaſt Abend⸗ 
berg frl als erbffneted Lehn an Bayern. Ein uber Sohn Babo's, Wolftem, 
wenbeie ſich in Die buyeriſche Mark, das nachmalige Erzherzogthum Oeſtertrich, und 
baute nach 1042 das Schloß Traun am Traunſtuß, das feinem Geſchlecht won In⸗ 
namen Traun gegeben bat imd Heute noch in deſſen Weile iſt. Die Stammreibe a 
manterbrochen. Im vierzehnten Jahrhundert theilte ſich das Geſchlecht in eine Gſchel⸗ 
bergiſche und eine Meiffaniſche Biwie; die erſte wurde in ihrem fünften Gliedr 1863 Im 


’ 


% — Abentener. 

den Reichsgrafenſtand erhoben und erloſch in ihrem achten Gliede mit dem Grafen 
Ferdinand Joſeph am 5. April 1807.” Die Meiſſaner Linie wurde ebenfalls in ihrem 
_ fünften Glieve am 15. Auguft 1653 in den Reichsgrafenſtand erhoben, erhielt 1658 
durch Ermwerbung der unmittelbaren Reichtherrſchaft Egloffs in Schwaben Stk und 
Stimme auf der ſchwaͤbiſchen Grafenbanf, machte ihre Herrfchaften Traun und Petro⸗ 
nell zu einem großen Zideicommiß, erlangte am 29. Juli 1705 dad Oberſt⸗Erbland⸗ 
Panier-Amt im Erzherzogthum Deflerreich ob und unter der End und blüht nody heute 
in zwei Aeſten. Haupt des erfien Aftes ift der Reichsgraf Franz Zaver von 
Abeneberg und Traun, Bellker der Fineicommiß = Herrfchaften Traun und Pe- 
tronell, geb. 1804. Haupt des zweiten Aftes und Beflger der Fideicommiß⸗Herrſchaften 
Bifamberg, Meiffau u. f. w. ift ver Reichsgraf Dtto Ehrenreih von Abend- 
berg und Traun, geb. 1848. Die Familie ift katholiſch; das Wappen if von 
Silber und Schwarz gefpalten ohne Bild, auf dem Helm ein offener Adlerflug, rechts 
ſilbern, links jchwarz, die Helmdeden find ſchwarz und filbeen. Die ehemalige Reichs⸗ 
herrſchaft Egloffs iſt an die Windiſch⸗Graätze gekommen. 

- Eine lange Reihe von berühmten Kriegsleuten und hohen Würbenträgern ift ans 
dieſem Gefchlecht bervorgegangen.- Johann Herr von Traun war feiner Zeit ein 
bochberühmter Held, deffen Thaten in der Schlacht bei Erefiy 1376 weit gepriefen 
wurden. Eruft von Traun, geb. 1608, geft. 1668, der die Reichsgrafenwürde an 
fein Haus brachte, war Vice⸗Praͤſident im Hoffriegärath und Commandant von Wien. 
Unter den neueren Mitgliedern der Familie ragt Graf Otto Ferdinand hervor, 
geb. 1677, gefi. 1748 zu Hermannſtadt in Siebenbürgen; er focht mit großer Aus⸗ 
zeichnung im fpanifchen Erbfolgekriege. Im Jahre 1727 wurde er Gouverneur von 
Mefiina und Oberfeldherr der kaiſerlichen Truppen in Sicilien. Yür bie glorreiche 
Vertheivigung von Gapua 1734 wurde er Generals Keldgeugmeifter und fpäter Gou⸗ 
verneur von Mailand, das er 1740 ſtegreich gegen die Spanier vertheidigte. 1743 
fiegte er bei Campo Santo über den fpanifchen General Gages. Im folgenden Jahre 
commandirte er in Deutichland unter dem Prinzen Garl von Lothringen und erwarb 
fi Ruhm auch unter ‚ungünftigen Umftänden, 1746 wurde es zum Gouverneur von 
Siebenbürgen ernannt und flarb zwei Jahre darauf. Graf Otto Ferdinand war ein 
feingebildeter Herr, wie er denn auch auf der jungen liniverfität Halle ſtudirte; er ges 
hörte in der Kriegskunſt zu den begabteften Schülern des Prinzen Eugenius, und auch 
fein Gegner Friedrich der Große erfannte den beveutenden Feldherrn in, ihm. 

Abentener und Abenteurer. Das Wort Abenteuer, auch Ebenteuer gefihrieben, 
fommt wie daB gleichbedeutende franzöfifche aventure von dem mittellateinifchen adven- 
tura oder eventurn und bezeichnet zunächft ein Ereigniß überhaupt, Dann aber ein 
Ereigniß, ‚bei welchem gie Mitwirkung einer höhern, übermenſchlichen Macht fichtbar 
wird, oder -fonft ich geltend macht. Da nun das Ritterthum, jene Inſtitution, welche 
mit und neben ber Kirche dad Mittelalter beherrfchte, feine weitere Ausbildung erſt 
durch die Kaͤmpfe mit den Mauren in Spanien und endlich durch die Kreuzzüge erhielt, 
das heißt, da das Ritterthum auf einer Bermifchung des Geiſtes der chriftlich » germas 
niſchen Völker mit der orientaliihen Weltanfchauung, ihren Zauberern, Geiftern und 
Elfen, beruht, jo verfiand man unter Abentener bald ausfchließlich ein Ereigniß, durch 
welches ein Ritter mit Elfen, Geiftern oder fonft Kräften übermenfchlicher Art in Bes 
ruhrung kam. Solche Berührungen aber fuchten die Ritter gemäß dem Geiſt des Ritter⸗ 
thums, der fih in der fchmärmerifchen Verehrung des Glaubens, der Religion, in der 
jhwärmerifchen Liebe zu den Brauen und enblich in der fchwärnerifchen Begierve nad; 
Übenteuern kund gab. Mit dem Ritterthum verjchwand dad Abentener aus dem Leben, 
doch blieb «8 in der epilch-romantifchen Poeſie ald Bezeichnung für die Darftellung 
von Greigniften, bei welcher fi der Dichter ded Wunderbaͤren in Geflalt von Geiftern, 
Feen u. f. w. ald Mafchinerie bedient. Das Ubenteuerliche in der Poefte ift aber nur 
gerechtfertigt, jo lange der Dichter damit in den Kreifen der menfchlichen Vorftellungen 
der Zeit, in der fein Gedicht fich bewegt, bleibt. Da die poetiiche Darftellung der 
bunten Ritterabenteuer eine große Rolle in der mittelalterlichen Literatur ſpielte, fe 
wurde die Mufe des Mitterabenteuers ald „Dame Aventiure” perfonificirt und mit ben 
verfihiebenen Atributen ihrer Macht ausgeflattet, beſchrieben und dargeſtellt. 








Abentenrer. | 9 


Abenteurer nannte man zunächft die Mitter, die auf Abenteuer andzogen; die 
Dichtungen und Mitterbücher find des Ruhmes der abenteuernden Hitter voll. Die 
großen nationalen Sagenkreife vom hörnen Siegfried, von den Nibelungen, von Carl 
dem Großen umd feinen Paladinen, vom heiligen Graal, von König Artus und feiner 
Tafehımde u. f. w. find Die großen Denfmale des abenteuernden Rittertbums in feiner 
urfprünglichden Bedeutung. Als die Ideen, auf denen das Ritterthum beruhte, nad 
und nach ſtch in fefteren Formen darftelften, fich gewiſſermaßen kryſtalliſirten, als Die Ritter 
ein Stand murben, trat die eigentliche Bebeutung des Abenteuerd und: der Abenteurer 
mebr und mehr zurüd. Mitte, die von Turnier zu Turnier zogen, wurden Abenteurer 
genannt, aber ed war noch immer ein Ehrenname, den felbft Kaifer Marimilian nicht 
verſchmaͤhte. Endlich, als der oft mörberifche Ernſt der Turniere, namentlich ſeitdem 
König Heinrich 1. von Frankreich noch 1559 im Lanzenbrechen den Tod gefunden, 
mehr und mehr dem Spiele wich; ald Schaugepränge, fogenannte Inventionen und 
efegante Ringelrennen, Garrouffeld und ähnliche Dinge an die Stelle der ernften Kämpfe 
traten, gab man denjenigen, welche zu folch gefabrlofem Streit berausforderten, den 
Namen WMantenadoreö (mainteneurs), ihren Gegnern aber, die den Kanıpf annahmen, 
das Abenteuer befteben wollten, den Namen Aventureros (aventuriers), Abenteurer. 
Der Name hielt ſich lange mit diefen Spielen und paßte zu benfelben darum auch 
ganz wohl, da biefelben zweifellos maurifch=fpanifchen Urfprungs waren und oft 
Abenteuer berühmter Helden barftellten. Es gab aber am fpanifch gemodelten Hofe 
der Defterreicher noch lange Abenteurer bei ritterlichen Spielen der Art, als im Leben 
fhon ganz andere Perfonen Abenteurer genannt wurden. Man bezeichnete naͤmlich mit 
dem Namen, Abenteurer endlich Berfonen, die in unftätem Xeben ſich burch die Lande 
trieben und, aus den Kreifen außgefchieden, die ihnen durch ihre Geburt angemiefen, 
auf ungewöhnlichen Wegen ſich einen Namen zu machen und ein Vermögen zu erwer- 
ben tracyteten. In dieſem Sinne gab es zahllofe Abenteurer; als Abenteurer zogen 
die fpanifchen Gonquiftadoren nah Amerifa, und das Glück, das fle dort machten, 
lockte unzählige Menfchen ihrem Beifpiele zu folgen. Da aber Menfchen, Die auf un- 
gewöhnlichen Wegen Glück und Ruhm fuchen, die den fittlichen Halt, den Vaterland 
und der angeborene Stand verleihen, aufgeben, leicht dahin kommen, unter den unge- 
wöhnlihen Wegen auch die unehrenvollen und verbotenen nicht zu verfchmähen, fo 
beftete fich bald ein Mafel an den Namen Abenteurer. Abenteurer, Glüdßritter wurde 
bald die Bezeichnung für Jeden, der auf zweibeutige, oder auch nicht mehr zweideutige, 
aber fchlane und mit dem Strafgefeb nicht immer erreichbare Weife Einfluß, Macht, 
Reichthümer oder auch nur feinen Lebensunterhalt gewann. Solcher Abenteurer gab 
e8 verfchiedene Arten und giebt ed bis auf den heutigen Tag. 

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begannen neben den militatrifchen die politiz 
ſchen und Diplomatifchen Abenteurer eine große Rolle zu ſpielen; wie jener beutiche 
Herr v. Nipperda, der Herzog wurde und die Gefchide Spaniend in feinen Händen 
hielt, wie jener franzöflfche Graf Bonneval, der Taiferlicher Felpmarfchall» Lieutenant 
wurde und endlich als Ahmet Pafchahb und General-Oberft des Bombarbier-Eorps in 
Konftantinopel ſtarb. Im 18. Jahrhundert noch konnte ein Baron v. Neuhof fich ale 
König Theodor I. von Eorfica Frönen laſſen und mußte endlich doch ald Kirchſpiels⸗ 
Armer in London fterben. Wie viele politifche Abenteurer find in ber franzöftfchen 
Revolution untergegangen, der berufene preußifche Baron v. d. Trend, der weftfälifche 
Baron Elootd, und wie viele Abenteurer bat die Revolution dafür erzeugt! Es giebt 
Abenteurer, die einen fo großen Namen fich gemacht, daß man zulegt den Abenteurer 
in ihnen ganz vergeflen bat. Noch andere Klaffen von Abenteurern fah namentlich 
das lebte Jahrhundert, folche, Die auf den troftlofen Aberglauben, der bei den Fürſten 
und PVornehmen geiftlihen und weltlichen Standes an vie Stelle des Glaubens getres 
ten war, keck fperulirten, mie Graf Saint- Germain und noch gröblicher jener Joſeph 
Balfamo, der fich einen Grafen Gaglioftro nannte. Die Luft an geheimen Gefellfchaf- 
ten erzeugte maſſenhaft rofenfreuzerifche und freimaurerifche Abenteurer, die bald im 
. Dienft einer jefuitiichen Propaganda Eonvertiten für die römifche Kirche machten, bald 
eifrig Die franzoͤſiſche Revolution vorbereiten und fpäter weiter verbreiten halfen. Die 
ichlechte Wirtbfchaft und die Geldnoth der Höfe gab abenteuerlichen Projectenmachern 

7 


Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 





x 


98 Abereremby. . Aberdeen, Stabt. 


oft den weiteften Spielraum, bie Prunkjucht und die LKüderlichkeit, welche ſich mit 
fremdem Komdbdiantenvolf und ausländifchen Maitrefien ſchamlos brüfleten, zogen eine 
unglaubliche Menge von gierigen Abenteurern auch nach Deutjchland, namentlich Ita⸗ 
liäner, die Alle untereinander in Verbindung flanden und fi gegenjeitig unterflügten 
bei der Ausfaugung der Fürften und Völfer. Ein lebendiges Bild von dem großen 
Abenteurernege, mit dem Europa im letzten Jahrhundert umfponnen war, liefert der 
Italiäner Caſanova in feinen verrufenen Memoiren, die, ihre erotifchen Schilderungen 
bei Seite, für den Hiftorifer von Werth find zur Kenntniß und Beurtheilung der gro- 
fen Gejellfehaft von damals. Caſanova ift zugleich der, Mepräfentant jener zahlreichen 
Klafie von Abenteurern mittleren Schlaged, die, ohne eigentliche Betrüger, Gauner ober 
falfche Spieler zu fein, dennoh vom Spiel und der Leichtgläubigkeit Anderer lebten, 
zuweilen fogar eine bebeutende Rolle fpielten felbft in ernften politifhen Dingen, und 
zeitweife auch mit den höchſten Perſonen in Verbindung traten. Abenteurer folder 
Art find gegenwärtig feltener geworben, fie find dem größeren Ernſt im Leben der Kürs 
Ben und Völker feit Anfang dieſes Jahrhunderts erlegen, zum Theil würden fle auch 
ganz unmöglich fein der gewaltigen Macht der Preffe und der Vervollkommnung der 
Polizei gegenüber. Doch giebt e8 noch immer Abenteurer verfhiedener Art. In So— 
nora florirt der franzöflfche Graf Raouſſet⸗Boulbon, ein Abenteurer im firengen Sul 
der fpanifchen Eonquiftadoren. Zu den vielen vertriebenen Abenteurerfürften vergange⸗ 
ner Zeit ftellten unfere Tage den Fürften Leo von Armenien, der fidh für einen Lufignen 
ausgab, bis ihn der Gothaifche genealogifche Almanach und die Neue Preußiſche Zeis 
tung wiflenfchaftlich entlarvten, und es ließen fi wohl noch mehrere Beifpiele aͤhnli⸗ 
cher Art finden. Unſerer Zeit eigenthbümlich find die Abenteurer ber revolutionären 
Propaganda aus der politifchen Blüchtlingsfchaft aller Länder. 

Nbereromby (Ralph), englifher Diplomat, geboren 1803, außerordentlicher 
Gefandter und bevollmächtigter Minifter zu Turin von Mai 1840 His November 1851, 
(1848 und 1849 auf die Entfchlüffe Karl Albert's nicht ohne Einfluß), wurde im de 
bruar 1852 in gleicher Stellung nad dem Haag verfeßt. Seine diplomatifche Carriere 
begann er jchon 1821 als Attache der großbritannifchen Gefandtichaft am Bunbestage, 
war dann auf fürzere Zeit im Haag, Paris und New⸗NYork flationirt, am legteren Orte 
al8 Serretär der zu den Verhandlungen mit Nord» Amerifa (December 1826 bis Juli 
1827) Bevollmächtigten, wurde Darauf als Serretär nad Brafllien, Brüffel, Berlin 
(Juli 1831 bis December 1835), als Minifterrefident nach Florenz (1835 — 1839), 
als bevollmächtigter Minifter an den deutfchen Bundestag (Juli 1839 bis Mai 1840) 
geſandt und Fam darauf nah Turin. Er war von Juli 1827 bis Auguft 1828 
precis writer (Redacteur der amtlichen Papiere, Depefchen, Noten sc.) im auswärtigen 
Amte zu London; er arbeitete alfo noch unter den Augen Georg Canning's, welcher 
der englifchen auswärtigen Bolitif einen langwirkenden Anftoß gab, und darauf Welling- 
ton's: ein Mitglied der alten heut verfallenen Torppartei. 

Seine Familie ift fchottifchen Urfprungs; die U. find Häupter des Clans von _ 
Abereromby; der erfle Baronet des Haufes (1636) zeigte ſich in den bürgerlichen 
Wirren feiner ‚Zeit fehr thätig. Ralph U. ift der Sohn und Erbe des (erften) Lord 
Dunfermline, der früher Sprecher des Haufes der Gemeinen war. Sein Großvater 
führte 1801 die englifche Expedition nach Aegypten, bewirkte dort am 8. März die Lan» 
dung zu Abukir und lieferte am 21. den Franzoſen die Schlacht bei Alexandria, mo er zum 
Tode verwundet ward. Die Wittwe ded Helden erhielt Darauf den Titel einer Baroneß 
A. of Aboufir, und diefer Titel ift den männlichen Erben des Generald geblieben. 

Aberdeen, Stadt und Hauptort der gleichnamigen großen und wichtigen ſchot⸗ 
tiſchen Niederland-Grafſchaft. Sie ift Die größte Stadt nördlich vom Forth, liegt an 
ber Mündung des Dee in die Nordſee, norbnorböftlih und 22 Meilen von Edinburg, 
befteht aus Neu⸗Aberdeen an der Dee» und Alte Aberdeen an der Doons- 
Mündung (beide liegen aber nahe bei einander) und hat eine Univerfität (aus Kingd- 
College in Alt⸗Aberdeen und Marifhald-College in Neu Aberdeen beſtehend), mancherlei 
Vabrifen, befonders in Baummolle und Leinwand, Eifengießereien, wichtigen Handel, 
lebhafte Schifffahrt, großentheild mit eigenen Schiffen, Fifcherei in der Nordſee, Wallfifch- 
fang und 71,945 Einwohner (nach der legten amtlichen Zählung vom 31. März 1851). 





. Aberdeen, Georg. 99 


Aberdeen, Georg Hamilton Gordon, Earl of A., englifcher Diplomat (1813 big 
1814) und Rinifter (1828 — 1830, 1841— 1846, 1852 — 1855), geboren 1784 zu 
Edinburgh, aus ſchottiſchem Gefchlechte, das 1642 den Baronet-Titel erhielt. Er ift der 
vierte Earl des Namens, der erfie Earl, Lordgroßkanzler von Schottland, erhielt die Würde 
1682. Seine Familie hat außerdem bie Titel eines Viscount Kormartine, Baron Haddo, 
Methlic, Tarves und Kellie. Erzogen zu Harrow und Cambridge (1804 auf diefer 
Univerfität magister arlium geworden), trat er eine Reife nach den Stätten antiker 
Eultur, die ihm während feiner Studienjahre theuer geworden war, an, weilte in 
Kleinaflen und längere Zeit in Griechenland und ftiftete bei feiner Ruͤckkehr in London 
bie Alhenian society für die Freunde und Kenner Athens. Die Eindrücke und Kennts 
niffe, die er auf diefen Reiſen gefammelt, verließen ihn niemals wieder, und er fand 
ueben feinen flaatömännifchen Gefchäften ſtets zu Studien über Die griechifche Kunft er⸗ 
wünſchte Muße, deren Früchte mehrere gelehrte und geſchmackvolle Schriften (3.8. über 
die Elgin Marbled, über Homer, über’griechifche Architektur 3.) geworben find. Der genau 
fihtende, ſtrenge und ernft verfländige Geift, fehottifch durch und Durch, der überall in 
dieſen Schriften hervortritt — in Betreff Homer's gehört A. zu den „Chorizonten”, 
welche Iliad und Odyſſee verfchiedenen Verfaſſern zufchreiben — begleitet ihn auch in 
das öffentliche Leben. Er gebt im Sommer 1813 nah Wien, um das zaudernde 
Oeſterreich auch englifcherfeitd noch mehr zum fchleunigen Kampf gegen Napoleon zu 
drängen. Wir finden ihn bald neben dem Herzog von Cumberland im Hauptquartier 
ber Verbündeten in Böhmen, und nachdem am 9. September zu Töplig ein bezüglicher 
Hauptvertrag zwifchen Defterreih und Preußen und Rußland abgefchloffen war, folgte 
einige Wochen darauf unter Aberdeen's Bermittelung ein Bündniß Oeſterreichs mit 
England. Damals lernte Aberdeen die großen Staatsmaͤnner des Continents Fennen 
und befonders an Fürſt Metternich feflelte ihn ſeitdem eine fefte Freundſchaft. „Ein 
Mann richtigen, aber Eurzen Blickes,“ fagt Perg im Leben Stein’d aus jener Zeit von 
Aberdeen. In Wien war er darauf bemüht, eine Politif der Vermittelungen zwifchen 
den Gegenfägen zu vertheibigen, bie freilich weder von den Ereigniffen jener Zeit, noch 
von den Trägern derfelben gebulbet wurde. Selbft König Murat's von Neapel Thron 
bätte er gern gelichert; mit Metternich und Neſſelrode zufammen machte er noch im 
November 1813 Napoleon Friedensvorfchläge, auf die der Eorfe fogar einging. April 
1814 kehrte A. nach England zurüd, nahm, breißigjährig, den ihm zufommenden Sig 
im Kaufe der Lords ein und fchloß feine zweite Heirath mit der verw. Visct. Hamilton 
( 1833). Seine erfte Gemahlin Lady Abercorn war 1812 geftorben. 

Früh reif und früh im inneren und äußeren Leben vollendet, kalt und hoch—⸗ 
denkend, in Sitte, Ton und Form ein ganzer Edelmann, fo diente er fortan unab⸗ 
haͤngig dem Vaterlande. Er zeigte fich niemals als großen Redner, aber er beberrfchte 
far und feſt Gedanken und Wort. Er war Tory, und Wellington übertrug ihm 
1828 das Minifterium der auswärtigen Angelegenheiten. Wie alle edlen Verſtandes⸗ 
menfchen, bei denen die Gerechtigkeitsliebe leicht zur gleichen Zeit Leidenſchaft und 

hiebenheit erzeugt, fuchte er auch Hier zwifchen entgegenftehenden Anfchauungen, 
welche freilich Diejenigen verfchiedener Epochen waren, zu vermitteln. Er Tannte Die 
Dinge der continentalen Politik wohl beffer, als irgend ein Mann in England, er 
wagte es nicht, die Bedenken Metternich’8 zu verurtbeilen und dabei wagte er Doch 
nicht mit den anders lautenden Trabitionen ber heimifchen Politik zu brechen: er miß⸗ 
billigte wie Metternich Die Politif, Die Griechenland wieberherftellte, und bebauerte 
die Schlaht von Navarino, im Parlamente vertheidigte er fie indef. Es war die 
Erbſchaft Canning's, die er damit übernommten Hatte, dieſes gewaltfanen und genialen 
Staatsmannes, der allerdings den Londoner Vertrag vom 6. Juli 1827 zufammen mit 
Rußland und Brankreich unterzeichnet und dadurch dem Sultan bie fernere Kriegs» 
führung gegen Griechenland verboten hatte, der aber nichts deſto weniger der größte 
Beind der ruffifchen Politik gewefen if. In jenen Tagen war die englifche Politik 
an eine Krifls gelangt: im Parlament, mehr noch in der Preſſe und der öffentlichen Mei⸗ 
zung vollzog fich Diefelbe, und befonberd die Kritik, der fich bereitö der Friedensſchluß 
von Abrianopel (1829) in England ausgeſetzt fah, bezeichnet die Richtung dieſer 
Kriſis, deren Ausgang den gewaltigen Krieg der Wemächte gegen Rußland voraus⸗ 

7% 





100 Aberdeen, Georg. 


feben ließ. Die Keime dieſes Krieges liegen in der englifchen Gefchichte jener Beit, die 
Louis Napoleon auf das Schärffte fludirt hatte — Zwiſchen Gegenfägen treibt der 
politifche Charakter Aberdeen's auch in anderen Fragen fort: er bemüht fih fir Dom 
Miguel und für Don Carlos, und doch ift er der Erfte, der den Fall der legitimen 
Monarchie in Frankreich acceptirt und Louis Philipp als König der Franzoſen an- 
erkennt. Die Volksbewegung zu Gunſten einer Parlamentöreform veranlaßt bald darauf 
(16. November 1830) das “Minifterium Wellington zum Rücktritt, und Aberbeen 
wendet fortan, in die torpiftifche Oppofttion im Oberhaufe zurückgeführt, feine Auf 
merkſamkeit auch den großen Fragen der innern Politik mehr zu, melde fehon oft 
vergebend an die Thore von Weftminfter gepocht hatten. In dem kurzen Torymini⸗ 
fterium des Uebergangs, Peel-Wellington (von 1834 bis April 1935) fungirt er alb 
Golonialminifter, und erft 1841 tritt er wieder als ausmärtiger Minifter in das von 
Peel gebildete Eabinet, das legte große ſtarke Mlttory-Cabinet, zu dem fich Lyndhurſt, 
Stanley, Wellington, Knatchbull, Herzog von Budingham, Gladftone, Graham vers 
einigten. Die Aufhebung der Korngefeßgebung, durch Peel beantragt, fprengt e8, fprengt 
zugleich die alte confervative Zandespartei. Aberdeen war mit Perl. Das endliche, fcheue 
Nachgeben, das in den wichtigften Ereigniffen Peel's ftaatlicden Charakter bezeichnet, 
entfprach den Neigungen Aberdeen's. Während dieſes Minifteriums befuchte Kaifer 
Nikolaus von Rußland England, um über das Schidfal der Türkei, deren Untergang 
fon damals drohte, für den letztern Fall mit Englands Staatsmaͤnnern VBerabrebungen 
zu treffen. Er verftändigte fich befonvers mit Wellington, Sir Robert Beel und Aberdeen, 
und es ift das Reſultat dieſer Berathungen in einer fpäter verdffentlichten „Denkfhrift 
de8 Grafen Neffelrode an die englifche Negierung, gegründet auf Mittheilungen des 
Kaiſers von Rußland nah dem Beſuch Sr. Majeſtät in England im Juni 1844* 
nievergelegt. Damald wurde zwifchen Rußland und England — und es ift Dies zur 
Beurtheilung der fpäteren Haltung Aberbeen’8 wichtig — ausgemacht, das türktſche 
Meich fo lange ald möglich zu halten, „wenn wir aber vorausfehen, daß ed zufammen- 
brechen muß, fih im Vor aus zu verabreden über Alles, was die Errichtung der 
neuen Ordnung der Dinge anbetrifft.* Die Erhaltung des europätfchen Gleichgemwichtd 
follte dabei dad Hauptaugenmerk fein. Rußland erklärt feine Politik mit derjenigen Oeſter⸗ 
reich8 „Durch das Princip einer vollkommenen Solibarität eng verbunden“, und „Frankreich 
werde fich in der Nothwendigfeit befinden, dem zwifchen St. Peteröburg, London und 
Wien verabreveten Gang fich anzubequemen.* Im denfelben Gedankengang ſetzte Kaifer 
Nikolaus 1852 dem Minifteriun Aberdeen gegenüber wieder ein, aber die Dinge in 
England flanden bereit3 anders. Nach dem Austritt des Minifteriums Aberdeen (1846) 
war das alte Verhältnig der Parteien für immer vernichtet. Ruſſell's Minifterium 
folgt, ein kümmerlicher Whigverſuch; noch fchneller wird das folgende torpiftifche Cabinet 
Derby von demſelben Schiefal erreicht: mit der alten Negelmäßigfeit der maſchinen⸗ 
artig ficher arbeitenden Verfaffung, in der geräufchlos eine Partei Die andere ablöſte 
und weiter regierte, war ed zu Ende, und während die Toried jammerten, Engfand fel 
am Abgrund angelangt und „es babe ein langfam wirkendes Gift eingenommen?, bilvete 
Aberdeen im December 1852 ein neues Minifterium, das „Coalitionsminifterium”, auch 
„das aller Talente” genannt, und mit Recht, und doch das unbeholfenfte, gefährlichfte, 
das England je gehabt. 

Das orientalifche Gemitter, welches 1850 von Neuen in einem erften Wetterleuchten 
fich angekündigt hatte — 10. Mai 1850 zeigte Stratford feiner Negierung an, daß auß 
dem bevorftehenden Streit über die heil. Stätten eine große Verwickelung hervorgehen 
fönne — fteigt eben (Ende 1852) am Himmel empor, Rußland fendet die erften Truppen 
nach der türfifchen Grenze, und die erften Depefchen, welche dad neue englifche Nini⸗ 
fterium erhält, berichten über Eröffnungen, welche Katfer Nikolaus dem englifchen Ges 
fandten zu Peteröburg gemacht hat: „Wir haben einen kranken Mann auf den Armen. 
E8 wäre ein großes Unglück, wenn er und eine Tages entfallen follte, ehe alle nötht« 
gen Vorkehrungen getroffen wären.” Kaiſer Nikolaus verfichert am 9. Januar 1853 
dem englifchen Gefandten zu Peteräburg, er vernehme mit Vergnügen, daß das Minte 
fterium Aberdeen definitiv conftituirt fei, er glaube, e8 werde eine lange Dauer haben. 
„Se. kaiſ. Maj.“ — heißt e8 in dem englifchen Gefandtfchaftberichte — „mollte ganz 


Aberbeen, Georg. 101 


beisubers, daß ich diefe Berficherung bem Grafen von Aberdeen übermadhe, den er feit 
ungefähr vierzig Jahren kennt und für ven er eben jo viel Nüdfichten wie Achtung hat. 
Se. kaiſ. Maj. wollte, daß ich die freundliche Erinnerung Sr. Herrlichkeit (Aberdeen's) 
an ihn zurüdrufe.“ Das Minifterium Aberbeen, im auswärtigen Amt zuerft auf Eurze 
Zeit durch Lord John Ruſſell, dann durch Lord Clarendon vertreten, ſchreckt vor ber 
Entſchloſſenheit, mit der Rußland den Augenblid wählen will, zurüd. Die Furcht 
vor dem wieder conflituirten Frankreich tritt als neu beflimmender Factor hinzu, und 
das. Bedenken, „daß eine zwifchen Rußland und England gejchlofiene Uebereinkunft nicht 
lange Geheimniß bleiben würde“ (Dep. Ruſſell's an Seymour vom 9. Februar 1953), 
tritt neben dem urfprünglichen Bedenken, die Eventualität des Zufammenflurzes der 
Zirkei laſſe ſich ja noch nicht zeitlich feflfeßen, immer Jtärfer hervor. Nichts deſto 
weniger befördert Aberbeen eine Politik des Zögernd und Abwartend m dem Gonflicte 
aus allen Kräften und fegt dem Drängen des Kaiferd der Franzoſen einen Widerftand 
entgegen, der beflerer und tieferer Motive wert gewefen wäre. Zu gleicher Zeit aber 
erflärt ſich die öffentliche Meinung, Anfangs dur Die Times gegen Rußland nicht 
ungünftig geflimmt, immer energifcher für einen Krieg zu Gunften der Türkei; die 
Einflüfe Frankreichs auf die bewegenden (wenn auch nicht gefeglichen) Mächte Englands 
mebren jih, und dad Wort, das Lord Glarendon damals ausfprah, „England laffe. 
fish dahintreiben“, wird zum entjeglih wahren Motto der englifchen Politik. Es 
bedurfte nur noch eines Anftopes, um dieſes Dahintreiben in eine reißende Strom- 
ſchnelle zu verwandeln, und die Schlacht von Sinope, in welcher Rußland die Türkifche 

tte auf dem Schwarzen Meere vernichtete (30. Nov. 1853), eine der verhängniß- 
vollfien, wenn auch an fich nicht fehr bebeutenden Kriegäthaten der neueften Zeit, gab 
diefen Anftoß. Graf Walewski, damald franzoͤſiſcher Gefandter in London, hob in 
Noten und Unterredungen die moralifche Bedeutung des Greigniffes auf das Stärffte 
bervor, und die englifche Preſſe unterftügte ihn darin mit der ganzen Einfeitigfeit des 
Stolzes, den England ald Seemacht beſitzt. Bereitd am 14. Ianuar 1854 nennt Korb 
Glarendon in einer Depeiche an Aberdeen diefen Sieg der ruflifchen Flotte ein „ehr⸗ 
verlegended Ereigniß“, die öffentliche Meinung Englands geräth in eine ſiedende Hige: 
der Bruch ift unvermeiblih, und Die Pläne des Kaiferd der Franzoſen find erfüllt. 
So muß ed gefchehen, daß der Freund des Kaijerd Nikolaus, der intime Vertraute 
der Politif der öftlichden Babinete, der „continentalfte Engländer von England“, der alte 
falte Aberbeen (28. März 1854) die königliche Kriegserflärung unterzeichnet. Weiter hin- 
reißen von den Ereigniffen und in eine neue Bahn werfen Eonnte fich dieſer Mann aller» 
dings nicht laſſen; er war zu kalt, zu felbfifländig, zu gerecht dazu, und es machte darum 
fowohl die Form, in welcher er im Oberhaufe fortfuhr vom Kaifer Nikolaus und feinem 
hohen Charakter zu fprechen, als auch die Neigung zum Frieden, welche er wiederholt 
mitten in der Leidenjchaft kriegathmender Debatten offen hervortreten ließ, in England 
einen empdrenden Eindruck. Ganz offen nannte man ihn in Blugblättern und Baricaturen 
einen „zufliihen Spion” — „a Russian spy“ und „a old woman“ war eine Zeit lang fein 
Behender Titel in der Kleinen Preffe — ; immer Elarer mußte ihm werben, daß unter ihm Fein 
Frieden möglich, daß er ſich und feine Stellung erft würde zum Opfer bringen müffen, 
damit möglicher Weile ein in Eriegerifcherem Geruche ftehender Gegner das Einlenten 
zu‘ wirfungävolleren Unterhandlungen verfuchen Eönnte. Zwar hatte das Minifterium 
alter Talente auf vem Gebiete der inneren Politik eine Reihe von Reformen vorgefchlagen 
und Daburch einigen Halt in den Wittelflaffen erhalten, aber das Parlament Eonnte es 
nicht fiber ſich gewinnen, fich in folcher Zeit ernfthaft und nachhaltig folchen Aufgaben 
zu unterziehen, denn fein Auge war wie dad des Volkes auf den Krieg gerichtet, aus 
deffen Hauptquartieren feit der Mitte des Jahres Berichte (die malerifchften und ent- 
ſeglichſten von Will. Ruſſell, Specialcorrefpondenten der Times in der Krim) eintrafen, 
weldhe. die Lage der englifchen Soldaten in immer büflereren Karben jchilderten und 
endlich dahin führten, daß Roebuck am 25. Jan. 1855 einen Sonderausſchuß des 
Haufes zur Unterfuchung der entfeglichen Lage der Armee beantragte. In der am 29. 
esfolgennen Abftimmung ſtimmten 305 für den Antrag, 148 dagegen; Aberdeen erkannte 
barin mit Recht ein ganz beſonders gegen ihn und feine Politif gerichteted Mißtrauens⸗ 
votum und reichte der Königin feine Entlaffung ein. Dem Lord Derby fo wenig, als 


wr 


102 Aberglanbe. 


gleich darauf Lord Lansdowne gelang es, das neue Minifterium zubilden. Lord Pal⸗ 
merfton, Mitglied ded Minifteriums Aberdeen, Tdfte diefe Aufgabe am 4. Februar 1854. 

Lord Überbeen trat ſeitdem wenig aus den Mittelgrunde, in dem er ald Pair 
des Oberhauſes bei der Verwaltung der Öffentlichen Dinge fteht, heraus; er Betrachtet 
fein politifches Leben wohl für gefchlofien und feine ganze Haltung im feinem lepten 
Minifterium ſchon zeigte, daß er mit Bemußtfein einer vergangenen Epode angehörte, 
einer Epoche, weiche weniger die Leidenfchaften der Völker, als die Vortheile der 
Gabinette bei den Fragen der großen Politif in Rechnung brachte. Wir halten ihn, 
wie fehr wir auch von feiner geringen Neigung zum Kriege gegen Rußland überzeugt 
find, für einen der Hauptveranlaffer dieſes Krieges; er Hatte den Katfer Nikolaus zu 
falfchen Annahmen verleitet und fich felbft getäufcht, als er meinte, dem Drängen des 
Kaiferd Napoleon unabhängig die Spige bieten zu Tönnen. 

Kein englifcher Staatsmann der Gegenwart flieht dem englifhen Volke ferner, 
als Aberdeen, und es ift bezeichnend, Daß das Gerücht den Prinz Gemahl für feine 
Ernennung zum Premier-Rinifter von England verantwortlich machte. Die Diplomaten 
fagten von A., er babe zu wenig englifche Vorurtheile, um in England populär 
fein zu können, und merfwürdiger Weife flimmen mit dieſem Urthelle die engkifchen 
Radicalen, denen die ganze beftehende Verfaſſung ihres Vaterlaͤndes ein Unding, well 
nur ein Privilegium der regierenden Klaffen ift, überein. So Iefen wir in den Poli- 
tical Portraits by Edw. M. Whitty (Kondon, Trübner 1854) folgende Charakteriſtik 
Nberdeen’s: „Er ift in England gar nicht befannt.... er iſt der am wenigſten britifche 
der britifchen Stantsmänner (the least British of British Statesmen). Der umbri⸗ 
tifchfte, ift er auch der umfaſſendſte Kopf unter unfern Staatsmaͤnnern. Wir erinnern 
und alle der mit Jubel aufgenommenen Infinuation Lord John Muffell’8 gegen ihn, 
daß er im Amte nicht bloß der Minifter Englands, fondern auch der Minifter Oeſter⸗ 
reih8 und Rußlands und Frankreichs war, und eigentlich iſt fol ein Vorwurf von 
einem ſolchen Stocdbriten ein großed Compliment für Lord Aberdeen, da ex beweiſt, 
wie weit und erhaben feine politifchen Anfchauungen find. Er ift e8 ja auch, ber 
entdeckt hat, daß es in der politifchen Welt Englands Feine Parteien giebt, wie wir 
Doch Tange annahmen, fondern daß unfere Unterfchiede lediglich Unterſchiede ohne Gegen⸗ 
fäge find, und auf dieſe Entvedung, die ein beſchraͤnkter englifcher Staatsmann niemals 
gemacht haben würde, gründete er das Profect einer Coalition.“ 

Aberglaube. Was zunächft die etymologiſche Seite dieſes Wortes angeht, fo 
gebört daffelbe zu den jüngeren Bildungen der Sprache, indem daffelbe vor dem Ende 
des 15. Jahrhunderts nicht erjcheint, und zu den nicht felbfifländig erzeugten: eB tft 
ohne Zweifel dem Iateinifchen superstitio nachgebilvet. Das „aber“ iſt Höchft wahr⸗ 
fcheinlich gine Mißbildung aus über, ober (hollänvifch overgelöf, daͤniſch overtro), 
fo daß Aberglaube gebildet wäre wie Aberacht (ſtatt Oberacht, Ueberacht); indeß 
findet fich Schon bei Agricola Afterglaube; auch darf das, freilich aus Awizzi ent- 
ftandene, gleichfalls dem Ende des 15. Jahrhunderts angehörige Aberwitz nicht ganz 
unberüdfichtigt bleiben. Die ältere deutſche Sprache hatte, mo e8 darauf anfam, super- 
stitio zu liberfegen, andere Bezeichnungen (ahd. ubarfengida, gameitheit, auch mhd. 
geradezu ungeloube, was fehr häufig vorkommt, oder swacher geloube), welche ent⸗ 
weber ein Herausſchreiten aus dem rechten chriftlichen Glauben, oder noch unbefefligten 
(kranken, ſchwachen) Chriftenglauben bedeuteten. Wo Luther abergläubtg bat, 
(Apoftelgefch. 17, 22; die Bulgata superstitiosiores), hat die vorlutherifche Bibelüberfet- 
zung „vol falſch oder aptgöterel“; und für Luthers Aberglaube (Apoſtelgeſch. 25, 19; 
die Vulg. superstitio) „von feined irrfäligen gelaubens wegen”. Die niederdeutſche 
Sprache braucht für Aberglaube Beiglaube, wie auch im Holländifchen neben fenem 
overgelöf auch bigelöf erfcheint. Es kann Fein Zmeifel darüber obwalten, daß nian 
urfprünglih mit dem Worte Aberglaube einen unchriſtlichen oder widerchriſtlichen Irr⸗ 
glauben, eine Abweichung vom chriſtlichen Glauben, ein Beibehalten eines irrigen (heiv⸗ 
nifchen) Glaubens neben dem Chriftenglauben Habe bezeichnen wollen. Ganz aͤhnltch 
ft auch die urfprüngliche Bedeutung des Tateinifchen superstitio, welches Wort ichte 
anderes bezeichnet, als Ueberbleibſel aus einem früheren religidfen Zuftand, auß einer 
Altern Volkoreligion, welche durch einen neuen Eultus verdrängt worben iſt, und es 





Ahengianbe. mE 


wird supersitlio, gleich dem griechiſchen Seındnumovla, im fpätern lateinifchen Gebrauch 
vorzugsweife für die Zurcht (richtiger: Angſt) ver den göttlichen Wefen, im Gegenfat 
gegen beren Verehrung und Anbetung gebraudht. Gefunfene, aus einer früheren reli⸗ 
gidfen Periede ſtammende Gottheiten aber find bei allen Völkern vorzugsweiſe Gegen- 
Rände der Furcht (Angſt). Hiernach ift Aberglaube an und für fih das Beibe- 
Halten einzelner Reſte älterer volfsmäßiger Religionen, welde im 
Ganzgendurch neuerereligiöfe Anfhauungenverdbrängtund ſo mit ver- 
altet find. 

Diefen allein zulaͤſſigen Gebrauch des Wortes Aberglaube vergaß man im Laufe 
des 18. Jahrhunderts, welches in jo vielen Punkten den urfprünglichen Sprachgebrauch 
nach dem ſubjectiven Belieben umformte und oft willfirlih, ja abfichtlich zerftörte. 
Nachdem man die „Religion“ ganz oder größtentheild ald eine Verftandesoperation zu 
betrachten angefangen hatte, wurde auch der Aberglaube als ein Irrthum im Denken 
(Mangel m „Aufflärung*) aufgefaßt und in religidfen und pbyfifchen Aber- 
glauben. getheilt. Unter dem erftern verftand man das religiöfe Glauben ohne ver- 
nünftige Brüfung („Hingabe an die Autorität, an dad bloße Factum“, Kant. verm, 
Schr. 3, 65; „der Wahn, durch religidfe Handlungen des Cultus etwas in Anfehung 
ner Rechtfertigung vor Gott audzurichten, ift der religiöfe Aberglaube“, Kant Religion 
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft S. 211, wo zugleich „die religidfen Hand⸗ 
lungen, des Caltus“ näher ald „Belenntnig flatutarifcher Glaubensfäge", „Beobachtung 
kirchlicher Obſervanz und Zucht” bezeichnet und als „bloße Naturmittel” charakteriſirt 
werden; „alles, was außer dem guten Lebenswandel der Menſch noch thun zu koͤnnen 
vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ift bloßer Religionsdienſt und Afterdienſt 
Gottes, iſt Superflition", ebendaſ. S. 205, 207; namentlich ift der Eid nichts als 
Aberglaube, ebendaſ. S. 189); oder wie Roͤhr die für den platten Nationalismus 
claſſiſch gewordene Definition des Aberglaubend formulirte: „Slaube an etwas Ueber⸗ 
finnliches, ohne hinreichende innere Gründe und nur auf die äußere Auctorität geſtützt, 
iſt Aberglaube.” Aehnlich Tautet ſchon Reinhard's Definition: „Aberglaube ift der 
Schler, wo man fich bei der Erfenntnig und Berehrung Gottes nicht nach den Ge⸗ 
feßen der Bernunft, fonbern nach vermeintlichen Erfahrungen und den Eingebungen 
der Phantafte richtet”, wobei jeboch bemerkt werden muß, daß bei Reinhard die „Ges 
feße der Bernunft” als identifch mit den Vorfchriften (Lehren) der Offenbarung gefaßt 
(aber freilich nicht ale folche in der Definition bezeichnet) werden. Nicht befler als 
Kanut's, Röhr's und Reinhard's Definitionen, nur unflarer, find die Definitionen von 
Baumgarten-Erufius („Mangel an Einheit und Ordnung des Gedankens neben 
einem lebendigen Triebe zum Ueberfinnlichen ift Schwärmerei und Aberglaube, welche 
fih von einander nicht unterſcheiden“) und Nigfch („Aberglaube ift geſetzwidrige Zer- 
fegung und Bermifchung der Grunderkenntniſſe des Geiſtes von Gott und der Welt 
mit den Thatiachen des inneren Bewußtſeins“). Uebrigens haben dieſe Definitionen, 
namentlich die von Kant und Röhr aufgeftellten, unter der Boraudfegung eine gewiſſe 
Berechtigung, daß der jeweilige Zuftand der religidjen Erkenntniß der unbedingt nor« 
mirende ſei; alsdann verfteht es fich, und zwar eben nad dem richtigen Begriffe von 
Aberglauben, von felbft, daß das, was dieſem Zuflande nicht entfpricht und aus frü⸗ 
bexen Zuftänden religiöfer Erkenntniß herrührt, als Aberglaube bezeichnet werben kann; 
unter diefer Borausfegung hat das Wort Aberglaube keinen feftbefimmten, ſondern einen 
fließenden, wechfelnden Inhalt, und es Fam auf diefem Wege ganz confequent dahin, 
daß zu der Zeit und in den Kreifen, in welchen vie Offenbarung erſt des alten, 
Daun des neuen Teſtamentes in Bergeflenbeit kam und für veraltet galt, Die Thatſachen 
derſelben insgefammt ohne Weitered und ganz unbefangen „zum alten Aberglauben“ 
gerechnet wurden. 

Soll indeß dad Wort Aberglaube, feinem urfprünglichen Gebrauch gemäß, einen 
befimmten Begrifföinhalt haben, fe kann ihm derſelbe nur von der Offenbarung alten 
und neuen Teſtamentes angewiefen werben WUberglaube ift biernad ber Inbee 
ariff von Reſten heidnifcher einem beffimmten Volle oder Volks— 
Bamme vor Aunahme des. Chriſtenthums eigen gewejener Religion, 
welche nach neben dem Chriſtenthum, in der Hauptſache unbewußt, 





Wi Abergiaube. 
fortdauern, und es bezieht ſich wer Aberglaube in dieſem Giun auf Meinungen 
(Borftellungen) fowohl ald auf Gebraͤuche. 
Sierunter ift denn auch dad zu begreifen, wad man feit dem Anfang des 18. 
Jahrhunderts phyfiichen Aberglauben nannte und den 3. B. Reinhard fo defi⸗ 
nirt: „es fei derfelbe der Fehler, wo man fich bei der Beurtheilung und Dem Gebraudhe 
der natürlichen Urfachen, denen man einen Einfluß auf unfer Schickſal zutraut, nicht 
nach den Gefegen der Vernunft, fonbern bloß nach vermeinten Erfahrungen und dem 
Eingebungen der Phantafie richte." Dieje Erklärung muß dahin corrigirt werben, daß 
„phyſiſcher Aberglaube” nichts andered ſei, als die beidnifhe Gebundenheit 
bes Menfhenan die Natur und deren Kräfte als ſolche, weiche neben dem 
Chriſtenthum bei den noch nicht zu chriftlicher Erleuchtung gelangten Chriſten fort 
dauert. (Daß chriftliche Erleuchtung ihrem Wefen nach in.der Grfenntniß ber Sünde 


und der durch die Sünde hervorgebrachten Knechtſchaft des Menſchen, fo wie in der . 


Erkenntniß der Erlöfung durch den auferflannenen und weltbeberrfchennen Chriſtus 
beftehe, kann hier nur berührt werben). Damit fällt.denn eine lange Reihe von Din- 
gen weg, welche man ehedem auch zu dem „phnftfchen Aberglauben" rechnete, wie 
einerfeits die Naturkräfte, unter deren Gewalt nicht wir, jendern die in unfere Gewalt 
gegeben find (tbierifcher Magnetismus, Waiferfchauen, Metallfühlen, Divination u. dgl.), 
andrerſeits biftorijche aber unklar geworbene Reminiſcenzen (an Riefen, au Drachen, 
ungeheure Bögel u. dergl.) und Zerrüttungen des urſprünglichen Dffenbarungsglaur 
bens (wie die Verkehrung des das Paradies hütenden Cherubs in einen Greif, und 
Aehnliches). 

Aus der bier aufgeſtellten Beſtimmung des Aberglaubens, zumal auch des ſo⸗ 
genannten „phyſiſchen“ Aberglaubens, ergiebt ſich ſofort, daß etwas Aberglaube, aber 
auch Glaube ſein kann, je nachdem die heidniſche Gebundenheit des Menſchen an die 
Natur dabei vorhanden iſt, oder nicht; indeß es ergiebt ſich auch weiter, daß eine 
Handlung oder Vorſtellung Aberglaube, aber auch Widerchriſtenthum fein kann, je 
nachdem ein unbewußtes (überliefertes und noch nicht erkanntes) heidniſches Element 
oder ein bewußter Gegenſatz gegen Chriſtus darin vorhanden iſt. So iſt die Erkennt⸗ 
niß der Zukunft, in fofern fie Weiſſagung, d. b. vom heiligen Geiſt eingegebene, durch 
das Charisma der Prophetie vermittelte Erfenntniß von der Entwidelung (den Perio⸗ 
den und Epochen, ypövor 7 xaıpol, Apoftelgefch. 1, 7) der Bollendung des Erld- 
fungd = Zeitalters ift, nicht Aberglaube, fondern Glaube; Aberglaube aber, wenn die 
Erkenntniß der Zukunft ohne Rüdfiht auf die Erlöfung dur Ghriftus erlangt (em 
firebt, geſucht) werden will; Naturkraft endlich, wenn dieſe Erkenntniß unwillkürlich 
(inftinctiv) aus dem feinseen Gefühl für den wahren Inhalt der gefammten, dad 
Individuum umgebenden Gegenwart und der aus deren Zuftänden fich ergebenden Fol⸗ 
gen hervorgeht (Ahnung, Divination; — wie die Thiere die Witterung aus ‚ihrem 
Sefammtgefühl für den wahren Zuftand der Atmoſphaͤre zum Boraud erkennen). 
Eben jo kann die Annahme der Eriftenz von f. g. Gefpenftern (Phantasſsmen) je nad 
Maßgabe der eben aufgeftellten Regel bald Glaube, bald Aberglaube fein: dag. bie 
Todten als Phantasmen wienerfonmen Fönnen, darf nach der Schrift nicht geläwgnet 
werden (man wolle fi der aus dem Todtenreich zurückkehrenden Berftorbenen [ber 
Oboth] im A. Teftament und der beiden nicht wohl mißzuverfiehenden Ausfprische des 
Herrn Chriſti erinnern, Matth. 14, 27; Luc. 24, 39); fobald aber diefe Annahme 
ald eine den Menſchen beberrfchende Naturfurcht, oder als Neugierigkeit, ober al& 
Streben nah ‚dem Verkehr mit den Phantasmen (wovon jedoch wieber ber Todten⸗ 
zauber, welcher kein Aberglaube tft, als ſchwere Abgdttereifände, als Teufelsfunft, ab⸗ 
gefondert werden muß) auftritt, ift fie Aberglaube. Oder Zauberei jeder Art iR bald 
Aberglaube — fo lange fie ohne Bewußtfein von den finftern Kräften, welche wider 
Chriſtum und die Selnigen verfuchend auftreten, geübt wird; bald aber auch nicht, 
fondern Abfall von Gott und Widerchriſtenthum — fobald fie in des Xeufrls 
Namen vollzogen wird (f. Zander). Ebenfo verhält es fih mit dem Hexen⸗ 
weien (f. den Artikel). So ik endlich auch die Annahme von Dämonen und dams⸗ 
nifhen Kräften (Beſeſſenheit) keinesweges Aberglaube, wird aber zum Aberglauben, 
ſobald Nuturmittel gegen die Dämonen angewendet werden, und wirb zum Wider⸗ 


- 


Aberratien dad: Bichtö, m 


wenn eine Gingebung an dieſe Weſen ſtattſindet. Aehnlich verhalt es 
ſich mis dem Werfen des Looſes und noch: manchen anderen Dingen. 

Jene heidniſche Gebundenheit des Menſchen an vie. Matur zeigt ſich nun vor 
Allem in der Annahme, daß das ſ. g. Schickſal des Menſchen durch die Natur be— 
fimmt werde, alfo auch aus der Natur erfannt werben koͤnne. Hierher gehört die 
fat unzäßfbare Menge von Vorbedeutungen (omina). und die kaum viel geringere Menge 
Der, Rittel, die‘ Zukunft des Menfchen oder Zußände und Handlungen Unberer aus 
Ber Natur zu. erforfchen (auguria, sorlilegie). An diefem Aberglauben ſind faſt alte 
wenn ſchon längfi chriftlich gewordene Völker much bis: jetzt beibeiligt: nach ‚heute 
danert das uralte, fchon bei Griechen und Mömern vorhandene Glücdwünfchen being 
Niefen, dauert die Aufmerkfjamfeit auf das Öbrenklingen allgemein, noch dauert faſt 
überall dee Angang (dad Begegnen von Menſchen ober Thieren bei dem, Ausgehen 
aus dem Hauſe), nody immer nuch, wenngleich im Verborgenen, dad Grferfihen: einen 
Diebes durch Siebdrehen oder Exbfchläffeldrehen fr. Dias Bleigießen, Gerſtenkürner⸗ 
ſtrenen und ähnliche Dinge find zwar zu Scherzen geworden, ruhen aber doch auf Den 
alten Heidenthume nicht minder als das zu Wetihnachten in dem groͤßten Theil. on 
Deuiſchland übliche Baden von Thierfigusen (Iuls Eber).. Diefe omina und: augurie 
pflegen vorzugsweiſe als Aberglaube (Überglaube im engften Sinn) bezeichnet zu werd 
den, wie dem auch J. Srimm D. Mythol. c. XXXV. 8. 1059-1100 biete Bode 
Bedeutungen fat ausjchließlich unter dem Titel „Aberglaube“ befaßt und abgehandeit Hatı 

* Genauere Erwägumg verdient ed, wie viel. ober wie wenig Aberglaube nicht allein in 
den mannichfaltigen Krankheitäheilungen, welche ohne Anwendung ber genähndichen arzt⸗ 
lichen, durch das Organ der Berdauung.oder durch Abforption wirkenden. Mittel (Arzneien 
im engeren Sinne) vollzogen werben, jondern auch in der Annahme vorhanden fei, daß 
alte oder doch gewiffe Krankheiten aus daͤmoniſchen Einflüffen entſpriugen. Die Unserfcheis 
dung, daß es chriftlich fei, die Krankheiten als Schickung Gottes, heidntiſch, Re als Eins 
wirlungen dee Dämonen (wihtir, „böter Dinger“) zu betrachten, reicht nicht aus, weil 
die eben gedachten Eimwirfungen eben fowohl wie Die Berfuhungen (der. now 
der b. Schrift Hinreichend feitgeßellten Urſprung fein erfahrener Chriſt verkennen wird) 
unter Gottes Schidung ſtehen, wie die fpecififchfte Form berfelben, die Beſeſſenheit, 
augenfcheinlich beweif. Es würde vielmehr darauf: anfonımen, ob bie daͤmoniſchen 
Einwirkungen als felbfiftändig, ohne des lebendigen Gotted Schirfung, wirkende Kräfte 
aufgefaßt würben. Diefe Auffaffung würde Aberglaube fein... Aehnlich müfſen auch 
die Heilungen beurtbeilt werben. Mittel der bezeichneten Art, welche ohne Gott oben 
gar wider Gott angewendet werben, find zweifellos Aberglaube oder Schlimmeres; Dad 
gegen ift es wenigſtens denkbar, daß es auch foldhe Mittel jener au gebe, welche (mn 
Dienſte Gottes Rehm und fomit zuläjig: find. 

Noch ift für eine tiefer eingehende Prüfung dieſes wichtigen Gegenſtandes ſehr 
wenig geſchehen (auch Görres Myſtik langt bei weitem nicht aus, wiewohl dasß Buch 
ein. reiches und ſehr ſorgfältig zu beachtendes Raterial enthält), und es muß offen 
eisgeflanden werben, dab fo lange .vie Charismen der Prophetie und der Heilungen 
in gleichem Grabe wie feit Jahrhunderten von ber Kische vernadhläfilgt werden, eine 
durchichlagende Kritil deſſen, was Aberglaube if und mas nicht, ficherlich nicht ge» 
lingen wird. Die Wege. aber, gu einer ſolchen abſchließenden Kritik zu gelangen, kann 
eine eindringende glaͤubige —— lihen: zeigen. (Die neueſten Formen des Warn 
glanbens, wie Tiſchrücken u. Aehnl., ſ. unter Geifterritieung u. N 1 

Aberratien des Lichts heißt die fcheinbare Berrüdung "ber Geſtirne von bes 
Stelle an der Simmelöfugel, an welcher wir fie wahrnehmen märben, wenn:die: gerud⸗ 
kinige Fortpflanzung des Lichtes. eine augenblidliche, ober ber Beobachter bunch :jeine 
Theilnahme an dem Kreislauf der Erde um die Sonne und an der Drehung ‚bes Eche 
au ihre Are nicht in dußerft raſcher, wenufchon für und unmerflicher, Bewegnag be⸗ 
griffen waͤre. nn 

. Wir beurtheilen die Poſition eines Geſtirns nach der Lage, welche einem Fernrohr 
oben einem Lineal gegeben werden muß; damit der Lichtſtrahl, da h. die Wirkung ak 
Lichtd, das unfer Auge. trifft, längs der Axe des Fernrohrs ‚oder länge der ſcharfen 
Kante jened Aineals zum: Auge gelangt... Ware letgteres in: Muhe oder "gebenuichte iR 


ns Angaben. 


Struhl darchaus Leine Belt, um ben ungemein weiten Bug van der Quelle des Bichto 
bis zum Auge zu durchmeſſen, fo mäßte wem Lineal offenbar Die Richtung der geraden 
Linie gegeben werben, welche das Ange mit dem Geſtirn verbindet. IR aber das Auge 
in einee Bewegung begriffen, deren Scmelligkeit zur Geſchwindigkeit des Lichtes“ ein 
unfern Sinnen noch wahrnehmbared Verhältniß bat, jo muß Der Strahl, welcher zum 
Yuge gelangt und ihm das Object, von dem ed ausging, fidhtbar macht, durch Das 
vom Auge abgelchrie Ende des Lineald ſchon aufgefangen werben, noch che er das 
Yuge am andern Ende berührt. Dazu iſt unter ben veraudgefegten Umſtaͤnden eine 
Neigung des Lineald von ber Richtung zum Geſtirn gegen den vom Auge zurkds 
gelsgten Weg esforberlih, eine Meigung, welche um fo größer ausfällt, je größer bie 
Geſchwindigkelt des Auges if. 

Sell ein fenkrecht nienerfallender Regentropfen durch eine e Bople Röhre von em 
heblicher Länge umaufgehalten hindurchgehen, fo wird dieſe bie ſenkrechte Richtung 
erhalten müflen, wenn der Beobachter, welcher fie halt, in Ruhe verharrt. Iſt diefer 
aber im ſchnellem Laufe begriffen, fo muß er fein Rohr offenbar im Sinne ber —— 
ſeiner Bewegung gegen die Erde ſenken, welcher Vorgang am beſten geeignet iſt, die 
Erſcheinungen bei der jährlihen und täglichen Aberration ver Firſterne zu er⸗ 
lautern. Jene wird durch Die Bewegung der Erde in ihrer Bahn um die Sonne, 
Diefe (nur in den feltenften Faͤllen beachtenswertb) durch ihre Axendrehung her⸗ 


vorg 

In Folge der jährlichen Aberration beſchreibt jeder Firſtern im Verlauf eines 
Jahres eine kleine Ellipſe um feinen ſogenannten mittleren Ort, welchen ex bei 
monenianer Fortpflanzung deq Lichtes unausgeſetzt einnehmen wirbe. Die große Use 
Diefer Ellipfe beträgt für alle Stern ohne Unterſchied ungefähr 40 Bogenferunden 
und erſtreckt ſich nach einer Der Ebene der a das parallelen Richtung, während 
ihre kleine Are fich mehr und mehr verfürzt, je mehr das Geſtirn ſich der Ekliptik nähert. 

Die Entselung der Aberration um das Jahr 1727 ift eine& von den vielen Ber 
wenſten des berühmten engliſchen Aſtronomen James Bradley. Da ſie ſich ohne 
die Bewegung der Erde nicht wohl erklaͤren ließe, ergab ſie zunaͤchſt eine, freilich für 
jene Zeit kaum mehr erforderliche, directe Beſtaͤtigung des Kopernikaniſchen Welt⸗ 
foftems, welches die Drehung und Bewegung der Erde behauptet. Viel wichtiger für 
Die Wiffenfchaft war fie aber aus dem Grunde, weil ohne ihre Kenntniß die zu ver 
ſchiedenen Zeitpunkten angeftellten Beobachtungen des nämlichen Geſtirns nicht ‚richtig 
mit einander verglichen werben konnten und weil ſonach erft feit ihrer Entvedung eine 
bie dahin wergeblich exfirebte Genauigkeit und Schärfe der aſtronomiſchen Beobachtungen 
möglich wurde. In des That hat die Beobachtungskunſt durch Bradley umd feit feiner 
Beit, wennſchon nicht ohne zeitweilen Stillftand oder Rüdichritt, ungemein große, 
zum Theil wahrhaft bewundernswürdige Fortſchritte gemacht. 

nennt man alle Leiftungen in wirthſchaftlichen Gütern, 
zu denen Jemand durch Abbängigkfeitsverhälinifferechtlih verpflichtet 
if. Abgaben ind daher zunächft zu unterfcheiden von freiwilligen Gaben, im 
dem mit dem Begriffe der Abgaben immer die rechtliche Verpflichtung verbunden if. 
Die Abgaben find ſodann den Dienften enigegenzufegen, denn dieſe beſtehen in per- 
fönlihen Leitungen, jene in wirthſchaftlichen Gütern (Geld oder Natura 
Ken). Abgaben unterfcheiden ſich endlich von andern Keiftungen, welche rechtlich ger 
fordert wegen Tönuen, dadurch, daß fie ein Abhaͤngigkeitsverhaͤltniß zwiſchen Dem Be⸗ 
sechtigten und Verpflichteten vorausfegen oder doch aus einem folgen Berhältnifie 
entfpsungen find. Abgaben Eönnen allerdings Aequivalente fir Werthe ober Entſchaͤ⸗ 
digungen irgend welcher Art fein; allein fie fegen irgend eine dauernde rechtliche Ver⸗ 
pftichtung voraus, aus welcher fie entſtehen. Gegenleiftungen im Handels verkehr ſind 
daher kein⸗ Ahgaben, und eben fo wenig küunen Vergütigungen für ‚einen. Schaden, den 
einer dem andern zugefügt hat, dahin gerechnet werben. 

MWgaben, welche auf Anorbnung einer böähern Gewalt entrichtet werden, ment 
man Auflagen. Laſten werben die Abgaben genannt, in jsferr fie als auf Perſonen 
uub Gigenihum. Haftend augefehen werben; boch umfaßt ber Begriff Laſten vielerlei 
Berpfidstungen, welche nicht. ald Abgaben betrachtet werben. Eümnen. Laften Find auch 


Ahgaben. tor 


Dienfte, und ſelbſt Dienftbarkeiten (Geroitnten) werben darunter gerechnet. Gtenern 
And Abgaben, weldye die Mitglieder einer Genoffenfchaft zur Erreichung gemeinianter 
were machen. Steuern im eigentlihen Sinne bilden daher nur einen Theil der Ab⸗ 
gaben. Indeſſen hat man in neuerer Zeit den Begriff der Steuern fo ausgedehnt, 
dag man mit dieſem Worte oft wenigſtens alle öffentlichen Wbgaben "(Abgaben am 
Staat und Gemeinde) bezeichnet. Bei den Franzoſen bat der Begriff der Auflagen 

) eine ähnliche Ausdehnung erhalten. Und nicht ohne Grund, denn bei ihnen 
haben die Könige fehr frühe das Recht erlangt, ohne Ritwirkung der Stände beB Landet 
Steuern aufzulegn. (Rar. Kauft in feinen 1641 gebrudten Consiliis pro Aerario 
[Class. V. Ord. DV.} fagt: De regibus Galliae dicitur, quod sint reges bestiarum 
atii hominum propter impositiones, et alia onera, quibus subditos onerare sotent.) 
Die Engländer gebrauchen in ähnlicher Weife zur Bezeichnung der Steuern das 
Wort Schatzungen (tnxes), worin ſich ebenfall® eine nationale Eigenthumlichkett 
bekundet. 

Den Gegenſtaͤnden nach, worin die Abgaben geleiſtet werben, zerfallen dieſelkben 
in Ratural- und Geld-Abgaben. Nach dem Grunde der Verpflichtung ſind fie 
Brivat- oder öffentliche Abgaben; nach der Zeit, in der fle wiederkehren, orden® 
tiche und außerordentliche. 

A. Böllerrehtlihe Abgaben. Am ſchwerſten von allen Abgaben werben 
die völkerrechtlichen Abgaben empfunden, weil fle das „Gebot Des Herrn" zur 
ausſchließlichen Grundlage haben. Dahin gehören Tribut und Gontributionen, 
jene als ordentliche, diefe gewiſſermaßen als außerorbentliche Abgaben. Bellegte Votte 
tributpflichtig zu machen, war früher allgemein. So mußten z. B., um nicht weiter 
zu gehen, einft die Sachſen unter dem Namen inferenda einen Tribut an die Franken 
entrichtöh; fo waren die Herzöge von Polen und Böhmen und die Könige von Ungarn 
den deutfchen Kaifern tributpflichtig. Bei den Bölkern chriftlicher Bilpung in der neuern 
- Zeit iſt ver Tribut außer Uebung gekommen. In Feindes Rand aber von den Unter 

thanen deffelden Eontributionen zu verlangen, wird aug jeßzt noch ale Grunbſah 
des Volkerrechts betrachtet. (S. Heffter: das europätfche Boͤlkerrecht der Gegenwart 
$ 131.) Wenn aber behauptet wird, daß ſich ein Maß für die Contributionen nicht 
feftftellen Tafle, fo können wir biefer Anficht nicht beitreten, vielmehr möchten wir bes 
baupten, daß ſich die Gontributionen auf die Unterhaltung und Berpflegung der Treppen 
beichränfen müflen und weitere Forderungen für Kriegsentſchadigungen nur beim Frie⸗ 
densfchluffe geltend gemacht werben bürfen. 

B. Staatd-Abgaben. Die Abgaben, welche der Staat erhebt, laſſen fldy 
auf eine doppelte Grundlage zurüdführen: auf die Grundherrlichkeit (Territotial⸗ 
hoheii) und auf die Staatshoheit. Die auf Grund der erflern erhobenen find 
Abgaben im engern Sinne, die auf Grund der Iehtern verlangte Stenern. Beide 
Klaffen von Einkünften fließen bei den verfchiedenen Völkern und zu den verſchiedenen 
Zeiten mit ungleicher Ergiebigkeit. Wenn Volker im Anfange ihrer Entmidelung 
ftehen, find die erfleren vorherrſchend, je weiter diefelbe vorfchreitet und bie Bedarfniſſe 
fi ſteigern, deſto mehr werden Steuern nothwendig. 

Auf der Grundherrlichkeit des Staates beruhen: 

1) die Abgaben, welche der Staat ſich von Inlaͤndern und Auslandern für de 
3 ng feiner Anftalten entrichten läßt, als da finn: Hafengelder, Lootſengelder, 
Chaufſeegelder, Flußzoͤlle, Durchfuhrzölle und was ber Art mehr if. Ste find eine 
Entſchadigung für gewährte Vortheile, ohne daß im einzelnen Falle fle ald ein genaneß 
Aeyuivalent betrachtet werden fönnten; 

2) die Schußgelder, welche Hinterfaflen zu entrichten haben. So bekanntlieh 
ehemald bie Juden an den Kaiſer oder die Landesfürſten. 

Steuern (Stiure, Stiote) beißen Diejenigen Abgaben, welche die eigentlichen 
Staatogenoſſen zur Beftreitung der öffentlichen Bedürfniffe leiſten. Die urſprungliche 
Bedeutung des Wortes iſt: „Stütze“, nie dies noch aus der Mebenkart: zur 
Steuer der Wahrheit hervorgeht. Die Iateinifche Bezeichnung, welche man baflır 
gebruuchte, war adjutorium (Hälfe), wovon im ehemaligen Frankreich die Trankſteuern, 
ühdes, und auch das Wort douane, dogana, abzuleiten if, Da bie Steuern ſtets auf 





L Wan 


das Geſuch oder die Bitte (pelilio) des Fürſten an die Stände des Lauden verwilligt 
wurden, ſo wurden ſie davon Beden genannt. (S. dieſe Artikel.) 
Ueber Weſen und Natur der Steuern weichen die Anſichten der Staatsgelehrten 
weit yon einander ab, und es wird zum richtigen Verſtaͤndniß der Sqche nicht unnütz 
jein, die wichtigften derſelben bier kurz zu beleuchten, Es find aber vorzügli vier 
Punfte, auf die es dahei ankommt, nämlich 1) wer die Steuern zu tragen habe, 2) in 
welchem Verhältniß die Einzelnen zu denfelben Beranzuziegen feien, 3) bis zu welchem 
Maße der Staat Steuern erheben dürfe, 4) ob die Steuern aus dem Vermögen oder aus 
dem Einfommen zu entnehmen jeien, woraus dann der Modus der Umlage beſtimmt wirb. 
Die ältefte Anſicht und zu der man in ber jüngften Zeit wielfach. wieder zurück⸗ 
gekehrt ift (fo 3. B. Bluntfehli Staatsrecht 10. Buch“5. Cap), leitet die Steyerpflicht 
einfach aus Dem Unterthanenverhältniß her. Auf dieſem Verhältniffe beruhen allesdings 
alle Pflichten, zu welchen die Staatögenofjen gegen den Staat verbunden, find. Allein, 
eben darum ift daffelbe zur Begründung der Steuerpflicht nicht zulänglid. Es würde 
daraus allerdings folgen, daß Jeder, welcher Unteridan des Staates iſt, wie zu andern 
Staatälaften, auch zu den Steuern herangezogen werben dürfe. Man will jedoch wi 
wiffen, warum Jemand überhaupt zu Zeiftungen an den Staat und zu Steuern a 
‘einem Theil diefer Leiftungen angehalten werden könne, fondern man will den befondern 
Grund derjenigen Leiftungen Eennen, welche wir Steuern nennen, und namentlich aud), 
in welchem Verhältniffe die Einzelnen von diefen Abgaben getroffen werben follen. Das; 
bloße Unterthanenverhältnig würbe hierzu Feine andere Regel an die Sand geben, als 
daß der Staat nimmt, wo er kann, und man hätte ſich hoͤchſtens als politifche Maria 
einzufchärfen, nicht zu viel zu nehmen. Auch über Die Stage, ob die Steuern auf 
dem Vermögen oder aus dem Einkommen zu nehmen feien, bleiben wir unbelehrt. - 
(Was Bluntſchli an dem angeführten Orte darüber fagt, möchte ſchwerlich befriedigen.) 
Andere ſehen in den Steuern nur eine Vorwegnahme ded Staates von dem, 
Sorialvermdgen. (So z. B. Stahl, Rechts⸗ und Staatölehre II. Abth. 4. Abfchn, 
2. Cap.) Es gäbe nämlich ein Nationalvermögen over ſociales DVermügen, das nicht 
Summe ded Vermögens der Einzelnen jei, fondern nur im Ganzen beftehe, Das ur« 
— allein der Societät ſei als ein ungeſondertes aber auch ungebildetes, zum 
Kr als bloße Möglichkeit des beftinnmten Vermögens, das erſt zum Vermögen ber 
onderten Einzelnen werde und in ihrem Befig erſt beftimmte Geftalt erhalte. Das 
siert der Befteuerung nun fei Diefed Socialvermögen, nicht da8 Vermögen der Gin« 
zelnen. Der Staat nehme alfo die Steuern von der Societät und ihrem Vermögen, 
* folglich von jedem Einzelnen, in wie weit er an dem letztern, das iſt an der 
Röglichkeit des Erwerbes und Genuſſes, participire. 
Darnach waͤren alſo die Steuern nicht ſowohl, was ihr Name ſagt, Beiträge den 
Einzelnen, aus ihrem eigenen Vermögen zur Beftreitung der Staatdlaften, ald viel 
mehr Zurüdnahme deſſen, was dem Einzelnen gar nicht gebührt, fondern nur durch 
die Verflechtung der Wirtbfchaftsverhältniffe in ihren Beſitz gelangt ift. 

Wir räumen gern ein, daß dad Dermögen der Nation nicht ald aus dem Ver⸗ 
mögen der Einzelnen zufammengefegt betrachtet werben kann, fondern ein über letzteres 
übergreifended Ganze bildet. Auch geftehen wir zu, Daß die Kraft zu erwerben und 
zu genießen, welche die Einzelnen haben, nicht die bloße Frucht ihrer abgefonderten 
und auf ſich allein beruhenden Beftrebungen ift, fondern ihnen mit aus dem Zuſam⸗ 
menhange erwächft, in welchem fie zu dem Ganzen fliehen, allein wir koͤnnen Darum 
Doch ‚nicht einräumen, daß der Staat, indem er Steuern erhebt, nur Das Vermögen 
der Sorietät, nicht Dad Vermögen der Einzelnen in Anfpruch nehme, Es würde Died 
hen Degriff des Eigenthums vernichten. Vermoͤgen der Societät if nur, was nicht 
n Dad rivaleigent um übergeht, wie Domänen, Lanbgüter und Forſten, Bergwerfe, 

. Straßen, Eifenbabnen. Aus diefen bezieht der Staat Einkommen, welches 
wirkliches GSocietätdeinfonmen if. Was aber der Staat ald Steuer fordert, Dad vern 
langt ex. old Meittgg der Einzelnen, aus ihrem Eigentbum Will man daher, ber 
meilen, warum hie Unterthanen des Staates Steuern zahlen müſſen, fo muß dargethan 

when, warum der Stagt zur Beſtreitung feiner Bebürfniffe das Privgteigenthum in 
Kalorug ‚nehmen kann. Died beweift aber diefe Theorie nicht. Wie heſtechend fie 


Abgaben. ib 


baber auch auf den erften Blick erfcheinen mag, fo Fönnen wir dieſelbe Doch zur Er- 
reichung des angeftrebten Zieled nicht für zulänglich erachten. 

Adam Smith, welcher ald der Vater der Staatöwirthfchaft in ihrer heutigen 
Geſtalt betrachtet wird,” will die Steuern als Unfoften der nationalen Wirthfchaft 
angefehen wiſſen. (Unterfuchungen Buch V. Cap. 2 Th. 2.) Er begründet darauf 
ſowohl die Verbältnigmäßigfeit, als auch die Nothmendigfeit, dieſelben auf daß reine 
Einkommen zu legen. Diefe Anffaffung aber ift doppelt unrichtig. Einmal nämlich 
iſt der Staat Feine bloße Gewerbsgemeinſchaft, vielmehr iſt Die Sorge des Staates 
für die wirthſchaftliche Wohlfahrt feiner Iinterthanen nur eine feiner Aufgaben und 
keineswegs diejenige, welche fin bie übrigen al8 maßgebend angefehen werden Fännte. 
Selbſt aber, wenn man den Staat als eine bloße Erwerbsgenoffenfchaft anfehen wollte, 
würde doch nicht daraus folgen, daß die Steuern nach Verhältniß des reinen Ein 
kommens der Einzelnen, jondern vielmehr, daß fie von dem rohen Einfommen genommen 
werden müßten. 

Andere (z. B. J. B. Say, Schmitthenner u. And.) betrachten die Steuern äls 
einen Theil der „nützlichen Verwendungen“, welche die Staatsbürger von ihrem 
Einkommen machen, und behaupten daher, daß jeder derſelben nach Maßgabe Mr Vor⸗ 
theile, welche er von dem Staate genießt, auch zu den Laſten des Staates beitragen 
müſſe. — Der Staat ſteht nach dieſer Anſicht mit ſeinen Unterthanen in einer Art 
von Tauſchverhältniß. Die Regierung pröbueirt, wie man ſich ausdrückt, Recht, Sicher⸗ 
heit, Wohlfahrt, Bildung, und verhandelt dieſe Producte gegen die Steuern an Ihre 
Antertdanen als Abnehmer. — Das Maf, in welchem die Einzelnen an diefen Vor—⸗ 
theifen Theil nehmen, richte ſich nach dem Maße ihrer Kaufkraft, und da dieſe durch 
Sad Maß des Einkommens eines Jeden beftimmt würde, fo müßten die‘ Steuern fi 
nach dem Einfommen richten. — Dadurch wird aber der Staat zu einer bloßen Pri⸗ 
vat⸗Anſtalt herabgedrückt, und es iſt ganz natirlid, daß man derſelben moͤglichſt zu 
entbehren ſucht. 

Das Recht des Staates, Steuern zu fordern, und die lit der Staatögenoffen, 
Steuern zu bezahlen, kann nur richtig begriffen werden, werm man Auf bie Iekten 
Grundlagen des Staatöverbandes felbft zurüdgeht und namentlich die Stellung des 
Staated zur nationalen Wirthichaft ind Auge faßt. Der Staat iſt nämlich nicht bloß 
eine Verbindung von Perſonen, fonbern er ift eine Verbindung von Perfonen und 
Sachen zugleih. Zum Staate gehört insbefondere als mefentliches Element das Ter- 
ritorium. In der Benugung diefes Territoriums und der ihm inwohnenden ober 
damit verbundenen Naturkräfte tritt Die Volkswirthſchaft hervor. Die Volkswirthfchaft 
bildet daher eine mefentliche Seite des nationalen ebene, deſſen Träger der Staat Hfl. 
Die Stellung des Einzelnen zum Staat und umgekehrt des Staates zu dem @inzelnen 
wird Daher in wirtbfchaftlicher Beziehung vermittelt durch Die Stelle, welche der Ein 
zelne in der Wirthſchaft des Volkes einnimmt. In ſofern nun der Staat zur Errich⸗ 
tung und Erhaltung von öffentlichen Anftalten die Kräfte feiner Unterthanen in Ans 
fpruch nehmen muß, Tann er diefelben nur im Anſpruch nehmen na Maßgabe der 
Stellung, die ein Jeder in ber nationalen Wirthſchaft einnimmt. Da nun diefe Stelle 
eine ungleiche ift, fo muß bie Steuerkraft der Einzelnen zu Ihr in genau entſprechendem 
Verhaͤltniß ſtehen. 

Die Steuerpflicht iſt alſo allerdings eine Folge des Unterthanen » Berhältniffes, 
aber nicht bloß dieſes Verhaͤltniſſes überhaupt, ſondern dieſes Verhältniffes in feiner 
wirtbfchaftlichen Bebeutung. Daher werden auch Fremde, welche dem Gtaate nur in 
wirtbfchaftlicher Beziehung angehören (Worenfen) doc zu den Steuern herangezogen, 
mas doch nicht gerechtfertigt wäre, wenn ber Unterthanenverband als folcher die Grund⸗ 
lage des Befteuerungsrechtes außmachte. 

Auch nimmt der Staat die Steuern von der Nation, aber fchöpft fle nicht’ aus 
einem Societätövermögen, fondern forbert fle von den inzelnen, aber er forbert fie 
von ihnen als Gliedern der Nation und nach Maßgabe ihrer wirthfchaftlichen Stellung. 
in der Nation, welche, wie erörtert, ihre Steuerkraft ausmacht. 

Die Verhaltnißmaßigkeit der Sterern iſt indeffen nicht fo abfolut zu verftchen, 
als ob dabei gar Feine andere Radichten genommen zu werben brauchten. Bor alten 


u Yardın. 

Dingen muß vielmehr in Betracht Tommen, ob die Einrichtungen ober Anfalten, zu 
deren Errichtung oder Unterhaltung Steuern gefordert werben, wirkliche Staatd - Ans 
Ralten find. Der moderne Staat bat Vieles in die Hand genommen, was nicht Staatö« 
Angelegenheit, ſondern Angelegenheit einzelner ‘Provinzen, Gemeinden und Corporati⸗ 
nen ift, und was bei eines vollfommneren Ausbildung des corporativen Lebens felbfl- 
verftändlich nur die Mitglieder dieſer Genofienfchaften in Anfpruch nehmen würde. So⸗ 
dann wmuß in Betracht kommen, ob Einzelne oder ganze Klafien der Staatsgenoſſen 
nicht fchon durch andere Staatsleiftungen betsoffen werden, welche für fie eine Berück⸗ 
ſichtigung bei den Steuern befürworten; denn die Steuern find nicht die einzige Art, 
wie die Staatögenofien zu den Staatdlaften beitragen können. Bei einem vollſtaͤndig 
bevormundeten Volke freilich, welches nicht an der Leitung der Staatögeichäfte Theil 
nisamt, fondern ſich durch ein bezahltes Beamtentbum vertreten läßt, welches fid im 
. Kriege nicht felbft vertheibdigt, fondern dur ein bezah Soldheer vertheidigen läßt, 
wo alfo Feine öffentlichen Functionen übrig bleiben, als das Steuerzablen, da fünnen 
‚nicht nur, fonbern müſſen Die Steuerzahler als folche mit einander verglichen werben. 
Wo aber noch andere öffentliche Verrichtungen ftattfinden, wo öffentliche Aemter und 
Kriegadienſt ald Staatöleiftungen. angefeben werben, da müflen die Steuern mit den 
übrigen Staatsleiſtungen verglichen und in allen diefen Dingen muß Verhaͤltnißmaͤßigkeit 
heabeigeführt werben. | 

Die Summen, weldye der Staat ald Steuer fordert, haben aber ihre Grenzen. 
Der Staat kann nicht Steuern fordern, fo viel er will. Nur für die Einrichtungen 
und Anflalten, welche des Staat im öffentlichen Interefle machen und unterhalten muß, 
kann er. die Beihülfe der Unterthanen in Anfpruch nehmen, und er fann fie nur dann 
in Auſpruch nehmen, wenn er aus feinen übrigen Einfünften und durch zweckmäßige 
Eufparniffe die erforderlichen Summen nicht aufbringen Fann. Um Steuern zu forbern, 
muß alfo vor allen Dingen das Bedürfniß nachgewieſen fein. Es ift diefer Grund⸗ 
ſat um fo entichiedener feftzubalten, ald die Gefchichte beweift, daß die Steuern eine 
ganz außerorbentliche Mhaͤſtonskraft haben. Hat man fle einmal eingeführt, fo find fle 
nicht leicht wieder zu befeitigen, weil: fih im Staate immer und immer Gelegenheit 
findet, einmal vorhandenes Einfommen gut und zwedmäßig zu verwenden. ine Ber 
mehrung der Steuern ift daher ein fo wichtiger Schritt, daß man ſich nur dann dazu 
entfchließen muß, wenn fein anderes Hülfsmittel mehr übrig if. 

Die Steuern haben aber auch noch eine andere Grenze. Sie müflen für bie 
Staatögenofien erfchwinglich fein. An Gelegenheit, Einkünfte, die man beſitzt, im 
öffentlichen Intereffe zwedimäßig zu verwenden, fehlt es nie. Auc find die Vortheile, 
welche aus öffentlichen Anflalten erwachien, für die Einzelnen jo groß, daß die Steuern, 
melche dafür aufzubringen find, ald ein unverhältnigmäßig Eleiner Preis betrachtet wer⸗ 
den müflen. Dennoch fönnen auch um einen geringen Preis folche Anftalten zu tbeuer 
werben. Es gilt ald eine Regel für die Privatwirtbichaft, nichts zu kaufen, wad man 
nicht nothig hat, wie billig es auch an fich betrachtet erfcheinen möge. Diefe Negel 
sit in erhöhten Maße für die öffentlichen Verhältniffe. Anftalten und Einrichtungen, 
welche der Staat macht unb wozu er die Steuerkraft feiner Unterthanen in Anfprud 
nimmt, müflen nicht bloß gut, fie müflen nothbwenpig fein, db. 5. es muß der 
Mangel diefer Einrichtungen erhebliche Mipftände zur Folge haben und zwar foldhe, 
melche ſchwerer ins Bericht fallen, als die dafür aufzuwendenden Steuerfummen. 

Ob die Steuern auf Dad Vermögen oder auf dad Einkommen zu legen feien, 
hängt von der Beichaffenheit derfelben ab. Daß gewöhnliche regelmäßige Steuern auf 
dad Einfommen und nicht auf dad Vermögen fallen müflen, gebietet fchon bie Müd- 
fiht auf die Nachhaltigkeit derſelben. Man darf vie Henne nicht fchlachten, wenn fie 
Eier legen fol. Aber nicht bloß müflen die orbentlichen Steuern auf das Einfommen 
fallen, fondern fle dürfen auch nur einen verhältnipßmäßigen Theil dieſes Einkommens 
wegnehmen. Die Steuerzahler müſſen die Luft zu erwerben behalten. Siemand 
will bloß erwerben, um Steuern zu entrichten. Er will auch feine eigenen regel 
mäßigen Audgaben aus feinem Einkommen beflreiten und zugleich etwas überfparen 
Eönnen. Darum if ed von der größten Wichtigkeit, daß die Steuern regelmäßig 
nur einen folchen Theil der Einkünfte des Volkes in Anfpruh nehmen, daß ihm 





Wgaben. u 


weber feine gewohnten Bedürfniſſe beichnitten, noch auch ber wirthſchaftliche Fori⸗ 
fhritt gehemmt werbe. 

Anders ald mit den ordentlichen verhält es fich aber mit den außerordentlichen 

Steuern. Diefe brauchen nicht auf dad Einkommen, jondern koͤnnen auf Das Vermoͤ⸗ 
gen gelegt werben, vorausgejegt, daß fie zur Erreichung von folchen Zweden dienen, 
weldye der Gegenwart zu Gute kommen. Ban bat zwar durch Zuhülfenahme der An 
leihen das Mittel gefunden, auch außerordentliche Steuern in orbentliche zu verwandeln 
und fie dadurch, flatt auf das Vermögen, auf dad Einkommen zu legen. Daß aber 
Bolf und Staat aus diefem Spfteme weientlichen Nugen ziehen, glauben wir beftreiten 
in mäfen. Wir werden an einer anderen Stelle und darüber näher ausfprechen. 
(©. .) 
Außerordentliche Steuern werben allerdings vorzüglich yon den befigenven Klaffen 
getragen, indem die Nichtbefigenden nur aus ihrem Einkommen Steuern zu entrichten 
im Stande find. Sie haben dafür aber auch viele Rechte, welche die Nichtbeflgenden 
nicht haben Tönnen, und jedenfalls gebühren ihnen folche Rechte, wo fie dieſelben nicht 
haben, folgeweife aber auch die damit in Zufammenhang ſtehenden Pflichten. 

Die Steuern werben nad der Art und Weife, wie ſie erhoben werben, eingetheilt 
in Directe und indirecte Steuern. Jene werden von DBellg und Perſonen nad 
Maßgabe der Steuerpflicht, dieſe werben von ſolchen Handlungen erhoben, welche eine 
Steuerpflicht hekunden. 

Direste Steuern haben den Vorzug, daß das Maß von LKaften, welche den Cin⸗ 
zelnen aufgelegt werben, und dad Berhältniß zu der Belaftung Anderer genau befannt 
ik. Sie haben den Nachtheil, daß, da fi die Steuerkraft der Einzelnen ſchwer 
beweflen läßt, fie leicht ungleih werden. Dazu Tommt, daß die Veranlagung in Der 
Hegel Eoftfpielig if, und die Bezahlung, wenn ſie nicht in fehr kleinen Raten Rattfin« 
den kann, den Steuerpflichtigen mit einem Male und vielleicht zu ungelegener Zeit ſtark 
in Anfipruch nimmt. 

Die directen Steuern lafien ſich unter folgende Klaffen bringen: 

a. Berfonenfeuern, d. hRKopfſteuern, -und Klaſſenſteuern; 

b. Steuern vom Beſitz — und zwar entweber vom Immobillass ober Mobi- 
liarbeflg (Grundſteuern, Häuferfteuern, Zurusfteuern) ; 

c. Steuern vom Gewerbebetriebe — Gewerbefteuern ; 

d. Einfommenfteuern. 

Die indirecten Steuern haben den Vortheil, daß fle meift nur in kleinen Detraͤ⸗ 
gen und in der Megel dann entrichtet werden, menn ber Steuerzahler ſich in ber Rage 
befindet, Zahlungen machen zu fünnen. Sie verbinden fig bald fo innig mit ben 
Lebensverhältniffen, daß fie faum noch empfunden werben. Außerdem haben die meiſten 
derſelben den Borzug, daß ihre Beträge mit dem wachjenden Wohlſtande des Volkes 
eigen. Diefes Alles find Umſtaͤnde, welche fle dem Yinanzmanne empfehlen. Sie 
baben aber auch entfprechende Nachtheile. Bor allen Dingen geben fie Beranlaffung 
zur Defraubation, wirfen dadurch nachtheilig auf die Moralität des Wolle — umk 
erfordern ein bebeutendes Perfonal zur Ueberwachung und Erhebung. Die Beträge, 
welche das Volk zahlt, müflen aljo einem Theile nach auf die Sicherung und Erhe⸗ 
bung der Steuer verwendet werden, und nur ein Theil wird dem Staate zur Veſtrei⸗ 
tung feiner Ausgaben zur Berfügung geftellt. Dabei wirken fle mehr oder weniger 
bindernd auf den Verkehr und erfchweren auch dadurch Die Steuerlafl. 

In der Hegel werden die inbirecten Steuern nicht von denjenigen entrichtet, 
welche fie tragen follen, fondern müflen von Andern vorgefchoffen werden. Daraus 
ergeben fi neue Mißſtaͤnde. Eines Theils namlich laͤßt ſich nur ſehr ſchwer das 
Maß beſtimmen, in welchem die Einzelnen ven der Steuerlaſt getroffen werben, andern 
Theile Hat der Steuerpflichtige nicht bloß die Steuer zu entrichten, fondern auch Die 
Binfen, welche derjenige, der die Steuer vorfchießt, nie verfehlt, fich zu berechnen. 

Die indirecten Steuern find entweder Steuern auf die Uebertragung des Beſtges 
und werden dann in der Regel ald Stempel- Abgaben oder Einregifirirungs- Ben 
bähren erhoben, oder ſie follen auf ven Verbrauch fallen und Tönnen dann in Aeci- 
fen und Zolle eingeteilt werben. 


u Keen. 


Dingen muß vielmehr in Betracht kommen, ob bie Einrichtun. 


deren Errichtung oder Unterhaltung Steuern gefordert werben, 


Balten find. Der moderne Staat hat Vieles in Die Sand genonm 
Angelegenheit, jondern Angelegenheit einzelner Provinzen, Gem: 
nen ift, und was bei einer vollfonmneren Ausbildung des cor 
verftändlich nur die Mitglieder dieſer Genofienfchaften in Anjpruu 


dann muß in Betracht kommen, ob Einzelne oder ganze Siiui 
nicht fchon durch andere Staatsleiftungen betroffen werben, ıL.. 
ſichtigung bei den Steuern befürworten; denn die Steuern ji... 
wie die Staatögenofien zu den Staatslaften beitragen können. 
bevarmundeten Volke freilich, welches nicht an der Leitung 
nimmt, fondern ſich durch ein bezahltes Beamtentbum vertret. 
. Kriege nicht felbft vertheidigt, fondern durch ein bezabltck 7 
wo alfo Feine öffentlichen Functionen übrig bleiben, als du 
nicht nur, fondern wüflen die Steuerzahler als foldhe mit . 
Wo aber noch andere öffentliche Verrichtungen ftattfinden, ' 
Kriegsdienſt ala Staatsleiftungen angefehen werden, da nit“ 
übrigen Staatdleiftungen verglichen und in allen dieſen Dinar 
herbeigeführt werben. 
Die Sunmen, weldye der Staat ald Steuer fordert, ' 
Da Staat kann nicht Steuern fordern, fo viel ee will. 
und Anflalten, melde der Staat im öffentlichen Interefle nın- 
Tann er. die Beihülfe der Unterthanen in Anfpruch nehmen, “ 
in Anfpruch nehmen, wenn er aus feinen übrigen Einfünft: 
Erſparniſſe die erforderlichen Summen nicht aufbringen kann 
muß alfo vor allen Dingen dad Bedürfniß nachgewieſen 1: 
fag um fo entfchiedener feſtzuhalten, ald die Gefchichte bewent 
ganz außerorbentliche Adhaͤſtonskraft haben. Hat man ſie einı 
nicht leicht wieder zu befeitigen, weil fih im Staate immer 
findet, einmal vorhandenes Einfommen gut und zweckmaͤßig au 
mehrung der Steuern ift daher ein fo wichtiger Schritt, dan 
entfchließen muß, wenn fein anderes Hülfsmittel mehr übria 
Die Steuern haben aber auch noch eine andere Gren:: 
Staatögenofien erfchwinglich fein. An Gelegenheit, Einfüni 
öffentlichen Intereffe zwedmäßig zu verwenden, fehlt es nie. 
weldye aus öffentlichen Anfalten erwachfen, für die Einzelnen 
welche dafür aufzubringen find, ald ein unverhältnipmäßig kle 
ben müflen. Dennoch koͤnnen auch um einen geringen Preis 
werden. Es gilt ald eine Regel für die Privatwirtbfchaft, nı: 
wicht mötbig bat, wie billig es auch an fich betrachtet erfche: 
gilt in erhähten Maße für die öffentlichen Verhältniffe. Ant‘ 
welche der Staat macht und wozu er die Steuerkraft feiner ' 
nimmt, müflen nicht bloß gut, fie müflen nothbwendig . 
Mangel diefer Einrichtungen erbeblihe Mipftände zur Folge 
melche ſchwerer ins Gewicht fallen, ald Die dafür. aufzuwende 
Ob die Steuern auf dad Vermögen oder auf das G' 
hängt von ver Beichaffenbeit derfelben ab. Daß gewöhnlich: 
das Einfommen und nicht auf das DBermögen fallen müflen, 
ht auf die Nachhaltigkeit derfelben. Man darf die Henn: 
Gier legen fol. Uber nicht bloß müflen die orbentlichen St 
Uen,. fondern fle dürfen auch nur einen verbältnißmäßigen 
gnehmen. Die Steuerzahler müjjen bie Luft zu ermeı 
U bloß erwerben, um Steuern zu entrihten. Er will . 
igigen Ausgaben aus feinem Einkommen beftzeiten und au 
‚nnen. Darum if es von der größten Wichtigkeit, daß 
aur einen foldhen Theil der Einkünfte des Volles in Anir 


1; 
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1 
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: jaben. 113 


"m zwar Die Kirche nicht bloß eine perfönliche, 
it doch die fubftantielle Grundlage derfelben 

“t zu den Kirchenlaften beizutragen, kann daher 
‚nacleben werden. Wo die Kirchenlaften, naments 
Me Baulaſt, einen dinglichen Charakter gewonnen 
ven Gebotes, oder urjprünglich freiwilliger lieber» 


* tanctionirter Verpflichtung betsachtet werben. 


. erbebt, find theild Abgaben für Amtshandlungen, 
unichtungen für Die Außdfertigung von Jeugniffen 
“ct mehr ift. 

bgaben fommen in der römifch=Fatholifchen, zum 


hiichen Kirche, noch Abgaben vor, welche die 
. „ad den Papf zu entrichten haben. Auch Diele 


„tcrfebrend, theils nur bei befonderen. Gelegen- 
‚ic Namen (wie Synodaticum, Zehntn, Annaten, 
..) und werden daher unter diefen dargeſtellt. 
en. Die gutöberrlichen Abgaben find zwar jegt 
“oben oder abgelöfl. Da aber diefe Verhältniffe 
—zum Theil noch beftehen oder eben erft befeitigt 
"iz jein, Davon eine zuſammenhaͤngende Lieberficht 


"hen zwei mwefentlich verjchiedene Grundlagen gehabt. 
* der Grundherrfchaft, andern Theild waren fle 
ungen. Die erfleren waren eine Folge der recht- 
e der Grundbeflger in Bezug auf alle Diejenigen 
v und Boden aufbielten, oder fich feiner Vogtei 
. mvechtlicher Art, hatten aber den Charakter einer 
ausſchließlich eine Folge der Beflt- und Eigen⸗ 


ı entweder jährlich wiederkehrend, oder wurden 
“ie erfteren waren oft nur ein Bekenngeld, wos 
‚naft befundeten, und famen dem Betrage nach 
ganze Abgabenlaft in einem Huhn (Faſtnachts⸗ 
ı mußte, Oft war auch gar nicht einmal eine 
(wie 3. Be der Pfingfitanz) reichte zur Erfül« 
die Abgabe oder die ſymboliſche Handlung 
werden. Die wirflichen Leibeigenen dagegen 
alien zu entrihtn. Zu den außerorbentlichen 
ein Theil der Verlaffenfchaft, und das Beſt⸗ 
cf Vieh oder Kleid aus der DBerlaffenichaft, 
‚nd ähnliche Abgaben, welche für Die Erlaub⸗ 

‚ entrichtet werden mußten. 
und Nußungsrecht zu entrichtenden Abgaben 
:nten jährlich entrichtet werden, oder außer- 

raumen wieder. 

‚Ten oder Gülten genannt. Sie waren 
ınichfaltiger Art. Man hat fle abes nicht 
auferkegte (conftituirte) und vorbes 
ı den Eigentbümern der Grundſtücke auf 
:bernommen, dieſe waren von ben Eigen 
»thumd zur Nutzung an Dritte vorbe⸗ 
theils unablödlih. Ablöslich waren- 
traten die Stelle der heutigen Hypo⸗ 
4 von Geldern auf Srundftüde unbes 
Lince Solche murben vielfach von 


ue Angaben: 


DE: Vergleichung der Vor⸗ und Nachtbeile directer Steuern mit den Vor⸗ mb 
Nachtheilen der indirecten Steuern Tann kaum einen Zweifel übrig Taffen, daß, wenn 
es tn’ die freie Wahl der Staaten’ geftellt wäre, welche von beiden Arten von Steuern 
fte wählen wollten, den birecten Steuern der Vorzug eingeräumt werben müßte. "In 
Hofer Lage befinven fich aber die Staaten‘ Europa's in der neueren Zeit nit. Ihre 
finanziellen Bedürfnifſe ſtnd ſo groß, daß ihnen durch directe Beftenerung, ohne bie 
harteſten Bedrückungen, ſchwer genügt werden Fünnte; denn Steuern, welche einen er⸗ 
Aerlichen Ertraßg gewähren folfen, müffen auf die große Maffe des Bolkes fallen. 
Die Vermogens⸗ und Einfonmend- Berhältniffe find aber hier ſo ſchwer zu erinitteln, 
daß an efne gerechte‘ Befteuerung kaum zu denken wäre. Auch würbe bei Der großen 
Fluctuation der Bevölkerung die Beitreibung der Steuern fehr erhebliche Säfinierige 
Kelten veranlaffen. Die indirecte Beſteuerung wird dahet zur Nothwendigkeit. 

I 7 Die einzelnen Arten von Steuern werden in beſonderen Artikeln erörtert 

70." Gemeinde-Abgaben. So vie der Staat, fo tft auch die bürgerliche 
Gemeinde auf den Beſitz eines Gebietes gegründet. In dieſem Gebiete und den baranf 
begründeten gemeinfamen Anftalten und Einrichtungen wurzelt die Wirthſchaft der Ges 
tieittbeglieber. : Die Abgabenpflicht an Die Gemeinde hat daher ihre Grundlage in ber 
Beziehung zum Territorium. Die Abgaben fel6ft zerfallen, wie beim Staate, in zwei 
Häfen: a) Abgaben im engern Sinne, wohin Schutzgelder und Abgaben für bie 
Benugung von Anftalten der Gemeinde gehören; b) Steuern. Die Gemeinde-Steuern 
beruhen auf denſelben Grunpfägen, auf welchen die Staatd » Steuern beruhen. Daher 
werden in’ manchen Staaten die Gemeindeſteuern einfach als Zufchläge zu, den Staats- 


ftenern erhoben. Diefe Einrichtung ift aber nur die Folge der Unterbrüdung 


der Selbſtſtaͤndigkeit der Gemeinde und ift daher auch nur in Gemeinden mit un- 
terbrüdter Demeinbeerfaflung, angänglid. Schon die Rückſicht auf die Dertlichkeit 
imd die dadurch bedingten Verhältniffe erforbert, daß die Steuern den Iocalen Ber 
hältniffen entfprechend umgelegt werden. Noch mehr aber wird eine beſondere Rüchkſicht 
nothwendig wegen der ungleichen Stellung, welche Die Angehörigen einer Gemeinde 
zur Gemeinde und zum Staate haben; denn Die Gerechtigkeit erforbert, daß Die Activ⸗ 
Bürger der Gemeinden’ ftärfer zu ben Gemeinbelaften herangezogen werden, als bie 
Schugbürger und Hinterfaffen. Wer aber in einer Gemeinde bloßer Schukßbtirger ift, 
fann fehr wohl im Stante Bollbürger fein, wie 3. B. Stantsbeamte, Geiftliche u. f. w. 
‚ In der Auflegung und, Erhebung der Steuern find aber bie Gemeinden nicht 
vollkommen felöftftändig, fondern ftehen unter der Oberaufficht des Staates. 
D. Kirchliche Abgaben. Die Firchlichen Abgaben zerfallen im zwei Klaffen: 
a)’ Abgaben, welche die Mitglieder der Kirche zur Errichtung und Iinterhaltung ber 
trchlichen Anftalten und überhaupt zur Beflreitung der gemeinfamen Bebürfniffe zu 
machen haben, nnd b) Abgaben, welche der Kferus als Inhaber von geiftigen Bene 
ſteien A wagen verpflichtet il. u 
1 Wa zundchft die Abgaben der Gemeinden betrifft, fo muß man auch hier die 
Steuern von den Gebühren, welche bei befonderen Gelegenheiten erhoben merben, 
unterſcheiden. In Bezug auf die Steuern gebt die römifch-Fathofifche Kirche von der⸗ 
felben Borftellung aus, welche ſchon im A. T. für die Abgaben an den Tempel und 
den Stamm Levi maßgebend waren, nur daß flefich als zur Herrfchaft über ven ganzen 
Etdkreis Tegitimirt erachtet. Gott, als der Obereigenthümer des ganzen Erdkreiſes, 
bat ihr den Zehnten von alfen Brichten eingeräumt. ) Aus dieſen, fo wie aus ben 
—e— aus den Kirchengütern ſind in der Regel alle Ausgaben der Kirche zu 
eſtreiten. u 
Nur zur Unterhaltung der Parochial-Anftalten find die Parochianen, fofern das 
Ägene Bermögen der Kirche nicht zureicht, heranzuziehen. (Conc. Trid. Sess. 21, 
€. 7 de reform.) | 
. In der proteftantifchen Kirche bildet die dinzelne Kirchengemeinde ein’ felbfiftän- 
diges Korpus, uͤnd die Mittel zur Beftreitung der gemeinfanten Bebürfniffe müffen, fo 
weit dad eigene Vermögen der Kirchengemeinde nicht zureicht, durch die Gemeindemit⸗ 
1) Obgleich aber dieſe Vorſtellungsweiſe bei der Auflegung der Zehnten mitgewirkt hat, fo 
haben Dee be von fans Rn meh vi Natur nee Rente —S a een) 


—X 43 


glirder augebracht werben. Obgleich nun zwar die Kirche nicht bloß eine porfonliche, 
ſondern eine reale Gemeinſchaft iſt, fo ift Doch die fubftantielle Grundlage derſelben 
wejentlich geiftiger Art, und die Pflicht, zu den Kirchenlaften beizutragen, Tann daher 
nur als eine den Berfonen obliegende angefehen werden. Wo die Kirchenlaften, nament⸗ 
lich Die wichtigſte derſelben, die kirchliche Baulaſt, einen dinglichen Charakter gewonnen 
haben, kann dies num als Folge poſitiven Gebotes, oder. urſprunglich freiwilliger Ueber⸗ 
nahme, dann aber durch Gewohnheit ſanctionirter Verpflichtung betrachtet werben. 

Die Gebühren, welche die. Kirche erhebt, ſind theild Abgaben für Amtshandlungen, 
Stolgebühren Yura stolae), theil® Entrichtungen für die Ausfertigung von Beugniſſen 
aus ben Kirchenbuͤchern und was ber Art mehr iſt. 

Außer dieſen beiden Arien von Abgaben kommen in der römifchfatholifchen, zum 
Theil auch der englifchen und der griechifchen Kirche, noch Abgaben vor, welche Dis 
niedrige Geiſtlichkeit an die Bifchöfe und den Bapf zu entrichten haben. Auch Diele 
fine theils in’ beſtimmten Perioden wieberfehrend, theils nur bei befonderen. Gelegen⸗ 
beiten zu. leiften. Sie. haben verſchiedene Namen (wie Synodatieum, Zehnten, Annaten, 
Valliengelder, Kanzleigebühren u. |. w.) und werben Daher unter Diefen dargeſtellt. 

E. Gutöherrfihe Abgaben. Die gutsherrlichen Abgaben find zwar fetzt 
in ben meiflen Stanten entweber aufgehoben oder abgelöfl. Da aber dieſe Verhältniffe 
eine große hiſtoriſche Bebeutung haben, zum Theil nody beleben ober eben erſt befeitigt 
werwen, fo wird es nicht unzweckmaͤßig ſein, davon eine zuſammenhaͤngende Ueberſicht 
zu geben. 

Die gutöherslichen Abgaben haben zwei mefentlich verichiebene Grundlagen gehabt. 
Eines Theifls nämlich flofien fie aus der Grundherrſchaft, andern Theild waren fie 
Entfchäbigungen für überlafiene Nutzungen. . Die erfteren waren eine Folge der recht» 
lichen und politiichen Stellung, welche der Grundbeſitzer in Bezug auf alle diejenigen 
einnehm, welche ſich auf feinem Grund und Boden aufbielten, oder fich feiner Vogtei 
unterwarfen ; fie waren alfo zwar privatrechtlicher Art, hatten aber ven Charakter einer 
perfönlichen Pflicht, die andern waren ausfchließlich eine Folge der Beſitz⸗ und Eigen» 
thumsverhältnifie. 

Die perfönlichen Abgaben. waren entweder jährlich wiederkehrend, oder wurden 
in außerordentlichen Zählen geleifte. Die eriteren waren oft nur eim Bekenngeld, wo⸗ 
durch Die Bflichtigen ihre Untertbarienfchaft belunbeten, und kamen dem Betrage nad 
nicht in Betracht. Vielfach befand die ganze Abgabenlaft in einem Huhn Gaſtnachts⸗ 
games), welches jährlich geleiſtei werben nmfte. Oft war auch gar nicht einmal eine 

e wöthig, ſondern eine Geremonie (mie 3. B: der Pfingfltanz) reichte zur Erfül⸗ 
kung des Bwedes bin. Es follte durch die Abgabe ober die ſymboliſche Hanklung 
eben nur die fchriftliche Lirkunde erſetzt werben. Die wirflichen Leibeigenen dagegen 
hatten einen Leibzins in Geld oder Raturalien zu entrichten. Zu den außerordentlichen 
gehörte. der ſogenannte Budtheil, d. 5. ein Theil der Verlafienfchaft, und das Beſt⸗ 
baupt, Hauptrecht, d. h. das beſte Stück Vieh ober Kleid aus der Berlaffenfchaft, 
fo wie der Bedemund, Brautgrofchen und ähnliche Abgaben, weiche für die Erlaub⸗ 
nis zu heirathen eder wegzugiehen u. ſ. w., entrichtet werben mußten. 

Die für die Ueberlaſſung von Beilg und Nutzungsrecht zu entrichtenden Abgaben 
waren ebenfalld entweder orventliche und mußten jährlich entrichtet werden, oder außer- 
ordentliche umd: kehrten in unbeflimmien Zeiträumen wieber. 

.: Die ardentlichen Abgaben wurden Zinfen oder Gülten genannt. Sie waren 
je nach ber Natur des Verhältnifles fehr mannichfaltiger Art. Man hat fle aber nicht 
ungwedlmäßig in zwei Klafien eingetheilt, in gauferlegte (conflitwixte) und vorbe» 
baltens (refervirte) Binfen. Jene waren von den Eigentümern der Orundflüde auf 
dieſelben freiwillig ober auf höhere Anordnung übernommen, dieſe waren von ben Eigen⸗ 
thanern bei ber Ueberlaſſung ihres Grundeigenthums zur Nutzung an Dritte vorbe- 
baten. Die erſteren waren theils abLöslich, theils unablöslih. Abloͤslich waren- 
die fogenannten Renten, anuui redilus. Sie vertraten die Stelle der heutigen Hypo⸗ 
theßen-Zinfen, ‚indem bie hypothekariſche Eintragung von Geldern auf Grunsflüde unbe» 
fannt war. Usablödlich waren die fogenannten Fallzinſe. Solche wurden vielfach von 
Pribalſeuten anf:ähre Brundſtücke an Kischen und Klöfter um bed Senle heiues willen 


Bes ener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 


m aAiaanacie 
übrmenmen, Dahin ‚gehören md die ‚für Sehuanfalter und‘ Suiftungen mablaelich 
aufgelegten Gülten. Died iſt auch jet noch die beſte Met, eine Stiftung danerhaft zu 


Dotiren, norausgefeht, DaB die. Gulten in Getreide und nicht im Srla.: zen entrichnen 


find. In dieſem Falle iſt nämlich die Rente eine wachſende, mähsenn rine Belbrasie 
im Laufe der Zeit ungenügend wird, weil bei fortſchreitender Entwickelung: eines Wolles 
Der Werth des Geldes fich vermindert : Zu den aufgelegten Mbgaben gehören insbes 
fondere auch die zum Unterhalte der Kirche und ihrer Einrichtungen auf die Grunftäde 
gelegten Zehnten. Die vorbehaltenen Binfen fünnen als Dress. für die berlafie- 
nen Nußungsrechte angefehen werben. Sie beftanden theils in Gelb, Haile in Matır 
ralien. Diefe lekteren waren dann entweder dem Betrage nach Heft und beſtanden in 
einem beſtimmten Maße, gewiſſer Producte, oder fie. waren wandelbar und deſtanden 
aus einem aliquoten Theil der Ernte. 

Oft aber wurden Grundſtücke auch gegen Dienſte aberlaſſen. ‚oft au. —* 

Beides verbunden. Dem Betrage nach waren dieſe Zinſen natürlich ſehr verſchieden, 
- je nachdem die Ueberlaffung nur auf Zeit ftattfandb ober erblich war. Die Ueberlaſſung 
auf Zeit war entweder eine Ueberlaflung auf eine beitimmte Anzahl von Jahren, alſo 
eine eigentliche Zeitpacht, ober auf Lebenszeit, ober auf mehrere Generationen. In 
der Lombardei 3. B. fanden Derleifungen auf drei Generationen flat. Die exrbliche 
Verleihung war ebenfalls oft in Bezug auf die Perfonen, melde: zur Succdeſſion in bie 
Natzung des Gutes berechtigt waren, mehr oder weniger beſchrankt. Dieb blick yaun 
natürlich nicht ohne Einfluß auf den Betrag der Gülten. Auch Fam es in Diefer Bo 
ziehung wejentlich Darauf an, ob das überlaffene Grundſtück bereits urbar gemacht war 
ober ob die Urbarmachung erſt vorgenommen werben mußte. Im letzteren Falle waren 
die Abgaben viel geringer, ala im erfleren. Schr haͤufig kam in Stäbten die Leber 
laſſung von Grundflüden gu Bauftellen vor. Vielfach waren bie en auch wur 
ein Preis. für die Meberlaffung von einzelnen Nudangen, z. B. für Holzumpung, 
MWeideuugung, Schweinemaſt u. f. m. 

Bon den außerorbeutlichen. Abgaben waren bie ‚unter vielfachen Namen vor« 
fommenden Zaudemial- Abgaben (Lehnware, Handlohn, Ehrſchatz u. fi. w.) bie 
gewoͤhnlichſten. Sie waren des Preis, welchen der neue Mutznießer dem Eigenthümer 
für die Mebertragung auf ihn zu entrichten hatte, und kamen bewegen bei‘ 
der gebietenden Han und bei der Vererbimg des Gutes in directer Sand in der derel 
nicht vor. on 
‚Durch das Enpostommen des modernen Staats, gehügt ‚auf Einfüpeung 
romiſchen Rechts und bie Ausbildung der. Geldwirthſchaft an der Stelle ‚der —* 
Naturalwirthſchaft, wurde den Verhaͤltniſſen, welche den gutsherlichen Abgaben gur 
Grundlage dienten, der prineipielle Halt genommen, fo daß eine anderweite Megelung 
derfelben durchaus nöthig wurde. Dad Hereinbsechen ber franzöfifchen NRevolutivn von 
1789 hatte aber dieſe Megelung nicht dem ruhigen und, natärlichen: Verlauff nehmen 


lafien, welcher durch Die Natur der Verbältniffe augebahnt war, fonbeswimen hat die⸗ 


jelbe vielfady nach abſtraeten Theorien bewirkt, weiche durch Die: ſpaͤtern Erfolge ſich 
nicht bewährten. Die gutäherrlichen Abgaben: if man daher wohl: bos geworden, wie 
Uebeljlände und Hinderniffe Der. Cultur aber, welche damit verbunden waren, find durch 
andere erſetzt worben, welche ſchon jeut, ehe nur noch das Alte gang verfihmanden:äfl, 
bie ernftefte Sorge der Gefehgebung und Berwaltung in Auſpruch neben; — (Leber 
ben, hier berührten Gegenſtand f. noch die Artikel: Ablsſung, Vanerngüter, Meallaſten.) 

- Abgeordnete. Wir geventen uns an dieſer Stelle nur mit der senvertiehellen 
fpecififchen Bedeutung des Wortes als Volka⸗Abgeordnete oder Vollbo⸗VBirv⸗ 
teeter im Sinne des conſtitutiouellen sber Neprafentativ-Syftems, und hier auch: nar 
in. fpfern zu befchäftigen, :alä fi in dem Worte die finntsrechtliche Etymologie: ed 
Begriffes erſchließt, den fonfligen Inhalt uud Die weiteren Beziehungen den Artibeln 


zer Ränbifihe Verfaſſung“, „Repruͤſentativ⸗Soyſtem“ und Wahl Ordms or \ 


nf! ' 
ir darf dabei als bekannt vorausgeſedt werden, daß man. mit bean: Bett 

„Abgeardnete“ im Allgemeinen alte Perſonen zu bezeichnen ‚pflegt, welche von irgend 

einer Hutorkkäh ‚ner Gouperatiom, yon ;ingenb einer menfehlichen ober juriſtiſchen Merſon 


pesbınkt. m 


we Aueungz reſp. Cefkllung. etnes derſelben zuſtehenden Mechtes oder oiner · derſelben 
obliegenden Pflicht in ſtellvertretender Eigenſchaft beauftragt und an den Ort des Ge 
ſchaſtes geſenbet werben. Unter wiefen welteren Inhalt Fallen ſelbſtredend auch Die 
Bepriffe Logatrn und‘ Geſandte, Bevollmachtigte und Vertreter, Commiſſarien unb 
Agententu. ſ. w. (ſ. dieſe Art). 

Far die gegenwauͤrtige Erörterung: und. für vie Ausbiſdung bes Begriffes Volke⸗ 
Mgevrdnete iſt es indeß von Bedeutung, daß alle jene verſchiedenen Nücncen das 
etne-Moment gemeinſam haben, das Moment der ſtellvertretenden Darſtellung und 
legalen Mepräfenkition einer fremden Perſonlichkeit. 

ander und als Bermittelungsutied noch wichtiger iſt die Bebentung des Wortes 
uenechalb Der ſtandiſchen Berfaflung des Mittelalters, wonach unter Abgeordneten auch 
Die Vertreter ber flänbifchen Gorporationen auf den Territorial⸗Laudtagen und der per⸗ 
ſbulichen Meicheſtanbe auf dem Meichötage verſtanden und begriffen wurden. Es flanb 
Dies im Zuſammenhange nicht nur mit dem damaligen patrimonialen Charakter des 
JSerrſchafia⸗ und Unterthanen⸗Werhaltnifſes überhaupt, ſondern noch mehr mit ber eigen⸗ 
mhamlichen Stelling der ſtaͤndiſchen Corporativnen, kraft welcher fie den Territorial⸗ 
Farſten aus eigenen, dem des Fürſten homogenen Rechte als politiſche Derfeneh und 
wilativ gldich berechtigte: EContrahenten gegentcb erttaten. 

&s kounte nicht ausbleiden, daß mit der Ausbildung bes modernen Segriffes 

vor Fürſten⸗Sounverainetät auf der einen und feines Correlats der Volks⸗ 
Gunwerainesät (fi dieſe Heiden Artikel) auf ber anderen Seite beide Beziehungen 
und Die varaus refultitenden Begriffe eine burchgreifende Beränderung erlitten. 
0 Buben: Die fürflliche Sonvderaimetät, wie file ſich in Frankreich und anderwärts 
wink Mufter entwickelte, die Stände und deren felbflänbiges Recht bis anf 
Die Wuypl verzehtte amd fchon vor der „großen Mevolution* neben ber ſtaͤndiſchen 
Rommedatın eine vollkänvie Beamten⸗Hierarchie etablirte, 'emteidelte fie zugleich den 
Begriff des Volles ald einer unterfchienslefen Maſſe unter ſich zuerſt politiſch und 
ſodann wetter gleichberechiigten, der Allgerwalt der Regitrung rechtlos gegenkberfichender 
atomiſtrier: Inoiwiduen, deren gefammsterpolitifihe und rechtliche Stellung und Geltung 
fortan "ne noch eine abgeleitete, auf der ausdrücklichen oder ftluufchweigenden Conceſſton 
wrd Verleihung der Regierung beruhende war. 
Dan wein: grundlichen Forſchungen (f: indbeſondere das vortreffliche Werk 
Fantien rögime ut la rörolution, par Alexis do Tocqueville), iſt nunmehr der Irr⸗ 
iu hitwoggethan, welcher 648 bahin die betreffende Entwickelung, ja’ fogar deren 
hänge ih das Detennium bee feanzöflfehen Mevolation zu verlegen pflegte: Die Re 
volsttonen find. nicht die — nur zu oft als vermeintliche Glanzgpunkte des Bölkeiebens 
geyriefeue — Ercpfangniß, jendern bie, freilich fletd mit Wehen begleitete, “Geburt 
wow Throriven, Belvungen und Inflktittenen, bie, wenn auch noch nicht volltounnen 
ausgebilvet/ Dach miahrem Orgamiemas durchaus vollendet find. 

Mit Keiht konnt deshalb auch Mirabeau mit frangdfiicher: Auffaſſung von der 
frartzofffchen Nevblutivn fagın: „Sin Theil der Beſchlüfſe der Nat⸗Verſammlung und. 
zwar Dar großere Ihell If ben: monarchiſchen Regiment offenbar günſtig. IR es etwa 
geting anzuſchlugen, ohne-PBuslament, ohne Provinziulſtaaten, welche Steuern und Ab⸗ 
gaden ſelbſt beſtimmen, ohne geiſtliche Orden, bevorzugte Kaften, adelige Vorrechte gm 
FH? Der Gedanke, nur eine Ktaſſe von Bürgern zu ‚bilden, hätte Rigekieu gefallen. 
Eine Nrifenfelge ermanfchräntter Forften hätte nit fo viel fi die Fönigliche Gewali 

ds dieſes einzige Jahr der Revolucion. 

WBolizog ſich aber: in ver ftanzoͤſiſchen Revolution nichts als der deſinitive Sieg 
—— VNichellen angebahnten abfeluten Gewalt und nichts als die Reaction jenes vom 
vom. Konigthum ſelbſt geſchaffenen Begriffes Volk“ gegen die königlichen Praͤrdga⸗ 
Bit, dieſe rinzig noch "übrig geblirbene privilegitte Stellung, welche es verhinderte, daß 
jener Begriff eine Wahrheit winde: fo ergab ſich zugleich mit Nothwendigkeit Die fer 
nere Eonſequenz, daß fortan kein anderes Rechtsſubject gedacht werben konnte und 
varfte, ala vas Volke in feiner Gefuikmihelt" und Totalitat, daß «in ſelbſtſtaͤndiges 
voltti e⸗ at wine maerhulb nach außerhalb dieſes Woltes, weder über noch neben dem⸗ 
ſelden a Fatizuk! war / und daß keiae andere Regierung möglich blieb, als buch 

8* 





“ . 
1.) \ assebugit. 


Urs Berfammlungen ber Maſſe, oder durch Stellvertretung jene® einigen Blnshitfeihe 
jectes „VoIE*. 

Berfiehen, wir hiernach aber unter Wolksſouverainetat (fiehe im Uebrigen —* 

Artikel) nicht, wie es anderswo gedeutet worden iſt, die ſttaatloſe Geſellſchaft“ 
(ſ. Stein, Geſellſchaftslehre), ſondern da dieſer Begriff. neben feiner ſocialen auch eime 
politiſche Beziehung und Bedeutung bat, diejenige politiſche Berfaflungsform, im welcher 
der Collectio/ Begriff „Volk“ ald Zuſammenfaſſung einer unterfchied⸗æ und zuſammen⸗ 
hangslofen Maſſe gleichbevechtigter Individuen das einzige politifche. Rechtsſubject if, 
fo verfteht ed fih von felbft, daß innerhalb dieſer Verfaflungsform nur von einer Bew 
tretung diefes einen und untheilbaren Mechtäfubjertes Volk“ Me Rede fein karm. 
A Es mar deshalb auch nur confequent, wenn Die franzöflihe Meholution, nachdem 
die Gefeßgebung und Verwaltung dur Primär» Derfammlungen als unausführbae 
eefannt worden war, die Allgewalt und die Brärogative bed geflürzten Rönigihumsb 
und feine jelöfteigene vermeintliche Majeftät in jeine fingirte Stellverisstung, dem Con⸗ 
vent, verlegte, wenn bad „Volk“ neben feiner Bertretung Leine audere Gewalt: uns 
darunter. nur dienende und ausführende Organe Tante, wenn es die Regierung alt 
feine Emanation und daher auf der einen Seite ald unbeſchraͤnkt und Alles vermögend, 
auf der anderen als alled eigenen Rechtes entbebrend und widerruflich betmachtete und 
behandelte, wenn «8 ald Bertretung feiner einen untheilbaren Perſönlichkeit nem eine 
Verſammlung anerkannte, wenn es in fernem Inneren alle Unterſchiede des Beſttzes, 
des natürlichen wie des gefchichtlichen, des materiellen wie Des geifligen, des erworbe⸗ 
nen wie bed ererbten, perhorrescirte und als Hochverrath gegen feine eigene Soume⸗ 
rainetät verfolgte, wenn es feinen Theile Vertretern die Pflicht auferlegte, nicht ale 
Bertreter ihres Bezirkes oder irgend einer anderen Befonderheit, ſondern lediglich a6 
Bertreter der einen untheilbaren Volks⸗Perſoͤnlichkeit zu prechen und zu Jaubels. 

Gonfequenter und energifchen wäre es freilich noch gewefen, wenn dad .alie: al 
politifche Perſoulichkeit conflituirte Volt feine Bertsetung, wicht in der fletd: mangeh 
haften, ſich ſelbſt hemmenden und neutralifirenden Perſoͤnlichkeit einer Ver Femm Imre, 
fonden in einer befiimmten menſchlichen Perſönlichkeit gefunden hätte, eine 
Vertretung, welche überdies durch die aus jeder herrſchenden Verſaumlung ſich herana- 
bildende Dietatur von ſelbſt indicirt war. 

Es iſt dies der Schritt, welchen der Imperialiomus vorwärts gethan. Weit 
entfernt daher, den Imperialismus einer Verläugnung oder Berfälihung der Principien 
der Revolution zu bezischtigen, iſt derfelbe für uns vielmehr wie auf. anderen Gebieten, 
fo auch bier die einzig confequente Durchführung und Weiterenhvidelung Der Revolutien, 
und we Kaifer der Frauzoſen zur Zeit der einzige wahre Volks⸗Abgeordnete im vollen 
Sinne des Wortes, allerdings mit der Beſchraͤnkung, daß die vergeblichen Verſuche der 
feveämaligen Träger des Imperialismus, diefen mit dem Lilienmantel ver vertriebenen 
Könige zu befleiden, den Beweis an die Hand. geben, daß ber Einzelne noch in Yluflenen 
und Inconſequenzen befangen ift, und feine Stellung als Abgeordneter won ber des 
Königs, als gebornen Dertreters des Volks, ſelbſt noch nicht übrrall zu unterſcheiden 
weiß. Immerhin mag diefe Behauptung alten denen paradox Blingen, welche von, Dee 
feanzöftfchen Revolution und deren Principien Die reiheit und das Gh ver Völlker 
erwarteten und — wenn ed möglih wäre — noch erwarten: wir, bie wir ben Dem 
an feinen Früchten erkennen, find gewiß, daß das Interregnum des Kaiſerreichs, AR 
ſtauration, IulieMonarchie und republikaniſche Kombdie Michts waren, als bie: leiten 
obnmächtigen Beftrebungen der letzten Hefte der früher privilegirten Klafien, zuaxrf..nc# 
Adels und der Geiſtlichkeit, ſodann des dritten Standes und des induſtriellen Veſihes 
auf der Baſis des Cenſus neue linterfchiede aufzurichten, ven Begriff des ſauvereinen 
Volkes in ihrem Intereffe zu corrumpiren, Die „Abgeordneten des Volles“ in-Man- 
Datare der privilegisten Klafie der Meichen zu verwandeln und dadurch mit Dee 
Gleichheit das erſte Ariom des revolutionären Staates hinwegzuthun. Lamastine. nr 
fo fiheint e8 und — machte den legten diefer Verſuche, ſolch ein Pritilegium eſtzu⸗ 
fielen, und nachdem die Iingleichheit des halblegitimen Königthums, Bann die: des 
Genfus gefallen, die Ungleichheit, welche das Talent bewirkt, vor nem Volke herworzu⸗ 
Geben. Auf Tage und Monde gelang. biefer Eifme. Brotsft und Gurane ſeh einen 


X) m 


Gerktnikten Bichter ‘ala Bictator eines Volkes und als hu der Tritolore gegen das 
Sintroth. Aber wenn es auch dad „Talent der Schönheit“, das: Talent der Kunſtler 
in/ welches der Framzofe und jeder Romane noch am meiften anerkennt, dennoch Tann 
andy‘ dieſes keinen politifchen Borzug begründen, abgefehen davon, daß es felbft nicht 
m Stande if, dieſen Vorzug zu wahren. 

Mit Bamavilne ſcheiterte der legte Berfuch, eine Selbſtſtaͤndigkeit über Der Gleich⸗ 
beit zu richten, einen Unterſchled innerhalb der Mafle zu etabliren, die Legitimation 
zur ierung aus irgend einem andern Motiv, als aus dem „Bolfewillen“ herbei 
zuhdlen. 

Jetzt Hatte nur noch der Imperialismus Napoleon's, deſſen Erwerbstitel von ihm 
RER mit vieler Schärfe im Worte „Barvenu* (eine zufällige Einanation der Maſſe) 
angezeigt iſt, eine Zukunft. 

.Der Imperialismus chriftliher Völker, trotz vielet äußern Aehnlichkeiten doch 

keineswego zu verwechſeln mit dem Caſariomus der alten Welt, iſt außer Stande, fach 
ven brängenben Couſequenzen feiner chriſtlichen Borberfäge und Poſtulate zu entziehen, 
und e8 wird ihm nicht erlaffen bleiben, auch die letzte Ungleichheit, die des materiellen 
Boeftges, hinwegzuthun und das „Volk“ allein zum Träger aller, auch der Vermögens⸗ 
rechte, zu machen. 
Es mar deshalb nicht von Ofmgefähr, fondern eine nothwendige Conſequenz 
feines Principes, wenn das zweite Kaiſerreich, entgegen der Reftauration, der Jull⸗ 
NMonarchie und ſelbſt der gemäßigten, ber „blauen“ Republik, das allgemeine Stimm- 
wit wiederherſtellte, wenn fein Iräger feine eigene Stellung und Bollmacht durch 
Das allgemeine Stimmrecht vottren und ſich Dadurch als erften rechten und eigentlichen 
Vertreter und Abgeordneten des gefammten Volkes hinſtellen und legitimiren ließ. 

Das durch eine ſolche Abgeordneten⸗Wahl des gefammten Volkes bie ‚Stellung 
Des Stellvsriteters des ſouverainen Volkes, des „Erwählten der Mation*, zu ben Theil» 
Bertretern, zu den Bertretern willfürlicher Wahlbezirke, welche heute fo und: morgen 
art vemponict werden Tonnten, zu den DBertreten des bloßen „Wleifchergemichts 
des Bulle”, daß mit andern Worten die Stellung der Regierung zu den Abge⸗ 
orbueten bie dinmetral entgegengefehte \wurbe, kann nad dem bisher Gefagten 
nicht icherraſchen. 

War bis dahin die Regierung, mochte ihr Haupt nun König oder Breäfldent 
hetßen, von Rechtowegen Nichts, ald die Erecutige Behörde der fogenannten Volkaver⸗ 
wewng, fo fin heute die Kleinen Volkavertreter von Rechtswegen Nichte, als die 
gehorfamen Diener Des großen Abgeorbneten, deren ſtückweiſe Herrlichkeit neben der 
Majekät des Vertreters der gefammten Nation verſchwindet und verfhwinden muß. 

Mia, daß es unter diefen Umſtanden am nächften gelegen hätte, ähnlich wie 
jewer abfolute Bickor Emamuel in der dem Freiſtaate Genua verliehenen Berfaffing bie 
Bolllbrertreter einſtweilen ſelbſt zu ernennen ober, wie in ver Berfaffung des lombar⸗ 
diſch⸗ venetianifchen Königreih8 von 1815, die Abgeordneten aus drei prafentirien 
Berfonen zu ernennen und bie Ansfehliefung derjenigen ſich vorzubehalten, die das in 
ud gejegte Bertrauen. nicht rechtfertigen würben. 

Zevdrafallse Senchtet win, daß der franzöflfche Begriff der Stellung und Bereutung 
Amt Built: Abgeordneten — aber freilich auch das Schickſal dieſer Perſonen — To welt 
verbreitet iſt, als Der franzöflfehe Begriff der Dolls» Souverainstät Eingang gefunden. 

." Had) ven pofltiven eidlich zu bekraͤftigenden Feſtſetzungen der meiſten nach fran⸗ 
zofiſchem Nuſter gearbeiteten Gonftttutions-Urbunden, ſowie nach der herrſchenden Daetrin 
MD Wgeorbonete Pertreter des ganzen Vollkes, nicht feiner Wähler oder ſeines 
Buhl Bezirked, eine Feſtſetzung, die, wenn fle auch auf den erften Bid ale eine 
Mufkiihr; dem Hatürlichen Verhaͤltniſſe entgegengeſetzte Fiction erfcheint, doch fo lange 
meratbehrlich und prinetpiell durchaus unangeeifbar ift, als man innerhalb Der großen 
Volfo⸗ Preſonlichkeit zur ſelbſtſtandigen und ſelbſtberechtigten Vertretung geeimete 
vvittifche Perſonlichketten, d. h. politiſche Corporationen und „kleine Herren“ ‚nicht 
hat und nicht haben will, als eben nichts Anderes in den Wahlen zum Ausbrud 
famnun fol, als ver uewabler das abſtratte Staatsburgervhum und hoͤchſtens noch 
Die polliifche Neriei. 


118 Shgeerbnit. 


Freilich nuſere liberalen Concurrenten (3.9. Rettet und Welcker bei dieſem Beni) 
meinen fich leichter aus diefem Dilemma ziehen zu armen. Wir lefen doct: „Lingen 
oder verwirft man bie fpeeielle Mepräfentatien, fo fegt man an Die Stelle des watlpr 
lichen Berhältnifies ein rein kunſtliches, d. b. an die Stelle ver Wahehelt sine Di 
tung, und die Verfaffung nimmt anftatt des demokratifchen de 
haben foll (meil nämlich die Kammer der Volks⸗Abgeordneten wur ein Por 7 bild 
des Volkes ſelbſt fein Soll), jenen einer Wahl⸗Ariſtokratie an, und das Wort zum 
Abgeordneter wird zur Lüge. Bon der Gefammtheit des Vollkes IM kein 
einzelner Abgeordneter gewaͤhlt oder geſendet; manche Abgeordnete ſind ja bloß belennt 
in ihrem Bezirk, wie Eönnten fie als Vertreter gelten der großen Sefammtheit, Wie von 
ihnen ger nichtö weiß, alfo auch von ihnen vertzeten zu ‘fein gar wicht will ober wollen 
fann. In der Geſammtheit mögen zebnerlei, ja hunderterlei verſchiedene Richtungen 
fen, der Einzelne bat für ſich nur eine: wie kann er in Ratur und Wahrheit Nepraͤ⸗ 
fentant der Geſammtheit fein? Aljo nur Die Gefammtheit der Uhgrorburten 
die Geſammtheit des Volkes, der einzelne Abgeordnete allernaͤchſt mus feine Slaffe ones 
feinen Bezirk." 

Wie aber, wenn ber Abgeordnete, wie er jetzt verfeffungömäßig iR, PER 
Alles oder gar nichts verträte, wie wenn der vorſtehend reprobirte Begriff der Doll“ 
vertretung”" gerade und nur um deswillen eine Lüge wäre, weil der Gefamuntbegrif 
Belf, non dem er abſtrahirt worden, ebenfalls eine Rüge if?! 

Allerdings ift in manchen Ländern noch Manches von Dem fehhern organiſches 
Staatälesen übrig geblieben, allervings haben Kirche, Städte ums andere Gougenationm 
bie und da noch jo viel Lebenskraft bewahrt, nm nicht wällig in dem Urbrei De 
modernen WPolkobegriffes aufzugeben und eine wenigſtens relative Speetulisät der Ver⸗ 
tretung zu ermöglichen, doch werben dieſe Hefte ſchwerlich noch lange. genügen, ein, 
genau betrachtet, verfaſſungswidriges Reſultat zu ermöglichen und ben Umfging vs 
Begriffes in fein Gegentheil aufzubaften. 

“Dabei foll natürlich nicht in Wrede geftellt merden, daß vie Serherumg on vi 
Volkavertreter, nicht einzelne Theile oder particulariftifche Iutereffen, ſondern das Staato⸗ 
ganze amd dad nllgemeine Wohl im Auge zu haben und zu vertreten, auch ihre velstine, 
durch die Entwidelung des Staatöbegriffed bedingte Wahrheit hat. ES iſt leider sur 
zu begründet, wenn der Liberalismus den Vorwurf erhebt (ſ. Notteck und Welcker 
Staats» Lerifon, Einleitung), daß mit der Ausbildung des Abfoluismms una Der 
Bärsaufratie „die Stände der Juxiſten und Belitifer, der Gelohrten und: Beamten. immer 
mehr abfielen von ihrem Volke, von der höheren Liebe für deſſen Semeiawohl un ‚für 
die Gerechtigkeit und in Eaflenartiger und zunftmäßiger Abſonderung Me Bürger ci 
blinde Laien und: unmſudigen Poͤbel von der activen Theilnahme am Mechte⸗ und 
Stantävereine der Geſetzgebung und Rechtſprechung gänzlich ausfchlefien und eiwen 
verderblichen Gögendienft oder rin eigennüpigeß. Gewerbe mit Annverkatenen Bu 
und erftorbenen Formen betrieben.” 

Nicht minver iſt es unläugbar, daß der Egoitnuus and die mriicalaviſufc⸗ 
Intereſſen der alten ſtaͤndiſchen Körper in dem wenn Stastöbegriff keine Stelle ſinden 
fonuten. Sahr treffend bemerkt in dieſer Beziehung Stuhl: - „Allein auf bee anderen 
Seite ift das Volk ungeachtet feiner Slieberung aus Ständen dach «ine watitmafe ul 
ſtaatsburgerliche Einheit... Daher ſoll Die Kanteöuentretung Die ganze Ration umfaſſen. 
Es follen nicht die hoͤheren Staͤndꝛ abgetrennt don nem übrigen Beolke, noch bie Her⸗ 
vorragenden im eingelnen Stande abgetrenns: son feinen. Ubeigen. Gliedern iMe aan 
fentation bilden. Es jollen die Staͤnde, fowie fie ſelbſt aufhoren, abgeſchloſſeire Alcyın 
ımter mutofratifehen Obrigkeilen dem Stante jelbft Mar m. fein, fo auch nicht meht 
ausſchließlich durch dieſe Obrigkeiten vertreten fein. Es fol auch dem verfanlichen 
Bertrauen ein Einfluß geöffnet fein in höherem oder geringerem Grade, nur tms 
in der Grenze der nothwendigen Bimgfchaften für Die fädplichen Ninforhesimges, Bierure 
foll die Landesvertretung, wiewohl auf die unterfäpledenen Staͤude ßeheanren dennech 
Immer als Ein Ganzed handeln. 

Dad unterſcheidet wirkliche Eandesvertretang (odex arq Voltavertr⸗ 
tung in einem richtigeren Sinn als dem biöher üblichen) von. bloß ſtaudüiſchesr 


Agstebunie: 8 


Barinsiang Noech ihr ſins nicht bloß Die Gliebmaßen ber Beilsn@zifienz, ſondern 

auch die Einheit, nicht bloß ſaͤchliche Lagen und Intereſſen, ſondern auch die in dem⸗ 

ſelen befiadlichen:; Meunſchen vertreten. Dagegen das Syſtem bes Revolution, das man 

jegt gemähnlich varzugsmeiſe unter, Nepraͤſontativſyſtem“ verſteht, läßt die Einheit des 

Volkes ohne die Gaundlage feiner ſtaͤndiſchen Gliederung und laͤßt Die Menſchen ohne 

— Brumblage der. ſachlichen Zuſtaͤnde vertreten. Das iſt nicht mehr Sanbeßbestzetung, 
je iR. nicht ‚wirklich Vallüneriretung, ſondern bloße Menfchenvertsetung.“ 

» De Foraſchritt in ver Geſchichte befteht nicht in Der Abwerfung Bes fländifchen. 
Buincipb ,, fombern.er beficht Darin, daß bie bloße Stänbevertretung zugleich national 
einheitliche Mertretung wird, daß die Meichillände and bloßen Mandataren ihrer Wahl⸗ 
begache zum hoͤheren ⸗utſcheidenden Macht über dem geſammten Volke, zum wahren 
Centrum deſſelben werden, in welchem bie Nation ſich ale Eins. weiß. 

. . Dis: wahne Vollsvertretung iſt oder ſoll ſein die wahre und reine Darſtel⸗ 
Tu Bellen (Repraͤſentation) nach feinem ganzen Wein, nach allen ſeinen Rech⸗ 

und Bermögen und zugleich die Concentrirung bes Volkes zu einem 
—— ber Selbſwerſtaͤ und bewußten Entſchließnug fähigen, alſs feine 
fell, mächtigen :Gubjeet. Hierdurch iſt fie eine Macht und Autorität über dem Bolf 

EN? —— mit ihm 
nee: als verkehrt aber war es, aus Do Vorderſatze, daß Staat um Bell. 
eimey. zentralen Zufammenfaffung und eined. Eräftigen energiſchen Hauptes beburften: 
un tbeilheftig geworben: ſind, Die. — — zu machen, daß Staat und Volk, 
re ee wei den. in. HOaupt eanpfangen, feine licher meh hätten und haben 


0% rn RR: ‚die Desbinbung Gniber Noſtulate, weldye in gland die Voltover· 
wetung asglich and groß gemacht: Wahrend in Frankreich and nach franzoͤſiſchem 

Moſterdabe politifchen Rechte als. Privatrechte des Einzelnen betrachtet und: vefp. ge⸗ 
mißbraucht wirben, während dort im Ganzen und Großen der Kampf. der modernen 
Souverainctaͤl mit dem Standethum in wenig zweifelhaften Fehden der königlichen Ge⸗ 
walk. ;suit. einzelnen: maͤchtigen Maſallen verlief und mit des volligen und unbebingten 
Wtenverfung Der. Shämbe. enbigte, warm in England ſchon früh wie flänbifchen Rocht⸗ 
as aoliuſche Mechte: des Standes und der Goeporation erlannt, in Dem Parlament 
volitiſch :seutcalifixt ‚une :bamit. ein ſtaatliches Orgau gewonnen, welches dann fein 
Ges Ben Repf mit. dem durch franzoͤſiſche Idealo mißleiteten Königthum auf 
mahen . neh. :befem. fo. ſehr gewachſen war, Daß. des. Streib mit: Dex virmellen Vernich⸗ 
tung des Koͤnigthums endigte. 

wi. Man’ Timate. darans Mancherlei lernen, jedenfalls aber wie ‚man bie Thatſache 
nicht berſchen konnen, daß in Gugland die Volksvertretung auch heute nach: wie Das 
malo quſ: aen Dad nicht: loſer Urwaͤhler⸗ Haufen, fendern feſter,kraͤftiger und poli⸗ 
ufcher Forposetianen: ruht ( ſ. Gaeiſt, eugliſches Verfaſſungs⸗ und Verwaltungsrecht), 
Garpoxatiouen, die fo feſt gewurzelt und gegrundet find, daß ſie Dusch Die Bewegun⸗ 
gen und. Wandelungen in: den hoͤheren Regionen/des Regiments verhaͤltnißdßig nur 
wenig: Amicheh. merden, umb: bee nchen den Vewußtſein, integrirrave Beſtandtheile des 
großen engliſchen Volks⸗Koͤrpers zu fein, ihre eigene politiſche Berechtigung und 

Gehhftkänniglelt ald: organiſche Glieder jenes Ganzen ſo ſeſthaltesn, daß fie vor ber 
mechaniſchen· Meutraliſatian des Contiaents bis: auf..biefen Tag bewahrt geblieben find. 

u, Ahwerlich aber. ıwüchte. mit Grund Der Pocwurf erheben werben, daß das Volls⸗ 

‚in: England: ſchwacher fe, eis in den Citaaten: des Gontinentd, oder daß in 

Darlemente der Staat ald Ganzes weniger vertreten waͤre, sald. iA den 

ty» aemu luccoſpiele Pan urwablen gußammwenge warrſelten Vollsvertretungen Dev moder⸗ 
mand@laeken ı>..i: 

1 — abgeiohen son allem Auderen/ Die nie und uncelaßlichſte 
Gigsuicheft rind AYhgenransten: und: Volfavertretero ‚Die zu Fein, daß et überhaupt 
ingend. ein Mectänünkjest, irtgess eine volitiſche —* weritriil. 

EFr vertritt ſonſt nichts oder. zu viel, und Volksvertretungen, die wicht —** 
beſtieater ·ꝓolitiſcher — — — vertreten, ſondern Nechte Überhaupt, oder 
ger Meihie,ı bie Je ser erwerben wollen, haben ned immer entweder im Nichts ober 


1. | Wgearbuete 


ins. Bebenlofen geendet. Es Bleibt ‚ihnen: fett wur bie Alternative: Sulatenpade- 
ment. oder Gonvent. 

Damit fol freilich nicht in Abrede geftelit werben, daß einem Ab ordneta⸗ 
auch noch andere Eigenſchaften unentbehrlich find. „Zuvoͤrderſt fo viele Kenntniß von 
politifgen Dingen, als zur verfländigen Selbſtbeurtheilung der in der Abgeorinetem- 
Verſammlung zur Sprache Tommenden Gegenſtaͤnde nöthig if; dann aber und ganz 
vorzugsweiſe die Mechtlichfeit der Geſinnung, welche Bürgfchaft leiftet. für: die Tofüllung 
der Pflicht, Daher auch diefenige Charakterſtaͤrke, welche unzuganglich malt den Ver⸗ 
lodungen durdy Hoffnung oder Furcht, und wo möglich auch jene Selbſtſtandigkrit Der 
Stellung, welche den Mangel an GCharafterfiärfe einigermaßen zu erfegen ober wie 
Wirffamkeit der Berfuchungen zu vermindern dient." Es find dties Alles unzweifelhaft 
fehr ſchöne Qualitäten, Doch einen wirklichen Volkévertreter machen fie noch nicht. 
Was kann ein funger Juriſt, der mit feinem künſtlich componirten Wahlkreiſe durch 
nichts Anderes zuſammenhaͤugt, als durch den Wanſch, bald von dort verſetzt zur werden, 
Beſſeres vertreten, als ſich ſelbſt und fein Avancement; was Tann ein altrr Praͤſident, 
der ſeinen Wahlkreis nur von frühesen Commiſſionsreiſen, und felbft deſſen materielle 
Interefien nur von Hoͤrenſagen kennt, Klügesed thun, ald bei beeunenden Fragen feinen 
Charakter und feine Abflimmung in's Altentheil geben; we fell em alter Doefcher 
feine politiſche Weisheit und Aufklärung. über die Bedürfniſſe feiner Mandanten andere 
fuchen, ald in feinen eigenen Heften; was bleibt einem Miniſterial⸗ Rath arliepuh 
übrig, als die Worte feined Borgefepten ale Bökeritinme zw ehren! ; 

Gewiß giebt ed — wie unfese Gegner jagen — faum einen miederſchlagen 
Anblid, „als den einer Berfammlung von fogenaunten Volks⸗Abgeordneten, —*— 
anſtatt, wie ihr Begriff und Auftrag mit ſich bringt, zu ſtimmen, zu baubeln und zu 
fireben, ihr Ia oder Nein nad) den freundlichen Winken oder gerungelten ‚Stirnen der 
Minifter oder gar — wie jene beliebte Urt. ber Schreipuppen — danach wu 
ſprechen, ob man fie ſihwaͤcher oder flärker auf den Unterleib drackt.“ Indeß wer bat 
uns geheißen, Trauben auf den Dornen und eigen auf ven Diſtein zu fuchen“ 

Es genügt nicht, Kriegs⸗Wiſſenſchaften zu fubiren, man muß auch oinr: Armee 
hinter ſich haben, um ald General zu gelten und Siege zu gewinnen. Eben jo wong 
das. Wort eines Volksvertreters pektifch nicht. fehwerer, als es Anklang und Widerhall 
findet, wobei wir indeß umfererfeitö den Widerhall natürlich nicht bloß nach dem Laͤrmen 
bes Preſſe bemeſſen. Senft hat bie. bloße Iuselligenz ohne politifche Baſis und poll 
tifehen Anhang fo wenig etwas in den Kammern zu thun, ald „pie Grapität w. 
Mitternacht außer dem Bette.“ 

Es ift deshalb auch Leicht verfkindlich, wenn in ben modernen Volks Bertsetungen 
mit feltenen Ausnahmen nur dann eine regere Theilnahme ımb eine. gehobeze Stim⸗ 
mung eintritt, wenn. ea ſich um beftimsmte materielle Intereſſen oder große Marke. 
Tragen handel. In Ermangelung eines politifchen corporativen Lebens find eben 
Dieje Die einzigen, weldye in den Kammern eine wirkliche Vertretung finden, während 
im Uebrigen die Mafle des Volkes kaum anders kann, ald ihre Berivetung, wenwinicht 
auaſchließlich, fo doch überwiegend von Der Regierung und. bem Veamtechum 9 
erwarten. 

Ob den Abgeordneten Reiſe⸗ und Tagegelber zu entrichten ſeien ober wicht, vab 
iſt nach Dahlmann die einzige Frage, über welche alle deutfchen Landtage einig find, 
doch bat man nicht wohlgethan, dieſe Frage lediglich als eine finanzielle: zu Gehandeln. 
Wer eigenes Recht vertritt, Der thut ed eben umfonft, wer fremdes Necht vertritt/ me: 
wird dafür bezahlt, Doch immer nur von dem, deſſen Recht ex vertritt. Nicht alleich⸗ 
weil es in England ſo viel mehr reiche Familien giebt, als anberäwo, nach wenigen,‘ 
um die natürlichen Stimmführer der Geld - Ariftofratie in das Berlamentige. ſenden / 
ſondern, weil dort der Vertreter weſentlich fein eigenes Recht vertrit amd weil der 
Sitz im Parlament nicht anderd angefehen wire, als jeder andere, der Corporation 
. gleichfalld unentgeltlih zu leiſtende Dienſt, ift die englifche Vertretung ‚bis heute hr: 
unbegahlied Ehrenamt geblieben. Auf dem: Continent, wo man Teine anderen Beamten 
feunt, als „auskoͤmmlich bezahlte“ und mo man von ımeutgeltlichen Ehrendieuſten nicht 
viel wiſſen will, werden natürlich auch die Volksvertretor bezahlt, doch darfte man + 





Segeneusit, zu 


wenigſtens in Preußen — bereii® zu ber Grkraniniß gelangt "fein, DaB die letzten 
Neſte einer wirklichen Volksvertretung in Ben von Staatswegen unbezablten Herren⸗ 
- Daß man den engliſchen Zuſtand nicht ald einen ifeltrten copiren kann, verficht 
ſich von ſelbſt, doch iſt die Behauptung, daß die „enelften Talente dadurch factifch aus⸗ 
gefchloffen wuͤrden“, nichts als eine Tenbenzklage des Intelligenz » Brolstariate. Yes 
Englund weiß man De Zolente and zu. finden, zu nugen, aber freilich dann auch zu 
Heben und bem gewährten KRechte ebenio den. ntfprechenden Beflg zu verſchaffen, wie 
mau Ders ſtets dem wirklichen Beſitz ein beftimmmtes. politifches —* folgen laßt 
Es iſt nicht ohne Intereſſe, die poſttiven Veſtimmungen der einzelnen Une 
feffemg® - Urkunden: bieräber zu vergleichen. Während nändic in England weder ie 
Misgliiver des Oberhaufes, noch die des Unterhaujes von Staatswegen irgend +ilir 
Vergütung erhalten, beflimmt Die nordamerikaniſche Gonftitution den Senatoren und 
Bepräfentanten: eine Vergütung für ihre Dienfte, welche durch bus Gefetz zu beſtimmen 
und aus dem Schatze der Vereinigten Staaten zu bezahlen. it, ebenſo auch den Mit⸗ 
gliedern der gefeßgebenden Körper in den: Einzelfiaaten. — Die Berfaffung ver ſchwei⸗ 
zerifchen Giägenoffenfchaft von 1848 fiimmt in ber Hauptſache hiermit überein, gleicher 
Weite. auch Bit son der deutſchen National⸗Verſammlung i. I. 1349: befchlofime deutſche 
Berfaffung: In Fraulkreich hat in diefer Beriehung ein Schwanken, zeitweife fogar «in ent⸗ 
ſchiederer Wechſel ver Anftchten Ratigefunben. Während die Berfeffung von 1791 um 
1793 keine Vergütung amwähnt, räumt die Divesterlal-Berfaffung von 1795 den ie 
dern des geſetzgebenden Körpers eine jährkiche Schadloshaltung im Werthe von 3000 
Myriagrammem: Weigen ein any ſchließt einen Verzicht ausdrucklich aus. Die Eonfueku« 
——— von 1799 ſchließt ſich ihrer Vorgaͤngerin wenigſtens in fo weit an, vB 
fie den Nitgliebern des Erhaltungs - Scematd und des Tribunals jährlicge Gehalte: in 
Gelb zufchest (Ari. 22 und 36). Die ſammtlichen fpäteren Berfaflungen (von 1804, 
1944 un® 1830), weiche die Wahlbarkeit zum Abgeorbneten au einen fehr haben Cen⸗ 
fus Inhypfen, gewähren keine Gutſchadigung; erſt die Berfaffung ver Neyublit von 
1848 verfügt im Ast. 38: , Jeder Mepraͤſentant erhält eine Bergktung, : auf bie er 
nicht verzichten kann“, — eine Beftimmung, welche in der neneſten Berfaffung ie 
gefizhien wurde. Die norwegiiche, beigiſche, niederlandiſche Berfaffung fepen ebenfalls: 
Geldvergutigungen für die Abgeorpneten feft. 
Ebenfse alle deutſchen Verfaffungen. Go beſtimmt bie preußiſche Verfaffung von 
1850 im Art. Sb: „Die Mitglieder der Zweiten Kammer. erhalten ans ver Staatokuſſe 
Reifeloften und Diäten nad Maßgabe des Geſetzes. Em Verzicht hierauf iſt un 


Die fenflige Feſtſezung und Doctrin in Bezug auf die den Abgeordnoten beige⸗ 
. gen Qualitaͤten und echte wurzelt von Haufe aus und in ihrem Keen in der nrfpränge 
lichen Aufchauung von ihrer Bedeutung und Wurde als Vertreter der Allgewalt unb 
Maijeftät des ſouverainen Volkes. Am weiteſten gingen hierin natürlich Wie Altern 
framgbflichen Gonftitutionen, z. B. die von 1'791, welche beftimmt: „Die Vertreter der 
Nation ad. unverisglich; fie koönnen wegen befien, was fle in ibwer Eigemfchaft ald 
Volksvertreter geſprochen, geſchrieben ober gethan haben, nicht geladen, angelagt un‘ 

tet werden. Cie konnen in Strufſachen wohl auf friſcher That ergeiffen: oder in 
Freft eines Haftsbefehls [O verhaftet werben; es muß aber ohne Berzug dem geſetzgeben⸗ 

bes Körper Macricht: Davon gegeben weruen, und das Berfahren gegen ſie fann wer‘ 
baum feortgefetzt werden, wenn ber gefehgebende Körper entſchieden bat, daß ber Auklage 
Ratiguigeben ſei. 

80 wird nicht befremden, daß jener Glanz und Schimmer je länger’ deflo mehr 
nesblaßt, and au virlen Orten bereit vollig zu Grabe getragen iſt, ja daß wir virlleicht 
in ·Balde dam Verſchwinden des Begriffes: und der Speties „Abgeorbnster” entzegen⸗ 
gehe, wenn es wicht gelingt, dieſelben auf die allein moghich⸗ Baſts der politiſchen 

Gerporatiowigl 

Faſſen wir bie befonderen Rechte und Bflichten, welche Das moderne Staatdvrecht 
den ‚einzelnen: Abgeordneten als folgen einraͤumt mab vefp. auferlegt, kuͤrzlich nſammen, 
fo find. dieſeiben ſolgenden 












2 —— 


2 „Die Umberleglichieis reſp. Noeunatwortlichteit· BEDTET Kar 
.Die gemeinfame Quelle > deofallſigen Aueranungen ueg im. ‚eisernen 
engliſchen Staatörechte, wie es fich theild durch Uebung gebildet hatte, chells den. der 
Bill: and Beclaration ol right von 168D nuäbrädlich nusgefmmcdken war; es iſt indeß 
vom. beu, Machahenern ‚überjehen werben, daß vie in ber „ubläzung Der Mechto * 
dexholien und zuſammengefaßten Beilunmungen übers bie Rechte des Barlameuts un) 
feinen Miütgliener in bixecdefter ‚Meziehung. zu der beſanderen Lage Euglampä Hand, 
Dad chem: mit dem Megimente her tan gebrochen hatte us» in dieſer irklärung 
beſtimmta. iebergriffe und Willfürlichleiten König Jacohb's auch gegen Prelsımeuköglien 
Des’ Ans Ange: faßte. Deſſen ungeachtet ſchoͤpfie die Confoderations + Wieder nord⸗ 
amerikaniſchen Freiſtaaten (1787) Daraus Die folgende: Beſtimmunge Dile Uamgerie« 
Miglieder ſollen in allen Faͤllen, wit Arsanahme es. Hochverra ho Bern Felanie: mul 
dea Friedenbobruches non her Verhaftung. waͤhrend ihrer Anweſenheit bei. den Sihunges 
ihrer betreſſenden Haͤuſer und während der Hin⸗ und Müdreile befreit fein mund. mwegen 
kauer Mebe oder Debatte in einem her beiden Gdufer: am irgend «inch ‚anderem. Orte 
(eis vor Hauſe ſelbſt) zur Rede geftallt werden", m oa Hasaı 
En ähnlichen Weiſe werd. die Frage in der frangbäiigen. Shan vÄn datt, Art. 5 
weh 52, und übeseinfiimend Damis in der son 18930, Amt. 43 und Ak, . 
Beide beftinunen udmlih: Schuldhaft gegen. «in Mitglich ber: Sumuuter: kann wahrerid 
wer.: Dauer der  Siaungen (sessien) und waͤhrend der ſechs vnnauägehukäet und: weder 
folgenden Wochen nicht ‚verhängt werden. Kein: Mitglied kann, den Fact Dee ud 
fang auf friiher That. auögenouumen, während Der Dauer der Seſſtan in EStrafſachen 
verfolgt. Oder ‚verhaftet merben, ed fei denn, die Kammer habe, es gefkmtiekut rer -„ DE 
Neuefcaiheit: wird hier. nicht gedacht; durch das. Preßſtrafgaſchh un 17. Mai 4549, 
Gap. Vl.; Ash. 21 und 22, ward indeſſen diaſe Lucke durch Nornten eutgefüllt, welcha 
im Weſentlichen ‚mit: Denen pon 1791. übmainftimmen: — Die Vexrſaſſung, van 1848 
nimmt: den oben exwahnten Art 7 ner Conſtitution nom 1701: wieder inf sum schließt 
ſich in Beyug: aufs pie-fanftige Verfolgung ber Repraͤſentanten dem Spfteme den Gharten 
von: 4814 ..und. 1830 an; nur wird bier. Die Mutorifaion der Nakonal-Darfenmlaug 
auch dann gefordert... wenn. ein Verhafteter zum Repraͤſentanten gessäblt. wisdr :Bie 
nemefte: framgäftiche Varfaffung van 182 beobachtet über dieſe Materie leicht, begreif⸗ 
licher Weiſe pu⸗ Stillſchweigen. TEE Pe 7 
‚Ashalich. den. Mefimumungen der frühen fmengöflichen Berfoffangen ſtad bie 
——* Belgiens, Sachfensâ, Hannovers und Braunſchweigß. .. 1 ne‘ 
u Zn · Bazug anf die gerichtliche Verfolgung ber Ahgeoxdneten wegen anderen Bes 
brechen over Vergeben, oder in Giviljachen flimmen die übrigen europäifchen und ‚bi 
Deatichen Merfaſſungen weher 'mit ven in England und. Nond⸗Amerika ‚geitendau Prin- 
eipien, noch mit Den. franzöſiſchen Charten, noch unter ſich überein. In Aingkrisd: m 
Rord⸗Amerila iſt den Mitgliedern Bloß Freiheit von der Haft, wma auch dieſe mur fm. 
Gib. uad in geringeren Strafſachen, Hier. aber freilih im unbedingter Weite ei 
genkumt.: Das franzoͤſaſche Mecit von 4814, :1830: und 1848 Ichlisgt Nenn Marſonalt 
Atreſt in: Cipilſachen unbeningt aus und läßt in Strafſachen Verfolgung mind num: 
bafung. regelmäßig nur mit Autoriſation der Köcpecrſchaft zum; :;mrleher ber Beige 
Iigte angehört. Die meiften der nassen Verfaſſungen wähesn fick dem Tuauzbfifuhe 
Meiste; fo auch Die preußische Verfaſſung von 1850, melde Art.: Bd Abf. Bernd ben, 
fit; „Kein Mitgliev einer Kammer kann ohne deren Genehmigungewährend Ber 
Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Ganblung zur Mnterfuihung:ı gezteı 
gen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That ander ıiam, Bmshe: 
des nächffolgennen Tages nach derſelben ergriffen wird. Gleiche Beuchmigang if 
hei einer Berhaftung wegen Schulden nothwendig. Jedes Strafderfahren: ngegen ein 
Mitzlied der Kammer und eine jede linterfuhungd- oder Mirilſache wisb Fin. die 
Donir der Sihungsperiede aufgehoben, wenn die: betreffende Kammer e&. verlangen 
oe Die von der Nat.-Berfammlung im Jahre 1849 beſchloſſene Verfaſſung Bali is.ahen 
W 117119. aͤhnliche Verfügungen getroffen. 
: Die Kritik dieſer Beſtimmungen gehört an eine aber. Seh, ‚Sie Anni eimı 
geiftlofe Eopie des englifchen Geſezes und eine Gorrumpirumg. Dei: nichkigennfen 








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——— — 


denkenſ, daß die Volbeuertretrug, ſo lange fie 46 folche — iv. Berg: ef 
viefe ihre: Thätbgkeit. fein andesen Michter haben Sann, ats ſich ſelbſt. 

) Wegenüber feinen Wählern. erſcheint der einzelne Abgeordnete micht als rw 
volfmächligter, der ihre Auftraͤge ‚zu erfüllen Hätte, ſondern er hanbelt alt Mepräfentaut 
des ganzen Volkes, fiimmt daher auch nach freier Urberzumgung, | womit die Ueber⸗ 
nahme von fürmlichen Aufträgen und Inftructionen und ein mandat impmwalil. unved⸗ 
enter And. Aus demielben Grunde find die Wähler nicht hefugt, Ben von: ihnmen go⸗ 
wählten Wgeordneten abzuberufen oder das Mandat zu kündigen, vielmehs. bausct Wie 
—* eines Abgeordneten fo lange, als nicht ein verfalungämäßiger Grund sch 
getwetmn , —F fie erliſcht. Die Betlimmmg der preußiſchen Verfaſſicagevon : 1858 
Ast, 88: „Die Mitglieder der Kaumern find Vertreter ded ganzem Volkes; fie Stimmen 
nach — freien Ueberzeugung und find: an Auftrage und Inſtructionen nicht gm 
banden;” kehrt ihrem weſentlichen Inhalte. nach in den meiſten esropdifihen. and: —* 
tigen Verfefſungen wieder. 

Es verſteht ſich von ſelbſt und iſt auch bereits hervorgehoben, or in. ** 
Meße, als die hergebrachte conſtitutionelle Theorie, welche bie Vollovertretung als 
Gegenſeah und Gegengewicht Der Regierung betrachtet, ber richtigen Bag wicht, welche 
die Volkavertretung ab Organ und integrirenden Befſtandtheil der Einen untheilbaren 
Negiecungogewn alt behandelt, auch hie Uaherzeugung mehr und mehr. Platz greiſen wirn; 
daß die Gmohhlten nicht. von ‚den Wählen, ſondern ungelchet aufgeklaͤrt: und geleitet 
nud daß Die Dollöyertschangen bie offentliche Meinung machen, möcht aber von dur⸗ 
ſelben getrieben merken jollen. (©. den rt. Neihöhänbe.) - Kork ui 

Abgotterei. Das Wort Abgott (Abgötterei, abgättift ) re Der dentſchen 
Gprade Ceinfchliehlid der altnociſchen, bänifchen, ſchwediſchen une hakläuistichen). cögens 
mamlich, während ber Natur wer Sache nach Dem Griechen. amd Hörer dieſcr Wegeil 
wit feiner Bezeichnung abging. In der griechiichen Spmthe‘ tritt dafür / in ten Ueben 
feyung des ‚alten Teſtaments durch die j. :g. ftebemig Dolmetſcher das More. elömein 
(elBeohahdrpam) ein, weiches. Die .damtinifche Sprache adopurte wer anf. Ihreifkumtlicken 
Auchter Vnit Einſchlaß Der. engliſchen Sprache) nie en Vegeidmumg: für Wk 
gott, .Abgätterei, fortgepflanzt hat. Die hebraͤiſchen Wärter, für: weiche Me Geptaahltte 

dwov branchen, beveuten Lüge, Richtigkeit, Nichts. (nichtige Mefen:, ‚Ben 
miaungen); ‘ganz ähnlich bezeichnet auch Ulfila wieber bie dünia: galiug (figmeistumg; 
Eelogenes) uud galiugagudm (Migeagötter), während: ein Gubftwtio, welches unfesm 
Abgott“ Direct entfpräche, ins Gothiſchen nicht borhanden iſt; denn afguds if Amin, 
efgudei impietas.. Bemerbenswerth if übrigens noch, daß, m: Gothiſchen und 
Aechoch deutichen ver Plural won. Bott. (alfo bie Bezeichnung wer friſchen Gstter) 
nsutzale Aexion bat; fo wie, daß Dad ahd. und mbb:.apeot,: abgot auch im Binguiav 

ee Nentrum ift, fo daß Abgott und Gotter ſchon durch bie Formen ber : 
Ir aus der Abftraction bervorgegamgene,, erſomene Weſen geßennzeidimet ‘ werden; 
Des Wentfhe Wort Goͤtze iſt nichts als. Dimmutiv von Gott und lediglich aus 
Bilfih:. gur: Me jehämung eines dooie (gır Aubetung beftimansen: Gotestißer) ‚gebemnie 


ı Die ie Brage nach. vom Yarfpnang: unb ſomit au, za; vom Weſen we — 
vom zwei einander: diametral enigegengefehten Standpunkten gzwel einunder: in 
gieicher Weiſe entgegengefegte Antworten, je nachdem man nämlich eine primitive Igımes 
vanı des Menſchen won Bott annimmt, ober eine urſprimgliche Offenbarung Gottes uw 
den Menſchen, in welcher Er ıfich ald den, Der Er if, dem Menſchen kund gegeben‘ 
ſeſchatt. Diejenige Hiſtorie (Müythalogie, Symbolik mit eingefchloffen) und Piktef 

han dent Einen lebendigen Gott nichts weiß, vielmehr nichtö:nuiffen willy’ oder 
ſich einklinet von Ihm abfehen zu honnen, nimmt dad Erſters am und begeichnet Men 
fyeung: und: Weſen der Abgötterei im Allgemeinen ald das dem MWenfhtn ange⸗ 
basae Suchen Gottes, welchen nur ein unsichtiged Winden: entſpreche. Hiernach 
in Abgbeterei conſequenter Weile — und zwar am allerconſequenteſten hie möglid 
niedrige Bora derſelben — Die erfle Stufe zur Goctederkenntniß, ver no th⸗ 
wendige Aufang aller Gottederkenntniß, wie dies am nackteſten im Hegelſcheer Syſtem⸗ 
ano geſprochen if. ie un Gt geſucht wunbe, mit weichen Mittebn;- mie wolchait 


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Bu | RX 


Seſchick ofver Ungeſchick, und mit welchem mehr ober minder unzureicheenden Er⸗ 
folg er geſucht wurde, das iſt abhängig von den beſonderen Berbälnriffen, Guben amd 
Benkhungen der Bölker, Vollbaſtämme und Inpieidum. Die Einen fuchen Bott in 
Den NRatunmächten (Weltkorpern und Elementen), von denen fle ſich gebunden fühlen, 
und bie fle als’ wenn ſchon udermächtige, doch wenfchlich genrtete Petſonen auffaffen. 
DuG den yornehmften und wohl auch den Alteften polytheiftifchen Religiorten dieſe As 
fegauungen zum Grunde liegen, wird vom hiſtorifchen Standpunkt aus nicht beſtritten 
werden können; ein ungemein Träftiges und tiefe Naturgefühl, eine mächtige 'Ratar« 
frende und ein gewaltiger Naturſchmerz gebt als Grundzug durch die Abgbtteret der 
Sindu, der Barfen, dee Germanen, zum Thell auch der Griechen, hindurch. Andere 
ſuchen Bett, außer in deu Erfcheinungen und Kräften der Natur, auch in den Bätern 
und Helden ihres Stammes, und es entwidelt ſich ein Ahnendienſt, ein Heroencultus, 
daraus aber weiter ein Gottercultus, eine Abgoͤtterei. Daß auch dieſe Form der Ab⸗ 
götterei hiſtoriſch nachweisbar fei, kann nicht geläugnet werden, wenn auch dieſer Ahnen⸗ 
und Herodencultus bei weitem nicht die Ausdehnung und Bedeutung gehabt bat, bie 
man ihm ehedem zuſchrieb, wie denn I. H. Voß fo weit ging, allen Polyiheiemus 
aus demfelben ableiten zu wellen, was aller Gefchichte in ver willkürlichſten Weiſe 
Sohn ſpricht. Die Mittel, mit welchen man auf diefe Weiſe die Menfgen „Gott fuchen“ 
Heß, waren bald die PHilofophie, bald die Kunſt, zumal die Poefle, bald vie Liſt des 
HBerrſcherſtandes umd ganz befonderd des Prieſterſtandes, bald alle drei Operationen 
zugleich, nur hielt man fich meiflens daran, daß die Kunft und die Hierardjie, verbun⸗ 
den mit dem Unverfland des großen Haufens, das urfprünglih auf dem rechten Wege 
befinnäiche „Suchen Gottes“ von dieſer Bahn abgelenkt, die originären, reineren und 
erhabeneren philoſophiſchen Gedanken entſtellt und Die Menfchen zur Abgoͤtterei im 
engeren Sinne (Thierſymbolik, Thierdienſt, Bilderdienſt n. f. w.) bingeführt Hätten. Duß 
auch hierin. eine gewiſſe Wahrheit enthalten fel, foH nicht in Abrede geftellt werben. 
Geofartige und tiefe Raturanfchauungen zeichnen einen großen Thetll der alten Abgdtterel 
ud, sun Die Götterfagen (Mythen) frellen zu einem nicht geringen Threil eben biefe 
Naturanſchauungen dar; uralte Reminiſcenzen an bie Ereignifie, welche das Menſchen⸗ 
geſchlecht im Banzen oder einzelne Voͤlker erlebt hatten, prägen ſich, poetiſch geftaftet, 
in’ einer andern, gleichfalls nicht ganz geringen Anzahl von Gotterſagen aus (nur waren 
die ‚Bezeichnungen, welche man für jene Naturanfchauumgen und dieſe hiſtoriſchen Oe⸗ 
minifoenzen gebraudgte: philnfophifche und hiſtoriſche Mythen nicht ſondeerlich 
ind gewählt); endlich liegt es zu Tage, daß theils Dim Boefle, theils der Euitud 

zur: Derfehlechterung ber alten Mpthen ſehr bedeutend mitgewirkt bat, ums nur das If 
en den Mythologen, weiche die in Rebe ſtehende Anficht vertzeten haben (von Heyne 
herab His auf Buttimann) außer. Acht gelafien worben, daß Rythus und Sage fich 
durch den Gebrauch ſelbſt, weichen das Volk auch in feinen edelſten Nepräfentanten du⸗ 

von’ macht, nothwendig abnugen umd verfchlechteen. 

Die eben berührten Anfichten von dem Urfprung der Abgoͤtterei gehen mehr ober 
minder von ber Auffaffung einer beſtimmten Abficht aus, mit welcher Gott: im eigent- 
lien Sinne gefucht werde, und es hat ja Manche unter den Vertretern dieſer Am 
füchten gegeben, welche in dem gefammten heidniſchen Cultus durchaus nichts, als Briefter- 
betrug und fchlauefle Masführung des armen Volkes durch die „Pfaffen* finden mol 
tn — natürlich mit obligater Anwendung dieſes Satzes erſt auf das alte Tefkammt 
web dad Judenthum, dam auf bie Tatholifche Kirche, endlich auf das Chriſtenthum 
übsrbaupt. In den Zeiten aber, ald man zu der Einficht gelangte, daß gerade bad 
Befte uud Höchfte, was ein Volk an geifligen Gütern beſttze, eine urfprängliche Anlage 
und Babe fei, daß das Belle und Höchfle, was es producire, auf unbewußtem, Ge 
geatze Boll durchdringendem geifligen Triebe beruhe, kam auch Hinfkchtlich Der W⸗ 
goͤtterei (Mytbelogie) Die Anflcht auf und nah und nad zur Geltung, daß dieſt my⸗ 
thologiſchen Anſchauungen mit bewußtiofer Nothwendigkeit ſich aus dem geiftigen 
Leben, der geiſtigen Grundanlage und naturgemaͤßen Entwicklung ganzer: Vollker hei 
vorbildeten. So vor allem Karl Ottfried Müller, und auch Jakob Grimm's 
deniſche Mythologie ruht im Werntlichen auf dieſer Berausſetzuug. Daß Die gan 
Mothologianan und fie fich nichts anders ſei, als Beterionation und Deprayation wis 


| ‚eltupck m 
— ng Offenbarung, dab ee ine den ganzen biäker:-begeichunten Richtung völlig 
Und "doch ift dem fo. Die Abgötterei iſt im Ganzen und ohne Ausnahme Ab⸗ 
tell von dem Einem lebendigen Gott; fie beſteht aus dunkeln und ſich immer mehr 
veraunkeinden Bildern, aus. verwarsenen und ſich immer mehr verwirrenden Reminifremgen 
uefprüunglicher vollkommener Gotteserkennutniſſe, welche der Menſch nicht aus ſich erzeugt 
hatte, ſondern die ihm gegeben waren, und welche er willfürlicg von fi geworfen bat, 
Alle und jede Mythologie ift nichts als ein Inbegriff von mehr oder minder 
Bildera der Uroffeubarung, und ber Urſprung der Abgditesei iſt identiſch mit dem 
Usfprung Mer Sunde. Deu Urfprung der Sünde aber liegt einzig und allein is ber 
felbfiwilligen Berzüdung des urfpränglichen DBerhältniffes des Menfchen zu Gott, und 
dieſes urſprüngliche Verhaͤltniß iſt Fein anderes ald das des unabgebrochenen 
Dankes gegen Gott, in welchem Danfe (Rob, Preis, Ehre) alle Gotteserkenntniß usb 
alfe: Seligkeit befchloflen Liegt. Sobald der Dank unterbrochen wird, tritt eben damit 
Gleichſtellung der Menfchen mit Gott ein, und fo if das „Ihs werdet fein 
wie Gatt“ der Urſprung, das „Siehe, Adam ift geworben wie unfer eines" (Gene. De 
4 22) Die erſte Vollziehzung der Abgotterei. Daß dem fo ſei, jagt ber Apoſtel Paulus 
Ram. 1, ZI in der ungweibeutigften Weife, und es möchte wohl die Zeit nahe fein, daß 
biefer Ausiyruc des Apoſtels nicht mehr als ein „bloß yaränettjchen“, bie Abgdtierei 
nur ˖ auf, populäre, erbauliche. Weife erklaͤrender, ſondern ald ein bie tiefe Weisheit, 
die Wahrheit an fich, enthaltender Ausspruch wird gefaßt, Iind jebe andere Erklärung 
ber Abgötterei ald heidniſch wird betrachtet werben. Im dem Sinne bes Apoftels 
Paulus, d. h. im Sinne der Offenbarung, faßten auch Die Kirchenväter und bir. ältern 
Dogmatiler der evangeliichen, zumal der Intherifchen, Kirche den Urferung der Abgoͤtterei 
anf, und jene erfierwähnten Vorſtellungen von dem Urſprunge her Abgöttarei datiren 
ig Der Hauptſache erſt aus dem 17. Jahrhundert, als das Heidenthum auf Dem Wege 
ver fogemannten Wiederherſtellung der Wiflenfchaften” im Deigmud bie Verdraͤngung 
des Chriſtenthums aus dem Geſichtalreiſe der „gebildeten“ Welt zu vollziehen hegann. 
Nur, daß die Altern Deiften nad) der ſeltſamen Gedankenverwirrung, welche ben Deismus 
Saraktesifitt: die Offenbasung zu verwerfen, bie eigenthümslichen, Lehren der Offenbarung 
oben beizubehalten — darauf beftanden, es fei eben. der Monotheiamus tem Menſchen 
„angeboren“, und die Abgötierei im Ganzen fei durchaus nichts anderes als Prieſter⸗ 
berug u. Del. 

- Mash der Offenbarung iſt der Menſch fein eigener und erſter Abgott 
— er ſtellt ſich Gott gleich, fig Gott gegenüber. Aus dieſer urſprünglichen Form der 
Absotterei geben erſt die andern Formen derſelben, als ihre Folgen, hervor; jo wird 
un Die Abgötterei, Die der Menſch mit ſich ſelbſt treibt, von. dem Apoſtel Paulus 
Ram. 1, 23 an erfler Stelle, vor dan übrigen Formen der Abgotterei, genaunt. 
Dieje urfprüngliche Form der Abgötterei, Die dem lebendigen Gott gegenuber ſhende, 
dauflofe Stellung, welche der Menſch ſich ſelbſt anweiſt, zeigt ſich in. den nach dem 
Falle folgenden Begebenheiten völlig unverhüllt in dem Trotze Kains gegen Gott, 
welchen er auf ſein ganzes Geſchlecht vererbte, in dem Trotze des Kainiten Lamech 
(Geneſ. 4, 23243; eine der ſtaͤrkſten Trotzreden, welche jemals find ausgeſprochen worben.: 
‚Die Erſchlagung des Mannes dient mir zum Ruhm“ — anſtatt Daß fle zum Fluch vor 
Gett. wirklich diente und als Den Fluch besvorsufend hätte anerkannt werben follen), fo 
wie in Dem Trotze des nachhnoachitiſchen Geſchlechtes wider Bott, welches die Kindheit, 
den Beiland und den Ruhm des Menichengeichlechtes in der eigenen That ſuchte 

Die nächſte Folge der Abkehr des Menfchen von Gott war feine Gebundenheit an 
Die Natur, deren Maͤchte und Kräfte; daher ift der Naturcultus, in welchem ber 
Menſch ur feinen Kol, feinen Abfall von Gott Documentirt, allerdings eine der älteften 
Barmen ber vorher bereits vollgogenen Abgotterei. Ihm zunaͤchſt ſteht der Ahnen⸗ 
culta, in welchem wiederum dar Meufch nur ſich ſelbſt im feiner Loſgetrenntheit bon 
Geit zu verherrlichen — die Stammuäter des SGefchlechts gleichſam als Schöpfer 
des Geſchlechts — zu verherrlichen ſucht. Aus dieſen beiden Formen folgt dann erſt 
die dritte, noch mehr untergeordnete, depravirte Form, ber Bild erdien ſt, die im 
engern Sinne „Abgötterei” genannte Abgötterei. 








WM Yuybtiarl; on 
Ab Ve Abzoetetei wird mithin Ah ver abch nicht gekannte Gott ‘alt: Tin uvch 
zu erkennender geſucht, ſondern ber verlorene, vielmehr verworfene Get wird wieder 
geſucht, aber fortwähtene innerhalb des bereits vom Anfange ver Saude an 
dorhanvenen Gegenſahes gegen Gott wieder geſucht; Remtniſerczen un der 
nf nahe und gegenmwättig erkannten Ginen und wahren Gott bleiben allerdiugsieig 
(wie namentlich in den Opfern und dem Opfrercultus), aber virfe Reminiſtengen find 
bei alten Bolkern in fletd zunehmender Verdunkelung begriffen, bis die’ Naturgbtter 
oder Ahnengoͤtter der Spott ihrer eigenen Anbeter werden, wie das in wer 

tomiſchen Abgditerei offen zu Tage Kegt, aber au in der germanifchen Mythologie in 
einzeknen unvertennbaren Spuren bervortritt. — Hierbei kommt noch ein Umſtand ganz 
beſonders in Anſchlag, welcher in ber Darſtellung ber Entſtehung und Entwicklung ber 
Abgottorri genau erwogen zu werden verbient, aber kaum jemals Erwägung gefunden 
Yat. Er ift die ſchon in Kains Geſchichte deutlich genug ſich zeigende Erſcheinung, Daß 
da, wo das Gerz des Menfehen wider Gott tft, alfo in Gott bes Richter und Räder 
erkennen muß, folglich Furcht vor Gott hat, eben viefe Furcht die Urſache davon wird, 
daß man felbfigemachte Böttergeftalten zwiſchen fich und den wahren Gott einſchiebt, 
um durch ſolche Fictionen, feien das nun materielle Bilder oder Ideen, „Ideale“, ſich 
ven lebendigen, wahren Bott fern, gleichſam von Leibe, zu halten. Daß vem ſo fei, 
wird am beutlichften Jeſaia 41, 4—10 ausgefprochen. Alſo if die Furcht allerdings 
Mitınfache der Abgbtterei, aber nicht bloß die Furcht vor den Naturmächten, in deren 
Dienſt ſich der Menich durch feinen Abfall von Gott geſtellt hat, fonbern eben Die 
Berwifiensfurdyt vor dem lebendigen Gott. 

Es macht Hmflchtlich der Abgdtterei nach allem dieſen keinen Unterſchied, ob bie 
Abgötter Bilder ſind oder Fetiſche, oder Naturkraͤfte, oder Nenihengedanten, 
oder Menfgengelüfte (wie der Bauch oder ber Geiz) oder das Menſchenindivi⸗ 
Buum, oder die Welt ſelbſt in ihrer Totalität, oder Die Menſchheit ih. ihter Tota⸗ 
Riat, oder der Geiſt des Menfchen, oder auch „der abfolute Geifl”, Die „Idee 
on ſich.“ Wer Gott eine „Idee“ nennt, neben fo viel andern Ideen, der ift ein Ab⸗ 
götteree, denn er ftellt hiermit den abfolut ımvergleichbaven lebendigen Gott (Iefeda-40, 
25. 42, 8. 48, 11.) andern Wefen und den Vorftellungen von venfelden gleich. Es 
fe darum ein fa Tächerlich zu nerinender Irrthum, wern man zwifchen eigentlidper 
und unetgentliger Abßötterei unterfcheiden wollte, als fei jene der Glaube an bie 
Healität der vielen Bötter und die Abgötterei im engern Sinne (der Biderdimft, Bir 
eigeritliche Idolatrie), dieſe aber der Cultus der Gbtter als Ericheinungsformen 
Syncbole, Untergoͤtter) des wenn ſchon dunkel erkannten Einen Gottes. Noch ver⸗ 
ſehlter und wahrhaft armſelig aber war es, von einer metaphoriſchen Abgbtielel 
zu reden, und daruntet den Bauchdienft (Kom. 16, 18. Phil. 3, 19) und be Gel 
(848. .3, 5) verſtehen zu wollen, waͤhrend beides techt eigentliche and fogar urfpräng- 
liche Adgötterei if. Alles, was gegen den lebendigen Gott, gegen den in feiner Bett 
herzigkeit ſich offenbarennen Gott, was gegen den Dank, welcher biefem einen, wein 
barmberzigen Gott gebüchrt, angeht, iſt Abgötterei, und es muß ganz befonders hervor⸗ 
gehoben werben, daß auch die Berwerfung Chrifti, des Gekreuzigten und Auferſtandenen, 
nichts anderes ale Abgötterei ft (1 Cor. 8,.5—6. 1 Joh. 5, 20-21), nichts anderes 
ats diefe® principale crimen generis humiani, summus secult rentus, tota ealisa 
judieii, (das Hhauptfächlichfte Verbrechen des menfchlichen Geſchlechts, die hohſte 
Schuld der Zeit, der ganze Grund des Gerichts), wie ſte Tertillian bezeichnet. Wer 
auf einem arbefn Wege als durch den Dank für die Wohlthaten Gottes jur 
Erkenntniß · Gottes gelangen will, und wer Chriſto für feine Fleiſchwerdung nicht 
vanken mag oder nicht danken zu 'Tünnen meint, der ift ein Abgötterer. Arge 
Berkehrung iſt es demnach auch, die Grucifire als Abgötter (Goͤtzen) zu bezeichtnten: 

Noch mag erwähnt werben, daß Die ſchon alte Anſchauung, als ſeten die 
Heidengditer nicht bloße Cinbildungen, ſondern Werklefbungen : des Fürſten diefer 
BAR, des Teufels, keineswegs ald ganz unſtätthaft verworfen werden "darf, md 
Aa ſich für Die Richtigkeit dieſet Anfchauung nicht ganz ohne Berechtigung anf bie 
Rntwort, welche Chriſtus Matth.12,27 auf den Vorwurf ber Pharkfärr B. 24 giebt, 
berufen mag. ' 


XX 


m. Be frucheſte Erwähwung ber Staumes götter, gegenicher denr wahren Gott, wmib 
des Bilderdienſtes (der Theruphim) findet fh in Jakobs Geſchachte Geueſ. 31, 19. 
29.53. 352. Vgl. Joſua 24, 2. Ze ot a au 
 ' Möhohen wird im Gegenfag zum forfiwirthfinaftichen Abtrieb oo Babe 
beſanden gefügt, deren Boden nach MWegnahme vbes Holzes in Acker umgewintdelt Wir. 
Dir Znouftrie ringt dem Walbe jedes Stück guten Bodens ab. Doch durch das Ver⸗ 
ſchwinden der Wälder wird im Allgemeinen der Waſſermangel herbelgefiihrt md uni 
gäuftig anf die Reinheit und Geſundhett der Luft eingewirkt. Die atmoſphaͤrtſchen 
Mich erjchlaͤger Khan, Regen, Schnee, Hagel find nämlich in Waldgegenden hauftgor 
als in freien Ebenen und Steppen, und da die Waldpflanzen vorztaglich Sauerſtoff 
aushauchen, Stickſtoff aber einathmen, fo wird bie Kauft, wenn nicht andere "Elemente 
einwirken und dem der Geſunbdheit des Menſchen nöthigen Sauerſtoff genügend erſeten, 
ſich namentlich in: Ebenen, wie übervolkert ſind, verſchlechtern, je mehr man da don 
Wald ausronet. Aus dieſem Grunde zieht auch vorzüglich die Peſt, Cholera se. wem 
Otalm Der Städte nach, die keine Wälder in ihrer Mühe haben. ir 
+" Wurßer diefen Nachtheilen treten noch in gewiſſer Beziehung moralifche hinze, 
wenn’abgeBolzte größere Terraitithefle an noch fiehennen Wald "grenzen, indem le 
dann zit Ausbauen, Anlegung von Beinen WBirtbfchaften Veranlaffung geben, deren 
arte Vewohner der Berfuchung zum Holz⸗ und Wilddiebſtahl ausgefeht werden. So⸗ 
genannte Bauerfabeln aber, die auch zu dieſer Ant gehören, werben, nachdem fle des 
Holzbeftandes beranbt find, felten wieder genuͤgend angebaut, verringern dadutch bad 
Natlonateinkommen oder liegen ganz tobt und verwüftet da — well fie eben abge⸗ 
bolzt und der Boden bei zum ſpaͤrlicher Düngung in kurzer Zeit für den Fruchtbau 
zu fchlecht wire. -— | | 
Die Staatögefehgebung bat niemals den Privaten volle Kreihelt in der Bewirth⸗ 
fegaftumg' ihrer Walbdungen zugefiehen künnen und zugeftanden, und wo fie eine Zeit lang 
Use Aufficht einfchränkte, zeigten fich bald die bevenklichen Folgen. Die nativnal ⸗bkonb⸗ 
miſche VDhrorle vom 'Ende des vorigen und dem Anfang dieſes Jahrhunderts verlangte 
voltſtanditze Ferihtit der Eigenthämer, über ihr Gut, auch über ihren Wald, gu Werfügen; 
aber di⸗ Folge ſolcher freiem Berfhgungen war oft der Ruin weiter Landſtriche | Teruns 
rige Erfahrungen: haben -gegembärtig in den meriſten Ländern den Staaten das Bernhft« 
fein ihrer Pflicht zu ſrrenger Aufficht Aber den Wald zuriegerufen. " Frankreich, in 
neueſter Zeit mehrfach durch Ueberſchwemmungen ſeiner Flüſſe ſchwer beſchaͤbigt, hat 
ein: nenes ſtrenges Forſtgeſetz erlaſſen, weiches den Grundſatz aufſtellt, „bie Regierung 
babe das Recht, das Werk der früheren und Die Hoffnung der fpäteren Generationen 
gegen "bie Launen des jept lebenden Geſchlechts zu ſchützen“. Freilich haben gelehete 
Fachmanner brhauptet und bewieſen, daß nicht ausfchliehlich die maſſenhaften Abhol⸗ 
zautgen an dieſen Ueberſchwemmungen, die zum großen Theil durch ‚ungeheure Waffer⸗ 
niederfchlige entſtanden, Schule feien. : „Sie waren fo maflenhaft, Daß die Bewalbung 
ver kahten -Bergrinten: und fonfliger bisher cultivirter Bodenflachen Ihre plögliche An 
famimlühgeh ums bin Austritt der Fläfſe nur wenig zu hindern vermag.” Jene unge⸗ 
heueren Ri äge mögen nun allerdings nicht ausſchließlich durch die Boden⸗Con⸗ 
figaration Gegend bedingt, fondern u. A. auch Folge der Berfchiebung - bed 
oberen Puffat fein. — Jedenfalls aber würde, wären dort größere Waldmaſſen vor⸗ 
hansen, den Fluthen ein Halt geboten und zunächft wohl gar dem Üegen eine 
andere Richtung gegeben Wworben. ‘Dies ift denn auch in neuefter Zeit in allen Staaten 
anerkannt worden, und ſelbſt im Jahre 1848 zeigte fich bier und da in Stände« 
verfammlangen Hefe Anerkennung, 3. B. in Sannover, wo damals der Megierung 
auheinigegebeit wurde, Maßtegeln zur nachhaltigen Sicherung des Beſtandes der Ge⸗ 
——8 treffen. In Preußen regt ſich ebenfalls überall die Einſicht, daß eine 
großere ſtaatliche Fürforge für dem Wald nothwenbig fei, und gerade am Rhein, wo 
freilich: mit” dem Waldbeſtande feit Menjchenalter unverantwortlih umgegangen und 
fü Der: Gebirgäftrich ner. Effel durch Abholzung rainirt ward, zeigt fich ein eifriges 
Beftreben, den Wald: neit zu ſichern und zu gründen. | 
Won beſonbetem Intereffe ind die darauf bezüglichen Berathungen, die aut 
Mederrhein ſtautftuwen. Ani 19. November 1857 Tamen zu Remſcheid, mitten in den 


Lv 





Bergen, bie Landraͤthe der Kroife Elberfeld, Sennep und Solingen zuſammen, wet ihnen 
Die Bürgesmeifler und hervorragende Bürger und Grundbeflger der Gegend, -unb bes 
rietben über eine forfimäßige Wiederbewaldung der fchon vielfach verddeten Bergrücken 
uad Wläcden des hergiichen Landes, Der Obenforkmeifter der Düffeldogfer Meifferung, 
der übre den Wald diefer Gegend in oberſter Provinzial-Inflanz zu wachen bat, gab 
des Verſammlung eine lieberficht der Sachlage, der aus derſelben hervorgehenden Uebel⸗ 
flände und der Mittel, Denfelben entgegen zu wirken. Er fand die letzteren gleichfalls 
in der Herfielung eines Träftigeren Forſtſchutzes, theils durch das Belek und 
eine energiſchere Handhabung deſſelben, theils durch die Bildung von Forſtſchuzbezirken 
won die Anſtellung von tüchtigen Schutzbeamten in venſelben. 

Die fermere Mittbeilung eined Befeh-Entwurfes, welder von dem Tänig 
lien landwirthſchaftlichen Rinifterium entworfen, der Föniglihen Re⸗ 
sierung zur Begutachtung vorliegt, veramlaßte eine Tängere Beiprechung. In biefem 
Entwurfe iſt das Princip ausgeſprochen, daß mit Rückſicht auf das allgemeine 
Wohl eine Beſchränkung der freien Didpofition des Eigenthümers 
ſewohl über die Wälder, als über die Verwendung des nur zur 
Holzzucht geeigneten Bodens eintreten: müffe. Der Staat fell in letzterem 
‚ Belle auch Die nicht einwilligenden Beflger, welche zuvor zu vernehmen, zur Wieder⸗ 

Cultur Durch Exetutionsſtrafen anhalten, wenn die größere Hälfte bed Complexes Der 
Flaͤche nach ſich für die Bultivirung ausfpricht. 

Der Geſetzentwurf faßt auch die Bildung von Genoſſenſchaften in's Auge, melde 
fi zur Wiederbewaldung größerer Stredden Landes bilden follen, und dieſe Genoſſen⸗ 
fegaften find auch auı Rhein bereits in der Bildung begriffen. 

In der Landtags⸗Seſſion 1858 wurbe das verheißene Geſetz noch nicht vorgelegt, 
dach darf es für die nächfle Sikung erwartet werben. 

Im preußifchen Haufe der Abgeordneten wurden 1858 bereit# darauf bezügliche 
Antraͤge eingebracht, welche ein „Korfteulturs Gefep zur Verhütung Dee immer mehr 
um ſich greifenden Entwalbung” (Antrag Hellfeld's), außerdem aber auch verlangten. 
„ed möge in Died Geſetz die Beſtimmung aufgenommen werden, daß bebufs Wieder- 
bewaldung öder Landestheile die betheiligten Grundbeſitzer zu gemeinfamer Anpflan- 
zung und Unterhaltung von Waldungen zu Genofienfchaften auf Grund flatutarifcher, 
her Ianbesherrlichen Genehmigung unterliegenber Seflfegungen vereinigt werben können * 
(Antrag Melbeck's, Maurer's u. Gen.). _ 
’ Genauere ftgeiftifche Machweifungen über die Kortichritte, welche die Abholzungen 
feit dem Aufkommen der neuen Volkswirthſchafts⸗Theorien gemacht haben, fehlen lei⸗ 
bes: aus den vorhandenen jtatiftiichen Ueberfichten erfeben wir nur, daß bad König 
reich Preußen in Deutichland hinter den meiften Laͤndern an Waldreichthum zurückbleibt, 
nur Hanuover, ÖOlpenburg, Medienburg- - Schwerin, Limburg, Holflein und Lauenburg 
ſtehen darin noch mehr zurüd. Haft ein Drittel des Bodens des Öflerreichifchen Kai 
fesftaates, ebenſo Bayerns, ift mit Wald bedeckt, in Preußen nah der Schäbung von 
1852. 19,78 pCt., während nad} der allerdings mangelhaften von 1849 nur 18,12 pEt. 
(in der Proyinz Preußen 15,74; Poſen 18,53; Brandenburg 21,96; Pommern 17,39; 
Schleſten 21,77; Sachen 14,53; Weftfalen 24,13; Rheinprovinz 29,11 pCt. Siehe 
Dieteriei, Mitth. Des flat. Bur. 1855. ©. 134). Vom preußifchen Gebiete waren 
1852 überhaupt bewaldet 21,610,419 Magd. Morg. Die weitlihen Provingen haben 
allerdings mehr Procente Wald als die öftlihen; aber, da fle dichter benölfert find, 
fommt auf jeden Einwohner bort Doc weniger Morgen Wald als hier. Indeſſen er- 
feßen Die dem Bellen. eigenen reichen Steinfohlengruben einen etwaigen Mangel. Der 
Wald bedeckt in Süddeutſchland durchſchnittlich ein Drittel de Landes, am meiften in 
Naffau (42,13 pCt.), im Kurfürftentgum Heſſen (40,04 pCt.), Sachfen » Meiningen: 
(36,71 pCt.), Großherzogthum Heffen (33,05 p&t.). Vom franzöftigden Boden find 
14,73 p&t. mit Wald bedeckt, von dem Englands kaum 5 pG&t., von dem Rußlands 30 pEt. 

bhorrerd (Verabſcheuer), ein politifcher Parteiname in England zur Zeit der 
Reftauration unter Karl I. (1660-1685), ben ſich die Anhänger ded Könige bei⸗ 
lzgten. Die Rayaliſten hießen zu verfelben Zeit auch Antibirminghams und Tantivies 
(blindlings Folgende und Gehorchende). Diefe Bezeichwungen, fo wie ihre Gegenfähe 


a 





Ab instantla, - Abiturient. 189 


(Birminghams, Petitioniften und Erchufloniften als Benennungen für: Die Gegner bes 
Hofes) veralteten bald und machten den noch heut eriftirenden Parteinamen Tory 
und Whig Platz. (Macaulay, Gefchichte von Englanp c. 2.) 

Abhorrers nannten ſich die Anhänger des Königs, weil fie die Grunbfähe der 
mit Dem Blute König Karl des Erſten befledten Revolutionsparteien „verabfeheuten. “ 

Ab instantia freiſprechen heißt im Eriminalprozeß den eines Verbrechen⸗ Ange⸗ 
ſchuldigten durch Richterſpruch nur einſtweilen für ſtraflos erklaͤren (vorlaͤufig freiſpre⸗ 
chen, von der Inſtanz entbinden). Eine derartige halbe Freiſprechung (absolutio re- 
bus stantibus) ſoll ftattfinden, wenn einerſeits ein zur Beſtrafung hinreichender Beweis 
der Schuld nicht vorhanden, andrerfeitd flarke durch den verfuchten Gegenbeweis nicht 
befeitigte Verdachtsgrunde ftehen geblieben find. Es fol hier der Angeſchuldigte fort 
während im Anfchuldigungdzuftande gebalten, mit dem endgültigen Richterſpruch nach 
der einen oder anderen Seite hin fo lange Anftand genommen werben, bis neue Ermits 
telungen hierzu einen ficheren Anhalt gewähren. 

Mit Unrecht hat man den Urfprung der absolulio ab instantia bald im römifchen, 
bald im canonifcherechtlichen Strafprozeß, ja fogar in der Garolina geſucht. Ste ift 
ein Kind der gemeinrechtlichen Praris, einer der vielen Nothbehelfe des principienlofen 
Inquifitionsprozeffed, von den Juriften Anfangs bekämpft, nach Befeitigung der Tortur 
aber mit offenen Armen aufgenommen. 

In der That war denn auch der Griminalrichter, dem die flarre Beweiätheorte 
vorgefchrieben war, in die Notwendigkeit verfeht, Sureogate zu fchaffen. Statt die 
Demeisibeorie, welche man ald unantaftbared Heiligthum betrachtete, zu lodern, erfand 
man für Bälle, welche nur dem Indicienbeweis zugänglich waren, die außerordentliche 
Strafe und als legte Abſchwaͤchung verfelben die vorläufige Freiſprechung. Man ver» 
wahrte fein juriftifchesi Gewiflen und gefährvete das Anfehen der Gerichte und ber 
Gerichtsherren. 

Dad Verdammungs⸗Urtheil, welches dieſe Proceß⸗Einrichtung ſeit Einführung 
des Anklageproceſſes und Befreiung des Beweiſes im Strafverfahren überall getroffen, 
(nur in Defterreih bat man fie beibehalten) ift in jeder Hinficht ein gerechtes. 

Eine unbegrängte Fortdauer der Unterfuchung, wie fle die Inftanzfreifprechung in flch 
fchließt, Tiegt dem Ziel der Strafe und des Strafprocefies eben fo fern, wie ber Würde 
der Juſtiz. Die Strafe foll begangenes Unrecht fühnen. Darum muß fle aber eine parate 
fein und nicht in ungewifle Ferne verfchoben werden. Der Strafproceß dient zur Fin⸗ 
dung ficherer und objectiver Wahrbeit, als der Bafld des Richterſpruchs. Es Teuchtet 
ein, daß, je mehr Zeit vergeht, bio zur Feſtſtellung der Ergebniffe und zur Anwendung 
der Erforfchungdmittel der Unterfuchung defto mehr die objective Klarheit des Befundes 
leiden muß. 

Die Waage der Gerechtigkeit hat nur zwei Schalen. Das Schuldig gebührt ver 
gewiffen Schuld, der Unfchuld und der ungewiffen Schuld die Breifprehung. Der 
Nichter, welcher von der Inftanz freifpricht, nimmt der Polizei ihre peinlichfte Function 
ab, indem er das Verdaͤchtigkeits⸗Urtel fällt. So ift denn auch erfahrungsmäßig 
ber Nutzen, welchen die Freifprechung von der Inflanz bin und wieder gebracht bat, 
ein böchft geringer geweien; da nur in fehr wenigen Fällen die Wiederaufnahme der 
Unterfuhung den Schuldigen der Strafe überliefert hat. Mindeſtens dürfte die Zahl 
derer gleich groß fein, die unfchulbig unter den harten Folgen gelitten haben, welche 
bie vorläufige Breifprechung in der Megel nach ſich zug. Es war dies eine dauernde 
Beicholtenheit, Verluſt der Ehrenrechte, häufig fogar ſchwere Cautionen und Sicherungs⸗ 
Arte. Nach der Preußifchen Eriminal-Orbnung von 1805 mußte ber vorläufig Frei⸗ 
gefprochene immer die Proceßkoſten tragen und Eonnte unter Umftänden auch der Po- 
lizei - Obfervation überliefert werden. (S. Mittermaier, Fra Strafverfahren 
$ 193; Zachariae, Archiv des Criminalrechts 1339, pag. 371 sy.) 

Ab intestato erben, d. b. erben, ohne daß ein Teftament errichtet ift (f. Erbredit). 

Abiturient Heißt derjenige Schüler eines Gymnaſtums, welcher die durch daffelbe 
zu erwerbende Geiſtesbildung in einem folchen Maße fich angeeignet bat, daß er Feiner 
feeneren Unterweiſung mehr bedarf, um. fofort diejenigen wiffenfchaftliden Studien zu 
machen, zu welchen das Gymnaſium die allgemeine Vorbereitung und "geiftige Aus» 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 9 


0 Abiturieni. 

rüſtung gewährt. Je mehr allmaͤhlich das Gymnaſium in ber Praxis als eine bloße 
Vorſtufe zur Univerſitaͤt angeſehen worden iſt, deſto mehr hat jener Name die Bedeu⸗ 
tung eines ſolchen Gymnaſtalſchulers bekommen, ber zu ben Univerſitaͤts⸗Studien reif 
iſt. Indeſſen bat ſich daneben mit der ganzen Schärfe des Princips auch Die gewiß 
unverwerfliche Anſicht geltend gemacht, daß die Gymnaflalbildung an und für ſich einen 
felbftftändigen, nicht von den darauf folgenden afademifchen Studien abhängigen Werth 
babe; und «3 hat dieſes ſich auch in dem Mapflabe praktiſch fund gethan, wonach 
auch für andere Zweige der öffentlichen Verwaltung ald für diejenigen, zu denen Uni⸗ 
serfitäts = Studien verlangt werden, die Meife eines Abiturienten feftgefegt worben if. 
Um diefer beflimmten Beziehung willen, die für bie eine wie für die andere Gattung 
zu den Aufgaben und Leiftungen des Staatsdienſtes eingetreten iſt, bat man ein eige- 
ned Abiturienten aber Maturitätd-Eramen, in einigen Ländern auch Ab⸗ 
folutorial- Eramen genannt, und zwar jet wohl fo ziemlich in allen beutichen 
Staaten (in Lübeck beſteht es jedoch nur für die fremden Schüler aus denjenigen Län- 
dern, in welchen ein folches üblich if), wenn auch mit weientliger Verſchiedenheit in 
der Urt und dem Maße her einzelnen Beflimmungen, angeordnet. Der Urſprung biefer 
Examina ift allerdings nicht fehr alt; an einigen Anflalten findet man gegen den 
Schluß des vorigen Jahrhunderts ein Vorſpiel derfelben in dem an bie abgehenden 
Schüler gerichteten Verlangen, durch eine eigene Iateinifche Arbeit Die erlangte Reife 
zu bocumentiven. An den meiften Gymnaſien waren fie indeß vor einigen Ighrzehenden 
noch eine unbelannte Einrichtung. Auch Tag, fe lange die Gymnaſien oder früheren 
Lateinifchen Schulen ihren communalen oder localen Charakter an ſich trugen unb ihre 
Leitung zu ber oberflen Staatsbehörde in Feiner unmittelbaren Beziehung fland, bie 
Nöthigung dazu fern. Je nachdem fie aber mehr und mehr in den Zufammenhang der 
Raatlihen Verwaltung bineingezogen wurden, inäbefondere je mehr nach den deutſchen 
Befreiungskriegen bie nicht geringe geiftige und fittliche Bedeutung der Gymnafien für 
das ganze Leben des Volks von tiefblidenden Männern in Anfchlag gebracht und ges 
würdigt wurde: deſto mehr war aud dad Bedürfniß beflimmter Darlegung ihrer 
Zeiftungen empfunden. BZunächft mußte Dies den Charakter einer dem Staate abzu- 
legenden Nechenfchaft annehmen und daher die Theilnahme, reſp. Leitung eined von 
der oberften Staatsbehörde abgeordneten Beamten, Regierungs⸗ oder Minifterial«Gom- 
miffärd erforderlich fein. Es wurden dazu Männer auserfehben, die dazu nicht blep 
durch allgemeine willenjchaftlihde Bildung, ſondern auch durch genaue Kenntniß ber 
alten Sprachen und Grfabrung in den Leiflungen einer oberften Gyumafialklafe 
vorzugsweiſe geeignet und berufen waren. Aus gleihem Grunde ift in Würtem- 
berg die Einrichtung eines allgemeinen Land - Examend gettoffen worden, das all 
jährlich zweimal, um Öftern und im Herbſte, unter Leitung eines Mitgliedes her 
Oberftudienbehörde von Lehrern der verfchienenen Gymnaſien in der Hauptſtadt des 
Landes gehalten Wird, um über die Zulaffung zum akademiſchen Stubium zu entſcheiden. 
Im Laufe des Zeit ift jedoch jenes fchärfere, ſtreng beaufſichtigende Verhaͤltniß je nach 
dem Wechfel der Zeiten, Perfönlichkeiten und Stimmungen, vieler Orten in eine mehr 
milde oder lodere Form verwandelt worden, fo daß an die Stelle gefehlicyer Norm 
und objectiver Haltung das freiere Gepräge perfönlichen Vertrauens getreten if. Waͤh⸗ 
rend dies Daher in Preußen z. B. unter Anderen die practifche Folge gehabt Hat, 
daß den durch tüchtige fehriftliche Leiftungen bewährten - Schülern die mündliche Prüfung 
ganz erlaflen werben barf, hält man anderswo ſtreng an, den urfprünglichen Beſtim⸗ 
mungen feft oder bat dieſelben noch verſchärft. Auf dieſe Weile Hat fich denn in 
Deutfchland eine reiche Scala der mannichfaltigften Abweichungen ausgebildet. Es giebt 
Länder, wo die Aufgaben zu den fchriftlichen Arbeiten vom Riniſterium den Lehrere 
Gollegien verſchloſſen zugefendet und bie corrigirten Arbeiten an's Minifterium einge- 
ſchickt und von dieſem wieder an fachverfländige Genjoren zur Reviflon gegeben werben 
(Bayern). Es giebt wiederum andere Länder, wo von irgend welcher Beauflicktigung 
Seitens der den Gymnaſien des Landes vorgefeßten Oberbehörde gar Feine Rede ifl, 
wo unter ſchwacher Beiheiligung einer Localbehörde den Lehrer » Collegien ber freiefte 
Spielraum bleibt, jo daß felbft wefentliche Beflimmungen des in voller Gültigkeit 
ſtehenden Geſedes gänzlih unberüdfichtigt bleiben und auf die mögliche Erfüllung 





! 


Sieh. 131 


deſſelben Dusch Die dafür unerläßlichen Uebungen’in Der Praris des Gymnaſial⸗ Unter⸗ 
sichtö gar kein Bedacht mehr genommen wird. Die Stärfe dieſer Gegenſaͤtze prägt 
ſich unter Anderem an der Ihatjache aus, daß im Laufe des letzten Jahres für has 
Herzogthum Holſtein (mo biäher überhaupt kein eigentliches, Durch flaatliche Norm vor⸗ 
gegeichnete® Maturitätö-Eramen flattfand) ein befondered, genau ins Einzelne eingehenves 
Normativ erlaffen worden if, während für die beiden Gymnaſten des Großherzogthums 
Sachfen-Weimar in völliger Uebereinſtimmung der Directoren bie gänzliche Aufhebung 
der Maturitaͤts⸗ Examina beantragt und in Folge deflen minbeftend eine wefentliche Ver⸗ 
einfahung und Beſchraͤnkung auf einigg Kauptfächer befchloffen worden il. Es if 
nicht zu leugnen, Die ganze Aufgabe, auch wenn fie noch ſo feharf gefeklich formulirt 
wird, kann nicht anderd als von fo verfchiebenartigen PBerfönlichkeiten und bei der 
Menge der weit auseinander gehenden pädagogifchen Richtungen fehr verfchieden gefaßt 
werden. - So ifl denn auch der Werth und Nugen derfelben vielfach überfchägt, ja 
biöweilen Die ganze Einrichtung als Mittel, um den Fleiß der Jugend zu fpannen und 
die Richtung ihres Strebend zu beberrfchen, geradezu gemißbraucht werden. Es find 
daher ſchon im Verlaufe einer verhältnigmäßig Fürzeren Zeit manche Aenderungen, Be- 
fehränfungen des Umfangs oder Herabfegungen des urfprünglichen Zieles nothwendig 
geworben; es bat vor falfhen Auffaſſungen und verkehrten Richtungen gewarnt und 
mit Nachdruck auf dasjenige Willen und Können bingemwiefen werben müflen, welches 
eine wahre Geifteöbildung vermittelt und darum ein wirkliches Beſitzthun der Schüler 
zu werben geeignet ifl. Dagegen bat man alles banaufljche Treiben, bie maßlofe und 
verwirrende Polyhiſtorie und den encyklopädiſchen Gedaͤchtnißkram zu verbannen ge- 
fucht und nicht mit Unrecht die Beforgniß gehegt, daß, wenn eine foldge Richtung der 
Jugend von Lehrern irgendwie noch unterflühbt und gefördert werde, dadurch Das ver⸗ 
derbliche Vielerlei, von welchem die Gymnaſien theild bedroht, theild beimgefucht wor⸗ 
den find, immer müchtiger und zerflörender in biefelben eindringen, aber Die freie Liebe 
zu wiſſenſchaftlicher Beichäftigung verloren geben werde. Wenn das biturienten- 
Examen aljo in diefer Weife gemißbraucht und dadurch gefährlich werben Tann, fo fragt 
es jich freilih, ob eine ſolche Gefahr nicht auch ohne daſſelbe eintreten und eben fo 
nachtbeilig wirken fünne, wenn fie ſich auch flatt dieſes anderer Mittel zu bedienen 
babe. Unleugbar ift das Examen aber ein Megulator der dad ganze Leben eines 
Gymnaflumd durchdringenden, noch immerfort fo divergirenden pädagogiichen Grund- 
richtungen; es ift ein Barometer, an welchem der Schwerpunkt ded gymmaflalen Lebens 
efannt, den einjelnen Lehrern wie den gefammtten Lehrer» Collegien die Summa ihrer 
Aufgabe zum Bemußtfein gebracht und bei der unendlichen Verſchiedenheit der Rich⸗ 
tungen, Grundanſchauungen und Bebürfniffe die unerläßlihe Einheit immer wieder er- 
faßt werden Tann. Uber freilich iſt es auch nicht zu verfennen, daß es eine Form 
und Behandlung deffelben geben kaun, hei der eine gänzliche Aufhebung beilfamer wäre. 
Aus dieſem Grunde bat ed denn auch ſchon lange vor 1848 nicht an ernflen Stim⸗ 
men gefehlt, wie ohne Zweifel die nächfte Zukunft noch mehrere bringen wird, bie es 
als nachtbeilig ganz aufgehoben willen wollen, bie wenigftend dann, wenn es nicht 
ein Ausweis der Gefammtleiflung der Schule vor den flaatlichen Auetoritäten if, etwas 
Schiefes und Störendes in einer Prüfung durch die mit viel beſſerer Kenntniß ihrer 
Schüler audgerüfteten Lehrer erblicken. Diefe Bedenken haben aber natürlich mit jenem 
Sturme nichts gemein, der im Jahre 1848 auch gegen diefe Einrichtung losbrach, 
dem aber durchweg eine tiefere Auffaffung des Gegenſtandes mangelte. Es bat aber 
auch damals fchon an eifrigen und gewichtvollen Vertheidigern der Sache nicht gefehlt. 

Ablaß, Indulgentia. Die chriſtliche Kirche, als Gottes Anftalt zur Erziehung 
für Das Himmelreich, bat nothwendig eine Strafgewalt über diejenigen ihrer Mitglieder, 
welche jener Aufgabe, ſtatt fle je nach ihrer Stellung zu fürdern, Durch Unreinheit des 
Lebens oder der Lehre hindernd in ven Weg treten. Diefe aus der Natur der er- 
babenflen Corporation von felbft gegebene Macht, ift ihr auch durch auddrückliche Aus- 
ferüche Chriſti beigelegt. Ia die Strafen der Kirche, fei es die Zurechtweifung burch 
das Wort oder die Aburtheilung der vornehmiten Chriftenrechte, wie beſonders des 
BZutritts zur heiligen Communion ober endlich das Anathema und die Ausſchließung 
von aller kirchlichen Gemeinfchaft, find, wo fle anders in Chriſti Geiſt gehandhabt 

9% 


132 Wlaß. 

werden, als Gottes eigene Züchtigufigen zu betrachten. Eben darum darf ihre Zwed 
und Ziel lediglich in die Rettung und Beſſerung des Sünders, und nebenbei die heil« 
fame Abfchredung Anderer gefeßt werben. „Strafe die Widerfpenftigen, ob ihnen Gott 
dermaleinft Buße gebe, die Wahrheit zu erkennen“ (2. Tim. 2, 25); und: „vie da 
fündigen, firafe vor Allen, auf daß fich auch die Anderen fürchten” (1. Tim. 5, 20) 
— daß find die Grundfäge des Disciplinarverfahrend, welche der Apoftel Baulus den 
Bifchöfen übergab. Kirchenftrafen find poenae medicinales, weil Gott dieſſeits des 
letzten Gerichtes immer nur auf die Mettung ber Sünder abfleht. Der Geſichtspunkt 
der adäquaten Vergeltung, der angemeffenen Genugthuung gegenüber der beleidigten 
Ehre Gottes und feiner Kirche Tommt dabei gar nicht ober nur in untergeorbneter 
Weife in Betracht. So wie daber die Beflerung des Sünders erreicht, und zunächſt 
feine bußfertige Gefinnung ermwiefen ift, muß die Strafe fofort aufhören und dem Bes 
teoffenen die Abfolution und Wieberherftelung zu Theil werden. Wo Gott einem 
Sünder Buße und Verlangen nach Vergebung gefchenft hat, fteht es der Kirche, feinem 
Organ auf Erden, nicht zu, die Ausfpendung feiner Gnade irgend wie zu verzögern 
oder an willfürliche Bedingungen zu knüpfen. Die Fortdauer der Kirchenftrafe über 
den Bußfertigen ‚hätte Eeinen dem Gnadenwillen Gottes entfprechenden Sinn, und 
daher auch Feine geiftliche Wirkfamkeit mehr, es fei denn eine nachtheilige. Der Apoftel 
Paulus will, daß der durch das Anathema erfchredte und zur Reue erwedte Sünder 
fhleunigft durch die Abfolution getröftet werde, „auf daß er nicht in der übermäßigen 
Betrübniß verfinke", fein geiftliches Leben dabei zu Grunde gehe (2. Kor. 47). Dieſe 
apoftolifchen Vorfchriften blieben maßgebend, fo lange noch ein Bewußtſein berrfchend 
war von ber freien Gnade Gottes, die aldöbald mo oder wenn fle bei einem Sünder 
eine Stätte findet, durch Die Kirche zu verfündigen und auszufpenden ift. 

1. Indeſſen gingen hierin ſchon frühzeitig tiefgreifende Veränderungen zum Schlim- 
meren vor fih. Seit dem Abfcheinen der Apoftel und dem Hinfchwinden der urfprüng- 
lichen Geiftesfülle hatte fich unverkennbar ein tiefes Gefühl von Verarmung und Ver⸗ 
laffengeit, und daher auch eine gewiſſe Unficherheit der Haltung in der Kirche eingeftellt, 
ein Zuftand, in dem fle noch eher zur forgfältigen Aufbewahrung, ald zur weiſen und 
fräftigen Ausführung der apoftolifchen Lieberlieferungen fähig war. Insbeſondere auf 
dem Gebiete der Disciplin laſſen fich falfche und je länger je mehr verderbliche Maß⸗ 
regeln ſchon im zweiten Jahrhundert wahrnehmen. Die ernfle Sorge um die Meinbeit 
der Gemeinden war zu einer ängftlichen geworben, in der man dann das MWefen ächter 
Seiligkeit und die Allkräftigkeit der göttlichen Gnade offenbar verkannte. Namentlich 
denen gegenüber, die als Chriften, nach der Taufe noch in fehmere Sünden gefallen 
waren, gerieth das geiftliche Urtheil in’s Schwanfen, wie und wann ober ob jemals 
in dieſem Leben ihre Buße groß und aufrichtig genug fein Fönne, um die Gnade Gottes 
und die Abfolution der Kirche zu erlangen. Während Etliche, Die ſchließlich allerbings 
als Irrende abgewiefen wurden (die Novatianer), fo weit gingen, dad Necht ber Kirche 
zur Abfolution folcher Gefallenen, und wären ſie noch fo bußfertig, in Abrede zu ſtellen, 
fo fuchte Die Maforität der Biſchöfe nach äußerlichen Garantien für die würdige Er⸗ 
theilung der Losſprechung. Man meinte dergleichen in der Verlängerung der Bußzeit 
und der Verftärkung der Bußübungen und Vervielfältigung der duferen Reuebezeugungen 
gefunden zu haben. Der Büßende mußte eine nach Maßgabe feines Vergehens beftimmte 
geraume Zeit hindurch in fchlechter Kleidung, mit bloßen Füßen am Eingange der Kirche 
neben den Ungetauften geftanden, die eintretenden Priefter und Gläubigen mit Weinen 
um ihre Verzeibung und Fürbitte angefleht, er mußte viel gefaftet und gebetet haben 
u. f. w., che der Bifchof ſich für ermächtigt halten Eonnte, ihm die göttliche Verzeihung 
zu verfündigen und die Sacramente wieder zu fpenden. Es warb allmählich eine fürm« 
liche Organifation des Bußweſens eingerichtet, in welcher die Pönitenten von firengeren 
Graden durch mildere allmählich bis zur völligen Wiederberftellung fortfchritten. Zwar 
blieb e8 den Bifchöfen überlaffen, folchen Büßern, welche durch das Fürwort von Maͤr⸗ 
tyrern, durch die Stimme der Gemeinde ober Durch ihr eigenes Verhalten befonders 
empfohlen waren, den „Frieden“ auch vor der fonft gewöhnlichen Zeit zu ertheilen; 
aber andererfeitö war auch die Strenge, die fchwereren Sünder erft auf dem Todtbett 
zu abfoloiren, beliebt und belobt. Seit dem 4. Jahrhundert wurde die kirchliche Buß⸗ 





Me | 133 


Drbnung durch die Kanones zahlreicher Synoden gleichmäßiger geregelt, und die 
Dauer der Bußzeit für jedes Vergeben, fo wie die dem Pönitenten auf jeder Stufe 
des Bußganges obliegenden Uebungen feſt beftimmt. Die zerfireuten Decrete ber 
Synoden wurden in ben libri poenitenliales, Gefegbüchern der Kirchenftrafen (das 
erfte ded Iohamnes Jejunator um 590 n. Chr.) gefammelt und fuftematifch georpnet. 
Hier waren nun z. B. auf Mord wenigftend 7, nach firengeren Kanones aber 27 Jahre 
Buße gelegt, auf Todtſchlag 3—10 Jahre, auf Ehebruh 3, 15 ja 18 Jahre, auf 
einfache Hurerei 4—9 Jahre, nach jüngeren Kanoned freilich weniger, auf Apoftafie 
lebendlänglihe Buße; die Verlaͤugnung nad erlittenen Martern follte doch noch gleich 
der Hurerei beflraft werden u. ſ. w. 

Man bewundert gewöhnlich die Strenge einer ſolchen Bußorbnung; man follte 
eber ihre ungeiftliche Aeuperlichkeit beklagen. Was die weltliche Obrigkeit berechtigt, die 
Vergeben und Verbrechen zu Tlaffificiren und nach einer angenommenen Stufenleiter die 
Größe und Gefährlichkeit derfelben, die Dauer und Schärfe ihrer Strafen zu bemefien, 
das kann doch nicht zum Mufter für Bifchöfe und Seelforger in ihrem Verfahren mit 
den Sundern und Büßenden dienen. Hier aber war der Firchliche Bußweg (dev nie 
aufhören darf ein geifllicher zu fein) unter dem Geſichtspunkt einer äußerlichen Straf⸗ 
Ordnung gefaßt und im Wefentlichen juriftifch behandelt: von deu geiftlichen Zuftande 
des Büpenden ift kaum nebenbei die Nede. Auf Teinem anderen Gebiete wird es Flarer, 
wie die Kirche zu einem weltföürmigen Nechtsinftitut geworben war. Wer feine Bußzeit 
abgefefien hatte, war gefegmäßig zur Abfolution und Wiederaufnahme berechtigt. Diefe 
hörte auf eine Önadenfpendung zu fein, fobald die Verbüßung der gefeßlichen Kirchen⸗ 
ſtrafe fo, wie es bei diefer rechtlichen Auffaffung unvermeidlich war, als die entfprecdyende 
Satisfaction für die begangenen Sünden betrachtet wurde. Nach demfelben Gedanken⸗ 
gange erfchien aber auch die EFirchliche Autorität, die das urfprüngliche Strafmaß 
beftimmt Hatte, vollfonmen berechtigt, Strafnachläffe und Strafverwandlungen zu be⸗ 
willigen — ein weiterer Schritt, zu dem man bei der zunehmenden Sittenverberbniß, 
bei der großen Zahl derjenigen, welche Kirchenbußen hätten leiften müflen und dem 
Firchlichen Einfluffe, den die Hochgeftellten unter ihnen bejaßen, bald genug fich ent- 
fehließen mußte. In wie vielen. Faͤllen mußte einem Bifchofe die Nothwendigkeit Elar 
werden, von einer 3. DB. zehn- oder zwanzigjährigen Kirchenbuße bedeutende Nachlaͤſſe 
zu bewilligen! Gerade die Strenge und die Aeuperlichkeit der alten Kirchenftrafen ift 
die Quelle des Ablaßweſens geworden. — “ 

2. In den erften drei Jahrhunderten kannte man nur eine öffentliche Kirchenbuße 
für öffentlich begangene Sünden. Geheime Webertreter, die ſich veuevoll dem Hirten 
ſelbſt entdeckten, wırden dur das Wort der Gnade aldbald getröftet, oder in geeig- 
neten Fällen angewiefen, ihre Sünde vor der Gemeinde zu bekennen und ſich Danach 
der öffentlichen Buße zu unterziehen. Zur Entgegennahme und Entſcheidung folcher 
Privatbeichten wurde bei jeder bijchöflichen Kirche ein beſonderer Bußpriefter angeftellt, 
dem zugleich die ſeelſorgeriſche Aufficht über die öffentlichen Pönitenten übertragen war. 
Je mehr nun das chriftliche Gemeindeleben feine uffprüngliche Innigfeit verlor und aud) 
äußerlich größere, nicht leicht überfehbare Verhältniffe annahm, deſto mehr wuchs bie 
Zahl felbft gröberer Sünder, die nicht fofort zur dffentlihen Kenntniß und Buße, 
fondern zunächft nur vor den Beichtpriefter Famen. Dann fehien aber in vielen Fällen 
Beides bedenklich, ſowohl die unbebingte Losfprechung eines fchwereren Sünders, als 
auch jeine Derurtheilung zur öffentlichen Kirchenbuße. Für jene war dad Vergehen 
zu groß, und die Strafdrohung der Bußgefege zu Far; durch diefe mußte man (da 
jegt die Kirche mit dem Staate zufammenfiel) fürchten, ven Bönitenten in die Hände 
ber weltlichen Juſtiz zu bringen. Man griff alfo zu der Auskunft, den Beichtenden 
auf jeine ausgefprochene Neue bin zwar zu abfolvicen, aber dabei die Bedingung auf« 
zulegen, daß er, ohne gerade unter die öffentlichen Buͤßer geftellt zu werben, doch deren 
Bußübungen, namentlih Faften und Abflinenzen aller Art, während einer feiner Suͤnde 
entfprschenden Bußzeit, privatim mitmachte. Er follte die der Buße würdigen Früchte 
erzeigen, indem er — nad) der ſchon damals conftanten Sprache der Theologen — 
zu der herzlichen Neue nnd dem Bekenntniß des Sünder durd jene Bußübungen 
much noch die werlihätige Genugthuung binzufügte. War einmal biefer Weg ein⸗ 





14 Alaß. 

geſchlagen und eine ſolche Art von Anwendung der alten Poͤnitenzgeſeze (die ja nut 
auf dffentliche Buße gelautet hatten) allgemein aufgenommen, fo mußte fi bie Kirche 
bald mit Bußbefliſſenen aller Grade füllen, während der von der Kirchengemeinichaft 
wirklich ausgeftoßenen öffentligen Pönitenten immer weniger wurden und diefe Strafe 
zulegt nur noch in außerorbentlichen Bällen verhängt ward, wie 3. B. in Folge eines be- 
fonderen Bannfpruches (f. Bann). Die in den Privatbeichten zuerfannten Bußen, der 
Controle der Deffentlichkeit entzogen und dem richterlichen Ermeſſen jedes Beichtpriefters 
anheimgegeben, eigneten fi nun aber ganz beſonders zu willkürlichen Nachläffen un 
Ummwandlungen. Bereit im 8. Jahrhundert mehrten fi Ausgaben der libri peeni- 
tentiales, in denen nicht bloß viel niebrigere Anfäge der Bußzeit, fondern au Winke 
zur Vertauſchung der noch immer langen und bejchwerlichen Faſtenübung der Pönitenten 
mit anderen bequemeren „Bußwerken”, wie Pfalmenherfagen, Almofengeben und Walls 
fahrten nach berühmten Heiligthümern n. vergl. m. enthalten maren. Dies Alles fand 
damals allerdings noch ernften Widerfpruch; ein Jahrhundert fpäter war es ein all- 
gemeiner kirchlicher Gebrauch. 

3. In dem von germaniſchen Rechtsbegriffen durchdrungenen Oceident nahm dieſe 
Entwickelung des Bußweſens bald einen beſonders verderblichen Gang. Hier wirkte 
die Verwandlung der Buß⸗ und Faſtenzeit in Almoſen darum ſo ſchaͤdlich, weil der 
vom Prieſter beſtimmte Betrag deſſelben als der eigentliche Strafſatz fur die Sünde 
erſchien, ähnlich wie In den populären Gefeßgebungen die meiſten bürgerlichen Vergehen 
nur mit Geldbußen geahndet wurden. Er Fonnte ſich bald ein förmlicher Tarif der 
Geldſtrafen für die Sünden ausbilden, ohne daß die Vollsmeinung daran Anſtoß nahm: 
Der Kleruß aber z0g diefe Art der Strafvermandlung allen anderen um fo lieber vor, 
weil die Buß-Almofen nicht vorzugsmelfe den Armen, fondern dem Altar, d. 5. dem 
Kicchenfchage, zugewendet wurden. Nach Megino von Prüm gab man flatt einer 
Twöchentlichen Bußzeit bei Waller und Brod 20 Solibi, der Arme nur 10. Ans 
derömo wurden für ein ganzes Iahr firenger Buße nur 26 Solidi angefeht. (Der So- 
lidus in Silber betrug im 10. Jahth. 20 Sgr.) Die Abfingung einer Mefle zu bes 
zahlen, wurde gleich 12 Tagen, zehn Meſſen alfo gleich 4 Monaten Bußzeit gefchäkt. 
Freilich wechſelten dieſe Anfäge in verfchiedenen Zeiten und Gegenden, ja in den eins 
zelnen Diöcefen auf's Mannichfachfte. — Neben der Abldfung durch Geld wurben auch 
die übrigen Erfagleiftungen genau regulirt. Die Serfagung von 1200 Palmen (d. 8. 
bed ganzen Pfalter 8 Mal), wenn ſie Fnieend, oder von 1680, wenn fle nicht knieend 
geſchah, galt gleich einmonatlichem Bußfaſten. ine fehr beliebte Auskunft war die 
Buße Durch Helfer und Stellvertreter. Ein Großer Löfte feine Verpflichtung zu fleben- 
jähriger Buße bei Wafler und Brod, indem er mit 7 Mal 120 Xehnsleuten 3 Tage 
lang auf die gleiche Weife faftete. Alle Bußen Fonnte man durch Geiftliche und Moͤnche 
ganz oder vertbeilt ableiften laſſen, natürlich gegen die entfprechende DVergütigung in 
Geld und But. Auf diefe Art Eonnten wohlhabende Leute eine viel größere Buße zu 
Wege bringen oder zu ihren Gunften bringen Iafien, als bei perfönlicher Ausführung 
derſelber möglich geweien wäre. Es werben bereitö Beifpiele berichtet, daß Pönitenten 
mit Hülfe der Stellvertretung und der Strafumtaufhung hundert und mehr Jahre Buß⸗ 
zeit abgethan Hätten. Ja, manche Prälaten legten folche die Lebensdauer weit über- 
fleigenden Bußen auf, indem fie die Abldfungsfumme verfelben nach Maßgabe des 
üblihen Tarif glei mit angaben. Hiermit war die Beinung, daß die Eirchlichen 
Strafen, Abfolutionen und Abläffe auch über das Grab hinausreichten, eigentlich ſchon 
gegeben. Es wurde mit der größten Naidetät audgefprochen, daß die Reichen aller 
dings auch darin einen Vorzug hätten, daß fie durch ihre Güter ihre Seele Töfen 
fünnten. Die meijten Stiftungen und Beſchenkungen von Kirchen und Klöftern, bie feit 
dem 11. Jahrhundert gefchahen, find dieſer Auffaffung zu verdanken, während fie noch 
in der nächft vorhergehenden Zeit nur im Allgemeinen die Fürbitte des Klerus für den 
Stifter und fein Gans im Auge gehabt. hatten. Die Ablöfung der Bußzeit darch 
Selbftgeißelung mit oder ohne Pfalmenrecitation, Die der hochangefehene und vielthätige 
Ascet, Kardinal Petrus Damiani, regulirt und empfohlen hatte (12 Hiebe für einen 
Tag, oder in runder Summe 3000 Hiebe für ein Jahr Buße), gelangte niemals zu 
der allgemeinen Geltung, wie die durch Geld ober andere mehr probuetive Leiftungens 


Welch, 135 


obwohl fie mehrmals im Mittelalter fi wie Durch Anftedung und aus dem Drange 
ver Bemätber nach einer empfindlicheren Buße, als die allgemach immer Fleinlicheren 
Ablapkiftungen auflegten, ſich weithin verbreitete, Kam fie bald wieder in Abnahme 
und blleb in der Negel nur auf religiös erregte Perfonen und die Klöfter (mo fie ala 
die „Disciplin* ſchlechthin bezeichnet wurde) befchränft. 

4. Eine Zeit lang wurden alle Diefe Erſatzbußen für jenen Einzelnen nach Maßgabe 
feiner perſoͤnlichen Vergehungen noch ganz wie in den alten Bußgefehen von dem 
Biſchof oder Briefter jedesmal befonders beſtimmt. Beim Derfalle des Papfttbuns in 
der erſten Gälfte des elften Jahrhunderts verfuchte man aber mit den Mbläjfen mehr 
jwmmaziich zu verfahren. Der abſcheuliche Knabe, der feit 1033 als Benebict IX. auf 
dem Stuhl zu Nom ſaß, war der erſte, welcher denen, Die eine gewiffe von ihm begünfligte 
Kirche beſuchen würden, emen unterſchiedsloſen Plenarablaß von allen Bußftrafen, 
oder, wie er ſich geradezu ausdrüdt, von „allen Sänbenfleden”“ bewilligt... Alſo gegen 
eine für die Anmwohnenden ganz geringfügige Leiſtung wurde auch die ſchwerſte Buß⸗ 
firafe, die Jemand verwirkt haben Eonnte, völlig erlaffen — und dieß ohne alle Rüd- 
ſicht auf perfänliche innere Bußfertigkeit, wenn er die Wbfolution zuvor erlangt 
hatte! Seitdem findet fi eine unaufbaltfame Vermehrung von Ablapverfündigungen 
bei ſedem Unternehmen, für welches Päpſte und Bifchöfe die Betheiligung des 
Boltes in Anſpruch zu nehmen wunſchten. Brücken⸗ und Kirchenbauten, Heiligen» 
fefte u. f. w. gaben ben Kirchenhaͤuptern, welche ‘ dergleichen unternahmen, an⸗ 
tegten oder empfahlen, die Gelegenheiten ab, Allen, die ſich dabet beiheiligen oder 
fonft fdrderii zeigen wollten, Abläfie zu verfündigen. Willkürliche Leiſtungen, 
die einer wahren Buße gar nichtd angingen, ja, oft genug gerabezu entgegen waren, 
bildeten die Bebingungen zur Gewinnung des Ablaſſes. Gregor VII. verſprach 
Allen die Bergebung der Simon, vie für ſeinen Schützling Nubolf von Schwa⸗ 
ben gegen dem Togitimen König Heinrich IV. Me Waffen nehmen würben. Urban H. 
that zuerſt das Gleiche für Alle, Die das Kreuz nahmen. Die Kreuzfahrter wurden 
vorzugsweiſe mit immer wiederholten und ganz audfchweifenden (au für ihre 
Anverwandten, Borfahren u. f. w. gültigen) Ablaͤſſen bedacht — je mehr der erfte 
Eifer fer das heilige Land bei den Völkern erfaltete. Die Folgen dieſer maplofen 
Anlaffe traten bald genug hervor: der Ruin nicht bloß der Eirchlichen Disciplin — 
denn wer wollte nun no ein mehrjaͤhriges Bußfaften nach der alten Diseiplin über 
fich nehmen! — fondern auch aller chriſtlichen, ja menfchlichen Sittlichkeit. Die be- 
thörten Menſchen, an fich geneigt und ausdrücklich angeleitet, die dem Ablaß beigefügte 
Formel: „Bir Die wahrhaft Bußfettigen u. f. w.“ zu überfehen, fündigtn auf Die 
verkündigte Indulgenz bin. Nicht am wenigften war es den Wbldfien zu verdanken, 
daß die meiſten Kreuzfahrten den Zügen von Barbarenhorden glichen, wie denn ber 
Aame Grucsfignate bis in's fpätere Mittelalter gleichbedeutend mit Straßenraͤuber war. 
Die Wilde wurden ſchon damals Hei allen ernſteren Ehriften, bei allen vernünftigen 
Leuten vetaͤchtlich, nicht, weil Viele den Irrthum des Principe erkannt Hatten, ſondern 
weil zunächit Die Praris die Abkaffe proſtituirte: durch ihre Vervielfältigung, da Jeder 
Biſchsf dergleichen Für feine Didcefanen bis in's Ungemeffene fpenden Tonnte, Durch die 
Leichtigkeit, fie zu gewinnen, und durch thre zulegt boch immer auf den Geldſackel ge⸗ 
richtete Abſicht. Denn jede befchwerlichere Ablaßbedingung konnte nach päpftlichen 
Berefagungen fe dem 13. Jahrhundert voleberum abgefauft und die Indulgenz dennoch 
genoffen werden; 3. B. die wirkliche Kreugfahrt wurbe gegen eine „Unterflügung für 
das heilige Land“ erlaffen u. dergl. mehr. Hieraus entfland fofort ein eigentlicher 
Ablaßhandel: die herumziehenden Kreugprediger, die zugleich zur Verwilligung und 
Sammlung jener Eubfivien ‚bevollmärhtigt waren, wurden die esften Krämer deſſelben. 

5. Bapft Innocenz IH. glaubte dem Unweſen dadurch ſtenern zu koͤnnen, daß er bie 
Vefugniß ver einzelnen Bifndfe zur Ablaßſpendung auf den Machlaf von einen Jahre 
(Bereit) Bei Einmeigung jener neuen Kirche, ‚und von vierzig Tagen, bei Der jahr⸗ 
lichen Kirchweihfeler befſchraͤnkte, alle größeren und die vollkommenen Ablaffe aber aus 
fegließtt dem wönsifihen Stuhle vorbehielt. So erwunſcht dieſe Elnſchrankung damals 
war, sbllnee ſie doch einen der großen Schläge, welche beſonders im 13. Jahrhundort 
von Soiten des zur Allgewalt emporgeſtiegenen Papſtthunis und der Ihm zur Hand 


136 Aueß 
gehenden Vettelorden gegen die Grundfeſten der Altern Verfaſſung nud Disciplin, Die 
bie dahin noch immer erkennbar waren, geführt worden find. Nach bem alten Kirchen⸗ 
rechte war der Biſchof in feiner Didcefe der alleinige Verwalter der Kirchenzucht; er 
allein konnte Kirchenftrafen auflegen und Nachläfle oder Berwanblungen derſelben ge⸗ 
währen; fein anderer, wenn auch höher ſtehender Biſchof, durfte ihn durch Einmifchun- 
gen flören, e8 fei denn, daß die georbneten höheren Inſtanzen in Folge einer förmlichen 
Appellation das Urtheil des DidcefansBifchefs reformirten. Demnach wären bifchöfliche 
Ablaͤſſe, weit entfernt von minderem Werth zu fein, gerade bie allein rechtmäßigen 
gemefen. Gegen jenen Hauptſat ber Alseren Discdplin hatten aber bie sömifchen 
Paͤpfte faft ſchon vom 4. Jahrhundert an einen ununterbrochenen Kampf geführt, 
immer beftrebt, ihren Stuhl zum alleinigen Forum ber Eicchlichen Jurisbichen zu 
“machen, und immer bereit, denjenigen Recht zu geben, Mbfolutionen und Abläfie zu 
gewähren, die fi mit Umgehung ihrer nächften geiſtlichen Ohesen unmittelbar an fle 
mwendeten. Als nun die Auflöfung des alten Pönitenzweiens begann und Die Umwand⸗ 
Iung der Bußzeiten in’ anderweitige Satisfactionen in Gang kam, wurde die Wallfahrt 
nad Rom, „zu den Schwellen der Apoftel“, eine des beliebteſten Grisgleiftungen. Die 
Paͤpſte beeilten fich, diefen Zug der Seelen durch freigebige Gnabenverficherungen an 
die Wallfahrer zu ermuthigen. Die ciömontanifchen Bifchöfe wieberholten vergeblich, 
wie 3. B. noch auf der Synode zu Seligenftapt 1022, daß Niemand nad Rom gehen 
dürfe, ohne Erlaubniß feines Bifchofs, d. h. ohne daß fein Biſchof gerade dieſen Wog 
der Bußleiftung genehmigt babe, und daß ſonſt der zu Nom erlangte Ablap ungültig 
ſei. Das Volk hielt dennoch — und nah den von dieſen Bijchöfen ſelbſt gebilligsen 
Borderfägen auch ganz folgerichtig — eine vom Stuhl Betri ausgegangene Abfolution 
ober Inbulgenz für Eräftiger, als Die eines jeden andern Priefterd. Und als nun Der 
Biſchof von Rom gar die Fleinlichen Indulgenzen anderer Prälaten durch feine Plenar- 
abläffe weit überholte, als die Entwicklung des Ablapweiend, vornehmlich an jemen 
Kreuz⸗ und anderen Eirchlichen Kriegszügen fortichritt, welche über Die Grenzen eine 
bloßen Didcefan-Jurisdiction hinaus griffen: da Eonnte auf der Höhe der päpftlicgen 
Macht den Bifchdfen auch jene Ablaßbefchränkfung aufgelegt werden, ohne auf’ erhehr 
lichen Widerſpruch zu floßen. Die Nachfolger Innocenz Ill. und ihre Heere von Bettel- 
mönchen haben dafür geforgt, daß den die Indulgenzen DBegehrenden darum nichts 
entging; während der Ertrag der Ablaͤſſe nicht mehr fo fehr wie früher zerfplittert, ſon⸗ 
dern unmittelbar den ‚Organen der kirchlichen Gentralgewalt zugeführt unb in deren 
Nutzen verwendet ward. Gerade unter der Hand der Päpfte gedieh das Ablaßweſen 
zu der ungeheuerlichfien, felbft bis dahin noch nicht erhörten Entfaltung und nahm 
die ärgerlichfien Formen an. 

6. Doch ehe dieſe Iegte Phafe des Ablaßweſens beſchrieben wird, möge der dogma⸗ 
. tifchen Rechtfertigungen gedacht werben, welche bie Scholaftil des 13. Jahrhunderts für 
daſſelbe erfand, und die römifche Kirche feitvem feftgehalten hat. Daß die Indulgenzen 
uriprüngli nur Nachlaͤſſe der Firchlich angefegten Bußzeiten und nur als folche relativ 
berechtigt waren, dieſe Erinnerung war in der Theologie jener Zeit bereits fehr zurüd- 
getreten. Zwar berechnete man immer noch (und bis auf den heutigen Tag) das Maß 
eined angelümbigten Ablafjes nach Jahren und Tagen, aljo nach der Zeit, vie Jemand 
ohne die Dazwifchentunft der Indulgenz in der Kirchenbuße hätte zubeingen müſſen. 
Allein, nachdem man durch die Pönitenzuerwandlungen Bußzeiten von mehr als Lebend- 
dauer ableiften Tonnte, veichte die Berufung auf die verwirkte Kirchenbußzeit zur Erkla⸗ 
rung der Abläffe nicht mehr aus; Davon ganz zu fehweigen, daß die Abläffe dann nur 
für Solche hätten gelten können, die laut der alten Pönitenzgefehe eine fo lange Strafe 
wirklich verdient hatten. Endlich beſtand die Anziehungskraft der Abläffe nicht darin, 
daß man Dispenfation von einer Strafe der Firchlicher Gewalt, fondern Nachlaß ber 
Strafe des göttlichen Richters verhieß. Nach dieſen durch die Praxis aufgeſtellten 
Nichtpunkten entwidelte fich die dogmatifche. Theorie durch die einflußreichſten LKirchen⸗ 
lehrer der Zeit. Alexander v. Hales, Albert ned Großen und Thomas v. 
Sebe Sünde verwirke zeitliche und ewige Strafen, d. h. folche, Die dieſſeits und jem- 
ſeits des ihngflen Berichtes zu verbüßen find. Beiderlei Art zu erlaſſen bet Chriſtus 
bie Kirche, und inſonderheit den Petrus, da er ihm die. Schlüffel des Himmelreichs 





’ 


Alaß — 


übergab, bevollmaͤchtigt. Die kirchlliche Schlaſſelgewalt wird zum Heila der durch 
Sünde Gebundenen ausgeübt zunaͤchſt in den Sacramenten, namentlich) ber. Beichte und 
Abſolution. Hierdurch werden dem Bußfertigen mit ſeiner Schuld auch die ewigen 
Holleuſtrafen und fo viel von ben zeitlichen erlaſſen, als es Bott nad) feinem gnädigen, 
doch uns unerforſchlichen Willen gefallen mag. Den größeren Theil der letzteren aber 
muß der Menfch dennoch nerbüßen, die facramentale Abfolution Tann ihm nit dabon 
helfen. Iſt doch der Seelenſchmerz ber Reuigen und Die Demüthigung bed Beichtenden 
* ſelbſt eine hohe zeitliche Strafe, die keinem durch die Abſolution erſpart werden 
Aber außerdem bat nicht ber Sünder, auch wenn er bußfertig das Geſchehene 
* die von Gott geordneten natürlichen Folgen ſeines Frevels, die von der Kirche 
angeſehten VBußſtrafen und endlich bie reinigenden Qualen des Fegfeuers hinzunchmen 
wa» als fo viele Genugthuungen gegen die beleidigte göttliche. Gerechtigkeit zu nesikäßen, 
ehe ihm bee Zutritt zu dem Himmel ber völlig Geheiligten und Erlöften ‚offen flebs? 
Nun bat aber. Chriſtus durch fein Verdienſt auch allen Diefen Forderungen der Gerechtig⸗ 
Zeit Gottes ‚genug gethan und die Strafe ſchon für Alte getragen.. Ueberdieß haben 
bie vollendeten Heiligen burch ihre Leiden, ihre Büßungen und guten Werke zu. ihnen 
Beiten mehr, ald zu ihrer ewigen Seligkeit nöthig war, geleiftet. Durch das geſammte 
Verdienſt Chriſti und Durch. das überſchüſſige der Heiligen ift alfo ein Schag non Gnaden 
entſtanden (ihesaurus meritorum, thes. supererogalionis perfectorum), der alle van der 
Welt je zu verwirkenden Sündenftrafen weit überwiegt und weil ex von feinen Urhebern 
nicht für fich ſelbſt bedurft wird, denen zugewandt werden kann, Die eined Gegen⸗ 
gewichts für ihre verdienten Strafen bedürfen. Diefer Verbienfifchag gehözt ber Kirche, 
an der Ghrifius das Haupt, die Heiligen die ebelften Glieder, die bebürftigen Sunde 
aber auch Mitglieder find. In ihrem myſtiſchen Organismus kommt die überfliepend« 
Kraft der Einen der Schwachhheit der Andern zu Gute. Diefe Stellvertretung zum 
Grlaß der Strafen, die ja im Princip eind fei mit ber Stellvertretung Chriſti zur 
Bergebung der Schule — wis nahe grenzt hier die Subtilität an bie Bladphende! —— 
werde nun nicht wie diefe hurch Die Spendung der Sacramente, fonbern durch eisen 
zweiten Gebzau der Schlüflelgewalt, durch die kirchliche Juxisbiction für die Ghriften 
wirtfam gemacht. Die. Straferlaflung, oder vielmehr die Strafanrechnung und lebe 
tpsgung, die auf Koften des Verdienftfages zu Gunſten der Sünder bewilligt wir, if 
ein Aet des richterlichen Ermeſſens, fo jeboch, daß daſſelbe nicht von jedem Prieſter 
sder Biſchof, fondern nur dutch den Papft ald Inhaber der allgemeinen kirchlichen 
Jurisdiction geübt werden kann, Allein dem Bapfte als: Stellvertreter Chriſti auf 
Erden ſteht es zu, aud dem der ganzen Kirche gehörigen Gnabenfchape zu fchönfen, bie 
darin enthaltenen Verdienſte den Gläubigen zuzurechnen, fo. oft er will, bis zu welches 
Höhe er will und auf die Beringungen bin, die er flellen mag. Allerdings erſtretke 
fi. die Zurispistion der Kirche nur über Die zu jeder Beit auf Erben Lebenden, aber 
wiefern ihrer unfehlbaren Fürbitte auch dad Todtemeich offen ſtehe, ſo wären .anch die 
ven ihr für das Fegfeuer ausgeftellten Abläffe und zwar genau nad der Höhe ihrer 
Angabe an den bort gepeinigten Seelen wirkſam (per modum suffragii et impetratienis; 
nen per modum judicierine absolutionis sive camputationis).. So wenigftens lautete 
De ‚allgemeiner angenosamene Lehre, Die von PB. Sirtus IV. 1477. auch kanoniſch. ſeſt⸗ 
gefellt wurde; es fehlte aber auch nicht an Solchen, die dem Pabſte eine directe Juris⸗ 
dietion über Die Verſtorbenen beimaßen (Papa iudex est vivarım et mortuorum). 
Für die Praxis war der feine Unterſchied zwiſchen Ablaͤſſen per modüum- jurisdietionis 
für Die Lebenden und per modum suffragii für die Abgeſchiedenen ohnehin bebeatung®» 
los, wie ihn denn auch die meiften Außfchreibungen von Fegfener⸗Ablaͤſſen gar nicht 
en. Und wenn ſich ein Lebender einen hundertjaͤhrigen oder gar auf mach längere 
Zeit Iantenden Ablaß erwarb, mußte ihm derjelbe ja ipso jure auch für dad Fegſener 
zu Gute Tonımen. — Dies war denn vie bald zum Unfehn einer Kirchenlehre (durch 
B. Elemens IV. 1843): erhobene Theorie des Ablefies, dies der Ausgang einer bagme- 
uiſchen Feſtſtellung, beren Anfänge und Spuren bi in bad beitte Jahrhundert ber 
Kirche hinaufreichen, nämlich der DVeräußerlihung ber Kirchenzucht in: ein techtlicheN 
Berfahsen nach. beſtimmten geſetzlichen Normen. Mon da aus iſt bie Entwickeln 
wie man bekennen muß, gung confeqieni yon. Stufe. zu Stufe fortgefchritten. Der 





185 lat, 


Abevglauben der mittleren Zeiten hat Dad Ablaßweſen übertrieben mr Yerunflaltet bie 
zum Abfcheulihen, aber er. ‚bat feine Prineipten fchen vorgefunben, er bat es nicht 
zuerft begründet. 

7. Rachdem die Theorie fertig war, fand ſich bie Praris der Abläffe weſentlich 
erleichtert und nahm erſt von nun an ihren höchſten Aufſchwung. Das 14. und 15. 
Jahrhundert bis zur Neformation find Die eigentliche Blütezeit ber Indulgenzen: dieſe 
Zeit erging fich jo recht ungefcheut in deren Gebrauche. Es war die Periode der Ge⸗ 
ſchichte, in der chriſtliche Erkenntniß und Sittlichkeit durchweg am tiefften darniederlag. 
Den Zuſammenhang dieſes Zuflandes mit der unerhörten Verbreitung bes Ablaßweſens 
baben ſelbſt gleichzeitige Vertheidiger deffelbrn nachgewieſen. Dre letzte ver Scholafkiter, 
&. Biel, benugt die Hiaweiſung auf den fittlichen Verfall ſogar zur Heihtfertigunng ber 
maßloſen Inpulgenzen: „Weil bei dem Erkalten der Liebe angemeflene Buben nicht 
mehr aufgelegt werden Tonnten, ja die mäßigften wer auferlegten nicht mehr geleiſtet 
wärben, fo fei der Gebrauch der Abläfie deſto notgwendiger und veichlicher geworden.“ 
Wobei er offenbar den Hintergevanfen bat, die Kirche genüge ihrer Pfticht, wenn fie 
nur irgend welchen Schein einer Gegenwirkung gegen die Sünde aufrecht erhiele! — 
Das vage Gefahl von einer befonderen Vedeutſamkeit des hundertſten Jahres, welches 
fi aoch beim Ablauf jedes Särulums der Gemuͤther bemächtigt hat, dußerte ſich beim 
Heraunnahen ded Jahres 1300 u. Chr. auch in der Meinung, daß biefe Jahre durch 
befonderd reiche Ausflüffe aus dem bimmlijchen Ablaßſchatze audgegeichnet jeten. Dem 
Dapfte Bonifacius VII. lieferte dieſe populäre Erwartung die Beramlaflung, um Alten, 
die in Diefem Jahre und Fünftig in jenem bunbertfien nach Rom pilgern und da 14 
Tage lang Die vomehnfien Kirchen befuchen würden, „nicht allen vollfommenen, ſon⸗ 
dern nach völligeren, ja den allervolllommenften Nachlaß aller ihrer Sünden” zu ver⸗ 
kandigen. Der Zudrang ber Pilger war fo ungeheuer, bie von ihnen Der Kiche dar⸗ 
gebrachten Opfer und Almoſen To reichlich, und die Einnahmen ber Mömsr fo zufrieben« 
ſtellend, daß der Bapft und das Volk von Rom nichts mehr wunſchten, ald bie üftere 
Wienerbehr eines ſolchen Gnadenjahres. Daher der Abignonſche Papſt Elemens Vi. 
daſſelbe auf jedes 50. Jahr feste, weil nach ven Moſaiſchen Gefegen das Zubeljahe 
gehalten worden und überhaupt die Zahl 50 in der heiligen Schrift durch ihre myſtiſche 
Bedeutung vielfach ausgezeichnet fei. Als dies Jubeljahr, wie es fortan hieß, tim 
Zahre 1350 wirklich abgehalten wurde, zeigte fich der Eifer und wie Opferfreubigdeit 
dor Pliger kaum in geringerem Mafe ale vor 50 Jahren. Man berechnete Die in 
Rom täglich ein« und ausziehenden Fremden auf 5000. Das Seuränge war fo groß, 
daß der Die Beier Teitende Barbinallegat die Pflichttage der Uuswärtigen herabfetzen 
mußte, wodurch. er allerdings den Zorn ber habgierigen Römer fo reizte, daß er aus 
feinem demolirten Palaft Faum mit dem Leben daven kam. 

Auf den geiſtlichen Gewinn der Pilger last der ehrliche „Limpusger "Eheonik 
einen Wlick chun, wen er zum 3. 1350 bemerkt: „Da ging aunus Jubilaeus «an 
zu. Weihnachten und liefen Die Reute gen Hom..... Und die ou von Rom kamen, 
wurden eined Theile böfer, denn fie vor gemefen waren.“ Inzwifchen fand os berchil 
P. Urban VI, um den fohmwierigen Roͤmern eine Gunft zu erzeigen, gerathen, das FJu⸗ 
beffabr uuf jebes 83. berabzufegen, bedenkend, „daß das menſchliche Beben immer Für 
zer wird und bie wenigfien ein 50. Jahr erreichen würben, auch daß wufer Heiland 
im 33. Jahre für und Verſoͤhnung getban habe und überhaupt viele große Schrift: 
geheimmifle an viefe Zahl geknüpft feren, fo wie aus andern gerechten Urſachen.“ 
Sein Nachfolger, Bonifarius IX. hielt dies Iubeljahr im I. 1390 nachträglich ab, 
am dann im 3. 1400 ein zweites wiederum nach „Alteser 5Ojähriger Regel“ zu feiern. 
Ihm genügten aber die an der Zubelfiätte zu Rom gemachten Einnahmen nic wwhr: 
nicht bloß Die Schaaren der Rompilger, auch Die zu Haufe Bebliebenen weilte er inch 
vie Jubrlablaͤfſe befteuern. Demnach ließ er 3. B. in Deutichland im 9. 1391 ein 
Irbelſachr ganz mit ven Privilegien und Verheißungen des röomiſchen zu Koln abhal⸗ 
ten, 1892 «in eben ſolches zu Magdeburg, eben ſo zu Münfter, zu Prag und am vielen 
andern. Orten wenigſtens einige Monnte ober Wochen lang, fe. nach der Größe mi 
Iprguens. der Saüdte; ähnlich in allen Laudern feiner Obehienz, in England, Danemark, 
Schweden, :Hturwegen und Polen. Die Paͤpftlichen Bevollmaͤchtigten für tie Ablaß⸗ 








Ablaß. = m 


einnahmen/ (quaestores oder quaestuarii) mit einem flattlichen Gefolge von ttafienik 
fen Titularprälaten und Mönchen, pflegten einen pomphaften Einzug in die Städte 
zu balten, in denen fie einen Aufenthalt machen wollten. Aus den Fenſtern ihrer 
Wohnung Tiefen fie das Panier der römijchen Kirche mit den Schläfjeln herabwehen. 
Daſſelbe pflanzten fle vor dem Hochaltar der Hauptkirche auf. Ein Prediger legte dem 
zufammenftrömenden Volke die Wohlthaten des eben eröffneten Ablaffes in den blen⸗ 
denuften Farben aus: auch der Heilige Petrus, wenn er lebte, koͤnne Teine größere 
Volliaacht zur Sünbenvergebung haben, ald der anweſende Nuntins von dem Papſte 
empfangen hätte. Gegen einen mäßigen Beitrag für dad vom Bapfle eben beabſich⸗ 
tigte gute und ber Chriftenheis heilfame Werk könne derfelbe von jeglicher Irregularität 
und Gimde Iosfptechen, auch die Seelen ihrer Anverwandten, Eltern n.f. w. aus dem 
Begfeuer erlöfen. Wer einer ſolchen Gnadenſpendung widerfpreche, fei ein Kehtzer, 
Schisſsmatiker und Aufrührer gegen den apoftolifhen Stuhl und Habe deffen fiäwerfte 
Ahndungen zu gewärtigen. Nach ſolchen tägkich wiederholten Einlettungen begann dann 
der entfegliche Verkauf der Ablaßbefcheinigimgen inmitten des Heiligthums und es if 
ſchwerlich übertrieben, wenn berichtet wird, daß ein einziger Quäftor bloß aus Schwaben 
binnen etwa 2 Jahren gegen 100,600 Goldgulden zufammengebracht habe. Neben den 
wirklich bevollmächtigten Ablaphändlern fuchten Betrüger, Moͤnche und ſelbſt Höhere 
Geiftliche, mit gefälfchten Ablaßbullen einen ſchaͤndlichen Gewinn für ſich zu maden. 
Sie pflegten die Verheißungen der päpftlichen Quaſtoren wo möglich noch zu über- 
bieten. Die Warnungen gegen ihr Treiben Tamen gewöhnlich zu fpät für. die Betro⸗ 
genen. Zulegt, um alle Aergerniß auf Die Spike zu treiben, widerrief Bonifacius IX., 
nachdem er ungeheure Summen gezogen hatte, 1402 auch feine eigenen Abläfle als 
erfihlichen ober abgmöthigt. „Die auf Heilswerke bebachte Gütigfelt des apoflolifchen 
Stuhles gewährt zumelilen Manches auf das ungefüme Anbringen der Bittenden, 
Manches auch mas durch böswillige und betrügeriſche Angaben erfchlichen ift; aber 
er verbefiert Dergleirhen auch, wenn e8 zu feiner Kenntniß kommt oder der dffentlicdhe 
Augen es erbeifäht..... Darum widerrufen und anulliven wir alle und jede Ablaäſſe, 
in denen von der Schuld und Strafe oder von allen Sünden zugleich losgeſprochen 
wird" u.f.w. Alſo gerade die meifiverfpreddenden und darum auch beftbezgahlten Abläffe 
wurden wieder Tafjirt, und — was beſonders merfwürbig tft — in dem Widerruf 
namentlich auch diejenigen inbegriffen, deren Unwiderruflichkeit durch frühere Bullen 
ausdrücklich zugefichert gemefen ‚mar! 

8. Die fernere Geſchichte des Ablaſſes bietet eigentlich nur ermüpende Wiederholun⸗ 
gen terfelben Scenen. Die Päpfte hielten Zubeljahte, fo oft es anging, ubwechfelnd 
nach der 33fjaͤhrigen und der 5Ofährigen Hegel, bis endlich Paul II. 1470 das Jubi⸗ 
läum auf das 25. Jahr herabſetzte, wobei es dann geblieben if. Aber and vie And« 


bietung des Jubel⸗Ablaſſes außerhalb Roms wurde zur bleibenden Sitte, um fo mehr, 


da Sirtus IV. 1473 alle anderen Indulgenzen während ber Dauer von jenem fuspen» 
dirt Hatte. Außerdem maren noch andere Plenar-Ablaffe, wie für die Thelluahme 
oder Beiſtener am Kriege gegen Türken, Keger (3. B. die Huffiten) und felbft orthv⸗ 
doxe Widerfacher der Paͤpſte in ihren unaufbörlichen italienifchen Haͤndeln; für Hülfe« 
leilungen zu Kirchenbauten (unter denen der zum Bau der Peterdkirche, zumft von 
Julius 11. 1506 ausgefchrieben, in der Folge den Anftoß zur Reformation lieferte), 
und andere mehr befländig im Gange, und es verging währenn des 15. Jahrhunderts 
faum ein Jahr, in dem nicht in irgend einem Rande der Ehriftenheit papftliche Ablaß⸗ 
bandler in voller Thaͤtigkeit geweſen wären. Dje Schamlofigtelt des Vertrtebs ſtri⸗ 
gerte fich naturgemäß mit der Zeit und enthüllte fih vorzüglich im Detwilverkauf. 
Die papſtlichen Ablaßbullen erfcheinen noch befcheiden und geſalbt gegen bie ausſchwei- 
fende und blasphemiſche Marktfdrreierei der mit dem Wolke verkehrenden unteren Agen« 
tn, den Gonmiffarien und Subcommiffarien des Ablaßgeſchaftes. Wezeichnend in 
diefer Hinſicht und bekannt find einige den Ablaßprebigten des Dominikaners Tezel 
entnommene Gtellen, wie: Wenn Jemand auch die Mutter Gastes geſchandet Hätte 
und legte nur fein Geld in den Ablaßkaſten, fo Tünnte es ibm der Papſt vergeben, 
und wenn das gefpähe, fu müßte es Bott auch vergeben. — Sobald der Groſchen im 
dem Been Plinge, fahre auch die Seele, für Die man eingelegt, in den Himmel n. a. m, 


0 Ablaß. 


Mögkichft viel Selb zu machen, war der Hauptzweck aller Ablaßverkimdiger, vom 
Papfte bis zum Iepten Gollertor. Auch die unteren Agenten bereidherten fich und 
Iebten bei ihren Reiſen aufd Prächtigfte. Was endlich in die Hauptlaffe, die. päpft- 
Ihe Kammer, abgeliefert wurde, verſchwand zum großen Theil, ohne Dem vorgewen⸗ 
beten gemeinnügigen Zwecke zu Gute zu fommen. Leo X. vergab bie deutſchen Ab- 
laßgelder fürmlih in Pacht und verwendete fte offenfundig zur Ausflattung feiner 
Berwandten. Kein Wunder, daß fih endlich die Fürſten einer folchen Ausbeutung 
Unterthanen wiberfehten. Die deutichen Neichöftände unterwarfen wiederholt die 
zum Türfenfrieg gefammelten Ablaß-Erträge ihrer Eontrole oder nahmen fie in Ber- 
ſchluß; Einzelne verboten oder verhinderten ihren Unterthanen die Betheiligung an den 
mehr FKofifpieligen Indulgenzen, wie 3. 3. felbft das. geiftliche Inſtitut des deutſchen 
Ordens 1450 die Wallfahrt nach Rom zum Jubeljahr verbot und 1451 das Nach—⸗ 
jubiläum in Breußen nicht Halten ließ. Was die geiftlihe Autorität als eine erhabene 
himmlische Gnadenſpendung pries, das mußte die Iandeöväterliche Fürſorge wie einen 
Landfchahen von den Grenzen weifen! Der Antrag auf Abftellung des ganzen him- 
melfegreienden Unfugs bildete einen ſtehenden Punkt. in den Reichsſstags⸗ und Landtags⸗ 
Abſchieden ver letzten Derennien vor der Meformation. Der Beifall und Schuß, 
welchen dieſe von vorn herein bei fo vielen Fürſten und Wagiftraten fand, war dem 
Umſtand zu verbanfen, daß fie mit dem Widerſpruch gegen das Ablaßweien begann. 
Der Unfug dieſer großen periodiſchen Indylgenzen fiel wohl am meiften in bie 
Augen und ermwedte eine ‚allgemeine und in ber ganzen Chriftenheit gleichzeitige. Ent⸗ 
roftung, aber fle waren für die Seelen kaum ververblicher, als das ohne fo großes 
Auffehen wirkende Gift der ein- für allemal ‚bewilligten Abläffe, wie denn auch biefe 
mit jenen auf demfelben Princip beruben und aus demfelben Dogma fließen. So 
waren zunähft faft alle größern Kirchen, Abteien u. a. Stifte mit großen Abläflen 
außgerüftet, die entweder jederzeit oder doch an gewiſſen Tagen bei dem Beſuche der 
felben gegen Ablegung der Beichte und — eined Geldopferd gewonnen werden Eonnten. 
Namentlich aber waren die zahllofen, Durch irgend ein Wunder, durch irgend ein 
Legende oder Reminiscenz ausgezeichneten Wallfahrtsfirchen an folchen Gnadenſchätzen 
reich. Die Abläffe, die bei ven Seiligthämern zu Nom, zu Loretto, "zu Venedig, zu 
©. Jago di Campoſtella, zu Köln (bei den Reliquien der heil. 3 Könige und der 
11,000 Jungfrauen), zu Trier (bei dem ungenähten Rode Chriſti), zu Wilsnad (bei 
dem Blute auf den Hoftien) und an fo vielen andern Orten zu gewinnen waren, zogen 
jährlich viele Tauſende herbei, welche die Entlaftung ihrer Gewiflen und Befreiung von 
den Strafen ihrer Sünden fuchten. Durch Ablapbewilligungen wurden neu aufgelom- 
mene Feſte und Heiligentage ausgezeichnet und empfohlen, wobei nicht einmal mehr ber 
Mafftab zur Linterfcheibung der wichtigeren und unwichtigeren berüdfichtigt warb, wie 
dean auf das Fronleichnamsfeſt 200 Tage, auf Maris Empfängniß 700 Tage, auf 
den ©. Franciscustag aber 50 Jahre Ablaß gelegt waren. Selbft von der Annäherung 
an fürftliche Perfonen, die der Papft hatte ehren wollen, waren Ahläffe abhängig; nach 
Urban IV. war Allen, die zugleich mit dem Könige von Frankreich eine Predigt Hörten, 
nah Strtus IV. Allen, die mit dem Dogen von Venedig die Meſſe befuchten, der 
Gnadenſchatz gedffnet. Moͤnchsorden, geiftliche Verbindungen und Brüberfchaften aller 
Art mußten die Theilnabme und das Intereffe für fih und ihre Zwecke durch fein 
ſichereres Mittel zu erwecken und zu erhalten, als durch die Inbulgenzen, die fie fi 
son den Päpften verfchafften. Wer ihre Kirchen befuchte, ihre Feſte mitfeierte, ihre 
geiftlicden Uebungen mithielt, ihnen Stiftungen und Geſchenke zuwendete, oder wer In 
die Berbindung felbft eintrat, erwarb reichen Ablaß. Der volllommene Ablaß, ber 
urfprünglich an den Beſuch der Hauptlirche des Franciskaner⸗Ordens S. Maria be 
Portiuncula bei Afftift je am 1. Auguft geknüpft war, konnte durch die Bewilligung 
@irtus’ IV, feit 1480 an jenem Tage in allen Franciskanerkirchen erworben werben. 
Diefer Portiuncula⸗Ablaß, fpäterhin noch gefteigert, ift einer der berüchtigften und: eine 
Sauptflüne des populären Einfluffes der Franciskaner geworden. — Endlich. maren. e8 
befiimmte Gebete und Welfen des Gebetes, die zu Ablafvermittelungen erhoben, and 
das innerfte Geiſtesleben und die tägliche Andacht der Gläubigen mit dem Indulgenz⸗ 
weien verknüpften und vergifteten. . Und zwar waren es wiederum meift.neue, ungefunde 


laß ul 


Deootionen, die durch Ablaßbewilligungen ausgezeichnet und verbreitet wurden, dad 
Ave Maria als tägliches und dem Vaterunſer mehr als gleich geſtelltes Gebet, die 
Roſenkranz⸗Andachten, Die Marienpfalter, Gebete vor wunderthätigen Bildern u. dgl. m.;. 
während Uebungen von mehr nüchternem Charakter kaum oder doch viel Tärglicher ber 
dacht waren. Man empfahl Mariengebete mit der (wenn auch erdichteten, doch gläubig 
angenommenen) Verjicherung, daß dieſer oder jener Papſt 11,000, ja 20,000 Jahre 
und noch 20 Quadragenen Ablaß darauf gelegt babe, während die Begleitung des 
Sacrament3 zu einem Kranken nur 20 — 30 Tage, eine Bürbitte für das Wohl ber 
Kirche und eine Verneigung beim Namen Jeſu je nur 10 Tage Ablaß einbrachten. 

9. Dies war denn die Geftalt und mannichfache Anwenbung, welche dad Ablaß⸗ 
weien bis zum 16. Jahrhundert erhalten hatte. Den Spott der Ungläubigen und die 
Verachtung der VBernünftigen hatte e8 von feinem erften größeren Auffchwunge an auf 
fih gezogen, aber allmälig mehrten fih auch Solche, die mit der Exrkennmiß und 
dem Ernfte des Glaubens nicht bloß gegen die ebenfo aͤrgerlichen als unvermeiblichen 
Mißbraͤuche, fondern auch gegen das Princip und Dogma der Tirchlichen Indulgenzen 
zeugten. Die Zeit fam endlich, da die Indignation Gotted und der Menfchen gegen 
da8 ganze Ablaßweſen losbrechen follte. Gleich: der erfte Anlauf der Reformation bat 
dieſem Baume die Art an die Wurzel gelegt. Unter Luthers 95 Wittenberger Theſen 
find mehrere, durch welche der ganze Grund, auf dem der Ablaß erwachlen war, fofort 
völlig aufgeräumt wird. So 3.3. die 5.: „Der Bapft kann Eeinerlei Strafen erlaſſen, 
außer diejenigen, welcher nach feinem Qutbünten oder fraft der Bußcanones auferlegt 
bat.” — Die 8.: „Die Bußcanones gelten nur für Lebende; für Geftorbene ift gar nichts 
aus Denfelben zu entnehmen." — Die 36.: „Ieder wahrhaft reuige Chriſt hat vollen 
Nachlaß von Schuld nnd Strafe zu gemwärtigen, audy ohne Ablaßbriefe." — Die 68.: 
„Der wahre Schat der Kirche ift das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und 
Gnade Gottes. — Die 82: „Warum denn der Papſt, wenn er für ſchnoͤdes Gelb 
zu einem Kirchenbau zahllofe Seelen erlöfen Tann, nicht vielmehr aus beiliger Liebe 
und nur um des Heils der Seelen willen lieber gleich das ganze Fegfeuer ausleere?“ 
— eine nabeliegende Brage, die ſchon von älteren Theologen ernftlich behandelt und 
ziemlich dürftig dahin beantwortet war, der Papft dürfe das nur deshalb nicht, weil 
man fonft nachher Gott gar nicht mehr fürchten würde! Das ganze Gebäude der 
fholaftifchen Dogmatif vom Ablaß ſank vor der Macht der nenaufgehenden evangelifchen 
Erkenntniß, daß der Sünder gerechtfertigt und zur vollen Gnade Gotted hergeftellt 
wird nur durch den lebendigen Glauben an dad Werk Chriſti. Wo diefe Wahrheit 
verfündigt und angenommen war, verfehwand felbfi die Möglichkeit Eirchlicher Abläfie 
nah Art der bisher gebräuchlihen. Was in den proteftantifchen Kirchen jemals 
Achnliched vorgefommen ift, Verwandlung firchlicher Strafen und Prohibitionen in 
Gelvleiftungen oder Verkauf kirchlicher Dispenfationen, beruht, wie unlöblich und ge= 
fährlich e8 fei, auf einem ganz anderen Grunde und blieb jedenfalls ohne anerkannte 
Beziehung auf das Seelenheil. 

Andererfeit3 wurde die Hoffmung auf gefebmäßige Abjchaffung ber Indulgengen,. 
welche die befieren und Flügeren Gegner der Reformation von. dem Tridentinifchen 
Concil gehegt hatten, nur zum geringften Theile erfüllt. Man hatte auf bemfelben bie 
Behandlung der Ablaßfrage abfichtlich fo lange ausgefeßt, als noch eine begründete 
Aussicht auf die Verföhnung der Proteflanten mit der alten Kirche vorhanden war, 
und die Aufgebung des Ablaſſes noch als eine wichtige Eoncefflon dienen zu können 
schien. Nachdem aber jene Ausficht verfchwunden mar, wurde in ben übereilten, 
Berbandlungen der letzten Situngen auch der Ablaß in Der ganzen Ausdehnung der. 
fholaftifchen Theorie endgültig beftätigt. Allerdings fprach die. Synode die Vorjchrift 
aus, daß in der Bewilligung von Ablaͤſſen Maͤßigkeit zu halten fei, und. daß bie -ein«, 
gefchlichenen Mißbraͤuche (um deretwillen der herrliche Name der Indulgenzen von den 
Ketzern geläftert werde) verbeffert und namentlich ſchnöde Gewinnfte bei denfelben ab⸗ 
zuftellen feien (sess. XXV. decret. de indulgent.); aber e8 wurben meber die Grenzen, 
—** deren ſich die Maͤßigung beim Ablaßertheilen zu halten habe, angegeben, noch 
die Kategorien der mißbraͤuchlichen und abzuſtellenden Indulgenzen beſtimmt genug 
bezeichnet. Im Gegentheil wurde es ausdruͤcklich den Biſchöfen in ihren Provinzial⸗ 


\ 





u te}. 

Goncilten (die kaum in Gang Samen und bald genug und recht erwimſcht wisber ein⸗ 
gingen) überlafien, über Die tin ihren Didcefen vorgefommenen Ablagmißbräude an 
den Pabſt zu berichten, deſſen Autorität und Klugheit beichließen werde, was ber Kirche 
nüglih je. Die einzige wirkliche Verbeſſerung war, daß bad Goucilium in feiner 
21. Sitzung dad Inftitut der Ablafeinnehmer (quaestores eleemosynarum) ald ganz 
unverbefferlih für immer abfchaffte und vie Einzelaustbeilung der päpftlichen Indul⸗ 
gerizen jedem Diödcefanbifchofe mit Zugiehung zweier Gapitulare übergab — eine Beitim- 
mung, die Bapft Pins V. in einer alle bisherigen Kaufabläffe aufhebenden Bulle dahin 
praͤciſtrte, daß Gelbabläffe und Ablaßeinnehmer fünftig nur noch Eraft ausdrücklicher 
päpftlicher Verordnung zuläfitg feien! Hiermit war denn das ganze alte Recht gemahtt, 
wenn es auch der Charakter der Zeiten nicht mehr zu einer ſolchen Verordnung bat 
kommen laſſen. 

10. Die Tridentiniſche Ablaßreform reichte ohnehin kaum aus, um nur den hand⸗ 
greiflichſten Scandal zu verhindern. Während viele alte Ablaͤſſe in Abgang kamen, 
entſtanden zahllofe neue. Der Handel, den die päpftliche Kammer unmittelbar mit dem 
Bolle getsieben Hatte, hörte auf, aber die Bullen, durch welche Iocale Abläffe bewilligt, 
oder bie Breven, durch welche die Ausfpendung der allgemeinen Abläffe in den einzelnen 
Dideefen übertragen worden, find nur gegen fchwere Gebühren zu haben, für welche 
fich die Praͤlaten, Kirchen, Brüberfchaften u.f.w., die fle entrichtet haben, an ben 
Almoſen der den Ablaß nehmenden Gläubigen ſchadlos halten müſſen. Mit der Bes 
Handlang des Ablaßweſens, ver Verleihung neuer und der Abfchaffung mißbräuchlicher 
Ablaͤſſe ift bei der Curie eine eigene Garbinalcongregation (de indulgentiis et de re- 
liquiis) betraut, welche 1669 von Glemens IX. ihre fchließliche Einrichtung empfing. 
Unter ihrer Verwaltung baben — anderer großartiger Ausfpendungen gar nicht zu 
gedenken — namentlich die Fegfeuer-Abläfie eine felbft vor der Reformation nicht ge- 
Bannte Ausdehnung bekommen, beſonders wmitteld der privilegirten Altäre. Die Gon- 
gregation extheilte Namens des Papſtes gewiflen Altären das Borrecht, durch jede Meſſe, 
die auf denfelben an den näher bezeichneten Tagen celebrirt wurde, eine Seele aus dem 
Fegfener zu erlöfen. Zu Ende des 17. Jahrhunderts war in der ganzen römifchen 
Ghriftenheit faum ein Klofter oder eine größere Kirche, die nicht für einen und ben 
andern ihrer Altäre diefes Privilegium erworben gehabt hätte. Man beredinete, Daß 
an jedem Tage wenigfiend 20,000 folcher privilegirtee Meſſen gelefen und dadurch 
dinnet 2—3 Jahren mehr Seelen aus dem Fegfeuer erlöft würden, als feit Anfang 
Der Welt moglicherweiſe haͤtten hinein kommen koönnen, wobei natürlich Die unmittelbar 
zum Simmel oder zur Hölle eingegangenen Seelen, welche von den Geſtorbenen die 
bei weiten größere Zahl ausmachen follten, aus ber Berechnung bleiben müßten. 
Aehnliche Privilegien wurden jelbft auf das Tragen von Medaillen, Kreuzen, Rojen- 
ränzen und Amuleten verliehen, bie vom Papſte oder andern dazu bevollmädktigten 
Prälaten geweiht worden waren. Selbſt die 25jährige Hegel des Jubeljahres ward 
überjehritten, feitdem Sixtus V. die Abhaltung eines Jubiläumß bei der Stuhlbefteigung 
eines neuen Papftes einführte, und feine Nachfolger auch noch bei vielen anderen Ans 
laffen, bei drohenden Gefahren oder errungenen Erfolgen der Kirche Iubiläen, d. h. 
Abläffe mit der Kraft des Jubeljahres bald für alle Gläubigen, bald nur für einzelne 
- Ränder verfimdigtn. So erwarben auch die bei der Neftauration des Romanismus 
wieder zahlreich aufwachſenden oder neu erftarkennen Orden, Bereine und Brüderfihaften 
viele und zum Theil überſchwängliche Ablaͤſſe. Der Portiuncula-Ablaß der Francis⸗ 
camer ward zu einem fogenannten Toties quoties gefteigert, d. 5. der gewonnen wurde, 
fo oft Iemand an dem Gnadentage die Ablaßkirche auf3 Neue beſuchte. Sogar In 
obſcuten Laienbrüverfchaften haͤuften fih die auf verſchiedene Acte der Devotion zu⸗ 
geſagten Abläffe fo an, daß die Mitgliever derfelben mehrere vollfommene an Einem 
Tage gewannen. Endlich konnte auch der einzelne Katholif durch Einhaltung gewiſſet 
Andachtsubungen an jenem befiebigen Tage faft fo viel Ablaß gewinnen, ald er nur 
wollte, wie denn die Altern Gebetbücher gewöhnlich Anleitungen zum möglichft reichlichen 
Indulgenzerwerb enthalten. 

11. Die Aufklaͤrung fand in dem Ablaß eine für ihre Waffen fo recht wohlgelegene 
Beute. Im Oefterzeich wurden unter Sofeph 1. vor allen Dingen die Abläfle einer 





Ale. es 


fizengen Nesiflen durch die Staatöhehbrben unterworfen, die Abfchaffung der beſtehen⸗ 
den durch bie Bifchöfe ward ermuthigt, die Erwirkfung neuer in Nom fat unmöglich 
gemacht, die Ankündigung von Begfener- Indulgenzen, fo wie die Privilegirung von 
Altären völlig unterfagt. Eine fo tief in dad Leben und die Gewohnheiten der Glaͤu⸗ 
bigen eingepflanzte Lehre und Uebung der Kirche mußte vom Staate fo gut wie ver⸗ 
boten werben. Aber auch ohne ſolche Gegenwirkungen trat damald das Indulgenz⸗ 
weſen in dem ganzen römifchen Kirchengebiete, felbit Spanien und Italien nicht aus⸗ 
genommen, mehr ald jemald in den Hintergrund. In Deutfchland war es nach den 
großen Kriegen beinahe verfchollen. Die Kirche hatte gegen die Hevolution amd Auf- 
Elärung für ihren Beſtand und die eigentlichen Nealitäten des Chriſtenthums fo ſchwer 
zu kaͤmpfen, daß fie an die Geltendmachung joldyer Dinge, wie den Ablaß, nicht wohl 
denken konnte. Sobald indefien mit der politifchen auch die Firchliche Meaction geflegt 
Hatte, zeigte fih, dab die Wiederherſtellung der Inbulgenzen keineswegs aufgegeben 
war, und daß bie pbilofophifchen und ftaatlichen Neformen der Kirche auch nicht ein⸗ 
mal von diefem Gebrechen wahrhaft hatten helfen fünnen. Wo irgend, nanıentlich feit 
den dreißiger Jahren die Firchliche Action wieder freier und- kräftiger ward, da wurben 
auch die Abläffe wieder hervorgeſucht, ja als eine fpecififch katholiſche Disciplin num 
erft recht gefliffentlich getrieben. 

Für Die neuere firenge Richtung, welche durchweg mehr römiſch als katholiſch 
iR und die unterfcheidenden Lehren und Uebungen lieber, ald die gemeinfchaftlichen 
Heildmahrbeiten predigt, gilt Eifer um den Ablaß neben der übertriebenen Marien⸗, 
Heiligen» und WReliquienverehrung u. f. w. wieder als unerläßliches ‚Keungeichen ber 
Orthodoxie. Vor und liegen zwei Gebetbücher neu aufgerichteter Brübderfchaften, aud 
deren Abläffen fchliegli noch Kiniged als jüngfte Proben mitgeteilt werben möge. 
Das eine, das der Brüderfchaft zu den 5 heiligen Wunden des göttlichen Salvators 
in Schwäbifh » Gmimd (1856), verheißt den Witglievern verfelben vollkommenen 
Ablaß am Tage des Eintrittö, wenn fie vorher gebeichtet und commamicirt haben; 
ferner in der Sterbeftunde, wenn fie wenigfiend den heiligen Ramen Jeſu aubädhtig 
audfprechen; desgleichen am Feſte ver 7 Schmerzen Mariä, wenn man bie Bräber- 
fchaftöfapelle bejucht und dafelbft um Gewinnung des Ablafles betet; 7 Jahre und 
eben fo viel Quadragenen (d. b. je 40 Tage) am Ofterfefl und den Tagen der Apo- 
flel Thomas und Johannes, und 60 Tage Ablaß, fo oft man irgend ein ˖ Werk der 
Andacht und Liebe verrichtet. — Nach dem andern, der Brüberfchaft vom heiligen Hofen- 
Exranze, die zu Luremburg von dem befannten Biſchof Laurent erneuert ift (1843), 
erhalten die Brüder und Schweftern volllommenen Ablaß ebenfalld am Tage des Ein- 
tritt und in den Sterbeftunden, ferner am erſten Sonutag eines jeden Monats, an den 
7 SHauptfeften der Mutter Gottes und an allen übrigen Feſten, an denen ein Geheimniß 
des Roſenkranzes gefeiert wis» u. |. w. wenn fie wenigſtens den Borfag faffen, bald zu 
beichten und jedenfall die Brüderſchaftskirche beſuchen; unvolllommenen Ablaß aber von 
5 Jahren ımd 5 Quadragenen, fo oft fie einen Fleinen Roſenkranz beten; wenn fie dies 
3 Mal in der Woche thun, noch dazu jebeömal 2 Jahre und 2 Quadragenen, wenn 
ſte es aber täglich in eimer Kirche thun, überdies noch jedesmal 58 Jahre u. f. w. 

Wir fchließen Diefen Auffab mit den Worten eined in jeder Hinficht hochſtehen⸗ 
den, obgleich auch ſchon verfeherten Theologen, des Breiburger Domkapitulars Hirſcher, 
m feinen „Birchlihen Zufländen® S. 75 ıc.: „Man fage, wad man will, es bleibt 
dabei, daß fih das Volk unter Ablaften Sändenerlaß denkt. Man fagt dem Volke 
zwar, nicht Günden, fondern Sündenftrafen werben durch die Abläffe nachgelaflen ; 
allen aber die Strafen, nicht die Schuld, find dem Volke das Wefentliche an der 
Sünde, und wodurch daſſelbe von der Strafe frei wird, dadurch glaubt es ſich von 
der Sünde frei. Die Strafe ift ed, die es fürchtet. So fteben ihm benn die Ab» 
laͤſſe leichtlich Höher, als Alles; und die Befehrung — der Belehrungsgeift, die Ber 
kehrungstreue und das Streben nach wachſender fittlider Bervollfommnung leiden genau 
in dem Maße, ald man der Sündenfolgen auf anderm Wege (nämlich durch Abläffe) 
ledig werden zu EZönnen glaubt.... In der That, je größer die Xobpreifungen bed 
Ablaſſes, je glänzender die Ablapfefte find, veflo weniger wird ber gemeine Mann ſich's 
deuten Sönnen, daß er bier nicht großer Gnaden theilbaftig werde, und ihrer nicht 


} 








14 Ablegaten. Abläfung. 


tgeilbaflig werde eben hier, unter Leiflung einiger ihm nicht ſchweren Forderungen. 
Wenn der gemeine Mann auf ſolche Weife in höchſt verderblichem Irrthum lebt, fo 
macht fi) dagegen der Aufklärling über die ganze Sache luſtig. Wenn der Aufflär- 
ling die vielen vollkommenen Ablaͤſſe flieht, fo fragt ee — und nur er? — ob dem 
nicht an einem genug fei! Mebr ald Alles könne man doch nicht erlaſſen. Wenn 
er neben den vollflommenen noch unvollfommene Ablaͤſſe flieht, jo fragt er, was dieſe 
legteren neben den erfleren noch für eine Bedeutung haben?" — — , 

(Ueber die Kehrfeite der Sache, nämlich über den Nichtgebrauch der Schlüffel- 
gewalt fowie über den größeren oder geringeren Mangel an jeglicher Jurisdiction und 
Kirchenzucht auf dem Gebiete der evangelifchen Kirche f. die Artikel Kirchenzucht und 
Schlüſſelgewalt.) | 

biegaten, legati a latere (sc. papae), wurden in der diplomatiſchen Sprade 
Diejenigen außerorventlichen päpftlichken Gefandten erfter Klaſſe genannt, welche aus 
der Zahl der Garbinäle genommen find. Durch lebtere Eigenfchaft, fo wie durch den 
außerorventlicgen, meift vorübergehenden Charakter ihrer Stellung unterfcheiven fie fi 
von den päpftlihen Nuntien, mit denen ſie fonft den Rang der Botjchafter Der welt 
lichen Mächte theilen. Die Sendung eines Ablegaten hat von jeher fowohl politifchen 
als Firchlichen Zweden, als auch beiden zugleich gegolten; in neuerer Zeit gehört fie 
zu den Seltenheiten und erfolgt nur in beſonders wichtigen Fällen. — Ein Unterfchieb 
zwifchen legatis a und legatis de latere, wie er hier und da behauptet wird, erijtirt 
in Wirklichkeit nicht. Vergl. übrigens auch den Artikel: Legat' (päpftlicher). 

Ablöjung, Ablöfungdarten, Ablöjungs: Capital. Die national» öfonomifche 
Doctrin, wie biefelbe feit der Mitte des vorigen Jahrhunderts befonders durch Adam 
Smith uud feine Schule ausgebildet wurde, geht von dem Grundfage aus, daß der 
Schwerpunkt des gejammten wirtbfchaftlichen Lebend in den Individuen liege, daß es 
mithin Die Aufgabe der Gefehgebung fei, in allen wirtbfchaftlichen Verhaͤltniſſen der 
individuellen Kraft einen vollkommen freien Spielraum zu .fihern und folgeweife alle 
Hindernifje zu entfernen, welche der ungefchmälerten Anwendung derfelben entgegen- 
fteben Eönnten. Freiheit und Theilbarkeit des Beſitzes, fo wie Freiheit des Handels 
und der Gewerbe, wurden von ihr daher als nothmwendige Bebingungen „des wirth- 
ſchaftlichen Fortſchrittes“ aufgeftellt und alle gefeßlichen Schranken, welche dieſer Frei⸗ 
beit entgegenflanden, als Cultur-Hinderniſſe und als zu befeitigende Mebelftände bes 
zeichnet. | 

Mit diefen Forderungen kam die Wirtbfchaftslehre einer Auffaffung vom Staate 
entgegen, welche alle Mittelgliever zwifhen den Einzelnen und der Staatögemwalt zu 
entfernen und eines Theild die unmittelbare und felbfithätige Leitung aller gemeinfamen 
Berhältniffe durch die Staatögewalt herbeizuführen, andern Theild den Regierten, um 
fle vor jedem Willfür- Syflem Seitens der Regierung ficher zu ftellen, einen Antheil 
an der Leitung der Staatögewalt zu verfchaffen bemüht war. 

Demgemäß erfchienen denn die gefeplichen Befchränkungen, an welche ber Beſttz 
und die Benutzung des Grundeigenthums, fowie der Betrieb der Gewerbe und des 
Handeld bis dahin gebunden maren, nicht nur als wirthfchaftliche, fondern zugleich als 
politifche Schranken, und es begann deswegen gleichzeitig ein doppelter Kampf gegen 
diefelben, durch welchen fie allmälig theild aufgehoben, theils fir ablöslih erflärt 
wurden. Ohne Entichädigung konnte man nämlich nur diejenigen Gefege und Ein- 
richtungen befeitigen, durch deren Aufhebung nicht Privatrechte gefränft wurden; wo 
dagegen die wirklichen ober vermeintlichen Schranken in Privatrechts-Verhältniffen bes 
gründet waren, da wär ohne Nechtöbruch deren Befeitigung nur auf dem Wege bed 
Abkaufs möglih. Diefen Abkauf zu bewirken und in möglichft kurzen Friſten herbei- 
zuführen, ift nun Die Aufgabe der fogenannten Abloͤſungsgeſetze. Sie beziehen ſich auf 
den Ablauf der Grunde oder MealsLaften und inäbefondere der gutöherrlichen Abgaben 
und Dienfte nebit den Zehnten, die Befeitigung gewiſſer Grundgerechtigkeiten (Servi⸗ 
tuten) und die Aufhebung der Zwangs⸗ und Banrrechte gewifler Gewerbe. 

Was nun zuerft Die Real⸗Laſten betrifft, fo find dieſelben urfprünglich aus einem 
zwiefachen Verhaͤltniſſe erwachien, einem obrigfeitlichen und einem privatrecht⸗ 
lichen (ſ. Abgaben, Grundlaften). Die Abgaben der erſtern Art, d. h. die aus der 





—— — 


Alf 145 


Serichtöherrlichfeit, der gutöherrlichen Polizei oder Schugherrlichkeit der frühern Erb⸗ 
unterthänigfeit, der frühern Steuer- und Gemwerbeverfaffung berflammenden wurden in 
der Regel ohne Entſchaͤdigung aufgehoben, obgleich fich nicht leugnen Täßt, daß die⸗ 
felben, wenn auch urfprünglich in einem Öffentlichen Nechtöverhältniffe wurzelnd, den⸗ 
noch vielfach einen privatrechtlichen Charakter angenomnıen hatten und wenigftend von 
Seiten der Berechtigten mit Capital= Aufwand erworben waren, der ihnen alfo durch 
die unentgeltliche Aufhebung als ein Opfer’ auferlegt wurde. Nach demfelben Principe 
bebandelte die frangöfifche Gefeßgebung auch alle Arten von Zehnten, welche von geift- 
lichen und weltlichen Körperfchaften, geiftlichen Pfründen und Stiftern bezogen wurben, 
fo wie die Lehnd=» Zehnten, wenn fie den Charakter. von lehns⸗ und berrfehaftlichen 
Zindgebühren Hatten. Man fah auch in ihnen fteuerartige Taften, welche entmeber 
durch den Wegfall des Nechtöverhältniffes, auf dem fie berubten, als aufhören anges 
feben, oder welche durch eine anderweite Verforgung der Anftalten, zu deren Unterhalt 
fie dienten, unnöthig geworden feien. Diefem Borgange konnte man in andern Staaten 
nicht folgen, weil den Zehnten, auch wenn fie an geiftliche und weltliche Corporationen 
bezahlt murben, in der That der Steuer- Charakter fehlt, und Diefelben vielmehr als 
rentenartige Abgaben angefeben werden müflen. 

Bei den nicht aus einem obrigfeitlichden Verhaͤltniſſe fließenden Kaften muß man 
die aufgelegten Leiftungen und Verpflichtungen von den vorbehaltenen Nechten unter« 
fcheiden (f. Abgaben). Die erfteren gewähren überall ein Einfommen, aber Fein Eigen- 
thumsrecht an den Orundftücen, auf denen fie haften. Bei ihnen handelt e8 fich nur 
um die Umwandlung einer unablöslichen in eine ablößliche Laſt, fo weit fie nicht über- 
haupt ſchon ablöslich waren. Es gewährt dies den Pflichtigen allerdingd einen Vor⸗ 
theil, indem file dadurch in den Stand gefeht werden, einen der allmäligen Deprecia= 
tion unterworfenen Werth in einen folcyen zu verwandeln, der einer Zunahme fähig 
ift, woahrend die Berechtigten "fich vor der Depreciafion ihres Capitals nur dur An 
fauf von Grundftücden ſchützen könnten, was fie aber in den meiften Fällen aus an⸗ 
deren Nüdfichten zu thun außer Stande find. 

Wo Güter und Grundftüde mit vorbehaltenen Rechten audgethan find, fteht den 
Pflichtigen nirgends das volle Eigenthum, und fehr oft fogar nur ein zeitweiliges 
Nutzungsrecht zu; überall ift vielmehr ein Obereigenthümer vorhanden, der nicht nur 
echte auf gewiffe Dienfte und Abgaben, fondern Rechte auf die Subftanz des Gutes 
felbft hat. In Betreff dieſes DVerhältniffes hat nun die Ablöfungsgefeßgebung - überall 
den Zweck verfolgt, aus bloßen erblichen oder zeitweiligen Nußnießern Eigenthümer zu 
machen, die urfprünglichen Eigenthümer dagegen ihres Eigenthumsrechtes zu entheben. 
Man hat ſich zur Rechtfertigung diefes Verfahrens auf das jus eminens des Staated 
berufen, kraft defien ihm die Enteignung der Privaten zur Errichtung und Ausführung 
von öffentlichen Anlagen zugeftanden wird. Diefe Berufung aber ift unfered Erachtens 
unzuläffig, denn e3 "handelt fich hier nicht um eine Enteignung zu Gunften des Staates, 
fondern um die Enteignung eined Privaten zu Gunften eined andern, was fonft ald 
allgemein unzuläffig erachtet wird. Der einzige Grund, welcher ſich für dieſes Ver—⸗ 
fahren anführen läßt, ift die politifche Notbwendigfeit. Es waren baber 
Dpfer, welche die Berechtigten dem Staate brachten und durch die Gefeßgebung zu 
bringen angehalten wurden, mag auch der reelle Werth dieſer Opfer in einzelnen Faͤllen 
nicht groß gewefen fein und auch im Ganzen, mit dem zu erreichenden Zwed verglichen, 
als verbältnifmäßig weniger bedeutend betrachtet werden. 

Um nun aber dieſes DVerhältniß zur Erreichung des angeftrebten Zweckes aufzu- 
Iöfen, war zuweilen nothwendig, 1) die Allodiflcation der Güter in den Händen derer, ” 
welche bis dahin entweder nur Nutznießung oder im beften Kalle befchränfte Eigen 
thumsrechte daran hatten; 2) die Ablöfung der Dienfte und Abgaben, welche fie als 
Preis ihrer Beflgrechte zu entrichten hatten. 

Der Werth des Obereigentbumd war je nach den gleichen Bedingungen, unter 
denen Die Güter ausgethan waren, fehr verfchieden, indem einige erblih, andere nur 
auf Zeit, und von dieſen beiden Klaffen wieder eine jede unter mannichfaltigen modi- 
fieirten echten befeifen wurden. In den meiften deutfchen Staaten bat “man diefen 
Werth je nach der Verſchiedenheit des Verhältnifies in Geld zu normiren und Dadurch 


Wagener, Staats n. Geſellſch.⸗Lex. I. 10 





146 Aplöfung, 


die Ablöfung möglich zu machen gefucht. In Preußen unterjchied man die in Erbpacht, 
Erbzind oder ald Lehen überlaffenen von den zu laſſitiſchen Rechten übergebenen 


Gütern. Das Obereigentbum an der eriten dieſer beiden Klaffen wurde durch daß 
Geſetz von 2. März 1850 ohne Entfchädigung aufgehoben, ‚weil man aunahm, daß 
diefe Berechtigungen ihren Inhaber entweder zu Feiner wirklichen in Gelde ſchaͤtzbaren 
und zu einer Entfhädigung bei der Ablöfung ſich eignenden, oder nur einen folchen 
Vortheil, der von rein zufälligen Umſtaͤnden abhängig fei, gewährten. Bei dieſen 
bleiben daher nur die Dienfte und Abgaben zur Ablöfung übrig. Bei den Lapgütern 
hatte das Edict vom 14. September 1811 feitgefegt, Daß die Gutsherren für Das 
Eigenthumsrecht an den Höfen, fowie für die Dienfle und gewöhnlichen Abgaben ab- 
gefunden fein follten, wenn ihnen bei erblichen Höfen der dritte Theil, bei nicht erb⸗ 
lihen Höfen aber die Hälfte der bäuerlichen Ländereien oder ihre Werthes abgetreten, 
und dabei auf alle außerordentliche Unterflügungen, auf Hofwehr, Bauhülfe und Ber: 
tretung bei den Steuern Verzicht geleiftet wurde. Dabei war den erblichen bäuerlichen 


Wirthen die Befugniß eingeräumt, auf eine geringere ald jene Normal-Entfchädigung 


anzutragen; und durch die Declaration vom 29. Mai 1816 auch den Gutsherren 
geftattet, ſowohl bei erblich als nicht erblich überlaffenen Höfen auf eine höhere als 
die Normal» Entfehädigung zu provociren. Das Regulirungdgejeg für Dad Großher- 


zogthbum Pofen von 8. April 1823 oronete Die Ausmittelung der Entfchädigung ber 


Gutsherren nach Maßgabe aller feiner biöherigen Nugungen an, und forberte dagegen 
die Berüdfichtigung und den Abzug aller gutöherrlichen Gegenleiftungen. Das Gefes 


vom 2. März 1850, welches an die Stelle jener beiden Gefege trat, fchloß fih im 


Prineip dem Gefeg vom 8. April 1823 an. Es ſetzte in Folge deſſen feft, daß der 


Stellenbefiger das bis dahin der Gutäherrichaft zuftehende Eigenthumsrecht an der 


Stelfe und deren Pertinenzien, fowie an der Hofwehr, die Amtsherrſchaft dagegen die 


Befreiung von den Berpflichtungen zur Unterftügung des Stellenbefiterd in Unglüdd- 


fällen und zur Vertretung bei öffentlichen Abgaben in Leiftungen ohne Entfchädigung 


Dafür zu leiften erhalten ſollte. Alle übrigen gegenfeitigen Berechtigungen und Ber 


pflichtungen beider Theile dagegen müſſen eben fo wie bei eigenthümlich bejeflenen 
Stellen abgelöjt und vergütet werben. 

Nächft den Grund» oder Reallaften bilden viele Grundgerechtigkeiten (Servituten) 
einen wichtigen Gegenfland der Ablöfung. Von den mit diefem Namen bezeichneten 
Rechten find nämlich mehrere von der Art, daß fie mit einer fortgefchrittenen Cultur 


nicht zu vereinbaren find, und deren Befeitigung darum im Intereffe der Volkswirth- 


Thaft liegt. Dahin gehört das Necht zur Weide auf fremdem Aderland und Wiefen, 
fowie das Recht der Waldweide, des Sammelns von NRaffe und Lefeholz, die Be 
nugung der Walpftreu, nebft einigen anderen minder gewöhnlichen Befugniffen. Die 
Gefepgebung hat dieſe Nechte daher ebenfalld für ablöslih erklärt. (S. über dieſe 
Rechte Gemeinheitstheilungen.) | 

Endlich gehören hierher auch noch mehrere gewerbliche Gerechtſame, wie Die ſoge⸗ 
nannten Nealgewerbe, die Zwangs- und Bannrechte u. f. w. Auch fie wurden als ein 
Hinderniß der gewerblichen Entwidelung für ablöslich erklärt. (S. Gewerbeverfaflung.) 

Die Ablöfung diefer verfchiedenen Laften kann auf zweierlei Art bewirkt werben, 


nämlich 1) durch Ablauf, d. h. durch Entfchädigung der Berechtigten für den Werth 
ihrer Nechte, 2) durch Umwandlung der Keiftungen in abfäufliche Nenten. Die legtere 


Verfahrungsweife dient nur ald Vorbereitung, den endlichen Abkauf herbeizuführen. 

Was nun zuerft den Abkauf betrifft, fo find in Bezug auf dad Object, worin 
die Entſchaͤdigung des Berechtigten gewährt wird, zwei Formen zu unterfcheiden, indem 
diefelbe entweder durch Bezahlung einer Geldſumme oder aber durch Grundſtücke bewirkt 
wird. Die Bezahlung einer Geldſumme ift das gewöhnliche Verfahren und in vielen 
Fällen auch das allein anmendbare. Sie ift aber, wenn die Abtragung des ganzen 
Werthes der Abgaben und Dienfte mit einen Male bewirkt werben foll, nur. für die 
jenigen erwünfcht, welche folche Summen baar zur Verfügung haben. Kür Diejenigen, 
welche genöthigt find, das zur Ablöfung beftimmte Capital ‚ganz oder theilweiſe auf 
zunchmen, kann das neue Schulbverhältniß Leicht größere Nachtheile bringen, als bie 
Neallaften ſchlimmſten Falles hatten. 


! 





Ablöfung. 147 


Aber auch bei der Ablöfung der Neallaften kann die Abtretung eines Grund⸗ 
ſtuckes oft der Gelbablöfung vorzuziehen fein, weil fie dem Pflichtigen die Möglichkeit 
gewährt, fih auf einmal feiner Laft zu entledigen, und den Berechtigten in einen Beſtitz 
feßt, den er vielleicht vergeblich für Geld in Der Nähe feines Hauptgutes fuchen würde. 
Das preuß. Ediet vom 14. Sept. 1811 machte deswegen bei der Negulirung der 
gutöherrlicy » bäuerlichen DBerhältniffe die Abtretung von Land zur Megel. In den 
meiften anderen Fällen und auch in Der neueren preußifchen Gefeßgebung ift aber die 
Wahl dieſes Abloſungsmodus den Parteien überlafien. 

Wenn die endliche Ablöfung durch Bezahlung einer Geldſumme flattfinden foll, 
wird Die vorläufige Umwandlung der Laft in eine Rente für alle Diefenigen, welche 
über die Werthſumme derfelben nicht verfügen Fönnen, zur Nothwendigkeit. Diefe 
Umwandlung aber kann in zweierlei Weife ftattfinden: entweder nämlih, indem man 
die Dienſte und Abgaben in eine von Seiten des PBerechtigten entweder überhaupt . 
oder auf eine gewifle Anzahl von Jahren unfündbare, fefte Geld» oder Naturalrente 
verwandelt oder aber indem flatt derſelben eine Zeitrente eingeführt wird, durch deren 
Entrichtung ſich der Verpflichtete allmälig von der Schuld befreit. 

Die Umwandlung der Laften in eine unmandelbare Naturalvente würde der zweck⸗ 
mäßigfte Weg gewejen fein, das ganze Verbältnig aufzulöfen, wenn man dann bie 
endliche Ablöfung der freien Vereinbarung der Parteien überlaffen hätte. Sie würde 
dem Berechtigten eine Entfchäbigung gewährt haben, die man als ein volles Aequi⸗ 
valent feiner bisherigen Forderung hätte anfehen fünnen: fie würde dem DVerpflichteten 
dagegen die Möglichkeit gewährt haben, bei einer günftigen Lage feiner Verhältniffe 
ih von der Laſt, mit der fein Eigenthum belaftet war, zu befreien; fle würbe aber 
ihm das Gapital in den Händen gelaflen haben, fo lange er es zur Berbefferung feis 
ned Gutes beburft hätte. Es wäre ihm eine unfündbare Hypothek gewährt worden. 
Es wäre dadurch der Parcellirung oder anderweiten bypotbefarifchen Belaftung feines 
Gutes vorgebeugt worden, zu der vielleicht jchon feine Kinder fchreiten müffen, weil feine 
Mittel vorhanden find, Durch eine andere Weife die Erbtheilung möglich zu machen. 

Da die Sefeßgebungen aber darnach firebten, jeden dauernden Nealnerus zu be= 
feitigen, fo bat man meiftentheild vorgezogen, die Laften ftatt in eine Natural, viel 
mehr in eine Geldrente umzuwandeln, welches auch dem angeftrebten Ziele mehr ent⸗ 
ſprach, weil man die möglichft ſchnelle Abtragung im Auge hatte, und un diefe her- 
beizuführen, die Naturalvente doch erft wieder in eine Geldrente Hätte umgewandelt 
werden müflen. 

Diefed Ziel wird nun aber überhaupt viel beffer durch ‚Die Ummandlung der 
Laften in eine Zeitrente erreicht.  Diefe aber macht noch eine weitere Einrichtung 
erforderlich. Für den Staat oder eine Corporation, welche viele Ablöfungsgelder zu 
beziehen hat, kann es allerdings gleichgültig fein, ob ihr diefelben auf einmal ober 
in Theilzahlungen geleiftet werden, dem Privaten dagegen wird mit Theilgahlungen, 
die er nicht anderweitig anlegen koönnte, wenig gedient fein. Um daher dem Berech- 
tigten fofort den ganzen Betrag zu behändigen und doch dem Berpflichteten die Mög⸗ 
lichkeit zu gewähren, feine Schuld in Theilzahlungen abzutragen, hat man Ablöfungs- 
faffen oder Abldſungsbanken (f. Rentenbanken) errichtet, aus welchen dem Berech⸗ 
tigten entweder haar oder in verfäuflicden Schulobriefen der Werth ihrer Forderung 
it wird, fo daß fle die Rente bis zur Abtragung der Schuld zu empfangen - 

aben. 

Die Sunme, welche dem Berechtigten fchließlich ale Entfchädigung für dad Auf- 
geben feiner Anfprüche bezahlt werben muß, bilbet das Ablöfungscapital. Um 
daſſelbe zu finden, müfjen zunachſt die verfchiebenen Keiftungen, wenn auch nur Behufs 
der Berechnung, in eine fefte jährlich zahlbare Gelbrente umgewandelt werden. Dem- 
gemäß müflen zunächft Die unregelmäßig wiederkehrenden Leiftungen, wie 3. B. alle 
Laudemial⸗Abgaben, zu regelmäßig wiederkehrenden gemacht, und es müffen diejenigen, 
deten Betrag bald größer bald Heiner ift, wie 3. B. die Zehnten und alle Natural: 
Abgaben, welche ſich nach dem ungleichen Ertrage der Ernte richten, in gleichförmige 
verwandelt werden, es müſſen die Dienſte als regelmäßig wiederfchrende Gelbleiftungen 
berechnet und eben jo die Natural» Abgaben nach ihrem Gelowerthe gefchägt werben. 

10* 





/ 


148 | Abluition. Abmeierung. 


Hat man auf dieſe Weiſe den Jahreswerth der Leiſtungen in Geld gefunden, ſo wird 
dann dieſer Betrag als eine Zinsrente betrachtet und nach einem angenommenen Zins⸗ 
fuße in Capital verwandelt, fo daß alſo bei einem Zinsfuße von 4 pCt. die Rente 
mit dem 25fachen, bei einem Zinsfuße von 5 p&t. mit dem 20fachen oder 18fachen 
Betrag der Rente als Ablöjungscapital feftgefegt wird. 

| Ahluition. Ein uralter Gebrauch in der römtjch-Fatholifchen Kirche bei der Meffe. 
Der Kelch wird nad der Communion mit Wein „abluirt” (abgewalchen, abgefyült); 
feine Finger aber „purificirt“ (reinigt) der Priefter mit Wein und Waſſer. Abluitien 
und Purification wird in der Regel bei mehreren bald nach einander folgenden Mefien 
nicht nach jeder einzelnen, fondern erft nach der legten vorgenommen. Die Tatholifchen 
Liturgiker lehren darüber nicht genau daſſelbe. 

Abmeierung. Das DVerhältnig zwijchen den ländlichen Obereigenthümern und 
Eigenthümern, zwifchen jenen und ihren Hinterfaffen ift ein Analogon des Lehenwefens. 
Wie diefed ein unter dem fittigenden, mildernden Einfluffe des Chriſtenthums vollzoges 
ner Uebergang vom barbarifchen Despotismus zur vernunftmäßigen Negierung, von 
der rohen Vergewaltigung zur Herrſchaft wahrer faatlicher Freiheit ift: jo bat es nad 
unten bin, immer unter dem Schuß und der Ueberwachung der Kirche, Die Emancipa⸗ 
tion der Sclaven allmälig und daher ohne Umfturz der focialen Ordnung herbeige- 
führt dur Einführung der SHörigfeit für die aderbauende Bevölkerung. Die Hör 
tigkeit verlieh neben den Pflichten gegen den Herrn auch Rechtsanſprüche an den⸗ 
felben, vor Allem das Recht auf Grund und Boden zur Ernährung. Der Grund» 
charakter des Lebenwefend, der fih in dem Satze ausſpricht: ex paclo et pro- 
videntia majorum (durch die Feſtſetzung und Fürſehung der Vorfahren) erhielt 
fih in den Verhältniß der Grundeigentbümer zur aderbauenden Bevölkerung, alſo 
in der unteren Sphäre, fogar noch länger ald in der oberen. Während bier die Aus⸗ 
bildung der Territorialhoheit dem eigentlichen Feudalismus ein Ende machte, hat fie 
dort Das urfprüngliche Vertragäverbältniß — auf der einen Seite Pflichten und Leis 
- flungen, auf der anderen Beſitz — nicht alterirt, vielmehr bildete fich unter dem faſt 
unwillkürlichen Walten der Sitte und einer gewiffen idealen Anſchauung vom ädhten 
Eigenthümer gleichwie der Bedeutung von Grund und Boden ein ganz eigenthümliched 
und fehr fein geftaltetes Syſtem der gutöherrlich-bäuerlicden Verbältniffe aus. Immer 
auf dem Sape ex pacto et providentia majorum rubend, waren bier Nechte und 
Pflihten, Eigenthums⸗ und Nutznießungsrecht fo Fünftlich vertheilt, die urfprünglichen 
Begriffe des Vertrages mit einer folchen Fülle von Obfervanzen umgeben, daß die 
römische Jurisprudenz bier mit ihren den Zuftänden der römifchen Aderbauer und Zeit 
pächter entnommenen Aufchauungen ſich nicht zurecht zu finden wußte, eine Freimachung 
des Grundeigenthums in ihrem Sinne mit der Gefahr eines revolutiogären Umſturzes 
drohte und Diefes Gebiet dem Private und Gemohnheitörechte überlaffen werben mußte. 
Dafielbe fand allerdings fpäter für nöthig, die in den gutöherrlich-bäuerlichen Verhält- 
niffen geltenden Anfchauungen in Statute zu faffen,_ die Obfervanzen zu codifitiren, 
aber trogdem blieben der Sitte und Gemohnheit bier ein großes Bereih; und fle 
waren fo mächtig, Daß’ dieſe Eigenthums⸗ und Erbpadht-Ordnungen immer vom Begriffe 
des Tehens ausgehen (wobei, wie überbaupt bei der aufgeftellten Analogie, indeß 
nicht zu überfeben, daß wenn auch dem eigenbebörigen Gute gegenüber der Ober⸗Eigen⸗ 
thümer Lehnherr, der Leibeigene, Einzelbehorige nicht bloß Vaſall ift, da er perfün- 
lich unfrei) und feithalten, einerfeitö, daß der Lehnsmann, der Nutznießer in feinem 
und feiner Familie Beſitz gefichert, daß andererfeitd das Ober» Cigenthum mehr ein 
ideales fei, faft nur in der Meberwachung beftehenn, ein Bell mehr der Ehre 
als des Nutzens.) — Diefe feinen und idealen Begriffe von Freiheit und Eigen⸗ 
tbum find wefentlih germanifh. Doch während fie bei den anderen beutfchen 
Stämmen durch das Eindringen römijcher Nechtö> Unfchauungen mehr oder weniger 

.  ) Eine formliche Inveftitur- find bie Behandiaungen bei den Hob6- ober Behandigunge: 
Gütern in einzelnen Theilen Weltfalens. Wurde die Behandigung nicht binnen Jahr und Tag, ber 
altgermanijhen PVerjährungs- Frift, nachgeſucht, fo drohte der Heimfall. Näheres über viele 
Weftfalen ganz eigenthümlihen Verhältnifie j. unter Behandigungsgäter und Hof⸗Ord⸗ 
nungen Ä 








' 








— 


Abmeierung. 149 


alterirt worden, erhielten ſie ſich bei der abgeſchloſſenen ſachſiſchen Nation, welche ihre 
uralte. der Natur ihres Landes angemeflene ländliche DVerfaffung fogar unter den 
ftaͤnkiſchen Eroberern beibebielt, faft in der urfprünglichen Reinheit. Daß die Kirche 
bier fo lange in ausgedehnter Weije unmittelbare Xerritorialmacht gewejen, mag 
bierzu beigetragen haben. Dur das alte Sachjenrecht, welches neben ven Edlen 
und gemeinen igenthümern, Zweidrittel = Knechte (Litones !) und ganze Knechte 
fannte, war bier der Boden fir die ideale Anfchauung der Lehnsverfaſſung günftig 
vorbereitet, welche Ehre. und Breiheit nicht peremptorifch aufbebt und nach welcher wir 
auch vorzugsweiſe, ja auöfchlieplih, auf ſächſiſchem Boden‘ Höfe und Erbe verliehen 
fehen. — Im Sacjfenlande erhielt daher bis in die neuefle Zeit herab in den guts⸗ 
berrlich=bäuerlihden Berbältniffen, im Sinne der oben entwidelten moralifcheidealen An⸗ 
fchauungen des Lehnmefend, fi) der Grundfag, daß der mit dem Grund und Boden 
rechtmäßig Belehnte bei Erfüllung feiner Pflichten für fich und feine Nachkommen im 
Beſitze dieſes Grund und Bodens zu fchügen, daß fein Recht ein fo geheiligtes fei, daß 
nur Die größte Vernachlaͤſſigung diefer Pflichten, aber meniger gegen den Ober⸗Eigen⸗ 
thümer als gegen das Erbe, ihn feines perfönlichen Beſitzes, doch noch nicht des Beſitzes 
für feine Familie und Erben, verluftig mache, daß diejer Fall aber auch eintrete, wenn 
grobe Unjlttlichfeit ihn feiner Ehre beraube, alfo unwürdig made des Eigenthums. 
Diefe — den betreffenden Beflimmungen im Lehnmwefen faft analoge — Ausftogung eines 
bäuerlichen Beligerd, Eigenbehörigen oder Erbpächters, wodurch fein Gut oder Hof in den 
Zuftand der Gabueität geräth, ift nun, was man mit Abäußerung oder mit dem 
daſſelbe ausdrückenden, doch zunächſt von Meiergütern gebrauchten Worte Abmeierung 
bezeichnete. Diefelbe ift alfo nicht8 anderes als die Verbannung eined „unmürdigen Mit- 
gliedes aus der reihepflichtigen Gefellfeyaft, und dieſes Mitglied mag rittereigen oder hof⸗ 
börig, hurmündig oder notbfrei, ja es mag der urfprüngliche Eigenthünter des unterhabene 
den Hofes fein, fo muß ed abgeäupert werden fönnen, ſobald e8 den Bedingungen zuwider 
bandelt, welche Die reibepflichtige Gefellfhaft zu ihrer Erhaltung und Bertheidigung 
eingegangen ift und eingeben bat müſſen,“ fagt Juſtus Möſer („Batrivtifhe Phan- 
tafien* Ill. p. 324, Ausgabe von 1804). Doch ift dabei immer feftzuhalten, daß Ge⸗ 
wohnheit und Sitte ftetd mildernd und den Hofbeſitzer fo meit wie möglich jchügend 
eingriffen. Die Römer, welche bloß die Gutöherrlichkeit ohne Vogtei, das rein con⸗ 
tractlich obligatorifche Verhältnig fannten, waren firenge gegen den PBachte und Zins» 
pflihtigen, wenn er feinen Canon nicht bezahlte; Die Deutjchen hingegen, welche dem 
Gutsherrn mit der Vogtei die Macht der Selbithülfe gegen jeinen Eigenbehörigen und 
Scyugfreien eingeräumt haben, waren gelinder. und legten ed mehr dem Gutäherrn 
zur Laſt, wenn er feine Gefälle 20. zurüdftehen ließ. Da nun häufig das Verhaͤltniß 
verdunfelt war, man nicht immer wußte, ob der Pflichtige bloß unter der gutäherrlichen 
Bogtei, oder auch zugleich unter einem urfprünglichen Pachtcontract flände, fo mar bie 
juridifche Behandlung der Caducirung oder Abäußerung ſtets eine fehr fehwierige. Die 
Butsherrlichkeit hat nämlich einen doppelten Grund: einmal die vogteiliche Befugnif, 
Traft welcher der Gutsherr gleihjam von obrigkeitlichen Amtswegen dahin fieht, daß 
fein Eigenbehöriger oder Erbpächter nicht gegen dad Wohl des Staates wirtbfchafte, 
umd dann dad aus dem Leiheontracte bervorgehende Recht, vermöge deſſen er von ſei⸗ 
nem Vachtpflichtigen fordert fich feinem Contracte gemäß zu verhalten. Beide Befug- 
nifle fönnen auch getrennt jein. So bat 5. B. der Gutsherr, der ein Erbe auf Zeite 
oder Erbivinn ausgethban hat, über den freien Befiger deſſelben nicht die vogteiliche 
Gerechtſame, und umgekehrt derjenige,-der von einem Freien nur Schugrinder, Schuld» 
törner, Schuldſchweine ꝛc., aber Feine Pachte oder Dienfte zu erheben hat, bloß die 
Bogtei; und er Tann im erften Balle nur auf die Abmeierung Elagen, wenn der Freie 
feinen Pacht» oder Winnecontract nicht erfüllt, und im andern bloß, wenn er den 
urfprüngligen Bedingungen der reihepflichtigen Gefellfchaft zumiderhanvelt. Wo der 
Eigenbebörige zindpflichtig ift, wird durch Die Abäußerung das Erbe dem Berleiber 

) Die fpäteren Hofhörigen, die nur einem beflimmten Hofe und nicht einer beftinmiten 
Perſon hörig waren, während aus den Knechten die eigentlihen Gigenbehörigen fid) entwidelten, 
die einer beftimmten Perſon hörig und zugleid für ihren Grundbeſiß mit Abgaben und Dienften 
verpflichtet waren, 


4 





150 . Abmeierung. | 


erledigt; wo aber der Freie bloß unter der gutsherrlichen Vogtei fteht, kann «8 ihm 
dem Herfommen oder der Billigfeit nach verftattet fein, fein Erbe einem andern an« 
nehmlichen Manne zu übergeben, und fich auf dieſe Weife ſelbſt als ein Untüchtiger der 
reihepflichtigen Gefellichaft zu entziehen. 

‚ Die verfchiedenen weſtfäliſchen Provinzials Verordnungen über die gutsherrlich⸗ 
bäuerlichen Berhältniffe geben die Fälle an, wo und unter welchen Normen die Cadu⸗ 
eirung oder Abmeierung eintritt. Es feien von dieſen cobifleirten Obfervanzen bier 
genannt: die Münfterfche Eigentbumd - Orbnung vom 10. Mei 1770 und Erbpacht⸗ 
Ordnung vom 21. Mai 1783, die K. Preuß. Eigenthums⸗Ordnung des Fürſtenthums 
Minden und der Grafichaft Havendberg vom 26. Novbr. 1741, die Paderbornice 
Meier - Orpnung von 1765 und die Corveyſche Meier: Orpnung, welche gegen 1790 
erfchienen ift, von ber aber nicht zu beweifen flebt, daß fie promulgirt worden. In 
allen dieſen Statuten ift die Tendenz auf Verwandlung des Leibeigenthums⸗Verhaͤltniffes 
in ein Erbpacht⸗Verhaͤltniß, alfo auch die Erfchwerung der Caducitaͤt, erfichtlich; aber 
eingreifend und revolutionär verfuhr man nur im Herzogthum Weftfalen, mo der im 
Anfang des Jahrhundert? in Befig kommenden heſſiſchen Regierung zur "völligen 
Freimachung des laͤndlichen Grundeigenthums nur noch ein Schritt zu thun blieb, wo 
aber auch, wie ebenjo in der Mark (hier machte die preußifche Regierung alle Bauern 
zu Seitpächtern) dieſe Verhaͤltniſſe bei weitem nicht fo verwidelt waren mie im übrigen 
Weftfalen. Lange widerftand der zähe münfterländiiche Geiſt jenen Beflrebungen, bis 
nachdem ringsum mehr und mehr Leibeigenthumsfälle firirt und Güter in meierftättifche 
verwandelt worden, auch bier mehr Erbpachten eingegangen wurden. So warb bie 
Erbpacht⸗Ordnung zu dem Zwecke erlaffen, denen zweckmäßige Anmeifungen zu geben, 
„welche aus dem Leibeigentbum zur Erbpacht übergehen, oder doch ein ganzes Erbe, 
Hof oder Kotten nach Erbpacht-Recht auf fichere vereinbarte Generationen ober für 
beftindig übernehmen.” Dabei wird aber für den Gutsherrn — aus der Eigenthuns 
Ordnung von 1770 — das Recht feftgehalten, gegen den in ver Leiftung feiner Praͤſta⸗ 
tionen fäumigen oder wiberfpenftigen Erbpächter ohne Zuziehung des Richters executoriſch 
zu verfahren. Der aufgeftellte Grundſatz, daß dem Erbpiüchter nur der Niepbraud, 
nit dad Dominium zuftehe, hielt hinwieder die Gleichflellung des Erbpächterd 
mit dem Gigenbehörigen fell. Eben fo find aus dem frühern Statut fo wie aus 
verſchiedenen fpeciellen Hofordnungen die Bälle der Gaburität Herübergenommen. 
Die Androhung derfelben foll den Hof vor dem Verhauen von Holzungen — in erfter 
Neihe begegnet man diefem Punkte in allen Statuten — vor Verſplitterungen, ohne 
äußerfte Roth vorgenommenen Veräußerungen frhügen. Weiterhin war die Abaͤußerung 
dem Erbpachter angebroht für die Fälle, daß er das Erbe verlafien oder ohne Willen 
und Willen des Gutöherrn ein zweites dazu in Erbpacht nehmen, daß er fich in dad 
Leibeigenthum eines anderen Gutsherrn begeben, daß er dad Erbe ohne Wiflen und 
Willen des Obereigenthümers mit Schulden belaften wurde. In der Praxis indeflen 
entfchied ſtets — wie man nicht überfehen darf — die mildere Gewohnheit und Sitte, 
die viel mächtiger war, als die gefchriebenen Statuten. — Im PBaderbornfchen — mo 
es entweder Leibeigenthums⸗ oder Meiergüter, fehr wenige freie oder Bindgüter gab — 
war fchon weit früher, und namentlich feit der Meier- Orbnung von 1765, die allge 
meine Vermuthung für Meiergüter aufgeftellt worden. Der Meier bat an feinem ger 
ſchloſſenen untheilbaren Gutscompler — wo dad Gut aus mehreren Huben beftand, 
ift jedoch die Untheilbarkeit nur von der Hube zu verftehen — ein nutzbares Eigenthum 
in fehr ausgedehnten Sinn; er kann dad Gut nicht bloß vererben, ſondern aud ver⸗ 
ſchenken und verkaufen, letzteres jedoch nicht, ohne es vorher dem Gutsheren zum Verkauf 
angeboten zu haben. Erſt wenn Die Meierftelle verlaffen ift, oder der Meier freiwillig 
darauf verzichtet hat, oder er gerichtlich derſelben verluftig erklärt wird, tritt Dad Eigen- 
thumsrecht der Gutsherren ein, dann aber ift diefer nicht verpflichtet, dad Gut wieder 
mit einem neuen Meier zu befeßen, er kann vielmehr willfürlih darüber Disponiren, ed 
verfaufen, einziehen oder zerfplittern. (Specielleres über dieſe Verhältniffe findet fi in 
den bezüglichen Schriften von Raul Wigand und Aug. v. Harthaufen). In 
dieſer letzteren Beſtimmung, die den übrigen weftfälifchen Cigenthums - Orbnungen 
fremd, zeigt ſich der Uebergang zur Zeitpacht, wie auch wirflich das Meierverhaͤltniß 








Abmeierung. | Bl 


feine Helmath in den an rheinifche und fränfifche Gegenden anſtoßender Theilen des 
Bistums Paderborn bat, während in der Blachgegend defielben, die gewiſſermaßen eine 
Fortſetzung der WMünflerfchen, dad meierftättifche Verhältnig vor dem Eigenbehörigfeltd« 
Verhaͤltniß weſentlich zurüdtrat. Während nach der Meier-Orbnung fich im Allgemeinen 
ale Ausflug des Obereigenthums beraußftellte: das Recht, die Meierflatt zu caduciren, 
wenn der Meier drei Jahre die gutöherrlichen Laſten nicht abgetragen, Das Näherrecht 
bei gerichtlichen Subhaftationen, das Heimfallreht, wenn fein Erbe oder Teitament 
vorhanden war, hatten die Paderbornſchen Eigenbebörigen gleichfall8 ein wirkliches 
nugbares Eigeityum an ihren Stätten und nur einige Abgaben mehr ald Die Meier. 
Im Delbrückſchen, wo das merkwürdige und einzige Verhältniß Geftand, daß auf der 
einen Seite Eigenbehörige waren, auf der andern ein gewifiermaßen bloßes Zictions- 
Obereigenthum, jo daß jene fogar eigene Gerichtöbarfeit befaßen und eine Zandeöhoheit 
nur in ſehr beſchraͤnktem Sinne anerfannten, folkte in Gadueitätöfällen die Ravensberg⸗ 
ſche Eigenthums⸗Ordnung von 1741 in subsidium gelten, aber da die Delbrücker dem 
Landesherrn überhaupt das Recht beſtritten, ihnen ein Geſetz vorzuſchreiben, zudem jenes 
Statut weit ſtrenger war als das Landes⸗Herkommen, fo leiteten fie gegen den Fürſt⸗ 
bifchof einen Proceß vor dem Neichögerichte ein, den fie auch gewannen, fo daß jenes 
Statut für Delbrüd Eeine Gültigkeit hatte Auch in diefer Ordnung lauten übrigens 
die Gründe der Entfeßung oder Abäuferung im Wejentlichen, wie wir fie bereits 
kennen, nur daß ausdrücklich noch, neben groben Verbrechen, auch Unfittlichfeit, Ehe⸗ 
bruch u. dgl. ald Dinge angeführt werden, welche die Gabucirung oder Abmeierung 
nach fich ziehen. Daffelbe gilt, wie wir noch beiläufig bemerken, auch von der Osna- 
bradichen Eigenthumd-Drbnung. 

Ueberall in Weftfalen blieb dad Recht des Ober-Eigentbums auf den Hof auf 
en Minimum beſchraͤnkt, befaß und benußte der Hofhörige oder Erbpaͤchter fein Gut 
im Allgemeinen als ein Eigenthum. Die Abmelerung trat daher felten ein, in ven 
feltenften Fällen traf fie auch die Erben, um fo mehr, da der Uebertragung des Gutes 
Seitens des Inhabers an Andere, felbft Fremde, nicht gewehrt werben Eonnte. Aus 
demfelben Srunde ward auch das Heimfallrecht felten praftifch. 

Die Frage, ob nicht die alten Wehren (die eigentlichen Golonate) urfprünglich 
mit freien erbberechtigten Beflgern beſetzt geweien, bat in ihrer allgemeinen Yaflung 
wohl wenig praftiichen Werth. Wenigſtens kann es — der Abmeierung 
jederzeit nur auf die Art und Weiſe des Eingehens der Contracte angekommen ſein. 
Und daß hierbei wie bei der Beurtheilung der Vertraͤge Gewohnheit, Sitte und ſtatu⸗ 
tariſches Recht, nicht die Anſchauung des roͤmiſchen Rechts zu Hülfe genommen wurde, 
bat bewirkt, daß die weſtfaͤliſchen Eigenbehoͤrigen und Erbpaͤchter nicht Zeitpaͤchter 
wurden wie in der Lombardei. Wie aber die in Weſtfalen eigenthümlich entwickelte 
laͤndliche Verfaſſung in einem engen Zuſammenhang ſteht mit der Natur des Landes 
und der Eigenart ſeiner Bewohner, ſo iſt ſie auch ein Correlat der Geſchichte. Die 
ſchwarze Peſt im Jahre 1517, dann, wenn auch im geringeren Grade, der dreißig⸗ 
jährige Krieg, ließen eine Menge von Höfen in Weſtfalen verödet, und deren ſchleu⸗ 
nige Wiederbefegung war um fo eher. geboten, ald nur von den abgefchloflenen und 
vereinzelten Höfen aus das Land bebaut, die Ernährung feiner Bewohner ermöglicht 
werden konnte. Es galt alſo durch möglichft gunſtige Bedingungen zur Uebernahme 
der Güter anzuloden; dieſelbe durch Läflige Bedingungen zu erfchmweren, wäre unmeije 
gewefen. So mochte fi das Ober» Eigenthum Anfangs freiwillig vieler feiner urs 
fprünglichen Rechte begeben und die milde Objervanz zu Gunften ver Eolonen fidh 
gebildet haben. 

Die neuen Landeöherren in Weftfalen (auf Grund des Neich3-Deputationsfchluffes 
von 1803) ließen die beftehenden Eigenthums⸗Ordnungen im Wefentliden unangetaftet, 
namentlich ward durch Die im Münfterfchen eingeführte preußische Gerichts » Ordnung 
die Privat» Erecution und Abäußtrung im Princip nicht aufgehoben. In der darauf 
folgenden. Periode der Zrembherrfchaft aber verfchwand die Eigenbehödrigfeit, als mit 
den Conſtitutionen des KönigreihE Weftfalen und Frankreichs unvertraͤglich, es ward 
eine Menge bäuerlicher Leiftungen ohne Entfchädigung aufgehoben und alle für ablös- 
bar erklärt. In den zu Frankreich gefchlagenen weftfälifchen Landestheilen war die 


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152 Abmeierung. 


Fortdauer der nicht aufgehobenen Leiſtungen und Abgaben von dem den Berechtigten 
obliegenden Beweiſe, daß der Pflichtige Grundſtücke für die Leiſtung erhalten habe, 
abhaͤngig gemacht. Die Grundſteuer war eingeführt, und der Pflichtige, welcher ſein 
Grundſtück als frei von allen Privatlaften und Abgaben dem Staate verſteuern mußte, 
für befugt erachtet, dem Berechtigten einen verhältnißmäͤßigen Antheil von der Grund⸗ 
fteuer, den fünften Theil, in Abzug zu bringen. 


— Als Preußen nach dem erſten Pariſer Frieden die Provinz Weſtfalen in defini⸗ 


tiven Beſitz nahm, erhoben ſich, wie vorauszuſehen geweſen, große Schwierigkeiten hin⸗ 
ſichtlich jener Beſtimmungen. Die preußiſche Regierung ſuspendirte daher die weſt⸗ 
faͤliſchen und franzöſiſchen Geſetze über dieſe Gegenftände, mit Aufrechthaltung des 
wirklichen Beſitzſtandes, und erließ am 25. September 1820 ein neues Geſetz über die 

gutsherrlich-baͤuerlichen Verhaͤltniſſe in den vormals franzoͤſiſchen und koͤnigl. weſtfaͤli⸗ 
ſchen Landestheilen. Dieſes Geſetz beſtätigt die Aufhebung der Eigenbehörigkeit und 
deren Folgen, ſo wie die Ablösbarkeit der bäuerlichen Dienſte, Zehnten, Natural⸗ und 
Geldpraͤſtationen, und ließ mit der Erbpacht ein Ober⸗Eigenthum beſtehen. Das Gr 
jeg erwies ſich in der Praris als ſehr mangelhaft; es ward daher dahin fuspenbirt, 
daß zwar bei nachgefuchten Ablöfungen nach demfelben verfahren, das Erfenntniß über 
die Ablöjung aber bis zu weiteren Beitimmungen ausgeſetzt fein ſolle. Diefelben er- 
folgten am 21. April 1825 und 13. Juli 1829 (Ablöfe-Orpnung). Auf den In- 
balt diefer Gefege näher einzugehen, ift bier nicht die Aufgabe. (Ein. vollftändiges 
Material bei U. 8. Welter, das gutöherrlich « bäuerliche Rechtöverhältnig in befon- 
derer Beziehung auf die vormaligen Eigenbebörigen, Erbpächter und Hofhörigen im 
früheren Hochſtift Münfter ꝛc. Münfter, 1836). Durch vdiefelben wurben die bis zur 
Aufhebung der Leibeigenfchaft durch Die fremden Gefege nach Eigenthbumsrecht oder 
eigenbehörig befeflenen, fo wie die Hobs⸗- und Behandigungd » Güter dem Beſitzer als 
volled Eigenthum zugefprocdhen, damit das Ober - Eigentbum aufgehoben, ‚nicht aber 
die Erbpacdht; um zu erkennen, ob eine ſolche ftattfände, wurden gewiffe Kriterien auf 
geftellt; wo fie nicht zuträfen, folle Da8 Gut entweder freied Eigenthum des bisherigen 

- Ober = Eigenthümerd oder des biöherigen bäuerlichen Bejigers fein. Bei dem Mangel 
an gefchriebenen Geſetzen über die Nechtöverhältniffe namentlich der früher hofhörigen 
Güter mußte daher fhon kraft dieſer letzteren Beitimmung noch immer nach Gewohn⸗ 
heit und Herkommen, alfo zum Theil nach den alten Hofrechten, Amtöbriefen ꝛc. ent 
jhieden merden. Die nach Erlaß der Gefehe von 1825 verfuchte Auslegung derſelben 
dahin, daß durch fie die Vorfchriften über die Abmeierung und Die Gaducität nicht 
aufgehoben worden, weil auch das volle Ober» Eigenthun nicht unbedingt aufge 
hoben fei, ift nicht dDurdggedrungen. Es ward vielmehr ald Grundfag angenommen, 
dag dem Gutsherrn in Beziehung auf die ihm noch zgufländigen Abgaben und Leis 
flungen feine anderen Rechte, als die eined Nealgläubigerd zuſtehen, als welcher er 
auf Eabucirung oder Abäußerung nicht antragen kann. Die neueren Gefege über 
Ablöfungen feit 1850 und das Verfahren der hierfür thätigen General- Gommiffionen 
lafien gar feinen Zweifel darüber, daß nun auch die lebten Nefte eines Ober - Eigen 
thums entfernt find, die Caducirung eine® bäuerlichen Beſitzthums gar nicht mehr in 
Frage kommen kann, weil nun auch die Erbpachten nicht bloß aufgehoben find, fon- 
dern auch neue nicht mehr eingegangen werden fönnen, was nach dem Gefeg von 
1825 noch immer möglich war. Nach der von und aufgeftellten Analogie des Lehn- 
weiend kann man fagen, daß nun alles Grundeigenthum in Weſtfalen allodifieirt ift. 
(Ueber die in diefem Artikel, worin auf die verichiedenen Arten und Formen des bäuer- 
lichen Beſitzthums in Weftfalen, fo wie auf dad Wefen der Eigenbehörigkeit und Hof 
hörigfeit nicht näher eingegangen werben Eonnte, berührten Materien ift ein reichhalti- 
ger geichichtlicher Stoff angefammelt in Dr. Sommer, Handbuch über Die älteren 
und neueren bäuerlihen Nechtöverhältniffe in den ehemals großherzoglich bergifchen, 
koͤniglich weſtfaͤliſchen und franzöflfch-hanfeatifchen preußifchen Provinzen in Rheinland» 
Weſtfalen. Hamm, 1830. — Die erwaͤhnten Eigenthums⸗ und Erbpacht⸗Ordnungen, 
ſo wie alle übrigen einſchlaͤglichen Urkunden ſind abgedruckt bei C. A. Schlüter, 
Provinzialreht der Provinz Weftfalen, 3 Bde., Leipzig 1833, in Strombed'd 
Sammlung der preuß. Provinzialsechte). 





Abo. 3 


o ’ j 

Abo (dad & — dem franzöflfchen au), im Großfürftentfum Finnland. Der Fluß 
Aura, finnifch Aurajoki, fließt von den Bergen in der Nähe von Yribpaa herab, fat 
in gerader Linie zwifchen Hügeln etwa 7 Meilen weit fort und ergießt jein trübes Waſſer 
bei Übo ftill ind Meer. Ohne Zweifel befand fich bier eine bedeutende finnifche Orts. 
ſchaft vor Ankunft der Schweden. Äbo bat auch jegt noch den finnifchen Namen Turku 
oder Turuk Kaupunfi. Der fchwedifche König Erich IX., wegen feines Eifers für bie 
Ausbreitung des Chriſtenthums der Heilige genannt, beſchloß zuerſt, Finnland mit 
Schweden durch die Einheit des Glaubens zu vereinigen, inden er Diefen durch bie 
Kraft der Ueberrevung und der Waffen unter den Finnen verbreitete, worüber ber 
Upfalifche Bifchof Henrich 1157 erfchlagen und zum Märtyrer wurde. Um daß Jahr 
1226 erhob fih auf der Stelle von Turfu eine ſchwediſche Stadt mit ſchwedi⸗ 
then Einwohnern, und 1300 wurde die bijchöfliche Kirche erbaut, die noch, jegt ex⸗ 
balten iſt. Ä 0 
Seit undenflichen Zeiten war Abo die Hauptſtadt yon Finnland, zeichnete fich 
aber nie durch Schönheit der Gebäude aus. Die Häufer waren immer von Hola und, 
nach ſchwediſchem Geſchmack, roth angeftrichen, die Straßen eng und unregelmäßig. 
König Guſtav Adolf fiftete bier 1628 ein Gymnaſium, weldhes die Königin Ehriftine 
1640. in eine Hochſchule verwandelte. Für diefe fing die ſchwediſche Megierung 1802 
an, jchöne und geräumige Gebäude auf dem Plage ueben der Domkirche zu errichten, 
die aber erft 1815 vollendet wurden, nachdem Finnland laͤngſt unter ruſſiſcher Hexr⸗ 
ſchaft fand. Äbo befferte ſich durch die Vorforge der ruſſiſchen Regierung von Jahr 
zu Jahr, und gewann gllmälig ein_reinlichere8 und freundlicheres Anſehen, als vie 
Stadt in der Naht vom 4. auf den 5. Septbr. 1827 bis auf.den Grund nieder- 
brannte. Die Univerfitätö- Gebäude mit allen ihren wifjenfchaftlichen Schägen, eine 
Bibliothek von 30,000 Bänden ıc. wurden in Afche verwandelt. Dun der Kathebkale 
wurde nur der Hauptbau gerettet. Übo war wie von ber Erbe verſchwunden; bie 
Hochſchule mußte nad) Heljingfors überfiedeln, wo fie auch geblieben ift. Eben: dahin 
war bereitd, 1819 die Negierung ded Großfürftenthbums verlegt worden. 

Abo erfiand wieder aus feinem Schutt. Die Stabt wurde nach einem regel. 
mäßigen Plane auf beiden Seiten des Ylujfed mit breiten Straßen. angelegt, in denen 
ſich die einftödigen Käufer von Holz und mit hellen Karben angeftrichen gar zwerg⸗ 
artig ausnahmen. Zweiſtöckige Häufer find felten. Die wenigen maffiven Gebäude find 
fhön und groß; fle ſtehen um den Plag an der alten Kathebrale, Die wieder hergeftellt 
wurde; fo auch die Univerfitätö-&ebäude, Die zu Schreibftuben der Behörden dienen. 

Hinter der Domlirche erbebt ſich ein 150 Zuß hoher Feld, wo ehemals die Uni⸗ 
verfitätö-Sternwarte fland, deren Gebäude zu einer Schifffahrtöfchule benugt werden. Die 
Ausſicht vom Balcon dieſes Gebäudes iſt unvergleihli ſchön. Auf der andern Seite 
des Fluffes, gleichfalld auf einem Felſen, ſteht das Polizeibaus, von wo aus man, ohne 
von der Stelle zu rüden und ruhig am Wenfter figend, Alles ſehen kann, was in- der 
Stadt vorgeht. | | | — 

Obwohl Abo über 15,000 Einwohner bat, To ſcheint die Stadt doch öde, weil 
fie im Verhaͤltniß zu ihrer Einwohnerzahl zu weitläufig ‚gebaut it, und die. Straßen, 
ausnehmend breit find. Biel Handel und Wandel giebt es nicht. Bon heimifchen Er⸗ 
zeugniflen ift namentlich die Leinmand von vorzüglicher Güte und außerorhentlich wohl⸗ 
feiL bo, obwohl durch die Erklärung des Kaiferd Alerander vom 16. März 1808, 
ſammt dem ganzen damals fchwedifchen Großfürſtenthum Finnland dem rufflfchen Reiche 
auf. ewige Zeiten einverleibt, und von der Krone von Schweden durch "ven Frieden yon; 
Friedrichshafen, 17. Sept. 1809, in allen Formen Rechtens an Rußland abgetreten, 
ift bis auf den heutigen Tag eine jchwebifche Stadt geblieben, in ver ruffifches Wefen, 
ruſſiſche Sprache gar feinen Eingang gefunden bat. Wie der Schwede überhaupt durch 
eine hohe Stufe der. Bildung fich "auszeichnet, die durch Das ganze Volk gebt, fo ins⸗ 
befonbere auch der Bewohner von Übo, dem bie ſchwediſche Kiteratur eben fo geläufig 
if, ald dem Stodholmer, dem Gelehrten in Upfala und Lund.“ Auch die deutſche 
Sprache und Literatur ift ihm nicht feemb: die Paar Buchläden, bie es in Abo -giebt, 
ſtellen die deutſchen Schriftfteller, die ſ. g. Klafiifer des .18. Jahrhunderts, in der Ur 
ſprache beftändig zur Schau; ſie finden ihre willigen Käufer, 





134 Abolition. Abolitioniſten. 


Abo⸗Slot oder Abo⸗Hus, an der Mündung des Aurafluſſes, iſt jetzt leer und 
gebt raſch feiner Zerflörung entgegen. In einem der Flügel ſind Magazine und das 
Rilittär-Sommando. In dem Gemach, wo König Eridy XIV. von Schweden, im 16. 
Jahrhundert, gefangen gehalten wurde, wurden vor einigen Jahren — alte Matten auf» 
bewahrt. Die Alterthumsfreunde merden die Veroͤdung dieſes Schlofles fehr beklagen, 
da dies dad einzige in Finnland war, an das ſich alte Erinnerungen fnüpften. In 
Finnland giebt es überhaupt Feine Burgen aus dem Mittelalter, weil die bedeutendſten 
finnländifchen Familien die meifte Zeit in Stodholm Iebten, und die Schweden fogar, 
wie es fcheint, den Binnländern verboten, Schlöffer zu bauen. 

Außer dem Friedens⸗Congreß, welcher 1743 gehalten wurde, als die Schweden 
einen neuen König fuchten, den ihnen die ruſſiſche Kaiferin in der Perfon des Prin⸗ 
zen Adolf Friedrich von Holflein» Gottorp, Bifchofs zu Lübeck, gab, ift Äbo in ber 
neuern Gefchichte durch die Zufammenkunft befannt geworben, weldye Kaifer Alerander 1. 
von Rußland daſelbſt in den lebten Tagen ded Monats. Auguft 1812 mit Dem che 
maligen franzöftfchen General Bernadotte hatte, dem vom ſchwediſchen Bolt erwählten 
Ihronfolger. Diefe Zufammenkunft hat das Schidfal des Nordens von Europa und 
deffen politifchen Zuftand, wie er jegt iſt, entſchieden. In ihr wurde der Vertrag ber 
flätigt und befräftigt, den Schweden am 24. März 1812 mit Rußland -abgefchlofien, 
und vesmöge deſſen Kaijer Alerander die Verpflichtung übernommen hatte, das König- 
reich Norwegen mit der ſchwediſchen Krone zu vereinigen, fei e8 durch Unterhandlun⸗ 
gen, fei e8 durch Gewalt der Waffen. | 

ı Sp wurde auf Abes Schloß zwifchen einem ritterlichen Kaifer und einem glück⸗ 
lihen Soldaten das freie Volk der Normannen, das ein halbes Jahrtaufend unter dem 
Schutze dänischer Könige friedſam und einfam gelebt hatte, — verbanbelt!- Aber 
nicht genug daran, — der gewandte Ulerander, dem Alles daran lag, Schweden von 
des drohenden Allianz mit Frankreich abwendig zu machen, flachelte den Ehrgeiz des 
ehemaligen Republikaners, des einfligen Waffengefährten jenes Allgebieters in Europa, 
defien Bekaͤmpfung jegt noch einmal zu verfuchen war. An die Spige aller feiner Heere, 
an die Spige der Heere der Coalition, an der binnen Kurzem alle Mächte des europäifchen 
Feſtlandes Theil nehmen würden, wollte er ihn ftellen, fo verſprach Alerander auf Äbo's 
Schloß. Hiſtoriſch ſteht es feſt, daß bei jener Zuſammenkunſt auf Übo- Hus Kaifer 
Alerander dem damaligen Kronprinzen von Schweden Die Krone Fraukreichs verfprochen 
bat, wenn es gelingen follte, Buonaparte zu überwältigen! 

Abolition iR die Aufhebung und Nieberfehlagung einer Unterfuchung vor gefälltem 
Urtel. Sie kommt der Strafverhängung zuvor und unterfcheidet fich eben dadurch von 
der Begnadigung, welche einen ſchon vorhandenen. verurtheilenden Spruch des Straf 
richters vorausſetzt. Ein Gemifc beider Begriffe ift die Amneftie (f. dieſen Artikel. 
Die Abolition ift ein aus der Geſetzgebung der römifchen Imperatoren auf die deut- 
fihen Fürften übergegangenes Recht und galt bis auf die Berfafiungen des 19. Jahr⸗ 
hunderts in Deutfchland unftreitig als Hoheitsrecht. Diefe meift nach franzöflfchem 
Mufter gefertigten DBerfaffungen haben das Mecht, Unterfuchungen nieberzufchlagen, ber 
Krone entzogen, oder doch von der Bedingung eines jebeömaligen Geſetzes abhängig 
gemacht. S. bayeriſche Verf.⸗Urkunde VIII. $ 4, heſſtſche Verf.Urkunde F 60. Die 

preußische Verf.Urk. vom 31. Ianuar 1850 beftimmt darüber in ihrem Art. 49 Fole 
gendes: „Der König kann bereit eingeleitete Unterfuchungen nur auf Grund eined 
en Geſetzes niederfchlagen." ©. übrigens noch „Criminalproceß“ und „Ho⸗ 

grechte“. | 

heit Abolitioniſten, eine Partei in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die 
es ſich zum Zweck gemacht hat, auf die Abſchaffung (daher der Name) der 
Seclaverei hinzuwirken. Ihre Erfolge wurden in neueſter Zeit mehr als zweifelhaft, 
und während fle früher ganz oder zum größten Theil nur aus fittlichen und religidfen 
Motiven wirkten, find fle in neuerer Zeit mehr und mehr zu einer bloßen politifchen 
‚Bartei herabgeſunken. Die Sclavenfrage hat in den Vereinigten Staaten feit den Tagen 
der Gründung der Republik vier Abfchnitte durchlaufen. Der erite derfelben batirt, wie 
Fr. Kapp in. feinem Buche (Die Sclavenfrage in den Vereinigten Staaten. Göttingen; 
Wigand 1854; 2. Aufl. 1858) anführt, von 1787 und geht His 1820. In ihm galt im 


Abolitioniſten. 155 


Intereſſe der Freeihit das Princip der Nichtintervention des Congreffed in die Sclaven- 
frage, weil ohne Widerfpruch die Freiheit als national, die Sclaverei aber nur als 
temporär und local anerfannt wurde. Das Miffouris&ompromiß von 1820 entfchie® 
fich Dagegen für die Intervention des Bongrefied und eine beftimmte Grenzlinie des 
Sclavengebieted, nachdem der Norden zu fpät zu der Erfenntniß gefommen war, daß 
Die Sclavenhalter ſich ſtark genug fühlten, die urfprüngliche felavenfeindliche Politik der 
Bundesregierung über Bord zu werfen. Der zweite Abjchnitt in ber Entwidlung der 
Schavenfrage, in welchem ber Norven nur noch durch Fünftliches Balanciren jeine 
Schwähe gegen den Süden zu verhüllen beftrebt ift, dauert Bid zum Compromiß 
von 1850, wo die Sclaverei offen als nationale Angelegenheit proclamirt, die Inter« 
vention zu ihren Gunften (durch Bad Sclavenjagdgeſetz) als Princip aufgeftellt und 
Damit die dritte Periode der Entwidelung der Sclavenfrage eröffnet wurde. Die 
Nebraskabill von 1854 endlih, mit der der vierte Abjchnitt in dieſer Frage beginnt, 
fehrte zur. Nichtinterventionspolitif zurüd, „freilich.“ wie Kapp fagt, „mit dem großen 
Unterſchiede, daß fortan die Freiheit nur als local, die Sclaverei aber als national 
gilt! Die Abolitigniften baben fonach immer mehr Terrain verloren, und nicht nur, 
Daß der Süden mit feinen 113,000 Sclavenhaltern im Congreſſe ihnen die Wagſchaale 
halt, aud die wichtigften commercielfen Intereſſen der Union ftellen ſich auf Die. Seite 
der Sclavenhalter. Die Gelvariftofratie Der großen Handelsſtaäͤdte des Oſtens hält 
ihren Bortheil wit dem der ſüdlichen Grundariftofratie für identiſch. Abgeſehen davon, 
daß die perfönliche Haltung der oft feingebildeten, altangefeflenen ſüdlichen Ariftofratie 
den fperulirenden Emporkönmligen von geftern, mie fie im Norden faft ausfchließlich 
den erfien Stand bilden, impontrt, ift e8 die Baummolle, welche ald das vors 
züglichfte Product des Südens und‘ der Sclaven, mit ihren Preiſen und Abfäken ben 
Markt in NewsDork beherrſcht. Sie ift der große Regnlator der commerciellen Ben- 
haltniſſe zwiſchen den Vereinigten Staaten und England; fteigt fie im Preife, jo braucht 
Nero-Dork um fo weniger an edlen Metallen für den ihm nöthigen Import einzuführen 
und umgekehrt. New-Mork aber, das allein >, aller amerikanischen Eingangszölle 
aufbringt, beherricht die fämmtlichen Börfenpläge de Landes. So wird die unerfchütter- 
liche Poſition und die zunehmende Macht der Sclavenhalter mehr als erflärlih; Me 
Gefchichte ihrer Partei ſeit Calhoun (1782 — 1850), der mit der idealen Demokvatie 
Jefferſon's brach, ift ein beftändiger Triumph, und fein Präfldent der Republik kann 
ihr fürder entgegen fein. 

Den Abolitioniften, welche von Süden ſowohl ald durch den banbeltreibenven 
Oſten gebrängt werden, bleiben nur ſchwache Ausfichten, und während im Gongrefle 
neben den fertigflen Rednern und den zur Beſtechung jeden Augenblick bereiten. Bartels 
führern ihnen fogar Ste und Revolver droben, find auch Kirche und Preſſe, dieſe 
beiden großen Mächte einer ganz auf die Oeffentlichkeit geftellten Bolföregierung, zum 
nit geringen Theile gegen fle, und e8 giebt Geiftliche genug, die ein. „ göttliches Recht 
der Sclaverei“ nachweifen. Einen großen literariſchen Erfolg erfämpften die Abolitio⸗ 
niften in neuefler Zeit dur einige Romane, die dad Elend der Sclaverei in grellen " 
umb brennenden Farben barftellten. Die befannteften diefer Romane find „Oncle: Tom* 
und „Dred. A tale of the great dismal swamp*, beide von Mad. Harriet Beecher⸗ 
Stowe, der Sattin eines amerlkanifchen Predigerd, der auch bei den füngft vorgekom⸗ 
menen Maſſen⸗Erweckungen (revivals) ald Redner und „Beter” eine große Rolle fpielte, 
Do ließen es die Sclavenhalter auch nicht an Gegen«Romanen fehlen, in denen 
allerbingd der „fchwarzen Sclaverei“ eine weiße Sclaverei des Nordens entgegenge 
ſtellt wird, die grauſiger ift, als alles Helotenthum der alten Welt. 

Nichts defto weniger hoffen die Abolitioniften doch auf eine ihnen gimſtigere 
Zukunft. Während Buchanan (aus Pennfylvanien, zum Präfldenten der nordamerika⸗ 
niſchen Freiftaaten erwählt für die Zeit vom 4. März 1857 bis 4. März 1861) und 
fein Staatöfeeretär des Auswärtigen, General Lewis Caß fi, wie fie öffentlich aus⸗ 
fprachen, mit dem Gedanken fchmeicheln, daß die „Inftitution“ der Sclaverei „einen 
Beweis für den gefunden Sinn Amerikas abgebe *, und während der Gefandte 
Buchanans in Barid, Maſon, gar fehon an feine Regierung berichtet, daß man in 
Europa „fiber Die Selaverei in Amerita bald minder hart urtheilen werde und Daß 


I 


150 Abplattung ber Erde. 


jest fchon in England nicht minder wie in Sranfreich die Sclaven-Emancipation Beider 
in ihren tropiſchen Colonieen ald ein politijcher Mißgriff angefehen werde“, zeigt doch 
der Bongreß zu Wafhington in neuefter Zeit eine Haltung, welche dem Präftdenten 
bedrohlich wird. Buchanans amtliche8 Organ, die „Union“, Elagte im April 1858 offen 
darüber, in den beiden wichtigſten Angelegenheiten der Seflion, der Utah⸗ und der 
Kanſasfrage, habe dad Nepräfentantenhaus gegen die Regierung geftimmt; ein Heprä- 
fentantenhauß, ald ein demokratiſches gewählt, bemähre fich in einer Frage als folches, 
ſchon fähe man die Nepublilaner (die den Demokraten entgegen flehende andere Haupt 
partei) jubeln. Uber der Präfident ift in der Wahl der Mittel feinen abolitioniftifchen 
Gegnern gegenüber nicht ſehr wählerifh, wie u. U. Die Ereigniffe in Kanjas gezeigt 
baben und. noch zeigen. Dort handelt es fih um die Frage, ob Kanſas, biäher 
nur Tercitorium, noch fein Staat, die Sclaverei in feine Berfaffung aufnehmen 
werde. Buchanan mollte ihm eine ProfelavereisVerfaffung ohne Weitered octropiren, 
aber ein, Theil jeiner eigenen -Bartei (22 yon den 128 Demokraten) verließ ibn. bei 
der betreffenden Abftimmung im Mepräfentantenhaufe, und Buchanan bequemte fi 
darauf, einen Compromiß zu entwerfen, nad) welchem der Congreß beſchließen folkte, 
an Kanfad eine Ansfleuerr von 5 Millionen Acres Land zu geben, falld daſſelbe 
als Sclavenftaat in den Bund treten wolle. Die Frage, ob es jened Geſchenk an 
Land haben will, foll dem Volke von Kanſas zur Abflimmung vorgelegt werden; 
antwortet ed ja, fo ift Die plumpe Beſtechung vollendet und ein neuer Sclavenftaat 
ewfchüttest Durch ‚fein Gewicht die ſchon hochſchwebende Schaale der freien Stanten; 
antwortet «8 nein, ſo foll ed noch fo lange Territorium bleiben, bis e8 100,000 Ein- 
wohner bat, aljo mindeftens bis 1863. (Es zahlt erft.40,000 Einwohner.) Dieſen 
Compromiß nahmen beide Hänfer des Congreſſes am 30. April 1858, Der Senat 
mit einer Mehrheit. von 8, dad andere Haus mit einer von 9 Stimmen an, ‚Zahlen, 
die fir. die Unentfchiedenheit und den Fritiichen Zuſtand der Union bezeichnend find, 
indem diejelben Maforitäten zugleich die ortroyirte Proſclaverei⸗Verfaſſung ald den 
rechtmäßigen Willensausprud des Volkes von Kanſas anerkannten, obgleich bei ber qm 
4, Januar flattgehabten Urabflimmung vier Fünftel jenes. Volkes Dagegen geftimmt 
hatten. Es wurde embläch noch angeordnet, daß die Volksabſtimmung über das Land⸗ 
Geschenk in Kanſas, unter der Leitung von fünf Commiſſaͤren, von denen drei den 
Selavenſtaaten angehörten, am 2. Auguft 1858 ftattzufinden habe. (Weiteres f. in 
dem Art. Vereinigte Staaten.) 

Abplattung ber Erde. Nach Entdedung der allgemeinen Gravitation durch 
Iſaac Newton konnte die Abweichung der Figur der Erde von einer genauen Kugol⸗ 
form, als: Folge ihrer täglichen Umdrehung und des daraus hervorgehenden möglichen 
Einflujfe& "Der fogenannten Gentrifugalfraft auf die Anziehung ihrer conſtituirenden 
Theile, Teinem Zweifel mehr unterliegen. In des That bat fich ſeitdem nicht bloß auf 
theovetifchem Wege, fordern auch durch eigens zu Diefem Behuf amgeftellte Beobach⸗ 
tungen mit. voller Entſchiedenheit berausgeftellt, daß die Geftalt der Erde, im Allge⸗ 
" meinen und abgejehen von zufälligen localen Abweichungen, diejenige eines Könpeard 
ift, welcher duch die Umdrehung einer Ellipfe um ihre Fleine Axe hervorgeht. ' Ge⸗ 
nauer bezeichnet wird die Form dieſes Motationd ».Ellipfoided in. der Megel ald Ab⸗ 
plattung, d. 5. als ein Bruch, deflen Zähler duch Den Ueberfchuß der halben gro» 
ben Are (Hequatorials Are) der erzeugenden Ellipfe über ihre halbe Fleine Are (Notar. 
tions⸗Axe) gebildet wird, während fein Nenner der halben großen: Are jener Ellipje 
gleihfommt. . 

Nach den genaneften, auf eine Reihe von zuverlaͤſſigen Gradmeſſungen unter ſehr 
verſchiedenen Breiten, wie nicht minder auf zahlreiche Meſſungen der Laͤnge des ein⸗ 
fachen Secundeupenveld an den verſchiedenſten Stellen des Erdſphaͤroids geſtützten Er⸗ 
mittelungen betraͤgt der Radius des Erd⸗Aequators circa 859,42, Die halbe Erd⸗Axe 


859 42 — 856,4 


856,5, geographiſche Meilen, woraus fich die Abplattung der Erbe — = 
246 1 242 
5*— aan, d. 5. ſehr nahe gleich zo ergiebt. 

Aehnliches gilt von den übrigen Planeten, ſowie von den Monden unſeres 
Sonnminftems. 





Khrabam. #7 


Abraham ift einer der Namen, welche auch am Ende der Tage noch jung fein 
werden. Merkwürdig und zum Nachdenken reizend ift die Mebereinftimmung, mit wels 
her alle lebenskräftigen Meligionen des neueren Morgenlandes und Abendlandes diefem 
Namen Ehrerbietung erweilen. Wie fehr auch der erite Schwimg des Muhamedaniömus 
verraucht ift und nur Pflegma und unter der Aſche glühenden Fanatismus zurückge⸗ 
laffen hat, dennoch- finden wir auch unter den "heutigen Arabern und Türken fix ben 
Abrabam die religidß=poetifche Bezeichnung El Rha'lil, d. i. Freund Gottes. Das 
Judenthum aber umd der chriftliche Glaube Fünnen nicht einmal annähernd verftanden 
werden ohne Nüdbeziehung auf den Stammvater des Geſchlechtes, auf den Bater der 
Gläubigen. 

Abraham ward dem Tharah zu Ur in Chaldaͤa geboren 2008 Jahre nach der 
Grichaffung des Menfchen, 342 Jahre nach der Sündflut. Es wird nachgewiefen, Daß 
Sen ein Zeitgenofie Abrahams ift. Jedoch war feit der Süundfluth ſchon eine Ent« 
wickelungsperiode verfloffen. Wie felbft Die heidnifchen Traditionen und Mythen in klarer 
ober unflarer Weiſe andenten, war der Gang diefer Entwidelung wachfende Depravation. 
Die Gerechtigkeit Gotted, in der Suͤndfluth geoffenbaret, hatte die Menſchen nicht zm 
erneuern vermocht. Auch in fich jelbft hatten. fie feine reinigenden Principien gefunden, 
Ihr ehrfüchtiges Werk, zum Ruhme irdiſcher Unfterblichfeit und fleifchlicher Eintracht 
unternommten, hatte die Einheit des menfchlichen Gefchlecht8 gelodert und war der Ueber⸗ 
gang zu feindfeligen Gegenſatz. Die einzelnen Stämme zerftreuten fich auf die weite 
Erde, die Sprache verwirrte ſich in die verfchiedenen Naturlaute. Auch der Cäfazen« 
Despotismus in dem Culturreiche des Nimrod hatte wohl Civiliſation, aber Feine Aen⸗ 
derung der Richtung in feinem Gefolge. Die Mächte diefer Welt gewannen immer 
mehr die Oberhand, der Menjchengeift verfant immer mehr in das Naturleben. 

„Denn dieje Elare und einfache Kenntniß, zu welcher der Menſch nicht, gleich 
einer Pflanze. zur Blüthe, von unten herauf fich entwidelt, ſondern welche von. oben 
in die Tiefen feines Bewußtſeins leuchtet und baffelbe wert und vollendet, diefe. lichte 
Kenntniß von Gottes Heiligkeit und liebreihem Wollen, die ſowohl durch die Ueber- 
lieferung der Väter, ald durch Die unmittelbare Offenbarung im Gewiſſen ihr Eigen⸗ 
thum geworden, barg in dem Maße fich hinter phantaftifchen Bildern, als ſie den wil 
den Begierden ver entfeffelten Natur fich hingaben und fo auf ihre geiftige Würde, wenig⸗ 
ſtens der That nach verzichteten.” (Joh. Emanuel Beith: „die heiligen Berge*, Wien 
1840.) Das Heidenthum mit feinen Verirrungen und Irrthümern flieg aus den Finfter- 
nifien hervor, nicht als ein Fortfchritt, fondern als ein Hervorragen widergött- 
liger Mächte. Schon Tharab, der Bater, und Nachor, der Bruder des Abraham, 
waren dem Götzendienſte verfallen. Alte, vom 5. Auguftinus aufgezeichnete Traditionen 
berichten, dab Abraham den Verfolgungen feines eigenen Gefchlechtes. jet ausgeſetzt ge⸗ 
weien, weil er an der Weisheit des Noah feftgehalten und der Stimme, feines Ge⸗ 
wiſſens gehborcht habe. Mag dieſer Nachricht auch zumeift pſychologiſche Wahrheit zu 
Grunde liegen, fle enthält dennoch ein erflärendes Element. Abraham follte los gelöft 
werden aus der ſich felbit überlaffenen Entwidelung des menfchlichen Geſchlechtes. Der 
Segenfag zu feiner Familie machte ihn den Gehorfam gegen den wahren Gott leich⸗ 
ter, da zu Haran in Mefopptamien, wohin man aus nomadifchem Intereffe gezogen, 
der Ruf Gottes an ihn Lam: „gehe aus von deinem Materlande und von deiner 
Freundſchaft und aus deines Vaters Haufe in ein Rand, das ich dir zeigen will.” 

. Damit beginnt das welthiftorifche Interefje am Leben Abraham's, ein Intereffe, 
wie es die chriftliche Auffaſſung Der Gefchichte erzeugt. Zwar von einem jcheinbar 
objectiven, in Wirklichkeit fehr niedrigen und dunflen Standpunkt aus betrachtet, ift 
dies Reben ein kaum bemerfendwerthed. Die rationaliftifche Darftellung ift darum auch 
Ihnell damit im Klaren. Indem fie fich der Einzelheiten verfichert, meint fie Da8 Ganze 
und feinen Geift auch in den Händen zu haben. Sie weift darauf bin, daß nach dem 
Sabre 2000: v. Ehr. Geburt ein Jahrhunderte dauernder Volkerzug oder »flurm, aͤhn⸗ 
li dem fpäteren der Deutfchen gegen Weft- und Oſtrom, gegen Aegypten, das Land 
der älteften Cultur und des Meichtyums, flattgefunden babe. Diefer Anprall und bie 
theilweiſe Eroberung von Aegypten ging, wie richtig weiter bemerkt wird, von ſemi⸗ 
then Völkern ‚aus, Die man allgemein die Hykſos nennt. (Joſephus bezeichnet fie 





— 


158 Abraham. 


anodruͤcklich als die Voreltern feines, des ſuͤdiſchen, Volkes.) Unter dieſen war auch 
ein kleiner Stamm Hebraͤer unter einem Haͤuptling Abraham, der aber am Erfolg keinen 
Theil nahm, ſondern unterwegs in Kanaan ſich niederließ. Dieſer Nomaden⸗Emir ſtand 
mit drei anderen Haͤuptlingen in einem Bundesverhaͤltniß und war mit dieſen einem 
Prieſterkonig, der über dad ganze Land herrſchte, Relchiſedek, tributpflichtig und ges 
halten, zur gemeinfamen Vertheidigung des Landes mitzuwirken. Er war alſo ein 
nomadifcher Nafall. Dies ift die Befchichte Abraham's, wie ſie fich dem blöden Auge 
des Nationaliften darftellt. Aber welche Ereigniffe welthiftorifcher Wichtigkeit drangen 
fih unter dem nievrigen Wüftenzelte dieſes Emirs zufammen! Er gehorcht dem Befehl 
Gottes und verläßt fein Vaterland. 

- Aber wenn Gott fordert, jo giebt er, darum war mit dem Befehl die Verbeißung 
verfnüpft: „Ich will dich zum großen Volke machen und will dich fegnen und bir einen 
großen Namen machen und ſollſt ein Seegen fein. Ich will fegnen, die dich fegnen, 
und verfluchen, die dich verfluchen, und in dir follen gefegnet werden alle @efchlechter 
auf Erden.” Der fünfunpfiebenzigfährige Mann zog aus mit feinem Weibe Sarah, 
mit feinen Knechten, Maͤgden und mit feinen Heerden, fein Neffe Lot begleitete ihn. 
Auf den Gebirge Ephraim war er am Ziele und der Herr fpricht zu ihm: „Dies Land 
will ich deinem Saamen geben," 

‚Hiermit beginnt die Erziehung und Entfaltung des Gefchlechtes, aus welchem 
das Heil der Welt kommen jollte. Abraham fteht nun in dem Schauplage, auf wel 
chem er der Vater des Gläubigen geworben if. Die Löfung eined doppelten Wider 
ſpruchs vollzieht fich in dem Drama feines Lebens. Abraham ift ein Fremdling In dem 
Land feines Eigenthums, und der greife Vater eines großen Volkes ift noch kinderlos. 
Der Nomabdenfürft ziehet nicht bloß im Lande Canaan unter den zahlreichen anfäffigen 
Bölkerfchaften umber, fondern eine Hungerönoth treibt ihn auch nach Aegypten. Die 
Schrift verſchweigt nicht feine Sünde auf diefem felbftermählten Wege. Die Reue ber 
fehleunigte feine Ruckkehr nach dem gelobten Lande. Uber die Zeit der Beflgnahme 
lag vor Menſchenaugen verborgen. Die Gottlofigkeit ded Bewohner war noch nicht 
zum Gerichte des Unterganges reif geworden. Weit entfernt, das Verberben zu bes 
fohleunigen, fuhr Abraham vielmehr fort, von dem Namen ded Herrn zu prebigen. 
Nicht bloß mit Worten, fondern ald die Trennung von feinem Neffen Lot eine Noth⸗ 
wendigkeit geworben, flieht er das Necht über das Land Canaan nicht als einen Raub 
an, fondern in Sanftmutb und Selbftverleugnung überläßt er ihm die Wahl. Lot 
wählt das üppige Thal an dem Ausmündungs - Beden des Jordan. Hatte Abraham 
aber gern das Recht an das Land feines Erbes in die Hand Gottes gelegt, der Pflicht 
gegen daſſelbe entzog er fich nicht. 

Als der Elamite Kaderlaomer feiner angemaßten Herrfchaft über die von Lot zum 
Aufenthalte erwaͤhlte Pentapolis mit der Schärfe des Schwerted Dauer zu verfchaffen 
fuchte, da zog auch Abraham fein Schwert der Gerechtigkeit zu gut. Das Siddims⸗ 
Thal mit jeinen Städten Sodom, Gomorrha, Adanıa, Zeboim und Bela war unter 
Tegen, alle Habe und viele Gefangenen weggeführt, unter ihnen auch Lot. Abraham 
jagte den Siegern nah und erlöfte die Beute. Auf dem Rückwege gefchab das pro- 
phetifche Zufamnıentreffen der beiden Träger der wahren Gottesidee. RMelchiſedek („Kd- 
nig der Gerechtigfelt"), veflpirend zu Salem (,Friede“, fpäter Jeruſalem), war der lehte 
Mepräfentant der urfprünglichen Gotteserkenntniß. Abraham dagegen der Erftling des 
Lichtes, welches in die Finſterniß febeinet; nicht blos die perfönliche Sehnfucht nach dem- 
felben, wie eine milde Beurtheilung die ebleren Heiden anfehen mag. Es war bet 
Anfang einer neuen Entwicelung, die auf Ehriftum vorbereitete, wenn ihr Gipfelpunft 
auch nur das Prieftertbun Aarons war, ein nationales und befchränftes Priefterthum, 
über weldhem die höhere Ordnung des Prieſterthums des Melchiſedek ſteht. In Mel 
chiſedek verkörpert fich ein hohes Ideal aller folgenden Entwickelung. So empfängt 
der Vater der Gläubigen Brod und Wein und Segnung von dem Prieſter Got 
te8 und huldigt ihm durch Darbringung des Zehnten. Ein neues Band verknüpfte 
ibn mit dem verheißenen Rande, und bald follte er auch fehen, wie Canaan durch 
Gottes flarke Hand frei werden mürde für eine reinere Bevölkerung. Die Bentapolid 
im Siddims⸗Thale barg als unſichtbares Kirchlein auch nicht mehr zehn relativ Ge⸗ 


\ 


Abraham. 139 


zechte in fich, als die Zerftörung über dieſelbe bereinbrach; auch der gerettete Lot er⸗ 
wies ſich im feiner blutichänderifchen Nachkonmenfchaft unfähig zur Theilnahme an dem 
Erbe. — Die angebahnte Erfüllung ftärkt den Glauben des Abraham, und ald Ber 
kenntniß zu der Verheißung Gottes kauft er zum Erbbegrabniß feiner Familie bie 
doppelte Höhle Machpelah fammt dem betreffenden Ader von dem Hethiter Ephron. 
Das jus divinum wird allmälig zum jus humanum. 

Einen fchmereren Kampf Hatte Abraham zu FTämpfen, damit das Vertrauen 
auf die Verheißung von dem „gefegneten Saamen“ die Kraft feined Lebens wäre. 
Kinderlo8 war er aus feinem Gefchlechte außgezogen, Finderlod wanderte er zwi⸗ 
ſchen den zahlreichen Voͤlkerſchaften Kanaand. Die Hoffnung auf Nachkommenſchaft 
verlor immer mehr ihre natürliche Baſis. Gleichwohl war der Segeh an feinen 
Saamen gefnüpftl. Mochte dieſer Segen in feiner Seele fich darftellen an einem per⸗ 
fönlichen Träger deflelben, wie der Spruch Chrifti anzubeuten fcheint: Abraham fah 
meinen Tag und freuete fi; oder mag die Theorie der neueren Theologen von ber 
allmäligen Entwidelung der Meſſtasidee auch auf die geoffenbarte Erfenntniß‘ des 
Abraham Anwendung finden: die Klippe feines Glaubens war die Unfruchtbarkeit der 
Sarah. Aeußere Anfechtung pflegt die innere zu zeitigen. Als die Furcht vor dem 
Borne des in leicht wechſelndem Glücke gefchlagenen Königs von Elam die Seele des 
Batriarchen bewegte, und al& der Herr ihn tröftete mit den Worten: „Fürchte dich 
nicht, Abraham, ich hin dein Schild und dein fehr großer Lohn“; da Elagte Abraham 
dem Herrn audy feine Kinderloſigkeit. Der Allmächtige hieß ihn hinausgehen und fpradh: 
„Siehe gen Himmel und zähle die Sterne, kannſt du fie zählen? Alſo foll dein Saame 
fein.” Abrabam glaubte den Herrn und das ward ihm zur Gerechtigkeit 
gerechnet. (Möm. 4) Das willige Bertrauen und die empfängliche Hingabe an 
Das Werk Gottes für ihn und in ihm if Das Charakteriftifche in dem Abraham. Diefe 
Bereitwilligkeit für Gottes Segensgaben,. Gotted Heildgaben, ift gerade der Glaube. 
Nicht die klare Erfenntniß des Objertes ift Das Wefentliche, fondern daß der Nenſch 
auf feinem jedesmaligen Standpunkte annimmt, was Gott ihm zum Heile dar» 
bietet. Die Verwerfung des Angebotenen ift der Unglaube. Noch nicht glauben 
und ungläubig fein, find zwei verfehledene Dinge. Abraham glaubte, und in Folge 
Diejer Geneigtheit auf Gottes Heilsidee einzugehen, jchließt Gott ‚feinen erften Bund 
mit ihm durch ein, Bundesopfer. Die Zuflle bei demſelben bilden bie Schickſale de& 
Bundesvolkes ab. Aber menfchliche Schwachheit hielt fich nicht innerhalb der Grenzen 
Diefed Bunded. Die an ihrer Mutterfchaft verzweifelnde Sarah dringt felbft in ben 
Abraham, die aegyptifche Magd Hagar zum Kebsweibe zu nehmen: Ihr Sohn Ismael 
war nicht Der Verheißene, feine eigene Schuld jchloß ihn ganzlich aus dem erwählten 
Geſchlecht aus, und er ward ein Bater der Araber. 

Die Erfüllung des Heilsrathſchluſſes war einen Schritt rückwärts gegangen, 
Daher tritt ein neuer Bundesbeſchluß ein, und war Das Erfte einfeitig von Gott aus⸗ 
gegangen, fol nun auch die Annahme von Seiten des Menfchen dargethan werben. 
Der Erzvater muß feinen Namen Abram, d. i. hoher Bater, vertaufchen mit dem 
Namen Abraham, d. i. Vater der Menge, er, der YHjährige Mann. Sarai, d. i. 
Fürſtin, muß faft zum Trotz gegen Die Wirklichkeit heißen Sarah, d. i. Die Frucht⸗ 
bare. Daß er aber eine Warnung hätte gegen die Verſuchung zum Unglauben, muß 
er ald Bundeszeichen die Beichneivung an dem Fleifche feines Leibes empfangen. Aber 
Die im Glauben fehmwächere Sarah bedarf noch des Befuches der drei Männer, unter 
welchen bald der Engel des Herrn, der fich felbft offenbarende Bott erkannt wird, um 
in ihrem Glauben zu erftarfen. So wird den Gläubigen der Sohn ber Verheißung, 
Iſaak, geboren, als Abraham 100, Sarah 90 Jahre al. Das Werk der Erlöfung 
fette ſich damit auch in feinen Anfängen nicht als eine natürliche Gntwideling, fon» 
dern ald ein Wunder Gottes dar. 

Wenn Gott fordert, fo giebt er; bat er aber gegeben, fo. fordert er auch. 
Abraham foll den Sohn der Berheißung opfern. „Auf welche Weile zwar dieſe 
Dffenbarung des göttlichen Willens an den Geift des Abraham gefcheben fei, Tann 
nur im Munde des Spöütterd oder des bloßen Begriffömenfchen zur bejchmerlichen Frage 
werden. Wer da weiß und einflebt, daß Gott nicht im Menfchengeifte, fondern üben 





160 | Abraham. 
und außer ihm ſei, muß zugeben, daß Gott feinen Willen als etwas Obfectives dem 
menjchlichen Geifte offenbaren Fünne; und wer ferner ed bedacht bat, wie die menſch⸗ 
liche Sprache, als Offenbarung des Gedankens, aus der Einigung des geifligen und 
leiblichen Lebens hervorgeht, fo daß der Menfch feine Gedanken vom leiblichen Worte 
nicht trennen Tann, der wird auch einfehen, wie Die Dffenbarung des göttlichen Willens 
an den Menfchen von dieſem in feiner Sprache vernommen und verftanden werden müſſe.“ 
(Veith a. a. DO.) Auch das innere Ohr ift Allen gegeben, jedoch mit dem Unter- 
fchiede, daß Einige Taubheit verſchuldet haben, Andere zwar hören, aber nicht gehor- 
hen. Abraham war der Held des Gehorfamd, darım folgte er dem Befehle; „nimm 
deinen eingebornen Sohn, den du liebſt und wandre in das Land Moriah und bringe 
ihn dort zum Brandopfer dar, auf einem Berge, den ich bir zeigen werde." Man 
muß die h. Schrift über diefe Reiſe mit dem geliebten Sohne nachſchlagen, wenn man 
die kindlich rührendfte und zugleich erhabenfte Erzählung Iefen will. Der Glaubenskern 
in dem Gehorfam des Abraham war die Hoffnung, „Gott könne auch von den Todten 
erweden.“ Darum fpricht er in der Gewißheit feined Herzens zu den ihn begleitenden 
Knechten: Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, 
wollen „wir“ wieder zu euch kommen. Es ift bekannt, daß Gott den vollendeten 
Willen der Hingabe und Selbftverleugnung al3 die vollendete That annahın, und baf 
der Geber aller Opfer einen Widder darbot zur Schlachtung. Die fleifchliche Liebe 
zum Sehne war nun völlig verflärt in die Liebe des Glaubens. 

Man bat die Opferung des. Ifaac zufammengeftellt mit den heidniſchen Menfchen- 
Opfern, beſonders mit den Erftgeburts-Opfern, welche ſich bei allen heidniſchen Völkern 
ohne Ausnahme finden. Eine Parallele‘ zroifchen der Wahrheit und dem Irrthum ift 
ſtets vorhanden, nur daß die eine Richtung nach Oben führt, die andere nach Unten. 
Gerade die ausnahmslofe Allgemeinheit der Menfchen- Opfer fann nur dag Product 
eine8 tief im Menfchen liegenden Bedürfniſſes und des Gefühls fein, wie Die Unzu⸗ 
länglichfeit: aller anderen Opfer das beſte Opfer erheiſche. Durch das Opfer auf 
Moriah, d. h. Gott fiehet, wird die Wahrheit dieſes Bewußtſeins nicht negirt, fordern 
gereinigt und feine gräßlicye heidniſche Entftellung verhindert. Das Thier-Opfer wurde 
in feiner interimiftifchen Kraft bis zur Zeit der Erfüllung, bis zur Opferung des an⸗ 
dern geliebten Sohnes janctionirt; die Einheit beider Opfer durch die Einheit ber 
Gegend veranjchaulicht, denn die Gegend Moriah ift die Gegend ber‘ Zionsburg, des 
Tempels Salomonid, ded Berges Golgatha. ' 

Mit dem Opfer ift der Lauf Abrahams vollendet. In dem wiedergefchenkten 
Sohne Hat der zweite Gegenſatz feines Lebens zwifchen Wirklichfeit und Glauben bie 
Köfung gefunden. Er Tann nam fein Haus beſtellen. Sein Weib Sarah, 127 Jahre 
alt zu Hebron geftorben, beerdigt er auf canandifchem Grumd und Boden in der dop⸗ 
pelten Höhle Machpelah. Den Erben der Verheißung verheirathet er mit einer Tochter 
ſeines eigenen relativ frommen Geſchlechtes, daß derfelbe nicht verflochten werbe in bie 
Sünde Canaand. Über der Vater der Gläubigen mußte auch noch zu einem Beifpiele 
werden, daß die Heiligen Gottes erft mit dem Tode die Schmachheit des Kleifched 
ablegen. Er heirathete noch Die Ketura und zeugte mit ihr Stammvdter arabifcher 
und midianitifcher Völker. 175jährig flarb er alt und Iebensfatt und warb von dem 
Ifaak und dem Ismael in dem Lande der Berbeifung neben feinem Weibe Sarah 
begraben. Es ift zu beflagen, daß und das Xeben bed Abraham nirgends in einer fo 
anfprechenden Darftellung vorgeführt wird, als der Dr. Krummacher den Thisbiter Eliad 
uns vor Augen geftellet hat, diefen Mann, der mit fo fchneidenden Waffen alle falfche 
Vermengung zwijchen Ia und Nein niederwarf. In dem Abraham liegen bie Anfänge 
einer weitgreifenden Bereinigung im einer gewiffen Wahrheit. 

Das ganze Leben und .alle Schiekfale des Stammvaters des Monotheismus find 
in der Folge fymbolifch aufgefaft worden. Abraham ift der erfte firenge Mono 
theift, der Durch feinen unbedingten Glauben umd willigen Gehorfam Gnade vor Gott 
erhielt. Natürlich Eonnte in der chriftlichen Kunft, in der Poeſie, Hymnendichtung und 
Liturgik die Geftalt Abraham's nicht verfeblen, eine fymbolifch feſtſtehende Figur zu 
werden. So ft in der Fatholifchen Kirche des Erlöfungsopfers Chriſti Ermähhung 
gefegieht, wird in Hymnen und in der Commemoratio der Meffe beſonders des Abraham 


Abrantes. | 161 


gedacht. In den Schooß Abraham's kommen, wird gleichbedeutend mit dem Himmel, 
Er wird unter die Heiligen der Fatholifchen Kirche gezählt. 

In der chriftlichen Kunft findet und fand Abraham beſonders in zwei Beziehungen 
eine häufige Anwendung. Der großartigfte dramatifche Stoff, den die Welt kennt, 
ift der freie Opfertod Chriſti; gegenüber dieſer hohen tragifchen ‚Idee erbleicht das 
Sujet einer Antigone, eined Prometheus, Hippolgt. Das chriftliche Mittelalter er⸗ 
kannte mit Recht, daß nach dem Opfertode Chrifti Abraham's Opfer, dad er in ſei⸗ 
nem Sohne Iſaak darbringen wollte, dad tiefſte tragijche Thema fei: Daher entftanden 
auch fo viele Myſterien (chriftlich » Kirchliche Schaufpiele) im Mittelalter, welche diefen 
Gegenftand behandelt haben. Das Opfer Iſaak's haben. die Neugriechen noch jegt als 
ein religiöfed Drama, dad aber mehr zur Lectüre ald zur Aufführung beftimmt ift. 

Die Allegorie ded Opfers Iſaak's und des Opfertodes Chrifti, des eingebornen 
Sohnes Gottes, ift in die Augen fallend. Daher ift.denn auch erflärlih, in welcher 
Beziehung die bilbliche Daritellung Abraham's und feines Sohnes Iſaak an den Domen 
des Mittelalterd in Sculptur und Sladgemälden zu dem Chor, dem Orte, wo nad 
der Anfchauung der Fatholifchen Mefle Ehriftus geopfert wird, ftehen. Innerhalb des 
Langhauſes und innerhalb des Chored konnte nach mittelalterlicher Symbolik feine 
Scene des alten Bundes dargeftellt werden, alfo auch dad Opfer Abraham's nicht, 
weil im Innern der Tatholifchen Kirche ein geiftigeres höheres Opfer gefeiert ward, als 
Abraham kannte. Aber über den Portalen, im jogenannten Paradied und über den 
Thüren, welche in den Chor führen (wie am Freiburger Münfter), hat man dad Opfer 
Abraham's haufig angebracht. Es ift das unblutige Opfer des alten Bundes und 
deshalb am Eingang in dad Heiligtum ded neuen Bundes dargeftellt. 

Die typifcheallegorifche Bedeutung Abraham's findet ſich in der biblia pau- 
perum, wie in Hymnen und Predigten mit dem neuteftamentlichen Gegenbilde von Chriftus 
zufammengeftellt. 9. Ottte, Kirchliche Kunftarchäologie 1845, ©. 114 fagt: Darnach 
ſteht Melchifepek, dem gewappneten Abraham Brod und Wein darbringend, dem chriftlichen 
Abendmahl, die Bewirtfung der drei Engel bei Abraham der Fußwaſchung Chrifti vor 
feinem Leiden gegenüber. Bon einer Jkonographie bei Abraham kann natürlich 
feine Rebe fein. Der Künitler folgte hierin Feiner Tradition. Die Attribute Abraham's 
find gewöhnlich ein Mefier und Feuerbecken, neben ihm fein Sohn Iſaak. 

Abrantes. Von dem befeftigten Städtchen Abrantes am Tejo (Tajo) in der portus 
gieflfchen Provinz Eſtremadura führte feit Alfons V. ein Grandengeſchlecht den Grafentitel. 
1718 wurde Abrantes von Sodann V. zum Marquiſat erhoben. Ein Marquis von 
Abrantes war Präjident der von Johann VI. eingefegten Negentfchaft, fein Sohn Mar- 
quis Joſeph von Abranted war einer der eifrigften Anhänger des Könige Dom 
Miguel und ftand längere Zeit mit an der Spitze der Legitimiften. Man befchuldigte ihn, an 
der Ermordung. des Marquis von Loule Theil genommen zu haben, er wurde verbannt 
und ftarb 1827 zu London, unermüblich thätig für feinen rechtmäßigen Herrn. Bon dem 
portugieſiſchen Abrantes führt aber auch die franzöftfche Familie Junot den Herzogstitel. 

Andoche Junot, Herzog von Ubrantes, wurde 1771 zu Buſſy-les⸗forges im 
Departement Coͤte d’or geboren, feine Aeltern waren vermögende Landleute. Junot 
befand fi beim Ausbruch der Revolution zu Paris ald Student der Nechtsfchule. 
1791 wurde er Soldat und erregte Napoleon Bonaparte Aufmerkſamkeit bei der Bela- 
gerung von Toulon. Bonaparte dictirte dem damaligen Sergeanten Junot einen Befehl, 
eine in der Nähe einfchlagende Bombe überfchüttete fie mit Erde, Junot jagte: „Das 
ſpart und den Streufand!" Er wurde Offizier, begleitete Bonaparte als Adjutant nad 
Italim und Aegypten, erhielt nach dem 18. Brumaire das Gouvernement von Paris 
und ging, 1805 zum General-Öbriften der Hufaren ernannt, nad) Portugal ald Ge- 
fanbter. 1807 bejegte er Bortugal und erhielt den Titel eines Herzogs von Abrantes, 
weil das Städtchen dieſes Namens das Ende des Marſches durch Eſtremadura bezeichnet, 
den Junot machte. Seine Erpreffungen haben ihm Fein beſonders ehrenvolled Andenken 
in Portugal gefihert. 1808 wurde er bei Vimeira gefchlagen und zur apitulation 
von intra gezwungen, nach welcher er Portugal mit feinen Truppen räumen mußte 
und nach Frankreich übergeführt wurde, feitdem war er bei Napoleon in Ungnabe, 
obwohl er .in Spanien unter Maffena und fpäter auch in Rußland noch mit Auszeich⸗ 

Bagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 11 








iee | Abrechnen. 


nung focht. Ans Rußland kehrte er krank zurück, es zeigten ſich dei ihm Spuren von 
Geiſtesverwirrung; aus Illyrien, zu deſſen Gouverneur er 1813 ernannt worden war, 
brachte man ihn nach Montbard in das Haus feines Pater, dort flürzte er fi in 
einem Anfall von Wahnſinn aus dem Fenſter, brach den Schenkel und flarb an ben 
Folgen der Amputation am 22. Juli 1813. Er war einer der fähigften Lieutenants 
Bonaparted, aber zu jelbftftändig, um lange in gutem PVernehmen mit ihn bleiben zu 
fönnen. Er widerſprach oft und wurde namentlich in ber legten Zeit zuweilen ſehr 
hart von Bonaparte behandelt. Einige jchreiben feine ganze Geiſteskrankheit Der harten 
Behandlung zu, die er erfahren mußte, namentlich fchmerzte es ihn tief, daß er nicht 
zum Marſchall ernannt wurde. 

Joſephine Laurette Herzogin von Abrantes, geboren 1786 zu Montpellier, 
war in ihrer Jugend mit ihrer Mutter, Frau von Permon, nad Gorflca gefommen; jle 
wurde dort mit einigen Perfonen aus der Bamilie Bonaparte befannt und lernte fpäter 
im Haufe des erften Conſuls Junot Eennen, defien Gemahlin fle wurde. Na Junot's 
Tode gerieth fie in Schulden, doch hielt fie fidy bis zur Julirevolution, Denn die Bour⸗ 
bonen unterftügten fie großmüthig, weil fie mit mehreren großen Familien Frankreiché 
verwandt und einem Seitenzweige des Kaiſerhauſes der Comnenen entſproſſen war. 
Seit 1830 lebte fie in Dürftigkeit, fie ſtarb 1838, in der Verzweiflung über eine 
Auspfändung foll fie Gift genommen haben. Die Herzogin von Abranteß war eine 
fehr fruchtbare Schriftftellerin; man bat von ihr eine ganze Reihe von Memoiren über 
die Revolution, das Directorium, das Confulat, das Kaiſerthum und die Reſtauratlon. 
Der biftorifhe Werth diefer Memoiren ift fehr untergeorpnet, doch bieten fle manches 
brauchbare Material für den, welcher die Wahrheit zwifchen der Eitelkeit der Frau und 


der Sranzöfin zu finden verficht. Jedenfalls ftehen ihre Memoiren bedeutend über ihren 


Romanen, die in jeder Beziehung armielig find. In's Deutfche überfegt iſt natürlid 
Alles, was die fleißigen Hände der armen, unglüdlichen Frau, der hungernden und 
darbenden Herzogin zufammen gefchrieben. Auch ihr Sohn, Napoleon Junot, dem 
König Ludwig AV. 1815 den Herzogstitel von Abrantes beftätigte, hat einen Roman 
gefchrieben: „Zwei Frauenherzen“, der 1833 zu Paris erjichien. 

Auch in der fpanifhen Grandezza kommt der Herzogstitel von Abranted 
feit 1642 vor, Derjelbe ſteht gegenwärtig feit 1848 dem Herzoge von tinary x. Don 
Angel Maria Garbajal y Tellez Giron zu. 
| Abrechnen, Mittel der Kaufleute, in England vielfach auch der Privaten, Geld» 
baarjendungen und Zahlungen möglichft zu vermeiden. A. und B., welche einander 
Lieferungen machen, ftellen ihr Guthaben von Zeit zu Zeit gegeneinanber und ber 
Unterfchied beider wird dann an den Lieferer des Mehr ausgezahlt. Dafjelbe Mittel 
wird auch von mehr ald zwei Perfonen angewandt und dann auch als Ueberweiſen 
(Scontriren) bezeichnet. Diefe Form des Abrechnend ift in London am Weiteften aus⸗ 
gebildet, entjprechend der ausgedehnten Bedeutung, welche dort Die bankers für dad 
geſammte volkswirthſchaftliche und allgemeine gefellichaftliche Leben gewonnen haben. 
In England herrſcht die Sitte, daß jeder Wohlhabende feine Geldeinnahmen (ja jogar 
den Theil feines Silberzeugs und feiner Juwelen, die. er nur bei feltenen feierlichen 
Gelegenheiten gebraucht) fofort feinem Bankier überfendet und feine Geld» Ausgaben 
(felbft die für Handwerker) durch Zahlungäbefehle an dieſen leiftet. Der Bankier iſt 
bier der gemeinfame Gafiirer von einer Menge Brivatperfonen und kann en 
Zahlungen, wenn fie ſich kreuzen, mit einer viel geringeren Geldmenge, als die Summe 
Zahlungen beträgt, beftreiten. Außer dieſer innerhalb des einzelnen Gefchäftes vpll⸗ 
zogenen Abrechnung aber giebt es in London noch eine umfänglichere, welche alle T 
im Clearing-house in der Lombardſtraße, dem Mittelpunkte der City, vor ſich geb- 
Dorthin fendet täglich jeded Bankierhaus gegen 3 Uhr Mittags einen Comptoirbienkt 
mit allen denjenigen Wechfeln, welche es auf andere Häufer an diefem Tage zahar 
in Händen bat. Diefe Wechfel Eommen in eines der vielen Zächer, die mit dem 
Namen der verfchiedenen Bankiers verzeichnet find, und es wird darauf noch von 
fämmtlihen gegenfeitigen Anfprüchen und Forderungen ein Abſchluß redigirt, und da 
durch das Geichäft jchließlich fo vereinfacht, daß ein Jeder ſich nur noch mit wenigen, 
und auch mit diefen nur durch Zahlung kleinerer Summen zu regulicen bat. 


P4 





Abrogation. : .  Abiak. Ä 163 


Im Londoner Clearing-house wurden 1839 gegen 1000 Millionen Ltrl: abgerechnet, 
mt nur 66 Millionen Imlaufsmitteln, größtentheild Noten der Bank von England; die 


täglichen Gefchäfte beliefen fich auf mehr als 3 Mill., wobei nur etwa 200,000 Lk. 
Umlaufsmittel zum Vorfchein famen. Cf. John Stuart Mill Buch III. Cap. Xl., $ 6. 


Die Abrechnung der Zollvereinsftaaten gefihieht im Allgemeinen nach dem Maß⸗ 
Rabe der Bevolkerung, f. Zollverein. Abrechnungen fommen auch vor bei-dem deut⸗ 
ſchen Boflverein, den Gifenbahne Verbänden x. S. Die einzelnen Artikel. 

Abrogation Heißt die vollftändige Aufhebung eines Geſetzes; die Aenderung 
eines Geſetzes gefchieht entweder Durch ausdrückliche Aufhebung eined Theils deſſelben 
(Derogation), oder durch Hinzufügung eined Zuſatzes (Subrogation), oder durch Ent- 
gegenftellung eines neuen, einen Theil des alten aufhebenden Geſetzes (Obrogation). 
L. 102. Dig. 50, 16. Ulp. Fragm. 1. 3. 

Abrndbaͤnya, deutſch Groß⸗Schlatten, auh Altenburg und Alten— 
berg, walachiſch Abrudu, einer der ſechs Bezirke des oͤſterreichiſch⸗ſiebenbürgiſchen 
Kreifed Karlsburg, umfaßt 26,, öfterreichiiche Geviertmeilen und eine aus Walachen, 
Ragyaren und Deutichen beftehende Bevölkerung von 48,377 Seelen. Der gleichnamige 
Rarktfleden, am Omdy gelegen, mit 2239 Einwohnern, einer deutfchereforntirten und 
einer walachifch-griechifch-Fatholifchen Pfarre und Kirche, Sit des Bezirksamtes und 
ened zum Karlsburger Rreiögerichte gehörigen Linterfuchungsgerichte®, fo wie auch eines 
Bergeommiffartated. Hier find altberühmte Goldbergwerke im Betriebe. Die umliegende 
Gegend ift einer der wichtigften Fundorte von Golverzen des ganzen Großfürftentbums, 
davon der größere Theil im nahen Dorfe Vördspataf erbaut wird. Manche der dort gewon⸗ 
nenen Erze halten bis 340 Loth Silber im Gentner, und die Mark Silber zumeilen 
über 200 Denare Gold. Das ausgebrachte Berggold wird den Bergwerksbeſitzern zu 
einem beftimmten Breife bezahlt, das filberhaltige Gold nach Zalathna zur Schmelzung 
abgeliefert und von Hort in Stangen in die Münze nach Karlsburg gebracht. 

Abſatz ift die Verwerthung der ohne Nüdficht auf einen beflimmten Befleller ger 
fetigten @rzeugniffe, in&befondere die Gewinnung eines Marktes für die Maffen-Pro- 
duction. Der Handwerker, welcher auf Beftellung arbeitet, bewirkt feinen Abſatz feiner 
Erzengniffe, erft mit dem Eintritt der unbeftellten, auf das Publicum berechneten, ind« 
beſondere der mafienhaften Erzeugung der Fabriken bildet fich der Begriff des Abſatzes. 
Der Abſatz ift abhängig von dem Verhältniffe zwifchen Production und Kaufkraft. Die 
herrſchenden Syſteme der National» Deeonomle (Say, Ricardo) lehren, daß Died Ver⸗ 
haͤltniß ſtets ein genrbnetes fei, daß, „da Producte nur mit Producten gefauft würden“, 
eine jede Steigerung der Productionskraft auch eine Steigerung der Kauffraft zur Folge 
hätte oder vielmehr ſchon in fich ſchlöſſe. Diefe Theorie ift falfch, wie die Erfahrung 
lebet, und zwar liefert die Gefchichte der Handelskriſen dieſe Erfahrung. Sie find eben 
unbeftreitbar die Folgen einer Zuvielerzeugung (overproduetion) und zugleich eined 
Sinkens der Kaufkraft. Noch neuerdings hat Rodbertus, Angefichtd der Handels⸗ 
kriſis von 1857, darauf in einer fcharffinnigen Abhandlung hingewiefen“ („Die Handels⸗ 
kriſen und die Hypothekennoth der Grunbbeflger. Berlin, 1858. Ferd. Schneider"). 
Die herrſchende Doctrin, deren Unhaltbarfeit jene Abhandlung darthut, ratfonnirt folgen- 
dermaßen: „Es kann zwar von diefer oder jener Waare zuviel probucirt werden, aber 
nur, weil von anderen Waaren zu wenig probucirt worden, denn Producte werden mit 
Brodurten gekauft. Auch die Steigerung der Probuctivität macht darin feinen Unter 
(led. Wenn A. Brot, B. Nöde, C. Schube, D. Tiſche beftellte und jeder plößlich 
auch doppelt fo viel von feiner Waare producirte, in Folge davon jede Waare um die 
Hälfte im Preife fiele, fo winde doch nicht Die Kaufkraft irgend eines Theilnehmers 
Defes Tauſchverkehrs abgenommen haben, denn A. hätte ja doppelt fo viel Brot wie 
bither zu vertaufchen und jeder andere von feinen Propucten auch. Jeder wärbe alfo 
auch doppelt foviel eintaufhen und verzehren Tönnen. Daß aber Alle von Allem 
genag haben follten, Eommt fchwerlich fobald vor, und geſetzt, die Nationalpro⸗ 
button feige einmal fo hoch, fo würde ſich das menfchliche Begehrungsvermögen 
nme Bedürfnifſe fchaffen und ein Theil des zuviel in der Production Yon Brot, 

en u. dgl. angelegten Capitals würde fih zur Serftellung von Lurus » Artikeln 
wenden, Jede Steigerung der Production — fo jehließt Diefe Theorie — confumirt fich 

11 * 


164 Abſat. 


alſo auch immer ſelbſt; im geraden Verhaͤltniß mit der Steigerung der Productlon ſteigt 
auch die Kaufkraft.” Auf diefe Säpe aber wird mit Necht erwidert, daß ſich der wirk⸗ 
liche Verkehr unter die einfache Abftraction von A, B, C und D nicht bringen laſſe. 

A, B, C und D find Feine richtigen Nepräjentanten der wirklichen Theilnehmer 
des heutigen Verkehrs, denn es giebt in dem gegenmwürtigen Zuftande, deſſen erfte Vor- 
ausſetzung eine unendliche Arbeitötheilung ift, Eeinen fo einheitlichen Probucenten, daß 
er ein einzelned Gut vollftändig berftellte. inter jeder biefer imaginären Perſoͤnlich⸗ 
keiten bergen. fich vielmehr in Wirklichkeit mehrere fehr verfchiedenartige Theilnehmer 
der Production, die ſich Feineswegs nach einen für immer feſtſtehenden Verhältniffe das 
gemeinjchaftlich hergeftellte Product theilen. Vielmehr ift der Unternehmer der einzige 
Beilger des ganzen Productes, und er hat fi mit den anderen Productions⸗Theilneh⸗ 
mern, dem Grundbefiger, dem Gapitaliften, dem Arbeiter bereits vorher (durch Pacht, 
Zins und Lohn) abgefunden. Was aber gerade die zahlreichite Klafle der Käufer und 
Eonfumenten, die Kobnarbeiter, anbeteifft, fo laßt fich Teicht nachweifen, daß ihr 
Lohn Faum jemals in Midficht auf ven Werth des Products, jondern ſtets nach dem 
Betrage des nothmendigen Unterhalt feftgefegt wird. Freilich kommen wohl Lohn 
fleigerungen im @inzelnen vor, auch wird fich eine Stufenleiter des Lohnes nach der 
Geſchicklichkeit des Arbeiterd bemerflich machen; das find indeß Einzelnheiten, die auf 
das Princip der Feſtſetzung des Lohnes im Allgemeinen feinen Einfluß baben, da bie 
Zohnfleigerungen, welche wohl in Zeiten flarfer Productivität hier und da vorkommen, 
bei der unvermeidlid, darauf eintretenden Handelskriſis und der fich daraus ergebenden 
zeitweifen Arbeitslofigfeit aufhören, und da die Berückſichtigung der Geſchicklichkeit des 
Urbeiters bei der immer mehr fortfchreitenden Tbeilung der Arbeit, die dadurch immer 
mechanifcher wird, immer weniger ernft gemeint fein kann. Dagegen läßt fih nach⸗ 
weifen, daß die Arbeiter heut kaum mehr Kohn erhalten, als früher, und wenn man 
den Lohn als Quote des Products betrachtet, moefentlich weniger als früber. (Der 
Sanbarbeiter, der früher ein rohes Erzeugniß herftellte, erhielt in feinem Lohne ein 
viel größeren Werththeil des Productes, als der Arbeiter, der beut ‚mit Hülfe einer 
Dampfmafchine taufend feinere Erzeugnifie berftellt.) Eben jo wenig als der Lohn des 
Arbeiter kann Pacht und Zins des, Srundbefigerd und Gapitaliften mit der Producti⸗ 
pität, die allein dem Unternehmer nüßt, fleigen. Aber von dieſen volfsmwirtbfchaftlichen 
Ständen auch abgefehen, bleibt doch feft ftehen, daß die heutigen Theilnehmer des wirf- 
lichen Verkehrs jene oben aufgeführten imaginären A, B, C und D nicht find, daß 
ferner die eigentlichen Theilnehmer fich das Product nicht nach einem für immer feſt⸗ 
fiehenden Verhaͤltniß und mit Rückſicht auf ihre Bethätigung an der Erzeugung theilen, 
daß endlich wenigſtens bei einer und zwar der zahlreichften Klaffe der an der Pro 
duction Betheiligten die Kaufkraft nicht mit der Steigerung der Production wachſt. 
Nun iſt e8 aber unmöglich, der Production gewiffe Grenzen zu fleden, die fie nicht 
überfchreitet; weder giebt e8 einen geſetzlichen Negulator, noch find die einzelnen Pro 
ducenten im Stande, die gegenwärtige Kauffraft abzufchägen und darnach die Pro- 
duction zu befchränfen, noch würden . die Producenten, auch wenn fle die Kaufkraft 
abfchägen Fönnten, die entfprechende Beſchränkung eintreten laſſen können. Erſteres iſt 
darum nicht möglich, weil e8 bei der gegenwärtigen innigen VBerbindimg alfer cisiliftrten 
Nationen auf Erden im Grunde keine nationale Volkswirthſchaft, fondern nur noch eine 
Mel t volkswirthſchaft giebt; das Andere darum nicht, weil das neu entſtandene Geld⸗ 
capital unaudgefegt auf feine Benugung und Anwendung bindrängt, während das ſchon 
früher entflandene, in Fabriken, Mafchinen, großen Unternehmungen aller Art angelegte 
ebenfalld unausgeſetztes Produciren verlangt, um nicht zinslos zu bleiben, weil ferne 
die ihm gegemüberftehende Maffe der Lohnarbeiter befchäftigt werden muß. Es wir 
darum unandgefept bis zu dem Augenblide probueirt werden, wo die Thatſache der 
Zupiel-Production als Abſatzſtockung zum Ausdruck fommt. 

Je ficherer die großen Mittelpunfte der Production, voran England, auf mieder- 
fehrende Abſatzſtockungen rechnen Eönnen, deſto eifriger müflen fle bemüht jein, immer 
mehr Märkte für ihre Waaren zu öffnen, und es find darum die Verfuche, China dem 
europälfchen Berkehr zu erfchließen, von größefter Bebeutung für England. Einmal 
indeß wirb doch, wie Rodbertus mit Necht darauf aufmerffam macht, die Gewinmung 


[2 


Abſan. 865 


neuer auswärtiger Märkte aufhören müflen, und es wird dann die Gefellfchaft genöthigt 
jein, Die ſchwierige Angelegenheit, welche durch Erweiterung der Abjagmärkte nur ver⸗ 
tagt ift, an der Wurzel anzugreifen. Uber auch abgefehen von jener fernen dunkeln 
Ausficht wird die Lage der einzelnen Volksgeſellſchaften endlich felbft die erbittertften 
Anhänger ver herrfchennen Productiondtheorien zwingen, auf Abbülfe gegen einen 
Zuſtand zu finnen, in welchem neben der Blüthe der Allgemeinheit, wie fie au8 den 
großen Zahlen der Production, des Importe von Nohmaterial und des Crportes von 
Ranufacten und Fabrikaten enwiefen wird, der Muin der meiften Einzelnen, zunächft 
der zahlreichen Klaſſe ‚der beſitzloſen Arbeiter, dann auch der Ackerbauer, Viehzüchter ıc. 
nebenhergeht. Selbft England, in dem noch jo vieles vorhanden tft, was die volle 
Entwicklung dieſes traurigen Gegenfabes hindert, zeigt feine Spuren bereitd deutlich. 
Die Ausfuhr von britifchen Producten und Manufacten bat von 1848 bis 1857 den 
erftaunlichen Kortjchritt von 100 Procent gemacht (1848 — 58,750,000 2ftr.; 1857 
— 122 MU.) Mehnliches gilt von der Einfuhr, reſp. Wieberausfuhr frember Pros 
ducte. Dagegen bat fih der innere Bonfum in England im Allgemeinen bei Weiten 
nicht in dem Maße vermehrt, wie es in der Regel felbft in England vorausgefegt 
wirb und wie bie größere Einfuhr eö vermuthen läßt, wenn auch die eigentlichen Vor⸗ 
schrumgßartifel, Getreide, Thee, Zucker u. bl. allerdings ein bedeutendes Mehr ergeben; 
doch in Gegenfländen anderer Gattung, wie z. B. webbare Stoffe, hat die Vermehrung 
nicht in gleichem Maße und dem Bevölkerungszuwachs entfprechend zugenommen, ja 
rudfichtlicy einiger bat jogar troß Vermehrung der Bevölkerung eine abfolute Vermin⸗ 
derung ftattgehabt: während 3. B. die Ausfuhr von Baumwollen⸗Garn und Artikeln 
dem declarirten Wertb nach von (1848) 23,339,000 Xitr. auf (1857) 39,112,913 tr. 
geftiegen war, iſt der Schäikung eines angefehenen Manchefter- Saufes zufolge der 
innere Confum von (1848) 21,537,000 eſtr. auf (1857) 17,100,000 eſtr. 
gefallen. Diele Thatſache muß dahin gedeutet werden, daß der klein⸗ Comfort des 
engliſchen Arbeiters in den letzten zehn Jahren nicht geftiegen, aber wahrfcheinlich gefal⸗ 
len ift, daß fein Lohn alfo immer fnapper wird und nur grade für die erſten Bedinf⸗ 
niſſe ausreicht. Seine Kaufkraft Hört alfo bei immer mehr fleigender Production 
immer mehr auf und dennoch muß jede Induftrie ihre Hauptſtütze zunaͤchſt in der inneren 
Gomfumtion juchen, wie in England felbft Dies zugeitanden wird. ine Reform der Ger 
ſellſchaft thut alfo noth, wenn der Untergang nicht erfolgen fol. — Wir find heute ſchon 
anf dem Punkte angelangt, wo der Reiche fich gezwungen fleht, einen Theil feines 
Erwerbd zur regelmäßigen Unterftügung brodlos gewordener Arbeit#- 
“raft zu verwenden. E38 wird fich dabei darum handeln, die Stellung der übrigen 
Theilnehmer an der Production dem Privilegium des Unternehmers gegenüber dahin zn 
reformiren, daß .mit der Zunahme der Productivität auch die Kaufkraft in entfprechendem 
Babe fleigt. Mit andern Worten, ed wird fich darum handeln, der Ausbeutung aller 
Arbeit und alles feſten Beflged durch das Geldcapital entgegenzutreten. Dies wird 
nur möglich fein, wenn die verfchiedenen Berufsftinde wieder in fefte Corporationen 
zufammentreten, und wenn die Durch die Unternehmer aus ihren Fugen geriffene Arbeit 
wieder zu einer natürlichen Organifation und zu Verhältniffen geführt wird, in denen 
auf der einen Seite der linternehmer gegen die übrigen Theilnehmer und auf der andern 
Meifter, Gefell und Arbeiter eine innere Beziehung und Mechte und Pflichten gegen 
einander erhalten. Erſt dann, wenn die Arbeit wieder dieſe ihre natürliche Werkitatt 
erhalten bat und in Folge deſſen ihr Gewinn nicht in den Händen des centralifirenden 
Gapitaliften bleibt, ift auch eine verhältnißmäßige Bertheilung des Gewinns zwifchen 
den Producenten möglich, und es wird in dieſer Gewinns Bertbeilung ein unterfcheidendes 
Merkmal der Innung der Zukunft gegenüber der der Vergangenheit begründet fein. 
In Folge diefer Gewinnvertheilung aber wird die Kaufkraft in Folge der Production 
wachlen, und die Production ſich in den Grenzen der Kaufkraft halten, und damit ber 
Abſatz felbft endlich gefichert fein. 

Die Superiorität desjenigen Volkes ift feftgeftellt, welches zuerft zu dieſer von 
Innen aus bewirkten Sicherung des Abſatzes feiner Producte fortfchreiten wird, es 
tritt aus den Brandungen und Stürmen ded modernen chaotifchen Weltverfehrs her⸗ 
aus, und, ohne diefen Verkehr Fimftlich abzuhalten, fann es von ihm nur Nuten ziehen, 








166 | Abfar. 


wird aber Feine feiner Krifen nachzuempfinden haben. Zuglei gewinnt es wieder 
eine gefunde Baſis für Die Begrenzung feiner Nationalität auf nationalsdfonomifhem 
Gebiete. Nur dadurch wird wieder diejenige Ausdehnung und Feſtigkeit feined inneren 
Marktes erzielt werben, bei welcher die Production auf den innern Conſum mit Sicher- 
heit rechnen Darf und jenes bandelspolitiiche Gegenbild des politifchen Kosmopolitismus 
‚befeitigt werden, had wie diefer Doc nur die Vorwegnahme und darum die Carricatur 
einer ferneren Verheißung und einer endlichen Wahrheit if. (Näheres darüber f. in 
den Artikeln Freihandel und Weltvolfswirthicdaft.) 

Eine kaum geiftig überwundene Periode dünfelvoller Staatöweisheit (j. Darüber 
den Artikel Merkantilſyſtem) suchte durch hundert äußere Mittel die Verlegenheiten 
um Abſatz zu befeitigen, welche nur durch jene große innere Maßregel vernichtet wer- 
den Fönnen. Nachdem fünftlich Durch den Direct oder indirect mit Staat&mitteln ge 
förderten Bau von Fabriken ꝛc. neue Productionszweige hervorgerufen waren, galt «8, 
anf eben fo Fünftlihem Wege für fie eine Kaufkraft berbeizujchaffen. Zu dem Ende 
wurden neue Zollgrenzen gefchaffen, welche den Conjumenten eine anderweitige Ber 
frievigung ihres Bedürfniſſes, ald dur die Fünftlich erichaffene Production bed 
Inlandes, unmöglich machten. Die Folge war, daß dabei der Staat die natürlichen Nei⸗ 
gungen der in ihm wohnenden volfäwirtbichaftlichen Factoren nicht mehr richtig zu 
beurtheilen wußte und ihnen wiſſentlich oder unwiſſentlich Hinderniffe in den Weg legte, 
fo daß zu der Hervorrufung einer Fünftlichen Production noch die Unterbrüdung der 
natürlichen und zu der Hervorrufung eines Fünftlichen Abſatzes noch die Unterbradung 
ded natürlihen Abſatzes Fam. Die GEntwidlung des deutſchen Zollvereins iſt 
voll son folchen Liebelfländen. Preußen, durch feine Lage und die Natur feiner Volks⸗ 
wirthſchaft, die überwiegend Ackerwirthſchaft war, auf den Freihandel, Die Seewege, 
die Ausfuhr von Aderproducten ıc. verwiefen, fchloß ſich an BinnensDeutfchland, be 
förderte eine kraͤnkelnde Induftrie und drüdte feinen Aderbau und die daran "hängenden 
Gewerbe, denen der Export von Naturalien und Producten erfter Hand «ben fo wie ber 
Import des Eifend erfchwert ward, nieder. Die natürlichen Abſatzwege wurden da 
durch befeitigt, Fünftliche gefchaffen. Die Kern- Provinzen Preußens vermiffen vielfach die 
einfachſten und nothwendigften Verbindungen mit den Küften, die preußifchen Oftfechäfen 
Iafien jehr viel zu wünfchen übrig; die meiften und älteften unferer Eifenbahnen laufen 
in das tiefe Binnenland aus; die Landwirthſchaft ift nicht den Erwartungen entjprechend 
geftiegen; die Gapitalien find ihr in Folge unferer künſtlichen Handelspolitik entfremdet 
und den Babtifen zugewendet. (Meitered darüber ſ. unter Zollverein.) 

Eine beachtungdwerthe Stimme äußerte vor Kurzem über diefen hochwichtigen 

‚ Segenftand in der „Berliner Revue” u. U. Folgendes: 

„Man achtete im Zollverein überhaupt die Urproduction für viel geringer alö 
die Kunftproduction, indbefondere ald die technifchen Gewerbe, und war daher in ber 
Anlage der Communicationsmittel mehr auf dieſe als auf jene bedacht, alfo mehr auf 
Landſtraßen als auf Waflerftraßen. Diefe letzteren find aber für ben Transport majliger 
Artifel am wichtigften, und immer die vornehmjten Hebel der Seefchifffahrt geweſen, 
wie die Erfahrung lehrt. Denn darım hat man früher in Holland, dann in England 
und fpäter in Nord» Amerika jo große Anjtrengungen auf den Ganalbau verwandt. 
Auch wäre es irrig, zu glauben, daß Ganäle in Zukunft durch die Eifenbahnen über- 
flüjjtg werden würden. Dafür jpricht das Beiſpiel der fo fehr praftifchen Nordameri⸗ 
kaner, die durch den Eifenbahnbau fich keinesweges vom Canalbau abhalten laſſen, und 
deren Handel noch Heute von dem Erie⸗Canal mehr Nutzen zieht, ald von irgend einer 
Eifenbahn. Bei uns hingegen bat man feit lange nur geringen Werth auf Canal 
bauten gelegt, welche der große Friedrich fo wohl zu fchägen mußte, und ein Blick 
auf die Landkarte zeigt, daß unfere inneren Waſſer⸗Communicationen noch durch fehr 
wefentliche Zwijchenglieder verbeffert werben könnten. 

„Deögleichen zeigt ein Blick auf Die Landkarte, daß unfere Eifenbahnen vorzugsweile 

“zur Verbindung von Binnenpläben beftimmt find. Hätten wir hingegen ein maritimed 
Handeläfpftem, fo würden auch unjere Eijenbahnen vorzugsweife nach den Seehäfen 
gerichtet fein, was aber jo wenig der Fall ift, daß Häfen wie Stealfund, Koͤnigsberg 
und Memel noch heute Durch feinen Schlenenweg niit ihrem Hinterlande verbunden find.“ 


Abſchat. _ 467 

Und an einer andern Stelle: „Preußen, aber auch der ganze Zollverein hätten 
Veranlaſſung gehabt, vorzugsweije auf den Seehandel Werth zu legen, weil ihm ja 
ſelbſt nur die Seefeite offen war. Denn feine Weſtgrenze war durch das franzdjijche 
Probibitivfpftem fo gut wie geſperrt, die Oſt⸗- und Südgrenze nicht minder, Da Der 
ruſſiſche wie der üfterreichifche Tarif bi3 noch vor Kurzem ebenfalld probibitorifch waren. 
Man follte meinen, unter folchen Umſtänden hätte der Zollverein feine Blicke vorzugs⸗ 
weiſe auf die See richten müſſen, da feine Kandgrenzen, wie gefagt, faft überall gefperrt 
waren. Aber im Gegentheil, man ging nur auf Binnenbandel aus, und anitatt ſich 
nach der See hinzuwenden, welche und mit der ganzen Welt verbindet, vertiefte man 
Ah nur um fo mehr in das Syſtem de3 Binnenhandeld und erwartete alles Heil von 
einer Ermeiterung des Zollgebietes- durch den Beitritt Defterreich8 zum Zollverein. 

„So find denn die mitteleuropäifchen Projecte, en vogue gefonmen, und wir 
follen unfer Huandelsfpftem danach abmeffen, daß es fo viel ald möglich dem öſterreichi⸗ 
ſchen conjorm wird, d. h. wir follen dem Meere den Rücken zudrehen und und zum 
Scleppträger eined großen Binnenlandes machen. Oder wie könnte es wohl anders 
fein? Denn e3 ift ja Klar, wenn doch Alles auf Binnenbandel binausläuft, fo ift 
Oeſterreich ein größered Gebiet als der geſammte gegenwärtige Zollverein, und der 
Schwerpunkt des Ganzen müßte dann nach Oeſterreich fallen. 

„Das ift die Confequenz des Zollvereinsſyſtems, und das ift die PBerfpective 
feiner Zukunft. \ 

„Han faſſe dieſe Perſpective in's Auge, um fich dann die Frage zu ftellen, ob 
es wohl in der ganzen Weltgefchichte jemals erhört ift, Daß ein Binnenland ein com⸗ 
mercielfeö Uebergewicht erlangte, oder ob ed nicht immer und ewig die Küftenländer 
waren, welche in der Handelswelt berrfchten? Und jet will man den Norddeutſchen 
einreden, Daß fe die unermeßlichen Bortheile, welche ihnen ihre maritine Tage Darbietet, 
für wichtd achten follten, um fich dafür zum Nachtrab eines großen Binnenlandes zu 
machen, — dieſelben Norddeutichen, deren Ahnen zur Zeit der Hanfa mit ihren Flotten 
Die Meere bedeckten.“ 

Bon Herzen flimmen wir übrigens in den Wunfch jenes Artifeld ein, daß eine 
norddeutſche Hanfa neu entſtehen möchte. 

nAuf der Hanfa beruhte die commercielle Größe Norddeutſchlands, und gedenken 
wir je wieder zu einer commerciellen Größe zu gelangen, jo müfſen wir eine neue 
Hanſa fliften, d. 5. einen norddeutſchen Handelsbund, in welchem 
Preußen feine natürliche Stellung finden wird." (Berl. Revue Br. 13 
©. 526.) 

Abſchatz. Die von Abſchatz gehörten zu den älteften Gefchlechtern in Nieder- 
ſchleſien, fochten bereit3 in der Tartarenfchlacht und befleiveten die höchſten Ehrenftellen. 
an den Höfen der Piaftifchen Herzöge in Schlefien. Ihre Stammbäufer find Kummer 
nid und Nüftern bei Liegnitz. Die Freiherrenwürde brachte Hans Apmann von Ab- 
ſchatz 1695 an- fein Haus. Das Wappen der Abfchaße zeigt Kopf und Hals eined 
ſchwarzen Elennthleres im fllbernen Felde; auf dem Helm erfcheint das Geweih des 
Elenn; Helmdeden ſchwarz und filbern. In der preußifchen Armee haben mehrere 
Freiherren von Abſchatz gedient, Einer derſelben blieb bei Hochkirch; das edle Ger 
ſchlecht iſt zu Anfang diefes Jahrhunderts ausgegangen. Hand Abmann, oder 
Erasmus von Abſchatz, der die Kreiberrenwürde an fein Haus brachte, war am 
4. Februar 1646 anf Dem mütterlichden Gute Wirrwitz bei Breslau geboren, er genoß 
einer treffligen Erziehung und machte in jungen Jahren jchon die damals erforderliche 
Gavaliestour durch Italien, Frankreich, Holland und England. Nach der Rückkehr 
von dieſer Neife lebte er, mit Kunit und Wiflenfchaft bejchäftigt, auf feinen Gütern, 
His ihn das Vertzauen feiner Mitftände, nach dem Tode des letzten Piaftenherzogs 
von Brieg, nach Wien fandte; dort gewann er Kaifer Leopold's I. befondere Gunft, 
wurde kaiſerlicher Statthalter von Brieg und am 15. Auguft 1695 mit feinem Bruder 
Johann Georg han Abſchatz in den Freiherrenſtand erhoben. Er jtarb am 22. April 
1699 zu Liegnig, drei Söhne hinterlaffend. Abſchatz hat im der deutfchen Literatur 
einem nicht unebrenyollen Platz bis heute behauptet; zwar find feine Gedichte nicht frei 
von dem Schwulft und der frofligen Webertreibung, die man der zweiten fehlefljchen 





168 Abſchaͤtzung. 


Dichterſchule, zu der er gerechnet wird, zum Vorwurfe macht, dennoch aber zeigt ſich, 
namentlich in den ſpruchartigen Sinngedichten, ein fo tüchtiger, deutſcher Mannesſinn, 
daß manches Stück von ihm noch heute genießbar if. Am naͤchſten ſteht Abſchatz 
feinem trefflichen fchlefifchen Landsmanne und Nachbar Friedrich Freiherrn von Logau, 
wenn er auch deflen Bedeutung nicht hat. Lange Zeit binduch war Die Ueberjegung 
des Paſtor Fido yon Abſchatz beſonders gefhäßt. Die gefammelten poetifchen Werke 
des Freiherrn von Abſchatz gab Ehriftian Gryphius fünf Jahre nad) deilen Tode her» 
aus, fie erfchienen in Bredlau und Leipzig, 1704. | 

Abihäkung (rei aestimatio) ift ein im Nechtögebiet häufig vorfommenves Mittel 
zur Feſtſtellung des Werths von Sachen und Rechten. Mehr factiſcher als rechtlicher 
Natur, ftebt fie ohne Syſtem da. Das Necht des Beſitzes in feinen obligatorifchen 
Beziehungen, und namentlich die Endigung des Beflges, führt eine Menge von Rechts⸗ 
verhältniffen herbei, in welchen zwifchen den Betheiligten die Frage über Die Werthe- 
verbeflerung oder Verringerung von Wichtigkeit wird. So bei der Pacht, bei der 
Miethe im Pfand» und im Lehnrecht. In all diefen Fällen würden ohne eine von 
Sachverftändigen vorgenommene Abfchägung die Differenzen zwifchen Beſitzvorgänger 
und Nachfolger unlösbar fein. 

Mer gegen Bfandficherheit Darlehn giebt oder wer eine Sache gegen Waflerd- 
oder Feuersgefahr verfichert, überzeugt fich gern durch Abfchägung der zu verpfänden- 
den, reſp. der zu verfichernden Sache, ob ihr Werth diejenigen Garantieen bietet, welche 
ihm für den Erfolg des Nechtögefhäfts nothwendig erfcheinen. 

Im vömifhen Recht war Die aestimatio von befonderer Wichtigkeit bei den 
Dotatverbältniffen. Die dos (Mitgift) Eonnte mit einem Werthanfchlag der Sachen, 
aus denen fle beftand, gegeben werben. Hierbei waren zweierlei Motive denkbar; ent- 
weder die Abfchägung geſchah, damit der Ehemann fpäter bei eintretender Reſtitution, 
fall8 er nicht im Stande war, die dos in natura herauszugeben, den Werth nach der 
Tare erſetzte (dos taxationis causa aestimata) oder die Abfchägung diente zur Normirung 
des Kaufpreifes, welchen der reftitutionspflichtige Ehemann, welcher nun ald Käufer ange 
ſehen wurde, fpäter an die Berechtigten zahlen mußte (dos venditionis causa aestimata). 

Einer befonderen Erwähnung bedarf die gerichtlihe Abſchätzung von Grund» 
flüden. Sie wird vom Gericht angeordnet und geleitet, und kann ald Act der frei- 
willigen Gerichtsbarkeit von jedem Grundftüdbeliger erbeten werden. Borgefchrieben 
ift fie nach den meiften deutſchen Particularrechten bei der gerichtlichen Verſteigerung 
von Grundftüden. In Preußen wird fie nach oben bin durch die Concurrenz von 
Pfandbriefen, nach unten bin durch einen vorausfichtlich geringen Werthöbetrag begrenzt. 
In dem einen Fall tritt an die Stelle des richterlichen Commiffard die betreffende 
Ereditdirection, in dem andern Fall dad Dorfgericht oder ein vereideter Tarator. 

Wenn die Subhaftation eines Grundftüdes Schulden halber beantragt iſt, fo 
fegt der Richter einen Termin zur gerichtlichen Abſchätzung an Ort und Stelle an. 
Dort gefchieht vor dem Michter durch zwei vorgeladene Sachverfländige nach den lan 
desühblichen Tarprincipien Die Abfchägung, ein Act, bei dem der Nichter kaum mehr 
als eine controlirende und legaliſirende Nolle fpiel. Gegen diefe Abfhägung darf 
dann der Befiger und die übrigen Intereflenten der Subbaftation bis 4 Wochen vor 
dem Bietungdtermin Erinnerungen anbringen, die den Richter zu einer näheren Unter⸗ 
fuchung, reſp. zur Abhülfe etwaiger Mängel veranlaffen Fönnen. 

Diefe Subhaftationdtare bezweckt übrigens nur die Information der Kaufluftigen 
und foll allen Betheiligten zur Anleitung dienen, fich über Werth, Umfang und Be 
fchaffenheit des Grundſtücks zu orientiren. Diefer rein formellen Bedeutung entfpricht 
auch die Beſtimmung, daß für den Inhalt der Tare feinerlei Vertretung ftattfindet, derge⸗ 
ftalt, Daß weder der Käufer für die Rubriken oder Anfchläge Gewährleiftung fordern, noch 
der Subhaftat Bertinenzftüdke, welche nicht mit abgefchäßt find, vorenthalten darf. Nur dab 
gänzliche Fehlen der Tare, nicht einzelne Mängel, vernichten das Verfahren. 

Das franzöftfche Recht Fennt Die Abfchägung im Subhaftationsverfahren nicht. 
(S. übrigens Snbhaftation.) 

Ueber die im öffentlichen Hecht vorfommenden Abfchägungen f. Die Artikel Erpro⸗ 
priation, Einkommenſtener, Grundftener. 





Abſchaͤtung. Abſchichtung. 169 


Abſchaͤttimmg. (Forſtw.) Der Wald ift im Laufe der Jahrhunderte langfamen, aber 
ſicheren Schritte in die Meihe der Vermögensflüde eingetreten, deren Werth ihr Beſitzer 
ald bedeutend genug erkennt, um fle mit allen Kräften gegen Störung und Beichädigung 
jeglicher Art zu fchügen, um alle Nechte, die mit ihnen zufammenbängen, mit Energie 
' m vindieiren, um endlich feiner Seits Alles zu thun, was ihm ihren dauernden gleich» 
bleibenden Beſitz ſicher.. Das Bemußtfein des Volkes ift Iängft aus jenem Traum 
erwacht, der ihm den Wald als Jedermanns Gottgegebenes Eigenthum zeigte und wenn 
auch die weiſe Geſetzgebung mit Recht dem Gefühle des Volkes, daß eine Verlegung 
des Waldeigenthums nicht das Entehrende eines Angriffe auf alles andere Privatver- 
mögen bat, Nechnung trägt, fo weiß Doch heute der Mheinländer fo gut wie der Kaſſube, 
daß eine ſolche Verlegung vorliegt und daß dem Holzdiebftabl Die wenn auch mildere, Doch 
gerechte Strafe ficher ift. Daſſelbe Gefühl aber, dad den Walbbeftger zur Wahrung feiner 
Rechte den erfolgreichen Kampf gegen VBorurtheile unternehmen ließ, zeigte ihm auch, 
was er zu thun babe, um fich die Früchte feines Beſitzes zu fichern. Es genügte ihm 
nicht mehr zu wiffen, daß er bejaß, er mollte auch wiffen, was er befaß. Und wo 
biefed Bewußtſein fich nicht von felbft einftellte, da that es die Nothwendigkeit, bie 
mit zwingendem Ernſt an ihn Herantrat und ihm klar machte, daß ein noch fo großer 
Waldbefig‘ der Zerftörung anheimfallen: muß, wenn nicht pflegliche Behandlung und eine 
auf Nachhaltigkeit baſirte Wirthfchaft ihr gegenübertreten. So entwidelte fi die Forft- 
wirtsfchaft mit ihren mannigfaltigen Zweigen, fo bildete ſich namentlich die Lehre von 
der Abſchätzung der Wälder, das ift die Lehre von der Ermittelung und Sicher 
Rellung des nachhaltigen Abgabefages, den ein Wald zu leiften vermag. 

Meich war das Feld, das fich bier für den denkenden Forſtmann eröffnete, mannig- 
- faltig ſind die Wege, die er einfchlug, um zum Ziele zu gelangen. Bon der einfachen 
Anwendung der Divijton, welche die Größe der waldbeſtandenen Fläche und die Zahl 
dr Jahre, welche der Baum gebraucht um nußbar zu werden, zu Bartoren nehmen, 
ion im 14. Jahrhundert dem Walde von Montenai bei Venedig eine nachhaltige 
Benutzung ficherte, durch die Beſtrebungen deutſcher Forſtmaͤnner hindurch, die bald 
die Güte des Bodens als dritten Factor aufnahmen, bald in der reinen Theilung der 
Summe des nutzbaren Holzes durch die Zahl der Jahre der Umtriebszeit die Nach⸗ 
haltigkeit geſchützt jaben, bat ſich für unſere Zeit eine Taxations⸗-Wiſſenſchaft heraus⸗ 
gebildet, die als den Kern der Sache an die Spitze jeder Abſchaͤtzung einen nach den 
Regeln der Forſtwirthſchaft entworfenen Wirthſchaftsplan ſtellt, die, wenn ſie auch nicht 
mehr in der Gründlichfeit eines preußiſchen Taxators, der die Beſtands⸗Verſchiedenheiten 
durch Umziehung mit Bindfaden und durch verfchiedenartig gefärbte Pflöcde bezeichnet 
wiffen wollte, ihr Heil ſucht, doch mit großer Genauigkeit die Maffenermittelung der 
einzelnen Alteröflaffen in ihre Vorarbeiten aufgenommen bat, bie endlich der eigentlichen 
Abſchatzung die gründliche geometrifche Meffung und Eintheilung des Waldes vorausfchidt. 

So iſt die heutige preußifche Taration eine Methode, die in dem Bemußtfein, 
daß es nicht ausführbar fei, alle Beträge des ganzen Umtriebes ſchon im Voraus fidher 
angeben zu fönnen, ſich damit begnügt, den Zuftand, in welchen der Walb gebracht 
werden foll, im Allgemeinen zu beftimmen, danach die Flächen auf die verfchiebenen 
Zeitabſchnitte (Faͤcher) fo zu vertbeilen, daß die Herftellung einer Beftandes - Orbnung 
in ficherer Ausficht ift, ebenfo den Gefammt-Ertrag des Umtriebes mehr gutachtlich zu 
beſtimmen und ſich mit der fpeciellen Etats⸗Beſtimmung, fo wie mit den zu gebenden 
Betriebs⸗Vorſchriften auf Die nächfte Zeit zu befchränken, dagegen die ganze Taration 
von Zeit zu Zeit im Wege der Reviſion zu wiederholen und immer wieder den Etat 
nach dem jedesmaligen Zuftande des Waldes neu zu regeln und Die nöthigen Betrlebs⸗ 
Vorſchriften zu geben. 

Veber die Principien der inhaltvollen Frage vom Wald» Eigentbum und deſſen 
Sicherung, für deren Löfung die Tarationd - Wiffenfchaft ein mitwirkendes gemwichtiges 
Moment ift, vergleiche man die Artikel Forſtwirthſchaft und Wald. 

Abſchichtung von Kindern!) ift ein Häufig vorkommendes und je nach den 
verſchiedenen — 5*— Beſtimmungen über das eheliche Güterrecht verſchieden ſich ge⸗ 


— — — 


Die Literatur hierüber ſ. bei Ch. 2. Runde, ee eheliches Guͤterrecht $ 112 
v. Be er, Syſtem bes deutſchen Privatrechts SS 225— 239. ah 9 f. 


m 0 Abſchoß. 


ſtaltendes deutſchrechtliches Verhaͤltniß. Die ehelichen Guͤterverhaͤltniſſe, wie Re während 
des Beſtehens einer Ehe im einzelnen Hall geſetzlich oder vertragsmäßig beſtimmt find, 
werben oft, einer alten deutfchen Sitte gemäß, auch trog der durch Tod des einen 
Ehegatten erfolgten Auflöjung der Ehe, zwifchen dem Ueberlebenden und ven aus ver 
Ehe hervorgegangenen Kindern beibehalten und fortgefegt. Das Verhaͤltniß des über- 
lebenden Ehegatten zu dem gemeinfamen Vermögen bleibt dann in fofern daflelbe, ale 
ihm fortan gerade diefelben echte, wie während der Ehe, anı Vermögen zuſtehen. — 
Diefe Fortſetzung des ehelichen Güterverhältnifjes, tro Auflöfung der Che, kann nun 
aber unter Umftänden beendet werben dur den Antrag der Kinder, bezw. 
ihrer Bormünder auf Abfhihtung oder Theilung. .Die Unftände, die 
fie hierzu berechtigen, find zwar von den deutſchen Partifularrechten nicht immer gleich⸗ 


mäßig beftimmt, als vegelmäßig von denjelben anerkannte Gründe, eine AUbfchichtung 
zu verlangen, gelten indeß: 1) die Wiederverheirathbung des überlebenden 
Ehegatten; 2) Berfhmwendung oder Unfähigkeit deffelben, Dad ger 


meinfame Bermögen gehörig zu verwalten; 3) Großjährigfeit. 


Bei der in einem folchen Fall vorgenommenen Abjonderung des Vermögens, 


welche rechtlich als eine verfpätete, beim Tode des einen Ehegatten nur aufgefchobene 


zu betrachten ift "), beflimmen fich die Vermögenstheile der abzufchichtennen Kinder 


nad dem ihnen an dem Vermögen des (resp. der) Verſtorbenen zuftehenden Erbrechte. 


Die Art und Ausdehnung dieſes Erbrechts muß .fih aus dem im einzelnen Fall zur | 


Geltung fommenden ehelichen Güterrechte ergeben. Hier geben denn oft Beflimaumgen 
den Maßſtab, die eben fo verfchiedenartig und unter einander abweichend find, als bie 
ehelichen Süterrechte jelhft (ſ. dieſen Artikel) in den einzelnen deutſchen Ländern und 


Randestheilen. So follen 3. ®. nach vielen Statuten bei der Abjonderung aus ber 


fortgefegten Gütergemeinfchaft die abgefchichteten Kinder ald völlig abgefunden 
betrachtet werben, fo zwar, daß ihnen, falls der Ueberlebende Kinder aus der zweiten 
She bat, nicht einmal ein Pflichttheilsrecht mehr gegen diefe zuftehen foll.2) Häufig 
wird es auch dem lieberlebenden geftattet, um eine Realtheilung zu vermeiden, fich nur 
zum Schuldner für bie Abſchichtungs ſumme zu bekennen: ſog. Aus—⸗ 
ſpruch.) 

Wenn wegen Großjährigfeit geſchichtet wird, ſo kann es vorkommen, daß die 
übrigen noch minderjährigen Kinder in dem alten Verhältniß bleiben. Die abge 
Schichteten Kinder kommen bei einer fpäteren Theilung nicht mehr in Betracht. 

Dad Gegentheil der Abfchichtung wegen Wiederverheirathung des überlebenden 
Ehegatten ift im Erfolge und der Wirfung nach die fog. Einfindfchaft — unio pre 
lium. (©. daſ.) — Das Charafteriftifche derſelben ift die Gleichftellung per Bor 
und Nachkinder rüdfichtlich des Inteſtat⸗Erbrechts. 

Abſchoß (gabella hereditaria) ift eine nach Quoten erhobene Abgabe, melde ſich 
der Staat von demjenigen Bermögen eines Zandedeinwohners zahlen laßt, welches 
durch Erbgang aus feinem Gebiet ins Ausland gebt. So wie im älteften römifegen 
Erbrecht jener Nichtrömer, fo war auch nach Deutfchrechtlichen Begriffen noch im Wit 
telalter jeder Fremde ohne alle Exrbesfähigkeit. Vielmehr wurden die im Lane verflor- 
benen Fremden nach dem jus albinagii (alibi natus) oder droit d’aubaine vom #i#- 
cus heerbt, und erhielten erft dann eine rechtliche Eriftenz, wenn fie fi in den Schutz 
irgend eined Territorialheren begaben. Starb der Schügling in einem ſolchen KHörige 
feitäverbältniß, fo hatten feine Verwandten das Recht, ven Nachlaß durch eine Abgabe, 

gewöhnlich Yo, oft auch Yo des Betrages von dem Landesherrn einzulöfen, Diele 
Erbfhnftöhener wurde zur Megel, nachdem Friedrich I. im Sabre 1220 durch bie 
authentica omnes peregrini das jus albinagii (auch Wildfangdrecht) aufgehoben. 
Auch in das preußifche Landrecht ift der Abſchoß aufgenommen (Tit. 17, Th. I, 
6 161 sq.) und fogar auf Brautſchaͤtze und Schenkungen aller Art angewandt. 


7 10 Sacfenfvisgel, Bud 1., Art. 20, $ 3, Art. 11. 

) Ch Runde, a. a. O. 8 119. v. Gerber, a. a. D., $ 236, Note 1%. Fichhorn, 
@infeitung i in das beutfche Privatrecht $ 317. 

ya Lübifches neh, H., 2, 31. — Hamburger Stabteedht, IH., 4, 4. v. Ger: 
der, l. $ 236, Note 11. | 











Abſchreenng. Abſerbarleit der Beamten. m 


Unter den deutfchen Bunbedftanten ift der Abſchoß Durch Die Bundesacte vom 
8. Juni 1815 aufgehoben. In Preußen ift der Abfchoß fremden (nicht bundesfteund- 
lihen) Staaten gegenüber nach Beflimmung-der A. C.⸗O. vom 11. April 1822 nur 


woch als Retorſtonsmaßregel zuläjfig. 


Abſchredung iſt jede durch Drohung eines künftigen Uebels beabſichtigte Abhal⸗ 
tung einer Perſon von einer gewiſſen That. Die Abſchreckung wurde namentlich früher 
von Vielen mit Unrecht als Zweck der Strafe hingeſtellt. Zuerſt gründete Feuerbach 
auf das Princip der Abſchreckung ſeine pſychologiſche Zwangstheorie. Er ging naͤmlich 
von der Anſicht aus, daß, da der phyſiſche Zwang weder zur Verhinderung, noch zur 
gerechten Ahndung von Verbrechen ausreiche, Verbrechen aber im Staate überhaupt 
nicht vorkommen müßten, ein ſtets reger pſychologiſcher Zwang nothwendig ſei, um von 
der Verletzung der Rechtsordnung abzuhalten, m. a. W. es müſſe der ſinnliche Reiz 
zu Verbrechen bei Jedem dadurch aufgehoben werden, daß er vermöge der geſetzlichen 
Strafandrohung wiſſe, dem Verbrechen werde unvermeidlich ein Uebel folgen, welches 
größer iſt als die Unluſt, Die aus der Nichtbefriedigung des Reizes zum Verbrechen 
hervorgeht. — S. das Naͤhere unter dem Artikel Straftheorien. — 

Abſchwören Heißt die Wahrheit einer beſtimmten vom Proceßgegner behaupteten 
Thatſache eidlich ablehnen. Leber die verfÄjiedenen Arten der Proceßeide, und inwieweit 
fe unter Die obige Begriffsbeflimmung fallen |. Eid. 

Bemerkenswerth ift die Bedeutung des Wortes in der Volksſprache. Der gemeine 
Bann verfteht darunter felten etwas Anderes als das meineivige Abſchwoͤren der Wahrheit. 

Das alte deutſche Eriminalrecht geftattete unter Umftänden bei unvollftändigem 
Beweiſe dem Inquifiten, fih von dem auf ihn ruhenden Verdacht durch einen fog. 
Reinigungßeid zu befreien. Lieber die Verwerflichkeit dieſes Reinigungseides (h dieſes) 
herrſcht unge fein Zweifel mehr. 

Abſchwörung, kirchliche, ift die eivliche Entfagung des Meligiond - Befenutniffes, 
oder des Heidenthums in früherer Zeit, oder einer von der Kirche verworfenen Ierlehre. 
Doch verlangt, waß insbeſondere den Uebertritt betrifft, nur die katholiſche Kirche eine 
eigentliche abjuralio haeresis in der Regel; die proteſtantiſche Kirche egehrt neben dem 
freien Entſchluß und Unterricht bloß das Glaubensbekenntniß. 

Abſeiſſe ſ. Coordinaten. 

eee der Veamten. Es iſt nur ein ſcheinbarer Widerſpruch, wenn der 
mit der Napoleoniſchen Wiſſenſchaft in Confliet gerathene Profeſſor an der Sorbonne 
zu Paris, Herr Saint Marc Girardin, ſich kürzlich auf feinem Katheder dahin aus⸗ 
ſprach, daß er feine unabhängige Stellung als Mann der Wiſſenſchaft früher aus dem 
Bewußtjein feiner Unabſetzbarkeit gefchäpft habe, feit dem Jahre 1852 aber gerade auf 
die Thatfache feiner Abfepbarkfeit gründe. Nur ein feheinbarer Widerfprud jagen wir, 
ebenfo wie e8 fein wirklicher Gegenſatz tft, feine Unabhängigkeit heute in einer äußerlich 
und materiell geficherten Eriftenz, morgen in innerer Selbfigenügfamkeit und Bedürfniß⸗ 
leſigkeit, ja felbft in ver Breude des Maͤrtyrerthums zu finden. 

Zu bedauern ift nur, daß dieſe Auffaffung der Unabhängigkeit Keine fehr weit 
verbreitete iſt und Daß indbefondere das Beamtenthum des conftitutionellen und abſoluti⸗ 
ſtiſchen Staates anftatt nach dem Vorbilde des Parifer Profefiors jeine Unabhängigkeit 
in feiner Abjegbarkeit zu fuchen, das beißt anftatt das Amt mit der Perfon zu decken, 
die Theorie erfunden bat, die Perſon mit ihren Fleinen Freuden und Leiden unter den 
Schutz des Amtes zu flellen und dadurch den Staatödienft und dad damit verbundene 
Einkommen, analog den jchlimmften Ausartungen ded Feudalismus, gewifiermaßen in 
ein Private Hecht und Privat- Vermögen zu verwandeln. 

„Niemand bat — wie ſelbſt Dahlmann anerkennt — ein Privat⸗Mecht darauf, 
dem Stanie ſchlechte Dienfte zu leiften“, und wie bie Berufung, jo muß auch die Ente 
fenung der Beamien dem Souverain vermöge der Einheit der Staatögewalt unkehingt 
juftchen. „Der Spuverain muß — wie Stahl fehr richtig bemerkt — freie Gewalt 
haben, den "Beamten zu verfegen, ihn der Function zu entheben, in Ruheſtand zu feßen, 
ia feloft einen beftimmten Theil der Einnahme ihm für diefen Fall zu entziehen. Be⸗ 
ſteht die Unentfernbarkeit in der Ausdehnung, dag ohne Schuld und Michterfpruch der 
Beamte nicht verjegt, nicht von den Gefchäften befeitigt werden, keinen Theil feines 








188  Wfokutlon. Abſolntiamus. 


Einkommens verlieren kann, fo iſt einmal keine Hülfe gegen Unfähigkeit oder doch nicht 
gegen Mittelmäßigleit der Beamten, dann aber find die mittleren und unteren Stellen 
immer in der Lage, die Abfichten der Central⸗Regierung zu vereiteln, wäre es aud 
nur durch energielofe Vollziehung, denn wie läßt fich darüber ein Proceß, wäre es auch 
nar ein dißciplinarer, durchführen?!) Da ift jedes Amt eine unüberwindliche Burg, dem 
Souverain zu troßgen, ähnlich wie ehedem die Bafallen. ine Beamtenftellung dieſer 
Art ift auch bis jetzt in der Gefchichte nicht dagewefen. Nach älterer deutſcher Ein- 
richtung konnten Die Aemter auf Kündigung oder unauffündbar verliehen werden, je 
nachdem ſich der Fürft dazu verftand; aber auch bei unaufkündbarer Verleihung hatte 
der Beamte nur ein Mecht gegen Entziehung feines Gehalte und gegen unebrenvolle 
Entlaffung, nicht aber gegen beliebige Entlaffung überhaupt, das ift unzweifelhaft nad 
den reichögerichtlichen Erfenntniffen. Nach der franzöflichen (gewiffermaßen auch nad 
der- englifchen) Einrichtung find die Beamten völlig nad Belieben zu entfernen. 
Vollends eine politifche Monftrofttät ift e8, folchen abfolut unentfernbaren Beamten 
auch noch den unverhinderlichen Eintritt in die Kammern zu fichern. Das beißt in 
der Verwaltung felbft eine Oppofition gegen die Verwaltung errichten, die fle neutra⸗ 
liſirt, und die Beamtenherrfchaft, die man durch flänvifches Wefen ermäßigen will, in 
einer anderen viel bedenklicheren Weife wiederbringen. “ 

Sehr lehrreich und ſalbungsvoll weiß der liberale deutſche Profeffor darauf 
hinzuweifen, daß die Lebenslänglichkeit und Erblichkeit der Lehne und damit der Staatd- 
Aemter das Königthum geſchwächt und befeitigt, das Volk feiner Selbftregierung beraubt 
und zu Hinterfaflen der Amts-Inhaber berabgebrüdt hat; warum ift er fo kurz von 
Begriffen, wenn wir ihn darauf binweifen, daß Die Unabfegbarkeit, das Kaftenweien 
und der Nepotismud ded Beamtentbumd in ihrem Grunde und in ihren Wirfungen 
daffelbe find, wa8 jene Ausartungen der Feudalität?“ (Vergl. im Uebrigen die Artikel 
Beamtenthum, Bureanfratie und Stantädienft.) 

—8 — von der Inſtanz, ſ. Ab instantia. 

Abſolution, kirchliche, |. Beichte. 

Abſolutismus.“) Abſolut im vollen Sinne des Wortes ift das von allen Be- 
dingungen und Befchränktungen Losgelöfete, dad Unbedingte, Unbeſchraͤnkte, Unbegrenzte. 
Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mängel, ohne Schwächen, ohne Schranfen, ohne 
Schwanken. Abfolut in Diefem ‚Sinne ift nur Gott, die Gewalt und das Recht 
Gottes. — 

In der Staatsrechts⸗Lehre verſteht man unter abſoluter Gewalt oder „Abſolu⸗ 
tismus“ die Unbeſchraͤnktheit der Herrſchergewalt und folgeweiſe unter abſoluter 
Monarchie im techniſchen Sinne diejenige, in welcher die öffentliche Ordnung (Ge⸗ 
ſetzgebung und Staatshaushalt) allein vom Fürſten beſtimmt wird, ohne die Schranke 
und Garantie einer Landeövertretung, in welcher jedoch, indem die fürftliche Gewalt fi 
fetbft bindet, Immerhin firenge Beobachtung der erlaffenen Gefege, Unabhängigkeit der 
Gerichte und geficherte echte der Unterthanen beftehen Fünnen. Oder wie man es 
anderd audgebrüdt Hat, Abfolutismus ift die Alleinberrfchaft eines Einzigen 
oder Einzelnen, die, wenn fle auch, gleich jeder menfchlichen Herrfchaft, ihre natär- 
lichen rechtlichen und fittlichen Schranfen hat, doch durch Feine andere politiſche 
Gewalt befchränkt, begrenzt oder ermäßigt iſt. Im neuerer Zeit pflegt man dann no 
zweierlei Erſcheinungsformen berfelben zu unterfcheiden, vie abſolute Monarchie 
auf Grund der Legitimität oder die eigentliche abfolute Monarchie und bie 
abfolute Monarchie auf Grund der Revolution — den Imperialismus, eine 
Definition, die indeß den Kern nicht völlig treffen dürfte (f. Imperialismus). 

Gänzlich verſchieden von der abfoluten Monardjie find deshalb auch Die abfolu- 
tiftifche Monarchie: und die Despotie (f. diefen Artikel); erftere eine krankhafte 
Form des Wbfolutismus, letztere diefenige Ausartung der abfoluten Gewalt, in 
welcher nicht allein der Träger der Gewalt als unbefchränkt, fondern alle Anderen ale 


) Gin Beifpiel aus der neueren Zeit if die Vollziehung oder befjer Nichtvollziehung dee 
Concordats in Oeſterreich. | 
9% Die Detail diefer Frage werden wir unter Monarchie (abfolute) und unter ber 
politifhen Geſchichte der einzelnen Staaten behanbeln. 





| Abſolutiomus. 723 
unbedingt rechtlos behandelt werben, fo Daß die Anerkennung und Achtung bes 
Nechtes nicht als Pflicht, fondern lediglich als Willkür und Gnade erfcheint. 

Bekanntlich unterfcheidet fchon Ariftoteled die DVerfaffung der Staaten in ger 
srhnete (öpdat roArreim) und audgeartete oder Willfürs Herrfchaften 
(mapexßdosıc). Geordnet find diefenigen, in welchen fich der Herrfcher dad gemeine 
Defle (To xolvg ounugydpov) zur Aufgabe ftellt; ausgeartete oder Willkür⸗Herrſchaften 
biefenigen, in welchen die Herrſcher ihr eigenes Interefle zum Ausgangspunkt und 
Mapftab ihrer Negierungsthätigfeit machen. Der Abfolutismus, in fofern ev von ber 
Willfür-Herrichaft unterfchienen wird, ift eine geordnete, das Wohl der Megierten be- 
abfichtigende Negierungsthätigkeit, „allein da dem Herrſcher in der abfoluten Staatd- 
serfaffung feine äußere Schranfe entgegenfteht, jo ift er ſtets in Gefahr, zeitweilig oder 
dauernd in Despotismus zu verfallen.” 

Befchrankt kann nun aber die Megierungsgemwalt nach zwei Rückſichten jein: 1) im 
Bezug auf den Umfang der Herrfchergewalt, fo daß nur gemifle Berhältnifie der 
Anordnung der Staatögewalt unterliegen,- andere ihr in der Weife entzogen find, daß 
eine Einwirkung darauf die Zuftimmung derer erfordert, welche durch die Maßnahmen 
der Megierung betroffen werden; 2) in Bezug auf die Art der Ausübung der 
Staatshoheits⸗Rechte, fo Daß die Herricher in Betreff dieſer felbft an die Mitwirfung 
der Regierten gebunden find. | 

In den Staaten des Alterthums oder, genauer ausgebrüdt, in dem „antiken 
Staate* erſtreckte fich die Thätigkeit der Stantögewalt auf alle Verhältniffe der Un⸗ 
tertbanen. Es gab feinen Kreis von Berhältniffen, welcher der freien und eigenen 
Anorbnung der Individuen vorbehalten gewefen vwoare. Der Menfch ging vielmehr 
ganz im Staate auf. Die Meligion, die Wiflenichaft, die Kunft, die Wirthickaft, 
die Gefellichaft wurden vom Staate geregelt. Der Staat ordnete die Bell» Ber- 
haͤltniſſe nach freiem Ermeſſen. Er jchrieb jeinen Untertbanen vor, mit welchen 
Beichäftigungen fie ſich befallen durften und mit welchen nicht. Der Staat allein hatte . 
eine Religion, und die Unterthanen mußten glauben, was der Staat ald Glauben auf- 
ſtellte. Die Erziehung der Jugend behielt der Staat in feiner Hand, und ebenfo war 
das Leben der Erwachſenen bis auf den Gang über die Straße feiner Auflicht und 
Eontrole unterworfen. Kurz, Die Herrfchergewalt in den Staaten war in Bezug auf 
den Umfang ihrer Wirkfamkeit eine „abfolute”, obgleich freilich diefer „Abjolutismus* 
in den einzelnen Staaten mehr oder weniger ftraff angezogen war. 

Um fih nun vor der Willfür einer folchen unbefchränften Gewalt zu fchüßen, 
weldher Weg blieb den Regierten übrig, ald die Theilnahme an der Negierung, die 
Ritwirfung bei der Ausübung der Staatöhoheits-Nechte? Die Entwidelung der Staaten 
bes Alterthums befteht daher in dem Kampfe der Regierten, ſich eine Theilnahme an 
der Regierung und dadurch einen Schub gegen die Willfür der Herrſcher zu ver- 
ſchaffen. Daher offenbart fich bei allen DVerfaffungen der Staaten des Altertbums das 
Streken, ſich zunächſt zur Demokratie und dann folgemeife zum Defpotismus eines 
Alleinherrſchers auszubilden. Am regelmäßigften zeigt fich dieſer Entwidelungdgang in 
der Berfaffung des römifchen Staates, welche aus dem befchränften Königthum in die 
Ariftokratie, aus der Ariftokratie in die Demokratie, aus der Demokratie in die Ochlo⸗ 
kratie, aus der Dchlofratie in den Imperialismus überging. Die Staaten Griechen- 
lands haben im Wefentlichen venjelben Entwidelungsgang durchgemacht, wenngleich 
derfelbe nicht überall einen fo regelmäßigen Verlauf hatte und insbefondere an manchem 
Orte die Tyrannis mit der Demokratie abwechfelte. Ariftoteles hat bereits dieſes den 
Staaten des Alterthums inwohnende Entwidelungs-Gefet beobachtet; er konnte es aber 
nur bis zum Emporkommen der Demokratie verfolgen. Der Imperialiamus war erft 
bie Frucht der zu feiner Zeit beginnenden Entwickelungs⸗Epoche. 

Die Verfaſſung des antiken Staates war alfo der „Abfolutismus”, wenngleich 
dad Wort und der Begriff natürlich unbefannt waren, und zwar gewöhnlich gleich- 
mäßig unbefchräntt in Bezug auf Umfang wie auf Handhabung der Gewalt. 

Selbſtredend war dieſe Uebereinftimmung feine zufällige, fondern das nothwendige 
Egebniß der Thatfache, daß die heidniſche Staatögewalt keine andere Quelle bes 
Rechtes anerkannte und anerfennen konnte, als fich felbft, weshalb auf der einen Seite 


FA Aielntiemnd, 


alle Berdältniffe, die überhaupt rechtlich geordnet fein follten, durch poſttive Geſetze 
geregelt werden mußten, anderer Seits aber die Bürger unter einander und der Staats⸗ 
gewalt gegenüber keine weiterem Rechte hatten, als dieſelbe Stantögewalt ihnen beilegte 
mb zuerfannte. - 

- Bon einem „Rechte, dad mit dem Menjchen geboren wird,“ von einem echte, 
das da befteht über aller und unabhängig von aller Staatögewalt, von einer Beſchraͤn⸗ 
tung der Stantögewalt als folcher durch die Nechte der Bürger, von einer „Bes 
friedung“ gewiffer Nechtökreife der Perfon gegen die Action des Staate® war dem 
„antiken Staate”, war den Staaten ded Alterthums nichts bekannt. „Es war die 
Zeit, in welcher ein jedes Volk ald ein Ganzes und jeder Einzelne nur ale ein Theil 
diefed Ganzen obne jelbftftändiges Mecht auf Dafein und Wohljein betrachtet zu 
werden pflegte.“ 

Daß Recht des Einzelnen ging kaum meiter ald feine Theilnahme an der Hand⸗ 
habung der Gewalt, und diefe Theilnahme war fein höchites Recht; die Freiheit des 
Bürgerd beftand Feinesweged in feiner eigenen Unabhängigkeit oder gar in Der Bes 
fhränfung der Staatögewalt, fondern in ihrer Höchften Boten; darin, durch nichts 
Anderes, als durch die Staatögemalt, an welcher man felbft betheiligt war, beftimmt 
und geleitet zu werden. Ä | 

Was fi daraus für uns ergiebt, ift dreierlei: Einmal, daß die abfolute Mes 
sierung im allen HSerrfchaftöformen denkbar und möglich ift, daß es ebenſowohl eine - 
abfolute Demokratie und Ariftofratie geben Tann und gegeben bat, als eine 
abſolute Monarchie, und daß Daher nichts verfehrter ift, als abſolute Monarchie 
und Demokratie oder auch nur abfolute und conftitutionelle Monarchie als Begenfäge 
zu Behandeln. Die Erfahrung lehrt, daß die conftitutionellen Regierungen nicht felten 
die abfoluteften find, ja daß fich felbft der Imperialismus burch „conſtitutionelle Inſti⸗ 
tutionen“ noch zu kraͤftigen verfteht. 

Sodann, daß in dem Mafe, als der antike Begriff des Staates mit feiner Selbſt⸗ 
gerügfamkeit und Omnipotenz, mit feiner heidnifchen Anfchauung von der Bildung bed 
Rechtes Durch den Willen oder gar durch einen Nature Proceh der Völker zur Geltung 
fommt und in den Bewußtſein der Völker und Gefeßgeber der Glaube an ein objer- 
tives, über der Willkür der Menfchen ſtehendes Geſetz, als das Urbild der pofltiven 
Gefetzgebung der beſtimmten Volks» Inpividualität verfehwindet, — Daß in demſelben 
Maße Necht und Freiheit felten werden und nach der Weife des antifen Staates fortan 
nur noch in der Abforbirung jeder Herrfchaft und Schranke durch die Allgemalt ded 
Staates, in pofltiven Gefegen und in der Theilnahme an der Regierung gefucht und 
gefunden werden, 

Drittens, daß das Weſen und die Eigenthümlichkeiten des antiten Staates über- 
wiegend in den Voͤlkern und Gemeinweſen fiy erhalten haben und zur Erſcheinung 
fommen, durch die und in denen dad Altertbum in die neuere Zeit Hinüberragt, mil 
bin in den romanifchen und denjenigen Völkern, in denen der’ römifche Staatsbegriff 
ſchon in der vorchriftlichen Zeit eine Geſtalt gemonnen batte. 

Anders dagegen bei denjenigen Völkern, welche das Chriſtenthum noch im 
politiſchen Schlummer fand und welche erft durch die chriftliche Kirche zu Staaten 
und Völkern gefammelt und gebilpet wurden, inäbefondere bei den Bölfern germa- 
nifchen Stammes, Die, wie fonft Feines, fehon in ihrem Natur⸗Typus darauf ange 
legt waren, die Träger des chriftlichen Staatöbegriffed und der chriflichen Entwicke⸗ 
Img zu fein.- ' 

Begenüber der Idee des antiken Staates beruhte das germanifche Gemeinweſen 
auf dem entgegengefeßten Princip. Es ſchied einen Kreis von Verhaͤltniſſen aus, in 
welchen Die Individuen, Familien, Gemeinden und Gorporationen autonom waren und 
in welche die Herrfcher» Gewalt nur unter Mitwirtung und Zuftimmung der Regierten 
eingreifen konnte. Innerhalb der vorbehfiltenen Wirkungsfphäre hatten dann aber auch 
ihrerfeitö die Herrfcher Autonomie. Wir bemerken dies fehon in der Beſchreibung, 
weldde Taeitus (Gerin. c. 11.) von der Behandlung der öffentlichen Verhältniſſe giebt. 
Die Fürften oder Vorſtaͤnde, von denen er fpricht, obgleich fie vegelmäßig aus der Wahl 
der Volko⸗Verſammlung bervorgingen, handelten doch nicht als bloße Beauftragte 


Abelutiäunt RS 


ſondern batten eine ſelbſtſtändige Gewalt. Ueber die minder wichtigen Une 
enbrisen hatten fe das ausichliepliche Gutſcheidungsrecht. Tre wichtigeren wir Krieg 
Arieden, mußten allerdings vor die Bolle - Beriammlung gekracht werden, jedoch 
5 von dem Bolle nur die Anträge der Fürſten entweder durch Zujammenfchlagen 
Waſfen gebilligt oder dur Geräuſch abgelehnt wurden. Im Nebrigen war 
Sie Bebandlung biefer Berbältniiie Sache ter Kürften. 
Rec ſelbſiſtändiger trat die Regierumgägewalt feit der Niederlaſſung der Deutſchen 
Römerreicde auf. 
vom Reiche Der Franken jewobl während der Herrſchaft der Merovinger ale 
linger ud es nicht die Abgeordneten“ des Volkes, ſondern die weltlichen 
d. b. die großen Neichd- und Hof=- Beamten nebft den Bifchöfen, welche auf 
ihötagen erjcheinen und über die Reichs⸗Angelegenbeiten beratben und befchließen, 
icht als die Bormünder, ſondern ald die Rathgeber des Könige. Wahrend der Kebrnk 
ſchaft waren es ebenjo die mit der Ausübung ter Hoheitsrechte belebnten Vaſallen, 
welche der Lehnöberr zu der Berathung der öffentlichen Angelegenheiten berief. Aller⸗ 
vings blieb auch die Maſſe der Gemeinfreien nicht obne Mitwirkung auf die öffentlichen 
Berhältnifie, aber ſie machte fich nicht geltend, wenn es fih um Staats» Angeles 
genbeiten, ſondern wenn es fih um Volks⸗Angelegenheiten handelte, wie 
3. ®. wenn die Rechtsordnung verändert werden follte oder den Volke nene Laſten 
angejonnen wurden. Diefe Mitwirkung fand in dem alten Frankenreiche auf den Maͤrz⸗ 
und Nai⸗Feldern flat. Später wurden zu diefem Ende Abgeordnete des dritten Stan⸗ 
des zu den Reichs⸗ und Landtagen eingeladen. Während die vor« uud außergermaniſche 
Welt ein bürgerliche® Gemeinweſen nur innerbalb einer Stadt» Gemeinde darzuſtellen 
oerfland, war ed den gesmanifchen Völkern vorbehalten, in dem verrufenen Lehnoweſen 
des Mittelalterd zuerft die Aufgabe zu löfen, ein großes Gemeinweſen, eine ganze Nation 
zu einer politifchen Perjönlichkeit freiheitlich zu organiftren und diefe fchöpferifche Kraft 
auch auf franzdflichem, italienifchem und fpanifchem Boden in der Bildung des Lehns⸗ 
Staates wirfjam zu ermeifen. 

Mit der Einführung Des römifchen Rechts und in Folge der mit dem Studium 
veffelben in Zuſammenhang ftehbenden Wiederbelebung des Stubiums der Schriften ber 
Griechen und Römer, mit dem Wachsthum der römifchen Kirche drangen antik heid⸗ 
nifche und jubäiflrende Elemente und Anfchauungen auch in die germaniſchen Möller 
ein, bürgerte ſich allmälig auch bei den deutſchen Stämmen die Idee des antiten 
Staated ein. Die Zeitumfiände begünftigten dies, weil es als ein allgemeines Ent⸗ 
widelungd-®efeg in dem Plane der Vorſehung lag. 

Der germanifche Staatöbegriff, an fich dem echte und ber Freiheit des Einzel⸗ 
nen beſonders günftig, barg doc auf der anderen Seite die Gefahr, durch ungemeflene 
Steigerung der Autonomie dad Gemeinmefen felbft in einzelne Nechtöperfönlichkeiten 
aufzulöfen und zu zerreißen und bedurfte daher ald Ergänzung und Correctiv deſſen, 
was in dem antiken Staatöbegriff auch vom chriftliden Standpımfte aus von Wahr» 
beit zu finden war. 

„Die abjolute Monarchie auf Grund der Legitimität bezeichnet den Fortgang aus 
dem Mittelalter in Die neuere Weltepoche; ihre Gründung fallt in die Zeit kurz vor 
der Reformation und nach derfelben bis zum weftfäliichen Frieden. Es find das 
hauptſaͤchlich die fpanifch = Öfterreichifche, Die altfranzöſiſche, die Dänifche, die preußifche 
Monarchie. Als Ergebniß von Unrecht auf Seite der Stände und von Unrecht auf 
Seite der Fürften und gleichzeitig fich vollziehend in der mehr oder minder vollftänbigen 
Abjorbtion der kirchlichen Durch die weltliche Gewalt, bat fie doch zu ihrem welt» 
geichichtlichen Boweggrunde die Umbildung der Meiche aus der patrimonialen und fett» 
dalen in die flaatliche Form, aus zerftreuter autonomifcher in die einheitlich gefammelte 
Herrſchaft.“ (Stahl.) Ä 

Die Umgeflaltung des Kriegsweſens durch die Einführung des Schießgewehrds 
drangte den Reiterdienſt des Lehnsheeres in den Hintergrund und machte ihn bald 
überflüffig. Dad Kriegsheer murde ſtehend. Die zum Unterhaltung deſſelben nöthigen 
Ausgaben wurden (wenigſtens fcheinbar) dem Handel aufgelegt. Die Yarften wurden 
dadurch angewiefen, bie Mittel und Wege zur Belebung bes Handels und Verkehro 


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116 aAbbſolniemus 


aufzuſuchen. Die „Staatsſs wirthſchaft“ trat hervor und machte ſich bald die ge⸗ 
ſammten Volks⸗Intereſſen dienſtbar. Kunſt, Wiſſenſchaft und ſelbſt die Religion wur⸗ 
dean als Hebel zur Befoͤrderung derſelben betrachtet. Auf dieſen Wege kam man bald 

dahin, die Stantsgewalt als die alleinige Quelle aller Wohlfahrt zu betrachten. Nicht 
nur dad Wohl des Staates, fondern auch das Wohl der Privaten follte von ihr be- 
wirft werden. Sie follte den Staat mit einer genügenden Bevölkerung verfehen und 
für die materielle wie für die geiftige Wohlfahrt derfelben forgen. Kunſt und Wiflen- 


- Schaft, Gewerbe und Handel, Kandwirtbfchaft und Bergbau follte von ihr gepflegt wer . 


den. Sie übernahm nit dem rechtlichen Schuge der Perfon und des Eigenthums zus 
gleich die Fürſorge für dad Sanitätöwefen, fowie die Pflege der Armen: 

Um alle dieſe Dinge zur Ausführung zu bringen, hatte der Staat nicht nur ein 
umfaſſendes Beamten-Perjonal und große Einkünfte nöthig, jondern es mußte vor allen 
Dingen die Staatgewalt die Schranken entfernen, welche fich ihrer freien Wirkſamkeit 
entgegenftellten. Die Privilegien der Stände wurden daher aufgehoben oder man lieh 
fie nach und nach in Verfall geratben, die Autonomie der Gemeinden und Gorporatio- 
nen wurde befeitigt. Die Beamten des Staates nahmen die Leitung aller Verhaͤltniſſe 
in ihre Hand. Es fehlte zwar nicht an mehr oder weniger heftiger Oppofltion gegen 
dieſes Vorgehen der Staatögewalt, allein die döffentlihe Meinung war ihr günflig. 
Die ſtaatswiſſenſchaftlichen Schriftfteller (ef. Filmer, Boffuet, Wandelin) lehrten, daß 
die Staatsgewalt, um bie ihr geftellten Aufgaben löfen zu Eönnen, eine abfolute 
fein müfle und dieſe Anflcht vertraten nicht etwa bloß diejenigen, welche die monaxchiſche 
Berfaflung vertheidigten, ſondern felbft die Anhänger der bemofratifchen Republik, 
„Wenn der Staat, fagt Spinoza, der fih auf die Seite der Demokratie geftellt Hatte, 
wenn ber Staat Jemand dad Mecht und folgemweife die Macht zugefteht, nach feinem 


Kopfe zu leben, fo tritt er dadurch von feinem Rechte zurück und überträgt‘ e8 auf | 


denjenigen, dem er dieſe Macht zugeſteht. Wenn er aber zweien oder mehreren Diele 
Macht einräumt, jo hat er dadurch fich zerftört und bleibt nicht länger ein Staat, fon 
dern es Eehrt Alles in den Naturzuftand. zurüd. Atque ideo sequitur, nulla ralione 
posse concipi quod unicnique civi ex civitatis institulo liceat ex suo ingenio vivere 
et consequenter hoc jus naturale, quod scilicet unusquisque sui judex est, in statt 
civili necessario cessat. 

Selbft die fogenannten Monarchomachen und die modernen Republitaner Roufſeau 
und Sieyes flimmten mit dem Grundfage, daß die Staatögewalt eine abjolute fein 
müffe, überein, nur verlangten fie hiefelbe ninteriell mit dem „DBolfe“ und feinen Worte 
führern in Uebereinftimmung. 

„An der Gefchichte des neueren Abfolutismus machen fich, wie Roſcher in ſei⸗ 
nen „Umriffen zur Naturlehre der drei Staatöformen" (Allg. Zeitfchrift für Geſchichte 
von Ab. Schmidt, Bd. 7, S. 450) fehr treffend bemerkt, vorzüglich drei Entwide 
Inngöftufen bemerkbar. Zuerſt der -confeflionelle .Abfolutismus, vom Anfange der Re 
formation bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges vorherrſchend, der ſich ald Mit 
. telpunft an die religiöfen Intereffen- und Spaltungen anfchließt, ein Vorkaͤmpfer ent 
weder ber proteftantifchen Kirche, wie unter Glifabeth, oder der römifchen, wie unter 
Philipp I. und Ferdinand I, Sem Wahlfpruh ift: Cujus regio, ejus religio! 
Weiterhin der hböflfche Abfolutismus, der feine höchfte Ausbildung in Ludwig XIV. 
erreicht, nachahmungsweiſe in riebrich I. von Preußen, Auguft dem Starken von 
Sachſen ıc. Reicher und glänzender Lebendgenuß, auch durch Wiffenfchaft und Kunfl 
verfchönert, ift fein Hauptzwed; jein Wahlſpruch: L’etat c'est moi! Endlich der aufe 
geflärte Abfolutismus, wie ihn Pombal und Aranda, Friedrich I. und Joſeph I. 
sepräfentiren, der fih mit dem Wahlfpruche: Le roi c'est le premier servileur de 
Vetat! über alle Formen binwegfekt und nach den fcharfiinnigften Regeln. der Theorie 
aus feinen Unterthanen möglidyft zahlreiche, wohlhabende und aufgeflärte Inftrumente 
feines Willens zu bilden fucht. — Man erkennt fofort, wie von diefen drei Entwicke⸗ 
Iungsftufen jede folgende den Abſolutismus höher treibt, den Fürſten unhbejchränkter 
binftellt. In der erften Beriode wird er durch fein enges Bündniß mit der griftlichen 
Macht zwar taufendfach gefördert, aber eben fo oft auch gehemmt; die Ruͤckſichten auf 


überisbifche Berhältniffe, die jeder Menfch beobachten fol, nehmen Hier mitunter einem 


Aheintimms. | 117 


ſehr materiellen, bindenden Charakter an. ‘ Der hoͤfiſche Abfolutismus laͤßt fich wenig⸗ 
ſtens durch eine Menge felbfigemählter Formen einfchränfen: Etikette, Hofleute, Beamten, 
Geſchäftsgang, wie oben gezeigt worden. Von alle dieſem bat fich der aufgeklärte 
A6folutismus frei gemacht. Im Namen ded Staates kann der „erjte Diener“ deſſelben 
viel ungenirter Gut und Blut des Volkes in Anfpruch nehmen, als in feinem eigenen. 
Es ift häufig ſehr vortheilhaft, beim Wefen der Macht die Korn des bloßen Mandats 
anzunehmen, wenn nämlich der Mandant gar feine anderen Organe bat. Durch die 
Tpftematifchere Eintheilung der Provinzen und Pächer, die firaffer angezogene Bureau⸗ 
fratie, den vafcheren, nicht mit Formalien befchwerten Gang der „Staatömafchine” find 
die legten natürlichen Schranken aufgehoben; die vagen, vieldeutigen Begriffe der Auf- 
FHärung, des Gemeinwohls u. f. w. Eönnen fie nicht erfegen. So lange ein Mann 
von der Größe und Selbftbeberrfchung Friedrichs Il. an der Spite ſteht, kann der 
Staat dadurch ungemein gefördert werden; unter jedem minder tüchtigen Nachfolger 
dagegen wird dad Bedürfniß neuer Garantieen tief gefühlt und ungeftüm ‚geäußert. 
Wie leicht eine ſolche Staatsmaſchine, der ed augenblidlih an - einem bedeutenden 
Maſchiniſten fehlt, durch einen einzigen Traftvollen Stoß zeriprengt werden Tann, 
gerade da am leichteften, wo dad Uhrwerk am vollfommenften zu geben fchien, 
beweift der Umflurz der altfranzöflfhen Monarchie von 1789, der altpreußijchen 
von 1806.” 

Auf dem europäifchen Gontinente war der Sieg des Abſolutismus allgemein. 
Die Folgen, welche derſelbe im Alterthum entwickelt hatte, konnten daher auch im 
neueren Europa nicht ausbleiben. Es entſtand die conſtitutionelle Staats⸗Theorie 
(}. dieſen Art.), eine Theorie, welche weit entfernt, den Abſolutismus der Staatsgewalt 
befeitigen oder den chriftlichen Staatsbegriff realiftren zu wollen, in ſich das Ideal des 
antifen Staated zu verwirklichen trachtet und wefentlich nichts Anderes ift, als bie 
politifhe Wiedergeburt des antiken Staates, in welcher Beziehung die römifchsrepubli« 
fanifchen Komödien der erften franzöflfchen Revolution ald Symptome nicht ohne Bes 
deutung find. 

Was nun die abfolute Monarchie jpeciell anlangt, fo verſteht es fich zu⸗ 
vörbrrft von felbft, daß eine abfolute Gewalt in dem eigentlichen Sinne des Wortes 
einem Menfchen weder beigelegt, noch von demfelben geübt werden kann. Alles menjch- 
liche Recht und daher auch die abfolute Gewalt, welche ein Menjch anfprechen kann, 
it mit Nothwendigkeit beſchraͤnkt, nicht allein durch die befchränkte Leibliche und geiftige 
Natur des Menfchen, nicht allein durch Natur, Gejchichte und Religion, ja ‚telbft durch 
den Aberglauben des beftimmten Volkes, nicht allein durch die Befchränfung des 
Voͤlkerrechtes, welches dafür forgt, daß die Staaten neben einander beftchen fönnen, 
nicht allein Durch das Privatrecht der Einzelnen, Familien und Genoffenfchaften, welches, 
jeinem Weſen und feiner Berechtigung nach unabhangig von der Subjectivität des ein» 
zelnen Staates, auch die abjolutefte Monarchie nicht dauernd und principiell mißachten 
und ignoriren fann, ohne ihre eigenen Lebendbedingungen .zu zerftören, fondern noch 
mehr durch dad göttliche Necht, wie es fich in den Gewiſſen ver Menfchen bezeugt, 
in dem Gange der Gejchichte offenbart und ganz beſonders, ıwie ed in den Entwide- 
Iungsgefeßen der Gefellichaft, Volkswirthſchaft und Gultur und in der Inftitution der 
Kirche feinen Ausdruck und feine Vertretung findet. 

Es ift deshalb in neuerer Zeit auch nicht mit Unrecht ein bejonderer Nachdrud 
darauf gelegt, daß das Bedürfniß und Verlangen nah formeller Befchränfung ber 
monarchiſchen Gewalt erft alsdann und von da ab recht lebendig und Eräftig geworden, 
als mit dem Verfall und der Befeitigung des Anſehns und Einflufles der Kirche die 
bis dahin beftandene materielle Schranfe gefchwunden war. 

Freilich wird denen, Die von der Kirche felbft nicht viel willen wollen, auch mit 
deren materieller. Garantie nicht mefentlich gedient fein, indeß werden fie fich doch viel« 
leicht zu dem Zugefländniß bequemen, Daß alle ihre formellen Garantieen eitel Dunft 
und Schein bleiben, jo lange die Menfchen, aus denen fie diefelben componiren, nicht 
der Magnetnadel des göttlichen Nechtes, fondern „dem Geruch der Falten Küche” nach⸗ 
geben. Denn wenn es — wie fie jagen — der abfoluten Regierungsform um Ded« 
willen an aller Garantie mangelt, daß gut regiert wird, weil Die Herrfcher „mit allen 


Bagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 12 





178 v Abfolutismus. 
menſchlichen Schwaͤchen und Gebrechen behaftete Sterbliche ſind und zu ihren Organen 
ebenfalls nur Menſchen machen koͤnnen,“ ſo wird ihnen doch auch nicht unbekannt ſein, 
daß man bis dahin die Kammern auch nicht aus „vollkommenen Weſen, Göttern oder 
Engeln” zu bilden pflegt, ja daß fid, die modernen Vollövertretungen erfahrungsmäßig 
der, Verführung, Einfchüchterung und Beſtechung mehr, als jede andere Körperichaft 
zugänglich erwiefen haben. 

Nichts deito weniger betrachten wir unfererfeits „die abjolute Monarchie als 
einen unvollfommeneren Zuftand, ald eine — wenn auch, wie alle gefihichtlichen For: 


men, die, genau betrachtet, immer nur Proviforien find, zeitweilig biftorifch vollfonmen 
berechtigte — Uebergangdform, die, wenn fle nach Vollbringung ihrer weltgefchicht- 


lichen Aufgabe noch feftgehalten werben will, fi zur abfolutiftifhen Monardie, 
zur Kartifatur des Königthums von Gottes Gnaden verzerrt und damit auch dad leptere 
in fein Schickſal Hineinziebt. 


Der Charakter der europäifchen Monarchie befteht darin und bat von jeher 


darin beftanden, daß der Fürft Durch Mechte der Linterthanen und des Volkes 
befchränkt if. Dadurch eben iſt fie Monarchie im Unterfchiebe der Despotie. „Das 
Geſetz fol (ſiehe Stahl Staatsreht) auch dem Fürften nicht bloß eine innere 
Anforderung feines Gewiffens fein, wie die Abfolutiften wollen, fondern eine äußere 
ftaatsrechtlihe Schranke. Gott hat Die Menjchheit nicht einzelnen Menfchen übergeben 


zur Herrſchaft bloß auf ihre jenjeitige Verantwortung, fondern er bat eine Ordnung 
und Anftalt gefebt und in diefer Die einzelnen Menfchen als Häupter. Doc aber Darf die 


Schranke der fürftlichen Gewalt nur eine ftaatsrechtliche, nicht eine mechaniſche 
fein, nicht eine Macht, welche „den Fürſten zwänge, fondern nur eine folche, bie a 


nicht zwingen- fann." Nur fo wird der Abfolutismus befeitigt und Doch Die Souve⸗ 


rainetät gewahrt (flehe die Art. Königthum und Sonveraimetät), „nur fo wirb dem 


Volle Schup gewährt, ohne es zum Souverain zu erheben (f. ven Art. Bell: 


Souverainetät. 


Allerdings giebt e8, wie ſchon in dem byzantinifchen Kaifertbum, wie demmadhft 


unter den Stuarts in England, unter Louis XIV. in Frankreich und unter Sofeph I. 
in Defterreich auch heute eine theologifche und juriftifche Schule, welche Souverainetät, 
Königthun von Gotted Gnaden und abfolute Gewalt als identiſch behandelt und jede 
Befchränfung der abfoluten Monarchie als Aufhebung der Monarchie überhaupt ver 
wirft. Doc tft eine folche Theologie und Jurisprudenz von jeher entweder beftellte 
Arbeit oder mißverfländliche Auffaffung und Auslegung ihrer eigenen Vorderſaͤtze und 
Vorausſetzungen geweſen. 

Gern räumen wir dabei ein, daß die abſolute Gewalt auch heute noch keines⸗ 
wegd allgemein und unbedingt verwerflih ift, daß es Völker und vielleicht ſogar 
ganze Menfchen-Racen giebt, für welche der Staat einflweilen nur in der Form bei 
abfoluten Monarchie möglich zu fein fcheint, daß in Bezug auf die flavifchen Länder, 
auf Rußland und vielleicht auch dort, wo wie in Frankreich die celtifchen und gallifchen 


Urelemente das germanifche Lehnsweſen und den germanijchen Staatöbegriff nicht in 


die neue Staats⸗Idee aufgenommen, fondern abgeftreift haben „zunächft nicht von Be 
fhranfung, fondern nur von vernünftiger Selbftbefckränfung des Abfolutismus bie 
Rede fein kann,“ fowie daß der Abfolutismus keineswegs unvereinbar ift weder mit 
großer Nationalfraft und militairifcher Macht, noch auch mit blühenden wirthfchaftlichen 
Zuftänden und äußerer Eultur; doch haben wir e& hier überall nicht mit diefen mehr Außer 
lichen Momenten, fondern wefentlih mit der Frage zu thun, ob mit dem Begriffe ber 
Monarchie und des Koͤnigthums von Gottes Gnaden auch deren unbefchräntter 
abfoluter Charakter als immanentes nothwendiges Moment von felbft gegeben, 
* Bei Charakter indbefondere mit dem Grundtypus der germanifcgen Völker ver- 
einbar ift. 

In diefer Beziehung nun behaupten wir, „Daß abjolute Monarchie und Monarchie 
mit Randeövertretung, recht gefaßt und wohl beftellt, nicht in ihrem innerften Weſen 
Kontrafte, fondern nur verfchiedene Phafen der Einen europälfchen Monarchie find, daß 
aud der ‚göttlichen Sanction der Königlihen Gewalt keineswegs die Unbegrenztheit ihred 
Umfanges folgt und daß in dem Zuflimmungsrechte einer Landeds Vertretung fo wenig 


Abſolutismus. 179 


eine Berlegung weder des Königthumd, noch der Staatögewalt Tiegt, ald in der Un⸗ 
abbängigfeit Der Gerichte und der rechtlichen Unantaftbarfeit ded Lebens, Eigenthums 
und der Freiheit Der Unterthanen.“ 

Sreilih, wer die Finften nicht ald Diener, fondern ald Stellvertreter des einer 
Bertretung durchaus nicht bedürfenden allgegenwärtigen Gottes betrachtet und diefe 
Stellvertreter alddann zwar nicht mit den Eigenfchaften, doch aber mit der Machtfülle 
ihres abweſenden Vollmachtgeberd ausftattet; wer es nicht weiß, daß jelbft die Gewalt 
und die Regierung Gotted die fittliche Freiheit und die moralifche Selbftverantwortlich" 
keit der Menfchen als ihre Schranke anerkennt; wer feinen Anftand nimmt, auch die 
Kirche rechtlo8 der Fürſtlichen Gewalt zu unterwerfen, und damit Religion und @ultus 
der weltlichen Macht zur Dispofttion zu ftellen; wer dad Prädicat „von Gotted Gna⸗ 
den“ lediglich auf die fürftliche Gewalt beſchraͤnkt und alle fonftigen Stellungen und 
Mechtöverhältniffe, Die nicht minder von Gottes Gnaden find, als jenem Einen auf 
Disceretion übergeben, behandelt; wer feine Augen vor der Ihatfache verfchließt, daß 
auch der mächtigfte und meifefte Monarch der Organe feines Willens und einer Ver⸗ 
mittelung feiner eigenen Information und Action nicht entbehren kann und daß daher, 
genau betrachtet, Die Frage der Landesvertretung keine Frage zwifchen dem Volk und 
dem Königthum, fondern zwifchen der Ariftofratie und der Bureaufratie, zwifchen dem 
Beamtenthbum und der Selbftregierung ver einzelnen Volksglieder ift; wer in der Lan- 
desvertretung nicht Die Ergänzung und das Correctiv der ftaatlichen Perfönlichkeit des 
Zürften, fondern nur die Verkörperung des Mißtrauend, die Organifation eined em⸗ 
pörten Volkes zur Unterwerfung oder Befeltigung des Königthums zu erblidten vermag; 
wer von der Vorausſetzung ausgeht, daß eine abfolute Gewalt irgendwo vorhanden 
fein müffe, fei e8 bei dem Fürften oder dem Volke und Daß es ohne abfolute Gewalt 
weder Ruhe noch Staatdeinheit, noch oberſte Gewalt, noch Autorität geben könne — 
ein Solcher, aber auch nur ein Solcher mag abfolute Gewalt und Souverainetät mit 
einander verwechfeln, den Abfolutismus mit der Souverainetät, welche auch wir den 
Fürften ungetheilt und ungefchmälert bewahrt wiffen wollen. ’ 

Wer, wie wir, alles Irvifche für proviforifch halt, mer e8 weiß, daß alles Le⸗ 
bendige, Organifche unfertig und nur das Mechanifche fertig ifl; wer, wie wir, Die 
Aufgabe der abfoluten Monarchie darin findet, nicht die Stände und deren Gerechtſame 
zur Vernichtung und zum Nimmerwiedererfteben zu abforbiren, fondern nur deren über- 
lebte, mit der neueren Staatdidee und deren thatfächlicher Entwidelung nicht verträgliche _ 
Form abzuftreifen, um fie in neuer adäquater Geftalt wiederum aus ſich heraus zu 
erzeugen; wer die Monarchie mit Randedvertretung nicht ald befchränkfte fondern als 
entwidelte und ausgebildete Monarchie zu begreifen weiß: der erblidt auch in den cen- 
tralen Landesvertretungen nicht eine Beeinträchtigung des Königthums und der Mon- 
archie, fondern die immerhin noch unvollfommene, doch dem veränderten Charakter des 
Königthums im Wefentlichen entfprechende Zufammenfaffung der bis dahin zerftreuten 
und ifolirten feudalen fländifchen und autonomifchen Berechtigungen und Befugniffe 
und den von der Monarchie in ihrem eigenen wohlverftandenen Intereffe forgfältig zu 
pflegenden Berfuh, von dieſem flaatörechtlichen Mittelpunfte aus die abhanden ge⸗ 
fommene organifche Gliederung des Volks⸗Leibes und Lebens neu zu geftalten. 

Sp gewiß e8 ift, daß Fein Volk und Fein mittelalterliches Staatswefen der Zus 
fammenfaffung zu einer abfoluten Gewalt Behufs Ablegung feines feudalen und patris 
monialen Charakters entbehren konnte, fo daß felbft Englands neues Staatöwefen von 
der militärtjchen Dictatur Cromwell's datirt und von dem flegreichen Ständethum mit 
Karl 11. das neue parlamentarifche Königthum gejchaffen wurde, eben fo gewiß Fann 
md darf Diefe abjolute Gewalt Feine bleibende fein, ohne fich felbft zu vernichten. 
Wie in England das flegreiche Ständetfum das Königthum, fo muß auf dem Eonti- 
nente Dad flegreiche Königthum dad Ständethun neu aus fi heraus erzeugen. Das 
Eine ohne dad Andere ift dem Andringen der beide gleichmäßig bedrohenden Feinde 
nicht gewachfen — wie das auch England erfahren wird. 

Das inftinktive Gefühl, daß es Doch wohl kaum gelingen dürfte, vie abfglute 
Monarchie fo wiederherzuftellen, mie fle vor den Bewegungen der neueften Zeit gewe- 
fen, iſt Nichts als das unmillfürlihe Cortelat diefes Gedankens, ja mas noch mehr 

12* 


180 Abſperrung. 


iſt, die Bewegungen des Jahres 1848 waren in ihrem Kerne nichts, als der politiſche 
Ausdruck der Thatfache, daß die früheren geiſtigen und ſittlichen Bande zwiſchen dem 
abfoluten Königthum und dem Volk zerrifien und daß beide bereitd in dad Stadium 
der bureaufratifchen, abfolutiftifehen und revolutionären Entartung eingetreten wa» 
ren, in jene Form der Monarchie, wo man von der einen Seite die lebendigen Wech⸗ 
felbeziehungen zwifchen Regierung und Volk und den Mangel von Autorität, Treue 
und Liebe Durch mechanifche und polizeiliche Haus» und Hülfsmittel, und von der ans 
dern das Fehlen oder die Mängel einer wirflihen Vertretung durch tumultuarifche 
Volköverfammlungen auf der Straße zu erfeßen und auszufüllen ftrebt. 

Nur zwifchen Diefer Korn der Monarchie und zwifchen der Monarchie mit Lan⸗ 
desvertretung haben wir heute noch zu wählen und nur ein Königthum, welches fich 
mit Liebe und Verſtändniß den Aufgaben ver neuen Zeit bingiebt, wird beiden, 
der Revolution und dem Imperialismus, gewachſen bleiben. 

Schlieplich noch eine kurze Bemerkung über das Verhaͤltniß der abfoluten Mon- 
‚ archie zur Dietatur (fiche übrigens diefen Artikel). Die Dietatur, die abfolute pers 
fünlide Gewalt aus übertragenem, die abfolute Monarchie aus eigenem Recht, ruben 
beide gemeinfam auf dem Bedürfniß der Noth, fei ed des Augenblids, ſei es ihrer 
Zeit. „In wahrer Noth fteigert ſich Die oberfte Gewalt, fo wett dad Bedürfniß 
der Noth reicht, zur abjoluten Gewalt," doch Darf dieſe abjolute Gewalt und folge 
weife auch die abfolute Monarchie nicht weiter ausgedehnt werden, als fo weit und fo 
lange die ihrer Entftehung zum Grunde liegende Noth dauert und reicht. 

Was unferer: Zeit aber Noth thut und wohin dieſelbe ftrebt, das ift ein Staatd- 
Organismus, welcher, die concentrifche Macht des Königthums unbedingt anerfennend 
md audbildend, doch auch zugleich den Abfolutismus als eine überwundene Durch⸗ 
gangsform hinwegthut und, Indem er Die Organe des Volkslebens im neuen Geiſte 
neu entwidelt, die bisherige Disharnonie der abfoluten Monarchie und des Stände 
thumd in der Harmonie einer vom Königthum beberrfchten centralen Landesvertretung 
auflöft. 

Abfperrung ift die Durch das öffentliche Interefie gebotene gänzliche oder theil- 
weife Ausſchließung eines beftlimmten Ortes und der Bewohner deffelben vom frein 
Verkehr. Sie ift verſchieden nad) Veranlaffung, Object und Umfang der Ausfchließung. 
‚Ueber die Abfperrung gegen anftedlende Krankheiten f. den folgenden Artikel. 

Ein Aufruhr wird, wenn Gefahr vorhanden ift, daß feine Dimenflonen wachen 
a. durch Abfperrung der injurgirten Gegend auf feinen Heerd befchränft werben 
müflen. 

Das Völkerrecht geftattet die Abfperrung ganzer Staaten gegen einander, wenn 
fie entweder im Kriege begriffen find, oder wenn der auszufchließende Staat eine bie 
Neutralität verlegende übelmollende Stellung eingenommen bat. 

In allen Fällen wird die Abfperrung, da fie die Freiheit der Bewegung 
der Staatdangehörigen lähmt und deshalb für den. Verkehr die Bedeutung eined 
Kriegszuftandes hat, nur Da gerechtfertigt fein, wo fle zur Vermeidung eined 
größeren Uebels dient, ald dasjenige if, welches fie volfswirthfchaftlich nothwendig in 
ſich trägt. Dieſen Geſichtspunkt vernachläffigen diejenigen Staaten, welche ihr Land 
gegen fremde Waaren und Producte abfperren, wie noch heute China und Japan 
(j. Handelsſperre, Schutzzoll, Continentaliperre). 

Die grundfägliche und gefeßliche Abfperrung eines Landes, gegenüber gewiſſen 
Nationalitäten, 3. B. Zigeunern, Juden, widerftrebt vollends dem gegenwärtigen Stande 
per Bivilifation. 

Abiperrung (Sanitätliche) iſt die zur Aufrechthaltung des Geſundheitszuſtandes bet 
Einwohner angeordnete Verhinderung des freien Verkehrs mit folchen Ländern, melde 

ı anſteckenden Krankheiten befallen find, die fich mittelft Berührung der Kranken oder 
mit Diefen in Verbindung gefommenen Stoffe u. f. w. fortpflanzen können. (S. Art. 
eckende Krankheiten.) Da man bei diefen Iegteren eine doppelte Weife der Anftedung 
ſchelden muß, je nachdem der Anftellungsftoff entmeder von Körper auf Körper 
getragen wird, Gontagiun, welches ald das krankhafte Erzeugniß eines lebenden 
riſchen Koͤrpers angefehen werden muß, das die Fähigkeit beflgt, dieſelbe Krankheit 


Abiperrung. 181 


hervorzubringen, wenn es mit dem Koͤrper eines andern Menſchen in Berührung kommt; 
o der je nachdem der Anſteckungsſtoff mehr aus einer Luftverunreinigung, geſchehe dieſe 
durch lebende Körper oder abgeſtorbene vegetabiliſche oder thieriſche Organismen, 
Miasma, ſich entwickelt: ſo wird die Abſperrung als wirkſames Mittel nur gegen con⸗ 
tagidfe Krankheiten gerichtet werden koͤnnen, von denen man mit vollſter Sicherheit 
weiß, daß fie aus inficirten ändern eingefchleppt worden, wie folches bei der orien- 
talifchen Peſt der Fall if. Die im Großen auögeführten Schug- und Abwehr - An 
falten gegen diefe Iegtere Seuche, wie folche ſchon ſeit längerer Zeit beſtehen, haben 
fo Außerordentliches geleiftet, daß der Verbreitung diefer Krankheit in dem Maße, wie 
fie in früheren Jahrhunderten ftattfand, ein mwohlthätiger Damm entgegengefeßt wurde, 
und daß an der Wirkſamkeit der Mapregeln, wie fie bei Abfperrung der Landesgrenzen 
gegen verpeftete Gegenden getroffen werden, nicht mehr gezweifelt werden darf. Der 
befte Beweis liegt eben darin, daß in jenen Zeiten, wo Öffentliche Vorkehrungen zur 
Abwehr der Peit unbekannt waren, ganz Europa den Berbeerungen dieſer mörberifchen 
Seuche offen fand, und daß gegen die häufigen Invafionen derfelben fich nur einzelne 
Menſchen und Familien durch Vorficht einen unficheren Schuß gewähren Eonnten, der 
aber auch oft genug durch Armuth und Unmiffenheit vereitelt wurde. Die Stadt Mar- 
jeille bat unter Anderem im jechözehnten Jahrhundert eilf Peitfeuchen erfahren, im 
Hebenzehnten zwei, im achtzehnten nur eine und im neungehnten bis jetzt noch Feine. — 
Die großartigfien Anftalten der Abſperrung find gegen die europäifche Türfei gerichtet, 
welche nicht nur dem SHeimathlande der Belt, Aegypten, näher liegt, fondern die auch 
zur Abwehr diefer Seuche felbft Feine Sorge trägt. Bon diefer Seite ift daher Europa 
am meiften bedroht: in Konftantinopel zeigt fich in dem häufigen Erfcheinen der Peft 
bie traurige Folge dieſer Nachläfiigkeit, und Defterreih und Rußland haben es über- 
nommen, durch Abfperrung ihrer Grenzen der Weiterverbreitung der Peft einen Fräfti- 
gen Damm entgegen: zu ftellen. Diefe Staaten unterhalten für gewöhnlich ihren Peft 
eordon, mobei in Defterreich die gewöhnlichen Grenzjoldaten den Dienft verfehen: in 
gefährlichen Zeiten werden dieje durch Linientruppen aus der Nähe vermehrt, oder, 
wenn die Peſt wirklich in benachbarten Laͤndern audgebrochen, Durch Die Heranziehung 
von Truppen aus entfernteren Provinzen verftärkt. In gemiffen Entfernungen find 
Wachtbäufer angelegt, zwifchen welchen die Streifwachen Tag und Nacht auf und nie= 
der geben, bereit, gegen Jeden, der den Gordon überjchreitet und auf den Anruf nicht 
zurüdweicht, Feuer zu geben. Der wirkliche Uebergang von Menſchen und Waaren darf nur 
an gewiſſen Stellen ftattfinden, wo eigene wohleingerichtete QuarantainesAnftalten (ſ. d. Art.) 
angelegt find, in welchen man ſich der Meinbeit der Menjchen und Waaren verfichern 
kann, wo letztere, wenn es zwedmäßig erfcheint, gereinigt, ganz zurüdgemiejen oder 
zerflört, Briefe u. f. w. durchflochen, geräuchert oder in Eſſig geworfen werben, ehe 
ihre Weiterbeförderung geichieht. Europa muß dieſen Staaten zum tiefiten Danke ver- 
pflichtet fein: denn ihnen ift e8 gelungen, durch die genannte Abfperrung ihrer Grenzen 
und die zwedmäßige Handhabung der Geſundheits⸗-⸗Polizei einen Feind abzuhalten, Der 
vor der Errichtung dieſer Anftalten häufig genug in Europa einfiel und bie größten 
Berbeerungen anrichtete. — Außer diefen Abfperrungen zu Lande bat man aber auch 
feit dem funfzehnten Jahrhundert zur Verhütung der Einfchleppung der Seuche zu 
Waſſer, zuerft in den Häfen Italiend für levantifche Schiffe, die ScesQuarantaine ein- 
geführt und auch diefe Abſperrungsweiſe Hat fich jehr bewährt gezeigt: denn in dem 
Maße, wie. fich diefe Anftalten entwidelt und vervollfiommnet haben, find Die DVerhees 
sungen durch die Peſt feltener geworden, und ed ift gelungen, das Uebel abzuwenden 
und feinen Fortgang zu hemmen. (©. Duarantaine-Anftaften). — Außer diefer Ab 
fperrung ganzer Laͤnder kann auch eine Orts⸗, Käufers und felbft Zimmerfperre noth⸗ 

wendig werden, wenn ſich in dieſen anſteckende Krankheiten zeigen ſollten, die man in⸗ 
nerhalb gewiſſer Grenzen bis zu ihrem Erlöfchen erhalten will. Die Abſperrung an⸗ 
geſteckter Häufer muß durch öffentliche Bekanntmachung bezeichnet werden: zwedmäßig 
if es, an das Haus felbft eine Tafel mit pafjender Infchrift anzubringen: für bie 
Verpflegung und Wartung der abgefperrten Perfonen muß aber Die nötbige mr nn 
tragen werden. Nach der Aufhebung der Sperre find .D* 

Gegenftände auf das forgfältigfte zu reinigen. — Daß ül 


180 | Abſperrung. 


iſt, die Bewegungen des Jahres 1848 waren in ihrem Kerne nichts, als der politiſche 
Ausdruck der Thatſache, daß die früheren geiſtigen und ſittlichen Bande zwiſchen dem 
abſoluten Königthum und dem Volk zerriſſen und daß beide bereits in das Stadium 
der bureaukratiſchen, abſolutiſtiſchen und revolutionären Entartung eingetreten wa⸗ 
ren, in jene Form der Monarchie, wo man von der einen Seite die lebendigen Wech⸗ 
felbeziehungen zwifchen Regierung und Volt und den Mangel von Autorität, Treue 
und Liebe durch mechanifche und polizeiliche Haus» und Hülfsmittel, und von der an- 
dern dad Fehlen oder die Mängel einer wirflichen Vertretung durch tumultuarifche 
Bolköverfammlungen auf der Straße zu erfehen und auszufüllen ftrebt. 

Nur zwifchen dieſer Korn der Monarchie und zwifchen der Monarchie mit Lan- 
desvertretung haben wir heute noch zu wählen und nur ein Königthbum, welches ſich 
mit Liebe und Verftändniß den Aufgaben der neuen Zeit bingiebt, wird beiben, 
der Revolution und dem Imperialismus, gemwachien bleiben. 

Schließlich noch eine kurze Bemerkung über dad Verhältniß der abfoluten Mon⸗ 
archie zur Dietatur (fiehe übrigens dieſen Artikel). Die Dictatur, die abfolute pers 
fönlide Gewalt au8 übertragenem, die abfolute Monarchie aus eigenem Necht, ruben 
beide gemeinfam auf dem Bedürfniß der Noth, fei es des Augenblicks, fei ed ihrer 
Zeit. „In wahrer Noth fleigert ſich Die oberfte Gewalt, fo weit dad Bedürfniß 
der Noth reicht, zur abjoluten Gewalt," doch darf dieſe abjolute Gewalt und folges 
weife auch die abfolute Monarchie nicht weiter ausgedehnt werben, als fo weit und fo 
-Tange die ihrer Entftehung zum Grunde liegende Noth dauert und reicht. 

Was unferer Zeit aber Noth thut und wohin diefelbe flrebt, das ift ein Staats⸗ 
Organismus, welcher, die concentrifche Macht des Königthums unbedingt anerkennend 
und ausbildend, doch auch zugleich den Abfolutismus als eine übermundene Durch 
gangdform hinwegthut und, indem er die Organe des Volkslebens im neuen Geifte 
neu entwidelt, die bisherige Disharmonie der abfoluten Monarchie und des Stände 
thums in der Harmonie einer vom Königthum beberrfchten centralen Landesvertretung 
auflöft. 

Abſperrung ift die durch das öffentliche Jutereſſe gebotene gaͤnzliche oder theil« 
weile Außfchliefung eines beftimmten Ortes und der Bewohner deffelben von freien 
Verkehr. Sie ift verfchieden nach Beranlaffung, Object und Umfang der Ausfchliegung. 
‚Ueber die Abfperrung gegen anftedlende Krankheiten f. den folgenden Artikel. 

Ein Aufruhr wird, wenn Gefahr vorhanden ift, daß feine Dimenfionen wachien 
fönnten, durch Abfperrung der infurgirten Gegend auf feinen Heerd befchränft werben 
müffen. | 

Das Völkerrecht geflattet die Abfperrung ganzer Staaten gegen einander, wenn 
ſte entweder im Kriege begriffen find, oder wenn der andzufchließende Staat eine bie 
Neutralität verlegende übelmollende Stellung eingenommen hat. 

In allen Fällen wird Die Abfperrung, da ſie die Sreiheit der Bewegung 
der Staatdangehörigen lähmt und deshalb für den Verkehr die Bedeutung eines 
Kriegäzuftandes bat, nur da gerechtfertigt fein, wo fie zur Vermeidung eine 
größeren Uebels dient, ald dasjenige ift, welches fle volkswirthſchaftlich nothwendig in 
fich trägt. Diefen Gefichtspunft vernachläffigen diejenigen Staaten, welche ihr Land 
gegen fremde Waaren und Produete abfperren, wie noch heute China und Japan 
(ſ. Handelsſperre, Schußzoll, Continentaliperre). 

Die grundfägliche und gefegliche Abſperrung eines Landes, gegenüber gewiſſen 
Nationalitäten, 3. B. Zigennern, Juden, widerftrebt vollends dem gegemwärtigen Stande 
der Givilifation. 

Abſperrung (Sanitätliche) ift die zur Aufrechthaltung des Gefundheitözuftandes bet 
Einwohner angeordnete Verhinderung des freien Verkehrs mit folchen Ländern, welche 
von anſteckenden Krankheiten befallen find, die fich mittelft Berührung der Kranken oder 
der mit Diefen in Verbindung gekommenen Stoffe u. ſ. w. fortpflangen können. (S. Art. 
Anſteckende Krankheiten.) Da man bei Diefen Ießteren eine doppelte Weife der Anftedung 
unterfcheiden muß, je nachdem der Anftelungsfloff entweder von Körper auf Körper 
übergetragen wird, Gontagium, welches als das Franfhafte Erzeugnif eines lebenden 
thierifchen Körpers angeſehen werden muß, das die Fähigkeit beflgt, dieſelbe Krankheit 





4 


Abtperrung. 181° 


besvorzubringen, wenn es mit dem Körper eines andern Menfchen in Berührung kommt; 
oder je nachdem der Anftedungsfloff mehr aus einer Luftverunreinigung, gefchehe dieſe 
durch lebende Körper: oder abgeftorbene vegetabilifche oder thierifche Organismen, 
Miasma, ſich entwidelt: fo wird die Abfperrung als wirkjamed Mittel nur gegen cons | 
tagiste Krankheiten gerichtet werden Fünnen, von denen man mit vollfter Sicherheit 

weiß, daß fie aus inflcirten Kändern eingefchleppt worden, wie jolche8 bei der orien- 
talifchen Peft der Kal if. Die im Großen audgeführten Schug- und Abwehr-An⸗ 
falten gegen dieſe letztere Seuche, wie folche ſchon feit längerer Zeit beftehben, haben 
fo Außerorventliches geleiftet, daß der Verbreitung diefer Krankheit in dem Maße, wie 
fie in früheren Jahrhunderten ftattfand, ein wohlthätiger Damm entgegengefeht wurde, 
und daß an der Wirkfamkeit der Mafregeln, wie fie bei Abjperrung der Landesgrenzen 
gegen verpeftete Gegenden getroffen werden, nicht mehr gezweifelt werden darf. Der 
befte Beweis liegt eben darin, daß in jenen Zeiten, wo öffentliche Vorkehrungen zur 
Abwehr der Peft unbekannt waren, ganz Europa den PVerheerungen dieſer mörberifchen 
Seuche offen fand, und daß gegen die häufigen Invaftonen derfelben ſich nur einzelne 
Menfchen und Familien durch Vorſicht einen unficheren Schu gewähren fonnten, ber 
aber auch oft genug durch Armuth und Unmiffenheit vereitelt wurde. Die Stadt Mar- 
feille Hat unter Anderem im fechözehnten Jahrhundert eilf Peftfeuchen erfahren, im 
Hebenzehnten zwei, im achtzehnten nur eine und im neungehnten bi jegt noch Feine. — 
Die großartigften Anftalten der Abſperrung find gegen die europäifche Türfei gerichtet, 
welche nicht nur dem Heimathlande der Belt, Aegypten, näher liegt, fondern die auch 
zur Abwehr diefer Seuche felbit Feine Sorge trägt. Bon dieſer Seite ift daher Europa 
am meiften bedroht: in Konftantinopel zeigt ſich in dem häufigen Erfcheinen der Peſt 
bie traurige Folge dieſer Nachläffigkeit, und Oeſterreich und Rußland haben e8 über- 
nommen, durch AUbfperrung ihrer Grenzen der Weiterverbreitung der Peft einen kraͤfti— 
gen Damm entgegen: zu ftellen. Diefe Staaten unterhalten für gewöhnlich ihren Peſt⸗ 
cordon, wobei in Defterreich Die gewöhnlichen Grenzfoldaten den Dienft verfeben: in 
gefährlichen Zeiten werben dieſe durch Linientruppen aud der Nähe vermehrt, oder, 
wenn die Peſt wirklich in benachbarten Ländern ausgebrochen, Durch die Heranziehung 
von Truppen aus entfernteren Provinzen verftärkt. In gewiſſen Entfernungen find 
Wachthäuſer angelegt, zwifchen welchen die Streifwachen Tag und Nacht auf und nies 
der geben, bereit, gegen Jeden, der den Cordon überjchreitet und auf den Anruf nicht 
zurüdweicht, Keuer zu geben. Der wirkliche Uebergang von Menfchen und Waaren darf nur 
an gewiffen Stellen flattfinden, wo eigene wohleingerichtete Quarantaine-Anftalten (ſ. d. Art.) 
angelegt find, in welchen man ſich der Reinheit der Menfchen und Waaren verfichern 
Iaun, wo leßtere, wenn es zwedmäßig ericheint, gereinigt, ganz zurücdgewiejen ober 
zerflört, Briefe u. f. w. durchſtochen, geräuchert oder in Eſſig geworfen werden, che 
ihre Weiterbeförderung geſchieht. Europa muß diefen Staaten zum tiefften Dante’ ver⸗ 
pflichtet fein: denn ihnen ift eö gelungen, durch die genannte Abfperrung ihrer Grenzen 
und die zwedmäßige Handhabung der GefundheitösBolizei einen Feind abzuhalten, der 
por der Errichtung dieſer Anftalten häufig genug in Europa einfiel und die größten 
Berbeerungen anrichtete. — Außer diefen Abfperrungen zu Lande hat man aber auch 
feit dem funfzehnten Jahrhundert zur Verhütung der Einfchleppung der Seuche zu 
Waſſer, zuerft in den Häfen Italiens für levantijche Schiffe, Die See-Quarantaine ein- 
geführt und auch dieſe Abfperrungsmeije bat ſich fehr bewährt gezeigt: denn in dem 
Maße, wie. fich diefe Anftalten entwidelt und vervollfonnnet haben, find die Derhees 
tungen durch die Peft' feltener geworben, und ed ift gelungen, das Uebel abzuwenden 
und feinen Fortgang zu hemmen. (S. Quarantaine⸗Anſtalten). — Außer diefer Ab- 
ſperrung ganzer Ränder kann auch eine Orts⸗, Käufer» und felbft Zimmerfperre noth- 
wendig werden, wenn ſich in dieſen anftedende Krankheiten zeigen follten, die man in⸗ 
nerbalb gewiſſer Grenzen bis zu ihrem Erlöfchen erhalten will. Die Abfperrung an⸗ 
geſteckter Häufer muß durch öffentliche Bekanntmachung bezeichnet werben: zwedmäßig 
it ed, an das Haus felbft eine Tafel mit paflender Infchrift anzubringen: für die 
Verpflegung und Wartung der abgefperrten Perfonen muß aber die nöthige Sorge ge- 
tragen werden. Nach der Aufhebung der Sperre find die Räume und verbächtigen 
Gegenftände auf das forgfältigfte zu reinigen. — Daß übrigens Die Abfperrung ganzer 








182 Ahftammung des Menſchengeſchlechts. 


Länder und Provinzen nur unter den dringendſten Verhaͤltniſſen verfügt werden mäfle, 
ift bei dem Nothſtande, in welchen die Abgefperrten verfegt werden, bei der Aufhebung 
jeded für die Staatsbürger zu ihrer Exiſtenz erforderlichen Verkehrd, der Hemmung 
des Handels u. f.w. ſtets im Auge zu behalten; unerläßlich ift daher zur Anordnung 
einer Abfperrung im Großen die lieberzeugung, daß eine ansgebrochene Krankheit wirf- 
lich zu den contagidfen gehöre, um nicht die durch Krankheit über ein Land verhäng- 
ten Nachtheile noch mehr zu fleigern, wie ſolches in jenen Jahren der Ball war, we 
man aud freilich verzeihlicher Unbefannfchaft mit der Cholera als einer neuen, bisher 
in Europa unbefannten Krankheit in manchen Ländern Abfperrungen anorbnete, welche 
feinesweg& dem beabfichtigten Zwede entjprachen. 

Ahitammung des Menſchengeſchlechts. Die Frage nach der Entfiehung Der 
Menſchheit hat in der Gegenwart mehr, als zu jeder anderen Zeit die größten Denker 
der gebilvetfien Völker zu lebhafter Thätigkeit angeregt, und zur Röfung derfelben haben 
fih Philoſophie, Gefchichte, Phyſtologie und Naturwiffenfchaft einander hülfreich bie 
Hände geboten. Die Forfcher, welche ſich mit dieſer Frage befchäftigt haben, Tann 
man, um einen Ausdruck ©. R. Gliddons zu gebrauchen, in Monogenefiften 
und in Polygeneſiſten Elaflifieiren, d. 6. in folche, welche aus innesen und äußeren 
Gründen des geiftigen und phnfifchen Organismus der verfchiedenen Menfchenflänme 
unterjuchen wollen, ob das Menfchengefchlecht aus einem ober mehreren Menfchenpaaren 
abftamme. An ver biblifchen Leberlieferung haben feit der Aufftellnng dieſer Frage 
bi8 in die neuefte Zeit die Meiften feftgebalten, und felbft bebeutende Männer der 
Wiffenfchaft haben einen nachhaltigen directen Einwand gegen die einfache Abflammung, 
deren Gefühl ſchon dem natürlichen Menfchen innewohnt, wie die Sehnfucht nach dem 
Jenſeits, nicht zu erheben vermocht; namentlich ift von dem amerifanifchen Geiſtlichen 
Joh. Bachmann in feinen Buche: the doctrine of the unity of the human race, 
1850, eine Zufammenftellung aller Gründe, die zur Stüße der älteren Theorie von der 
Abftammung aller Völker von Adam und den Söhnen Noah dienen fünnen, verfucht 
worden. Wit vielem Scharfjinn bemüht er fich zu beweifen, wie e8 doch immer möge 
lich bleibe, daß Durch Flimatifche Einflüffe die ummanbernden Nachkommmen Adams 
nach und nach diejenige Bildung angenommen hätten, welche wir an den verfchiebenen 
Bewohnern der Erde finden; auch heute noch werden durch Baftarbzeugung und durch 
die große Verſchiedenheit des Klimad Veränderungen der Racen bervorgebradht. Der 
Engländer Prihard in feiner „Naturgefhichte Des Menſchengeſchlechts“ 
(deutfch, 4 Bde. Leipz. 1840—48) halt fich ebenfalls an die biblifche Anficht, und ber 
Sranzofe U. de Gobineau in feinem essai sur linegalite des races humaines ftellt 
mit gewichtigen Gründen die Lehre von Der Verſchiedenheit der Bölkerracen vielfälbig 
in Brage. Der erfte, der an der Einheit der Abftammung des Menſchengeſchlechts 
zweifelte, war merfwürdiger Weife Fein Naturforfcher, fondern ein Theologe und Huge⸗ 
nott, Poyrerius, der vor 200 Jahren lebte. Seine Anficht Tonnte jedoch feinen Ein- 
fluß ausüben, da die Sorbonne feine Schrift durch den Henker verbrennen ließ. 
in unferer Zeit, wo die Wiflenfchaft fi immer mehr einer materialiftifchen Richtung 
binneigen will, find mehrere und nicht unwichtige Gegner der biblifhen Einheits⸗ 
Iehre von der Abftlammung der Menfchen aufgetreten. Ihre Anfichten baſiren 
einerfeit8 auf den Unfchauungen der alten Monumente Aegyptens, andererfeit# 
auf vergleichender Anatomie. In erſter Beziehung bat der Amerikaner Samuel 
George Morton auf viele Andere anregend gewirkt, namentlih auf I. @. Nett 
un ©. R. Glivdon, die in ihrem Werfe: Types of mankind (Grundformen 
des Menfchengefchlechts), das 1854 erfchien und bereitd 8 Auflagen erlebt bat, 
dad neuefle Material zu der Brage über die vielfache. Abflammung des Menichen- 
gefchlecht8 zufammengetragen haben. Aus der Verſchiedenheit der plaftifchen Darftel- 
lungen, die man noch heute auf den älteflen aegpptifchen Kunft- nnd Baudenktmälern 
findet, wollen fie bemeifen, daß die Abflammung der Menfchheit von einem einzigen 
Paare eine Unmöglichkeit fei. Auf der andern Seite will man aus den Schäßelformen 
der verfchienenen Menfchenftämme auf eine vielfache Abftammung des Menſchengeſchlechts 
den Schluß ziehen. Auch zu diefer Anficht bat Morton theild durch feine große Schädel 
fammlung, theild durch feine Werke: Crania americana, 1842, und Cranin aegypliaca, 








Ablawmung bes Menſchengeſchlechts. 183 


1844, den erften Anftoß gegeben. Ex fchöpft Jedoch feine Beweisgründe meiftend aus 
mebr oder weniger zufälligen äußeren Kennzeihen, und feine Annahme erfcheint Daher 
fchon von rein wiflenichaftlichem Standpunkte aus betrachtet als willkürlich. Willkür 
bezeichnet übergaupt vielfach dad Verfahren der Gegner der einheitlichen Abſtammung 
Des Menjchengefhlechts in ihren Beweifen. Sp nehmen fie fünfzehn oder fechözehn 
Arten oder Specied des Menjchen und danach eben jg viele Stammpaare an; ober fie 
Lehren eine jelbiteigene Schöpferfraft der Erde und geben jedem Lande feine eigenthünt« 
Iihe Schöpfung, feine Autochthonen. Die Beweiſe ſollen folgende fein: die gänzliche 
Berfchiebenheit der Racen rüdfichtlich der Körperbildung, des Sprachbaued und der 
geifligen Entwidelung, die allgemeine Verbreitur der Menjchen felbft bis zu den fernften 
und einfomflen Eilanden des Oceans, die Annahme einer auch fonft vorfommenden 
generatio nequivoca, jener zweifelhaften oder zmeideutigen Erzeugung der Wlechte, der 
Iufuforien, der Eingeweidemwürmer Durch die zeugende Kraft des Stoffes, und dazu Die 
Annahme einer der Erde früher innemohnenden größeren Jugendkraft. Allein die Un- 
erllärlichfeit der unendlichen Mannichfaltigkeit und Verſchiedenheit der Menfchengepräge 
immerhin zugegeben, jo zeigt fich erſtens die Hautfarbe in der Wirklichkeit nicht in fo 
ſchroffen Segenfägen, wie fie gewöhnlich dargeftellt wird. Ein Schwarzer kann eben 
fo gut ein Neger, ald ein Malaye, ein Weißer eben fo gut ein Kaufafler, ald ein 
Malape, alö ein Rongole fein, ein Brauner Tann allen Varietäten zugerschnet werden; 
umgelchri if} Der Aethiopier bald fchwarz, bald braun, bald nur bräunlich, der Kau⸗ 
kaſier bald fleifchfarbig-weiß, balp bräunlich, bald fehwärzlieh: alfo wird man aus der 
Hautfarbe den Beweis für Die Verjchiedenheit der Abftammung noch nicht führen fünnen. 
Beim Haarwuchs bilven die Beftimmungen ſchlichthaarig und wollhaarig ähnliche Extreme; 
aber auch hier finden fich Die dazwiſchen liegenden Abftufungen untermifht bei allen 
Borietäten, wie bei den Karben. Wohl zeichnen fi manche Stämme und Völker 
durch beſondere Länge oder Kürze der Geftalten aus, aber fie gehören nicht befonderen 
Rasen en, jede Race bat jehe Größe aufzumweifen. Auch die drei Schäbelfprmen, bie 
eiförmige, Eubifche und jchmale oder von.den Seiten zufammengebrüdte, find keineswegs 
ben drei Macen, der kaukaſiſchen, mongoliſchen und äthiopifchen ausfchließlich eigen, 
fondern jede dieſer Racen bat Menfchen mit der Schädvelbildung der anderen. Dafjelbe 
gilt son der Skelettbildung; denn was Sömmering und Tiedemann ald Merkmale an 
Negerſkeletten aufgefunden haben, ift, obgleich feltener, guch bei Europäern angetroffen 
worden: dach find hierüber die Unterſuchungen noch nicht beendigt. Aus diefen Punkten 
ergiebt ſich, daß Fein einziges Kennzeichen einer beflimmten Nacenform fo feft ficht, 
Daß es nicht auch in anderen Varietäten gefunden wurde, daß alſo Die Racenverſchie⸗ 
dewheiten gar nicht fo bedeutend find, als fie gewöhnlich angegeben werden. Zweitens 
giebt es Fein anderes untrügliched Merkmal für die Beitimmung der Gattung (species), 
als Die freiwillige Begattung. Da dirfed Geſetz für Die ganze organifche Natur gilt, 
kann es auch auf den Menfchen angewendet werben. Die Menfchen aller Racen koͤnnen 
untereinander fruchtbare Ehen ſchließen; Alter, Tragzeit, Zahl der Kinder, Bau der 
inneren Theile, Ernaͤhrungsproceß, Empfänglichkeit für beftimmte Kranfheitsformen find 
im Mefentlichen bei allen Maren glei; alle bemerkten Abweichungen find nur Ent« 
wickelungsweiſen, deu Begsiff der Gattung darzuftellen: folglich find jene Racen nur 
Baziekäten oder Abarten der Einen Gattung, deren Abflammung von Einem Paare 
ale möglich nicht: bezweifelt werben kann. Biel bemeiskräftiger aber ift drittens Die 
geiftige Einheit des Menſchengeſchlechts. Jeder gefunde Menfch jeder Race ift ein ver- 
nünftigeß,, felbitbemußtese Weien. Gerade die bemerkte Temperamentöverfchiedenbeit, 
welche Die koͤrperliche Mannichfaltigkeit noch übertrifft, fpricht für die gemeinfane Ver⸗ 
breitung des Geiftigen, ohne welche ber Begriff des Temperaments nicht denkbar wäre. 
Ein Ausdruck dieſes Geiſtigen ik die Sprache. Allen Menfchen ift die Sprache eigen» 
thimlih, Uber ihre Werfchienenheit fol auch die Verſchiedenheit der Abftammung 
beweifen. Allein einmal haben Stämme, die fih an Geftalt ganz ähnlidy find, oft 
völlig vesfchiedene Sprachen und umgekehrt fprachverwandte Stämme fehr verfchiedene 
Seftalien, fo daß diefer Beweis in fi felbft zufammenfällt. Dann aber hat bie neuere 
Sprachforſchung immer mehr Sprachen ald urfprünglich verwandte Fennen gelernt und 
auf immer weniger Grundſtaͤmme zurüdgeführt. Noch am Anfange dieſes Jahrhunderts 


184 Ahftammung des Merſchengeſchlechts. 


wollte ſich keine Verbindung zwiſchen den indogermaniſchen und ſemitiſchen Sprachen 
auffinden laſſen, und jetzt find zwiſchen dem Indogermaniſchen und Hebräifchen, Aegyp⸗ 
tiſchen, dem Malaiiſch⸗Polyneſiſchen, ja ſogar dem Suͤdamerikaniſchen Verbindungslinien 
gefunden, ſo daß die Ahnung Chamiſſo's („daß wer mit gehörigen Kenntniſſen gerüſtet, 
alle Sprachen des redenden Menſchen überſchauen und vergleichen könnte, in ihnen nur 
verjchiedene, aus Einer Quelle abgeleitete Mundarten erkennen würde und Wurzeln und 
Formen zu Einem Stamme zurüdzuführen vermöchte”) nicht allzufern mehr von ihrer 
Erfüllung zu fein foheint. a 
Abgefehen aber von diefer mehr oder minder nachweisbaren Außerlichen Verwandt⸗ 
fhaft der Sprachen ift eine viel wichtigere innere vorhanden, für welche Wilhelm v. 
Humboldt in feinem Buch über Die Kawi⸗Sprache das erhebende Zeugniß ablegt: „So 
wundervoll ift in der Sprache die Indivibualifirung innerhalb der allgemeinen Heber- 
einftimmung, daß man eben fo richtig fagen fann, Daß das ganze Menfchengefchledht 
nur Eine Sprache, als daß jeder Menſch eine befondere beſitzt.“ Ban bemerke, daß 
Humboldt in diefem Satze eine doppelte Art der inneren Vermandtfchaft aller Menſchen⸗ 
fprachen hervorhebt: er deutet auf die Gemeinfamkeit der Betrachtungs⸗ und Denffor- 
men, die ihnen zu Grunde liegen, bin und hebt als einen das gejammte Menjchen- 
gefchleht beſonders charakfterifirenden Zug die Sucht nah Individualiſirung der 
Gefanmtfprache zu millionenhaften Einzelnfprahbildungen hervor. Eben fo wenig als 
die Annahme von der wefentlichen Verſchiedenheit der menfhlichen Sprachen Beſtand 
-baben kann, eben fo fehr ift audy Die andere von einer generatio aequivoca durch die 
neueften Unterfuchungen erfehüttert worden. In Betreff ver Infuforien hat fie Ehren- 
berg, welcher befanntlich auf diefem Gebiete die höchften Verdienſte erworben, früher 
getheilt, jeßt aufgegeben, und für die Eingeweidewürmer ift fie fo zweifelhaft geworden, 
daß der Göttinger Phyſtologe Rud. Wagnef geftebt, Daß ihr die neueren Unterfuchungen 
für irgend eine Thierklaſſe faft alle Stügen entziehen. Doc auch zugegeben, daß folde 
Zeugung beim Schimmel oder bei den Milben möglich wäre, fönnte fie darum audı 
bei Thieren höherer Gattung, könnte fie gar bei dem Menfchen für gültig erklärt were 
den? Freilich giebt ed ja fogar Leute, welche ein Werthverhältniß der Menfchenracen 
aufgeftellt haben, welche behaupten, daß das Negergefchlecht dem Affentypus am naͤchſten 
ftebe, ja melche fogar den Menfchen für einen höher begabten und gfüdlicher cultivirten 
Affen anfehen. Glüdlicherweife hat eine gründlichere Völkerkunde auch dieſe Traͤu⸗ 
mereien von höheren und niederen Menfchenracen befeitigt, und wir wiflen, daß bie 
Neger und Eskimos eben fo gut der geiftigen Ausbildung fähig find, wie Pie 
Europäer, fo gut wie diefe mit jenen in den gleichen Abgrund der Sünde verfinten 
fönnen. Schließlich find noch jenen Beftreitern der Abftammung des Menfchengefchlechte 
von Einem Menfchenpaare die Männer entgegenzuftellen, welche auf naturwiſſenſchaft⸗ 
lihem Wege die Möglichkeit derfelben bewiejen haben — nämlih aus Erfahrung fann 
Die wirkliche Abftammung nicht ermittelt werden; ed reicht für die Glaubwürdigkeit 
der biblifchen Nachricht vollfommen aus, wenn ihre Möglichkeit nicht mehr aus 
vernünftigen Gründen bezmeifelt werden darf —: Haller, Linne, Buffon, Cuvier, 
A. v. Humboldt, W. v. Humbolbt, Joh. Müller, Schubert, Andr. und Rud. Wagner; 
denn die Uebereinftimmung der wahrheitsliebenden und unterrichteten Männer ift ein 
wichtiges Kriterium für die Wahrheit einer Sache. Die Sache der Menfchenabftammung 
ift aber wichtiger, als fle gewöhnlich angefehen wird. Nicht bloß, daß fie mit ber 
Mahrheit des Chriftenglaubens zufammenhängt, daß fie die Glaubwürdigkeit ver Schrift 
beweift, daß fie die Einheit des Begriff und der Anlage der Menfchen mit der Gleich⸗ 
heit ihres Zieled begründet; fondern fie Iegt und auch die gemeinfame Pflicht auf, 
diejenigen, welchen der Weg zu jenem legten Ziele aller Menfchen noch nicht befannt 
geworden ifl, oder die, welche ihn wieder verloren haben, in brübderlich helfender Liebe 
zu belehren und zu führen, auch den verwahrlofeften Neger nicht für verloren zu geben, 
feinen Menfchen unter feinem Menfchenwerthe zu behandeln, fondern in ihnen allen das 
urfprünglich vorbandene Ebenbild Gottes zu erkennen und fie demgemäß zu ehren. 
Bon Einem Menfchen, Adam, ftammen alle Menfchen ab: zu dem Einen Gottmenſchen 
Jeſus CHriftus jollen fie alle hinaufgezogen werden; die Teibliche Vielheit aus der leib⸗ 
lichen Einheit ſoll geiftige Einheit bei aller geiftigen Bielheit werden. Dabei Täugaen 


Asitenmung bed Menſchengeſchlechts 5 


wir die tiefe Kluft durchaus nicht, welche Die einzelnen Racen des Nenſchengeſchlechts 
und bejonderd die ſchwarze von der kaukaſiſchen ſcheidet, aber wir finden bafür eine 
Binreichende Erklärung in der Verſchiedenartigkeit des religiöfen Zuflandes der einzelnen 
Menſchen in der Zeit der erftlen Ausbreitung unſeres Geſchlechtes. Es ift ein tief- 
ſtnniger Zug in dem befannten Gemälde Kaulbach's, „die Zerfireuung des Menſchen⸗ 
gefchlehtd am Thurme zu Babel”, daß er dem düuſter finnlichen Hamiten ein fchredlich 
verzerrtes Gögenbild in Die Hand giebt. Dies robgefchnigte Ungethüm ift gleichwohl 
Das Ideal des Formenfinns, welchen der religidd am tiefften gefunfene Nachfomme 
Adams noch bewahrt hat, und wie die böchjte Kraft ſeines inneren Lebens fich in 
Diefem entfetlichen Kunftverfuche auswirkte, jo wirkt wiederum auch daß fertig gewor⸗ 
dene Ideal auf die Anfchauungen, auf die Haltung wie auf den Geſichtsausdruck des 
Bildners und weiter dann auch auf die Form feiner Nachlommenfchaft. Die bildende 
Kunſt — died Wort in feinem umfaflendften Sinne genommen — bat ald eine Ver⸗ 
mittlerin der inneren Rebensrichtung, von der alle Form abhängig ift, unter andern 
mitwirkenden Kräften jehr viel zur Bildung der vielen VBerfchiedenartigfeiten in unferm 
Geſchlechte beigetragen, und niemald war ed für ihre Bebeutung gleichgültig, welche 
religiöfen Borftellungen ihre Meifter beherrichten, und wo jene nicht zu Gott binführten, 
führten fle fchon dadurch von Bott ab und erzeugten ſtets flatt der Schönheit »ie 
Garricatur und rũckwirkend entitellten fie auch die innerlich betheiligte Umgebung. 

Wir. fügen diefem Artikel eine geiftvolle Bemerkung H. Leos in feiner Einleis 
tung zur Univerfalgefchichte (Erfter Band, 3. Aufl. ©. 4 u. 5) bei, welche alfo lautet: 
„Die Naturwiffenfchaft wie die heilige Offenbarung leitet alle Menfchen von einem 
Baare ab — dennoch find fie nicht nur durch dußere und innerliche Erlebnifie und 

"dadurch gewonnene Lebensbedingungen verfchieden geworden (maß, da es biß auf einen 
gewiſſen Grad noch heute gefchieht, Fein Wunder wäre,) fondern die Verfchiedenheit hat 
fich als Natureigenheit firirt; wie durch einen zweiten jchöpferifchen Spruch hat fie fich 
feftgeftellt. War in dem gefchaffenen Wefen felbft anfangs noch fo gewaltige Schöpfungs« 
Traft, daß feine Zeugungen naturfräftiger, weiter abweichend in ihrer Eigenthümlichkeit, 
naturfefter in ihrem Verharren ausflelen? daß feine momentanen Stimmungen, feine 
Sünden in naturbefchränkteren Generationen aushaltende Denkmale erhielten? ober iſt 
die Natur mancher Erdtheile fo, daß der von Fünfllichen Mitteln verlaffene Menſch in 
ihr vergeht, wenn er nicht in fich zufällig dieſer Natur analoge Eigenheiten bat, Die 
ann von außen unterflüßt, zur lebenäbeflimmenden Kraft erwachfen, den ganzen Men⸗ 
fehen umbilden und ihm ein andere Gepräge geben? Dann wäre erBlärlih, warum 
jegt Kaufafler in Afrifa nicht zu Negern, Neger in Europa nicht zu Kaukaſiern 
werben — ohne Miſchung auch in Feiner folgenden Generation werden — weil jet 
taufend Mittel die Eigenheiten ver Menfchen gegen die umgebende Natur fchügen, welcher 
obne diefelben die ibr fremden erliegen müßten bis auf die feltenen wenigen, die biefer 
Natur analoge Kräfte in fich hätten und die dann vielleicht in diefen wilden Begeg- 
nungen mit der umgebenden Natur auch ihre eigene Natur im Berlaufe von Genera- 
tionen umbilden fünnten — wobei, wenn auch foldde Umbildung jegt nicht mehr, felbft 
unter dieſen Umſtaͤnden nicht mehr möglich wäre (wie fie allerdings nicht möglich 
fcheint) man zugleich daran denken dürfte, daß, wie man einen runden Baumflamm 
zwar beliebig der Länge nach in Bretter, oder der Breite nach in Scheiben zerſchneiden 
— aber nachdem die Zerfchneidung einmal flatt gehabt, nimmermehr aus den Länge- 
Brettern Ouerfcheiben, oder aus den Scheiben Bretter ſchneiden Tann, fo auch vielleicht 
der Urftamm der Menfchen unter gewiflen Bedingungen zum Neger, unter anderen Be⸗ 
Dingungen zum Kaufafter, niemald aber ein Neger zum Kaulafler ober umgekehrt zu 
werden vermag.” 

Anders it Schloſſer's Stellung. zu dieſer Frage. Bei der fpäteren Ueber⸗ 
arbeitung feiner Weltgefchichte hat er fich hauptfählih an Tiedemanns Urtbeil, der 
gegen die monogenetifche Anficht ift, angefchlofien. Doch hat Schloffer Fein ent- 
ſchiedenes Urtheil, er entfcheidet fich nicht gegen die Bibel und nicht gegen die Natur- 
forfcher. Seine ganze Deduction iſt den letztern günftig. Der Leſer foll Durch Die 
Beweisführung, daß biefelben Pflanzen in ganz entfernten Ländern ich finden, und 
sbenfo Die Thiere derſelben Species nicht durch Verbreitung, fondern Abſtammung von 


186 Anftendögeld. Abktumung. 


mehreren Paaren, überall vorkommen, gewonnen werben an eine generalio aequivoca 
zu glauben. In feiner erften Ausgabe Hat Schloffer verfucht im Einklang mit der 
Bibel ſich eine Theorie über die Abftammung des Menſchengeſchlechts zu confiruiren. 

&. auch den Artikel Nacen. 

Abftandögeld wird diejenige Summe genannt, welche ein Gontrahent dem anderen 
dafür entrichtet, daß er vom Vertrage, ehe derfelbe erfüllt if, zurüdtreten darf. Ban 
- nennt ed Reugeld, Wanvelpön (arrba poenitentialis), wenn von vornherein zwiſchen 
den Contrahenten verabredet ift, gegen Hingabe einer beſtimmten Sunme folle Einem 
oder Beiden der Nüdtritt geftattet fein. (S. Draufgeld, Neugeld, Wandelpön.) 

Abſtimmung. Abftimmung ift Die in gewiffer feierlichen, ſei es durch Gefeke, 
fei es durch rechtöverbindliche Verabredung beftimmter Form erfolgende Verlautba⸗ 
rung des al8 zweifelhaft oder beftritten vorausgefegten Willens oder der Weberzeugung 
einer für Die vorliegende Frage zu einer Einheit zufammengefaßten Mehrheit von Ber 
fonen, denen das Recht oder die Pflicht obliegt oder zufteht, den in Ausficht genom⸗ 
menen Ausdruck ihrer Ueberzeugung oder Die in Mebe ftehende Entſcheidung über ein 
ihrer Willensbeftimmung unterworfenes Object gemeinfchaftlic zu gewinnen. 

Es wird nicht befremden, wenn biefe unfere Definition von der anberweit gang- 

baren in mehrfacher Beziehung abweicht, und menn dieſelbe inöbefonvere einmal das 
Object ver Abſtimmung näher präcifirt und ſodann den zweifachen Character Derjelben, 
in fofern fie nur Ausdruck einer Ueberzeugung ober eine beſtimmte Willens- 
Außerung und Enticheivung if, ausdrücklich feſthält. Der weitere Berlauf des Artikels 
wird ergeben, daß jene Momente für dad Weien und die Wirkungen der Abſtimmung 
von weſentlich principiellee Bedeutung find. 
Zuerſt das Object der Abſtimmung; man hat in dem Feldlager des vul⸗ 
gären Liberalismus kaum ein Bedenken, jede Frage ohne Unterſchied dem Bericht ber 
Abſtimmung und der Majoritäten zu unterwerfen und doch leuchtet von felbft ein, daß 
eine der Disppfition der Abftimmenden entzogene und von deren Ueberzeugung unab- 
bängige Wahrheit oder Thatfache niemals Gegenfland einer Abſtimmung in Dem Sinne 
fein fann, daß dadurch über Die Nichtigkeit der Wahrheit und Thatſache an ſich ent 
fehieden oder ein etwa obwaltender Streit endgültig ober auch nur rechtsverbindlich 
zum Austrag gebracht werbe. Hier gilt der Grundfag: „Autorität, nicht Majorität” 
ohne alle Beſchraͤnkung. Es kann deshalb auch über religiöſe und wiflenfchaftliche 
Fragen eben fo wie über gefchichtlihe Thatfachen nie und unter feiner Bedingung durch 
Majoritäten entfchieden werden. Ob es ein „böchfled Weſen“ giebt unb mie baflelbe 
angebetet werben will, welches der verſchiedenen aſtronomiſchen Syſteme Das richtige 
ift, welches die unerläßlichen Borausfegungen der fittlichen Freiheit ded Menſchen find: 
darüber und über ähnliche Fragen muß man auf anderem Wege ald durch Abſtimmung 
zue Klarheit gelangen. Wenn nichtö deſto weniger auch über derartige ragen, z. B. 
auf den Synoden der Kirche Abftimmungen flattgefunden haben, fo hatten dieſe Ab⸗ 
fimmungen doch nur die Bebeutung, ber Ausdruck der Ueberzeugungen, das Zeuguiß 
und Bekenuntniß der Abſtimmenden und damit allerdings zugleich bie VBoransfegung und 
Baſis ihres Handelns zu fein, Zeinedwegd aber Die Skreitfrage an ſich Durch Die Pro⸗ 
tedur Der Abftimmung und deren Reſultat entſcheiden zu wollen. Nicht Die Macht der 
Zahl und nicht das Gewicht der Majerität, nein, die Macht der Wahrbeit und die 
Autorität Ber Verfönlichkeiten waren ed, die jenen Befchlüffen ihre Geltung und ihre 
Bedeutung verliehen; die Majorität galt nur fo meit und in fofern fie Mit der Autor 
rität zuſammenſiel. Man hat die Stimmen eben gewogen und nicht gezählt. Man 
wußte damals noch und hielt baran feft, daß Glaube wie Verftand flets bei Weniger 
nur zu finden, ein Sag, dem fich heute der Kiberalismus nur dann — und dann auf 
die verkehrte Weile — anfchließt, wenn es ihm darauf ankommt, die Mejoritäten an 
den in feinem Sinne erfolgenden Fortſchritt der Minsritäten zu fnhpfen. (CE Rott, 
über Die Bebentung der Winorität bei Yblöfungd- und ähnlichen Anträgen.) 

Mas aber auf dem kirchlichen Gebiete gilt, das gilt nicht minder much auf dem 
politiſchen. Auch bier find Die politifchen Wahrheiten und hiſtoriſchen Ahgtſachen ber 
Entſcheidung durch Majoritätsbefchlüffe unbebingt entzogen, und wie ed ein für Jeder 
mann bandgreiflicher Widerfinn fein würde, über Die größere oder mindere wiſſenſchaft⸗ 


- Abttimmung. 187 


licge Berechtigung des Gopernikanifchen oder Ptolemäijchen Syſtems durch Abflimmung 
entfcheiden zu wollen, fo ift es durchaus nicht geiftreicher, eine ähnliche Entſcheidung 
über das Berbältnig des conftitutionellen und flänbifchen Syſtems durch Majoritäten 
zu gewinnen. Eben fo find Fragen, wie die: ob Religion und Politik, ob fociale und 
politifche Stellung und Rechte yon einander unabhängig find oder nicht, ſchwerlich 
dazu angetban, durch Abftimmung zum Austrag gebracht zu werden. Wit demfelben 
echte und mit derfelben Wirkung könnte man auch Die mediciniſche Wiflenfchaft und 
deren Streitfragen durch Abſtimmung firiren und alle Zweifel der Naturwiflenfchaft, 
Biychologie und Geſchichte, Aber den Einfluß von Klima, Lage und Terrainbildung 
auf die geifigen Fähigkeiten, den Charakter und Die fociale wie politifche Entwickelung 
Der Bölker und Menſchen einfach und gemüthlich durch Majoritaͤtsbeſchluß befeitigen. 

Doch nicht in abstracto allein, auch in concreto muß der betreffende Gegen 
Rand der Beichlußfafiung ver Abſtimmenden unterworfen fein. Dad Parlament eined 
monarchiſchen Staates, welches ſich ald Convent conftituirt, eine politifche Körperfchaft, 
die ihre Durch die Verfaſſung fanctionirten Befugniffe überfchreitet, fle haben mit der 
Baſis ihrer Stellung gleichzeitig das Mecht verloren, rechtsverbindliche Majoritaäts⸗ 
Beiäylüffe zu faflen und die Minerität durch folche zu ‚verpflichten. Dies gilt im 

en wie im Kleinen, es gilt aber auch, wenn es ſich um die Frage handelt, ob 
die Befchlüffe irgend einer Majorität fachlich und zeitlich weiter reichen fünnen, als 
ihr eigenes Recht. Wohlbedacht und wohlberechtigt bat man weshalb auch ſchon bei 
gewöhnlichen Semeinfchaften und Eorporationen nicht nur diejenigen Rechtsverhältnifie, 
„über welche ein Jeder Iediglich für fein PrivateInterefle zu beſtimmen bat”, die eigent- 
lihen jura singulorum der Entſcheidung durch Majsritätöbefchlüffe entzogen und dem 
Einzelnen ein unbedingtes Widerfpruchörecht beigelegt, fondern auch einen beflimmten 
principiellen Unterfchied flatuirt zwifchen denjenigen Beichlüffen, welche fig auf Die 
laufende gewöhnliche Gefchäftsführung und Verwaltung, und denjenigen, welche fi 
auf die Grundverfaffung und die Lebendbedingungen der Gemeinſchaft felbft beziehen. 
Während man bei jenen das Mecht der Mehrheit anerkannte, bat man bei dieſen bald 
in StimmensEinhelligfeit oder relativen Maforitäten (zwei Drittel und darüber), bald 
in einem beftimmten Inflanzenzuge oder dem Vorbehalt der Beftätigung einer höheren 
Autorität, bald in der Befugniß der Minderheit die Auflöfung der Gemeinfchaft yer« 
langen zu können, Garantieen für die Minoritäten gefucht. 

Es leuchtet ein, daB ed nur eine Uebertragung diefer Anſchauungen uns Beſtim⸗ 
mungen auf das faatsrechtliche Gebiet ift, ') wenn eben fowohl neuere als ältere Ver⸗ 
faſſungs⸗Urkunden bei der Abjlimmung über beſondere oder Standesrechte Die itia in 
partes geftattet haben, wenn ſie bei Abflimmungen über Verfafſungs⸗Aenderungen eine 
ſtarkere ald die gemöhnliche abfolute Mehrheit für nothwendig erllären und überall, 
mit uenadine der fpeeiftfch revolutionären Machwerke -(Branfreich in der erſten Revo⸗ 
lution, Hadnover in der legten) — felbft in republifanifchen Verfaffungen, z. 2. 
Amerika, mit gewiflen Modificationen — das Veto der hoͤchſten Staatsgewalt, alſo 
der Autorität gegenüber ver Majorität, feftgehalten Haben. | 

Allerdings ift hiermit noch nicht der rechte flaatörechtliche Gedanke, fondern nur 
eine Gonfequenz deſſelben firirtt. Das Princip greift weiter und würde etwa babin 
näher zu präcifiren fen, daß die jeweilige Generation eben nur über fig ſelbſt und 
weber über Die Dergangenheit noch über die Zukunft ihres Volles und Staates und 
auch über ſich ſelbſt nur als über einen integrirenden Beftandtheil jener hiſtoriſchen 
und flantsrechtlihen Gefammtheit,, Volk“ zu disponiren bat, in welcher die einzelne 
Seneration nur ein verſchwindendes Moment if. (Das Nähere in ven Artikeln 
Autorität und Majorität.) 

Nichts verfehrter und Eomifcher, als die Art und Weife, wie der Ziberalismus 
dem gegenüber das Princip der Majoritäts⸗Herrſchaft aufrecht zu erhalten ſucht. Hören 
wir die Gründe der Gegner, fo lauten diefelben folgendermaßen: „Durch ihre gefells 
fihaftliche Natur und Beflinmung find Die Menfchen angewieſen, viele ihrer Beſtrebungen 
und Thätigkeiten in verſchiedenen gefellfchaftlichen Berbindungen vorzunehmen und fie 

2) Ueber die Bedeutung der Stimmens@inhelligfeit bei den engliihen Schwurgerichten fiche 
Vielen Artikel. 


er 


188 Abſtimmung. 


zu geſellſchaftlichen oder zu gemeinſchaftlichen Angelegenheiten zu machen. Wenn 
ſich nun keine Allen erkennbare Stimme Gottes darüber ausſpricht, was gerade in 
jedem Falle ſowohl rückſichtlich der Auffaſſung der erfahrungsmaͤßigen Verhaͤltniſſe wie 
rückſichtlich der hier paſſenden Anwendung höherer Wahrheiten, das Richtigſte und Beſte 
fei, und wenn ſie auch keinem einzigen ſchwachen Sterblichen aus ihrer Witte zum vor⸗ 
aus das Vertrauen ſchenkte, daß er ſtets weiſer und beſſer als ſie Alle das Beſte in 
ihren gemeinſchaftlichen Angelegenheiten beſchließen werde: was bleibt dann wohl andere 
übrig als gemeinſchaftliche Berathung und Beſchlußfaſſung? So wie die Gefellfchafte- 
glieder überhaupt zufanımen wirfen und dadurch meiftend Größeres und Beſſeres erreichen, 
als Einzelne für fich vermöchten, fo machen jle es auch in Beziehung auf Die Erwägung 
der erfahrungäsmäßigen und Vernunft » Erfenntnifie zur Entſcheidung der betreffenden 
wichtigen gemeinfchaftlichen Angelegenheiten. Sie theilen fich in gemeinfchaftlicher Be 
rathung ihre befonneren Erfahrungen, Anfichten, Schlußfolgerungen mit und aufgeklärt 
Durch dieſe gemeinfchaftliche Erwägung der Sache von verfchiedenen Stundpunften aus 
und indbefondere durch Anhörung aller Weifeften und Beften, fuchen fle num fich eine 
ſchließliche Ueberzeugung zu bilden, weldye der Natur der Sache nach auf reiferer und 
grünblicherer Berüdjichtigung aller verfchiebenen, bier in Sprache Zommenden Gründe 
und: Gegengründe beruhen muß. Und was noch mehr ifl, in der nothwendigen gejell- 
ſchaftlichen gegenfeitigen Achtung und Anerkennung bes gleichen Rechts der Mitglieder 
in Beziehung auf das gemeinfchaftlidd Gemachte, juchen fie nicht bloß einen moͤglichſt 
der gemeinfchaftlichen Weisheit und Tieberzeugung entftammenden, fondern auch einen 
möglichft den gemeinfchaftlichen Willen der Glieder für fich gewinnenken wahren Gefell- 
fhaftsbefchluß zu finden und zu bewirken. Dazu nun baben, foweit die Menſchen⸗ 
geſchichte reicht, Die Menfchen in ihren zahllofen großen und Heinen Vereinen es für 
naturgemäß und vernünftig gehalten, die Mitglieder abjtimmen zu lafien und dann ber 
Weisheit der Mehrheit fich anzufchließen. Auch da, wo man Die vertrauenswürdigſten, 
fachkundigften Mitglieder zu einem Ausſchuß wählt, um für die Gefelljchaft zu befchließen, 
gilt ganz daſſelbe. Einen befferen allgemeinen Erfenntnißgrund für das Weifere und 
Beflere in der gerade vorliegenden Sache und zugleich eine mehr mit der größtmöglichen 
gefellfchaftlichen Freiheit übereinftimmende Entſcheidung Eonnten fie bei der linvollfom 
menheit aller menfchlichen Dinge, bei der Unvollfommenheit auch jedes Einzelnen und 
der Schwierigkeit, den Weifeiten und den Beften zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, 
nicht finden. Zu beforgen, daß ed weijer fei, die Meinung der Minderheit zu befolgen, 
fiel ihnen nicht ein, und den Hochmuth mancher heutigen vornehmen oder gelehrten 
Sophiften, allein weiſe zu fein und alle Anderen geringfchägen zu bürfen, hätten fie 
mit Verachtung zurüdgewiefen. Sie beftimmte ihr gejunder, echt gefelffchaftlicher Sinn, 
den Mehrheitäbefchluß als folchen anzujehen, den auch Die Ueberflimmten zu dem ihrigen 
machten. So unterzeichnen ja auch noch heutzutage die überflimmten Mitglieder eines 
Collegiums den Majoritätäbefchluß als nunmehr auch Den ihrigen. Go ift denn 
alfo auch für die beftimmte Gefellfchaft jener hochweiſe Gegenfat der Autorität gegen 
den der Majorität ebenfowenig praftiich gültig vorhanden, als ver der größeren Weis⸗ 
beit Die verfaflungsmäßige Majorität der Gefellfchaft bildet die für fie weijefte Ent 
feheivung und hat für fle Die größte Autorität. Wer von den Ueberftimmten barf 


dieſes praftifh Täugnen und Mitglied der Gefellfchaft bleiben wollen? Wer hat das 


Recht, als der Weifere und ald mehr geltend wie die Maforität, Anerkennung zu 
fordern? . Daffelbe aber, was von der Majorität alddann gilt, wenn fie fo wie in 
einer reinen Demokratie über alle Stantö-Angelegenheiten entfcheidet, das gilt rechtlich 
von ihr auch da, wenn ihr, wie in einer conftitutionellen Monarchie, „nur für einen 
Theil derfelben eine verfafjungsmäßige Entſcheidung zufteht. 

So Herr Welder als wifjenichaftlicher Vertreter de3 Liberalismus. Man fleht, 
wo Gedanken und Gründe den Dienſt verfagen, da fängt man an, pathetifch zu werben, 
und fcheint auch ſelbſt ein wenig „Schimpfen“ nicht zu ſcheuen! 

, der Sache felbit liefert Die Gefchichte den unmiberleglichen Beweis, daß noch 
niemals ein Fortfchritt weder in der Erkenntniß, noch auch nur in der politifchen und 
focialen Entwidelung durch Majoritäten oder Majoritäts-Befchlüffe zu Stande gekommen 
it. Perfönlichkeiten, befonverd begabte, ausgerüftete und durch die Vorfehung Gottel 


Abſtimmung. 189 


begleitete und unterſtützte Menfchen waren ed, an deren Namen und Gedachtniß jich 
die Fortſchritte des menfchlichen Gefchlechtes knüpfen, „Autoritäten, nach deren Namen 
fich zu nennen noch heute die Menfchheit nicht verichmäht. 

Nicht Daß wir unferer Seitd die Bereutung und den Werth einer gemeinfanen 
auf daſſelbe Ziel gerichteten Arbeit der Menfchheit, ja auch nur einer tüchtigen parla⸗ 
mentarifchen Berfammlung unterfchäßten, nicht daß wir unfere Gegner gering achteten 
oder uns jelbft für allein oder ganz beſonders weife hielten: im Gegentheil, wie das 
Licht war vor der Sonne, fo ift audy die Wahrheit weſentlich ſchon in den Menfchen, 
bevor ſie in Einzelnen Fleifch und Blut gewinnt, Doch mur, daß die Concentration und 
der Fortſchritt durch Arbeit und Schöpfung, niemald aber durch Abftimmung erfolgt. 
Für die Wahrheit ann man die Majorität vielleicht gewinnen, dur bie Ma⸗ 
jorität die Wahrheit nimmer. 

Die liberale Theorie von der Berechtigung der Maforitäten ift Nichts, als das 
Fauſtrecht der Schwäßer, dad natürlich dem Fauftrecht des Säbeld nicht gemachfen war. 
Es war, wenn auch anders formulirt, Doch im Weſen verfelbe Gedanke wie der unfere, 
wenn jetzt Männer wie Bucher und gleichgefinnte ernfte und venfende „Demokraten“ 
die Befeitigung der vermeintlichen Omnipotenz der Parlamente und deren Unterorbnung 
unter ein — ihnen freilich nach Entftehung und Bedeutung noch ziemlich unklare — 
common law als die Lebensfrage der gemeinen Volföfreiheit behandeln; es war berjelbe 
Gedanke, wenn in den Stürmen des Jahres 1848 in einer Reihe — an fich freilich 
ziemlich verkehrter — fog. „Grundrechte* eine gewiffe Summe von Rechten und flaat- 
lihen Inftitutionen vor der Willfür der jeweiligen Generation ficher geſtellt wer⸗ 
den ſollte. 

‚ Bir fürdten kaum, daß die Theorie des Herrn Welcker noch lange als die herr⸗ 
ſchende gilt. 

Die Art und Weiſe der Abftimmung betreffend, fo jegt, wie ſchon ana 
gedeutet, jede Abftimmung eine ‚ftreitige oder mwenigftens zweifelhafte Brage voraus, fo 
daß die Entfcheidung durch Acclamation die Abſtimmung im Voraus entbehrlich 
macht und die Einſtimmigkeit nachträglich den Beweis Tiefert, daß die Abftimmung 
eigentlich zum Weberfluß erfolgt ift. 

Die insbefondere politif am meiften in das Gewicht fallende Differenz über bie 
Modalität der Abftimmung ift die: ob Öffentlich, ob geheim, bei welcher Streit⸗ 
frage überrafchender Weife nicht felten die enragirteften Freunde der Deffentlichkeit auf 
allen anderen Gebieten auf Seiten des Geheimniffes ftehen. 

Allerdings erfennen auch die Vertheiviger ver geheimen Stimmabgabe an, daß. 
für die Deffentlicykeit der Abſtimmung diefelden Gründe zu entfcheiden fcheinen, welche 
für die Deffentlichfeit in den gemeinfchaftlichen ober öffentlichen Angelegenheiten über» 
haupt fprechen, daß jeder ehrliche tüchtige Mann, Bürger und Beamte den Muth haben 
müfle, unbeflochen durch Furcht oder Hoffnung, fein ganzes Wirken und feine Ueber⸗ 
zeugung in Beziehung auf die öffentlichen Angelegenheiten feinen Mitbürgern zur Prüs 
fung vorzulegen und gewiflenhaft durchzuführen, daß die Deffentlichkeit, die * 
Prüfung und die dur "fie angeregten Beweggründe der Ehre und Schande gerade 
befonderd ſtarke Wächter für eine mwürdige Ausübung öffentlicher Nechte und Pflichten 
bilden; daß die Controle der Deffentlichkeit unbebingt nothwendig fei, wenn Gewähr 
dafür geboten fein folle, daß die öffentlichen Functionen nicht zu Privat- oder Particular⸗ 
zweden mißbraucht, fondern im öffentlichen Intereffe geübt werden und wenn politifche 
Bildung ermöglicht und gefördert werben folle. 

Aber — fo wendet man ein — „es find leider nicht alle, ja es find nur ſehr 
wenige Bürger und Beamte durchaus zu jeder Zeit und in Beziehung auf jedes Ber- 
haͤltniß folche unerfchütterliche Tugendhelden.“ Gerade deshalb und um den nachtheili⸗ 
gen Wirkungen menfchlicher Schwächen vorzubeugen oder fle aufzuwiegen, ſodann aber 
auh um den recht handelnden Mann vor unnöthigen und unverbdienten nachtbeiligen 
Bolgen feiner Handlung zu ſchützen, foll e8 gute Gefeße geben. Ganz unlängbar ſei 
es nun aber, daß in vielen Verhältniffen und Fällen die Einwirkungen der Vortheile 
und Nachtheile, die Gunft oder Ungunft der Mächtigen oder Meichen, ded Volkes und 
der Parteien fo ſtark jeten, Daß ſie für Viele unverviente und große Nachtheile als 


t 


1% Ä Abftimmung. 


Folgen einer gewiſſenhaften Stimmgebung begründen, die Schwaͤcheren aber von derſelben 


abhalten Eünnten. Durch dad Letzte werde jedoch der wahre Zweck, die Bildung des 


Beſchluſſes durch die freien Lieberzgeugungen aller Stimmberechtigten vereitelt und der 


Befchluß vielmehr nur von einzelnen Mitgliedern oder von Auswärtigen abhängig 
gemadht. 
| Ueberdies müſſe bei jeder Abſtimmung vor Allem davon ausgegangen werden, 
daß fle das Ergebniß der freien inneren Ueberzeugung, daß fie nicht die Folge bereits 
erlangter Vortheile oder befürchteter Nachtheile fei. Die Beftechung fchlechter, die Ein- 
fhüchterung unfelbfiftändiger Menfchen — und von beiden Klafien gebe es erfahrungs⸗ 
mäßig eine nicht unbeträchtlihe Zahl — müfle daher möglichit unwirkſam gemacht 
werden. Diefed fei aber nur bei geheimer Abftimmung ausführbar, nicht bei Der dffent- 
lihen, wo der Beſtechende oder derjenige, der durch Die beftehenden Berhältniffe auf 
Dritte Einfluß habe, die Controle über die Stimmgebung führen könne. Wende man 


not 


Dagegen ein, daß die Beſtechung an den beiden Betheiligten firenge zu ſtrafen und da 


durch zu verhüten fei, fo vergefle man, daß ein großer linterfchied zwifchen dem Drohen 
einer Strafe im Gefeß und zwifchen dem Bollzuge derfelben an Perſonen, die eim 
gleiche Intereffe der Geheimhaltung haben. Ueberdies bleibe dann immer noch Die 
Einfchüchterung mit ihren Folgen übrig, die man mit Strafen auch nicht einmal be 
drohen, gefchweige denn damit ahnden koͤnne, wenn man nicht Die perfönliche Freiheit 
und die Privatrechte gröblich verlegen wolle. Man müßte z.B. Jemandem bei Strafe 
verbieten, feine Kleider bei einem anderen ald dem &. machen zu laflen oder feinen 
Bedarf an Cigarren von B. ftatt bisher von U. zu beziehen u. f. w.“ 

Es find dies Gründe, Die von derfelben Seite aufgeftellt werden, mo man fonft 
den Staat und alle öffentlichen jpeiaen wie politifchen Inftitutionen ohne jeded Be- 
denken auf die Vorausfegung des abftract tugenphaften Menfchen, des lediglich auf 
das Wohl des Ganzen bedachten Staatsbürgerd baut! | 

Näumen wir nun auch unfererfeit® gern ein, daß es mit der menfchlichen Tugend 
und Gharafterflärfe im Ganzen und Großen nicht viel auf ſich hat, wir Eönnen doch 
nicht zugeftehben, daß die geheime Abflimmung das rechte Mittel fei, weder Die Be 
ftehung zu verhindern, noch die Tugend der Abftimmenden gegen ſonſtige Berfuchungen 
zu verfihern. Wer darüber noch zweifelhaft ift, dem empfehlen wir eine Reiſe nad) 
Amerika; er wird dort den unmiberleglichen Beweis erhalten, daß auch auf geheime 
Wahlen nicht bloß mit Dollars, fondern auch mit Dolch und Mevolver Einfluß geübt wird. 

Die DOeffentlichfeit der Abftimmung ſowohl bei Wahlen als fonft ift, mie dies 
die beiten englifchen Staatsmänner von Anbeginn feftgehalten haben, der rechte Aus⸗ 
druck deutſchen Weſens und mahrer Manneöwürde, dad rechte Palladium öffentlicher 
Ehre und Freiheit, und die Geheimhaltung nichts als ein Fläglicher Nothbehelf conſti⸗ 
mtioneller Ipealiften, welche ihre Staatögebäude auf eine politifche Lüge gegründet 
haben, und nun den Widerfpruch des Syſtems durch Verwerfung der don ihnen fonft 
fo Hoch gerühmten Deffentlichkeit auszugleichen bemüht find. 

Nicht weil die geheime Abftimmung an fich beffer wäre, ald die öffentliche, fon 
dern weil man bei Feftftellung der politifchen Nechte von der focialen Stellung abſtra⸗ 
birt, weil man den Prinzen und den Karrenfchieber, den Gutsbeſitzer und feinen Tage 
löhner, den Fabrikherrn und feinen Arbeiter ald gleichnamige politifche Größen behanbelt, 
um beswillen hat man das Bedürfniß, die Rüge des Syſtems durch Verhüllung det 
politifchen Thaͤtigkeit jener focial Abhängigen zu verbergen und zu corrigiren. 

Daß an die Stelle der öffentlichen Controle und Beeinflufjung eine viel bebenf- 
lichere und gefährlichere geheime treten Eünnte, ja als unentbehrlich treten müßte, darüber 
können wir außer dem Beifpiel Amerika's auch auf die abgefchafften Conduitenliſten 
bed Beamtenthumß vermeifen. 

- „Eines wahrhaft frein und tüchtigen Volkes würdig und der Natur der Ver 
haͤltniſſe angemeſſen ift nur die öffentliche Abflimmung, und wenn fie auch Uebelſtaͤnde 
mit ih führt, fo liegt gerade in der Deffentlichkeit die befte und die allein gründlid 
wirfende Heilung derſelben“ (cl. Dahlmann, Poltif 11. A. ©. 146). 

Deffentlih waren die Abflimmungen in den beften Zeiten der griechifehen und. 
sömifchen Republik, öffentlich waren die Abſtimmungen, fo lange der Deutfche noch 











Abſtimmung. 191 


Mann genug war, feine Ueberzeugung mit feiner Perſon zu vertreten, öffentlich ſind 
Die Abftimmungen auch heute noch überall dort, wo die Berfaffungen auf etwas Beſſeres 
berechnet find, als unter dem Scheine ber Freiheit den Despotismus eined Einzelnen 
oder der Maſſen einzuführen. \ 

Auch heute noch find Wiffenfhaft und Praris faft gleichmäßig Darüber einver- 
fanden, daß die Abflimmungen in dem Schooße der Volfövertretungen felbit, mit 
Ausnahme etwa der dort vorfommenden Wahlen, bei denen die perfönlichen Rückſichten 
überwiegen, öffentlich geicheben müflen, und zwar wird bier, felbft von den jonfligen 
Gegnern der Deffentlichkeit als durchgreifender Grund geltend gemacht, „daß bier eine 
vollftändige Controle der Wähler, namentlich des Volles über die gewählten Manda- 
tare und bie nöthige Kenntniß ihres Benehmens, felbft fchon in Bezug auf neue Wahlen 
unerläßlich feien.“ Daß biefelben Gründe wenigftend bei indirecten Wahlen für das 
Benehmen der Wahlmänner gelten, ja daß e3 für die Gemwählten felbft von Wichtig- 
feit fein dürfte, ihre Wähler zu kennen, baran fcheint diefe Art der Tendenz⸗Politik 
freilich nicht zu denken. 

Anlangend dagegen die Wahlen zu den Nepräfentativ- Körpern, fo verſteht es ſich 
eigentlich faft von ſelbſt, daß die Abftimmung in den Verfaſſungen nach franzdfi- 
ſchem Wufter geheim und in denen nach englifhem öffentlich til. 

Deffentlih finden die Wahlen flatt in England, einem Theile der norbamerifani- 
fchen Breiflaaten, in Preußen (Verordn. v. 30. Mai 1849 5 21 und 30), Kurheſſen 
(Sei. v. 13. April 1852 $ 15), Medlenburg, alternativ in Hannover. Der Der 
faſſungs⸗Ausſchuß der Deutfchen National⸗Verſammlung hatte bei der Entwerfung eined 
Reichs⸗Wahlgeſetzes ſich dem englifhen Syſteme angefchloffen und darum vorgefchlagen: 
„Das Wahlreht muß in Perfon ausgeübt, die Stimme mündlich zu Protokoll gegeben 
werden.“ Allein der Borjchlag warb abgelehnt und ftatt des obigen Satzes ein Mi⸗ 
noritäts- Antrag angenommen, lautend: „Das Wahlrecht wird in Perfon dur Stimme 
zettel ohne Unterſchrift ausgeübt.“ 

Die franzöftfchen Wahlgefeße beruhen faft alle auf dem Princip der geheimen 
Abftimmung. Das republifanifche Wahlgefeh von 1849 ordnet das Verfahren dabei 
in folgender Weife: „Die Wähler werden Einer nach dem Andern gemeindeweife vor⸗ 
gerufen. Sie bringen ihre Stimmzettel mit, die außerhalb der Verfanmlung gefertigt 
werden müflen. Beim Aufruf ded Namens übergiebt der Wähler dem Prajidenten feinen 
verfchloffenen Stimmzettel. Diefer ſteckt ihn in die WahlsUrne, die bei Beginn der 
Abſtimmung verichloflen wird und bis zu der Vollendung des Actes bleibt. Die Ab⸗ 
fimmung eined jeden Wählerd wird durch Die Unterfhrift, oder der Namendzug eines 
der Mitgliever des Bureaus auf der Kifte am Rande neben dem Namen des Stimmen- 
den beurkundet.“ Die unbebingt geheime Abftimmung tft in der Schweiz gefehlich, wo 
jeder Abſtimmende auf den (zuweilen geftempelten) Stimmzettel nur den Namen des 
Gewaͤhlten jchreibt, nicht aber unterfchreibt, und die Stimmzähler diefe Zettel erſt un- 
gelefen einfammeln und nachher öffentlich verlefen. Nach dem bairifchen Wahlgefek 
vom 4. Juni 1848, Art. 20, erfolgen die Wahlen durch Wahlzettel, die vom Wähler 
unterzeichnet find, womit die württembergifche Verfaſſungs⸗Urkunde vom 25. September 
1819, $ 150, im Wefentliden übereinftimmt; ähnlich in Sachſen nach dem Geſetz dom 
24. September 1831, 6 68. Nach der babifhen Wahl⸗Ordnung von 23. December 
1818 dur Stimmzettel mittels Motto’8, die in ein Gouvert eingefchlagen find, auf 
weldyem der Name des Wahlerd genannt ift. 

Im Uebrigen kann die Abgabe der Stimme auf eben fo mannichfaltige Urt ges 
fehehen, als man überhaupt feinen Willen erklären kann: durch Worte oder Zeichen, 
fhriftlih oder mündlich, nacheinander oder gleichzeitig (wie z. 3. in ben 
altveutfchen Volks⸗Verſammlungen und heute in den gefeßgebenvden Verſammlungen der 
nerdbamerifanifchen Freiſtaaten Durch gemeinfchaftliches bejahendes oder verneinendes Ge⸗ 
frei), und wenn ed fih um Zeichen handelt durch Händeaufheben und Nicht» 
aufheben (Handmehr), durh Aufſtehen und Sigenbleiben, durch Hin» 
treten auf. eine beflinnmte Seite ded Berfanmlungs-Orted, durch Abgabe eined 
beſtimmten Gegenſtandes, 3. DB. einer weißen oder ſchwarzen Kugel (Ballotiren), eines 
Taͤfelchens mit kurzer Bezeichnung des Votums u. f. w. Ueber die näheren Details 


192 Abſtoßung. Abt. 


und deren Beurtheilung verweiſen wir auf die entſprechenden Abſchnitte der Artikel 
Stimmrecht, Geſchäfts⸗Ordnung und Wahlgeſet. Hier genügt die Bemerkung, daß 
ed für die Beurtheilung der Zweckmäßigkeit der verſchiedenen Abſtimmungsarten haupt⸗ 
ſächlich darauf ankommt, daß dadurch die Anſicht ver Mehrheit ſchnell und unzwei⸗ 
deutig ermittelt wird. 

Das ferner die zu einer rechtöverbindlichen Abflimmung erforberlihde Anzahl 
von Perſonen betrifft, fo ift, wenn darüber Durch Herfommen oder pofitive Vorfchriften 
nicht8 Näheres vorgefchrieben ift und mit Ausnahme einzelner befonderd behandelter 
Fälle, 3. B. der DVerfafiungs » Aenderungen, die abjolute Mehrheit der Mitglieder zur 
Befchlußfaffung berechtigt, mie Dies in den meiften neueren Verfafjungen und Gefchäfts- 
Ordnungen noch ausdrücklich anerkannt wird. Ä 

Abweichend hiervon gilt jedoch in England fehr verſtaͤndiger Weife das Ober 
haus für beichlußfähig, wenn auch nur drei Lords, das Unterhaus, wenn 45 Mitglieder 
anmwefend find, eine Beftimmung, welcher fich die preußifche Gefeßgebung in fofern ans 
gefchloffen bat, als das Gefeh vom 30. Mai 1855 (Gef.-S. 55, ©.'316) für das 
Herrenhaus auch eine geringere Zahl als die abjolute Mehrheit (60 Mitglieder) für 
befchlußfähig erklärt, und der fich Die norbamerifanifche Uniond-Verfafiung mwenigftens 
nähert, wenn fie in dieſer Richtung Art. 155 beftimmt: „Eine Mehrheit eines jeden 
Haufe foll ein Quorum (d. h. quorum in potestate est concludendi) zur Ausfüh- 


rung der Gefchäfte bilden, aber eine Eleinere Zahl mag fih von Tag zu Tag vertagen 


und mag ermächtigt werden, die Ankunft abmwefender Mitglieder auf eine ſolche Weile 
und unter folhen Strafen zu betreiben, wie ein jedes Haus jle feitfegen mag.” 

Erfahrungsmäßig concentrirt fich in jedem parlanıgntarifchen Körper Der eigent 
liche Gefchäftsbetrieb in den Händen der Partei- Führer und der jedeömaligen Fach⸗ 
männer, und es ift nur ein neuer Beweis des richtigen parlamentarifchen Tactes der Eng. 
länder, daß fle eine längere Dauer ihrer Sigungen durch die Kleinheit ihrer Normalzahl 
ermöglicht, daß fie Die zeitraubenden Gommiffiond-Verhandlungen durch die Möglichkeit, 
dad Haus felbit als Comite zu conftituiren, vermieden und die Beurtheilung der Frage, 
ob die Zahl für das Gewicht ihrer Entfcheidungen von Bedeutung fei, der Beurtheis 
lung der Parteien und deren Organe überlaffen. 

Bon den zu einer Beichlußfaflung überhaupt Berechtigten gilt felbftrebend in der 
Regel abermals die abjolute Mehrheit ald die entſcheidende Zahl. 

Die Beurtheilung endlich der Bedeutung, fo wie der Modalitäten der Abftimmung 
bei Nichter- und ähnlihen Collegien glauben wir den Artikeln Collegialität und 
Oeffentlichkeit überlaffen zu müffen. 

Abſtoßung, einer Schul, ein nicht ungewöhnlicher Ausdruck für Bezahlung, 
namentlih Tilgung von Hypothekenſchulden. 

Abt. Die urfprüngliche Bedeutung des Wortes Abbas, das aus dem Hebräi- 
fchen flammt, ift „DBater”. Die Ehrwürbigfeit und Autorität des Vaters vereinigten ſich 
im Abte gegenüber den Gläubigen, feinen geiftigen Kindern. Demnach ift abbas mit 
pater, wie man noch jet in den Klöftern alle diejenigen nennt, welche die ganze 
Ordensregel beſchworen und die Prieftermeihe erlangt haben, gleichbebeutend. Wit 
dem 5. u. 6. Jahrhundert trat aber Die Unterfcheidung ein, daß man unter Abbas 
eine höhere Würde, gleichfam den Vorſteher ver patres eines Conventes verftand. 
Auf dieſe Weife warb der Vorſtand der Benediktiner⸗, Baſilianer⸗, (bei den Orienta⸗ 
Ien) Eifterzienfer- und Prämonftratenfer - Klöfter Abt genannt. Die jüngeren Orden 
d. 5. von dem 13. Jahrhundert an entflandenen, wie die Franziskaner, Dominikaner, 
Jefuiten, barmberzige Schweftern und Brüder haben feine Aebte mehr. Aus diefem 
folgt jedoch nicht, daß alle Benediktiner- und Eifterzienfer - Klöfter Aebte haben mußten. 
Denn folche Klöfter fo verfchuldet waren, daß fie die Koften zur Abtsrepraͤſentation 
nicht aufbringen Eonnten, was im 14. u. 15. Jahrhunder oft geſchah, fo fand nur 
ein Prior dem Klofter vor. Die Frage, warum der Gefellichaftöverband der Elöfter- 
lichen Orden nach der Zeit fo verfchieden geworben ift, fcheint uns für Die Geſell⸗ 
fchaftslehre fehr wichtig. In den Benebiftiner- Orden war dem Abt volle Seldftitän- 
digkeit verliehen, und man koͤnnte ihn wohl dem gewählten Iebenslänglichen Präfle 
denten einer focialiftiichen Republik vergleichen. Bei den Eifterzienfern war ber Abt, 








> Abt. Ä 193 


wenn fchon ebenfalld für feine Lebensdauer mit der oberſten Verwaltung einer ſolchen 
Bereinigung betraut, bureaukratiſch dem Abt von Clairvaux üuntergeordnet, etwa wie 
ein Negierungspräfident dem Minifter des Innern. Bei den jüngeren Orden übermog 
ſo fehr das bureaukratiſche Syitem, daß feine Wahl der Untergebenen, Teine lebens⸗ 
längliche Dauer eines Amtes mehr möglich war. Der Prior, Guardian oder der Pros 
vinzial der Franziskaner und der füngern Orden werden vom Ordens» General wie 
Beamte verſetzt, abberufen und beftraft. Es verfteht fich nad) dem Obigen von felbft, 
daß die pefuniären DVerhältniffe des Abtes bei den Benebiftinern und Eifterzienfern 
moefentlich verfchieden waren. Der erftere hat meiſtens, wie noch jegt in den größten 
öjterreichifchen Klöftern eigene Hofhaltung, eigene Güter, felbftftändige Verfügung über 
einen Theil ded Kloftervermögens u. f. w. Der Eifterzienfer Abt ift bei jeder Geld⸗ 
frage an die Zuflimmung des Convents der Patred — fein Regierungs-Collegium — 
gebunden. Er fleht dem Convente ald Sleicher unter Gleichen vor. Daher auch die 
bekannte Erfcheinung, daß Die Aebte der Benedictiner meiftend mit ‚ihrem Gonvente 
Proceffe führten, die Eifterzienfer Aebte nie. AL die franzöftfche Nevolution das 
Mittelalter zertrümmerte, lagen die meiften reichen deutſchen Klöfter mit ihren Aebten 
in Streit vor dem Reichsſs-Kammergericht in Wetzlar. 

Diefe Stellung des Abtes zu dem Stift und StiftSvermögen hat vom 10. Jahr» 
bundert an eine wichtige Frage gebildet. Geftattete man dem Abte zu große Nechte 
über das Eigenthum des Stiftes, wie Die Benedictiner, fo trat von felbft der Fall ein, 
daß Verwandte mit dem Kloftergute bereichert wurden. Man mußte alfo dad Berarmen 
folcher focialiftifchen Stauten im Kleinen zu verhindern fuchen. Das gefchah vorzüglich 
durch Einfchränken der Amtsgewalt Des Abtes, fo weit fie fih auf das Oekonomiſche 
bezog. Der Abt zählt feine Negierungsfahre von der Zeit, wo er vom Bifchof den 
Abtsſtab und die Mitra erhielt. Die Befugniß, Priefter zu weihen, gewiſſe Refervat- 
falle in der Beichte zu vergeben, Neligiondunterricht ertheilen zu Iaffen, ift ibm damit 
zugeftanden. Dem Abt war die Aufftcht über die fittliche und religiöfe Haltung der 
Gonventualen und Laienbrüder anvertraut. Eben fo wachte er über die pünftliche 
Crfüllung der Ordensregel. Aufnahme neuer Mitglieder, Novizen, fteht ihm allein 
nicht zu, fondern nur dem Gonvent. Die Strafgerichtöbarfeit des Abtes über die . 
Mönche geht ziemlich weit. Im 6. bis 11. Jahrhundert war in Irland und Deutfchland 
die förperliche Züchtigung nicht felten. Der Abt Bbeanfprucht, wie bei den jüngeren 
Orden der Prior und Provinzial, unbedingten Gehorfam, weil Diefer in der Ordens⸗ 
regel befchworen wird, neben Keufchbeit und Armuth. Diefer Gehorfam erftreckt fich 
bi8 auf die veiffenfchaftliche Beichäftigung. ine Appellation von einem Straferkennt⸗ 
niffe des Abtes fteht bei den VBenebictinern an den Bifchof der Diöcefe, ven Papft oder 
den Bifttator offen, bei den Eifterzienfern an den Ordendgeneral in Rom. Da nur bie 
Benedictiner ihrem Abte eine fo hohe Stellung und ein fo weltliche Regiment ein» 
räumten, fo ift die Gefchichte der Aebte in Deutfchland vom Karolingifchen Reiche bis 
zur Gegenwart nur an diefen Drden geknüpft. Die bebeutenden Einnahmen eines 
Abtes von einem reichen Klofter, die Möglichkeit, als Abt über dad ganze Klofter- 
vermögen als fein Eigentbum zu fehalten, waren im 9. bis 12. Jahrhundert ein wich- 
tiged Motiv, die Würde eines Abtes an fich zu bringen. Beim Ausfterben der Karo» 
linger fing dad Unweſen der fogenannten Laienäbte an. Die Grafen in der Nähe 
eines Kloſters juchten fich Die Wahl zum Abte zu erzwingen, um die Nevenuen bed 
Kloſters zu befigen. So wurde Hugo Capet Abt von St. Denys und St. Rartin 
in Tours, Daher der Itame Eapet, weil er ala Abt jährlich einmal die Benedictiner⸗ 
Kutte mit Capuze trug. Zwar follte nach dem Nicäifchen Concil, 787, nur ein 
Orbendmann, der Priefter fei und die Ordensregel beobachte, Abt werben Fünnen, 
doch durchführbar war dieſer Kanon nicht. Die Könige machten theild fich felbft zu 
Aebten oder fuchten durch Verſchenken der Abteien an Grafen fich Vaſallen und An⸗ 
bänger zu verfchaffen. Diefe Raienäbte hießen abbates milites. Auch im byzantinie 
ſchen Reiche war es fo weit gefonmen, daß bei der Militärdefpotie der Kaiſer die Achte 
nur Titel wurden, um die Nevenuen eined Klofters zu erhalten. Solche Titel Tonnten 
auch an Frauen verliehen werden. Diefe temporäre Mediatiflrung war fehr Teicht durch⸗ 
zuführen, weil die Benedictiner-Aebte keinen Congregationde, Teinen Ordensgeneral hatten, 


Bageıner, Staats: u. Geſellſch⸗Lex. 1. 13 





1% | Abtei. Abteien. 


Vom 10. Jahrhundert an begannen auch die Biſchöfe um die Abtwürde der reichſten 
Klöfter ihrer Diöceſe ſich zu bemühen. Oft gelang Died auf einige Zeit, oft für immer, 
fo daß der Bifchof zugleich Abt eines oder mehrerer Klöfter wurde. So griff der Biſchof 
von Konſtanz nach St. Gallen, mebiatifirte Reichenau, der von Speier Weißenburg u. f. w. 


Es gab gewaltige Procefle, der Papſt entfchied ftets zu Gunſten der Aebte und Klöfler, 
die Bifchöfe erklärten, daß die Aebte fich ihrer geiftigen Gewalt entziehen wollten. Das 


wahre Motiv waren immer die Revenuen des Klofters, dieſe- wollten die Bifchöfe plün- 
dern. Diefe Streitigkeiten haben theil® zur Mebiatifirung der Aebte, theild zu ihrer 
Standederböhung zu Bifchöfen geführt, wie in Bulda, Chiemfee, Corvey. Das 
Recht, in Glaubens⸗ und Disciplinarfachen gehört zu werden, Kirchenverfanmmlungen, 
Synodal- und Provinzial= Eoneilien zu bejuchen, Haben die Aebte ſtets gehabt. 
Dft verliehen auch die päpftlichen Legaten bei ihren Aundreifen, zumal in Deutjchland, 
um dadurch Anhänger der Eaiferlichen Partei in das Lager der Kirche überzuziehen, an 
Aebte das Recht, fich der bifchöflichen Injignien (infulirte Aebte), fogar des bifchöflichen 
Titels zu bedienen. Die wirklichen bifchöflichen Rechte, die volle biſchöfliche Gewalt mit 
einem eigenen, felbitftändigen Didcefandezirk hatten wenige Aebte; fo in Deutfchland bloß 
die Aebte von Fulda (feit 1752) und Corvey (feit 1783). Die Wahl des Abtes ftand dem 
GBapitel des Klofters zu. Der Ermählte wurbe von den befreiten oder unmittelbaren 
Klöftern dem Papfte, dem Didcefanbifchof von den übrigen Klöftern zur Beſtaͤtigung 


präfentirt. Abweichungen von der Regel Famen jedoch fehr Häufig vor, insbefon 


dere in der fpätern Zeit des Mittelalters, als die Verberbnig in der Fatholiichen Kirche 


überhand genommen. In dieſer fpätern Epoche wiederholte fich der ältere Mißbrauch 
überaus zahlreich, daß Die Abtei nicht nach. der Wahl des Gapiteld an Geiftlidhe von 
der Ordensregel vergeben wurde; ſowohl die Könige ald die römifche Curie der 


legten vielfach das Wahlrecht des Capitels; die Abtei murde an Weltgeiftliche vergeben, 


die gar nicht an die Beobachtung der Ordensregel des erhaltenen Klofterd gebunden 


waren. Man nannte folche Aebte SäcularsAebte, im Gegenfat zu den Regular⸗Aebten, 
d. 5. zu denjenigen Aebten, welche wirklich der Ordensregel des betreffenden Kloſters 
angehörten. Doch dient der Name Megulare Abt auch zur Bezeichnung des Stellvertw- 
ter8 von einem Säcular-Abt. Andere geläufige Bezeichnungen für einen ſolchen Stell. 
vertreter find Vicarius, Decan, Prior. In Frankreich, wo dem Könige nach den Con⸗ 
cordat von 1516 die Verleihung der Abtftellen in fämmtlichen Mönchsflöftern zuftand, 
mit Ausnahme der 115 regulirten Klöfter und der Hauptfige (cheſs d’ordre) be 
Giftercienfer, der Carthäufer und der Prämonftratenfer, hieß ein in dieſer Weife durch 
föniglihen Machtfpruch befürbderter Abt abbe commandataire und fein Stellvertreter 
prieur claustral (vergl. Abbe). Nach der Reformation ift in einigen proteftantijchen 
Staaten der Titel eines Abts für den Vorfteher und Verwalter derjenigen Güter beir 
behalten worden, welche urfprünglich zu Klöftern und Stiftern gehörten und deren 
Ertrag bei der Reformation zum Beften proteftantifcher Kirchen und Schulen beftimmt 
wurde. Daß endlich der Titel Abt im Mittelalter auch ganz allgemein für den Bor 
fteber einer Iuftigen Brüderfchaft gebraucht wurde, zeigt das Wort Narren- Abt, 
abbas stultorum. Die Wahl des Ausdrucks erklärt fich leicht, wenn man erwägt, wie 
im Mittelalter die öffentliche Meinung über den flttlichen Charakter der Klöfter und 
ihrer Vorſtände zu urtbeilen pflegte. 

Abtei bedeutet zunächft den Theil des Kloftergebäudes, in dem der Abt wohnt. 
Man übertrug dieſe Bezeichnung dann auf ein ganze Klofter oder Stift, das unter 
einem Abte fteht. Wie aus dem Artikel Abt hervorgeht, waren Die michtigften Abteien 
die Benedictiner- und Eifterzienfer« Klöfter. Erxftere waren jouverän als geiftliche Ordens⸗ 
flaaten, denn nur der Bapft ward als ihr Ordensgeneral angejehen, vie legteren fanden 
unter Dem Abt von Glairvaur und ftehen jeßt unter ihrem Orbensgeneral in Nom. 
Die Benedictiner-Abteien waren meift mit Gütern dotirt, welche vom übrigen: Klofter- 
gute getrennt waren. 

Abteien, (reichdunmittelbare des vormaligen deutfchen Reichs.) Außer den Erz— 
bisthümern und Bisthümern, die in den Grunbbeflgungen, mit denen fle reich aus⸗ 
geftattet waren, allefammt weltliche Macht ausübten, — mit Ausnahme derjenigen 
Bifchäfe, deren Didcefen den Grund und Boden der eroberten Slawen⸗Laͤnder umfaßten, 


Abteien. 195 


wo die Regierung militärifch eingerichtet werden mußte und in den Händen der „Coms 
mandirenden Generale in den Grenzprodinzen”, zu deutfch der „Markgrafen“ ruhte, — 
gab es im weiland heil. römifchen Reich deutfcher Nation auch eine Menge - Klöfter, 
welche, theild Durch Schenkung, theil3 durch fromme Bermächtniffe, zum Theil aber auch 
durch Kauf nach und nad in Den DBefiß mehr oder minder umfangreicher Güter gelangt 
waren, an Die zu verfchiedenen Zeiten und ebenfo verfchiedener Urfachen halber das 
Meich3- Oberhaupt die Meichöunmittelbarkeit geknüpft hatte. In Folge deifen fanden 
die Vorſteher dieſer Klöfter für ſich und ihre lintertbanen in weltlichen Dingen nur 
unter dem Kaifer und Reich, nahmen an der Negierung des Reichs eben fo Antheil 
und übten innerhalb ihres Gebietes die Landeshoheits-Rechte eben fo aus, wie bie 
weltlichen Fürſten, die großen und Eleinen, in dem iibrigen. Es gab unter dieſen reichs⸗ 
unmittelbaren Klöftern Mönchs- und Nonnenflöfter. Sie gehörten nur den zwei Orden 
wer Benebictiner und Eifterzienfer an, vorwiegend aber doch dem Orden des heil. Benebict, 
deffen Gliedern die heutige Welt fo unendlich viel zu danken hat, da fle e8 vorzugsweiſe ge= 
weſen find, welche in ihren flillen Klaufen bie, aus dem Altertbum übrig gebliebenen Geiſtes⸗ 
ſchaͤtze mährend miittelalterlicher Gräuel vor dem gänzlichen Untergange gerettet, auch daß 
Gedaͤchtniß an die Borgänge ihrer Zeit Durch fchriftliche Aufzeichnung bis auf und gebracht 


baben. Einige Prauenflöfter hatten in des Nefprmationdzeit ihren Orbendregeln ents - 


jagt und waren zur evangelifchen Lehre übergetreten; nichts deſto weniger beftanden ſie 
unfer dem Namen freirweltlicher Stifte ald Verforgungs » Anftalten von Jungfrauen 
ablicher Geburt fort, denen ed unbenommen blieb, das Stift zu verlaffen, wenn ſich 
die Gelegenheit zur Verheirathung darbot. Neichsftift war die Fanzleimäßige Benen- 
nung für biefe reich8unmittelbaren Klöfter, deren Vorfteher nach Fanonifchem Recht bald 
Abt, bald Propft, in der Neichöverfaffung aber in ihrer Eigenſchaft als weltliche 
Haren Reihöprälaten hießen. 

In der feit 1663 zu Regensburg permanent tagenden Reichs» Berfammlung 
faßen die Neichsprälaten im reichsfürſtlichen Collegio oder Mathe, und zwar auf der 
geiftlihen Bank. Einige von ihnen hatten vorzugsmweife mit Nüdficht auf den Umfang 
ihres Gebietes und die verliehenen Hoheitsrechte Virilſtimme, andere und zwar bie mei⸗ 
ſten, deren weltliche Macht auf Eleinen Bodenraum befchränkt und welche reichdunmittel- 
bar ohne Negalien waren, nur zwei Sammel- oder Eurialftimmen. Iene zählten mit 
zu den geiftlichden Neichöfürften und flanden im Range nach den Bifchdfen; dieſe mach⸗ 
ten die eigentlichen Neichöprälaten im wahren Sinne aus. Manche der Uebte (eilf 
an der Zahl) und Aebtiffinnen waren auch gefürftet. 

Meichöprälaten mit Birilftimmen gab ed ſteben. Es gehörten dazu: der gefürftete 
Abt zu Kempten, die gefürfteten Pröpfte zu Elwangen, zu Berchteögaden und zu 
Weißenburg, die gefürfteten Aebte zu Prüm, Stablo und Gorvey. 

Die gefürftete Propſtei Weißenburg, bei der vormaligen Meichsftant gleiches 
Namens, hatte all ihren Grundbeflg im Elfaß liegen, der demnach unter Frankreichs 
Oberberrlichkeit ftand und folglich mit dem deutfchen Reiche nichts mehr zu thun hatte. 


Dennoch erſchien der geiſtliche Herr von Weißenburg noch immer auf dem Reichstage, 


und eben fo auf den oberrheinifchen Kreidtagen, zahlte auch richtig feine Roͤmermonate 
und feine Kammerzieler. Die Benedictiner= Abtei Corvey, eine Pflanzftätte der Abtei 
Eorbie in der Picardie, wurde auf Borftellung ihres erften Abts, des heil. Adelhard, von 
Kaifer Ludwig I. im Jahre 822 geftiftet und Nova Corbeia genannt. Der gefürftete 
Abt ſtand in geifllichen Dingen unter feinem Erzbifchof, unter feinem Biſchof, fondern 
unmittelbar unter dem Stuhle zu Rom. (S. den Artikel Abt.) ine päpftliche Bulle 
vom 6. Auguft 1783 erhob die Abtei Corvey zu einem Bisthum und Kaifer Franz Il. 
beftätigte daffelbe den 10. December 1793. Erfter Fürftbifchof zu Eorvey war der 
bisherige Abt Theodor v. Brabeck, feit 1776, zweiter und letzter Ferdinand v. Lünind, 
feit 1794; denn dad junge Hochflift und uralte Neichsftift Corvey ward im Lüne- 
vilfer Srieden, 1801, fäcularifirt und dem Prinzen von Naſſau⸗Oranien als Fürften- 
FG gegeben. (Künind warb 1817 Vorftand der wieder bergeftellten Kathedrale zu 
Rünfter.) 

Die Reicheprälaten im engeren Sinne, oder die Aebte, Pröpfte und Aebtiffinnen, 
weiche Sig und. Eurialflimmen auf dem Reichstage hatten, theilten ſich in die ſchwä⸗ 

13 * 


— 


196 Abtenan. Abtreibung. 
biſche und rheiniſche Bank, deren jede im Reichsfürſtenrathe nur Eine Stimme beſaß 


und wechſelsweiſe mit den Grafen und Herren aufgerufen wurde. Dieſe zwei Stim— 


men beſaßen die Reichsprälaten erſt ſeit dem Receß von 1653, bis wohin man ihnen 
nur eine einzige Stimme zugeſtanden hatte. 
Die Prälaten und Aebtiſſinnen auf der Tchwäbifchen Bank waren: Die Aebte zu 


St. Blaften, Marchthal, Elhingen, Salmansweiler, Weingarten, Ochfenhaufen, Yrſee, 
Petershauſen, Ursberg, Roth, NRodenburg, Weißenau, Schuflenried, der Propf zu 
MWettenhaufen, die Aebte zu Zwifalten und Gengenbach, die Aebtiffin in der Reichs— 
ſtadt Lindau, Die Aebtiffinnen zu Notenmünfter, Hegbach, Gutenzell, Sädingen und 


Baindt. Auf der rheinifchen Bank jagen: der Abt zu Kaifersheim, der Propft zu Oben- 
heim, die Uebte zu Werden, zu St. Ulrih und Afra in der Reichsſtadt Augdburg, 
zu St. Georgen in Iſny, zu St. Corneli Münfter, zu St. Emmeram in Regensburg; 


die Nebtiffinnen zu Effen, zu Buchau am Federſee, zu Quedlinburg, zu Herford, m 
Gernrode, zu Nieder und Obermünfter in Regensburg, zu Burtfcheid, Gandersheim 
und Thoren. Zwifchen Kaifersbeim und Odenheim faßen auf der rheinifchen Bant 


außerdem noch die beiden Landcommenthure der Deutfch-Ordend-Balleien Coblenz und 
Elfaß-Burgund; und unter den geiftlichen Reichsfürſten mit Virilſtimme der Johanniter 
Ordensmeiſter zwijchen den Pröbften zu Elwangen und Berchtesgaden. Außer den 
genannten Gtiften gab es noch zwei andere, die zwar auch reichdunmittelbar, 


weder auf dem Reichstage vertreten, noch einem der zehn Kreife des Reichs zugetheiltt 


waren, nämlich die Probſtei Cappenberg, im Umfange des Hochſtifts Müniter, und bie 
reichöfreie Brauen= Abtei Elten, an der nörblicdhen Grenze des Herzogthums Cleve. 
Dur den weftfäliichen Frieden wurden viele dieſer Neichöftifte „fäculariftrt“, 
verweltliht. Doch traf diefe Weltlichmachung geiftlichder Körperfchaften nur Diejenigen, 
welche fich dem Proteftantismud in Die Arme geworfen batten, und man wagte es nidıt, 
diefe Mafregel auf Stiftungen audzubehnen, deren Borftände römifch-katholifch geblieben 
waren. Wiederum ein Jahrhundert und ein halbes fpäter waren die Gewiſſen viel meiter 
und elaftifcher geworden! Kurz vor dem Untergang des heil. röm. Reichs deutfcher Nation 
haderten die deutfchen Erbfürften um den uralten Grundbefig der Kirche; man feilfchte um 
Bruchtheile der Geviertmeile, um hunderte von — Seelen, vornehmlich aber um Gulden 
und Kreuzer, Die die Leiber dieſer Seelen in den Geldfädel abmerfen Tonnten, und 
fehämte fich nicht, dem — Auctionator der geiftlichen Länder, der in Paris faß, beim 
Anbieten einen verftändlihen — Wink zu geben! (Deutjche Regierungen jandten ben 
Secretaird franz. Minifter Beflechungsfummen, um ſich den Befig folcher Reichsſtifter 
zu fichern; Baden zahlte auf diefe Weife 300,000. fl. für St. Blaften u. a. Stifter.) 
So fand es zu Ende des 18. und im Anfange des 19. Jahrhunderts um den „confer- 
vativen Sinn” bei deutfchen Fürften, die es ganz gemüthlich fanden, mit den Söhnen 
der Mevolution Hand in Hand zu geben, freilich aus höheren Staatsrüdfichten. Der 
Neichd = Deputationd = Mecep vom 25. Februar 1803 z0g auf der Lifte Der Stände des 
Reichs einen dicken Strich durch alle Abteien und Probfteien, auch die mittelbaren. 
Abtenau, einer der zwanzig Bezirke, in weldye dermalen, ohne Kreiseintheilung, 
dad öſterreichiſche Herzogthum Salzburg eingetheilt wird, umfaßt einen Ylächenraum 
von 5,, Öfterreichifcehen Quadrat-Meilen, mit einer Bevölkerung von 4915 Seelen, in 
2 Gemeinden und den gleichnamigen Hauptort. Diefer Bezirk gehört zum Landgerichte 
Salzburg. Der gleichnamige Hauptort ift der Sitz des Bezirksamtes, Tiegt im gleich⸗ 
namigen Thale, durch welches man aus dem Salzach in das Fraunthal gelangt. Dad 
Thal bat nur fehr wenig Feldbau, dagegen bei 7000 Rindern und eine fehr einträg- 
liche Forſtwirthſchaft, denn es Liefert faft alles Holz in die Saline von Hallein. 
Abtreibung der Leibesfrucht ift diejenige (verbrecherifche) Handlung, Durch welde 
eine Schwangere fi ihrer Frucht, gemöhnlich zu einer Zeit zu entledigen fucht, wo 
jene überhaupt noch nicht lebensfähig ift, in jelteneren Fällen aber dann, wenn bie 
Frucht bereitö ihre Lebensfähigkeit erreicht hat, welche mit der 29ften Schwangerſchafts⸗ 
Woche eintritt. Da die Abtreibung der Leibesfrucht in der Regel von unverheiratheten 
PBerfonen unternommen wird, um der mit der unehelichen Geburt verbundenen Schande 
und fonftigen Unannehmlichkeiten zu entgehen, fo wird eben das Verbrechen zu einer 
Zeit begangen, wo noch Feine fchtbaren Kennzeichen der Schwangerfchaft vorhanden 











Abtretung. Abtrieb. 197 


find, und da diefe gewöhnlich bis zur Hälfte verfelben verheimlicht werben Tann, fo 
wird gerade die erftere Zeit der Schwangerichaft zur Ausführung der Entledigung der 
Frucht benugt, wo dann dieſelbe, wenn die Abtreibung gelingt, in nicht Iebensfähigem 
Zuftande geboren wird. 8 ift demnach mit der Abtreibung der Keibesfrucht in biefer 
frühen Zeit zugleich Tödtung derfelben verbunden (Bruchtmord), indem jede Frucht vom 
QAugenblid der Empfängnig ald belebt betrachtet werden muß. Bei der nach ber 29ften 
Woche der Schwangerjchaft eingeleiteten Abtreibung fann, wenn die Frucht nicht in 
Folge der dabei angewendeten Mittel getüdtet wurde, diefelbe, lebend geboren, eher am 
eben erhalten bleiben, inveffen wird das jelten mit dem Willen der Thäterin überein 
ſtimmen, welche gerade eine Beleitigung des Kinded beabſichtigt. — Im Alterthume 
wurde, ſelbſt bei ſonſt gefitteten Völkern, das Abtreiben der Leibesfrüchte für fehr 
gleichgültig angefehen, am allerwenigjten mit einer Strafe belegt: man erkannte Die 
Brucht im Wutterleibe noch für feinen Menſchen an, fondern nur für einen Theil der 
müftterlichen Eingemweide, welche Meinung befonder& die ftoifchen Philoſophen verfochten. 
Man ſah die mit der Mutter noch zufammenhängende Frucht für nicht mehr als eine 
Bflanze an, mit welcher jene ganz nach Belieben verfahren koͤnne. Daber treffen wir 
bei den alten Roͤmern in ihren verberbtejten Zeiten dad Abtreiben der Früchte zu einer 
jo maßlofen Gewohnheit erhoben, dag, wie fi ein Schriftfteller ausdrüdt, es in feinen 
Tagen zu den Seltenheiten gehörte, wenn einmal eine vornehme Frau zur rechten Zeit 
ein Kind zur Welt brachte, wobei aber doch angeführt werden muß, daß, obgleich 
feine Gefege dad Abtreiben der Kinder unterfagten, dad Gefühl der Befiergefinnten fich 
gegen jolche Unthaten fträubte. Ja wir finden in dem alten Eide des Hippofrated 
ihon ausdrücklich bemerkt, daß Fein Arzt zur Abtreibung der Leibesfrucht Mittel geben 
follte. Erſt das Chriſtenthum Ienfte bier in die richtige Bahn ein und machte auch 
jo feinen beiljamen Einfluß geltend; denn nachdem die Frage, ob die Frucht im Mut- 
terleibe bejeelt, demnach mehr ald eine Pflanze fei, von den alten Kirchenvätern bejaht 
worden war, ſah man die Abtreibung der Leibesfrucht ald ein Verbrechen an und 
ficherte Dadurch ihre Eriftenz im Mutterleibe und ihre Fünftige Erhaltung. — Leider! 
giebt es zur Abtreibung der Keibesfrucht eine jehr große Menge von Mitteln, die zum 
Theil audy dem Volke befannt find und daher mit Leichtigfeit von ruchloſen Perfonen 
benugt werden fönnen: es ift aber unter den Mitteln Fein einziged fo ficher wirfend, 
daß jedesmal der beabfichtigte Zweck erreicht wird; außerdem find dieſelben nicht ohne 
Sefahr für die Geſundheit derjenigen, welche fie gebraucht oder anwendet, fo daß alſo 
auch von diefer Seite die Abtreibung der Leibesfrucht ftraffällig erfcheinen muß, indem 
fie gegen das eigene Wohl gerichtet ift und für alle Fünftigen Zeiten die Geſundheit 
untergraben kann. 

Abtretung, der Rechte ift im Privatrecht die Entäuferung eines obligatorifchen 
Rechts an einen Dritten (j. Ceſſion). Die Abtretung öffentlicher Nechte gehört zumeiſt 
dem Gebiete des Völkerrechtes an, Sie ift dort eine totale, wenn ein Fürft fein Herrfcher- 
techt zu Gunſten eines Anderen aufgiebt (f. Succeifion), eine partielle, wenn ein Staat 
einem anderen entweder Theile feines Gebieted übereignet (ſ. Staatögebiet) over vie 
Ausübung von KHoheitörechten auf feinem Gebiet geftattet (f. Staatd:Servituten). 

Abtrieb (Forſtwirthſchaft). Mit dem Eintritt der Forſtwirthſchaft in den ihr ges 
bührenden Platz in der Volkswirthſchaft hat ſich auch fehnell für fie eine Terminologie 
berauögebildet, die das Verworrene in den ihrem Bereiche angehörigen Begriffen mit 
ordnender Hand fichtete und, den Laien unverftänplich, namentlich durch die Nuancirung 
gewifjer hbomöogener, aber eben nicht homogener Begriffe ihnen eine ſcharfe Grenze 
gegen einander zumwied. Go lange die Benugung des Wald-Eigenthumd eben nur in 
ber rüdfichtölofen Fortnahme des Holzes zur Befriedigung augenblidlichen Bedürfniſſes 
beftand, war es nicht nöthig und nicht möglich, dieſe Fortnahme anders als mit dem 
Iandesüblichen Terminus des Holzhauend zu bezeichnen. Die georbnete Benugung des 
Holzes rief Bezeichnungen hervor, in deren ftrenger Präcifirung ein Sichlosfagen von 
dem alten Schlendrian gegeben ift. Hierher gehört dad Wort „Abtrieb* und es be= 
zeichnet daſſelbe die forftwirthfchaftsmäßige Wegnahme eined Holzbeftandes zum Zwecke 
des Wieder - Anbaued und zwar des Wieder- Anbaued mit Holz, während man ein 
Herunternehnen des Holzes, dem eine Benutzung deö Bodens zur Ader-Eultur folgen 








t 


198 Abtriebsrecht. 


ſoll, dem Begriffe des „Abholzens“ zuwies, die ganz zweckloſe Wegnahme des Holzes 
aber, die eben nichts weiter beabſichtigt, als das nicht nutzbare in nutzbares Capital 
umzuwändeln, ohne Rückficht auf die Erhaltung des stocks, zunaͤchſt dem populären 
Ausdruck des „Herunterhauens”, in ihren nachtheiligen Folgen aber dem brandmarkenden 
der Walddevaſtation zufiel. , 

Es leiten fich Teicht die fecundären Begriffe des Abtriebs- Alter, der Abtriebs⸗ 
Fläche ıc. ab, d. 5. alfo des Alters, in welchem ein Baum oder ein Holzbeftand nad) 
den Regeln der Forſtwirthſchaft zum Abtriebe zu ziehen ift und für welches die vor» 
bandenen Beftands- und Abgaber Verhältniffe die Hauptfactoren find, und ber Fläche, 
auf die ſich nach den Negeln der Forftabfchägung der Hieb auszubehnen bat. | 

Abtriebsrecht ) (Retract, Näherrecht, Loſung, Zugrecht, Einftandsrecht). Shen 
das Nömifche Necht kannte den Vorkauf, d. 5. das Recht einer beftimmten Berfon, 
in einen zwifchen zwei Anderen gefchlofienen Kauf oder ähnlichen onerofen Vertrag 
unter gewiſſen Bedingungen ald Käufer einzutreten. Dies Recht (Vorkaufsrecht, jus 
protimiseos) war ein perfönliches, übrigens nicht bloß durch Geſetz für beftimmte Zälle 
angeoronetes, fondern auch frei conflituirbar durch Willenserflärungen. Völlig ver 
fchieden davon ſowohl in Entftehung wie in Wirkung ift der beutjchrechtliche Abtrieb, 
d. 5. der durch gewiſſe Verhältniffe Einzelnen eingeräumte Vorzug, in das über ein 
Grundſtück abgefchlofjene Kaufe oder Faufühnliche Gefchäft einzutreten und das Grund» 
ſtück von jedem dritten Befiger gegen Entfchädigung an fich zu ziehen. Die Eigen- 
thümlichfeiten dieſes Rechts haben die vielen ſynonymen Bezeichnungen "der Mechtd- 
fprache hervorgerufen. Der Borzug, den der Berechtigte allezeit genießt, wird am all» 
gemeinften durch „Näherrecht" ; auögebrüft. Die übrigen Bezeichnungen haben eine 
jede ein beflimmtes Stadium der Realifirung des Rechts oder die befondere Beziehung 
ded Berechtigten zu Dritten im Auge. Diejenige Wirkung, die das Näherrecht haupt 
fächlih vom Vorkaufsrecht unterfcheidet, daß es nämlich gegen jeden dritten Beſtitzer 
mittelft einer actio in rem scripla geltend gemacht werben kann (währenn Das jus 
protimiseos mit der Mebergabe der Sache an den Käufer gegen diefen machtlos wird), 
bat ihm den Namen Retract, Zugrecht erworben. Das Wort „Lofung* Iegt mehr ben 
Accent auf die Entſchädigung, die dem Dritten zu Theil werden muß, und „Abtrieb“ 
jelber zeigt auf eine Repulſion nach beflegtem Widerftand hin. Gefek und Obſervanz 
waren die urfprünglichen Begründungsmomente des Retractes und erft fpäter ließ man 
die vertragsmäßige Begründung zu, aber ftetd nur mit der Tragweite, daß nur folde 
Retracte ftipulirt werden durften, welche bereitö durch Geſetz oder Obfervanz aner⸗ 
fannt waren. 

Dadurch wurden viele Partifularrechte verleitet, das Netractrecht mit dem Bor 
fauförecht in eind zu werfen. So namentlich das Preußiſche Landrecht, welches Vor⸗ 
kaufs⸗ und Näherrecht als gleichbedeutend auffaßt, danach einen Retract auch bei ber 
weglichen Sachen zuläßt, das Kriterium aber in die Dinglichkeit oder Perfönlichkeit 
des Rechtes legt, fo jedoch, daß ein dinglicher Netract nur bei Grundftüden vor 
Tonımen Tann. 

Altgermanifcher Sitte entfprungen, verdanft das Abtriebörecht feine Ausbildung 
jener hoben Bedeutung, welche deutſche Lebensanſchauung ſchon des früheften Mittels 
alters der Yamiliengemeinichaft und der Stammesangehörigfeit beilegte. Wie ed von 
Alters her ein charakteriftifcher Zug des deutſchen Rechtes war, den flttlichen Gehalt 
des natürlichen Familienbandes herauszufehren und deſſen äußere Unantuftbarfeit auf? 
Sorgfältigfte zu wahren, fowie der einzelnen Perfönlichfeit einen höheren Werth zu 
verleihen, infofern ſie, als Glied eines alten Stammes, die Aufgabe hatte, Geſchlecht 
und Namen in bergebrachtem Glanze fortzufegen, fo fannte das deutſche Recht auch 
eine wenigftens mittelbare Betheiligung fämmtlicher möglichenfalls fuccefftonsberechtigter 
Namens⸗ refp. Familiengliever an der Ausübung der wichtigften, an ſich und unmittelbar 





1) Literatur über das Abtriebsrecht findet ſich vorzüglic, bei: C. F. Wald, pas Näherreht, 
fuftematifch entworfen. 3. Aufl. 1795. — K. Fr. Eichhorn, Ginleitung in das beutfche Privat 
recht. 5. Aufl. 1845. $ 9P— 106. — v. Gerber, Syem bes beutfchen Privatredjts. 5. Aufl. 
1855. I — 177. — Drtloff, Grundzüge eines Syſtems des deutfchen Privatrechts. 1828. 

9 \ 











Abtriebsrecht. 199 


nur dem Einzelnen zuſtehenden Rechte. Dies zeigt ſich vorzüglich in dem ſeit den 
älteften Zeiten geltenden und noch von den Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts volle 
Käandig anerkannten ') Rechte der nächſten Erben und Blutöfreunde, jede millfürliche 
Veräußerung von Orundeigenthum zu verhindern, event. null und nichtig zu nıachen. 
Denn im Grundeigentbum bafirten im Mittelalter durchaus die wichtigften, namentlich 
alle politifchen Rechte und die einfeitige Verdußerung deſſelben Durch ein einzelnes 
Samilienglied hätte die ganze Familie jeder politifchen Berechtigung beraubt. Als aber 
mit dem Emporblühen des Handels und der wachſenden Macht und Wohlhabenheit der 
Städte die Stabilität des Grundeigenthums diefe Bedeutung verlor, erlitt auch jenes 
den Fluß des Handeld und Verkehrs hemmende Recht der nächſten Erben jo große 
Befchränfungen, daß nur ein Netraft ober Abtriebsrecht übrig blieb, d. h. die 
Befugniß des berechtigten Familiengliedes, das ohne ſeine guſtimmung oder 
Befragung verfaufte Grundftüd binnen beftimmter Friſt noch an fid 
zu bringen, jedoch nur gegen Erftattung des Kaufpreifed.?) Das fo 
im 16. Jahrhundert bereits völlig entwidelte. und in Deutfchland zur allgemeinen 
Geltung gefommene Abtriebörecht fand nun aber in dem jener Zeit fo eigenthümlichen 
Kaftengeifte jo viele Nahrung zu maßlofer Ausdehnung und Anmendung auf ganz 
fremde Verhaͤltniſſe, dag es fich in feiner Geltung als gemeinrechtliches Inftitut uns 
möglich behaupten ‚fonnte. 
Es Hatten fich allmählich 4 Gruppen von Verhältniffen gebilvet, innerhalb deren 
das Abtriebörecht Kingang und Geltung gewann: 
1) der oben erwähnte verwandtichaftliche Abtrieb (retractus gentilitius Erblofung ;) 
2) der Mbtrieb aus Communionsverhältniffen. Die Unterarten find 
a. der retractus ex jure condominii 5. B. Ganerbſchaft, Dachloſung (Häuſer 
unter einem Dach); | 

b. der retractus ex jure congrui, Geſpilderecht, Theilloſung (Abtrieb des Beſitzers 
des Hauptguts gegen die Trennſtücke, noch heute bei Eiſenbahnexpropriationen 
von Wichtigkeit); 

e. retractus ex jure incolatus, das Naͤherrecht der Gemeindemitglieder gegen Fremde 

(Markloſung); 

3) Der Abtrieb aus Subjectiondverhältnifien. Namentlich der retractus ſeudalis 
des Lehnsherrn und das Näherrecht der Gutsherrſchaft bein Verkauf bäuerlicher 
®runditüde; 

4) der Abtrieb aus NRachbarverhältnifien (ex jure vicinatus, Nachbarlofung, Fürnof- 
fenfchaft). 

Daß nun dergleichen oft nur durch individuelle Bedürfniſſe gerechtfertigte Be⸗ 
fehränkungen der Veräußerung von Grundeigenthum ein Hemmfchuh des freien Ber- 
kehrs werden mußten, Tiegt auf der Hand, und ed war deshalb für die Geſetzgebung 
in den einzelnen deutjchen Staaten ein willfommener Beruf, wenn nicht dem Abtrieb3- 
recht feine ganze Eriftenz abzufchneiden, fo doch alle im Laufe der legten Jahrhunderte 
gebildeten Auswüchfe deſſelben zu befeitigen. Leider aber hat man hier wie in vielen 
ähnlichen Fällen nicht die richtige Gränze zu finden gewußt. 

In diefem Sinne ward das Abtriebsrecht in Preußen bereits burch dad Ediet 
von 9. October 1807, betreffend den erleichterten Beſitz und freien Gebrauch des 
Grund - Eigenthums ıc., bedeutend befchränft, in welchem es u. A. ausdrüdlich Heißt: 
„daB die vorhandenen Beichränktungen in DBeltig und Genuß des Grund-Eigenthums 
der Wiederberftellung der Eultur in den preußifchen Landen — (nad) dem eben been⸗ 
deten Kriege) — eine große Kraft der Thätigfeit entzögen, indem fie auf den Werth 
des Grund» Eigentbums und den Credit des Grundbefigers einen höchſt ſchaͤdlichen 
Einfluß hätten. — —" 

In Oefterreich wurde das gefepliche Näherrecht fchon durch dad Joſephiniſche 
Bürgerl. Geſetzbuch (Bay. N, 54. 6.) und das Patent vom 8. März 1787 aufgeho⸗ 
den, in Schleswig⸗Holſtein durch das Geſetz vom 8. Februar 1794. In Baiern gilt 


Dr Sächſiſches Banbreit (nad) der Berliner Handſchrift vom Jahre 1360 herausgegeken 
von Dr. C. ©. Someher) Art. 52. 8 1. . 
2) Cr. v. Gerber, I. c. $ 175. $ 81. 


u 


200 Abtriebörent. 


nur noch die Erblofung, in Sachfen- Weimar das Gefpilde- und Marklofungs » Recht, 
in Württemberg jeit dem Gefeg vom 2. März 1815 nur die Erblojung bei Iehnbaren 
Stammgütern. . 
In Preußen bat endlich das Gefek vom 2. März 1850 $ 4 die durch has Edict 
vom 9. Oct. 1807 verfchont gebliebenen Retracte um ein Erhebliches rebucirt. 
Unberührt von allen Aufhebungen gelten danach noch in voller Kraft alle auf 


Willens⸗Erklaͤrung beruhenden Näherrechte. Was die gefehlichen betrifft, fo find auch 


diefe ftehen geblieben, fo weit fie bei beweglichen Sachen vorkommen. ) Bei Grund» 
ftüden befteht von geſetzlichen Retracten nur noch dad Vorkaufsrecht aud dem Mit 
Eigenthum, voraudgefegt, daß die Sache zum vollen Mit⸗Eigenthum bejejjen wird, und 
das oben ſchon erwähnte Vorfaufdrecht der früheren Eigenthümer der zu Eijenbahnen 
oder anderen Anlagen erproprirten Grundſtücke. 2) 

Wo und in wie weit dad Abtriebörecht feiner gemeinrechtlichen Entwickelung 


gemäß noch befteht, muß es ald ein aus einem Zuftande hervorgehendes, obligatorifches 


Hecht uufgefaßt werden; — einem Zuftande, d. h. einem thatſächlich vorhandenen, 
durch Geſetz oder Gewohnheitsrecht vorgefchriebenen Verhältniß, in welchem eine Perſon 
zu einem Grundftüde ſteht.) Denn nur mit Nüdjicht auf ein Grundflüd, ober mad 
dieſem in rechtlicher Beziehung gleich fteht, kann von einem wirflichen, d. h. dinglichen 
Abtriebsrechte die Rede fein. Selbſt diejenigen Particularrechte, welche ein Abtriebs⸗ 
recht, feiner eigentlichen, urfprünglichen Natur zuwider, durch Vertrag oder Ietwillige 
Verordnung entftehen laſſen, geftatten dies in der Megel doch nur rüdfichtlich unbe 
weglicher Sachen.) — Es findet fodann nur ftatt bei dem Kaufgefchäft und 
was dem ähnlich (datio in solutum), aber auch bier nur in den Bällen, wo den Ber 
fäufer Feine befonderen Motive und Nüdfichten, fei es Betreffd der Perfon dei 
Käuferd oder der zu erbaltenden Gegenpräftation, leiteten. Denn überall, mo der zur 
Ausübung des Abtriebsrechts möglicherweife Berechtigte nicht daſſelbe Ieiften und er- 
fegen Tann, was der Käufer, wo es alfo dem VBerfäufer entweder gar nicht, oder nicht 
bloß darum zu thun if, Geld ald Aequivalent zu erhalten, und ebenfo überall, wo ber 
Veräußerer aud Gründen gerade biefer oder jener beftimmten Berfon durch Die Ueber 
tragung eines Grundſtücks zu Eigenthbum, oder eines colonatrechtlichen Nutzungsrechtes 
an Grundftücen, willfährig fein wollte, verbrängt das im Bordergrunde ſtehende, in 
divibuelle Intereffe des Veraͤußerers jedes Abtriebörecht. Deshalb greift das Leptere 
3. B. nicht Plag bei Schenkungen, beim Taufch im engeren Sinne, u. f. f. — Auf 
der anderen Seite ift aber auch das Abtriebörecht an befondere individuelle Boraud- 
fegungen, welche fich in der Perfon des Käuferd vorfinden müflen, gebunden, und 
daraus folgt, daß ed ein hoͤchſt perfünliches, auf Andere nicht übertragbares Recht ifl. 
Ja, ed darf das Abtriebörecht auch nicht einmal verſteckt und unter dem. bloßen Scheine 
eigenen Intereſſes in favorem tertii vom Berechtigten ausgeübt werben. 

Mag nun der Nähergelter gegen den Käufer oder gegen einen anderen dritten 
Befiger der veräußerten Sache Flagend auftreten, in jebem Fall hat er den Beklagten 


ı) Es find nur wenige, 3. B. das Vorkaufsrecht des Fiscus an edlen Metallen aus Privat⸗ 
Bergwerken, das Vorkaufsrecht der Gensd'armen beim Verkauf ausrangirter Cavallerie⸗Pferde. 

2) 66 17— 19 ©. vom 3. Nov. 1858. 

3) CH. v. Gerber I. e. $ 175, Note 3 $ 156. . 

*) Defterreichifches Bürgerliches Geſetzbuch 5 1073. — Eigenthümlich find die Grunbläße 
des preußifhen Landrechts über das Familien: Näherreht, d. h. das durd gültige Familien 
verträge entftandene. (Denn das provinzialgefeglihe und flatutariihe Familien⸗Naͤherrecht iſt in 
den preußifchen Staaten durch das Edict vom 9. October 1807, reſp. Geſetz vom 2. März 1850 
52 Nr. 6 und $ 4 aufgehoben.) Daſſelbe erfiredt fid) nur auf Güter, die wenigftens ſchon von 
zwei Mitgliedern der Familie nach einander, den gegenwärtigen Veräußerer ungeredynet, befellen 
worden find, und findet nur flatt, wenn die Beräußerung an einen Fremden, nicht aber, wenn 
fie an ein, obgleich entfernteres Mitglied der Familie erfolgt. Weiblihe Mitglieder und beten, 
obgleih männlidhe, Defcendenten können das Näherrecht niemals ausüben. So lange 
das Gut fid) F in den Händen eines Familiengliedes befindet, bleibt der Familie (den Verwand⸗ 
ten fommt die Befugniß flets aus eigenem Nechte zu) ihr Näherreht darauf vorbehalten. 
Wenn aber ein Gut einmal aus der Familie herausgegangen und das Näherreht durd Verjährung 
erloſchen ift, jo ſoll das letztere nicht wieder aufleben, menngleit in der Folge wieber 
ei ee dm Befibe des Gutes gelangt. CA. über das Nähere d. allgem. Landredit Th. ll, 

it. 4, —250, “ 


* 





Abnlir. | gut 


zu entfchädigen, und zwar durch Erflattung des erften Kaufpreifes, einerlei, ob bie 
Sache vor Anftellung der NRetractöflage billiger oder theurer weiter verkauft, vielleicht 
gar verſchenkt worden iſt. Deögleichen ift er verpflichtet, alle gegen den Verkäufer 
eingegangenen Berbindlichkeiten nun auch feinerfeitö zu übernehmen. Sind Nebenbe⸗ 
dingungen verabredet, welche Die Natur des Gefchäftd nicht verändern, aber eine 
Schägung in Geld nicht zulaffen und, wegen ihrer individuellen Eigenthümlichkeit von 
dem Mähergelter nicht übernommen werben können, fo war ed nad) gemeinem Recht 
controverd, ob der Nähergelter darunter leiden dürfe. Das preupifche Hecht jpricht 
fih bier zu Bunften des Käufers aus und fihliept in folchen und ähnlichen Fällen 
das Vorkaufsrecht aus. Troß des Näherrechtd gebt übrigens das Eigenthum ber 
verkauften Sache auf den Käufer über, und erft die Geltendmachung des MRetractes 
löft dies Eigenthum nachträglich wieder auf. Die mora des Dritten beginnt in ber 
Regel erſt mit dem Angebot des Kaufpreifes Seitens des Nähergelterd und wird Hin⸗ 
fiht3 der Früchtevertheilung, Melivtationen und Deteriorationen von Einfluß. \ 

Collidiren mehrere Näherrechte, fo ift zu unterfcheiden, ob fie von derſelben Xrt 
find, oder nicht. Im erfteren Fall entjcheidet bei der Erblofung die Nähe des Grades, 
in letzteren Falle ift die Sache fehr ftrittig. Die meiften Anfichten neigen fidy für bie 
Annahme, daß, wer aus mehreren Gründen retrahirt, demjenigen vorgebe, der nur einen 
oder weniger Gründe für ſich bat, und daß, wenn dies nicht den Außfchlag zu geben 
vermag, die Prävention und. unter zwei gleichzeitig Kommenden dad Loos entſcheidet. 
Das preußifche Recht bat bi Reihenfolge beftimmt regulirt (66 587—593, Tit. 20, 
$ 62, Tit. 17, Th. J. A. L. R.). 

Erloͤſchen kann das Näherrecht nicht bloß durch Entfagung, fondern auch durch 
Berjährung. Die Entfagung jegt eine ausdrückliche Erklärung voraus, welche jedoch 
nach preußifchem Necht, wenn fie auch nur für einen Fall ausgeſprochen iſt, für alle 
Folgezeit gilt, wenn dem Verzicht nicht ein Vorbehalt für die Zukunft beigefügt iſt.) 

Der Berluft des Näherrechts Durch Verjährung (welche nad) preußifchem Recht 
die ordentliche ift und, da es fih um ein jus discontinuum handelt, drei Fälle des 
Nichtgebrauchd vorausfegt, bei hypothekariſch eingetragenem Vorkaufsrecht überhaupt 
nicht flattfindet) ift wohl auseinander zu halten von dem Verluſt durch Verſäumung 
der Friſt, welche zur Anmeldung des Retracts geftellt ift und welche von Tage der 
Anzeige des flattgehabten Kaufed ihren Anfang nimmt, und particularrechtlich vers 
ſchieden normirt iſt. Das Nähere in den Art. Familie un Grundbefik. 

Abukir, ausgefprodhen Ahükir. Dorf und feites Schloß auf der gleichnamigen 
Halbinſel zwifchen dem See Madieh und der offenen See an der Nordweſtküſte Aegyp⸗ 
tend. In verfchobenem Viereck von ungefähr zwei Stunden Breite und Länge trägt 
die jandige, fpärli mit Palmen befegte und nur von einzelnen Dünen überhöbte 
Halb⸗Inſel die Ruinen der alten Stadt Canopus, von welcher Strabo, Plinius 
und Ptolomaͤus fprechen, obgleich neuere Forjchungen dad Dorf Bofchira bei Alexan⸗ 
drien ald daß alte Canopus erfennen wollen. In Folge der Kreuzzüge wurde Cano⸗ 
pus Sig eines‘ Biſchofs. Abukir ift durch eine ſchmale Landzunge mit Alerandrien 
verbunden. Der Weg nach dem norböftlicd gelegenen Roſette geht über einen Durch⸗ 
bruch des Sees Madieh in's mittelländifche Meer. Das fehle Schloß liegt an der 
nördlichften Spige der Halb⸗Inſel, füplic; von demfelben dad Dorf mit etwa 200 Ein- 
wohnern. Rhede und Halb-Infel find durch drei entfcheidende Schlachten berühmt. 

Seefhlaht am 1. bis 3. Auguft 1798 zwiſchen einer frangöfifchen Flotte 
unter dem Bice- Admiral Bruyes und einer englifchen unter dem Contre-Admiral 
Nelfon. General Bonaparte hatte am 19. Mai, den vor Gadir befchäftigten engli« 
jhen Abmiral Lord St. Vincent täufchend, mit 30 Kriege» und 350 Transport- 
fhiffen den Hafen von Toulon verlaffen, un 25,000 Mann nach Aegypten zu führen, ” 
erzwang unterweged die Uebergabe von Malta und erſchien am 1. Juli vor Alerans 
drien, wo an Tage darauf die Ausfchiffung der Truppen erfolgte. Auf das Gut- 


j 











1) Die preußiſch landrechtliche Bearbeitung des Näher: und Vorkaufsrechtes laͤßt überall ein 
gemifies iſſes odium gegen das Inftitut und den Wunſch möglicdfter Beſchneidung der darin enthaltenen 
hrsbeſchraͤnkung durchblicken. Daher faſt immer die Löfung der gemeinrechtlichen Controverſen 

zu Ungunſten des Berechtigten ausjällt. 


282. Abukir. 


achten des Vice-Admirals Bruyes, daß der Hafen von Alexandrien für große Schiffe 
nicht genug Sicherheit biete, befahl Bonaparte, mit der Flotte nach Abufir zu fegeln, 
dort fo raſch ald möglich das Geſchütz ausjchiffen zu laſſen, aber nur Dann dort zu 
bleiben, wenn er glaube, eine gegen jeden Angriff von der See aus geficherte Stel- 
fung einnehmen zu können, ſonſt aber die Schiffe nach Korfu in Sicherheit zu brin- 
gen. Die Gründe, welche Bruyes bewogen, ‚auf der Rhede vor Abufir zu bleiben, 
werden verfchieden angegeben. Entweder bat er wirklich feine Stellung nahe an der 
Baiküfte für gefichert gehalten, oder er wollte die weiteren Erfolge der glänzend ber 
gonnenen Operationen Bonaparte'8 in der Nähe abwarten. Während des Juli wur- 
den die Gefhüge ausgeſchifft, das fefle Schloß Abufir mit leichter Mühe befebt, die 
Transportfchiffe nach Alerandrien zurücdgefchidt und mit 13 Linienfchiffen, 3 Bregatten 
und 1 Aoviſo eine Anker-Stellung fo nahe an der Küfte genommen, daß ein Eindrin- 
gen des Feindes zwifchen ber Küſte und der Stellung wegen des unficheren riffigen 
Fahrwaſſers unmöglich fchien. Gontre»- Admiral Nelfon mar von dem vor Gabir 
bleibenden Admiral Lord St. Vincent beauftragt worden, die franzöfifche Expedi⸗ 
tions⸗Flotte aufzujuchen, hatte fie aber wiederholt verfehlt und erfolglos mehrere Male 
fat das ganze’ mittellänvifche Meer durchmefien. Am 1. Auguft befanden ſich Mittags 
fänmtliche franzöfifche Capitains auf dem Aomiralfchiffe „UODrient”, als die Annähes 
zung von 15 englifchen Kriegsfchiffen fignalifirt wurde. Sofort begab ſich Jeder auf 
feinen Poften und die Verdecke wurden zum Gefecht klar gemacht. Denn aus ber 
Eile, mit der Nelfon auf feine Beute losftürzte, nachdem er fie endlich vor ſich ſah, 
lieg fih das Entbrennen eines heißen Kampfes erwarten. Schon um 3 Uhr lagen 
pie englifchen Schiffe den franzöflifchen gegenüber und um 6 Uhr begann die Schladit. 
Der franzöfifche Admiral hatte zwar auf der Kleinen Infel, welche auf‘ Kanonenfchuß- 
weite vor dem feften Schloffe liegt, Stranpbatterieen anlegen und die Abufirküfte ſelbſt 
ebenfalld mit Geſchützen befegen Iaflen, aber er hatte e8 nicht für möglich gehalten, 


daß die Engländer ſich zwifchen ihn und das Land einfchieben würden. Nichtsdeſto⸗ 


weniger that Died Nelfon. Drei Stunden brauchte er zum Hecognodeiren und gab 
dann den Befehl, daß 6 feiner Schiffe zwifchen die franzöfifche Flotte und die Küfle 
einftauen, 7 fich feewärtd gegen die franzöflfche Flotte legen und eines die feindliche 
etwas gefrümmte Linie in der Mitte durchſchneiden ſolle. Das erſte der englifchen 
Schiffe fuhr zwar auf einer Klippe feft, die finf andern aber fehnitten im erften An- 
lauf die Franzoſen vom Lande ab und brachten deren Schiffe zwifchen zwei Feuer. 
Bruyes erkannte zwar fofort die nachtbeilige Lage, in welche ihn das kühne und wenn 
nicht gelungen, auch ungerechtfertigte Manöver Nelſon's gebracht; wies aber alle Vor⸗ 
fhläge, welche jeßt noch für eine Aenderung der Stellung laut wurden, ab und ber 
barrte bei feiner Anficht. 1200 Geſchütze waren bis zum Einbruch der Nacht in fort 


"währenden Kampfe; ihre Wirkung war vernichtend. Gegen 10 Uhr flog das Admiral⸗ 


ſchiff „l'Orient“ von 110 Kanonen mit fo furchtbarem Krachen in die Luft, daß 
einige Minuten alle Schiffe das Feuer einftellten, um fich vor herabregnendenm Feüer, 
Hol, Eifen und Leichen zu wahren. Schon vorher war Bruyes zwei Mal verwundet 
worden und überlebte feine Niederlage nicht. Während der Nacht dauerte das Feuer 
wenn auch fchwächer fort, wuchs aber mit Anbruch des 2. Auguſt wieder, da bie 
Branzofen mit Heldenmuth meiter fämpften. Erſt am Morgen ded 3. Auguft endigte 
die Vernichtung. Außer dem „[’Orient“ war auch der „Timoléon“ in die Luft 
geflogen. Mit dem „Gencreur” und dem „Guillaume Tell“ Hatte der Contre 
Admiral Villeneuve in der Nacht fih aus dem Kampfe zurücdgezogen. Diefe und 
zwei Eleinere waren die einzigen Schiffe, welche fih nah Korfu und Mälta retteten. 
Neun große franzöftfche Schiffe frihen am 3. früh die Flagge. Nelfon war Sie 
ger und die franzöflfche Flotte im mittellaͤndiſchen Meere vernichtet. Die engliſche 
Flotte hatte fein Schiff verloren, obgleich fie in Größe und Bewaffnung der fran« 
zöflfchen nachſtand. Selbft das gleich zu Anfang der Schladht auf den Strand ger 
rathene Schiff wurde noch im Verlauf derſelben wieder flott. Die Strandbatterien 
hatten fih als vollfommen unfähig erwiefen in den Kampf einzugreifen. Der Sieg 


läßt den Tadel verfummen, ber ſich auß dem einfachen Grunde gegen die gewählte _ 


Stellung Nelſon's erheben läßt, daß Die englifchen Schiffe ſich über die, franzoͤſiſchen 





1 


’ 


Abulir. 203 


hinweg untereinander felbft befchoflen: und Died megen des Pulverdampfes nicht einmal 
erkennen konnten. (S. Relſon.) Fr. Sqherenberg hat die Schlacht in einem Epos 
(Berlin 1855, bei M. Dunder) befungen. 

Landſchlachten: I. am 25. Juli 1799, zwifchen einem feanzöftfihen Corps 
unter dent General Bonaparte und einen türfifchen Heere unter Nuftaph a Paſcha, 
6000 gegen 17,000 Mann. Bonaparte® Zug von Aegypten nad) Syrien hatte mit 
dem Aufgeben der Belagerung von St. Jean d'Aere (ſ. Here) ein unglüdliches Enve 
genommen. Nach Cairo zurückgekehrt, fanden die Franzoſen dort eine veränderte Stim⸗ 
mung und die Generale bei den Soldaten Ungedul nad Frankreich zurüdzufehren, 
eine Ungeduld, die fich fogar bis zu meuterifchen Verbindungen fleigerte, aber erneueter 
Kampfluft wich, als ein tüurfifches® Heer, auf Anbringen Englands bei Rhodus gefam«- 
melt, auf 117 Kriegs⸗ und Transportfchiffen am 11. Juni bei Abukir Iandete, das 
mit 300 Franzoſen befegte Fort im Sturm nahm und die ganze Befagung nieder 
megelte. Der Einnahme des Forts folgte die Ausſchiffung der türfifchen Truppen, 
denen nur Eavallerie fehlte, welche fle von den gegen Bonaparte abermals aufftändifchen 
Mameluden zu erhalten bofften. Statt inveffen gegen Alerandrien vorzurüden, blieb 
Muſtapha auf. der Abukir-Halbinfel ſtehen und ließ fo feinem Gegner Seit, die Offen- 
five zu ergreifen. General Bonaparte langte von Cairo ber, nachdem die fich jammeln- 
den Mameluden zerftreut worden waren, am 23. Abends in Alerandrien an und ſchob 
feine Truppen fogleich auf die Landzunge vor, an deren Spige die Halbinfel Abukir 
liegt. Die Türken erfuhren feine Annäherung erft in der Nacht zum 25., und fogleidh 
trat das ganze Heer in günftigen, theild verjchanzten Stellungen unter Waffen. Am 
fräben Morgen bebouchirten vier Colonnen auf die Halbinfel und fahen rechts Die 


Brumen- Düne, links die Scheif! Düne, dahinter die Vezirhöhe, dann Dorf und 


Schloß Abufir vor ſich Liegen. Nach kurzem Ueberblid befahl General Bonaparte 
den Angriff. General Lannes griff die Brumen- Düne, General Deftaing die Scheik—⸗ 
Düne an, in der Mitte zwifchen Beiden ging Murat mit der Eavallerie vor. Die 
Zürfen wurden aus beiden Pofltionen geworfen, und da die Gavallerie rechtd und 
links in die Fliehenden einhieb, fie daher den Vezirhügel nicht mehr erreichen 
konnten, fo warfen fich gegen 5000 Türken in dad Meer und ben See Mabieh, wo 
die Meiften ertranfen. Nach einer Baufe, in welcher die bevorftehende schwere Aufgabe 
fberfehen wurbe, begann der Angriff gegen das türkifche Gros auf dem gut verſchanzten 
Pezichügel. Hier ftanden 12,000 Mann, unter ihnen Ianitfcharen, und auch Die Kriegs⸗ 
fehiffe und Ranonenboote der Engländer konnten nun in das Gefecht eingreifen. Die 
Chancen waren durchaus gegen den franzöftjchen Angriff, Doch gelang er, da die Ja⸗ 
nitfcharen fich hinreißen ließen, dem erften abgejchlagenen Angriffe zu folgen, ihre Ver 
fhanzungen zu verlajien, um den Gefallenen die Köpfe abzufchneiden, für welche Beloh⸗ 
nungen ausdgefeßt waren. Auch bier entfchied wieder Die Cavallerie unter Murat und 
die 69. Halb⸗Brigade, welche Wunder der Tapferkeit that. Zwiſchen dem Vezirhügel 
und dem Dorfe, wo die Bagage Aufgefahren war, kam es zu einem blutigen Hands 
gemenge, aus dem ein Entrinnen nur möglich war, wenn die Fliebenden fi in das 
Meer ſtürzten. Muſtapha Paſcha wurde im perfünlichen Kampfe von Murat gefangen, 
nachdem er den Xebtern verwundet. Admiral Sir Syoney Smith, welcher dem Ge⸗ 
fechte beimohnte, entfam mit genauer Noth auf fein Schiff. Schon am Mittage 
war die ganze türfifche Expeditions-⸗Armee vernichtet. An Trophäen zählten die Fran⸗ 
zofen 32 Geſchütze, 100 Fahnen und Roßſchweife, das ganze Zeltlager, die Bagage 
und 400 Laſtthiere. Der Berluft ſoll nur 200 Todte und 550 Mann Bermundete 
geweſen fein. Der Schlacht folgte der anfangs gewaltjame, dann regelmäßige Angriff 
des Forts, in welchem fich der Sohn Muftapha Paſcha's außerordentlich hartnädig ver⸗ 
theidigte und fich nur deshalb am 30. ohne Bapitulation ergab, da der Geruch der 
raſch vermefenden Leichen in dem Fort nicht mehr zu ertragen war und der Durft bie 
Bertheidiger faſt wahnfinnig machte. Bald’ nach diefem entfcheidenden Siege verließ 
General Bonaparte Aegypten um nach Frankreich zurüdzufehren. Werige Schlachten 
find von beiden Seiten fo durchaus gegen jede firategifche und taktiſche Negel begonnen 
und durchgeführt worden, ald dieſe. Ein genaueres Studium verfelben, zu dem die 
14. Tafel des Bertrandſchen Werkes: „Atlas pour servir a l’histoire des Campagnes 


204 | | Abuſcheher. 


d’Egypte et de Syrie* das geeignete Material bietet, zeigt auf beiden Seiten im Kriegs⸗ 
zwed, Plan und Ausführung nur der Regel Widerſprechendes. Abukir ift nur ein 
Beweis von Zufall, Glück, Kühnheit und heldenmüthiger Benugung des Augenblide. 
II. Landfchlacht am 21. März 1801. Am 3. März 1801 Iandete ein englijches 
Armeecorps von 18,000 Mann unter Abercromby (f. U.) an der ägpptifchen Küſte, 
um den Branzofen dad Land zu entreißen, Es zwang den General Friant zum Rüd- 
zuge, eroberte dad Fort U. und nahm in feiner Nähe eine verfchanzte Stellung, 
in welcher e3 (21. März) zwei Angriffe des franzöftfchen Oberftcommandirenden Menou 
zurückſchlug. Abercromby ergriff darauf jelbft die Offenftve, umging den Feind durd) ein 
geſchicktes Manöver auf dem rechten Flügel, fiel ihm in den Rüden und entfchied fo die 
Schlacht, in der er freilich felbft tödtlich " verwundet ward. General Hutchinſon über- 
nahm nach ihm dad Obercommando, und ihm gelang. ed, Die Branzofen ganz aus 
Aegypten zu vertreiben. — 
Ä Abuſcheher, Abufhähhr (d. i. Abu's Stadt), Bender (Hafen-)- Bujchehr, in 
Buſhir von den Briten, und in Bouchehr von den Franzoſen verwandelt, liegt in ber 
perfiichen Provinz Fars, und zwar auf der nördlichen Spige einer Halbinfel, die Me 
fambria nach Nearch hieß und deren Südende durch das Fort Nifchehr bezeichnet wird. 
Abufcheher, die Eingangspforte von Schiras, bat von der Sce aus das Anſehen eines 
ſchmalen weißen Streifend, brauner und gelber Sand, grauer Lehm, horizontale %elö- 
fhichten von. dunfelm Kolorit bieten fich nach jeder Richtung dem Auge Dar und wers 
den, außer von einigen vereinzelt ftehenden Dattelbäumen, durch Feine andere Vegeta⸗ 
tion belebt, die auf dem fterilen Boden und in dem trocdenen und außerordentlich heipen 
Klima, defien mittlere Jahrestemperatur 200 R. ift, nicht gedeihen Tann. Das niebere 
Zand längs der Küfte, eingefaßt von grauen, Falfartigen Klippen, wird bei Abufcheher 
ebenfalld von Bergen, wie an der ganzen perfifchen Küfte des Golfes, in einer Ent 
fernung von 5 deutſchen Meilen umgeben. — Abuſcheher nimmt einen beträchtlichen 
Umfang ein; eine Mauer an der Landfeite fchügt die Stadt. gegen die Einfälle der 
zügellofen NRäuberftämme, die beftändig in furchtbaren Banden in der Nachbarſchaft 
umberftreifen. Bon der Seefeite hat Abufcheher außer einigen Geſchützſtücken, welche 
fo alt und löcherig find, daß. es gefährlich fein würde aus ihnen zu feuern, meber 
befeftigte Werke noch irgend einen andern Schuß als den, welchen dad ſchon erwähnte 
Hort Nifchehr gewähren Tann. Größere Schiffe find genöthigt, in einiger Entfernung 
von der Stadt anzulegen, und da die Fluth jehr ſtark ift, fobald Heftige Winde wehen, 
fo kann die Verbindung mit ihnen nur fehr fchwer unterhalten werben. Nur Fleinere 
Schiffe können duch einen engen und gewundenen Kanal in eine Eleine Bucht einlaufen 
und landen oder ihre Ladung Dicht an den Käufern einnehmen und löfchen. Die ‚Eine 
wohner von Ab., deren Zahl fich auf mehr ald 10,000 Seelen beläuft, find haupt⸗ 
fächlih Araber von der gegenüber liegenden Küfte, welche urfprünglich von Abu Hor 
und Abu Toba kamen; durch ihre Vermifchung mit den Perjern haben fie viele von 
den charakteriftifchen Merkzeichen ihres Stammes verloren, aber alle, jelbft der Statt 
halter nicht ausgenommen, der aus Achtung für feine arabifche Abftammung Scheil 
genannt wird, befchäftigen fich mit Faufmännifchem Verkehr. Die Einfuhr befteht aud 
Stückgütern, aus Baummollenzeugen und Shawls, fowie andern Artikeln britifcher 
Manufakturen und beläuft fi jährlich auf mehr als eine Million Pf. St. Ausgeführt 
werden edle Metalle, Seide, Teppiche, Flinten, Pferwe/ der Handel ift befonders für 
Perfien ungemein günftig und vortheilhaft, und die Quantität der Gold- und Silber 
baren, die jährlich dorthin gebracht werden, fohägt man auf eine halbe Million. U. 
ift eine moderne Stadt und verdankt ihre politifche und commercielle Bedeutung einzig 
und allein der vor etwa 100 Jahren ftattgehabten Verlegung der Faktorei von Gam⸗ 
brun oder Bender Abbaſſi's hierher, wodurch es der Haupthafen im perfifchen Golfe 
geworden ift. Im der Neuzeit ift es fogar zum Sitz eines Britifchen Refidenten gemacht. 
Karawanferaid find, feitdem die englifche Flagge in Ab. weht, auf öffentliche Koften 
für die Bequemlichkeit der Reiſenden erbaut; fie bilden einen hohen vieredigen Raum, 
deffen Seiten aus vielen Gemächern mit gewölbten Fronten beftehen. Innerhalb dieſer 
breiten Kolonnaden ſchlägt der Kaufmann mit feinen Gütern fein Quartier auf. 
mittlere Raum ift offen und bietet gewöhnlich eine gemifchte Berfammlung von Leuten 


Abweichung. Abweſenheit. 205 


dar, Die durch ihren Beruf außerorventlich befchäftigt find. Krachtgüter aller Art, Ka⸗ 
meeljättel, Waarenballen find überall herumgeftrgut und Alles deutet ein aufßerorbent- 
liches Vertrauen an. Gruppen von Kaufleuten aus faft jedem Himmelöfteich fieht man 
ihren Kaffee fchlürfen, ihre Pfeifen ſchmauchen und lebhaft befchäftigt ihren Kandel 
abfchließen. Hier werden Kleider und Sandalen, dort Feigen, Datteln und eingemachte 
Brüchte zum Verkauf ausgeboten, — kurz eb ift eine belebte und intereffante Scene, 
Die fih Tag für Tag wiererholt und bis finkender Nacht anhält. Wenn Ab. verbält« 
nißmäßig in der Neuzeit erſt cine gewiffe Wichtigkeit erlangt Bat, fo ift Died mit dem 
Fort Rifchehr keineswegs der Fall, das feinen Namen von der alten Stadt „Riv 
Ardeshir* erhalten bat. Dieje wurde im Jahre 230 nach Ehr. Geb. von Artarerres IV. 
oder, wie der perfifche Name lautet, von Ardeſhir Babegan gegründet und mit dem 
erwähnten Namen, d. h. Freude des Ardeſhir's, benannt. Während ded 3. und 4. 
Jahrhunderts war „Riv Ardeshir“ der Sig des chriftlichen Erzbifchofd in Perſien und 
der geiftlichen Jurisdiktion des Iohannes von Rifchir, der 325 an dem Goncil von 
Nicaͤa Theil nahm, waren alle Kirchen Berfiend und Indiens untergeben. No ein Mal 
wird Riſchir, Riſchehr, Nifhir, Nefchir, wie der Name corrumpirt wurde im Laufe ber 
Zeit, erwähnt, indem es der Schauplag zweier Schlachten zwijchen zwei arabijchen 
Häuptlingen zur Zeit Mohameds war, verfehwindet aber dann auß der Geſchichte bis 
zum Sabre 1520, wo die Portugiefen das jetzige Fort erbauten oder vielmehr wieder 
berftellten. 

In der neueften Zeit und zwar in dem britijch- perfifchen Kriege in ven 
Jahren 1856 und 1857 bat Ab. fowohl wie das Fort eine wichtige Rolle gefpielt.- 
Letzteres, das die Perſer mit neuen Vertheidigungswerken nah Abbruch des diploma- 
tifchen Verkehrs mit England umgeben hatten und das fie Durch 2000 Mann verthei- 
gen ließen, mwurde'am 9. December 1856 von den Briten nach kurzem Kampfe mit 
Sturm genommen und am 10. die Stadt von der Seefeite ber von der englifchen Flotte 
unter dem Befehle des Contre⸗Admirals Sie Henry Leek angegriffen und nad; einem 
vierftündigen Kampfe, binnen welcher Zeit die perfifchen Batterien beinahe völlig zum 
Schweigen gebracht waren, übergeben. Tags darauf wurde Ab. für einen Theil des 
britifchen Gebietes und einen Freihafen erklärt und von dem General- Lieutenant Sir 
James Dutram befebt, der am 3. Februar das perfifche Lager bei Burazdſhun angriff 
und am 8. die perfifche Streitmacht unter Shooja⸗ool⸗Moolk bei Khooſh⸗ab total fchlug. 
Am 10. nad) Ab. zurüdgefehrt, verließ am 19. des folgenden Monats dad britifche 
Erpeditiondheer, 4886 Mann ftark, unter Dutram, die Stadt, um nach dem von den 
Berfern ftark befefligten und von 13000 Mann unb einer zahlreichen Artillerie verthei⸗ 
digten Mohammerah ſich zu begeben. 

Abweichung, ſ. Declination und Magnetnadel. 

Abweienheit. Die Kreuzung der Rechtöbeziehumgen mit den localen Beziehungen 
des Individuums bat frühzeitig dad Bedürfniß der Stellvertretung mach gerufen, denn 
nicht immer kann derjenige, der ein Recht erwerben, oder abtreten oder fonft eine 
Nechtöhandlung vornehmen will, Fförperlid an dem Ort der Action anmefend fein. 
Es giebt jedoch einerfeits eine Reihe von Nechtögefchäften, deren Natur eine Stellver⸗ 
tretung ganz ausfchließt (f. Mandat), andrerſeits bat das Nechtögebiet mandherlei Bes 
ziebungen aufzuweijen, in denen ein Mechtöverbältniß zu feiner Begründung einer ges 
wiffen räumlichen Trennung der betheiligten Perfönlichkeiten bedarf. Wenn daher das 
römifche Necht den einen absens nennt, Ser fih nicht an dem Ort befindet, wo eine 
Klage gegen ihn angeftellt wird, fo bewilligt ed dem Abweſenden einen Prozeß⸗Man⸗ 
datar, der ihn gegen die nachtheiligen Folgen der Abmwefenheit ſchützt; aber weder ber 
römifche noch irgend ein anderer Griminalprozeß geftattet einem zur peinlichen Unter- 
fuhung gezogenen DBerbrecher eine Stellvertretung (nur bei leichten Vergeben finden 
Ausnahmen ftatt; |. Sontnmaziafverfahren, Strafprozeh). . Ein gewiffe Zeit hin⸗ 
durch fortgefegter Beſitz einer Sache läßt unter beflimmten Vorausfegungen das Eigen- 
tbum der Sache auf den Befiter Durch Erfigung übergehen, und entklcivet den bis⸗ 
berigen @igenthümer feines Rechts. Diefer Crfolg würde ohne ein unbefümmertes 
Sernbleiben des erſten Eigenthümers von feiner Sache nicht denkbar fein. Es ift alfo 
eine gewifle Abmwefenheit des dominus nothwendige Vorausfegung. Gleichwohl fpricht 








‘ 


26 Abyffinien. 


Bier das roͤmiſche Recht von einer absentia erſt dann, wenn Erſitzer und Eigenthümer 
in verjchiedenen Provinzen wohnen, und fehüst den Abweſenden durch verfchärfte Ans 
forderungen an den Erfiger. In allen Sällen aber, mag nun eine Stellvertretung uns 
möglich, unzuläſſig oder verabjäumt fein, unterjcheidet das Hecht zwiſchen einer ver« 
ſchuldeten und unverfchuldeten Abwefenheit. Im Prozeßrecht wird Die verfchuldete Ab⸗ 
weſenheit ald Ungehorfam gegen den Richter außgelegt, aber außer den Ungehorſams⸗ 
firafen mit dem durch Fiction vermittelten Fürwahrhalten der gegnerifchen Behauptuns 
gen und dem DBerluft von Beweismitteln. und Einreden geahndet (j. Contumazial 
verfahren, Civilprozeß.) 

Die unverfchuldete oder gar loͤbliche Abwefenheit dagegen wirb dem Betroffenen 
in der Regel nachgeſehen, hilft ihm zur Meftitution und im @ivilprozeß fogar zur 
Suspenflon des Mechtöftreites. Ueber all dies wird bei den einfchlagenden Materien 
dad Ausführlichere beigebracht werden. | 

Eben jo gehört die cura absentium, analog dem Schu des Staated für bie 
en moefenben, in die Darftellung des Vormundſchaftsrechtes (f. auch Verſchol⸗ 

eit). 5 
Abyifinien (auch Abeſſynien) oder Habeſch, welches im Alterthume mit einem 
Theile Nubiens Aethiopien genannt wurde, liegt im norböftlichen Theile Afrika's, Dem 
glüdlichen Arabien oder Jemen (Demen) gegenüber, begreift demnach den füblichften 
Theil der Weftküfte des NRothen Meeres, wird in D. theilweife von dem Meerbufen 
von Aden, im MW. von Nubien begrenzt und ift im Uebrigen von noch wenig. befann- 
ten 2ändern des inneren Afrika umgeben. Der Hauptmafle nach liegt es zwifchen 8° 
und 16° R. Br. — Der Fläheninhalt wird auf 15,300 D.-M. und die Bes 
völferung auf 5 Mill. Einw. gefchägt. — Abpyffinien ift, was bie aͤußere Geftalt 
feiner Oberfläche betrifft, ein Hochland, zwar mit vorherrſchender Neigung gegen SO. 
W. und NW., jedoch mit fteilem Abfall nach allen Seiten, fo daß ed, um uns fo 
auszudrücken, "eine natürliche Felfenburg bildet, zu der man nur auf den befchwerlichften 
Paͤſſen binauffteigt. Dies gilt jedoch hauptſächlich nur vom Innern, wo zunächft große 
und graßreiche Hochebenen von 4000 bis 10,000 F. Höhe häufig von engen, tiefen 
und ſchluchtartigen Thaͤlern zerriffen find, und andererſeits auf ihnen viele fäulen», 
pyramidens und tafelfürmige Felſenberge (Amba) oder die Schneeregion berührende 
Gebirgsketten fich erheben, namentlih das Samengebirge mit dem 14,359 8. 
hoben Detſchem, dem 14,000 F. hohen Abu Jaret und dem 13,500 F. hoben 
Buahit. Bon den Gebirgäpäflen liegt der Selfipaf in einer Höhe von 11,900 
und der Lamalmonpaß in der von 10,000 Fuß. Sehr verbreitet find Die vulka⸗ 
nifchen Sefteine, obwohl die weißen Kraterberge längſt erlofchen find, und es nur nod 
6 brennende Vulkane im fünlichen Schon und im ©. von Maffowa giebt. Horizontal 
gefchichtete und von Kalkftein überlagerte Sandfteine find vorherrfchend, Urgebirgsarten 
weniger verbreitet. Daß Erbbeben nicht felten und Thermalquellen zahlreich vorhanden 
find, bedarf unter den obwaltennen Umftänden faum einer ausdrücklichen Bemerkung. 
Im S., W. und N. liegt die Kolla (d. i. heißes Land), ein 6 bis 7 Tagereifen breite 
und heißes Sumpfland, ‚mit dunkelſchwarzer und fruchtbarer Erde (Mazaga) bebedt, 
ein Urwald voll Elephanten, Raubthieren und Schlangen, aber mit fchwacher Bevölkerung. 
Gegen D. fällt ed zur wüſten und beißen Tiefebene des Adallandes und zur heißen 
Sandebene Samhara ab. — Was die Gemwäffer anbelangt, jo nimmt der öftliche 
Hauptquellenftrom des Ni, der Bahr el Azrek oder Blaue Fluß, dort im Lande 
Abai genannt, in Abyffinien feinen Urfprung. Seine Quelle ift an dem 8500 8. 
hohen Berge Giefch, im fünlichften Theile ded Landes. Er durchflrömt mit großer 
Heftigfeit den Tſana⸗See und bildet in feinem fpiralförmigen Kaufe viele Wafferfälle. 
Der Hauptnebenfluß des Nil, der Atbara oder Takazze, entipringt ebenfalls in 
Abyſſinien, ſodann endlich der Hawaſch, der jedoch ins indiſche Meer bei der Straße 
Bab el Mandeb fich ergießt oder eigentlich in den bortigen Lagunen fich verliert. 
Außer zahlreichen Alpen- und anderen Eleineren Seen bat Abpifinien den 150 D.R. 
großen Tſana⸗ oder Dembra⸗See; er iftüber 600 F. tief, voll Fifche und Fluß 
pferde und enthält viele vulkanifche, jedoch gutbebaute Injeln. Der Half, ein am 
derer erwähnenswertber See, hält 10Y, Meilen im Umfange. — Das Klima tft fehr 








Abyifinien. 207 


verichieben nach der mehr oder minder hohen Lage und den drtlihen Naturverhält 
nifien. Im Grenzſaume, am Buße der Gebirge, findet man glühende Hige und Dürre; 
auf den Hocdebenen athmet man reine Alpenluft,, wogegen in den eingefchloffenen Thä⸗ 
_ lern wiederum die Hiße erftidend iſt. Andererfeitö herrſcht in den höchſten Gebirgögegen- 
den fogar ein rauhes Klima, und im Samengebirge traf der befannte deutſche Neifende 
Rüppell bei 12,000 Par. F. Meereshöhe im Juli frifch gefallenen Schnee. Sonſt 
berrfcht auch in den höher gelegenen Gegenden eine angenehme Milde. Im Ganzen 
ift dad Klima gefund. Die tropifchen Negen, die oft mit furchtbaren Gewittern und 
mit Hagel verbunden jind, treten in der Küftenterraffe zwifchen Januar und Mai, im 
Hochlande felbft zwiſchen April und October ein. — Mbpyfiinien hat einen überaus 
fruchtbaren Boden, allein obgleich es an vielen Orten jährlich eine dreifache Ernte 
giebt, fo wird doch der Aderbau nachläffig betrieben. Mais, Weizen, Gerfte, Hirfe, 
Sefam und verfdhievene Gartengewächje werden am bäufigften angebaut. Auch Wein» 
bau wird betrieben, jedoch natürlich nur im Hochlande und zwar da, wo Die zur Wein ' 
cultur erforderliche Wärmetemperatur, in Verbindung mit anderen örtlichen Verhaͤlt⸗ 
niffen, ähnlicher Art ift, wie in den europälfchen und aflatifchen Weinländern. Süd⸗ 
früchte, Zuderrohr, Kaffee (aber meift wild wachfend), Baumwolle, Senneöblätter und 
föftliche Arzneipflanzen anderer Art find in Fülle vorhanden, Ein dem Lande eigen« 
thümliches Erzeugniß aus dem Pflanzenreihe ift das f. g. Teffgras. Die meiften 
Wälder find an den Bergabhängen und in der oben erwähnten Kolla, dagegen find 
ihrer verhältmißmäßig nur noch wenige auf den Hochebenen. Auf den üppigen Alpen 
wiefen des nördlichen und auf den großen Grasebenen des ſüdlichen Theils des Lan⸗ 
des wird bedeutende Pferdes, Rindvieh⸗, Kameele und Schafzucht betrieben. Die großen 
f. g. Sanga-Dchfen zeichnen fich durch ihre oft 4 Buß langen Körner aus, die Schafe 
find Dagegen flein und haben ſchwarze Wolle. Auch Ziegen giebt e8 in großer Menge. 
Bon wilden Thieren find, wie fih ſchon aus den Breitengraben, unter denen Abyſſt- 
nien liegt, entnehmen läßt, die meiften der dem afrifanifchen Welttheile eigenthümlichen 
Arten, vorhanden, alfo namentlich Löwen, Panther, Leoparden, Hpänen, Elephanten 
(oft in Heerden von mehreren hundert), Rhinozeroſſe, Nilpferde, Giraffen, Affen (wor⸗ 
unter auch Meerkagen), Krokodille und Rieſenſchlangen. Auch das Mineralreich ift 
ſehr ergiebig, namentlich an Gold, Silber und Eifen, doch wird von den Metallen, 
aus Unbefanntfchaft mit dem Bergbau, wenig gewonnen. Von Salz giebt es eine 
große Menge. — Die Induftrie ift unbedeutend und beſchraͤnkt fich meift auf Leder⸗ 
und Pergament Bereitung, Baummollmeberei, Verfertigung von Teppichen aus Wolle 
und Ziegenhaar, und DBerarbeitung von Eifen und Kupfer. — Der Handel Abyfil- 
niens iſt bei Weitem nicht fo wichtig, ald er bei einigermaßen geordneten Zuftänben 
im 2ande werden koͤnnte. Im nördlichen Abyſſinien bejchränft er ſich meift auf Tran 
fitverfehr für Die aus dem Innern Afrika's und Süd⸗-Abyſſinien kommenden Waaren, 
indem Die nach dem Aequator zu gelegenen Zänder reich an mannichfathen Handels⸗ 
producten find, woran dagegen Nord⸗Abyſſinien Mangel hat. Ambara (ein bisheriges 
befonbered Neid; im mittlern und nordweftlichen Abyfiinien) ift das Haupthandelsland 
Abyſſiniens und deſſen Eentralpunft wiederum Sondar durch feine glüdliche Lage, 
indem fich bier mehrere Handelsftragen vereinigen. Aehnliches gilt von dem Handels⸗ 
orte Aleyon Amba im bisherigen Königreihe Schon. Für den ausländifchen Han⸗ 
delsverkehr ift die nubifche Stadt Maſſuah am Rothen Meere der Hauptplaß oder 
vielmehr, zur Zeit wenigftend, der einzige Platz. Hierher bringen die Karavanen die 
Hauptartikel des Landes und einiger wefllicher und ſüdlicher Känder, und holen bier 
europäifche und indische Waaren ab. Die Hauptartikel der Ausfuhr find: Gold, 
Schildpatt und Perlen (aus dem Rothen Meere), Moſchus und Zibeth (au Süd» 
Abyifinien), Hippopotamuszähne, Rhinozeroshörner, Elfenbein, Wachs und Haͤute aus 
Rords Abyifinien, Gummi und Myrrhen, Cardamom, Kaffee in ausgezeichneter Güte 
und großer Menge, Straußfevern, Galla» Sklaven (meift nach Arabien), und endlich 
jogar Maulthiere. Manche der Hier genannten Artikel find in Abyſſinien zu bei⸗ 
fpiello8 billigen Preifen zu haben, befonderd wenn fle im Taufchmwege gegen 
Glasperlen, Quincaillerie, Spiegel, Meffer, Luntenflinten, deutfche Säbelflingen ꝛc. 
eingetaufcht werben. So £oftet in Gondar z. B. ein Eentner gereinigten Wachſes nur 


Bw Abyffnien. 


13 81. Conv.⸗Mze. (in Trieft 90 FL), das Pfund Zibeth 20 Fl. 4—8 Stück Ochſen⸗ 
bäute 2 Fl. und ein Gentner Gummi 6 Fl. Bei Gold Tann man 20 — 25 Procent | 
gewinnen gegen Therefientbaler, welche in Abyffinien und den benachbarten 2ändern 

die einzige Valuta bilden. Die Thereflentbaler haben ihren Namen von der Kaijerin | 
Maria Therefla und waren zur Zeit ihrer Negierung öfterreichifche Landesmünze; fle 
haben ungefähr die Größe eines preußifchen Thalers, jedoch, nach einem andern Münz- 
fuße ausgeprägt, mehr Silbergehalt, fo daß fie 2 Fl. Eonv.-Mze. gelten. Da fle 
indeß in ber öfterreichifchen Monarchie durch andere Münzforten längft verbrängt find, 
aber in Abyſſinien und den benachbarten Rändern Die Handelöleute fi einmal daran 
gewöhnt haben, fo Bleibt einem Wiener oder fonftigen dfterreichifchen Handelshauſe, 
welches mit dieſen afrifanifchen Ländern verkehrt, nichts anderes übrig, als Silber 
barren oder dgl. in die Münze zu fehiden und daraus den erforderlichen Bedarf an 
Therefienthalern prägen zu laffen, die jedoch bis. auf die geringften Einzelnheiten das 
nämliche Gepräge wie ehemals haben müflen. Die Hauptartifel ver Einfuhr find, 
außer den fo eben genannten (Glasperlen, Duincailleriemaaren ꝛc.), gefärbte Seite 
und Baummolfftoffe, gefärbte Tücher und Seidenftoffe, rothe8 Maroquin, Papier, Raſir⸗ 
mefler, Beuerzeuge, Antimon, Zinn, Quedfilber, endlih Zimmet und fehwarzeg Pfeffer 
aus Indien. Als größeres Taufchmittel dienen im Innern ded Lande auch baum 
wollene Kleidungsftoffe; und für den Ellineren Verkehr Salztafeln. Die Engländer 
haben, des vortheilhaften Handels wegen, Abyſſinien ſchon feit einem Vierteljahrhundert 
im Auge. Als 1836 der damalige Vicefönig von Aegypten, Mehemet Ali, Biene 
machte fich Abpffinien® zu bemächtigen, wurde von britifcher Seite Proteft eingelegt; 
im 3. 1845 waren mehrere abyfiinijche - Häuptlinge bereit im Begriffe, ſich unter 
englifche Protection zu ftellen, und ed ward dies nur durch Die Foptifche oder abyſſi⸗ 
nische Geiftlichfeit (f. darüber weiter unten) verhindert, welche eine Todfeindin der 
bauptfächlich von England aus geleiteten proteftantifchen Miffionen if. Bon Bombay 
und Aden aus unterhalten die Engländer fchon feit längerer Zeit Handelsverbindungen 
mit Abyfjinien, wozu fie fich der indifchen Banianen- Kaufleute ald Mittel&perfonen be 
dienen. — Die zugleich die Mehrzahl bildenden Ureinwohner des Landes find bie 
Abyffinier, welche meift braun von Farbe, ſchön gebaut und von den Negern ganz 
verfchieden find; denn fle gehören der kaukaſtſchen Naffe an. Sie führen nad ben 
Stämmen verjchiebene Namen, ale Schihos (oder Schohos), Saortos (oder 
Hazortad) u.f.w., und haben zwei Sauptfprachen: die ätbiopifcdye oder Gihz— 
Sprade, die bis zum 14. Jahrh. nach Ehr. die Landeöfprache war, jetzt aber ‚nur 
noch (obgleich in der abyſſiniſchen Landfchaft Tigr& bis auf den heutigen Tag ein 
Dialekt derfelben gefprochen wird) die gottesdienftliche Sprache ift und die Amhara— 
Sprache, welche jetzt die allgemeine Landesſprache ift und in der auch die meiſten 
Bücher gefchrieben werden. — Der Religion nach befennen fi die Abyffinier zum 
Chriftenthum, welches hier zuerft um das I. 330 durch Frumentius und Aedeſius 
eingeführt wurde, jedoch im Kaufe der Zeit durch eine ftarfe Beimifchung fremdartiger 
Beſtandtheile fehr entftellt worden if. So werben die Knaben befchnitten, die moſai⸗ 
fhen Vorfchriften in Rüdficht auf Speifen und Reinigungen beobachtet und der Sab- 
bath wird gefeiert, wie Died noch in mehreren chriftlichden Gemeinden im 5. Jahrh. ge 
ſchah. Sonft gejchieht Taufe und Abendmahl nach Art der griedhijchen Kirche, 
mit der die Abyſſinier auch Faften und Feſttage gemein haben. Der Gottesbienft 
beftebt nur im Vorlefen biblifcher Stellen: und Austheilen des Abendmahls; von 
Predigt und Kirchengefang weiß man nicht. Die meift fehr unwiſſenden @eiftlichen 
find verheirathet, feldft bei den Mönchen ift Died, ganz gegen die gewöhnliche Ordens⸗ 
regel, der Fall; ja manche Ieben fogar in Polygamie, die überhaupt unter den Abyſſi⸗ 
niern nichts Seltenes if. Das Oberhaupt der abyſſiniſchen Kirche heißt Abuna 
(d. i. unfer Vater) und wird gewöhnlich aus Eoptifchen Prieftern gewählt, da Abyſ⸗ 
finien mit den Kopten in Cairo Gemeinfchaft hält. Aus dieſer Schilderung laßt ſich 
fhon entnehmen, wie es mit der Geiftesbildung und dem fittlichen Charakter der Abyf- 
finier ausſieht. Aus alter Zeit befigen fle freilich eine Menge gelebrter Werke, haupt 
fächlich theologifchen Inhalts. Auch haben fie ein Geſetzbuch, welches zur Zeit ber 
Mioäifchen Kirchenverfammlung, alfo um 325 nach Chr., durch einen König von Abyſ⸗ 


N 











i Myjfinien. | 289 


finien befannt gemacht worden fein fol. — Die Agau, in Laſta und. anderen Theilen 
Nord » Abyfjiniens - wohnend, find ebenfalld monophnfitifche Ehriften und werben von 
Einigen zu der Urbevölferung Nord Abyffiniend gerechnet. — Die Falaſchas ober 
Falaſſa in Semen und Anıhara flammen von Juden Her, die ſchon zur Zeit Sa- 
lomos und Rehabeams in Abpffinien eingewandert fein follen, was jedoch wahr» 
iheinlich exrft zur Zeit Alexander des Großen und fpäter gefchehen if. Sie find in 
teligiöfer Beziehung feine Juden mehr, fondern gewiflermaßen monophnfttifche Chriften. 
Sie verehren 3. B. die Jungfrau Maria und andere Heilige der chriftlichen Kirche; 
auch fprechen fie weder hebräifch, noch eine mit dem SHebräifchen verwandte Sprache. 
Seit dem 10. Jahrh. nach Chr. hatten fie ihre eigene politiiche Verfaſſung. — Die 
Balla oder Gallas, ein fchöned, tapfered Volt von unbekannter Abkunft und 
bauptfähli in Sud⸗ und Ofl-Abyffinien wohnend, find theils Monophyſiten, theils 
Mahomedaner, theild noch Heiden. Sie felbft nennen fi Orma, ihre Sprache 
Illm'orma und ihr Land Ormania. Seit dem J. 1537 fegten fle fih in Abyſſinien feft 
und riffen bier im Laufe der Zeit mehrere Provinzen an fih. Ohne Zweifel gehören 
fie einem weitverbreiteten Volskſtamme im öftlichen Theile des inneren Afrikas an, und 
fie unterfcheiden fi von den Negern durch fehlichte® und meift brauned Haar, aud 
durch braune Geſichtsfarbe. Stanımyerwandt mit ihnen find die mahomedanifchen und 
in viele kleine Stämme zerfallenden Danakils in der Samhara und die Adals 
im füböftlichften Theile Abyſſiniens. Die Gongas in Süd⸗Abyſſinien, wo ihre Vor⸗ 
fahren einft die Urbevölferung gebildet haben follen, find zum Theil Ehriften, zum 
Theil aber auch noch Heiden, welche angeblich Menfchen opfern. — In den dichten 
Waldungen zwifchen den abyijinifchen Stufenländern und den Sandebenen, beſonders im 
norbweftlichen, waldigen Tiefe und Sumpflande, haufen die rohen Schangallas 
oder Schankala, Halbwilde von dunkelſchwarzer Hautfarbe und init krauſem Neger⸗ 
haar, jedoch in manchen Stüden von den eigentliden Negern verfchieden. — Was 
das Geſchichtliche anbelangt, fo ſpielt Abyſſinien in der altäthiopifchen Gefchichte 
im Ganzen eine minder bedeutende Rolle, ald Nubien (wo der berühmte Staat Mero 
ſich befand); andererfeitö bildet es fchon früh ein eigenes Neich und die mythifche 
Sage beim Volke nennt als erften König deſſelben Menilebek und giebt ihn für einen 
Sohn Salomod und der Königin von Saba aus. Die Tönigliche Reſidenz war 
Arum, von befien damaliger Pracht noch großartige Trümmer zeugen. Die erften 
hriftliden Könige waren zwei Brüder, Abreba und Azbeha, die um 330 nach Chr. 
lebten. Im I. 530 unterwarf der König Elesbaan von Abyffinien einen Theil des 
berühmten himjariftifchen oder bomeritifchen Neiches im füblichen Arabien, und Diefer 
Theil fand 71 Jahre lang: unter abnffinifcher Herrfchaft. Die Königin fat ließ im 
3. 960 alle Glieder des regierenden abyſſiniſchen Königshaufes umbringen und erhob 
auf den Thron ihren Sohn, der die Zagäifche Dynaftie gründete. Ein König derfelben, 
Zalibala, Tieß viele Kirchen in Felſen ausbauen. Die alte Salomenifche Dynaftie erhob 
fi indeß wieder im 3. 1268, indem ein Sprößling dieſes Stammed jenem allgemei- 
nen Blutbade entronnen war und ein Nachkomme deflelben ſich nun auf den Thron 
fhwang.. Erft feit diefer Zeit fcheint für den König der Titel eined Groß⸗Negus 
aufgefommen zu fein. Auch nannte er feh Negufa Neguf Saitiopha (König 
der Könige Aethiopiens) oder Hatzege (größter Fürſt). Er regierte in Civil- und 
Kirchenſachen ganz unumſchraͤnkt. Die Thronfolge war in männlicher Linie, aber nicht 
immer nach dem echte der Erfigeburt, erblih. Um Meutereien gu verhindern, wurben 
die Prinzen ſtets wie Staatögefangene behandelt. Die Provinzen wurden durdy Statt» 
balter regiert, die ihre Stellen kaufen mußten. Schon viefer Ießtere Umſtand zeigt, 
wie mangelhaft die Staatdeinrichtungen waren. Hierzu Famen noch im 16. Jahrh. die 
oben erwähnten Einfälle der Gallas in das Land, auf welche fpäter häufige Bürger- 
friege folgten; beſonders feit der letzten Hälfte des vor. Jahrh. herrfchte die fchrecklichfte 
Anarchie im Lande, überall machte ſich das Recht des Stärkern geltend, Städte und 
Dörfer wurden niedergebrannt, audgeplündert und die Einwohner fortgefchleppt, um 
ale Sclaven verkauft zu werben. Unter ſolchen Umftänden fand der in Gondar 
reſidirende (denn dieſe Stadt war längft ald Haupt- und Reſidenzſtadt Abyſſiniens an 
die Stelle Axums getreten) Negus ſchon feit Langer Zeit keinen Gehorſam mehr bei 
Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. . 14 








210 | —Abzug. Abzugsgeld. 


den Ras oder Statthaltern der einzelnen Provinzen, die ſich vielmehr zum Theil den 
Koͤnigstitel beilegten und nur aus Ehrfurcht vor dem Alten und Hergebrachten die 
äußere Würde des Negus fortbeſtehen ließen. Es waren bis auf Die neueſte Zeit 
3 Könige (von Tigre, Gondar und Schon), welche mit verfchiedenen anderen Ras und 
Häuptlingen das eigentliche Abyffinien beberrfchten und unter fih, ſowie mit den be 


nachbarten Gallad in beftändiger Fehde flanden. Jedes der genannten Königreiche zer 
fiel wiederum in Provinzen und Landfchaften. Doch in neuefler Zeit gelang es einem 


unternehmenden Ras im Königreiche Gondar nach und nach auf dem Eroberungdmege 
faft ganz Abyſſinien unter feine Botmäßigkfeit zu bringen, worauf er ſich, und zwar 
vor zwei Jahren, feierlich ald Negus oder König von Abpffinien unter dem Namen 


Theodor 1. frönen ließ. Nur der nördliche Theil Abyffiniens und der Sambarae 
genannte Küftenflrih am Rothen Meere find bis jept unabhängig von ihn geblieben. — — 


Nicht unerwähnt möge fehließlich noch bleiben, daß Dr. Schimper, ein Deuticher, 


der ſich, zu wiſſenſchaftlichen Zwecken, mehrere Jahre in Abyſſinien aufgehalten hatte, 


ein folche® Vertrauen im Lande fich zu erwerben und bei den abyifinifchen Herrſchern 


“zu ſolchem Anfehen zu gelangen wußte, daß der König von Tigre ihn zum Statthalter 
der Landichaft Semen ernannte, in welcher Stellung er namentlihd um die Erweiterung 


der europäifchen Handelsverhaͤltniſſe fich fehr verdient gemacht hat. 


Abzug, im Handel durch Uebereinfunft oder Platzgebrauch eingeführt. Der | 


Abnehmer oder Zahler nimmt Sconto (Zinsentfgädigung für eine vor dem Zülligkeits- 
Termin gemachte Zahlung), Tara (Entſchaͤdigung am Gewicht für die Verpadung), 
Rabatt (Vergütigung nach Procenten)’ ald Abzug in Anſpruch. Abzug oder Nabatt 
(33/, oder 25 pCt.) bewilligt u. A. der Verleger dem Sortimentö-Buchhänbler, eine 
andere Art Abzug (Agio) tritt oft ein, wenn Silber flatt Gold gezahlt wird. Gegen 
verfchiedene diefer Abzüge laͤßt fih vom geichäftlihen Standpunkt Vieles jagen; den 
deutfhen Buchhandel verdammt, troß feiner großen inneren Kraft,- das beftehende Syſtem, 
in welchem der Abzug eine große Rolle fpielt, zu ewiger Mattheit und Unficherheit. 
Abzug kommt auch im Verkehr zwifchen Arbeitgeber und Arbeiter. vor, und ifl 
dann der Betrag, um welchen von den Fabrikanten der Kohn der Arbeiter für fehler 
bafte Arbeit gekürzt wird. Da der Fabrikant in ſolchem Falle in eigner Sache Richter 





ift, fo wird leicht fein Eigennuß mwachgerufen, und eine Sicherung des Arbeiters gegen 


diefe und ähnliche Ausbeutungen wurde ald noͤthig erfannt. Die allzugroßen Abzüge, 
welche die Fabrikanten machten, follen auch eine der Veranlaffungen der Weber⸗Unruhen 


in Schleften in den vierziger Jahren gegeben haben. Nüberes über Died Verhaͤltniß dei 


Fabrifanten zum Arbeiter |. unter Fabrik, 
Abzugsgeld )) (Abfahrtsgeld — Nachfleuer — migrationdgebühr — Los—⸗ 


laffungdgeld — detractus personalis — gubella emigrationis) heißt eine beim Aus 


wandern in ein fremded Land zu zahlende Quote des Vermögens. - Entflanden aus 
den mittelalterlichen Feudal⸗ und Vogteiverbältnijfen war es urfprünglich bloß auf Eleinere 
Kreife befchrankt. Mit der Schubgewalt des Lehns⸗ oder Gutsherrn nämlich war im 
Mittelalter zugleich ein oft zugeftanvenes, oft bloß angemaßtes, fngenanntes Ober 
eigenthumsrecht über den Grundbeſitz und das fonftige Vermögen der Vafallen ober 
der Hörigen verbunden. Diefem fog. Obereigentbumsrechte durfte fi) der Schüßling 
nicht entziehen, e8 fei denn, daß er die Entlafjung aus dem Schugverbanve durch Hin 
gabe eined DVermögenstheild erfaufte. — Von den Fleineren Bezirken aud ward nun 
dieſer Brauch allgemein ausgedehnt quf ganze Länder, namentlich zur Ausübung von 
Retorſton ausgebeutet und jo allmälig zu einem landesherrlichen Rechte ent 
widelt. Die Reichsgeſetze felbit erfannten es als Herfommen an. cf. Reichsabſchied 
vom I. 1555 $ 24 u. Reichsabſchied vom I. 1594 $ 82 u. 84.9) — 

So natürlih fih aber jened Recht. ald Folge der mittelalterlichen Lehns⸗ und 
Vogteiverhältniffe entwickeln konnte, fo augenfcheinlich iſt der Conflict, in den es durch 
feine große Ausbehnung mit dem die Gultur bebingenden freien Verkehrsleben, mit det 


1) Die Literatur hierüber f. bei: Klüber, öffentliches Recht, F 229. v. Kampk, Lite⸗ 
Eee ben. ee pag. 127 fi. Zöpfl, Grundfäge des allgemeinen und deutfhen Statt: 
rechte, II. pag. . 

2) of. Cichhorn, deutſches Privatrecht, 5 77. 








Academie. .  Acapuleo. 211 


ngebemmten Entwidelung der Völker und Staaten und mit den Principien wahrer 
greiheit nothwendig geräth. Innerhalb des deutſchen Staatenbundes ift denn auch durch 
ven Artikel 18 der Bundesacte, resp. den Bundesbefhluß vom 23. Januar 1817 die 
Zreiheit von aller Nachfteuer, in fofern ein Vermögen in einen anderen beutfchen Bunbes- 
Raat übergeht, fanctionirt. Es heißt wörtlich in den Protocolfen der Bunbeöverfanm- 
lung, Bd. I. p. 254: „Iede Art von DBermögen, welches von einem Bundesſtaate 
in den anderen aus DVeranlafiung einer Auswanderung übergeht, ift unter der bundes⸗ 
rertragsmäßigen Abzugsfreiheit begriffen, und jede Abgabe, welche die Ausfuhr des 
Vermögend aud einem zum Bunde gehörigen Staate in den andern befehränft, .... 
nird für aufgehoben erklärt.” Und zwar erfolgte diefe Aufhebung ohne irgend welche 
Entſchädigung der bis dahin Berechtigten. Die zwifchen einzelnen beutfchen Bundes⸗ 
Raaten Derzeit bereits beftehenden Freizügigkeitöverträge follten fernerhin nur in fo weit 
gelten, als fle die Beflimmungen ded erwähnten Bundeöbefchluffes nicht -befchränften. — 
Es fann daher jetzt ein Abzugsgeld (namentlich auch im Falle der Netorfion) nur noch 
in Beziehung auf diejenigen nicht deutfchen Ränder Geltung finden, welche nicht durch 
befondere Freizügigkeits-Verträge mit deutfchen Staaten verbunden find. Das Bundes⸗ 
recht läßt bier den befonderen Landesgeſetzgebungen völlige Freiheit. Die preußifche Ver⸗ 
faffung hebt in Art. 11 alles Abzugsgeld auf. S. auch Auswanderung und Abſchoß. 
eademie, |. Alademie. 

Acadie ift der urfprüngliche Name desjenigen Theild der englifchen Beſitzungen 
in Rordamerifa, welcher jebt, und feit den Utrechter Frieden von 1713, Neufchottland, 
Nova Scotia, heißt, kraft deſſen Frankreich dieſes, von Franzoſen zuerft coloniftrte, 
Land an England abgetreten hat, und zwar „in Gemäßheit feiner alten Grenzen“, 
wie eb im Art. 12 des Friedensvertrages hieß. Immer in Hader und Streit, wie es 
der Nationals Eharafter der Engländer und Franzoſen mit fich bringt, indem Ruhe, 
Selbſtbewußtſein und Würde von dort der Anmaßung und dem liebermuth von bier 
N feindlich gegenüber ftehen, erhoben ſich alsbald Streitigkeiten über die Grenzen ber 
Acadie, indem man fragte: Wo find denn die alten Grenzen dieſes Landes? Es unter- 
liegt wohl Feinem Zweifel, daß man das beiderfeitd nicht mußte, und jede Partei die 
Grenze da fuchte, wo fle den meiften Vortheil gewährte. Die Branzofen behaupteten: 
die Aeadie fei nur dad Halbinfelland, das ſich vom DVorgebirge der Jungfrau Maria 
68 zum Vorgebirge Canceau erſtreckte, während die Engländer denjenigen Theil des 
deſtlandes von Amerika hineinzogen, der auf der Norbfeite des Fluſſes Kinibeki und 
einer Rinie liegt, welche von da nach dem Strome des heil. Raurentius gezogen wird. 
Diefe Streitfrage gab eine der Beranlaffungen zu dem fiebenfährigen Kriege, in welchen 
öriebrich I. von Preußen im eigenen wie in Englands Intereffe verwidelt wurde, und 
worin, mindeftens in Europa, die erfte Rolle zu fpielen ihm vorbehalten war. Der 
drieden zwifchen England und Srankreich Fam zu Paris am 10. Februar 1763 zu 
Stande, und darin verzichtete der König von Frankreich, Fraft des Art. 4, zu Gunften 
ded Königs von Großbritannien auf alle Anfprüche, auf die Acadie oder Nova Scotia 
und auf alle Zubehörungen, und gemährleiftete dem Könige von England das ganze 
tand mit feinen fämmtlichen Dependenzien; und da zugleich Canada und Cap Breton 
von Frankreich abgetreten wurben, fo fiel der Grenzftreit von felber fort. Man wirft 
England, das feit feiner Beflgergreifung des Landes flebentaufend Acadier aus ihrem 
Deſtzthum verfagte, eine nicht zu rechtfertigende Rückſichtsloſigkeit vor. 

Acapuleo. Einer ‘der älteften und wichtigſten Hafenplaͤtze Mexico's am ftillen 
Meer, welcher früher durch feine Wintermeffe, die vom Dechr. bis zum April dauerte, 
den Verkehr Chili's, Peru's und den Philippinen mit Europa vermittelte. Der Handel 
mit den, Philippinen war dabei früher Sache der fpanifchen Regierung, jet wird er von 
PBrivatperfonen betrieben. Die fpanifchen Gründer WS. gaben ihrer Niederlaffung den - 
Ramm Aquae pulcrae portus (Hafen der fchönen Waffer), davon Acapulco. Der Hafen 
iR vortrefflich, äußerft geräumig und ficher, und wird durch eine ſtarke Citadelle ver- 
theidigt; die Stabt felbft ift wohlgebaut, nachdem fie in den Tegten Zeiten zwei⸗ 
mal, 1799 und 1837, durch Erobeben theilweife zerftört worden iſt. Die Zahl der 
fen Einwohner Hat fehr abgenommen und wird von den Meiften zu body ange 
geben, Sie beträgt gegenwärtig 4000. In den legten Bürgerfriegen theilte U. das 


14*" 





212 | Accaparenr. 


Gefhi aller Handelsplätze Merico'8, er war nicht flarf genug, fich der flegreichen 
Parteien zu erwehren und wurde bald von diefen, bald von jenen Chefs gebranvichagt, 
woraud nicht nur beträchtliche Einbuße entitanden ift, fondern der Tranfttohandel, Die 
Hauptnahrungsquelle der Stadt, außerorbentlich gelitten bat. 

Accaparenr von dem franzöftfehen Wort accaparer abgeleitet, welches im Dic- 
tionaire der Afademie wie folgt definirt if: „Accaparer (accapariren) heißt eine be= 
trächtliche Quantität einer Waare feft oder auf Lieferung Faufen, um ben Preis derfel- 
ben zum Steigen zu bringen, indem man die Waare feltener, und fich felbft zum Bes 
herrfcher des Marktes und des Preiſes macht.“ Wer folches thut, if ein Accapareur. 
So der Genius der Sprache, wie er im Dictionaire der Akademie für Frankreich fo 
zu fagen feine Gohification gefunden hat, und in deutfcher Zunge giebt e8 eine, dem 
franzöſiſchen Wort Accapareur analoge Bezeichnung, wenn fie auch nicht fo genau daß 
Weſen der Sache ausdrückt, nämlich die Bezeichnung „Aufläufer“. Die moderne 
politifche Deconomie Hingegen hat diefe beiden Worte aus ihrer Nomenklatur fallen 
laſſen ) und den milberen Terminus Speculant an deren Stelle gefegt. Wir wollen 
unterfuchen, wie weit die polit. Deconomie mit ihrem DBerfahren bier im Reechte ifl. 
Zuvdrderft muß hervorgehoben werben, wie ein Auffaufen beträchtlicher Duantitäten 
einer Waare zum Behufe der Hochhaltung der Preife wohl denkbar iſt; auch Tann ein 
folches Verfahren biöweilen gelingen, und den Auffäufer für einige Zeit zum Beherrfcher 
des Marktes machen. Namentlich ift dies bei Waaren möglich, die überhaupt nicht 
in allzugroßen Mengen cirenliven, und zu einer gegebenen Zeit nicht beliebig vermehrt 
werben fönnen. So ift e8 3.8. in Hafenplägen vorgeflommen, daß große Kaufherren 
die vorhandene Quantität Colonialwaaren, oder eine einzelne Gattung derfelben auf- 
fauften und dann ihren Abnehmern, fo lange nicht frifche Schiffsladungen eingetroffen 
waren, die Preife Dictirten. Das große Publicum mußte in diefem Falle die Fünftliche 
Preiöfteigerung über ſich ergeben laſſen; denn wie bekanntlich ein Herabgehen der 
PBreife im Großhandel auf den SKleinhandel und feine Preidnotirungen fehr Tangjam 
einmwirft, fo treibt anderfeitö eine Steigerung der en gros Preife jene des Detailban- 
dels vafch, gleichzeitig und meiftend unverhältnigmäßig in die Höhe. In unferem Falle 
ift dies durch Die Operation jenes reichen Kaufheren bewirkt worden, und es ift nicht 
einzufehen, wie Leuten diefer Sorte der Name eines Speculanten beffer anftehen foll, 
als das freilich voller tönende Accapareur — haben fie ihr Profltchen einmal ins Meine 
gebracht, fo liegt ihnen doch felbft wenig daran, mit welchen Namen die audgebeutete Menge 
ihre Handlungdweife bezeichnet. Es giebt daher in gewiffen Zallen, die wir gern als 
eine Ausnahme von der Negel gelten laffen, ein Accapariren von Waaren und Aecca⸗ 
pareure, welche die Preife Fünftlih in die Höhe zu treiben im Stande find. Se voll 
kommener indeflen die Verkehrömittel find, je -fehleuniger demzufolge die Verforgung 
eined Plapes mit Waaren bewerfftelligt werben kann, defto fehwieriger und gefahrvoller 
wird das Gefchäft des Accapareurs; denn ift es ihm auch gelungen, den Preis einer 
Sache zu feinem Vortheil zu firiren, fo trägt alsbald der Telegraph die erhöhte Preis⸗ 
notirung nad allen Richtungen der Windrofe und Eiſenbahn wie Dampfichifffahrt 
wetteifern in der Beförderung der begehrten Waare. - Schwerli aber werben die 
Transportmittel je die Vollendung erlangen, welche erforderlich wäre, um das Geſchaͤft 
des Accapareurd zu einer rein theoretifchen Möglichkeit, zu einem unerreichbaren Ideal 
faufmännifcher Habfucht zu machen. (S. Kaffee in Hamburg.) 

Außer der oben erörterten Bedeutung des Wortes Accapareur hat daſſelbe noch 
eine andere im engeren Sinne, wenn man ed nämlich auf dad Gefchäft des Betreide= | 
wuchers fpeciell bezieht. Im Betreff diefes Punktes müflen die Nefultate, zu welchen 
Die neuere volföwirtbfchaftliche Forſchung über den Gegenftand gelangt, unummunden 
anerlannt werden. Es gab eine Zeit, wo man jede Theuerung der Lebendmittel den 
Machinationen der Getreivehändler, dem Zurückhalten der Getreivevorräthe durch felbe 
zuſchrieb; Diefer Irrthum hat der Erfenntniß weichen müflen, daß Getreidehändler, ver- 
möge der Natur ihres Gejchäfts und der Befchaffenheit der Waare, die fle verhandeln, 
1) Bergl. den Art. Accap. im Dictionn. de l’öcon. pol. v. Coquelin u. Garnier, Bd. 1., wo | 


ein Accapariven nicht in Bezug auf Waaren, fondern nur auf einzelne Probuctionsmittel und 
Arten (Bergbau, Meflagerien ıc.) zugegeben wird. | 





l 





Accapareur. | 213 


die Landplage der Thenerung und Noth nicht improvifieen können. Es gebt freilich 
das Beſtreben diefer Händler dahin mohlfeil zu faufen und theuer zu verkaufen, ſie 
werden daher nach einer reichlichen Ernte, wenn die Preiſe niedrig find, als Käufer auf⸗ 
treten und durch ihre Nachfrage ein weiteres Sinfen der Preije verhindern. Aus einer 


ſpaͤteren etwaigen Preiöfteigerung gedenken fie Nuten ziehen und Die aufgefpeicherten 


Borräthe mit Vortheil Iosfchlagen zu können. Aber wie fle damals durch ihr Kaufber 
gehren bei wohlfeilem Markte das weitere Sinken der Preiſe verhinderten, jo müſſen fie 
jegt durch ihr Berfaufanbot dem weiteren Kortjchreiten der Theuerung Einhalt thun, 
indem fle Borräthe auf den Markt bringen, Die, wenn nicht durch fle aufgefpart, viel« 
leicht in jenen Zeiten großer Wohlfeilheit vergeudet worden wären. Wer ſich indeſſen 
den Bang des Gefchäftes fo friedlich vorftellt, hat nicht ganz das Richtige getroffen. 
Nicht unmer find die Vermuthungen der Getreidehaͤndler begründet, und öfter müſſen 
fie, in der Erwartung einer Theuerung getäufcht, zu niedrigeren Preifen hergeben, was 
fie zu hohen eingekauft. Ja felbft wenn wirkliche Noth eintritt und dem entfprechende 
Preiöfteigerung, hängt die Größe des Gewinnes der Getreidehändler und mitunter ihre 
faufmännifche Eriftenz von dem glüdlihen Erhaſchen des Moments ab, in welchem fie 
realiſtren. Wenn ſie nämlich mit dem Losfchlagen ihrer Vorräthe jo [ange zögern, bis 
der Marktpreis durch Verkäufe ihrer Mitfpeculanten zu finfen begonnen bat, müſſen fie 
ihn durch ihr Anbot neuerdings drücken, und leicht Fann ihnen paſſiren, daß fie erft in 
einer Periode der Preisermäßigung zur Abwidelung ihres Gefchäftes gelangen. Daher 
bad Riskante bei der Sache, die vielen Banferotte, welche unter dieſer Klaffe von Kauf⸗ 
leuten vorzufommen pflegen. In England z.B. hat man die Bemerkung gemacht, daß 
gerade im Theuerungsjahre 1847, wo alle Welt über die großen Gewinnfte des Ge⸗ 
treidewuchers fchrie, die meiften Fallimente unter den Kornfpeculanten ausgebrochen find. 
Das große Riſiko beim Getreidehandel bat namentlih in einem Unftand feine Begrün- 
dung, der zugleich dad Wefenlofe der gemöhnlichen Vorftellungen vom Getreidemucher 
aufdeckt. Die Auffpeicherung von etreidevorrätben erfordert nämlich einen folchen 
Aufwand von Kapital und Gelvfräften, die Koften der Magazinirung, der Fürforge 
gegen dad Verderben der. Körner u. ſ. w., find fo beträchtlih, Daß felbft der reichte 
Speculant, ja auch eine Elique von Speculanten die Auffpeicherung unmöglich in dem 
Maße vornehmen Tann, welches dad Zuſtandebringen eined Monopolpreifes fichert. 
Immer werden fi Vorräthe finden, deren die Speculation nicht Herr werden fonnte, 
die vielleicht fhließlich gerade um die Zeit, als die Getreivehändler ihre Verkäufe begin- 
nen, auf den Markt geworfen werden und fo den Preis herabbrüden, den Jene fchon 
zu ihrem Vortheil zu firiren glaubten. Der Getreivehändler hängt fomit viel mehr von 
den natürlichen Conftellationen des Marktes ab, als dag diefe durch ihn beftimmt wür- 
den; feine Thaͤtigkeit für eine verberbliche und mucherifche anzufehen, bieße demgemäß 
die Natur feines Gefchäftes gänzlich verfennen. 

Dur das Vorhergehende fei keinesweges den Tranfhaften Ausmüchfen dad Wort 
geredet, wie fle die moderne Organiftrung des Getreidehandeld biöweilen zu Tage für- 
dert. Daß Spiel, die Wette um Getreivepreife, wird an Den großen Emporien der 
Handelswelt fo eifrig betrieben, wie nur immer ein Spiel betrieben werben Tann. 
Der Scheffel Getreide wechfelt oft ſechsmal feinen Eigner, ohne Daß einer der vielen 
Käufer die Waare auch nur gefehen, gefchweige denn thatfächlich übernommen hätte. 
Wer aber daraus auf fletige Preisfleigerung und eine fo herbeigeführte fünftliche Theue⸗ 


rung fließen möchte, überlebt ganz, daß das Interefle einer Kategorie der Spielenden 


auf Serabbrüden der Preife geht. Das Beftreben diefer (der Eontremine oder der 
Baiffterd) Hält dem Ausfchreiten der Andern (ber Liebhaberei oder Haufje) die Wange; 
den Ausſchlag giebt das wahre Bedürfniß des Marktes, indem ſchließlich ein effectiver 
Umfag flattfinden muß, und die Gefehe eines folchen werben durch das Verhaͤltniß 
zwifchen Nachfrage und Angebot, nicht durch die Willkür der Spielenden beftimmt. 
Daß übrigend die eben berührte, verwerfliche Seite des Getreidegeſchafts mit der Zeit 
an Ausdehnung verlieren wird, dafür bürgt uns die Erfahrung, daß Volkswirthſchaft, 
Handel und Induſtrie ſich nach beſtimmten Geſetzen entwickeln. 

Was ſtaatliche Anordnungen in Bezug auf den Getreidehandel betrifft, fo fühlen 
fih die Negierungen unferer Zeit nicht berufen, dies Gefchäft weiteren Beichränkungen, 


% ’ 





214 | Accept. | ; 


als fie durch die übliche Marktpolizei gegeben finb, zu unterwerfen. Preußen AB. 
bat ſchon durch Verordnung vom 20. November 1810 alle gegen Auf» und Wpäufer 
von Getreide gerichteten Beftimmungen aufgehoben. Aehnliche den @etreinehsmbel von 
läftigen Reftrictivgejegen befteiende Maßregeln find in den meiften civilifirten Staaten 
Europas zu verjchiedenen Zeiten ergangen. Die großen Schwankungen der Lebens: 
mittelpreife, wie ſie in früheren Tagen häufig vorgefommen, find feither immer 
feltener geworden, und muß man diefe erfreuliche Erfcheinung zum Theile auch der 
Wirkung der verbeflerten Transportmittel zujchreiben, jo läßt fich andererſeits nicht 
leugnen, DaB die firengfien Getreidewucher⸗Geſetze Der Vorzeit enorme Preisfteigerungen 
nicht verhindern fonnten. Zu einer Zeit, wo in England die läftigften Geſetze gegen 
den Kormbandel beftanden, hat es fich ereignet, daß die Weizenpreife zu verſchiedenen 
Perioden deſſelben Jahres um das Pünffache bifferirten. ) Und wenn man nad 
einer näheren gefchichtlichen IUuftration der DVerberblichkeit folder Mapregeln verlangt, 
fo können wir wohl mit vollem Recht auf die, Gefchichte des Alterthums verweiſen. 
Bekanntlich flanden im Altertbum unerbörte Schwankungen der Lebensmittelpreife und 
drüdende Iheuerungen in Blüthe, 2) trogdem der Staat durch Magazinirung des Ge⸗ 
treides ) und eine aͤußerſt firenge Gefeßgebung, *) die jeden Kornbandel als Wucher 
verpönte, belfend eingreifen wollte. Die Gefchichte weiß nur von Erfolgloſigkeit dieſer 
Mafregeln zu erzählen. Dieje und ähnliche, fpäter erfolgte Getreidewuchergeſetze find 
gewiß auch aus gejchichtlicher Nothmendigfeit hervorgegangen, aber derfelben in faljcher 
Richtung Rechnung tragend, bilden fle einen Beleg dafür, daß Volksbewußtſein wie 
Gefeßgeber irren können. Solche Irrtbüner laͤßt die oberfte Lenkung der Weltgefchichte 
bisweilen zu Tage treten, um die Gebrechlichkeit alles Menfchenwerkes und all unferes 
Strebens ind belle Licht zu fegen. 

Gegen eine Folgerung von Nuglofigfeit der Oetreidemuchergefege auf ein Gleiches 
bei Zinswuchergejegen müflen wir und im vorhinein verwahren. Es tft bier nicht der 
Ort, das Weſen der leßteren zu prüfen, daß aber in Bezug auf diefelben die Wiſſen⸗ 
ſchaft mit der geiftreichen und fcharfiinnigen Vertheidigung des Wuchers durch J. 
Bentbam nicht das legte Wort gefprochen, wird Jeder zugeben, ber an wiflenfchaft- 
lichen Bortfchritt glaubt. — Schließlich wären aus der reichhaltigen nationaleöfonomi- 
ſchen Riteratur über Getreide Accapareursd und Kornhandel befonderd hervor zu Heben: 
Galiani, letires sur le comm. des bles Lond. 1770; Turgot, lettres sur la 
libert$ du comm. des bles Paris 1770; Edm. Burke, thoughts and details on 
scareity Lond. 1300; und Roſcher über Kornh. und Theuerungspol. Stuttgart 1854. 

Hecept, Aeceptation ift bei DBerträgen aller Urt der übliche Ausdruck für die 
Annabme des den Anhalt des beabfichtigten Rechtsgeſchäfts vollftändig ausdrückenden 
Anerbietens (Offerte). Der Acceptant erklärt, daß er mit der Propofition des Offe⸗ 
venten einverftanden fei: damit ift der Vertrag gefchloflen (perfect geworden). Die 
unacceptirte Offerte if, felbft wenn fie bie Form eines Verſprechens hat, nicht bindend, 
anderjeit® ift auch die Acceptation bedeutungslos, wenn ſie erſt ertheilt wird, nach⸗ 
vom das Anerbieten bereitö zurüdgenommen war. Im Wechfelreiht dienen jene Aus⸗ 
Verde ald technifche Bezeichnungen für die in wechjelrechtlicher Form abgegebene @r- 
Adrang Des Bezogenen (Traffaten), den in dem Wechjelbriefe (Tratte) an ihn gerichteten 
Nubunasauftran ausführen, alfo die Wechſelſumme am Berfalltage zablen zu wollen. 
Bra Dell Wircielaccent muß auf den Wechfelbrief ſelbſt gefchrieben und vom Accep⸗ 












ale unbertihrieben werben, ed genügt indeſſen und gilt als unbejchränftes Accept, 
won ce war Namen auf die Vorberfeite Der Urkunde (gewöhnlich quer durch Den 
Kart >erklien) schreibt. Dagegen darf Traflat die Anmabme auf einen Theil ber 
J Bufihrinken. Gine bereits erfolgte Acceptation darf nicht wieber zurüd- 
= — — — — 

—en Liegen im ber franzoͤſiſchen Geſchich⸗ u 
FE Wiesmann pa Br hc. 18 Micher bie heitigen Variation 
u ki ab k Maecenhrrion amım. of. comm. Bo. WW. ap 

au ver Aiben. Bd. I. $ 15 be 
Haar N nr ar © 483, IV. uf. 

sh 22x ı iD de usufr. unk.ib. 18, 5 25 de ı 

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Acceptilation. Aecexeſſion. 215 


genommen werden. Wenn Trafiat Daher neceptirt und gleich darauf fein Accept nor 
Zurückgabe des Wechſels durchſtrichen hat, fo iſt er zur Wiederherſtellung beftelben 
verpflichtet. (Urt. 21 der Allg. deutichen Wechſelordnung.) Weigert -Trafiat die 
Annahme, fo wird Proteſt erhoben und der Wechfel dann zunächft bei den darin 
- eva benannten Nothadrefien zur Annahme präfentirt. Um den Regreß zu vermeiden, 
kann mit Zuftimmung des Wechfelgläubigerd auch jeder Dritte zu Ehren eined regreß⸗ 
pflihtigen Schuldners, alfo eines Indoſſanten, oder des Traffanten, die den 
rücklaͤufigen Wechfel einlöfen mußten, ald Acceptant des wegen verweigerter Annahme bed 
Traſſaten proteftirten Wechſels eintreten. (Ehrenacceptant.) S. Wechſel und Weqhſelrecht. 
Acceytilation if im römifchen Rechte Die Aufhebung eines Formalcontracts, 
welche in einer befonderen dem Abſchluſſe entfprechenden Form geſchah. Der münd⸗ 
lihe Sormalcontract (verborum obligatio), welcher noch im neueften römijchen Rechte 
unter dem Namen der Stipulation vorkommt, aber in dad moderne Nechtsleben nicht 
übergegangen ift, wurde durch eine einfache Frage und Antwort gejchloflen, indem der 
finftige Glaͤubiger den fünftigen Schuloner fragte, ob er ihm fe. und fo viel ver- 
ſpreche, was dieſer bejabte.e (Spondes? spondeo. Dabis? dabo. Promittis? pro- 
mitto.) Gin folder Bertrag wurde nun eben in ber Reife wieder gelöft, daß der 
biöherige Schuldner dem bisherigen Gläubiger. die von dieſem zu bejahende Frage 
vorlegte: ob er ſich für befriedigt erfläre. (Quod ego tibi proinisi habesne acceptum ? 
habeo.) Diefe Ucceptilation war freilich nur auf eine verborum obligatioe anwendbar, 
fonnte indeffen auch zur Röfung anderer Obligationen benugt werben, indem ein jebed 
beliebige Schuldverhaͤltniß Leicht noch nachträglich (durch f. g. Novation) in die Form 
einer Stipulation fich einkleiden ließ. Der Juriſt Aquilius Gallus .hatte fogar ein 
die yerfchiebenartigften Obligationen in eine einzige Stipulation (stipulatio Aquiliana) 
zufammenfafiendes Formular erfunden, um in der daran zu Tnüpfenden einfachen 
Areptilation ein Mittel zur Ertheilung einer Generalquittung über eine aus verſchiede⸗ 
nen Poften zufammengefegte Rechnung zu gewähren. Im äfteren Rechte begegnet noch 
eine andere Wcceptilation als Gegenflüd und mithin ald Löfung der litterarum 
obligatio, welche in der Kaiferzeit außer Gebrauch Fam. Zur Zeit der freien Republik 
führte nämlich jeder römifche Hausvater genaue DVerzeichniffe über feine Forderungen 
und Schulden: Hausbücher, indices accepti et expensi, der Gläubiger fegte mit Ein- 
wiligung des Schuldners Die creditirte Summe unter die Rubrik der Ausgaben 
(pecuniam expensaım ferre, expensilatio) und tilgte den dadurch begründeten Formal⸗ 
Eontract wieberum, wenn er für denſelben Schuldner die gleihe Sunme fpäter in 
Einnahme ftellte (per aceeptum ferre, acceptilatio). | 
Aceeſſion ift die der römifchen Mechtöfprache entlehnte Bezeichnung für eine Sache, 
die mit einer andern fo verbunden ift, daß fie nicht als ſelbſtſtaͤndiges Mechtsobject 
gilt, fonderm zu jener andern in dem Verhaͤltniſſe einer bloßen Nebenfache zur Haupt- 
fache ſteht, und deren rechtliche Schickſale theilt. (Accessio cedit principali, sequitur 
rem prineipalem.) Zur Xccefilon eined Grundſtücks wird das darauf errichtete Ge⸗ 
bäude, die darauf gefebte Pflanze, ſobald fie im Boden Wurzel gefchlagen bat, endlich 
das durch Waflerögemalt angemworfene Stüf Landes (avulsum), fobald ed mit dem. 
Boden verwachſen iſt. Grundftüde, die von einem öffentlichen Fluſſe durchfchnitten 
oder begrenzt werden, in welchem legteren alle die mit den beiden Ufern parallel, 
laufende Mittellinie des Fluſſes die Grenze bildet, erhalten acceſſoriſche Grweiterungen 
ber Bodenflääche, wenn das bisherige Flußbett austrocknet (alveus derelictus), oder 
in demfelben eine fefte Infel entftebt (insula in Alumine nata), oder wenn das Ufer 
durch Verflachung des Waſſers oder allmähliche Anſchwemmung (alluvio) weiter vor- 
Bi Werben bewegliche Sachen zu einem Ganzen zufammengefügt, ohne Durch 
| E& Specification zu einer völlig neuen Sache verarbeitet oder umgeformt zu 





7.710 if in folder Verbindung diejenige ald die Hauptfache anzufehen, welche 
Ganze die meifte Bedeutung bat. Daher wird zunäcft auf den Zweck, den 
e erfüllen fol, aushülflich auf den Werth der einzelnen Stüde Rückſicht 
Die roͤmiſchen Nechtöquellen enthalten eine Reihe von Entfcheidungen 
Kr meifelbafter Bälle, durch welche jener allgemeine Grundſatz er- 

$ “id. So z. B. ift für ein Gemälde, welches nicht etwa 





214 Aecept. 
als ſie Durch die übliche Marktpolizei gegeben find, zu unterwerfen. Preußen K B. 
bat fchon durch Verordnung vom 20. November 1810 alle gegen Aufe und Vgäufer 
von Getreide gerichteten Beftimmungen aufgehoben. Aehnliche den Getreide I von | 
läftigen Üeftrictiogejegen befreiende Maßregeln find in den meiften civilifirten Staaten 
Europas zu verſchiedenen Zeiten ergangen. Die großen Schwankungen der Lebens- 
mittelpreife, wie fle in früheren Tagen bäufig vorgefommen, find feitber immer 
feltener geworden, und muß man diefe erfreuliche Erfcheinung zum Theile auh der 
Wirkung der verbeflerten Transportmittel zufchreiben, fo laͤßt ich andererſeits nicht 
leugnen, daß die firengften Getreivemucher-Gefeße der Vorzeit enorme Preiöfteigerungen | 
nicht verhindern Eonnten. Zu einer Zeit, wo in England die Täftigften Gefeße gegen | 
den Kornhandel beftanden, hat es fich ereignet, daß die Weizenpreife zu verfchiedenen | 
Perioden deflelben Jahres um das Fünffache Differirten. ) Und wenn man nad 
einer näheren gefchichtlichen Illuftration der DVerderblichkeit folder Maßregeln verlangt, 
fo können wir wohl mit vollem Recht auf Die, Gefchichte des Alterthums verweiſen. 
Bekanntlich ftanden im Altertbum unerhörte Schwankungen der Lebendmittelpreife und 
drüdende Theuerungen in-Blüthe, 2) troßdem der Staat dur Magazinirung des Ge⸗ 
treides ) und eine äußerft firenge Gefebgebung, ) die jeden Kornhandel ald Wucher 
verpönte, belfend eingreifen wollte. Die Gefchichte weiß nur von Erfolglofigkeit diefer 
Maßregeln zu erzählen. Dieſe und ähnliche, fpäter erfolgte Getreidewuchergejege find 
gewiß auch aus gefchichtlicher Nothwendigkeit hervorgegangen, aber derfelben in falfcher 
Richtung Rechnung tragend, bilden fie einen Beleg dafür, Daß Volksbewußtſein wie 
Gefeßgeber irren Eönnen. Solche Irrthümer läßt die oberfte Lenkung der Weltgefchichte 
bisweilen zu Tage treten, um die Gebrechlichfeit alles Menſchenwerkes und all unferes 
Strebend ins helle Licht zu feßen. 

Gegen eine Folgerung von Nuplofigfeit der Getreivemuchergefege auf ein Gleiches 
bei Zinsmwuchergejegen müfjen wir und im vorbinein verwahren. Es iſt bier nicht der 
Ort, das Weſen der legteren zu prüfen, daß aber in Bezug auf diefelben die Wiflen- 
ſchaft mit der geiftreihen und ſcharfſinnigen Vertheivigung des Wuchers burd 9. 
Bentham nicht das letzte Wort gefprochen, wird Jeder zugeben, der an wiflenfchaft- 
lichen FBortfchritt glaubt. — Schlieflih wären aus der reichhaltigen nationalsölonomi- 
fen Literatur über Getreive-Accapareurd und Kornhandel befonderd hervor zu heben: 
Galiani, lettres sur le comm. des bles Lond. 1770; Turgot, lettrks sur la 
libert6 du comm. des bles Paris 1770; Edm. Burke, thoughts and details on 
vareits Lond. 1800; und Rofcher über Kornh. und Theuerungdpol. Stuttgart 1854. 

ecept, Acceptation ift bei Verträgen aller Art der übliche Ausdruck für bie 
Annahme des den Inhalt des beabfichtigten Rechtsgeſchaͤfts vollftändig ausdrückenden 
Anerbietens (Offerte). Der Acceptant erklärt, daß er mit der Propoſttion des Offe- 
tenten einverftanden fei: damit ift der Vertrag gefchloffen (perfect geworben). Die 
unacceptirte Offerte ift, felbft wenn fle die Form eines Verfprechens bat, nicht bindend, 
anderfeitö ift auch die Acceptation bedeutungslos, wenn ſie erft ertheilt wird, nach» 
dem das Anerbieten bereitö zurüdgenommen war. Im Wechfelreiht dienen jene Aus⸗ 
drücke als technifche Bezeichnungen für die in wechfelrechtlicher Form abgegebene Er⸗ 
HMärung des Bezogenen (Traffaten), den in dem Wechfelbriefe (Traste) an ihn gerichteten 
Zahlungsauftrag ausführen, alfo die Wechſelſumme am Berfalltage zahlen zu wollen. 
Ein folches Wechfelaccept muß auf den Wechfelbrief jelbft gefchrieben und vom Accep⸗ 
tanten unterfchrieben werden, ed genügt indefien und gilt als unbefchränktes Accept, 
wenn er nur feinen Namen auf die Vorberfeite der Urkunde (gewöhnlich quer durch Den 
Tert derfelben) fchreibt.. Dagegen darf Traffat die Annahme auf einen Theil der 
‚Wechfelfumme befchränten. Wine bereitö erfolgte Aecceptation darf nicht wieder zurüd- 


) Nehnlihe Erfahrungen Liegen in der franzöfifhen Geſchichte vor. Bel. Blanqui hist. 
de l'&conomie pol. ®b. I. c. 18. Ueber die heitigen Variationen der englifchen Getreivepreife 
im 13. Sa f. Macpherson ann. of. comm. Do. IV. app. 4. 

2,28 Böckh Siagthaueh der eigen. Bd. J. 8 15 ber 1. Ausg. und ua. D. Dann 
Riebuns am. ie, | d. ©. 483. IV. 
7693 D. Br usufr. und A C. 18. $ 25 de muner. 

R L v * de extraord. erim. vgl. auch L. 37 ig: de poenis und L. 1’Dig. de Lege 

Julian de annona, wo von ſtrafrechtlicher Verfolgung des Kornwuchers bie Rebe. 














Acceptilation. Acceſſion. | 215 


genommen werden. Wenn Trafiat Daher acceptirt und gleich darauf fein Accept vor 
Zurädgabe des Wechſels durchſtrichen hat, fo tft er zur Wiederherftellung deflelben 
verpflichtet. (Urt. 21 der Allg. deutichen Wechfelorpnung.) Weigert Trafſat vie 
Annahme, fo wird Proteft erhoben und der Wechfel dann zunäcft bei den darin 
etwa benannten Nothadrefien zur Annahme präfentirt. Um den Regreß zu vermeiden, 
kann mit Zuftimmung des Wechfelgläubigerd auch jeder Dritte zu Ehren eines regreß- 
pflicgtigen Schuldners, alfo eines Indoffanten, oder des Traffanten, die den 
rudläufigen Wechfel einlöfen mußten, ald Acceptant des wegen verweigerter Annahme des 
Traffaten proteftirten Wechfels eintreten. (Chrenacceptant.) S. Wechſel und Weqſelrecht. 

Hceeytilation ift im. römifchen Rechte die Aufhebung eined Kormalcontracts, 
welche in einer befonderen dem Abfchluffe entfprechenden Form gefhahb. Der münd- | 
liche Bormalcontract (verborum obligatio), welcher noch im neueften römijchen Rechte 
unter dem Namen der Stipulation vorfommt, aber in dad moderne Nechtäleben nicht 
übergegangen if, wurde durch eine einfache Stage und Antwort gefchloflen, indem der 
künftige Gldubiger den künftigen Schulnner fragte, ob er ihm ſo und fo viel ver- 
fpreche, was biefer befabte.e (Spondes? spondeo. Dabis? dabo. Promittis? pro- 
mitto.) @in ſolcher Vertrag wurde nun eben in der Weife wieder gelöft, daß ber 
bisherige Schuldner dem bisherigen Gläubiger die von diefem zu bejahende Frage 
vorlegte: ob er jich für befriedigt erfläre. (Quod ego tihi promisi habesne acceptum ? 
habeo.) Diefe Ucceptilation war freilih nur auf eine verborum obligatie anmenbbar, 
konnte indefien auch zur Löſung anderer Obligationen benugt werden, indem ein jede 
beliebige Schuldverhaͤltniß Leicht noch nachträglich (durch f. g. Novation) in die Form 
einer Stipulation fich einkleiden ließ. Der Juriſt Aquilius Gallus .hatte fogar ein 
die verfchiedenartigften Obligationen in eine einzige Stipulation (stipulalio Aquiliana) 
zufammenfafiended Formular erfunden, um in der daran zu Tmüpfenden einfachen 
Acceptilation ein Mittel zur Ertheilung einer Generalquittung über eine aus verſchiede⸗ 
nen Poften zufammengefegte Rechnung zu gewähren. Im älteren Rechte begegnet noch 
eine andere Wcceptilation ald Gegenftüd und mithin ald Löfung der litterarum 
obligatio, welche in der Kaiferzeit außer Gebrauch Fam. Zur Zeit der freien Republik 
führte nämlich jeder römifche Hausvater genaue Verzeichniſſe über feine Forderungen 
und Schulden: Hausbücher, indices accepti et expensi, der Gläubiger fegte mit Ein- 
willigung des Schuldners die creditirte Summe unter Die Rubrik der Ausgaben 
(peeuniam expensam ferre, expensilatio) und tilgte den dadurch begründeten Formal⸗ 
Eontract wiederum, wenn er für denfelben Schulpner die gleiche Summe fpäter in 
Einnahme flellte (per acceptum ferre, acceptilatio). | 

Acceſſion ift Die der römifchen Mechtöfprache entlehnte Bezeichnung für eine Sache, 
die mit einer andern fo verbunden ift, daß fle nicht als felbftfländiges Rechtsobject 
gilt, fondern zu jener andern in dem Verhaͤltniſſe einer bloßen Nebenfache zur Haupts 
fache fteht,. und deren rechtliche Schickſale teilt. (Accessio cedit principali, sequitur 
rem principalem.) Zur Acceſſton eines Grundſtücks wird das Darauf errichtete Ge» 
baͤude, die darauf gefepte Pflanze, jobald fie im Boden Wurzel gefchlagen bat, endlich 
das durch Waflerögewalt angeworfene Stück Landes (avulsum), fobald es mit dem 
Boden verwachſen iſt. Grundftüde, die von einem öffentlichen Fluſſe durchſchnitten 
oder begrenzt werben, in welchem lebteren alle die mit den beiden Ufern parallel, 
laufende Mittellinie ded Fluſſes die Grenze bildet, erhalten accefiorifche Grweiterungen 
ber Bodenfläche, wenn das bisherige Flußbett austrocknet (alveus derelictus), oder 
in bemfelben eine fefte Inſel entſteht (insula in flumine nata), oder wenn das Ufer 
durch Verflachung des Waflerd oder allmähliche Anſchwemmung (alluvio) weiter vor⸗ 
rat. Werden bewegliche Sachen zu einem Ganzen zufammengefügt, ohne durch 
fogenannte Specifcation zu einer völlig neuen Sache verarbeitet oder umgeformt zu 
werden, fo ift in folcher Verbindung diejenige ald die Hauptfache anzufehen, welche 
für das Ganze nie meifte Bedeutung bat. Daher wird zunächft auf den Zweck, den 
das Ganze erfüllen foll, aushülflih auf den Werth der einzelnen Stücke Nüdficht 
genomnien. Die roͤmiſchen Mechtöquellen enthalten eine Reihe von Entſcheidungen 
einzelner, bejonders zweifelhafter Bälle, durch welche jener allgemeine Grundſatz er- 
läutert und näher beflimmt wird. So 3. B. ift für ein Gemälde, welches nicht etwa 





‘ 


216 Aeceſſionsvertrag. Accibentien. 


bloß zur Verzierung des Grundes dient, die Tafel oder Leinwand Nebenſache, da⸗ 
gegen ſoll umgekehrt bei einer Schrift das Papier die Hauptſache ſein. In Folge 


der Acceſſion geht das Eigenthum an der Nebenſache auf den Eigenthümer der Haupt⸗ 


ſache über, wenn die Verbindung eine organiſche iſt, oder ohne: Verletzung der 
Subſtanz nicht gelöft werden Tann; fonft, kann der Eigenthümer der Nebenfache erft 
auf Trennung dringen (actio ad exhibendum) und fodann die dadurch wieder felbfl- 
ftändig gewordene Sache vindiciren. Im weiteren Sinne des Wortes. rechnet man zu 
den Acceſſtonen auch die Früchte, obmohl diefelben, fo lange fie mit der hervorbrin- 
genden Sache organifch zufammenhangen, zu deren integrivenden Theilen gehören und 
nach der Abjonderung für fich beftehende Rechtsobjecte find; ferner Die Pertinenzen 
(Zubehör, Hülfsfachen), welche ald Theile der Hautfache, der jte beigegeben find, jo 


lange behandelt werden, biß fie eine anderweite Beftimmung erhalten, jo daß bie dahin 


jede rechtliche Verfügung über die Hauptfache ftillfchweigend ſich anf fle erſtreckt. 

Nach römischen und gemeinem wie auch nach preußifchen: Recht gehört die Ac⸗ 
ceſſion zu den unmittelbaren Ermwerbsarten des Eigenthums. Alle Arten der Ackeſſton 
laſſen ſich unter drei Geſichtspunkte bringen, je nachdem unbewegliche Sachen mit unbe: 
weglichen verbunden werben (alluvio, avulsio etc.) oder. bewegliche mit unbeweglichen 
(Säen, Bauen, Pflanzen), oder endlich bewegliche mit beweglichen (confusio, com- 
mixtio, specifhicatio und adjunctio.) Das Nömifche Recht hat für jede linterart be 
fondere Grundſätze. Das Preußifche Necht gebt in ihrer Behandlung mehr generalis 
firend zu Werke und legt ein entſcheidendes Gewicht auf die bona fides. 

ccejfionsvertrag heißt im DVölkerrechte der Anfchluß eines Staates an ein ımter 

anderen Staaten fchon beſtehendes Vertragsverhältniß z. B. einen Friedensſchluß, ein 
Buͤndniß oder einen Zollverein. Wirb der beitretende Staat unter Die Zahl der. Haupt- 
eontrahenten aufgenommen, fo nimmt er vexhaͤltnißmaͤßig an allen burch den Bertrag 
begründeten Nechten und Pflichten Theil; der Beitritt Tann aber auch bloß die Ge⸗ 
nehmhaltung des Vertrages ohne Eintritt in denſelben bezweden, und nur zur Vor⸗ 
beugung möglicher Einwendungen und Anfechtungen dienen follen; endlich giebt «8 
aud) einen rein ceremoniellen Beitritt, durch welchen nur dad Beſtehen des Vertrages 
anerkannt wird. 

Accidentien find zufällige Nebeneinkünfte, weiche dem Inhaber eines Amtes für 


gewiſſe Amtshandlungen zufließen. Die Einküunfte einer beſtimmten, ſicheren, immer 


wiederkehrenden Amtspflege beruhen auf Land⸗Dotationen, auf Natural⸗Lieferungen oder 
auf feſtem Geldgehalte. Dieſes mehr feſtſtehende Gehalt wird als ein Entgelt für bie 
Dienfte angefehen, welche der Träger des Amtes dem gefammten Kreife der auf ihn 
Angewiefenen leiftet. Uber auch Das Einzelne in feiner. Befonderheit bedarf zumeilen 
für nicht immer regelmäßig eintretende Bälle des amtlichen Dienſtes. Da liegt es 
dann dem Einzelnen nahe theild nach feftem Nechte, theild nach gemohnheitägemäßem 
Gebrauche dem Träger des Amtes für feine befondere Mühe einen befonderen Lohn zu 
gewähren. Und ihren wahren Charakter, als ein Zeichen der Dankbarkeit, würden dieſe 
Aeriventien noch mehr erfeben laſſen, wenn fie nicht um des Mißbrauchs willen durch 
das Gefeh geregelt werden müßten. Empfängt fle der Staatd- und Communalbeamte, 
fo heißen fle Sporteln; werben fle dem Diener der Kirche entrichtet, fo erhalten fie 
auch wohl den Namen der Stolgebühren (‚„jura stolae“). ) Taufen, Leichenprebigten 
Zrauungen u. ſ. w. pflegen durch fie bezahlt zu werben. 

Es bat ſich unter Laien und Geiftlichen eine Abneigung gegen die Accidentien 
fundgegeben. Den Laien war es oft demüthigend, nur die gefegmäßige Höhe ber 
Heciventien zu entrichten und andrerfeitd auch drüdenn mehr zu geben. Daher wünjhte 
man die Neciventien befeitig. Den Geiftlichen war ed wiberwärtig, mit der Armuth 
oder dem Geize in Conflict über die Stolgebühren zu geratben. Nun follten zwar 
nicht die Stellen um den. Ertrag derfelben gefchmälert werden, aber man hätte bie Ein- 
treibung der Entjchädigung gerne dem Staate überlafien und fle von ihm in Empfang 
genommen. Dem Geiftlichen, welcher wirklich im guten Sinne mit feiner Gemeinde 
lebt, können die Accidentien kaum läftig werden. Gegen die wirBliche Armuth wird ef 

1) Stola ift die Binde, welche der Fatholifche Prieſter über die Schultern-und bie Bruſt In 
Kreuzjorm legt. Nur in diefer tann er ein Sacrament fpenden. | 














Acciſe. 217 


barmherzig und billig fein, gegen Boͤswilligkeiten ſchützt ihn das Geſetz und von den 
befleren Bliedern der Gemeinde wird er neben den Stolgebühren. oft noch den Dank 
für feine mohlgemeinte Bemühung empfangen. Keinem Könige mögen die Steuern 
feeudiger gezahlt werben, als vielen Geiftlihen die Accidentien berichtigt werden. Nur 
muß der Geiſtliche nicht zu flolz fein, auch das Geringe ded Aermeren wenigftend als 
eine halbe Breiwilligkeit anzuerkennen. Thut er ed umd wartet er ehrlich des Altars, 
fo Tann er getroft vom Altare leben; weder dem Laien noch ihm felber werben die 
Accidentien dann eine Laft fein. In den Tatholifchen Rändern, welche in neuefter, Zeit 
den Kampf der Stantögewalt mit dem Episcopate hatten, wie Baden, ift die Frage 
wegen der Accidentien ſehr fcharf erörtert worden. In ſolchen Ländern namlich gab 
es nur wenige Pfarrer, welde im Bollgenuß der Pfründe waren oder ein binläng«- 
liches ficheres Einkommen befagen. An ihrer Stelle wirkten meiftens Pfarrverweſer, 
melche bei fehr geringer Befoldung auf die Stolgebühren angewieſen waren. Es find 
dieſe Uebelftände durch die neueften Concordate von Defterreih und Württemberg in 
der Weife gehoben worden, daß definitive Verleihung der Pfarrftellen mit dem Voll⸗ 
genuß der Pfründe eintrat, während in Baden der Zuftand bed Interim zu einer 
Erhöhung des Gehaltes der Pfarrverweier von 1 fL 30 fr. auf 2 fl. 30 Er. täglich 
führte, fo daß vdiefelben von den Acciventien weniger abhängig wurden. In Frank⸗ 
reich hängt der. Geiftliche fehr von den Accidentien .ab, bei dem geringen feflen Gehalt 
von 600 Fr. muß er auf Stolgebühren fehen. 

In neuefter Zeit ift in der evangelifhen Kirche Deutfchlands die Brage, ob die 
Hecidentien nicht durch eine freiwillige Uebereinkunft der Gemeinden abzuldfen feien, 
mehrfach und zwar oft im Geifte einer erften apoftolifchen Zeit bewegt worden. So hat 
die veformirte Gemeinde in Elberfeld u. a. D. die Accidentien ganz abgefchafft und flatt 
ihrer den Pfarrern jährlich eine beftimmte Summe audgefegt, deren Erhöhung im Lauf 
der Zeit voraudzufehen if. (Die Gaben freiwilliger Liebe feitend der reicheren Ges 
meindemitglieder an den Pfarrer haben darum nicht aufgehört.) Aehnliches wird aus 
Iutherifchen Gemeinden berichtet. Siehe übrigend auch die Artikel Stolgebühren und 


Acciſe. Ueber die Ableitung des Wortes Accife herrſchen verfchiedene Anfichten. 

Die meiften leiten es von accidere ab; denn es follte damit ein Abfchnitt, accisa sc. 

pars ded Werthed einer Waare bezeichnet werden. Andere wollen es auf assise, 

Auflage, zurüdführen. Hüllmann hält e8 für eine Zufammenziehung von ad incisa 

und fucht den Grund der Bezeichnung in den Kerbftöden, deren man ſich im Mittelalter 

bei der Steuerzahlung bedient babe; Leo will es aus dem Arabifchen ableiten. 

Welches aber auch immerhin die Etymologie des Wortes jein möge, fo bezeich- 

‚nete man doch mit demfelben von jeher die Verbrauh&- und Verzehrungs— 
feuer. Nur ausnahmöweife werden auch Handelöfteuern und Steuern auf die Ueber- 
tragung von Immobilien oder Abgaben von verauctionirten Gegenftänden mit dem 

Namen Acciſe belegt. Vereinzelt Tommen derartige Abgaben fon in den Gtaaten 

des Alterthums vor. Als gewöhnlicher Beſteuerungsmodus aber wurden fie zuerft in 

den italienifhen Städten eingeführt. In Venedig finden wir fle ſchon in der Mitte 

des 12. Jahrhunderts. Don bier aud wurden fie dann nad) den übrigen Theilen des 

Abendlandes verpflanzt. Bon den größern Staaten machten zuaft Spanien, Frank⸗ 

reich und dann die Niederlande von dieſem Beſteuerungsmodus Gebrauch. Befonders 

die legtern zogen daraus reiche und vielbeneivete Einkünfte. In Deutfchland wurden 

die Acciſen erft nach dem dreißigjährigen Kriege gewöhnlich, obgleich derartige Steuern 

vereinzelt ſchon im 15. Jahrhundert vorlommen. Das Beifpiel der Niederlanve hat 

man bierin befonders nachgeahmt. Die Accife war es, welche die Mittel an die Hand 

gab, um die ſtehenden Heere und das zahlreiche Beamtenthum zu unterhalten. In» 

deffen gebrauchte man für dieſe Arten von Steuern, außer der Bezeichnung Acciſe, 

auch noch viele andere Itamen, wie Umgelt, Auffchlag, Auffag, Licent u.f.w. - 

Ehemals unterfchied man bei Abgaben, welche von den vom Auslande fommen- 

den Gegenfländen erhoben wurden, den Theil, welcher ald Zoll, und den Theil, welcher 

‚ als Berzehrungsfteuer oder Acciſe erhoben wurde. Noch bei der erften Einführung des 
in etwad .modifieirter Geftalt für den Bollvesein geltenden Tarifes in Preußen durch 








‚218 | Ä Acciſe. 


das Geſetz von 26. Mai 1818 wurde dieſer Unterſchied feſtgehalten. Gegenwärtig 
pflegt man unter Acciſe nur noch die auf die Verzehrung und den Verbrauch Yon 
Gegenfländen, melde vom Inlande erzeugf werben, gelegte Steuer zu verftehen. Nur 
in wenigen Staaten bat indeffen der Name noch eine offlcielle Bedeutung, wie 
z. 2. in England, in andern wurde er verbrängt, ohne daß man dafür immer aud 
wieder eine zufammenfaflende Bezeichnung gebraudht hätte. So werden namentlich in 
Preußen die Verzehrungs⸗ und BVerbrauchäfteuern, welche von inländifchen Erzeugniſſen 
erhoben werden, vereinzelt behandelt. Es hat dies feinen Grund in der Art und Weife, 
wie diefe Steuern erhoben werben, wovon weiter unten die Rede fein wird. 
Steuern, welche einen erklecklichen Ertrag bringen follen, müflen auf Die große 
Mafle des Volkes fallen; denn in jedem Staate ift Die Anzahl der wohlhabenden und 
reichen Leute verbältnigmäßig gering. Eine Steuer, weldye diefe allein tragen, wird 
daher in der Negel den Staaten nur ein geringes Einkommen abwerfen. Veſonders 
nun aber ift es nothwendig, daß indirecte Steuern auf die Verzehrung und den Ber- 
brauch viel einbringen und  folglih von den Vielen getragen werden, meil bei ihnen 
vie Erhebungskoften ſtets bebeutend find, und nur dadurch in ein angemeſſenes Ber 
haͤltniß zu dem Steuerertrage felbft gebracht werben koͤnnen, daß dieſer möglichft groß wird, 
die Koften der Erhebung und Ueberwachung jedoch nicht mit der Vermehrung des Steuer 
Ertrages wachen, Yondern in ihrem SHauptbetrage diejelben bleiben, Das Einkommen 
aus den Steuern mag groß oder Elein fein. Berzehrungsgegenftände inländifcher Pros 
buction bilden deswegen in der Negel gute SteuersObjecte, weil das, was in großer 
Muffe. gebraucht wird, nicht vom Auslande bezogen, fondern im Inlande hervorgebrtacht 
wird, und weil man ferner durch die Confumtiond-Tabellen genau weiß, wie viel ver 
zehrt worden, rejpective die Accife betragen wird. Bon den verjchiedenen Verzehrungs⸗ 
und Verbrauchs⸗Gegenſtaͤnden müſſen aber wieder Diejenigen ausgewählt werden, melde 
zu den gewöhnlichen Lebensbedürfniſſen gehören, weil eben nur fle in großen Waffen 
verbraucht werden. Einer rückſichtsloſen Anwendung dieſes Princips ſteht aber ein 
mefentliches Hinderniß im Wege. Steuern follen nämlich nicht bloß viel einbringen, 
fondern fie follen auch von den Staatögenofjen verhältnißgmäßig getragen wer- 
den. ‚Steuern auf die gemeinen Xebensbehärfniffe würden aber den Einzelnen durch⸗ 
aus nicht nah Maßgabe feiner Steuerfraft treffen, denn je niebriger die LXebenöftel- 
lungen find, einen um fo größeren Berhältnißtheil bilden Die gemeinen Lebensbeduͤrf⸗ 
niffe von dem gefammten Berbrauche, und einen um fo Eleinern, je höher die Lebens⸗ 
fellimgen find. . Ran bat nun zwar gefagt, daß Steuern auf die gemeinen ‚Lebens. 
bebürfniffe übergemälzt werden, und man kann nicht läugnen, daß Died unter Umſtän⸗ 
den in der That der Fall iſt. Jedoch findet dies im Unfange der Auflegung einer 
Steuer nicht ftatt, fondern erft fpäter, wenn fich die gefammten Arbeitd- und Erwerbs 
verhältniffe Der Steuer anbequemt haben, und auch Died nur dadurch, daß die Steuer 
zunächft einen Drud ausübt, welcher die Population zurücdbrängt. Selbft aber, wenn 
die Steuern übergewälzt werden Eönnen, fo iſt e8 doch mißlich, wenn fle von den 
geringen Volksklaſſen vorgefhoffen werden müflen. Wenn dennoch Steuern auf ge- 
wöhnliche Lebensbedürfniſſe fih nicht umgehen laſſen, fo ift e8 doch angemeſſen, 
folche Gegenftände der Befleuerung zu wählen, welche nicht zu ben nothwendigen Le 
bensbedürfniſſen gehören, oder doch dieſe nur in geringerem Maße der Befteuerimg zu 
unterwerfen. Aus dieſem Grunde ift man bemüht gewefen, unter den verfchienenen 
Verzehrungd-Gegenftänden Diejenigen als Objecte der Befteuerung auszuwählen, welde, 
ohne zu den nothwendigen Lebensbedürfniſſen zu gehören, dennoch in großen Maflen 
verbraucht werden. Dahin gehören namentlich die Getränfe, ferner Tabak, Zuder u. |. w. 
Außer einer größern Verhaltnißmaͤßigkeit der Steuern werden durch die Auswahl 
diefer Gegenflände auch noch andere wichtige Zwecke erreiht. Da nämlich fie, wenn⸗ 
gleich zu den gewohnten, doch nicht zu den nothwendigen Lebensbedürfnifſen gehören, 
fo ſteht es in der Macht der Steuerzahler, den Betrag, in welchem fie zu der Steuer 
beitragen wollen, felbft feſtzuſtellen. Dadurch wird dann wieder die Megierung in ben 
Stand gefeßt, das Maß des Drudes, welchen die Steuer ausübt, zu überfehen. Bei 
Begenfländen, welche zu den nothwendigen Lebenäbedürfniffen gehören, Tann die Ber. 
fleuerung nur im geringem Maße auf eine Veränderung ded Verbrauchs wirken. Die 


\ 








Hecke. es 


DBerzehrer müfien ihre Ausgaben für andere Lebensbedürfniſſe einfchränten, um fi mit 
den Nothwendigfeiten des Lebens zu verforgen. In wie meit dies aber der Ball ift, 
laͤßt fich nicht ausmitteln. Bei Gegenftänden dagegen, welche unter die gewählteren 
Lebensbedürfniſſe gerechnet werden, nimmt die Verzehrung ab, wenn die Preife fleigen, 
und umgefehrt zu, wenn fie fallen. Hier ift alfo eine Erhöhung des Preifes ber 
Gegenflände durch eine Beiteuerung bderfelben ſtets von einer entfprechenden Verminde⸗ 
rung ded Verbrauchs begleitet. Dadurch laßt fich denn auch der für die Staatskaſſen 
vortbeilbaftefte Sag der Steuer gewinnen. Da nämlich die Summe des Ertrags der 
Steuer ein Product aus zwei Factoren ift, nämlich 1) dem GSteuerfaße und 2) dem 
Verbra uchsquantum des verfteuerten Objectes, fo muß der Betrag, welchen die Steuer 
einbringt, durch die Größe diefer Factoren geregelt werden. Da nun aber dad Ber- 
brauchsquantum fich vermindert, wenn der Sab der Steuer erhöht wird, und umgekehrt 
ſich vermehrt, wenn der Steuerfag heruntergeht — voraußgefeßt, daß nicht in der An 
legung der Steuer ein Neiz für die Production liege, dieſelbe gewiflermaßen für ſich 
und die Verbraucher abzumenden, — fo iſt der Saß derjenigen Steuer der vorzüglichere, 
welcher mit dem ihm entfprechenden Verbrauchsquantum das größte Product giebt. 
Es ſei 3. 3. bei einem GSteuerfäge von 5 Thlrn. der Verbrauch von Zuder in einem 
Zande 2,000,000 Etr., bei einem Sape von 4 Thlen. 3,000,000 Etr., bei einem 
Sage von 3 Thlen. 5,000,000 CEtr., bei einem Satze von 2 Thlen. 6,000,000 Ctr., 
fo wird der Sag von 3 Thlrn. der für die Staatökaffen vorzüglichere fein. In den 
meiften Fällen wächft bei Gegenftänden des .gewählteren Lebensgenuſſes die Verzehrung 
in einem etwas flärfern Verhaͤltniſſe, als demjenigen, nach welchem fi der Preis 
mindert. Ein niedriger Steuerfaß ift deswegen in der Regel vortbeilbafter, als ein 
hoher; es müßte denn fein, daß durch Steuer die Einfchränftung der Verzehrung beab- 
figtigt würde. (Die geiftreihe Conception moderner Finanzmänner, die Steuern zum 
Bwede der Verminderung der inlänbifchen Production — Zuderkeuer — zu erböben, 
laſſen wir bier billig außer Anſatz.) 

So lange Fabrication und Kandel ausſchließlich ftäptifche Gewerbe waren, und 
außer den für den Aderbau nothwendigen Handwerken größere Gewerbdanlagen fi 
außerhalb verfelben nicht befanden, die Bewohner des flachen Landes aber das, maß 
fie an Producten des technifchen Gewerbfleißes und des Handels gebrauchten, in den 
Städten Fauften, fand die Befteuerung des Verbrauch vorzüglich in den Stäbten flatt. 
Die Ueberwachung und Erhebung der Steuer war dadurch wefentlich erleichtert. Seit⸗ 
dem aber der Unterſchied zwijchen Stadt und Land in Diefer Beziehung faft aufgehört 
bat, ift dies, follen dem Gewerbebetriebe nicht allzu viele Schranfen aufgelegt werben, 
eine ſehr ſchwierige Aufgabe. Man bat deswegen in den verfchiedenen Staaten zur 
Erhebung diefer Steuern fehr verfchiedene Wege eingefchlagen, indem man bald Den 
fichern Eingang und die leichte Controlirung der Steuer, bald die Rüdficht auf den 
Verkehr und die möglichfte Schonung beflelben vormwalten Tief. 

In vielen Bällen hat man geglaubt, den ſichern Eingang und die Eontrole wer 
Steuern nur durch die Monopoliftrung der Fabrikation und des Vertriebes der befleuer- 
ten Gegenflände in den Händen ded Staates möglich machen zu Fünnen. In früheren 
Zeiten, ald die technifche Behandlung der Steuerverhältniffe noch unvollfommen war; 
ſchlug man diefen Weg weit häufiger ein, als es heut zu Tage der Fall ift. Immerhin 
fonnte aber auch damals das Monopolſyſtem, mollte man nicht den Staat in dm 
Beflg des gefammten Gewerbes und Handelöbetriebes. fegen, nur auf vereinzelte Gegen- 
fände ausgedehnt werden. Gin umfaſſendes indirectes Steuerfpftem nöthigt von ſelbſt, 
andere Wege aufzufuchen. 

Der nächfle, auf den man verfiel, war das Licentſyſtem, kraft deſſen die 
Erlaubniß, gewiſſe Waaren zu verkaufen, durch die Entrichtung einer Abgabe am den 
Staat erworben wird. Diefed Syſtem ift zwar für den Verkehr wenig flörend, auch 
iR die Erhebung und Gontrole der Steuer leicht und einfah. Aber die Erhebungs⸗ 
Eoften werden, im VBerhältniß zu dem, was die Unterthanen bezahlen müflen, ſehr groß. 
Der GBewerbtreibende muß nämlich allervings die Steuern auf Diejenigen übertragen, 
welche Waaren bei ihm Laufen. Die Quantität von Waaren, welche die Gewerbtrei⸗ 
Genden verfaufen, ift aber in der Regel fehr ungleih. Wenn nun Desjenige, welcher 


- 


2 Ä Aceiſe. 


am wenigſten verkauft, außer ſeinem Gewinn noch die ganze Steuer, die er dem Staate 
entrichtet hat, wieder einzubringen im Stande iſt, ſo muß Derjenige, welcher mehr als 
diefes Quantum verkauft, noch einen den Mehrverfauf entfpredyenven Ueberfluß erzielen. 
Der Staat erhält daher nicht die ganze Steuer, fondern er muß fie mit dem Gewerb- 
treibenven theilen; dabei ift die Belaftung durdy Die Steuer eine jehr ungleiche, indem 
gerabe bei dem kleinen Gewerbtreibenden die Schwankungen im Verbrauch des Roh⸗ 
producted am größten find, auch der reiche Gewerbsmann die Robftoffe, wenn ſie niedrig 
im Preife ftehen, in Maſſe faufen kann, ein Bortheil, der dem Kleinen entgebt. 

Um dem Staate den Betrag der Steuern, welche die Untertbanen bezahlen, ganz 
und vollftändig in die Hände zu bringen, bat man die Steuern, flatt auf die verfaus 
fenden Gewerbtreibenden, auf die zu verfaufenden Waaren gelegt. Dadurch wird zwar 
allerdings gefichert, daß die Steuer von den Begenfländen, von denen fie wirklich ent- 
richtet wird, auch in die Hände des Staated gelangt. Allein fie wird leider nicht von 
allen fteuerpflichtigen Gegenftänden entrichtet, vielmehr wird durch dieſe Art der Ber 
fleuerung Gelegenheit gegeben, vie Steuerpflicht zu verheimlichen und dadurch dem 
Stagte Die Steuer zu entziehen, und der Reiz der Steuerbefraubation wird um fo 
größer fein, je höher die Steuer felbft if. Daher wird bei diefer Art der Auflegung 
der Steuer zur Sicherung derfelben eine fehr fcharfe Controle nothwendig und dadurch 
eine große Beläftigung des Verkehrs herbeigeführt, ohne daß man hoffen darf, die 
Steuerdefraudation fe ganz zu verhüten. Außerdem find bei dieſer Art der Befteuerung 
die Koften der Erhebung und Ueberwachung der Steuern fehr bedeutend, da die Anzahl 
yon Verkäufern von Waaren, welche zu den gewöhnlichen Lebenäbebürfnifien gehören, 
ſtets ſehr zahlreich fein wird. 

Um diefe Uebelſtaͤnde zu vermeiden und doch die Steuer auf die Gegenflände, 
welche verbraucht werden, felbft Der Steuer zu unterwerfen, hat man einen vierten Be 
ſteuerungsmodus eingeführt, welcher vor dem vorhergehenden allerdings mejentliche 
Vorzüge hat. Es wird nämlich die Steuer, flatt bei dem Verkäufer des Productes 
an den Confumenten oder auch bei diefem felbft, vielmehr fo nahe als möglich am 
Stode aufgelegt, alfo wo möglich bei den Producenten beſteuert. Da nämlich die 
Anzahl der Producenten im Verhaͤltniß zu den Confumenten in der Megel Klein ift, fo 
vermindert ſich Dadurch die Schwierigkeit der Controle wefentlih. Indem man ferner 
die Steuer nicht auf das fertige Product legt, fondern entweder auf Die zu verarbei- 
tenden Rohſtoffe, oder auf die Benugung der bei der Probuction zur Anwendung kom⸗ 
menden Mafchinen, fo wird dadurch der Producent veranlaßt, Durch Vervollkommnung 
der Production Die Steuer, wie man ſich ausdrückt, zu tüdten, d. h. feine verbefierte 
Berfahrungdweifen wirken dahin, daß die Waaren nicht um den Betrag der Steuer im 
Preife fleigen, fondern die Steuer entweder gar feine ober doch eine geringere Preis⸗ 
fleigerung bervorbringt, als der Steuerfag gutheißen würde. | 

Diefes ift der Modus, welcher in England — hier neben dem Licentſyſtem — 
und in Preußen angewendet wird. Es wirb daher beim Bier nicht das fertige Bier, 
. fondern das Braumalz, beim Branntwein die Benugung des Deftillationstolbens oder 
der Maifchgefäße, beim Zuder dad Quantum der zu verarbeitenden Rüben u. ſ. w. 
verfleuert. 

Ohne Nachtheile ift aber auch dieſes Syſtem nicht. Bei verfehiedener Qualität 
bes Rohmateriald wirkt die Steuer verſchieden; fie belaftet in der Regel die Kleinen 
flärfer als die Großen. Außerden erfordert dies Syflem, daß die Steuer von den 
PBroducenten vorgefchoffen werde und erfordert dadurch nicht nur in den Händen def 
felben ein größeres Betriebscapital, fonbern alle Käufer der Waare bis zum Conſu⸗ 
menten befinden _fich in derſelben Lage. Das auf die Hervorbringung und ben Der 
trieb des Productes verwendete Eapital muß alfo mwefentlich größer fein, als es bei 
dem dritten Beſteuerungsmodus der Fall ifl. 

Sodann erfordert die Gerechtigkeit, daß für diejenigen Waaren, welche ins Aus⸗ 
land geben, die Steuer zurüderftattet werde, weil ohne dieſe Boniflcation der Probucent 
im Auslande nicht beflehen oder nicht den ihm von feinem Product gebührenden Gewint 
erzielen würde. Durch biefe Rückerſtattung werben aber die Koften der Erhebung und 
Sicherung der Steuer erhöht und nicht felten auch Unterfchleife veranlaßt. Bei manchen 











Acelamation. | 221 


Lebensmitteln war es durchaus unausführbar die Accife fchon beim Producenten anzus 
legen, 3.8. beim Pleifch oder Wein. Bei erfterem findet eine Eoftfpielige Eontrole der 
Steuerbehörde bei den Mebgern flat. Beim Weinprobucenten, in der Regel arme 
Zandleute, Tann man das Product nicht befleuern, ſondern das gefchieht in den meiften 
Staaten, wenn der Wein den Beſitzer wechfelt, d. 5. in die Hand des Conſumenten 
oder Wirthes, der ihn ausfchenft (diefer wird natürlich hier als Conſument betrachtet), 
übergeht. Es Teuchtet ein, daß bei den rafchen und billigen Verkehrsmitteln hierin ſehr 
leicht Defraudationen vorkommen Tönnen. 

Es gebt aud der Dargelegten Natur- und Erhebungsart der Berbrauchsfleuern 
hervor, daß auf dieſem Wege nie die gefammten Steuern, fondern immer nur ein ver« 
bältnigmäßiger Theil derjelben aufgebracht werden kann. Vergl. im Uebrigen den 
Artikel Steuern, indireete. | 

Acelamation, beiftimmenvder Zuruf, findet in öffentlichen Verfammlungen wohl 
dann flatt, ‚wenn von vorm herein erfannt wird, daß Fein nennenswerther Wider- 
ſpruch gegen einen Vorſchlag, eine zu wählende Perfon sc. erhoben werben fann. 
Doch iſt fle Fein entfcheidendes „Beiftinmen”, fondern nur der ct der dffent« 
lichen Kundmachung und ber Gegen-Erklärung, daß die Kundmachung flattgefunden 
bat. So ift die Acclamation bei Bifchofswahlen in ver älteften Zeit und bei ben 
Königswahlen zu verftcehen, doch ift dabei keinesweges zu überfehen, daß die Wahl in 
jenen alten Zeiten, in denen chriftliches und germanifches Leben noch mit der erfien 
Reinheit ihrer fich entfaltenden Blüthe geſchmückt waren, der durchaus einfache und 
inftinctiv gefundene Ausdruck einer von vorn herein feftftehenden Wahrheit, die durch⸗ 
- aus willige Anerkennung einer Thatfache war. Es handelte fi bei dieſen Wahlen 
eben nicht um mehrere Möglichkeiten. Beſonders von der deutſchen Koͤnigswahl gilt 
dies. Phillipps fagt darüber fehr fchön (Br. I. feiner deutſchen Gefchichte): „Wenn 
man fi daher überhaupt vor dem Mifverftändniffe hüten muß, die germanijche 
Königswahl mit anderen Wahlen, 3. B. mit der Papfimahl, mit der Wahl 
des Borflandes irgend einer fläbtifchen Corporation in eine Parallele zu flellen, 
fo muß man fi um fo mehr vor einer Verwechſelung in Acht nehmen, wenn 
auch in den Geſchichts⸗ und Mechtöquellen ver Farolingifchen Zeit von Wahlen die 
Rede if. Bei jenen beifpieldweife angeführten andern Wahlen wird aus einer Mehr⸗ 
zahl von Individuen eines beransgewählt, während bei den germanifchen Konigswah⸗ 
Ien der Eine, der gewählt wird, durch das Erbrecht präfentirt wird. Offenbar nimmt 
Dadurch, die germanijche Königswahl ſchon an und für fich den Charakter einer Aner« 
fennung und Ausrufung an.” Dem entipricht, was Phillipps an eine andern Stelle 
von den Karolingern fagt, „fte feien die Könige von Gottes Gnaden und fie fühen 
ed zugleich auch als unmittelbare und nothwendige Folge dieſer Gnade an, daß 
Adel und Volk den von Gott nad) der Ordnung der Gefchfechtöfolge eingefegten König 
als ſolchen anerkennen und über fich zum Herrn audrufen.” (Il. 397). Karl der 
Kahle (Capit. Carol. Calvi. an. 869) fagt zum lotbringifchen Abel: „Da die Bifchöfe 
einftimmig aus freien Stücken ausgefprochen haben und mit Bezug auf beftimmte An- 
zeichen aus Eurer Einftimmigfeit bewiefen haben und Ihr durch Zuruf dem beige- 
ſtimmt habt (acclamastis): nämlich, daß ich, durch Gottes Ermählung bierber (auf 
den Thron) gelangt fei...” ꝛc. Darum nennen fich die Karolinger wohl au: „mise- 
ricordia Dei et electione populi Rex constitutus.“ (Durch die Barmberzigfeit Gottes 
und die Wahl des Volkes.) Der Napoleonismus, der in fo. Vielem ein verzerrtes 
Spiegelbild der Wahrheit if, nahm auch diefe Bezeichnung für ſich in Anſpruch, und 
der Neffe wie der Onkel fegreiben unter ihrem Namen: „Napoleon par la grace de 
dieu et la volonte nationale Eimpereur“ 2c. Unvergleichlich ſchoͤn ift die Schilderung 
des Ghroniften Witufind von Corvey von der Acclamation des Volkes im Dome zu 
Aachen, durch welche Otto dem Erften die deutfche Krone übertragen wird. Eine 
Acclamation fand 3. B. auch 1146 im Speierer Dome ftatt, ald Conrad II. vom 
heiligen Bernhard das Kreuz nahm. Das Volk Hatte bei Diefem Acte Die Stelle der Zeus 
gen, der Deffentlichkeit, und bezeugte durch Acclamation den Act. Es follte bei der 
Königsmahl dadurch auch bewiefen werden, daß dad ganze Volk, d. 5. alle Stämme 
befielben, die Wahl erfahren hätten. So wurde bei ber Wahl Conrad's II. bie 


n 


222 Aerkimetiintion. 


Ucclamation betrachtet. Als nach der Wahl Lothar's II, 1125, und Conrad's III., 
1137, die Wahl des deutichen Königs der Deffentlichfeit entzogen wurde, hörte 
die Acclamation von felbft auf. 

. Heelimatifation. Jede Pflanzenart, jede Thierart hat irgendwo auf der Erbe 
ihre beflimmte Heimath, ein Gebiet, welches fich wie ein politifches Neich auf der Land⸗ 
Earte durch fcharfe Linien umgrenzen läßt, innerhalb deren das Vorkommen diefer bes 
flimmten Art durch die Natur befchränkt if. Der Umfang diefer natürlichen Vorberei⸗ 
tungsbezirfe ift für Die verfchiedenen Arten fo ungleich wie die der verfchiedenen poli⸗ 
tifehen Gebiete; während vie eine Pflanzen- oder Thierart auf einen engbegrenzten Diftrict, 
auf eine einzelne Infel oder auf einen beftimmten Berg beichränft ift, dehnen andere, 
die fogenannten kosmopolitiſchen Arten, die Grenzen ihres Vorkommens über ganze 
Melttheile oder über Die ganze Ervoberfläche aus. Was die Gehalt und die Ausdeh⸗ 
nung diefer Berbreitungsbezivte beftimmt, ift vorzugsweife einerfeitd die eigene Natur 
ded betreffenden Organismus mit feinen eigenthümlichen Lebensbedingungen und 
andererfeit8 die. Natur des Gebietes, in foferu ed im Klima, Boden u. f. mw. jene 
Zebendbebingungen barbietet, fo daß wir in der Verbreitungsweife einer gewiflen Thier⸗ 
oder Pflanzenart den adäquaten Ausdruck der klimatiſchen Verhältniffe des betreffenden 
Theils der Erdoberflaͤche beſitzen. Die Geſetze diefer Verbreitung im Einzelnen lehrt 
die Geographie der Pflanzen und Thiere, und ed wird davon an den entſprechenden 
Stellen dieſes Lexicons näher die Rede fein. — Nun fehen wir aber gleichfam im 
Widerſpruch mit diefen Gefeßen, daß viele Pflanzen und Thiere Durch Abſicht ober 
Zufall aus ihrer natürlichen Heimath in eine kümſtliche Heimath verpflanzt werben und 
darin eingebürgert werden können. Wir fehen, wie die Getreidearten, Obftbäume und 
Sausthiere daB Menfchengefchlecht auf feinen Wanderungen von Aften aus nit nur 
über die alte Welt, ſondern bis in die fernften Zonen begleiten, zum Theil fogar fi 
der menschlichen Pflege entziehend im fremden Rande einheimifch werben, alfo daß es 
von vielen Diefer wandernden Pflanzen und Thiere noch nicht gelungen iſt, die urſprüng⸗ 
liche Heimath aufzufinden. Fern von ihrem aflatifehen Vaterlande ſchwaͤrmen in den 
Steppen. von Südamerika Schaaren verwilderter Stiere, Pferde und Mauleſel. Ueberall 
verfteht der Menſch Pflanzen und Thiere aus den entlegenften Klimaten um ſich zu 
fammeln und fei e8 zur Zierde oder zum Nußen, die natürlichen Schranfen beflegend, 
die Gefchöpfe des Erdkreiſes feinem Willen dienſtbar zu machen. Doch bie Natur felbft 
bietet ihm bierzu die Hand durch Die den organifchen Wefen innemohnende Fähigkeit, 
fih einem fremden Klima anzubequemen, d. 5. fi zu acclimatifiren. Die Wich⸗ 
tigkeit der Acclimatiſation als der Orundbedingung für alle Cultur der Pflanzen und 
Thiere und für die durch die Bebürfniffe des Menfchengefchlechts geforderte Erweiterung 
der bis jegt zu Gebote flehenden Naturfchähe macht eine nähere Beftimmung des We 
ſens jener Erfcheinung, namenlich ihrer Bedingungen und Wirfungen, nothwendig. 
Zunähft bemerken wir, daß die Fähigkeit, fich einent fremden Klima anzubequemen, 
den verfchiedenen Arten der Pflanzen und Thiere in fehr ungleichem Maße zufommt, 
und nur foldye Arten von einer größeren Dehnbarfeit und Biegfamkeit ihrer Lebens» 
bedingungen find von vornherein zu einer Eünftlichen Erweiterung ihrer Verbreitungsgren⸗ 
zen geeignet. Obenan fteht in diefer Hinficht der Menfch felbft, welcher auch Darin zum 
Heren der Schöpfung ausgerüftet if, daß er mehr ald irgend ein warmblütiges Thier die 
Faͤhigkeit hat, die höchften Wärme- und Kältegrade zu ertragen, und daß er feine Wohnung 
bis faft an die Grenzen alles organifchen Lebens überhaupt hinausrückt.) Wir dürfen 
tagen: der Menfch an fich befigt diefen hoben Grad von Ncclimatifationdfähigkeit; denn 
wir dürfen nicht nur im Einklang mit der Offenbarung, fondern auch (troß des Wider⸗ 





... ) Die höchſten bleibenden Menfhenwohnungen follen nady Humboldt die Viehmeiereien am 
Antifana in Quito fein, nämlich in 12,624 F. Meereshöhe, was aber in Mimatifcher Hinfiht kaum fo viel 
beventen will, als das Ueberwintern der menfhenfrenndlihen Mönche im Hofpiz des großen St. 
Bernhard, der hoͤchſten menſchlichen Ruheftätte in den Alpen, nämlid, in 7368 F. Höhe bei einer 
mittleren Jahrestemperatur von O,. Brad M., oder was etwa gleihbebeutend iſt: bie nörblichften 
von den Samojeben durchſtreiften Tundras unter 75 Grad n.Br. (In Bolivia findet man dagegen 
nah Bentland die hoͤchſten Poſthäuſer (von Pati und Aro) 13,510 %. Meeresh., die höchſten Doͤtfet 
(Tacora 1.) 13,840 F., die hoͤchſten Städte (mie Potoſi, ſuͤdoͤſtl. Votſt.) 12,863 5. Meeres. 


— 


\ 

Aeelimatijution. 228 
ſpruchs einzelner offenbarungsfeindlicher Naturforfcher) in Uebereinſtimmung mit ber 
naturmiffenfchaftlichen Anthropologie, an der Einheit des Renſchengeſchlechts und an 
ber Zurädführung aller der verfchienenen Racen auf eine einzige Menſchen⸗Species, 
welche urſpruͤnglich gleicher Abſtammung und Befchaffenheit fich erft im Laufe der Jahr⸗ 

taufende durch die verfchiedenen Elimatifchen Einflüſſe in die Rarenverjchiedenheiten 
difformacirt bat, fefthalten. Daß es aber felbft nicht erft dieſer jahrtaufenvelangen An» 
gewöhnung an die Klimate bedarf, jondern dag, worauf ed bier ankommt, der Menſch 
zw jeder Zeit jene hohe Elafticität für die Ertragung der größten Temperaturgegenfüße 
befigt, bemweifen und bie weit auögebehnten Reifen ver Bewohner der gemäßigten Zone, 
fo wie die Anflevelungen eines und deſſelben Välferftammes in den entlegenften Zonen. 
Por allen fcheint es der germanifche Stamm zu fein, weldhem dieſe Unabhängigfeit 
von den befchränfenden Einflüflen des Klimas im höchften Maße zufommt. 

Bor Allem ift e8 nun wichtig, den Begriff Ucclimatifation genauer zu beftim«- 
men, und zwar müflen wir die Frage: giebt es eine Neclimatifation in dem Sinne, 
daß eine Pflanzen» oder Thierart fich einem von dem heimathlichen Klima w eſ ent⸗ 
lich verſchiedenen Klima anpaſſen kann, daß insbeſondere eine gewiſſe Art in der 
neuen Heimath unter ſolchen klimatiſchen Bedingungen ſich gewöhnen kann zu leben, 
unter welchen dieſelbe in dem Vaterlande nicht beſtehen konnte? mit nein beantworten; 
eine Acclimatiſation in dieſem engeren Sinne giebt es nicht. Denn das hieße die 
Natur der Pflanze, des Thieres künſtlich zu einer anderen machen. Die Organismen 
beſizen zwar eine gewiſſe Dehnbarkeit und Gefügigkeit, vor Allem aber beſitzt jede Art 
ein gewiſſes Maaß von Eigenthümlichkeit, gewiffe weſentliche Eigenfchaften in dem 
Bau, wie auch in den Lebendbebingungen, und unter die leßteren gehört z. B. ein 
jeder Pflanzen« und Thierart eigenthümliches Temperatur Minimum, welched auf Teine 
Weife, wenn auch noch jo allmälig und vorfichtig, abgeändert werben kann. Dieſes 
allein, fo wie andererfeitö ein entſprechendes Marimum ver Temperatur genügen, ber 
künſtlichen Derbreitung und Cultur gewiſſer Pflanzen, und Thiere für immer unverrüd« 
bare Grenzen vorzufchreiben. Die Dattelpalme bedarf zum Heifen der Früchte wenig» 
fiens 180 C., und die nörbliche Grenze ihrer Cultur wird deshalb den 391%, 0 n. Br. 
nicht überfchreiten, Die Buche, weil fle keinen Winter erträgt, deffen mittlere Tempe⸗ 
ratur unter den Gefrierpunft liegt, Fann fit deshalb nicht nördlicher als bis zum 
580 n. Br. außbreiten. 

In biefen außerſten Temperaturen, welihe der Organismus zu feinem Leben be» 
darf, haben wir alfo eine Grenze für die Verbreitung, über welche hinaus Feine Accli⸗ 
matifation möglich ift, und wenn firenggenommen der Ausdruck Aeclimatifation eine 
allmähliche Anpaflung an ganz fremde Elimatifche Bedingungen in ſich fchließt, fo folgt, 
dag es in dieſem firengen Sinne gar Feine Acclimatijation giebt. Die meiften ber 
oben augedeuteten und häufig unter diejem Namen betrachteten Erfcheinungen erklären 
fi vielmehr Daraus, daß Dad wenn auch noch fo verjchiedene Klima der ‚neuen Hei⸗ 
math doch im Wefentlichen von Dem der eigentlichen Heimath nicht verfchieden ift, und 
daß die betreffende Pflanzenart jene Fähigkeit, unter Umftänden auch ungewöhnliche 
klimatiſche Einftüffe zu ertragen, bereitö von Hauſe aus beſaß, in fofern die letzteren 
nur innerhalb jener feſtſtehenden Grenzen liegen. 

Um aber zu begreifen, wie ed möglich if, daß manche Pflanzen und Thiere in 
Länder verpflanzt werben können, deren Klima total verfchieden ift von dem der Hei⸗ 
math (mie 5. B. die in Berfien einheimifche Gerfte auch in Lappland cultivirt wird), 
muß man bebenfen, daß es keineswegs immer die mittlere Iahrestemperatur iſt, welche 
die Flimatifchen Grenzen einer Pflanzenwelt beftimmt, fonbern daß je nad} der Lebens 
dauer der Pflanze bald die Kälte des Winters, bald die Wärme des Sommerd das 
Entjcheidende ift, und daß daher, weil die mittlere Jahreswärme in verfchiedenen Laͤn⸗ 
dern auf ungleiche Weife unter die verfchiedenen Jahreszeiten vertbeilt ift, eine Gegend 
mit warmem Sommer und wenn auch noch fo kaltem Winter für gewiſſe Pflanzen⸗ 
Arten, deren Gedeihen gerade nur von der Sommerwärme abhängig ift, eben jo gün- 
flig oder noch günftiger fein kann ala eine andere Gegend, deren durchſchnittliche 
Jahres-Temperatur mit jener übereinſtimmt, aber geringere Begenfähe zwifchen Sommer 
und Winter darbietet. Bür unfere einjährigen Culturpflanzen, z. B. die Getreidearten, 


224 Acctimetiiation. 


Kartoffel u. ſ. mw. bietet deshalb der norbifche Winter durchaus Fein Hinderniß ihrer 
Verbreitung dar, ihre Cultur fann fich fo weit erfireden, ald die Zeit des Jahres, 
innerhalb deren fle ihre Entwidelung vom Keimen bis zur Seife vollenden, ihnen eine 
beflimmte für jede Art eigenthümliche Summe von Wärmegraben liefert, gleichviel ob 
dies in einem längeren ober kürzeren Sommer gefchieht. Daher erklärt es fich, warum 
die Gultur der Getreivearten fo viel weiter nach Norden reicht, als Die der aus glei 
hem oder zum Theil noch nörbligerem Vaterland abſtammenden Obftbäume, welde 
fhon bei Drontheim (etwa 64% n. Br.) ihre nördliche Grenze erreichen, weil für die 
baumartigen Gemwächfe ſich weiter hinauf die tödtliche Wirkung des firengeren Winters 
geltend macht. Aus demſelben Grunde baut man das Getreide im höheren Norben 
nur als Sommergetreide, wo ed binnen wenigen Wochen reift, während baflelbe bei 
und vorzugöweife und in den heißen Gegenden nur als Wintergetreide gezogen wird. 
— Wie die Pflanzen fo müffen auch die Thiere im hohen Norden, z. B. die Voͤgel, 
ihr jährliches Lebendgefchäft vom Brüten bis zum Wegziehen in kürzerer Zeit vollen 
den, als dieſelben Arten in den gemäßigten Gegenden. Bür viele ausdauernde Ger 
wächfe genügt indeß auch nicht ein gemäßigter Winter, fondern es bedarf, fet es um 
das Blühen möglich zu machen, jei ed um die Frucht zu reifen, einer energifchen Som⸗ 
merwärme. Deshalb reift in dem fühlen und gleichmäßigen InfelsKlima von England 
feine Traube, während wir dort bie für viele mit Wein gefegneten Länder des Feſt⸗ 
landes unerhörte Erjcheinung überwinternder Lorbeerbäume finden. 

Haben wir im Borigen gewiffe unüberfleiglihe Schranken in den Elimatifchen 
Bedingungen, welche, in der tiefern Natur des Organidmud, und zwar für alle Gene 
rationen in gleicher Weife gegründet, fich der künftlichen Ausbreitung ver Pflanzen und 
Thiere entgegenftellen und eine Acclimatifation unmöglich machen, bezeichnet und manche 
auffallende DBerbreitungserfcheinungen doch nur als jcheinbare Ausnahmen erklärt, fo if 
nicht zu verfennen, daß andererfeitd Der Organismus allerdings eine gewiſſe Biegſam⸗ 
feit beflgt, um fich den oft bedeutenden, jedoch innerhalb jener Grenzen liegenden 
klimatiſchen Gegenfägen anzubequemen, d. h. ſich (im weiteren Sinne) zu acclimatifteen. 
Immer aber erfolgt dieſes Sichfügen in ein ungewohntes und minder günftiged Klima 
mit einigem Widerſtreben. So fehen wis Die Bäume wie die Menfchen auf Ge 
birgen ober im hohen Norden, da wo fle fich der Grenze ihres Beſtehens nähern, 
zwergartig werden. Insbeſondere aber ift es bei Pflanzen und Thieren die Kortpflan- 
zungskraft, welche bei der Uebertragung in ein fremdartiges, fei es älteres ober wär- 
meres Klima, alterirt wird. Weizen von Frankreich nach den Antillen gebracht, fehle 
in den Aehren nur wenige Körner an, und Gänje und Pfauen nad Golumbien ver 
ſandt, Iegten nur wenige Eier, von denen nur ein fehr Heiner Theil Iebensfähige Junge 
lieferte. Unſere Schafe werben in den marmen Gegenden Amerika's wenig befruchtel, 
und es ift dort ſchwer, Laͤmmer aufjuziehen. Selbft der Menfch, obgleich für alle Kli⸗ 
mate geſchickt, muß feine Ueberſiedlungen in ferne Erbftriche in ber Megel Anfangs 
wenigftend durch Krankheiten, die vorzugsweiſe das Reſpirations⸗ und Verdauungſyſtem 
berühren, büßen. 

Mannichfach find Die Mittel, deren ſich der Menſch wie die Natur bedient, bie 
Schwierigkeiten der Acclimatifation zu überwinden. Hierher gehört Die dem fremden 
Klima angepafte Wahl der Kleidung und Lebensweiſe, indbefondere der Nahrungs⸗ 
mittel, indem der Einwanderer in wärmeren Gegenden mehr vegetabilifche, in Fälterelt 
mehr thierifche Nahrung auswählt. Ueberhaupt ift für Menfchen und Thiere die An⸗ 
fledelung im fremden Klima ungleich leichter, als für die Pflanze, weil jene im Stande 
find, fich gegen Die nadhtheiligen Extreme der Temperatur auf mannichfache Weile zu 
fehügen oder derfelben zu entfliehen. (Man denke 3. B. an den Winterfchlaf manchet 
Thiere, an das Winterkleid, an die periodiſchen Wanderungen der Vögel und Fiſche), 
wogegen die dem Boden eingewurzelte und überhaupt mehr pafflv ſich verhaltende Pflanze 
den Einflüffen des Klimas in größerem Maße preißgegeben tft und daher für die Aecli⸗ 
matiſation viel mehr Schwierigkeit darbietet. Deshalb gelingt eine erfolgreiche Ver⸗ 
pflanzung der Gewachſe in ein ungewohntes Klima in der Regel nur bei fortgefehtet 
Firforge und Pflege von Seiten des Menfchen. Und obgleich es nicht an Beifpielen 
fehlt, wo Pflanzen, welche mehr durch Zufall als durch Abſicht in ein anderes Land 














Aeclimatiſation. 225 


verfchleppt wurden, fich dafeldft ohne alles Zuthun der Menfchen vollſtaͤndig einbür- 
gerten und verwilderten (man nennt Died Naturalifation), fo findet ein. folcher 
Austauſch faft nur zwijchen Ländern von ſehr äbnlihem Klima, 3. B. Europa und 
Nordamerika flatt; Dagegen kommt eine Ausbreitung von Gulturpflanzen aud Aeckern, 

Särten, indbefondere aus unferen botanifchen Gärten in der Umgebung außerordentlich 
felten vor. Jene Bürforge von Seiten der Menjchen, um das Fortkommen gewifler 
Pflanzen in einem an fich unzuträglichen Klima zu wrleichtern, ift eine Seite von dem, 
was wir „Pflanzencultur” nennen. So ift 3. B. eine der erheblichſten Wirkungen der 
Düngung, dem Boden theild Durch Die Verweſung der organifchen Subftanzen eine 
größere eigene Warme, theild Durch die dunkleren Karben des Bodens eine größere Er- 
mwärmungsfäbigkeit mitteld der Sonnenftrahlen mitzutbeilen. 

Der Hauptpunft, worauf es für dad Gedeihen von Pflanzen in einem relativ zu 
Falten Klima anfommt, ift die Umgehung der Extreme. Wie dies oben für die ein⸗ 
jährige Culturpflanze hervorgehoben worden ift, fo koͤnnen auch Holzgewaͤchſe in fofern 
ihre Natur dem fremden Klima anpaffen, als fie fich gewöhnen Tönnen, ihre Vegetation 
während des Sommers in fürzerer Zeit, ald fie in der Heimath pflegten, zu durchlau⸗ 
fen, jo daß bereits der Saamen gereift und das neuentftandene Holz in dem Grade 
erftarft fein Tann, daß die eintretende Winterfälte nichts mehr ſchaden kann. Auf dieſe 
Weiſe werden eigene Spielarten erzeugt, welche ſich durch Die Zeit der Blüthe und 
Bruchtreife für gewiſſe Gegenden mehr eignen, al8 die urfprüngliche Art, wie 3. 2. in 
Gegenden mit Fälterem Sommer und frübeintretender Kälte nur die frühreifenden Trau⸗ 
ben fortan gedeihen. 

Was aber eine Uebertragung von Pflanzen und Thieren in ein ungünftiges Klima 
ganz beſonders erleichtert und oft die Bedingung ift, unter welcher die Schwierigkeiten 
überwunden werden, ift die Zeit. ine Pflanzen- oder Thierart gedeiht in dem frem- 
den Klima leichter, wenn, diefelbe nicht unmittelbar aus der urfprünglicdhen Heimath, 
fondern aus einem Lande dorthin verfegt wird, wo ſie fich bereit an ein dem neuen 
annäherndes Klima gewöhnt hatten. Und vor Allem nimmt die Fähigkeit, fich der Un- 
gunft des fremden Klimas anzupaſſen, mit der Zahl der Generationen zu. Während, 
mie oben bemerkt, unfere Culturgewaͤchſe und Hausthiere 3. B. in den tropijchen Ge⸗ 
genden Anfangs nur mit Mühe erhalten werben Tonnten, inöbefondere wegen der ge« 
hemmten Fortpflanzung, fieht man ſchon bei der zweiten und dritten Generation die 
Fruchtbarkeit zunehmen und allmählich faft denjelben Gran wie bei und erreichen. 
Wohlverftanden, denn die üben bezeichneten Grenzen der Ncclimatifation werden auch 
durch die Zeit nicht überwunden, und felbft die fpäteften Generationen einer Pflanzen- 
oder Thierart werden im fremden Klima niemals Iernen z. B. einen Kältegrad zu er- 
tragen, welchem die Stamm-Eltern unterlegen fein würden. 

Wenn nun auf der einen Seite das durch die im Vorſtehenden angeführten Mittel, 
insbefondere durch die fucceffive Gewöhnung erreichbare Ziel der Acclimatifatidn in der 
Erreihung bed usfprünglichen Maßes einer Fräftigen und normalen Entwidelung beftebt, 
fo ſehen wir auf der andern Seite in gleihem Schritt mit diefer Acclimatifation eine 
Reihe von Veränderungen auftreten, welche nicht im Widerſpruch mit einer Fräftigen 
Entwidelung fliehen, wohl aber ‘dem neuen Klima eigenthümlich find; mit anderen 
Worten, die in einem fremden Lande eingeführten Arten erhalten mit der Zeit ein biefem 
Lande eigenthümliches Gepräge. Zunächft find dieſem Einfluffe die oberflächlichen Re— 
gionen ded Organismus, beſonders die Hautbevedung und die Hautfarbe unterworfen. 
Dear Hund, in den gemäßigten Klimaten gewöhnlich nur mit Stammbaaren bevedt, 
wird in den Tropen nadt, in den Polarländern befommt er eine dichte Wolle unter 
dem Stammhaar. Die Wolle unferer Schafe Töft fich in den heißen Gegenden ab und 
ed tritt eine dünne platte Behaarung an die Stelle; und unfer bereits feit Jahrhun⸗ 
derten in Sübamerifa eingeführtes und acclimatifirted Huhn ift dort, ausgenommen die 
Flügelfedern, nadt. Wie bei dem Menfchen die Farbe der Haut und des Haares in 
verichiedenen Klimaten wechjelt, bemerken wir fchon innerhalb engerer Grenzen, indem 
in ben nördlichen Ländern, auch in Norddeutſchland die blonde, in Süddeutſchland 
beroitd die braune, in Frankreich, Spanien u. ſ. w. bie fehmwarze Haarfarbe vorwiegt. 
Die Juden, in Deuifchland von ziemlich weißer Hautfarbe, follen in Syrien und 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 15 


226 Aceolade. Aeeömmodation. 


Chaldaͤa faſt olivenfarbig fein. Die Europäer, welche in heißen Gegenden geboren 
werden (Creolen) haben einen dunfleren Teint, als ihre Eltern, welches im Lauf der 
Jahrhunderte immer zunimmt, während umgekehrt Neger in Tälteren Himmelsſtrichen oft 
entfärbt werden. Manche Klimata befürvern die Bettbildung, wie 3. B. am Gap der 
guten Hoffnung, wo die Schafe große Fettſchwänze tragen, auch die Goloniften eine 
Neigung zum Pettwerden zeigen. — Ya felbft auf die Geftalt und Geſichtsbildung Abt 
das Klima im Laufe der Zeit einen abändernvden Einfluß. Auf diefe Weife entftehen, 
indem fich folche Eigentbünmlichfeiten immer ſchärfer ausprägen, die verſchiedenen Spiel⸗ 
arten und Racen, und daß diefe eben nichts Anderes find als die Wirkung der 
Elimatifchen Einflüſſe beſonderer Länderftriche, geht daraus hervor, daß bie Spielarten 
und Racen unter ein anderes Klima, verfegt, eine Neigung zur Ausartung und zum 
Uebergang in andere Nacen an den Tag legen. In Amerika, wo überhaupt Eleinere 
Racen find, als in der alten Welt, nehmen die dort eingeführten Thiere in Wuchs ab; 
Pferde und Schafe aus der Bretagne nach der Normandie verpflanzt, nehmen den 
Charakter der normannifchen Race an und umgekehrt. 

Zum Schluß möge noch einer Ginfchränktung, welcher die Xeclimatifation unter» 
worfen ift, und welche nicht auf Elimatifchen Verhältniffen beruht, erwähnt merben. 
Es ift das übrigend ganz unerflärliche Erfahrungsgefeß, daß die Verbreitung des 
Menſchengeſchlechts von je ber faft ausfchließlich in der Richtung von Often nad 
Weſten flattgefunden hat, daß Züge und Wanderungen von Völkern und Heeren in 
umgefehrter Richtung faft ſtets ohne dauernden Erfolg geblieben find, daß ebenfo bei 
weitem bie meiften und wichtigften unferer Gulturpflanzen und Haustbiere ihren Urfprung 
im Orient haben und fich verbältnißmäßig leicht von Aſien nach Europa und von da 
nach Amerika haben überfiedeln laſſen, — daß aber eine Uebertragung von amerifani« 
ſchen @ulturthieren und Pflanzen nach Europa oder von europälfchen Arten nad Aflen 
ganz befondere Schwierigkeiten findet, wo nicht geradezu unmöglich ift, felbft wenn 
das Klima der Länder, zwifchen welchen ein Austaufch verfucht wird, noch fo überein 
ſtimmend ift. 

Accolade. Die Accolade ift ein Theil der Feierlichkeit des Ritterſchlags ober der 
Aufnahme in einen Nitterorden. Nach Enipfang des eigentlichen Ritterſchlags um⸗ 
arnıte der, welcher den Nitterfchlag ertheilt hatte, der Grofmeifter des Ordens oder 
der Aufgehmende, feierlich den Aufgenommenen entweder im Namen der ganzen Ritter⸗ 
fchaft oder des befonderen Ordens. Diefe feierliche Umarmung war Die Accolade. 
Später brauchte man Accolade für Den ganzen Act des Ritterſchlages oder der feier⸗ 
- lihen Aufnahme in einen Ritterorden. 

Accommodation. Die Accommodations-Theorie hat weniger eine wiſ—⸗ 
fenfchaftliche Bedeutung, als daß fie aus einem Bebürfniffe des Lebens hervorgegangen 
if. Sie ift theoretifche Beſchoͤnigung und Aushülfe in etlichen praftifehen Der 
legenheiten. 

Um die praktiſche Seite dieſer Theorie aufzufaſſen, laſſen wir einen ihrer neueſten 
Vertreter reden. Viſcher in feinen „Kritiſchen Gängen”, Vorr. S. XXXIV. ſagt: 
„Mögen die philoſophiſch Gebildeten über ihren Widerſpruch mit der Kirche ſo aufrichtig 
ſein, als ſie wollen, ein Austritt aus derſelben wäre nichts als ein kindiſcher Scandal; 
und Theologen, welche in dieſen Widerſpruch gerathen, wird nach wie vor die Noth⸗ 
wendigkeit treiben, geiſtliche Aemter zu bekleiden.“ Natürlich werden ſie auch mit 
heiligen Mienen geiſtliche Handlungen verrichten müſſen, welche ihrem philoſophiſch⸗ 
gebildeten Verſtande laͤngſt als leere Ceremonie erſchienen find, und werden ſich 
dennoch unſchuldig der Heuchelei erachten, deren ſie fo leicht wahrhaft ernſte Män- 
ner anflagen. Die Kunft ift ja erfunden, auch das Linflttliche wifienfchaftlich zurecht: 
zulegen. 

Die Bequemlichkeit der Accommodationd» Theorie zeigte ſich, als man die Ge 
meinden noch nicht fo weit „vorgefchritten” fand, um die Entleerung des Glaubens 
von allem pofitiven Gehalte gleichgültig zu ertragen. Die rationelle, wie die „rein 
philofophifche" Behandlung der Religion hatte den Iebendigen Gott, fo ſie ihm nicht 
ganz negirte, jenfeitd des Himmels verbannt; während ihn Die Gemeine’ immer nod) 
im Worte und Sacramente gegenwärtig glaubte, mie er fih in der Gefchichte als ber 











Accommodation. 227 


Gegenwärtige geoffenbatt hatte. Die Herren Theologen erfanvden nun zwar ben leben⸗ 
digen Gott weder in ihren Herzen, noch in ihren Köpfen, aber ſie Fonnten in in 
ihren Ganzelvorträgen um des Volkes willen nicht gänzlich entbehren. Aud wo man 
dem Dogma den Rücken zufehrie, den Streit zwifchen Orthodorie und Theologie, 
zwiſchen Theologie und Philofophie auf ſich beruhen ließ und einer ja zumeilen auch 
aufrichtig gemeinten Ehrbarkeit nachtrachtete; wo man den Glauben verſchwieg und Die 
guten Werke urgirte, da Fonnte man gleichwohl in einem chriftlichen Gotteshaufe 
nicht fofort mit der ganzen Vergangenheit brechen. Man accommodirte ſich. Man gebrauchte 
die alten befannten, gewohnten Ausdrücke, aber man ſchob ihnen einen andern Sinn 
unter, man vollzog die Gebräuche der Kirche, aber im Streife der Eingeweihten ſcherzte 
man über ihre Bedeutung. Und dieſes Unwefen ward nicht etwa von einer Fleinen 
Anzahl unbebeutender Leute betrieben, fondern jeit der andern Hälfte des vorigen Jahr⸗ 
bunberts ift die Accommodation der Charakter unzähliger theologifcher Werke. Den 
Glauben der Väter hatten die Theologen verloren, aber fle feheuten die Folgen, welche 
eine offene Darlegung haben fonnte; die Schonung feiner felbft nannte man eine Nachficht 
und Berüdfichtigung der Vorurtheile anderer. Gelehrte Brofefforen hoher Schulen gaben - 
irn Zuhörern Anweifung, wie fie die neue Weisheit zu ungefährlicherem Gebrauche in 
ein alted Gewand kleiden Fünnten. Bei Unterniinirung der Grundveften der Kirche warb 
die Vorſicht angewandt, das eigene Haupt dem Sturz der Ruinen zu entziehen. 

Ein Gefühl der linfittlichfeit diefes Gebahrens war übrig geblieben; daher konnte 
den Accommodanten nichts Erfrenlicheres begegnen, als wenn ſie auch den Herrn Jeſum 
unter die Ihrigen zählen durften. Ein doppelter Sieg war damit errungen. Die 
Miplichkeit der eigenen Stellung war weniger augenfällig und über fo manche Schwie⸗ 
tigfeiten der neuteflamentlichen Lehre kam man mit einem Sprunge hinweg. Denn die 
wiſſenſchaftliche Kritik hatte auch am Ende des vorigen Jahrhunderts noch nicht jeden 
Berd des Kanond infpirirter Vücher vernichtet, und die Straußifche Erfindung chrift- 
licher Mythenbildungen war noch nicht gemacht. Die Perfon Chriſti und eine große 
Sefammtheit feiner Lehren fand ald nur zu ficher beglanbigt unverrüdbar feſt. Aber 
der Weife aus Nazaretb mußte Elüglich gehandelt haben. Er märe nicht fofort den 
Vorurtheilen feines Volkes und feiner Zeit fchroff entgegengetreten. Manches, obwohl 
durchaus Irrthümliche, aber bei einem rohen Gefchlechte practifch Nütliche habe er aus⸗ 
drücklich beftätigt, wie Die Lehre von einem Teufel. Ia die Scheu vor dem Heiligen war 
fo weit gefcehwunden, daß die dreifte Behauptung auftrat, der Herr Jeſus babe den 
Glauben feiner Zeitgenofien an Wunder benußt,‘ un Durch manchen „unfchuldigen und 
gutgemeinten” Betrug feine Autorität zum Beſten der Menfchheit zu beftätigen. Die 
Wander erklärten ſich ja durch Diefe Theorie fo leicht. Gleiches galt von den Männern 
Gottes alten und neuen Teftamentes. j 

Die neuere Zeit hat. mehr Klarheit und Entfchiedenheit gebracht und daher der 
Accommodation ihren guten Namen geraubt. Es ift nicht mehr bloß Der aufrichtige 
Blauben, welcher ſie verwirft, fondern auch der conjequente Unglaube. Jedoch ift ed 
noch im Jahre 1853 dem Dr. Sydow, einem Schüler Schleiermacher's, gegenwärtig 
Prediger an der Neuen Kirche zu Berlin, vorbehalten gemwefen, durch einen Vortrag im 
Unionsverein über „die Lehre vom Teufel* die Entdeckung einer neuen Accommodationd= _ 
Theorie zu proclamiren. In ihr iſt die Rede von einer „unmillfürlichen Accommo= 
dation”. Dad MWefen derfelben Täßt fih furz angeben. Wie gerade die Zweifler an 
der Eriftenz des Teufeld den Namen deſſelben am bäufigften auf ihre Zunge nehmen, 
ſo foll der Gebrauch, welchen der Herr Chriſtus von den Vorftellungen über den Teufel 
macht, ja fle weiter entwickelt, feineöwegs darthun, daß er die Wahrheit deſſelben be⸗ 
flätige. Eine Kritik folcher Behauptungen und Vermuthungen ift unnöthig. 

Aber neben diefer Art der Accommodation, deren Berwerflichkeit einleuchtend fein 
muß, giebt es eine unfchuldige Accommodation, weldye Fein Unterricht entbehren Tann. 
Diefelbe fapt fich leicht in ver Regel: knüpfe an dad Bekannte und Naheliegende an 
und leite fo zu dem Unbekannten und Entfernten über. In formeller Beziehung muß 
dann die Methode der geiftigen Gewandtheit der Schüler entfprechen; materiell darf 
ihnen nichts geboten werben, wad in ihrem Wiffen und in ihren Vorftellungen feine 
Anknupfung findet. 

15,* 





228 Accord. 


Etymologifh ift das Wort Accommodation von dem lateiniſchen accommodare 
gebildet, deſſen Iericalifche Bedeutung anpafien, ‘einrichten, bequemen ifl. Daher Tann 
man dad Wort auch von jener guten Durchbildung gebrauchen, welche Zeit und Um⸗ 
fände nicht über ſich herrſchen läßt, fondern welche auch augenblidlichen, unerwarteten 
Eindrüden gegenüber feine Haltung und richtiges Benehmen behauptet. Solche Accommo⸗ 
dation bedarf aber Feine Theorie zu ihrer Rechtfertigung, fondern empfiehlt ſich felber. 

Accord bebeutet in der Mechtöfprache fo viel wie Vereinbarung, Vertrag, Ber 
gleih. Im engeren Sinn — und diefe Bedeutung ift in den vulgären Sprachgebraud 
übergegangen — verftehbt man darunter einen Vertrag, vermöge deſſen Jemand bie 
Ausführung einer Arbeit oder eines Linternehmens im Ganzen überlaffen wird, wobei 
der Uebernehmer in der Megel zugleich Die Arbeitöwerkzeuge und Hülfsmittel ganz oder 
theilmeife zu ftellen bat, die zu verarbeitenden Stoffe dagegen von dem Befteller gelie 
fert werden. Der Zweck folcher Verträge ift theild die Vereinfachung der gegenfeitigen Bes 
ziehungen, theild und vorzüglich der wirthſchaftliche Vortheil der contrahirenden. Par 
teien. Don Seiten des Uebernehmerd wird diefer Vortheil dadurch erzielt, daß er durch 
größeren Fleiß und ſparſamere Verwendung der Arbeitömittel fein Einkommen zu ver 
größern fucht; auf Seiten des Uebergebers liegt der Vortheil theild in der fchnelleren 
Ausführung, theils in dem geringeren Aufwande, den er im Ganzen für die Sache zu 
machen bat. In der Regel wird die Accordarbeit zugleich beffer ausgeführt, Doc ift 
das nicht immer der Ball, wie 3. B. beim Mähen der Wiefen, beim Bauen des Ge 
treides, beim Drefchen u. f. w. Die Accordarbeiten werben in den. Fabriken auf dad 
Stück bedungen, und werben Daher Stücdarbeiten genannt; in den Bergwerken nennt 
man fie Gedingarbeiten. Bei der Ueberlaffung von bloßen Arbeiten wird der 
Accord in der Negel mündlid), bei der Lieberlaffung der Ausführung größerer Werke, 
3. B. Bauten, wird er fchriftlich abgefchloffen. | . 

Beim Eoncursverfahren verftehbt man unter Accord einen gerichtlichen 
Vergleich, Eraft deffen die Abfindung der Gläubiger durch einen ein für alle Mat fell» 
- gefeßten Theil ihrer Forderung in der Weije geregelt wird, daß dabei der Beichluß der 
Mehrheit für Die Minderheit verbindlich ift. 

Schon nah dem römifchen Nechte kann in dem Falle, wo der Schuldner ver⸗ 
ftorben war, mit den Erben deſſelben ein Nachlaßvertrag (pactum remissorium) von 
den Gläubigern abgefchlofien werden, durch welchen zu Gunften des Schuldners (ut fama 
defuncli conservetur), zugleih aber auch der Mehrheit der Gläubiger, welche dadurch 
fehneller und leichter zu ihrer Befriedigung gelangen, die opponirende Minderheit ge 
zwungen werben kann, fich die Bedingungen gefallen zu laflen, auf welche die Mehr⸗ 
zahl abzufchließen geneigt if. Die Majorität wird nicht nach der Kopfzahl der Glaͤu⸗ 
biger, fondern nach dem Betrage der Forderungen beftinnt. Nur. wenn die Summe 
der Forderung auf beiden Seiten gleich ift, entfcheidet die Maforität der Köpfe Bei 
Gleichheit ſowohl der Forderungen als der Stimmen giebt die humanior sentenlia, 
d. h. für den Nachlaß, den Ausichlag. | 

Die Ausdehnung dieſes Verfahrens, welches urfprünglich nur für einen ganz ver 
einzelten Fall zur Anwendung Fam, obgleich theoretifch nicht zu rechtfertigen, erfolgte 
in der Praris dennoch. Das dabei ftattfindende Verfahren nach gemeinem Rechte ber 
fteht darin, daß der Schuloner dur Vorlegung des Status feines Vermögens und 
feiner Schulden feine Injolvenz darthut, die Urfachen feines Vermögensverfalles an 
giebt, unter gleichzeitigem Nachweife, daß derſelbe ohne fein Verſchulden erfolgt ih, 
und, indem er fein Nachlaßgefuch anbringt, zugleich angemefjene Vorfchläge zur Abfin- 
dung: feiner Gläubiger macht. Wenn das Gericht den Antrag für zuläfftg erachtet, 
werden jämmtliche Gläubiger peremtorifch und unter der Verwarnung vorgeladen, daß 
die Nichterfcheinenden ald confentirend angefeben werden würden. Nach Vernehmung 
berfelben wird je nach der Entfcheidung der Maforität entweder der Antrag verworfen, 
oder der Nachlaß, wenn der Nichter feine Genehmigung ertheilt, bewilligt und darüber 
ein vichterlicheß Decret feftgefeßt, gegen welches jedoch die gewöhnlichen Rechtsmittel 
zuläffig find. Ä 

In dem franzöflfchen Handelögefegbuch führt das Verfahren den Namen Con 
cordat. Die Art, wie daflelbe zu Stande fommt, ift folgende: 














0 | 
| Acereditiren. Aceuſation. 229 


Innerhalb drei Tagen nach Ablauf der Friften, worin die bekannten Gläubiger 
ihre Forderungen eidlich zu befräftigen haben, follen die Gläubiger, deren Borderungen 
angenommen worden find, von den proviforifchen Syndiken zufammengerufen wer. 
den, wozu auch der Fallit vorgeladen wird. Der Eommittirte Richter, „Commiffär”, laßt 

“in diefer Berfammlung von den proviforifchen Syndiken über die Rage des Falliments 
und über die ftattgebabten Operationen Nechenfchaft legen; der Fallit muß dabei an⸗ 
gehört werden. Ueber dad Ganze wird ein Protocoll aufgenommen. Nachdem dieſe 
Förmlichkeiten erfüllt find, ift ein Vergleich zuläjfig. Dieſer Vergleich Tann jedoch nur 
durch die Mitwirkung einer Anzahl von Gläubigern zu Stande Fommen, welche Die 
Majorität bilden und deren Forderungen, fo wie fie nach den beigebrachten jchriftlichen 
Beweisitüden richtig befunden worden find, über drei Viertheile der ganzen Summe 
ausmachen, die der Fallit nach dem Verzeichniſſe der richtig befundenen und einregi« 
ſtrirten Forderungen fehulig iſt. Hypotheken- und Fauftpfandgläubiger Haben über den 
abzuſchließenden Vertrag Feine Stimme. Wird die Einwilligung zum Bertrage gege- 
ben, fo wird er fofort in der Sigung unterzeichnet. Stimmt die Mehrheit ber anwe⸗ 
fenden Gläubiger fir das Goneorbat, ohne daß die Forderungen berfelben Die ganze 
Schuldmaſſe ausmachen, fo wird die Berathung auf acht Tage, ohne daß dieſe Friſt 
verlängert werden kann, ausgefetzt. Die Gläubiger, die ſich dem Vertrage widerſetzen, 
müflen ihre Oppofltion binnen acht Tagen den Spndifen und dem Falliten anzeigen. 
Binnen acht Tagen, nachdem über die Oppofition erfannt worden, foll der Bertrag 
gerichtlich beftätigt werben. Diefe Beftätigung macht denfelben für alle Gläubiger ver- 
bindlich. Hat der Fallit fih unfluges Benehmen oder Betrug zu Schulden kommen 
lofien, fo kann das Handeldgericht die Betätigung des Vertrags verweigern, und ber 
Fallit wird als des Bankerotts fchuldig angefehen und demgemäß gegen ihn verfahren. 
(Code de commerce, $ 514—526.) 

Die preußiſche Eoncurd - Ordnung flimmt in Betreff der Abjchließung des 
Accordes mit dem gemeinrechtlichen Verfahren und der franzöfifchen Geſetzgebung im 
Beientlichen überein. 

Es jollen zur Abfchliegung ded Vergleichs nur Diejenigen mit keinem Vorrechte 
veriehenen Goncurdgläubiger zugezogen werden, die fich gemeldet haben. 

Damit der Vergleich zu Stande fomme, ift die Einwilligung der Majorität der 
ftimmberechtigten Gläubiger nöthig, und Die Geſammtſumme der den eimmilligenden 
Glaͤubigern zuftehenden Forderungen muß wenigftend drei Viertheile aller zum Mitſtimmen 
berechtigten Forderungen betragen. 

Der Accord” muß allen Gläubigern, deren Forderungen durch denfelben betroffen 
werden, gleihmäßig zu Gute kommen. ine ungleiche Beftimmung der Rechte ift nur 
mit ausdrücklicher Einwilligung der zurüdgefegten Gläubiger zuläflig. 

Die Berhandlung über den Accord muß, wenn derfelbe im erflen Termine nicht 
zu Stande’ kommt, in einem neuen Termine noch einmal wiederholt werden, wofern ſich 
in dem erften Termine zwar die Neigung zur Abjchliefung des Accordes befundet hat, 
aber die Majorität unvollftändig geblieben ift, indem entweder der Majorität der Stine 
men nicht die Majorität der Forderungen, oder der Majorität der Borberungen nicht 
die Mafjorität der Stimmen zur Seite ftand. 

Der abgefchloffene Accord bedarf, um rechtiche Wirkung zu erlangen, der ge⸗ 
richtlichen Beſtaͤtigung. 

Das Gericht hat aber die Beſtaͤtigung des Accordes zu verſagen, wenn entweder 
die für dad Verfahren und für den Abſchluß des Accordes gegebenen Vorſchriften nicht 
beobachtet find, oder gegründeter Verdacht vorhanden ift, daß der Gemeinfchuldner ſich 
der heimlichen Begünftigung eines Gläubigerd vor dem andern ſchuldig gemadıt bat, 
oder ein Betrug bei der Zuflanbebringung des Accordes begangen worden ift, oder in 
anderer Weife das Intereffe der öffentlichen Ordnung oder das Intereſſe der Gläubiger 
durch den Accord benachtbeiligt erfcheint. 

Aceordiren if die Handlung, durch welche der Aecord zu Stande ge» 
bracht wird. 

Aecreditiren, |. Geſandtſchaft und Greditbriefe. _ 

Acenſation A Aeccuſationsprozeß, ſ. Antlage und Auklageprozeß. 


230 Achãiſcher Bund, 


Achäiſcher Sand. Man verfteht darunter die Confoderation mehrerer griehifher 
- Kleinftaaten in. der Periode des Militärdespotisinus. Der Bund beitand in * e 
von 280—146 v. Ehr. und bietet die merkwürdige Erfcheinung, wie man Milit 
despotismus — die Strategie — mit einer freien Conföderation vereinigt hat Die Stra- 
tegen des achäljchen Bundes (Militärdespoten) waren: Arat 252— 215, Philopömen 
215—183, Lykortas, Kritolaos und Diaeos 146. Ein Bergleich des acpälfegen Bun- 
des mit dem Rheinbund und deutfchen Bunde, oder mit dem Verſuch, eine Gentral- 
gewalt im deutſchen Confüderativftaate zu fehaffen 1848, Tiegt fo nahe, daß der achäifche 
Bund bier Berüdfichtigung verdient. ine übereilte Bergleichung des griechifchen 
Todeöfampfed mit deutichen VBerhältniffen fünnte nämlich leicht zu Mißverſtaͤndniſſen 
Anlap geben. Man hat die Griechen oft mit den Deutfchen verglichen, in der griechi⸗ 
ſchen Zerfpaltung und in den Einheitäbeftrebungen der Griechen oft das traurige Ab- 
bild deutſcher Zuflände und das Prognoftifon für die Einheitäbeftrebungen der Deutſchen 
erblickt; man hat den leßteren daher mit ihren Irrungen und Heilungsverfuchen baffelbe 
traurige Ende geweiſſagt. Man überfieht aber dabei, daß die deutfche, die germanifche 
Perfönlicgkeit in ihrem abligen Selbftgefühl und in ihrer Univerjalität im Quell ber 
Irrungen zugleich das Heilmittel Derfelben beſitzt. In einem Gemeinwefen, mo Jeder 
fo ſtolz ift und die Kraft des Ganzen fo mächtig in fich ſelber fühlt, daß er felbft das 
Ganze, wenigſtens der Mittelpunkt beffelben fein will, wird der Eifer des Wettſtreites 
Meibungen und Mißverftändniffe zur Folge haben, aber auch eine dauernde Sonder- 
verbindung, wie bei den Griechen auf die Dauer zulaffen. Das Adelsvolk der Ge- 
fehichte wird gegen jeden Verſuch reagiren, der nicht dad Ganze im Auge bat. Dem- 
felben Volk wird auch die Reaction gegen den Imperialißmus, deſſen e8 bei der Matur- 
verbindung feiner Perfönlichfeit mit dem Ganzen und mit dem Gemeinweſen nicht bedarf, 
befchieden fein. Wer auf fih beruht und in fich zugleich das ungerflörbare Gefühl der 
Einheit mit dem Gemeinwefen befigt, bebarf nicht des eijernen Bandes, Das anderwärtd 
die zerftiebenden Atome zufammenhält. 

Diefe Verſchiedenheit des griechifehen und deutſchen Staatslebens mußten wir 
vorausſchicken, ebe wir die Entwicklungsgeſetze einer Confüderation unter einer militä- 
rifchen Gentralgewalt in der Gefchichte des achäifchen Bundes aufjuchen und dann diefe 
Entwicklungsgeſetze auf die deutfche Gefchichte anzuwenden verfuchen. 

Als die griechifchen Staaten in das Entwicklungsſtadium der zunehmenden Gen- 
tralifation der Staatsgewalt, mit einem Worte des Abfolutismus der Staatögewalt 
oder des Finanzſtaates von 590 an bi 320 traten, fühlten fte wohl, daß fle zu Elein 
und unbedeutend waren, um ihre Aufgabe vereinzelt nach außen löfen zu können. Es 
entftanden eine Reihe von Bündniſſen, deren befanntefte Die peloponneftfhe Symmachie, 
die italiotifche, die aflatifche Conföderation, die attifche Syntelie u. f. w. waren. 
hat auch Eroberung, das ift Mebiatifirung der Fleinen Staaten, wie bei Syrakus, die 
freiwillige Confoderation überflüffig gemacht. Ganz diefelbe Erjcheinung bietet Deutſch⸗ 
land von dem 15. und 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gonföderationen (Städte, 
Adels-, Fürftenbündniffe) veligiöfe (wie die Union, Liga), politifche Bündniffe (mie mit 
Schweden, Dänemark, Branfreih, Spanien) wechfelten mit Mebiatifirungen ab, wie bei 
der Neformation, dem weftfälifchen Frieden, der Auflöfung des Reiches 1803—1806. 
In Hellas haben die Eonföderationen in der Zeit des Militärbespotismus von 330 
an eine Wendung genommen, welcher man in Deutfchland nur den Rheinbund und bie 
Union von 1849—50 an die Seite ftellen kann. Das wichtigfte Beifpiel der Art 
bietet der achälfche Bund von 260146 v. Ehr. Die alte religidfe Eonföberation der 
zwölf Achderftädte war längft zerriffen, ald 280 v. Chr. vier Stäbte in eine Confoͤde⸗ 
ration zufammentraten, um den erobernden Militärdespotismus des Antipater, Poly⸗ 
fperhon und Pyrrhus von Epirus fern zu halten. Es war dies auf der einen Seite 
ein ſehr confervativer Schritt, aber zugleih auch ein Schwinmen gegen den Strom 
der Zeit. Erſt als mehrere Staaten noch beigetreten waren, namentlich Sikyon, ent⸗ 
ftand der lebhafte Wunfch, wir möchten fagen, die fühlbare Nothwendigkeit, eine mili- 
tärifche Centralgewalt zu fchaffen, 252°v. Chr. Der Mann nun, welcher den 
„Tühnen Griff" that und eine milttärifche Gentralgewalt für die lockere Eonfdberation 
ing Leben rief, war Aratus. Gr Iebte auf derſelben Entwicklungshoͤhe des Staaten⸗ 











Achaiſcher Yund. 231 


bumdes wie. Heinrich von Ongern. Die, achäifchen Gonföderativflaaten hatte nämlich, 
ganz daſſelbe Schidjal betroffen wie die Staaten des Rheinbundes. Diefe legteren haben 
bekanntlich zuerft in Napoleon I. einen Proteftor fich gewählt, dann ging von dieſen 
namlichen Staaten die Revolution 1848 aus, welche eine Centralgewalt für die Eleinen 
Staaten zu fchaffen bemüht mar. Dieſe Erjcheinung iſt in Deutfchland, wie in Hellas, 
ſehr leicht erflärlih, die Großmächte, wie Macedonien, Aegypten und Syrien drohten 
befändig den Eleinen Staaten in Hellad mit Mediatiſirung, d. h. mit einer Beſetzung 
der feſten Punkte und mit Statthaltern. Das brachte diefe Staaten endlich dahin, daß 
fie Die patriotifche Revolution Der Bourgeoifie machten. Als das Haupt derfelben ift 
Aratus anzufehen. Hierin ſtimmt die Lage der achäifchen Confüderation ganz mit den 
fleinen deutichen Bundesftaaten außer Defterreich und Preußen überein. Sie mußten 
fih an Frankreich 1803 anfchließen und waren 1848 in der Gewalt der patriotifchen 
renolutionären Bewegung, welche eine Centralgewalt auf legalem Wege zu fchaffen ver- 
ſuchte. Wir haben bier nur den Kern der Mevolution von 1848 berausgegriffen. Diefe 
Bewegung wird natürlich immer flärker wiederkehren, wie beim achäifchen Bund von 
280 bis 224, je mehr die Gentralgewalt als Schugmittel gegen den erobernden Milis 
taͤrdespotismus (Imperialismus) der Nachbarländer und gegen die innere fociale Re⸗ 
volstion nöthig wird. Diefe neue Gentralgewalt des achäifchen Bundes bat fich bie 
zum Militärdeöpotismus bed Antigonos Dofon bis 220 entwidelt. 

Aratos warb 252 die Seele des achäifchen Bundes, er hatte fajt bis zu ſei⸗ 
nem Tode 215 (er ſtarb, vergiftet von Philinp. dem Jüngeren von Macedonien) Die 
Strategie, d. i. die Bundescentralgewalt, in feiner Hand. Er brachte immer mehr 
Fleine Staaten zu diefer Gonföberation, welche um 243 folgende Gebiete umfapte: 
Achaja, Arkadien, Meflenien, die Alte, Phlius, Argos, Megara, Uegina, Athen und 
Korinth. Aratos hat durch Eroberung (Akrokorinth) und Beftechung (then) dieſe 
Ausdehnung des Bundes herbeigeführt. Er trat nun gegen Nafonien ebenfalld er- 
obernd auf. Vergleichen wir dies mit der Bewegung ‚der Fleinen deutjchen Staaten, 
fo wäre es die gewaltjame Durchführung des Programmes der Großdeutſchen gewejen. 
Weil nun einmal Lakonien im Peloponnes liegt, glaubte Arat, müßte ed zum achäi- 
fihen Bunde gehören. Um die Frage drebte fich bis zu feinem Untergange die Erijtenz 
des achaͤiſchen Bundes. War dies ein übertriebener patriotifcher Doetrinaridmusd, oder 


„Ing dem Streben eine Furcht zu Grunde? Wir glauben, daß Beides zugleich der Ball 


war. Die Beſorgniß, Sparta könnte fich unter Agis und Kleomenes, wie e8 225 —222 
auch verfucht ward, felbft Der patrietifchen Ideen der Achäer und der neuen Gentral- 
gewalt bemächtigen, war nicht unbegründet. 

Gerade wie mit Furcht und Hoffnung die Kürften der fleinen deutſchen Staaten 
auf Defterreih und Preußen 1848 blickten, ob. fie die Bewegung nach einer Gentral- 
gemalt. zu ihrem Programme machen würben. Mit eigenen Kräften Eonnte Aratus 
Zafonien nicht beflegen.. Er ſchloß fich alfo an Antigonos Dofon aus Makedonien an. 
Dieſem, einem fremden Militaͤrdespoten, räumte er die Feſtung Akrokorinth ein, dieſem 
gab er dad Protectorat über den achäifchen Bund, durch dieſen warb Kleomened von 
Sparta bei Sellafla 222 gefchlagen und der Widerfland ‚von Lafonien gebrochen. Ver⸗ 
gleiht man die Schlacht bei Sellafta, die freiwillige Unterwerfung der Fleinen Staaten 
unter Antigonos Dofon mit der deutjchen Gejchichte des 19. Jahrhunderts, jo erkennt 
man wieder den Kampf der Nheinbund« Staaten unter Nappleon I. gegen Defterreich 
und Preußen. Arat's Berfünlichkeit zeigt. das Bild eined Altliberalen, er gleicht in 
vielen Stücken Cicero und Demofthened. Er kann gut und patriotifch reden und uns 
terhandeln, er zeigt auch ‚nerfünlichen Muth, wenn er begeiftert ift und einen ficheren 
Hinterhalt Hat. Er iſt Friegäluftig, aber nur aus Furcht vor den Socialiften, denn 
diefe fanden ald drohende Wolfe hinter den blauen Träumen eines verjüngten Grie⸗ 
chenlands der patriotifchen Bourgeoifie in den achälfchen Staaten. Aratod war im 
entjsheidenden Momente nie feiner Stellung ſich bewußt. So ward er zum Berräther an 
feinem eigenen Vaterland, weil er zu kleinſtaͤdtiſch⸗doctrinär patriotifch war. - Er rief 
die Makrdorier, die Feinde bellenifcher Spuverainetät zu Hülfe, um die Vergrößerung 
des acyäifchen Yundes buschzuführen, und er erlebte den Imperialismus eines fremden 
GEroberers. Ganz ähnlich ging es den Eleinen deutichen Kürften im Kampfe gegen die 





[4 


232 Achalm. 


Habsburger und bie Vergrößerung. Preußens. Sie machten ſich ſelbſt zu Vaſallen 


von Napoleon 1. 

Der Nachfolger Arats Vhilopömen feit 215 war wohl fähiger als jener, doch 
fonnte er nichtö weiter erreichen, ald daß der achaͤiſche Bund feinen Protector mechfelte. 
Statt des Königs Philipp von Macebonien, der 198 -beflegt warb, wurben feine Be⸗ 
fleger, die Römer, Protectoren der Achäer. Flaminius tyrannifirte nun Achaja an ver 
Stelle des Antigonos Dofon und des Philipp. Alles dies geſchah noch unter dem un⸗ 
fchuldigen Titel „Bundeögenofien”. — Die Gentralgewalt des achätſchen Bundes war 
nicht ftrenge Ererutivgewalt. Kein nationales oder politifche8 Band hielt den achaͤiſchen 
Bund zufammen. Die Einheit für den Frieden fehlte. Nur für den Krieg war die 
centrale Militärgemalt de8 Strategen Philopvemen da. Er eroberte Lakonien, ver- 
binderte die Empörung gegen die Gentralifation, d. 5. den Abfall der Bundesglieder, 
fo viel er vermochte. Bei einer folchen Gelegenheit kam er in Meffenien, 183 v. Chr. 
um. Sein Nachfolger war Lykortas, der Vater des Hiftoriferd Polybios. Die wen 
fentlichfte und bleibende Schwierigkeit des achäifchen Bunde war auch von 183 an 
die, daß man nicht mit dem Schwerte die Staaten zufammenhalten fonnte, ſondern vie 
Einheitde8 Bundes von einem außläandifhen Schieddgerichte, dem Senat 
in Rom, abbängig machte Alle Klagen der einzelnen Staaten gegen den Bund 
und unter fih gingen nach Rom. Im Innern der Staaten war eine roͤmiſche und 
nationale Partei. Es war ungefähr ein Zuftand, wie wenn heute anftatt auf dem 
Deutſchen Bundedtage Die Austraͤgalſachen, die Frage wegen der Bundesfeſtungen, 
wegen Holſtein, oder die ein Concordat betreffenden Fragen in Paris auf den Con⸗ 
ferenzen entſchieden werden ſollten. Der achäiſche Bund konnte ſo nicht mehr beſtehen. 
Die Einheit und damit die Centralgewalt war eine Unmöglichkeit geworden. Als bie 
Roͤmer endlich einmal den fehiedsrichterlichen Ausſpruch thaten, Sparta, Korinth und 
Argos müffe vom Bunde getrennt werben, fo ergriff der Bund 147 v. Ch. die Waffen, 
um die Erecution des Urtheils zu verhindern. Die Roͤmer gaben natürlich ihrem 
Worte Nachdruck. Und nach einer einzigen Schlacht auf dem Iſthmus und der Eine 
nahme von Korinth war der achäifche Bund und Die einzelnen Staaten fo volffländig 
aufgelöft, daß fie feinen politifchen Körper mehr bilden Eonnten. Die größte Wohlthat 
für Hellad war e8, daß die Roͤmer es ald eine Provinz in ihr Reich aufnahmen. Der 
Wohlſtand war durch die beftändigen Streitigkeiten und Parteiungen ganz zerrüttet 
worden. So endete der Verſuch, an die Spitze eines Stäatenbundes eine Gentralge- 
walt als Imperialismus zu ftellen. Indem wir nochmal® auf die deutfche Geſchichte 
des 19. Jahrhunderts hinweiſen und auf den bevorſtehenden Uebergang der europälfchen 
Staaten in die Stufe des Militär: Despotismus, fo können wir nicht unterlaffen, einen 
Zug in der Geſchichte der helleniſchen Kleinſtaaten hervorzuheben, naͤmlich den, daß die 
Communiſten und Socialiſten nur in Lakonien flegten, in dem achaͤiſchen Bunde nicht. Alſo 
in diefem Staatenbunde ift die Partei des Umſturzes nie vollftändig and Ruder gekommen, 
wie died in Syrafus, Athen, Rom und Paris einige Zeit der Fall gewefen ift, bie 
der liebergang in den Militär-Despotismud beendigt war. 

Achalm. Ueber ven Namen giebt es eine befannte Sage, mehr iſt es nicht, daß der 
Erbauer beim Ausruf „Ach Allmächtiger" geftorben fei. Diefe ward Gegenſtand eines 
Gedichtes von Uhland. (Eine Erklärung ohne Werth. Der Berg, worauf die Burg fleht, 
beißt Achelberg, und Achalm ift aus Achalmen verkürzt, was celtiid — uchel hoch und 
man Platz — hoher Platz bedeutet.) Jetzt ift die Achalm eine in Trümmern: liegende 
Burg auf fteilem 2500 hohen Bergfegel bei Reutlingen, einft der Sig der danach 
benannten mächtigen Grafen von Achalm. Diefes Dynaftengefchlecht Teitet — gleich 
den in einem feiner Ziveige (den Fürften von Fürftenberg) bis auf den heutigen Tag fort- 
blühenden Grafen von Urach — feine Abkunft von den Gaugrafen des Pfullichgau ber. 
Die gräflicden Gebrüder Egino und Rudolph, welche in der Mitte des 11. Ihdts. das 
ehedem römische Schloß Achalm wieder erbauten, ftifteten nämlich zwei Linien, und wurde 
Erfterer Stammvater der Grafen von Urach, Lebterer aber der Achnimfchen Grafen. 
Rudokph Graf von Achalm erzeugte mit feiner Gemahlin Adelheid. von Mömpel- 
gard-Wülflingen 3 Töchter und 7 Söhne, welche in den Kämpfen und Wirren Des 
Zeitalter8 Kaifer Heinrich’3 IV. eine hervorragende Rolle ſpielten; "die jüngeren, nament⸗ 














6 A 233 


AH Egino, Hunfried, Beringer und Werner (Bifchof von Straßburg), auf Selten des 
Kaifers, Die beiden älteren, Kuno und Ruitold, auf Seiten der Gegenpartei. Diele 
legteren Beiden find außerdem bemerfenswerth al3 die Stifter des Klofterd Zwiefalten 
(1089), an welches fie, da fte, gleich ihren Brüdern, Einderlo8 waren, einen großen 
Theil Ihrer Beſitzungen vergaben. Als mit ihnen 'i. 3. 1098 (resp. 1092) die 
Achalmſche Grafenlinie im Mannesſtamme erlofch, folkte ihr Schweiterfohn, Graf Wer- 
ner von Würtemberg- Grüningen, als Erbe eintreten, was ihm auch durch den ſoge⸗ 
nannten Bempflinger Vertrag (zwfichen 10891092) ausdrücklich zugefichert worden 
war; allein er wurde von den mächtigeren Welfen verbrängt, welche nicht nur bie 
Schugvogtei über Zwiefalten, fondern auch die Burg Achalm erwarben. Als Beſttzer 
der Iegtexren finden wir in ber Mitte des 12. Ihdts. die Grafen Ulrich und Adelbert 
von Gamertingen, welde fih auch danah Grafen von Achalm nannten; da 
jedoch mit ihnen dieſe neue Dynaſtie ſchon wieder abging, fo vererbte die Serrfchaft 
auf Adalbert's Tochtermann Bertold von Neifen, den Letzten, der den gräflich Achalm⸗ 
ſchen Titel führte. Nach diefem Fam die Burg nebft Zubehör in Beflg der Hohen⸗ 
ftaufen, welche i. 3. 1235 unter Anführung des Grafen Friedrich von Zollern, die 
von Neifen, nach harter Belagerung, daraus vertrieben. König Conradin verfehte fie ' 
an Würtemberg, nachmals aber wurbe fle von König Rudolph wieder zurüdgelöft, der 
fe feinem Schwager, dem Srafen von Zollern⸗Hohenberg, als Reichsvogtei verlieh. 
Uunter Kaifer Ludwig wurbe fie von Neuem an Würtemberg vergeben, und wenn aud 
Kaifer Karl iV. in den Frieden von Schomborf (13860) den würtembergijchen Grafen 
die Veſte und Herrjchaft Achalm wieder abdrang, fo gelang es denſelben doch, fle i. 3. 
1376 wieder zu erobern. Die Achalm hatte eine hohe Wichtigkeit für Würtemberg zur 
Zeit des ſchwaͤbiſchen Stäbtebundes 1346—1388. Es war das die Zeit, wo es fidh 
entfchied, ob Deutſchland im Süden in Republifen, wie die Schweiz, auseinander fallen 
folte, oder in Dynaftenftnaten. Die für das erftere wichtige und günftige Schlacht 
ward auch am Buß der Achalm geichlagen. Trotz der oftmals wiederholten Anfprüche 
Oeſterreichs — dem Kaifer Karl IV. Achalm als Heirathsgut feiner Tochter Eliſabeth 
verjchrieben hatte — konnte ſich Würtemberg im Befig der Achalm behaupten. ‚Der 
legte Verſuch, den Defterreih — in der Berfon der Erzherzogin Claudia — im 30jäh- 
rigen Kriege (1636) machte, hatte nur. vorübergehende Wirkung, denn im weftfälifchen 
Frieden (1648) mußte es die Achalm wieder herausgeben, und feitvem blieb das Haus 
Würtemberg in ungeflörtem Beſitz dieſes Erbes feines Ahnherrn Werner von Grüningen, 
um, welches es ſechſtehalb Jahrhunderte lang mit wechfelndem Glücke geftritten batte, 
Wie die meiſten Burgen Schwabens warb auch die Achalm im 306jaͤhrigen Kriege zer. 
ftört. Die berzogliche Nentfammer ließ alsbald auf dem Berge, unterhalb der verfal« 
lenden Burg, einen Meierhof anlegen, in welchem jetzt, feit dem Jahre 1822, eine 
konigliche Ruſterſchaͤferei etablirt iſt. Man bat auf der Ruine römijche Alterthümer 
gefunden, jo daß es Teinem Zweifel unterliegt, daB die Roͤmer dieſen ſtrategiſch wich⸗ 
tigen Punkt des ‚oberen NRedarthales befefligt "Hatten. Wir verweifen übrigend auf 
ein eigened Werk darüber: Gratianus, Gefchichte Der Achalm. Tübingen, 1831. 
8. 2 Bände. 

Achalzych over Achaltziche, ehemalige Hauptſtadt von Tuͤrtiſch Georgien, jegt 
Hauptort des gleichnamigen, zum ruſſiſch⸗transkaukaſtſchen Gouvernement Kutaid gehb- 
renden Kreifes, am Poſcho, auf einer vulfanifchen:. Hochebene. wefllih und 22 Meilen 
von Tiflis, von einer Doppelmauer umgeben, mit 13,300 Einwohnern (nach der F 
ſten Zaͤhlung), lebhaftem Handel, Waffen⸗, Gold⸗ und Silberwaaren-Fabrication, 
bereien, einem Kaftell, worin früher der türfifche Pafcha feinen Sig hatte, und einer 
ſchönen Mofchee, mit welcher eine höhere Lehranftalt verbunden ift, deren Bibliochek 
für eine der beften im Driente gilt. Das ehemalige türkifche Georgien bildete urfprünglich 
das cHriftliche Königreich Georgien, wurbe aber im 16. Jahrhundert von den Türken 
erobert und in Gemäßhelt der Beftimmungen des Adrianopeler Friedens vom 14. Sept. 
1829 an Rußland abgetreten. Das Bouvernement Kutais, zu welchem der Kreis 

Achalzych gehört, begreift hauptfächlich Imiretien ober Imeretien (im Alterthum 
— oder Kolchis), welches zwiſchen dem eigentlichen Georgien und dem Schwarzen 
ere liegt. 


234 Achard. .. Acdhenwall. 


= Franz Carl), geboren 28. April 1754 zu ‚Berlin, geforben daſelbſt 
20. April 1821, der franzöfiichen Enlonie angehörig (fein Vater war zu Genf geboren); 
bedeutender Chemiker, verdient um die heimiſche Landwirthſchaft und Induſtrie Durch 
feine Vervollkommnung der NRunfelrübenzuder- Kabrication. Die Tönigliche Regierung 
nahm an feinen Beftrebungen den größten Antheil und jchenkte ihm Anfang Ddiefes Jahre 
bunberts dad Gut Cunern in der Nieverlaufig, damit er dort eine Muſterfabrik errichte. 
Nach einigen Jahren zeigte diefe Fabrik, deren Erfolgen die Eontinentalfperre weſentlich 
zu Hülfe fam, glänzende Nefultate, auch wurbe daſelbſt eine Lehranftalt fir diefe Fabri⸗ 
easion errichtet. Die legten Jahre jeined Lebens verbrachte Achard, durch bie Ernen- 
nung zum Director ber phyſikaliſchen Klaſſe der Akademie ver Wiffenſchaften geehrt, 
in der Hauptſtadt. Seiner Schriften, deren bedeutendſte die 1809 zuerft erſchienene 
den Titel: „Die europäische Zucker⸗ Babrication aus Runkelrüben“ führt, und feiner 
gefammten . Thätigkeit gedenken ‚wir in dem Artikel Runkelrübenzucker⸗Fabrication 
ausführlicher. j 
Achberg, eine jet unter Königlich Preußifcher Hoheit ſtehende Zürftlich Hohen- 
zollern Sigmaringifche Herrſchaft, von einer halben Duadratmeile und über 1000 Ein 
wohnern, mit fchönem Bergſchloß, am Schuflen im füblichen Oberſchwaben gelegen und 
rings von Württembergifchem Gebiet enclavirt. Wir finden dieſe Herrſchaft ſchon in 
früher Zeit, ald ein freies eigenthümliches Rittergut, im Beflge der Truchfeffe von 
Waldburg, melde nad manchem Beflgwechfel im Jahre 1693 um 64,000 $1. von 
der Deutſch⸗Ordens⸗Commende Alſchhauſen angefauft ward. Bon da ab hlich die 
Herrſchaft Eigenthum des deutſchen Ordens, bis fie, nach Aufhebung der Commende, 
Kraft Artikel 23 der Rheinbunds⸗Acte im Jahre 1806 mit Souverninetät und Eigen- 
thum dem Fürſtlichen Haufe Hohenzollern Sigmaringen zugetheilt warb. 
Achenwall (Gotifeied) wurde 1719 (20. Dct.) zu Elbing geboren. Im Jahre 
1738 bezog er die Univerfität Iena, wo er zunächft zmei Jahre verweilte, und ftubiste 
dann abwechfelnd zu Halle, Iena und Keipzig bis zum Jahre 1743, wo er Smußleheer 
oder, wie man damals fich ausdrückte, Hofmeiſter bei den Söhnen des Kanzlerö von 
Gersdorf wurde. Im Jahre 1746 erwarb er fich zu Leipzig die Magifterwürbe und 
ging dann (Dftern diefes Jahres) nach Marburg, mo er Borlefungen über Geſchichte, 
Statifif, fo wie Natur und Völkerrecht hielt. Zwei Jahre darauf‘ folgte er einem 
„mit einigem Gehalte und der Hoffnung weiterer Beförderung verfnüpften” Antrage, 
feine. alabemifchen Vorlefungen zu Göttingen fortzufegen. Er wurde noch in bemfelben 
Jahre zuerſt Adjunct der philofophiichen Facultaͤt (Sept.) und dann zum außerprbent- 
ligen Profeflor (Nov.) an derfelben befördert... Im Jahre 1751 wurde er auch außer 
orbentliche® Mitglied der Göttinger Societät. der Wiſſenſchaften, welche Stelle er jedoch 
fpäter niederlegte. Im Jahre 1753 wurde er zuerft (April) außerordentlicher Brofeflor 
der Yurisprudenz und dann (Sept) orbentlicher Profeſſor in der philoſophiſchen Fa⸗ 
cultaͤt. Im Iahre 1761 endlich wurbe er grbentlicher Profeſſor der Jurisprudenz und 
erhielt das Jahr darauf auch den Doctorgrad diefer Bacultät. Im Diefer Stellung 
verftarb er im Jahre 1772. Achenwall hatte, was damals noch nicht gewöhnlich war, 
in den Jahren 1751 und 1759 zwei gelehrte Neifen durch die Schweiz, Frankreich, 
Holland und England gemacht. Er hat in den verfchiedenen Fächern, in welchen er 
lehrte, Handbücher verfaßt, welche alle mehrere Auflagen erlebten. Die wichtigfien 
Darumter find: 1) Abriß der neueften Staatswiffenfhaft der yornehm- 
ffen europätifchen Reihe und Republifen: 1749. Die zweite und die fol 
genden Auflagen führen den Titel: Staatöverfaffung Der europäifcden 
Reiche im Grundriffe 1752 u. öft. 2) Elementa juris naturae in usum andi- 
torum adurmata. '1750.u. öf. 3) Grundfäße der europäifhen Geſchichte 
zar politifchen Kenntniß der heutigen vornehmfien Staaten. 1754 Die 
zweite. und folgenden Auflagen unter dem Titel: Geſchichte Der heutigen vor⸗ 
‚ nehbmften europäifchen Staaten im Grundriffe 1759 fi. 4) Entwurf 
Der allgemeinen europäiſchen Staatshändel des 17. u. 18 Jahrhunm⸗ 
derts. 1756. 2. Aufl. unter dem Titel: Gefhichte Der allg. europ. Staats⸗ 
handel des vorigen u, jegigen Jahrhunderts. 1762.. 5) Staatsflug- 
beit nach ihren Grundfägen. 1761. Achenwall wird gewöhnlihd ald ber 

















A-cheval-Stellmmgen. Acht. W 


wiſſenſchaftliche Begründer ber Statiſtik, oder doch als der Erfinder ihres Namens 
betrachtet. Er war Beides nicht. Die Statiſtik beſtand ſowohl der Sache als dem 
Namen nach vor Achenwall. Achenwall's Verdienſte um die Statiſtik beſtehen in einer 
methodiſcheren und mehr auf das tägliche Bedürfniß berechneten Behandlung derſelben. 
Solche Kenntniſſe, wie ſie Dad Achenwall'ſche Lehrbuch mittheilt, waren damals non 
viel größerem Werthe, als man ihnen heut zu Tage beilegt, wie fich ſchon daraus 
abnehmen läßt, daß der gelehrte Profeffor aud eine Vorleſung „über Staatöneuig- 
feiten, oder ein fonft fogenanntes Zeitungdcollegium" hielt. Was man jebt vorzüglich 
in der Statiſtik fucht, in Zahlen ausgedrückte Thatfachen und Gefege, findet fi in 
den Achenwall’fchen Schriften nicht. Cr hatte feine fmerkſamleit auf die Staatk- 
merfwärdigkeiten gerichtet. (S. auch den Art. Statiftif.) 

A-eheval:Stellungen find folche militairifche Vofitionen, welche zu beiben Seiten 
einer Land» oder Waflerfiraße genommen werden und entweder deren Beherrfchung für den 
eigenen Gebrauch oder deren Sperrung für den Feind bezweden. — Es giebt tactifche 
und firategiiche. — Da der Zwed aller tactifchen Stellungen das Gefecht ift, bei jedem 
Gefecht aber die ungeftörte Verbindung aller in Action tretenden Truppen Hanpterforberniß 
bleibt, fo erhellt, daß tactifche a-cheval-Stellungen bei Flüfſen felten, defto häufiger Dage- 
gen bei Landſtraßen vorfommen. — Letztere find wiederum doppelter Art: ‚Rendez-vous- 
und Gefecht3-Stellungen; da jene nur Berjammlung der Truppen und den Vormarſch 
zum Angriff, dieſe dagegen die Erwartung des Feindes bezwecken und als Schlachtfeld 
dienen, fo tritt bei ihrer Ausmahl die Beichaffenheit des Terrund zu beiden Seiten 
der Straße auf weiter Entfernung als beſtimmendes Hauptmoment in den Vordergrund. 

Strategifche a-chevalsStellungen find immer centrale, d. 5. folche, von denen auß 
fih die auf dem Kriegstheater verfanumelte Armee ohne Gefahr für die eigene Rückzugslinie 
fchnell auf diejenigen Straßen werfen Tann, woher ein feindlicher Angeiff möglid) 
if. — Während früher die wenigen vorhandenen Hauptfiraßen bei den Durch großen 
Troß unbehülflihen Heeren. die von vornherein dem Feinde angewiefenen Operations⸗ 
linien waren, und a-cheval-Stellungen auf ihnen ganze Provinzen deckten, haben Ieptere 
bei der vermehrten Wegfamkeit und erhöhten Beweglichkeit der Armeen Feine ſo allge 
meine Bedeutung mehr, wie noch im 7Tjährigen Kriege. Iſt Dagegen das Kriegätheater 
von einer ober mehreren bedeutenden Waffer- Adern durchfchuitten, ſo geben die Haupt⸗ 
Uebergangäpunfte, an Denen ſich auf beiden Ufern die aus dem Innern des Landes 
führenden Straßenzüge fammeln, die natürlichen Punkte für firategifche äa-chevak 
Stellungen. — Bon dort aus hält der Vertheidiger das ganze Straßenneh in feiner 
Hand und kann von dem geficherten Uebergangspunfte aus auf jedem Ufer. handelnd 
auftreten. 

Tactiſche Stellungen ergeben ſich erſt im Laufe der Campagne, müſſen bad Te 
rain aljo nehmen, wie ed von Natur ifl, dagegen find die fir firategifche und befen- 
derö für a-cheval-Stellungen geeigneten Punkte an Fluß⸗Uebergaͤngen Durch die Natur 
und Cultur fefl vorgezeichnet, und ihre Crmittelung un friegdtüchtige Einrichtung im - 
Frieden ift die Sache des Fortification. 

In allen größeren Staaten find ſolche a-cheval«Stelfungen dur Anlagen von 
Seftungen vorbereitet, fo bei Mainz-Eaftell und Coblenz-Ehrenbreitftein am Mittels, bei 
KölnsDeug am Nieder⸗Rhein, bei Verona an der Etjch, bei Mantua am Wineis, bei 
Nowo⸗Georgiewsk dicht bei Warfchau an der Weichſel ac. 

—* ſ. Ferurohr. 

Acht (Königsacht,” Reichsacht, Oberacht, heimliche Acht). Der Staats⸗ und 
Strafbegriff der altgermaniſchen Völkerſchaften entwickelte ſich aus den Gebraͤuchen und 
Wechſelbeziehungen der einzelnen in Genoſſenſchaften zuſammentretenden Familien (ein), 
welche fih zu Schuß und Truß gegen einander abfchloffen. 

Die Verlegung einer Sippe in der Berfon eines ihrer Mitgliever trieb alte. dazu 
Gehoͤrigen zur Familienrache. Die Geſamnitburgſchaft der Familie trat aber auch für 
den Uebelthaͤter ein, und fo führte jedesmal eine Gewaltthat zur blutigen Fehde. War 
die Fehde beendet, ſo wurde in einem feierlichen Bertrage der Friebe zwifchen ven feindlicheh 
Sippen erneuert. Je mehr die Sippen in Zweige auseinander Tiefen, deſto mehr verwuchſen 
und erweiterten fich die Kreife der Gemeinde und befto dringender wurbe das Berkrniß 


Bst Kat. ' 

friedlicher Vereinbarungen, durch welche die Angehörigen einer Genoſſenſchaft ihr Hecht 
nach Innen und Außen regelten. Darnach follte die Fehde erft dann eintreten, wenn 
die begangene Miſſethat und der dadurch begangene Friedensbruch nach dem ald Grund- 
geſetz geltenden Friedendvertrag, der übrigens von Zeit zu Zeit erneuert und beſchworen 
wurde, Dies erbeifchten. Das Wort Frieden erlangte dadurch eine höhere Bedeutung. 
Friede war der Zuftand der Ordnung und Sicherheit, der die Gefammtheit umfaßte. 
Die Höhere Anfhauung vom Unrecht und der Strafe, geweckt durch das Ehriftenthum 
und durch die Idee der fittlihen Weltorbnung, ließ das Fehderecht immer mehr in den 
Hintergrund treten. Mit Ausnahme weniger Verbrechen (Mord, Ehebruch) trat überall 
an bie Stelle der Selbfthülfe die Compofttion durch Geldbußen. Durch die Zahlung 
der Strafe kaufte man fidy in den Frieden, den man gebrochen hatte, wieder ein. Un- 
möglich war dies nur in den Ballen, wo der Friedensbruch durch Die Schwere des 
begangenen Verbrechens ein unbeilbarer wurde. Alsdann wurde der Friedbrecher von 
dem Richter feierlich au8 dem Frieden ausgeftoßen und wie ein jagdbares Thier ohne 
Schug und Recht der Mache feined Feindes preiögegeben. Daher die Bezeichnungen 
„Wolf*, „Wolfshanpt”, „ex lex“. Weil er aud ber Ehe (eva, Geſetz, Friede) aus⸗ 
geitoßen wurde, hieß er geächtet. Die Erklärung, durch welche der Michter biefe Kolgen 
ausfprach, hieß die „Acht“. 

Diefe Ausftoßung aus dem Frieden trat mit weniger greifen Wirkungen aber 
auch fon dann ein, wenn das begangene Unrecht zwar eine Sühne durch Geldbuße 
zuließ, der Verbrecher aber feinen Friedensbruch dadurch fortfegte und fleigerte, Daß er 
der Ladung vor Gericht entweder keine Folge leiftete, oder im Stellungsfall die fefl- 
gefete Geldbuße nicht zahlte. 

In der älteren Zeit war diefe Art von Aechtung mehr eine Strafe der Beigheit. 
Denn das Strafgericht war nur ein feierliche Kampffpiel. Je mehr aber das Compoſitionen⸗ 
ioften Eingang gewann, deſto überwiegender bildete ſich das Weſen der Acht zu einem Prozeß⸗ 
Inſtitut Heraus. Das Gericht wurde nunmehr nicht Deshalb vom Verbrecher gemieben, weil 
er einen Kampf fürchtete, fondern weil er die Geldbuße nicht zahlen mochte oder Fonnte. 
Zur Zeit der Volksrechte werben die Fälle der directen Strafacht immer jeltener und 
beſchraͤnken filh gegen das Erfcheinen der Nechtäbücher auf Diejenigen Verbrechen, welche 
den Friedensverein als folchen verlegen (Landfriedensbruch). 

Die Procefacht Dagegen gewinnt immer mehr an Ausdehnung. Sie trifft fortan 
auch den Kandeöverwiefenen, welcher unbefugt heimkehrt, den auf banphafter That er 
tappien,. aber flüchtigen, endlich auch den dingflüchtigen Berbrecher. 

Ein Spftem war in das Inſtitut erſt gekommen, feit der Schuß des Friedens 
und die oberfte Reitung der Mechtöpflege in die Hände der Könige überging. Der 
gefhichtlichen Entwidelung entfpricht die Unterſcheidung, welche der Sachienfpiegel 
zwifchen Acht und Verfeſtung maht. Dana ift die Acht in den meiften Fallen 
‚ nur die in Die höhere Inftanz gebrachte Verfeftung. Die Acht gebt vom Könige auß, 
die Berfeftung vom Gericht. Aus dem niederen Gericht und feinem Sprengel gebieh 
die Berfeftung an die höheren Gerichte, nahm fo an Ausdehnung immer mehr zu, Bid . 
fle an den König kam und folchergeftalt zur: Acht wurde. Die Berfeftung folgt auf 
die Weigerung des eined ſchweren Verbrechens Angeklagten, vor Geriht Rede zu 
fichen. Diefer Uingehorfam Fonnte ſich in verfchiedener Art äußern. Entweder ber 
Angeklagte erfchien gar nicht auf Die gewöhnliche Ladung, oder er war auf bie Ladung 
erfchienen aber vingflüchtig geworden, oder er hatte endlich bei handhafter That die 
Flucht ergriffen. Blieb er bei übernächtiger That nach der dritten Vorladung auß, 
fo mußte Kläger die That jelbfiebent bezeugen, worauf Seitens des Richters die Ver⸗ 
feftung ausgefprochen wurde. Wurde dann der in der Verfeſtung Befindliche gefangen 
und vor Gericht gebracht, fo war ed immer um den Hals gejchehen, wenn Kläger 
nunmehr die That und die Verfeſtung felbfiebent bezeugte. 

Die banbhafte That war nach der Definition der Mechtöbücher diejenige, „wo 
Einem die verbrecherijche That jo angebeftet war, al8 ob fie ihm in der Hand Flebte". 
Der Berbrecher mußte dabei auf der That ertappt und mit Gerüfte verfolgt worden 
fein. Unter allgemeinem Gerüfte, dem Läuten der Sturnglode und dem Blafen des 
Laͤrmhorns wurde Durch den ganzen Gau auf den Verbrecher gefahndet, und hatte man 








Acht. 337 


ihn ergriffen, wurde er fofort vor Gericht gefchleppt, und es folgte Anflage, Beweis, 
Urtel und Execution fchnell aufeinander. Blieb aber die Verfolgung fruchtlos, fr 
geſchah die Berfeftung, die ebenfalls den fpäter etwa eingefangenen Verbrecher dem Tode 
überlieferte. Natürlich war dad Entrinnen leicht, fo lange die Verfeſtung ſich nur 
auf,den engen Kreis eines Gerichts befchränfte. Sie wurde dem Verbrecher aber zur 
furchtbaren Nemefid, wenn ihre Dimenfionen von Gau zu Gau wuchſen und allmählich 
in die Acht ded Königs (auch Landesacht) außliefen. 

Der Schwabenfpiegel fennt den Ausdruck Verfeftung nicht, und. bezeichnet mit 
Acht auch die Fälle der Verfeftung. Nach beiden Spiegeln kommt die vom Könige: 
ausgehende Acht auch als directe Strafe bei gemiflen DBerbrechen vor, z. B. Morb- 
brennen, balöftarriges Verhalten gegen die Excommunication. Die Wirkungen 
der jchmebenden Acht find allen Unterarten gemeinfchaftlih. Niemand durfte den 
Geächteten länger ald eine Nacht beherbergen, Niemand ihm Schub und Nahrung 
veihen. Jeder fonnte ihn gefangen nehmen und, leiſtete er Widerſtand, ihn töbten. 
Er durfte weder Richter noch Zeuge noch Partei an einem Gericht fein, bis zu 
dem feine Projcription reichte, Tonnte Dagegen von jedem Ort, wofern es nicht 
ein Afyl war, und jeder Zeit, felbft an befriedeten Tagen, vor Gericht geſchleppt 
werden. ' 

Der noch nicht abgeurtelte Achter hat nur ein Mittel, den Frieden wieder zu 
erlangen, Die freiwillige Stellung vor Gericht. Begehrt er Dazu freies Geleit, fo darf 
ihm das nicht abgefchlagen werden. Stellte er aber für fein perfönliches Erfcheinen 
feine Bürgen, jo mußte er bis zum Gerichtötage in Haft bleiben (die erfte Spur ber 
Unterfuhungshaft im deutfchen Strafproceh). 

Eine weitere Steigerung der Acht ift Die Dberacht (auch Aberacht). Sie wird 
niemald primär verhängt und folgt von ſelbſt der Acht des Königs, wenn diefe reful- 
tatlos, d. h. ohne den Tod oder Stellung des Verbrechers, über Jahr und Tag fort« 
gedauert hat. Diefe Oberacht nimmt alles Necht und Brieden. Der Oberächter, ver 
nunmehr der That überführt erachtet wird, iſt echt» und rechtlos und berliert nicht 
bloß das Necht auf Schu und Gericht, er geht auch feiner ganzen Bamilien- und 
vermögensrechtlichen Perfönlichkeit verluftig; Eigen und Lehen büßt er ein, Buße und 
Wergeld Hat er nicht; um der Acht willen darf er von Jedem getöbtet werben, kann 
Teine ehelichen Kinder mehr gewinnen u. ſ. w. So heißt es im Wormfer Landfrieden 
von 1521 

„alle Berfchreibung, Pflicht oder Bündniß ihm zuftehend, darauf er Forderung 
und Zufpruch bat, foll gegen ihn ab und tobt fein.“ 

Und die Aufldfung der Familienbande insbeſondere betreffend lautete eine im 
Mittelalter ſehr gebraͤuchliche Formel: 

„Wir künden Dein ehelich Weib zu einer wiſſentlichen Wittwen und Deine 
Kinder zu ehehaftigen Waiſen.“ 

Von der Oberacht frei zu werden, gab es nur ein Mittel, das Beſtehen eines 
Zweikampfs vor dem zur Schlacht ausgerückten Heere des Kaiſers. 

Die heimliche Acht des Fehmgerichts entſpricht überall in den Vorausſetzungen 
der gewöhnlichen Acht. Auch hier wurde der nicht erſcheinende Miſſethaͤter felbfiebent 
geächtet (verfehmt). Nur waren die Wirkungen flrenger und erinnern mehr an bie 
Oberacht (f. Fehmgeriht). Die Morbacht ift die Acht gegen ben eines Mordes Ange: 
Elagten und war, wie dieſe ganze Procebur, durch beſonders feierliche Formen aus⸗ 
gezeichnet. Die Bücher, welche die Eaiferlichen Hofgerichte über die Aechter führten, 
hießen „Achtbücher“. Kam der Aechter aud der Acht heraus, fo flrich man feinen 
Namen im Achtbuch. 

Noch bis zum 18. Jahrhundert beſchaͤftigt ſich die Reichsgeſetzgebung mit ber 
Acht, und erſt durch die Wahlkapitulation Carls VI. (1711) kam ein Tangjähriger die 
Reichsacht betreffender Gompetenzftreit zum Austrag. Früher hatte zuweilen der Kaifer, 
zuweilen auch der Kaiſer und die Kurfürften, die Achterflärung ausgeſprochen. Nun⸗ 
mehr follte der Kaifer verpflichtet fein, zu jeder Reichsacht⸗Erklaͤrung zuvor die Geneh⸗ 
migung der Meichsftände einzuholen. Seitdem ift denn auch feine Acht mehr in Voll⸗ 


zug geſetzt. . 


7: 1 Su Acht. 

Demungeachtet war die Reichsacht noch bis zu den letzten Lebensjahren bed 
Reichs in gefeglicher Geltung, zu einer Zeit, als die Verfeftung und Acht ſchon längft 
aus der Particular-Befeßgebung der einzelnen deutſchen Laͤnder verſchwunden war. 

Nur in Sachſen und in einigen Eleineren Gebieten hat fich im Strafproceß eine 
Reminiscenz an die alte Acht noch bis auf die neuere Zeit erhalten in Geftalt einer 
Procedur, welche gegen abweſende Eapital-Verbrecher eintrat, und beim Auöbleiben des 
Öffentlich Aufgerufenen eine Achtserflärung und nach Jahr und Tag die Oberacht zur 
Folge hatte. Die Wirkung mar Vermögens» Confiscätion, ohne daß dem Angeklagten 
der ſpaͤtere Unſchuldsbeweis verfchränft wurde. 

Das Verſchwinden der Acht in unſeren Tagen iſt eine natürliche Conſequenz des 
neuen Staatsbegriffs. Die ganze Rechtsſphäre des Einzelnen grenzte ſich noch im 
Mittelalter nach feiner Stellung in der Gemeinde ab. Verlor er fein Theilnahmörecht 
an der Gemeinde, fo war er rechtlos. Der neuere Staat nimmt in den Kreis von 
Rechten, die er dem Individuum als ſolchem zugefteht, auch gewiſſe Garantieen bes 
Staated gegen das Individuum auf. Der Schuß des Staates verbleibt ihm, ſelbſt 
wenn ed feine Pflichten verlegt. Der beftrafte Verbrecher bleibt deshalb Mitglied bed 
Staatöverbandes und die Strafe abforbirt nicht mehr feine Rechtsperſonlichkeit, fle 
‚nimmt nur ald Sühne für das begangene Unrecht einen Theil der zuftändigen Rechte. 
@8 war daher völlig confequent, wenn die Strafgefeggebungen bis in Die neueren 
Zeiten binein mit der Todesſtrafe zugleich die Vermögens - Confiscation gegen den 
todeswurdigen Verbrecher eintreten ließen. Denn die Todesſtrafe des deutfchen Crimi⸗ 
nalrechts bat ihren Urfprung in der Acht felber ) und hatte deshalb ſtets bie volle 
Echt: und Rechtlofigfeit des Hingerichteten im Gefolge. oo 

Ein anderweiter Grund, der die Acht im Mittelalter nothwendig machte, war die 
mangelhafte Erecutionsgewalt der Obrigfeiten. Weder die Gerichte noch die Polizei- 
Inftitute hatten eine fo durchgreifende Organifation, daß fle ihren Machtfprüchen auf 
directem Wege hätten Geltung verfchaffen koͤnnen. Nequifltion, Auslieferung und eine 
Ha Wechfelgefälligkeit der Behörven. haben heute dieſe Bedürfnißfrage vollſtaͤndig 
umgeftaltet. 

Wenn man alfo die Achtserflärung ald ein Urtheil, dem die Execution nicht fo- 
gleich folgen kann, betrachtet, fo war fie auch zugleich eine Appellation ver höchſten 
Executivgewalt des Königs an die Iegte Erecutivgewalt, an das Volk. Dieſes ward 
zur Erecution aufgefordert. Daher mit ver Zunahme der Erecutivgewalt diefe Appella- 
tion an die allgemeine Vollziehung des Volkes aufhörte. ALS Die Erecutivgewalt ſehr 
ſchwach war, hatte die weftfälifche Acht (Fehme) die meiſte Gewalt. Eklatante Falle 
ver Acht Hat und die Gefchichte nur da aufbewahrt, wo es fih um Auflehnungen 
gegen Kaifer und Reich, alfo um die Neichdachtderklärung handelte. So wurde über 
Heinrich den Löwen im Jahre 1180, über den Kurfürften Heinrich von der Pfalz im 
Jahre 1619 die Reichsacht verhängt. Die Neichdacht gegen Friedrich den Großen 
(1758) fcheiterte bekanntlich an dem Widerſpruch der Neichsftände und bob nicht wenig 
das Anfehen des flegreichen Könige. Die lebten eigentlichen Achtserflärungen waren 
1706 die gegen den Kurfürften von Bayern und deſſen Bruder, den Kurfürften von 
Coln, welche auch nach dem 1702 erklärten Reichskrieg gegen Frankreich von der Verbin: 
dung mit diefer Macht nicht abgelaffen hatten. Im 19. Jahrhundert find als Nachbildungen 
zwei Acht3erflärungen von $ntereffe, von denen ſich Napoleon bie eine gegen den Frei⸗ 
herrn v. Stein erlaubte, um ſie 6 Jahre fpäter auf Antegung deſſelben Stein nur in 
coloffaleren Umriffen und fühlbarer zurüdzuempfangen. Am 16. Dec. 1808 erließ Napo⸗ 
leon aus feinem Lager zu Madrid einen Eaiferlichen Befehl, worin er „einen gewiſſen Stein 
(„un nomme Stein“), welcher Unruhen in Deutfchland zu erregen fucht”, zum Feinde Frank⸗ 
reichs und des Rheinbundes erklärt und die Beſchlagnahme feiner Güter und feine Verhaf⸗ 
tung anordnet. Stein flüchtete zunächſt aus Berlin nach Böhmen. Seine bewegliche Habe 
rettete er. Seine Güter in Naſſau und Polen wurden mit Beſchlag belegt. Erhebend 


2) Anfangs war der Geächtete nur feinem Feinde preisgegeben, dergeſtalt, daß dieſer ihn 
töbten durfte. Später wurde ber Verbrecher als Feind des Königs angejehen, und dieſer beauftragte 
nicht felten einen feiner Getreuen, der den Geachieten in Vollziehung der Acht vom Leben zum 
Tode Bringen follte. S. Philipps Deutſche Geſchichte 5 26. 

















Achterfeld. Aceer. 233 


find die Zeichen der Iheilnahme, Die ihm. von allen Seiten gefpendet warden. Gent 
tiefgebeugter Monarch, ohnmächtig, ihn im eigenen Lande zu ſchützen, bot ihm in rüh⸗ 
renden Worten ein Afyl in Rußland an. \ 
Wie weit ab jedoch dieſe von perfönlichem Haß eingegebene Gewaltthat ihr Ziel 
verfehlte, darüber laſſen wir am beften Pertz ) fprechen: 

„Napoleond Haß bezeichnete feinen Beinden ihren Führer. Unzählige Menjchen 
lafen damals Stein’! Namen zum erftenmal, aber die Aechtung umgab ihn fogleich 
mit dem beiligen Glanze des Märtyrer; die Herzen, melde in allen Theilen 
Deutſchlands nach Befreiung lechzten, hatten ihren lebendigen Mittelpunkt gefunden; 
Stein ward eine politiſche Macht, worauf weit über Preußens Grenzen hinaus die 
Erwartungen und Hoffnungen des zertretenen Volkes blickten.“ 

Wahr und troſtvoll ſpricht Gneiſenau in einem Brief an Stein dvenſelben Ge⸗ 
danken aus, wo es heißt: 

„Gott geleite Ew. Excellenz und laſſe Sie glücklichere Tage ſehen. Aller 
Edlen "Herzen find durch Ihre Profeription noch fefter an Sie geſchloſſen. Napoleon 
hätte für Ihre erweiterte Gelebrität nichts Zweckmäßigeres thun können. Sie gehörten 
ebedem nur unferem Staate an; nun der ganzen civilifirten Welt.” 

Als Napoleon 1815 von Elba zurückkehrte, erließen bie -Großmädhte das be- 
kannte Manifeft, worin fle den Friedensſtörer Bonaparte den allgemeinen Strafgerich- 
ten Preis gaben. Zur Vollſtreckung dieſer letzten und großartigen Achterklaͤrung ſtand 
in wenigen Tagen eine Million in Waffen. (S. Bann, Excommunication.) | 

Achterfeld, Joh. Heinr. Diefer als einer Der eifrigften, dem Meifter treu art 
hängenden Hermeflaner bekannte Eatholifche Briefter und Gelehrte ift i. I. 1788 zu 
Weſel geboren, ward 1813 Priefter und fungirte in der Seelforge.. Im I. 1818 
ward er zum Profeffor ver Theologie am Lyceum zu Btaundberg, 1826 zum Profeſſor 
der praktiſchen Theologie in Bonn ernannt, 1827 zugleich Infpertor des bafigen 
Eonvictd. Im J. 1843 wurde U., wie fein College Braun (f. d.), vom Lehramte, 
wegen der bermeftanifchen Richtung . Hermes u. Hermeſianismus), durch den damals 
als Eoadjutor des Erzbifhofs Clemens Auguft v. Drofte (f. d.) die Kölner Erz⸗ 
diozeſe verwaltenden jegigen Barbinal Joh. v. Geiſſel (f. d.) fuspenpirt: Es gefchah 
dies erft, nachdem alle Verfuche, fie. zur Anerkennung des die hermeſtſche Lehre ver⸗ 
werfenden päpftlichen Breve zu vermögen, gefcheitert waren. Die von U. und B. 
durch den Advocaten Stupp (jet Oberbürgermeifter von Köln) fortgefehte Polemik 
gegen die Firchliche Autorität z0g ihnen bald darauf auch die Suspenflon von allen 
priefterlichen Berrichtungen — mit Ausnahme der Privatmeffen — zu. A. hat weder 
ale Lehrer noch als Schriftfteller befonderen Auf, ift übrigens wegen feines‘ muſter⸗ 
haften priefterlihen Wandels geachtet, und feine Verwidelung in die hermeflanifche 
Sache wird vielfach bedauert. Er ſchrieb: Lehrbuch der chrift= Eatholifchen Glaubens 
und GSittenlehre ıc., Braundberg 1825; Katechismus der chriftsfatholiichen Lehre, ebd 
1826, 2. Aufl. Bonn 1831; giebt mit Braun die „Zeitichrift für Philoſophie und 
katholiſche Theologie," Köln umd Koblenz 1832—1838, Bonn 1840 u. f., heraus 
(die indeß neuerdings ind Stocken gerathen) und beforgte die Herausgabe der Dogmatik 
des Profefior Hermes nach defien Tode, deren Erfcheinen erft der hermeſiſchen An⸗ 
gelegenheit ihre entſcheidende Wendung gab. 

Adler. Der Ader ift die erfle und natürliche Unterlage ver menfchlichen Thaͤtig⸗ 
keit. Das Menfchengefchlecht kann in keinem Augenblide außerhalb der Verbindung 
mit ihm gedacht werden; ohne den Ader, der Alle ernährt, alle Werthe beſtimmt und 
im Grunde erzeugt, ift Feine Möglichkeit des phyſiſchen Lebens; an ihn knüpft fich aber 
auch überall die höhere Lebensthätigkeit des Gefchlechtes am, und auf ihm, al& erfter 
Borausfegung, beruht die Familie, die Gemeinde, die Gefellfchaft, der Staat. 

Eine geheimnißvolle Bezüglichkeit zwifchen Menſch und Ader tritt vom Anfang 
der Dinge an hervor: „Gott der Herr machte den Menfchen aus einem Erdenkloß“, 
wie eine der beiden Darftellungen der Schöpfungdgefchichte (1. Mof. 2, 7) fagt, und 
Gott ruft dem erflen Menfchen zu: „Denn du bift Erde und fellft iuteber zur Erde 
werden“ (1. Mof. 3, 19). Der, Ader wird, nachdem Adam in Simde gefallen, eben⸗ 


) Aus Stein’d Leben von ®. 8. Pertz. Erſte Hälfte S. 342. 


240 Ader. 


fall verflucht: „Derflucht fei der Adler um deinetwillen, mit Kummer ſollſt du 
dich darauf nähren dein Lebelang“ (1. Mof. 3, 17). 

Sp tritt in den erften religiöfen Offenbarungen und Ahnungen des Menſchen⸗ 
gefchlechtes ſchon Das Bemußtfein von einer engiten Zuſammengehörigkeit zwifchen 
Menfh und Ader, von einem geheimnißvollen Bande zwifchen Beiden in flärkiler 
Form hervor. 

Ein gemeinfamer Yluch traf beide, und dieſer Fluch iſt Morgengabe der neuen 
Epoche des Menfchengefchlechtes und feiner vom Acker beginnenden und immer wieder 
zum Uder zurüdfehrenden und ſtets von ihm abhängigen Thätigkeit. Aber der Fluch 
ſcheint fich plöglich in einen Segen zu verwandeln, und der Arbeit des Menfchen ent« 
fpricht reicher Kohn, wie eine dankende Erwiederung des Ackers. Auch fcheint der Acker 
nit auf die bloßen materiellen Erträge diefe Erwiederung zu beſchraͤnken: ſchon 
die urältefte Sage der Völker, dann deutlicher die Lehre der höheren Eulturvölfer des 
Heidenthums und felbft der Mund der Philofophen wiederholen ed, daß der Aderbau 
die Tugend fördere und den Menfchen erhebe. Cato, der römifche Schriftfteller über 
den Aderbau, fagt, daß der Ackerbau tanfere, feſte Männer erzeuge, ja er fei bes recht⸗ 
fchaffenfte Erwerb, der dem Neid und den Leidenfchaften am meiften entgegenwirfe, und 
„Die Nechtfchaffenften (minime male cogitantes) feien die, welche mit ibm befchäftigt 
fein." (©. feine Schrift: De re rustica). Die Erde, fagt Zenophon, lehrt ihre 
Bewohner Gerechtigkeit und Weisheit, und frhon die eleufinifchen Geheimniſſe umgeben 
den Aderbau mit dem Nimbus eines fürmlichen Gottesdienſtes. So zeigt fich in jeber 
Zeit und auf jedem Standpunkte die Ahnung von einer tieferen Verknüpfung zwifchen 
den Weſen der Erde und dem des Menfchen. 

Der Aderbau fland bei allen Völkern, welche Anſpruch auf Größe haben, in 
hohen Ehren. Nomulus erlaubte den freien Männern nur zwei Arten der Thaͤtigkeit, 
Krieg und Aderbau. In einer Periode trügerifchen Glanzes galt es in Griechenland 
für unwindig des freien Mannes, den Acker zu bauen oder biefem Berufe überhaupt 
ernfte Fürforge zuzuwenden. Das wurde für eine Sache des Sclaven erachtet; Platon 
erklärt diefen Zuftand fogar für gerechtfertigt, aber Ariftoteled ruft warnend und den 
nahen lintergang eined entnervten Volkes ahnend aus, daß das die beften Gemeinweſen 
feien, wo die. Bürger fih dem Aderbau widmeten. Man Tann die Zukunft eined Bol 
fe8 aus feiner Beurtheilung des Aderbaues vorausfagen. Unter Heinrich IV. und Sulls, 
ber Uderbau und Viehzucht für die Brüſte des Staates erklärte, wurde in Frankreich 
das Jahrhundert - ‚Zubwig XIV. begründet („La grandeur de Richelieu et de Louis 
XIV. a &t& düe en partie aux germes de richesses deposees alors (unter Heinrich 
IV.) dans le sol“); aber ald Montesquieu (Tettres Persanes) dasjenige Volk für das 
elendefte der Erde erklärte, wo nur Aderbau berrfche, dagegen die Künfte, Die der Luft 
dienen, verbannt feien, ragten jchon bie Schatten des nahen geſellſchaftlichen Berfalld 
weit in Frankreich hinein. Hätte Montesquieu in einem gefunden Gemeinweſen geſtan⸗ 
den, fo wäre ihm durch alle feine IImgebungen Elar geworben, daß Aderbau und Mangel 
an ‚geiftiger Cultur bei einem Volke nicht zugleich gefunden werden koͤnnen, baß bet 
Aderbau, wie er die Grundlage alles irbifchen Fortfchrittes ift, fo ihn auch. ftets nur 
fördern kann. In dem centralifirten und entkräfteten Frankreich hatte dagegen zu ber 
ZSeit jenes Staatöweifen die Gultur von jener ihrer nährenden Grundlage fih losge⸗ 
macht und fich in einem Fünftlichen Mittelpunfte gefammelt, vergleichbar einem Kaufen 
gepflückter Blüthen, die nothwendig faulen müffen, während fle, über die Aue vertheilt 
und mit ihrer Wurzel zufammenhängend, die Freude. des Volks und auch noch der 
Genuß des kommenden Tages gewefen wären. 

Ganz anderd in England, deſſen Größe und Blüthe Hauptfächlich daraus zu 
erklären NY daß das Leben ded Einzelnen wie der Gefammtheit fo vielfache fefte Be 
ziehungen zum Ader und Aderbau bewahrt hat. Nirgend findet fich weniger von dem 
bedenklichen Gegenſatze zwifchen landwirthſchaftlicher und ſtaͤdtiſch⸗ induftrieller Ihätig- 
Zeit, als in England; offen erkennen Die der legteren gewidmeten Kraͤfte ihre Abhaͤngig⸗ 
keit vom Ackerbau, und Allee, was in England in irgend einem Kreiſe der Geſellſchaft 
oder des Staated auf Geltung und Einfluß Anſpruch macht, muß ſich dazu erſt durch 
die Aufweifung einer Reihe geordneter und. feftefter Beziehungen zum Ader Iegitimiren. 


di 








Ader. _ 241 


Auch die überjpanntefte Theorie eines englifchen National» Defonomen wagt e® nicht, 
gegen die allgemein herrſchende Anfchauung Englands über den Aderbau ein Bedenken 
zu erheben, und Adam Smith, wie viel Irrthümern er auch huldigen mochte, erflärt 
doc; den Aderbau’für die einzige Bafls aller nationalen Werthe und fagt, daß „die 
Stadt ihren ganzen Wohlitand und ihre ganze Subflftenz von: flachen Lande erhalte.” - 
Diefe Hochſchaͤtzung des Ackers fcheint allerdings in England gegenwärtig nicht mehr 
von einer gleichftarfen Neigung zum Aderbau felbft begleitet zu fein; wenigftend zeie 
gen die ftatiftifchen Tabellen, Daß nur ein’ Viertel der englifchen Bevölkerung Aderbau 
treibt, und daß gerade der hervorragendfte Theil der Nation, die politifchen Kührer 
und Regenten, der große Grundadel, ein Syſtem der Verpachtungen eingeführt habe, 
welches fie von einer unmittelbareren Betheiligung an der urfprünglichften und fräfti= 
gendften Thätigfeit des menjchlichen Gefchlechtes auszujchließen feheint. Aber dabei ift 
nicht zu verfennen, daß diefer Großadel Britanniend durch ſchwere politifche Pflichten 
daran gehindert if, einen größeren Theil feiner Zeit dem edlen Ackerwerke zu wibmen, 
daß er aber troßdenm dem ländlichen Gute innerlich treu bleibt und auf ihm feine 
Helmath findet, und zu jeinen Gunſten daher ſtets fo ſchnell und lange ald möglich den 
Aufenthalt in der Stadt aufgiebt. Faſt regelmäßig wendet er dabei jeine Mußeftunden 
auch zur Grrichtung, Bewirtbfchaftung und Vervollkommnung einer kleinen Mufter- 
wirthfchaft an, welche oft zur Schule feiner Pächter wird. Bis an bie Stufen des 
Thrones gebt diefe ſchöne Kiebhaberei, und einer der grünften und fauberften Punkte 
in der reizenden Umgebung von Windſor⸗-Caſtle zeigt eine Modell-Farm Sr..K. Hoh. 
dee Prinz» Gemahls von England. Daß es übrigens noch mehr al8 Liebhaberei. ift, 
was in diefen Mufterpachthöfen Befriedigung findet, geht u. U. daraus hervor, daß 
mehrere der bedeutendſten Landwirthe wie auch Inbuftriellen Englands auf ſolchen Mufter- 
farnıen ihre Schule dDurchmachten, fo Barton, der geniale Erbauer des Kryſtallpalaſtes 
in Hydepark. Auch die Einführung neuer koſtbarer, aber Arbeit erfparender Ackerwerk⸗ 
zeuge in die englifche Landwirthſchaft wird vielfach nur durch Diefe Mufterpachthöfe ver⸗ 
mittelt, und man weiß, Daß Durch folche Werkzeuge Die Koften der Bewirthſchaftung ſich 
in den legten zwanzig Jahren um die Hälfte vermindert. ) (Frankreich hatte auch eine 
furze Periode, in der e8 folchen Neigungen ſich anfchließen zu wollen fchien; es war jene 
Periode der franzöſiſchen Anglomanie, welche kurz vor der Nevolution von 1789 ein« 
trat; der Hof und die Großen liebten es damals auch, auf einem ländlichen Marly, 
Monrepos ꝛc. Landwirthfchaft zu treiben, wo möglich als Schäfer und Schäferinnen 
verkleidet; aber es war nur eine Salon-Comöbdie, die fle aufführten und die fle nur 
darum auf die Gutshöfe verlegten, weil Wiejen und weidendes Vieh dazu die ununı- 
gänglichen Eoulijfen bildeten.) Die Ehre, die dem Ader in Frankreich kaum jemals 
im fernen Mittelalter zu Theil ward, blieb ihm Dagegen in England durch alle Zeiten 
erhalten; auf ihn gründet Die normännifche Groberung, alte Ungleichheiten und alten 
Drud befeitigend, Die neue Organifation des Landes, indem Wilhelm I. das ganze Land in 
60,215 größere und kleinere Nitterlehen neu zertheilt, deren Beſitzer ihn alle in gleis 
her Weife zu Dienft verpflichtet find, fo daß ed fürber in England Feine Unterlehns- 
berren und After-Bafallen mehr gab, fondern nur einen Lehnsherrn, dem alle Freien 
in gleicher Weije verbunden waren. Im diefe Vertheilung des gejammten Landes trat 
iede Scholle des Landes, auch alle „Bekleidung deſſelben“, von der größten Stabt big 
zum kleinſten Weiler, mit ein, und fo ftellte jich "eine tiefe Bezüglichfeit des ganzen 
Landes und feiner verjchiedenartigen Geſellſchaftsgruppen zu den in der Mitte ihrer 
Aecker auf ihren Herrenhöfen und Burgen reflditenden Baronen und freien Mannen 
feſt. Das Lehngut aber war nicht ſowohl der Bamilie, als vielmehr den einzelnen 
Mannen zum Entgeld für beftimnte, dem König zu leiftende Dienfte verliehen, und auf 
das Engite verknüpfte fich mit ihm alſo eine obrigkeitliche Weihe; ferner aber, da mit 
diefem Lande auch alle feine Zubehörigkeiten, Zölle, Zehnten, Borften ıc. den Lehns⸗ 
männern verliehen waren, jo Eonnte auch, niemald daran gedacht werden,. ihnen in dem 


’) Die befjeren Pfluͤge erfparten auf je 3 Pferde eines, die Pierbehadeh 50 Procent ver 
Koften des Handhadens, die Dreſchdampfmaſchinen % der Koften des Handdreſchens; die Maͤh⸗ 
maschine leitet fo viel wie 30 Tagelühner; das Drainiren it an Material im Verhältniß von 80 
zu 15 wohlfeiler geworben. g 


Wagener, Staats m. Gefellih.ter. . 16 


J 





212 Aderbau. 


Halle, daß das Staatöganze einmal der Steuern bebürftig werden konnte, eine Exemtion 


zu gewähren; im Gegentheil mußten dann jo gut wie alle Steuern gerade auf ſie 





fallen. Das war der Anfang und der Grund jener Harmonie der englifchen Gefell- 
Schaft, Die im Ader ihre Wurzeln bat und Darum fo wohl und ſicher angelegt if, 


weil fie im Ader murzelt. Leicht, fait unmerklid — die gleichzeitigen Schriftfteller 
thun der Sache nicht einmal Erwähnung — verlöfchte in England die Leibeigenfchaft 
und eben fo Leicht fchlingen ficy die Bande zwifchen dem emporftrebenden inbuftriellen 
Bürgertbum und dem Grundbefiß, während auf dem ſtammverwandten Gontinente fi 
mit dem Nahen und dem Wachen der Geldwirthſchaft allmählig ein Gegenfag zwiſchen 
Grundbeflg und Indufirie außbildete, der auch als ein Gegenjat der Anſichten nod) 
beut verberblich fortwuchert, feine practiſch bevenklichfte Seite aber in der Verſchieden⸗ 
artigfeit deö Crebites für den, Aderbauer und den Inbuftriellen, ja vielleicht auch in 
der Verfchiedenartigkeit der Größe der Mente bei agrarifchen und inbuftriellen Unter 


nehmungen !) offenbart. ine abfolutiftifche Geſetzgebung des Staates wirkte bier 


Vieles zum Nachtheil des herrfchenden Standes, inden fie an feiner Statt die Sorge 
um Wahrung feiner Befonderheit zu übernehmen bemüht erfchien und ausdrücklich den 
Adligen das Recht auf Erwerb größerer Grundftüde vorbehielt. Dadurch griff der 
Staat in ein fociale8 Gebiet hinüber, das ihm durchaus hätte fern bleiben müflen, 
“und maaßte ſich eine Macht den Bürgerlichen gegenüber an, welche zugleid; die Macht: 


vollfommenbeit des Adels fchmälertee Nur durch folche ftaatlicyen WUebergriffe wurde 


eine Stagnirung des Aderbetrichbes möglich, wie wir fle u. A. in ganz Deutjchland 
während des vorigen Jahrhunderts und bis zum Beginn des gegenwärtigen erbliden, 
und der dann nur naturgemäß an vielen Orten ein anderer eben fo gewaltfamer Eins 
griff durch Geſetze“ folgte, Die immerhin für die Bevölferung, wie für den Aderbau 
ſelbſt, mwohltbätig wirkten, indeß Doch eine arge Verlegung des Rechtes und Eigen: 
thums eines Standes in ſich fehloffen. (Näheres f. in den Artikeln Agrargejehgebung 
und Agrarverfaflung und in der Gefchichte der einzelnen deutſchen Länder.) 

Das Wort „Acker“ ift zwar von dem lateinifchen ager ‚abzuleiten, bat aber 
eine viel begrängtere Gültigkeit als, Diefes, denn während ager mit „Land“ gleich— 
bedeutend ift, ift Adler nur ein Theil der Feldflur, und zwar der Theil derfelben, auf 
welchem dev Pflug geht und, ver zur Hervorbringung von Feldeulturpflanzen beftimmt 
if. Es wird daher der Acer von den Gärten, den Wiefen, der Weide, dem Walde 
unterfchieden und ihnen entgegengefegt. (Näheres darüber f. in den folg. Art.) 

Mit dem Worte Ader wird auch in einzelnen Gegenden ein Feldmaß — Worgen, 
Joch, Tagewerf u. f. w. von wechſelnder Größe beſtimmt. 

Aderbau. ( Volkswirthſchaft.) Das Wort „Ackerbau“ wird in weiterer 
und engeter Bedeutung gebraucht. Im weitern Sinne ift Ackerbau gleichbeveutend mit 
Landwirthſchaft. Aber die Bezeichnung Pandwirthichaft felbft umfaßt wieder bald 
einen weitern, bald einen engern Kreis von Befchäftigungen. Im weiteften Sinne umfaßt 
die Landwirthfchaft Die gefammte wirtbfchaftliche Bodenbenugung, im engern Sinne wird 
Forſtwirthſchaft und Gärtnerei nicht zur Landwirthſchaft gerechnet, fondern diefelbe auf Die 
wirthfchaftliche Benugung der Feldflur für Pflanzengewinnung und Viehzucht befchränft. 
In diefer engern Bedeutung nun ift der Aderbau, im weitern Sinne des Wortes, mit 
der Landwirthſchaft gleichbedeutend; denn mit dem Worte „Ackerbau“ die gefammie 
Nohpropduftion zu bezeichnen tft eine Eigenthümlichkeit des phyſtokratiſchen Syſtems 
gewefen und geblieben. Im engern Einne verfteht man unter Aderbau die Benutzung 
des Aderlandes zum Pflanzenbau. In der That ift num dieſe auch die Grundlage der 
Landwirthſchaft. Die Viehzucht kann befteben ohne Ackerbau, wogegen Ackerbau ohne 
Viehzucht oder wenigſtens ohne Viehhaltung nur in Ausnahmefällen ftattfindet; denn 
die Arbeitötheilung bis zu dem Grade getrieben, daß die Aderbausiinternehmung fremde 
Hand- und Spanndienfte benußt, ift ald Regel unvortheilhaft. Die Viehzucht und 
Viehhaltung muß deswegen mit dem Ackerbau verbunden jein, menn dieſer gedeihen und 
dem Unternehmer wie der Nation die Vortheile gewähren foll, welche er zu gewähren 
im Stande ift. | ’ 

1) Der „Eapitalprofit” englifcher Aderpächter wird, je nad) der Graffchaft, in der fie wohnen, 
auf 10-15 Ps. angegeben. 








Aderban. | | 243 


Die nächfte Bedeutung des Aderbaues liegt nun barin, daß wir durch denſelben 
in einer vegelmäßigen und zulänglichen Weife mit den Stoffen für Nahrung und Klei⸗ 
dung verforgt werden. Da nun bie Befriedigung der Nahrungd= und Kleidungsbe⸗ 
bürfniffe die Bedingung für jede weitere Ihätigkeit des Menfchen tft, fo wird der Ader- 
bau dadurch, daß er die Mittel zu einer regelmäßigen und zulänglichen Be 
friedigung dieſer Bedürfniſſe gewährt, die Grundlage, nicht nur der Wirthfchaft, ſondern 
des ganzen ſocialen Lebens. 

Der Aderbau giebt und nämlich nicht bloß die Stoffe zur Nahrung und Klei⸗ 
dung, ſondern indem der Menſch gelernt bat, durch den Ackerbau die Natur zu nöthigen, 
Diejenigen Producte bervorzubringen, welche zur Befriedigung feiner Bebürfniffe tauglich 
find, dieſe ſtatt folcher, welche ihm diefen Nugen nicht gewähren, indem er alſo da, 
wo zuvor die Natur Waldbaͤume erzeugte und Raubthiere unterhielt, ‚Getreide pflanzt 
und Hausthiere nährt, ift er nicht mehr angewiefen, bloß zu fammeln, was die Natur 
hier ober dort von felbit hervorgebracht hat, er ift nicht beſchraͤnkt auf dad Maaß, wel- 
ches fo der Zufall ihm beftinnmt, fondern er pflanzt nach Maßgabe feiner Bebürfnifie 
und er pflanzt regelmäßig jedes Jahr, was er zur Befriedigung feiner Bebürfniffe nöthig 
bat. Allervings wird der Ertrag des Nderbaued durch die Bruchtbarkeit des Jahres 
bedingt. Die Aderbaupropucte und namentlich das wichtigfte von allen, das Getreide, 
haben aber die wefentliche Cigenfchaft, daß fie, ohne zu verderben, eine Reihe von Jah» 
ren aufbewahrt werden können, fo daß der Segen des fruchtbaren zur Dedung des 
Ausfalles der Fehljahre aufgefpart werden fann. 

Diefe allgemeinwirtbfchaftliche Bedeutung des Aderbaues tritt in verftärktem Maaße 
hervor, wenn man ihn mit Rückſicht auf die, Wirthfchaft -einer Nation in's Auge faßt. 
Kein großed Vollk kann beftehen ohne den weientlichften Theil feines Bedarfs an Ader- 
bauprobueten felbft zu erzeugen. ine Stabs over ein Heiner Landſtrich, wie Phönizien, 
kann für Gewerbebetrieb und Handel fo günftig gelegen fein, daß es ohne weientlichen 
Nachtheil die Rohſtoffe für ſeine Nahrung und Kleidung vom Auslande beziehen kann, 
für ein großes Volk aber würde der Bezug dieſer Gegenſtände aus dem Auslande ſo 
koſtſpielig werben, daß es ein Land, in Dem es ſich mit dieſen Gegenfländen nicht ver⸗ 
forgem Fünnte, aufgeben müßte. Der Austaufch derartiger Producte zwifchen großen 
Völkern kann daher nur ald Grgänzung des eigenen Erzeugniffed dienen. 

In derfelben Rage, in welcher fh Die Völker ſtets befinden, befindet ſich, ſo lange 
die Naturalwirthſchaft dauert, und alſo der Handel nur die Ergänzung des eigenen Er⸗ 
zeugnifles gewährt, die einzelne Familie Im Mittelalter Eonnte daher ald wirthfchaft 
lich ſelbſtſtaͤndig nur der gelten, welcher einen hinreichenden Grundbeſitz Hatte, um nicht 
nur die nöthigen Stoffe für Nahrung und Kleidung felbft zu gewinnen, fondern auch 
um die nöthigen Leute zur Berarbeitung diejer Stoffe im eigenen Haufe zu unterhalten. 
Die Freiheit und politifche Berechtigung war daher an den großen Grundbeſttz gefnüpft. 
Der Eleine Grundbeflger ftand in Schußverhältniffen, diejenigen, welche feinen Grund⸗ 
beflg batten, waren Xeibeigene oder Sklaven. 

Der Aderbau bat aber nicht bloß eine wirthichaftliche, er hat zugleich eine fittliche 
and politifche Bedeutung. Die Producte des Ackerbaues werden nur gewonnen im 
Kampfe mit der Natur. Der Landwirt muß auf den großen Gang ihrer Geſetze 
ununterbrochen aufmerkſam fein. Dadurch bleibt ihm eines Theils die mächtige Sand, 
welche alles Irdiſche lenkt, ftets fichtbar, und erfüllt fein Gemüth mit Demuth, wäh 
rend andern Theild er mit feinem Verſtande eine Mannigfaltigkeit von Verhaͤltniſſen 
umfafien und auf ein Ziel Ienfen muß. „Das Gejchäft des Landwirths befteht nicht 
aus Bruchſtücken, fondern aus ineinandergreifenden Ringen, welche zufammen eine Kette 
bilden, die das Waffer ununterbrochen aus der Tiefe zu fördern bat." (Schwerz.) 
Dem Landmann fehlt e8 daher an dem, was man gejunden Menfchenverfland nennt, 
in der Hegel nicht, während der Gemwerbetrieb jehr oft Einfeitigkeit erzeugt. Zugleich 
bärten die landwirthfchaftlichen Befchäftigungen den Körper ab, jo daß ber Soldat, 
welcher am beften im Stande ift, Strapazen zu ertragen, gewöhnlich aus der Aderbau 
treibenden Bevölkerung hervorgeht. , 

Auch vom Staate felbft kann man fagen, daß der Aderbau feine Wurzel bilde, 
denn erfi wenn der Aderbau beginnt, werden die Völker ſeßhaft und machen einen 

16 * 





241 | Aderban. 


Staat, ein ſtehendes Gemeinweſen aud; denn nunmehr ift es nicht mehr mög- 
lich, dem andringenden Feind zu weichen, fondern man muß ihm Stand halten und 
ihn zurüchverfen; man Eann ſich bei Streitigkeiten im Innern nicht mehr trennen, wie 
Abraham ſich von Lot trennte. Es müſſen nunmehr Anftalten zur. Bertheidigung nad) 
außen, zum Schuge des Rechtes und zur Erhaltung des Friedens im Innern gemadht, 
überhaupt eine öffentliche Ordnung begründet werben. 

Damit nun der Aderbau den mannichfaltigen Zweden genüge, welchen er zu 
dienen beftingmt ift, ift es vor allen Dingen nothwenbig, daß er mit Intelligenz 
betrieben werde. So lange der Aderbau Feine andere Beſtimmung hat, ald die Aderbau 
treibende Famtlie ſelbſt mit Rohftoffen für Nahrung und Kleidung zu verforgen, und 
nur dad eine oder dad andere Product zu Gelde gemacht wird, um damit die Steuern 
zu bezahlen und einige Rurusgegenftände einzufaufen, jo lange ift e8 möglich, den 
Aderbau mit den von Alters her üblichen Handgriffen und den bei Ausübung der 
felben gewonnenen Erfahrungen zu betreiben. enn es fidy aber darum handelt, ein 
großes Volk mit Aderbauproducten zu verforgen, von deſſen Gliedern ſich nur ein. 
Theil mit deren Gewinnung befcyäftigen Fann, wenn neben den Aderbau techniſche 
Gewerbe und Handel, Kunſt und Wiffenfchaft zur "Ausbildung kommen follen, wenn 
ein mächtiged Staatöwefen große Hülfsmittel und viele perfönliche Kräfte in Anſpruch 
nimmt, dann wird der Uderbau zu einer Kunft und einer Wilfenfchaft, und kann nur 
von denen mit Vortheil betrichen werden, welche im Stande find, fich in den Beilg 
dieſer Kunft und Wiffenfchaft zu feßen. Die Kenntniſſe nun, welche der Landwirth 
befigen muß, um den Aderbau' mit Vortheil zu betreiben, find Yon Dreierlei Art, naͤmlich 

1. naturwiffenfhaftlide Da nämlid die Landwirthſchaft es mit der 
Gersinnung von Gegenftänden und Kräften der Natur zu thun hat, um biefelben zur 
Befriedigung menfchlicher Bedürfniſſe zu benugen, fo kann nur der fie betreiben, weldyer 
die Gefege der Natur Eennt, welche in der Landwirtbichaft zur Anwendung kommen. 
Es ift aber freilich nicht bloß eine theoretifche, fondern auch eine practifche Kenntniß dieſer 
Geſetze erforderlich, un die Landwirthſchaft mit Vortheil zu betreiben; denn der Yands 
wirth muß nicht bloß wiſſen, welches die Bedingungen für das Gedeihen der Prlanzen 
und Thiere find, fondern er muß aud im Stande fein, Diefe Bedingungen herbeizu⸗ 
ſchaffen. Dieſe Kenntniſſe machen den Inhalt einer Reihe von Wiſſenſchaften auf, 
wel zu Ichren die wefentliche Aufgabe der landwirthſchaftlichen Lehranftalten ift. (©. 
den Art.) | 

2. Wirtbfchaftliche oder, wie man fle gewöhnlich bezeichnet, national- 
dfonomifche. Sie beziehen ſich auf die zwedmäßige Anwendung von. Capital und 
‚Arbeit, um den Aderbau mit Gewinn zu betreiben. Es it nämlich nicht genug, daß 
der Landwirth überhaupt Ackerbauproducte hervorbringe, jondern feine Wirthichaft muß 
eines Theils eine nachhaltige fein, andern Theild muß der Ertrag des. Ackerbaues mit 
den gemachten Auslagen in einem folchen Verhältniſſe ftehen, daß, die Nachhaltigkeit 
vorausgefeht, der Ueberſchuß über Die Auslagen der möglichft größte if. Man hat 
zwar behauptet, daß es in der Landwirthſchaft viel mehr auf den Rohertrag, ald auf 
den Neinertrag anfomme. Offenbar bat man ſich aber dabei, durch das Wort Rein 
ertrag in die Irre führen laſſen, indem man daſſelbe mit Geiverlös gleichbedeutend 
ſetzte. Verſteht man aber unter Heinertrag die Quantität von Ackerbauproducten, 
welche dem Landwirth, nady Abzug aller Auslagen, um den Ader in nachhaltiger Tray 
fähigkeit zu erhalten, zur freien Verfügung bleiben, fei e8 nun, um fle in feinem Haus⸗ 
halte zu verwenden, oder im Außdtaufche zu verwertben, fo kann es feinem Zweifel 
unterliegen, daß dieß das Ziel des Ackerbaues wie jeder anderen wirthfchaftlichen 
Ihätigfeit fein muß. Diefe Kenntniffe werden aus der allgemeinen Wirtbf hafte- 
lehre oder Nationalökonomie gefchöpft. Sie pflegen aber mit Rückficht auf die 
Bebürfniffe der Landwirthſchaft zu einer befondern Willenfchaft, der „Ianbwirtb- 
fchaftliden Betriebslehre“ verarbeitet zu werden. . 

3. Ethifche und anthropologifche. Der Landwirt bat es nit bloß 
mit Gegenſtaͤnden und Kräften der Natur, nicht bloß mit Vorräthen und Maſchinen, 
er bat es vorzüglich auch mit Menfchen zu thun, deren Neigungen und Abneigungen 
beftinmt, deren geiftige und Förperliche Kräfte benußt werden follen. Er muß ſich alſo 


‘ 











Aderbau. 245 


auch mit ber feineren und ſchwierigen Kunft Menfchen zu regieren befaflen. Diefe 
Kunft aber hat zu ihrer Grundlage die Kenntniß der menfchlichen Natur (Anthropo- 
logie) und zu ihrem Maße Die Religion und, Sittenlehre. Nicht bloß a 
zu gebrauchen und aus ihren Fähigkeiten und Leitungen Vortheil zu ziehen, 

die Aufgabe, ſondern, wie in allen andern Verhältniſſen, jo muß auch in der Wirth. 
ichaft die Religion den Ausgangspunkt und das Ziel aller menſchlichen Beftrebungen 
bilden. 

- Ale den zweiten Grundbeſtandtheil eines zweckentſprechenden Betriebes des Acker⸗ 
baues kann man dad Capital betrachten, worunter wir bier aber nicht bloß dad 
Geldeapital verflehen, mie dieß im gemeinen Leben in der Regel der Ball ift, fondern 
im Sinne der Wiſſenſchaft alle diejenigen Producte mwirthfchaftlicher Thätigkeit, welche 
zur Reproduction, bier alfo zur Erzeugung von Nderbauproducten verwendet werben. 
Die früheren Nationalofonomen betrachteten ald einen der thätigen Hauptfactoren beim 
Ackerbau und überhaupt bei der Rohfloffgewinnung die Natur. Sie Iehrten, daß beim 
Aderbau die Natur mit dem Menfchen mitarbeite und daß folglid der Aderbauer 
in feinem Grzeugniffe nicht bloß die Frucht feiner Arbeit und feines Capitales, fondern 
auch Die Frucht der Naturihätigkeit zu Markte bringe und fich bezahlen laffe. Bei der 
Erzeugung. von Aderbauprobucten babe man alſo einen Ueberjchuß, welchen Fein anderes 
Gewerbe gewähre. Diefen Ueberſchuß bezeichneten fie dann ald die Grundrente, 
welche ſie folglich nicht als eine Frucht menfchlicher Thätigkeit, fondern als eine Frucht 
der Naturmwirkung betrachteten. Hiernach erjchienen denn die Grundbeflter als Mono⸗ 
poliften, welche nach dem Ausdrude Adam Smith’ ernteten, wo fie nicht gefäet bät- 
ten, und die Socialiften und Communiſten hielten ed deswegen für ihre Aufgabe, diefes 
Monopol abzufchaffen und glaubten fich darum zu einer neuen Organifation ver Geſell⸗ 
ſchaft berechtigt. - 

Diefer irrigen Lehre von der activen Mitwirkung der Natur bei der Hervorbrin⸗ 
gung der wirthſchaftlichen Güter ſind aber in der letzten Zeit mehrere Wirthſchaftslehrer 
mit Entſchiedenheit entgegengetreten, namentlich F. G. Schulze (National⸗Oekonomie 
6 145), 2. Stein (Lehrbuh der” Volkswirthſchaft S. 20, 21), I. C. Glaſer 
(Allgemeine Wirthichaftölehre "oder National» Defongmie $ 10). Die Natur giebt in 
der Wirtbfchaft nur den allerdings mit mannichfaltigen Kräften gefchmängerten Stoff, 
die Aufgabe ded Menfchen bleibt ed aber auf allen Stufen wirthſchaftlicher Entwicke⸗ 
lung und in allen Zweigen wirthſchaftlicher Thätigkeit dieſen Stoff in die Gewalt des 
Menfchen zu bringen und zu den mannichfaltigen Zweden deſſelben tauglich zu machen. 
In diefer Aneignung, Zauglihmachung der Gegenſtaͤnde und Kräfte der Natur be⸗ 
jteht die Production. Sie fegt daher die Natur mit ihren Gegenftänden und Kräften 
ald das Object, worauf fle gerichtet ift, voraus, fie felbft aber beftebt weſentlich in 
der Verwendung von perfünlichen Kräften und Capital, um jene Aneignung und Taugs 
lichmachung zu bewirken. 

Zur Erzeugung von Aderbauprobucten ift daher außer der Intelligenz und Körpers 
Anftrengung, als welche die perfönlicden Elemente derſelben bilden, ein umfaſſendes 
GEapital erforderlich. Daffelbe ift theils Naturalcapital und beſteht in Wirth- 
ſchaftsproducten allen Art, theils ift es Geldcapital. . Der Betrieb des Aderbaues 
erfordest aber ein verhältnifmäßig großes Capital; denn abgejehen davon, daß ſchon 
an ſich zur Errichtung der Gebäude, zur Ausführung der Eultur» und Meliorationde 
Arbeiten, zur Anfchafjung des Inventard an Vieh und Aderwerkzeugen ſehr bedeutende 
Summen erforderlich find, fo wird inöbefofdere dem Landwirth ſelten ſein ausgelegtes 
Gapital, in kurzen Zeitfriften, mit Gewinn zurüderftattet. Ein großer Theil feiner 
Anlagen rentirt erſt nach einer längeren Reihe von Jahren. Der Ertrag des dere. 
baues ift ferner keinesweges in ben einzelnen Jahren ein gleichmäßiger, vielmehr fols 
gen oft miehrere gute oder fchlechte Ernten Hinter einander. Der Landwirth muß alfo 
in der Zwifchenzeit die Mittel beflgen, nicht nur die Ausgaben feines Haushalts zu 
befireiten, fondern auch die zum Betriebe feiner Wirthfchaft nöthigen Auslagen zu 
machen. Nur wohlhabende Landwirthe find baber im Stande, einen blühenden Aderbau 
bervorzurufen, während ber mittellofe Baner fein Feld in demſelben wittellofen Zuftand 
benugt, in dem er ſich jelbft befindet. \ 








Der dritte. Factor, welcher zu einem erfolgreichen Betriebe des Aderbaues nicht 
entbehrt werden Eann, ift ein Stand von tüchtigen landwirtbfchaftlichen Arbeitern. Die 
Handgriffe, welche beim Aderbau angewandt werden, jind allerdings nicht fchwierig, 
doch wollen auch fie erlernt und geübt fein. Die Fähigkeit, Diefe zu verrichten, iſt es 
aber auch keinesweges allein, welche beim landmwirtbichaftlichen Arbeiter in Betracht 
fommt. Der landwirtbichaftliche Arbeiter muß nicht nur arbeiten, er muß auch Wind 
und Wetter ertragen Fönnen, und vor allen Dingen, er muß recdhtfchaffen und zuver- 
läffig fein, dag man ihm die Arbeit anvertrauen Fann. Die befte Aufficht kann nicht 
verhüten, daß hier und da fhlechte Arbeit gemacht wird, und wo ſte gemacht ift, läpt 
fie fi nicht immer entdeden, oder wo man fie entdeckt bat, verbefiern. Dazu Tommt, 
daß Die landwirthfchaftlicden Arbeiten fich fehr nach den eigenthümlichen Berhältnifien 
des Bodens richten und denjelben angepaßt fein müflen. Diefe Eigenthümlichkeiten 
lernt man aber nicht in wenigen Tagen, fondern nur in einer längeren Reihe von 
Jahren Eennen. Der gebeihliche Betrieb des Aderbaued erfordert daher einen Stand 
von Ürbeitern, welche der Gegend, mo fie benutzt werden follen, dauernd angehören. 
Nur für Ernte» Arbeiten und ähnliche gleichförmige Verrichtungen laßt ſich davon eine 
Ausnahme machen. Ä \ 

Damit dem Ackerbau Intelligenz, Gapital und Arbeitskraft in erforderlichem 
Maße zugewendet werben, find Privatbemühungen nicht ausreichend, fondern der Staat 
muß ihnen zu Hülfe kommen. Dieje Hülfe kann er aber nad drei Rückſichten ge 
währen, nämlich | 

1) durch eine taugliche Agrarverfafjfung und Ugrargefeggebung. 
Durch fie werden die Beflg- und Benugungsverhältniffe an Grund und Boden geregelt. 
Bon ihnen hängt es daher weientlich ab, ob der Grund und Boden in den Händen 
fpeeulicender Geldleute ift, welche ununterbrochen auf die Gelegenheit warten, wo fe 
denfelben mit Vortheil verkaufen fünnen und dann'neue Grundſtücke erwerben, mit 
denen fle daffelbe thun, ober ob es einen Stand von Grundbeſitzern giebt, welche durch 
ftete Verbefferungen ihres Beſitzes darin die Grundlage für die Dauer ihrer Familie 
und ihre Stammes fuchen. Durch file wirb bebingt, ob das Land in zufamımen- 
hängenden Gütern oder in gejondberten Parcellen, ob ed von reichen Gutöbejtgern und 
wohlhabenden Pächtern und Bauern oder von ohnmächtigen Halbbauern und ſchmach⸗ 
tenden, dafjelbe nur mit ihrem Schweiße düngenden Handwirthen bewirthfchaftet wird. 
Mau fehe hierüber die Art. Agrarverfaffung und Agrargeiekgebung. 

2) Durch Hervorrufung und Beförderung folher Anftalten und Einrichtungen, 
welche die Kräfte der Einzelnen überfleigen und geeignet find, für die Geſammtheit 
Nugen zu fchaffen. Dahin gehört die Gründung von Aderbaufchulen und landwirth⸗ 
Schaftlihen Akademien, die Förderung des landwirthſchaftlichen Verſicherungsweſens und 
der Uderbau = Gefellichaften, die Gründung und Förderung von landwirthſchaftlichen 
Greditanftalten, von vorforglichen Anftalten für den ländlichen Arbeiterftand. (Siehe 
die betreffenden Artikel.) | j 

3) Durch Beförderung des Abfages der gewonnenen Produkte. 
Außer guten Wegen, welche die Abfuhr möglich machen, bängt diefer vorzüglid ab 
von der Belebung ber technijcherr Gewerbe, und des Handelsverkehrs. Der Aderbau 
kann für ſich allein nicht gebeihen. Sein Wohl und Wehe ift mit dem Wohl und 
Wehe feiner gewerbtreibenden Mitbürger auf's Engfte verbunden, wie umgekehrt bad 
Gedeihen diefer von dem Gedeihen ber Aderbau treibenden Klaffe abhängig if. Das 
rechtverftandene nachhaltige Intereffe der Induſtrie und der Grundbeſitzer geht Hand 
in Sand. , 

Aderbau (Landwirtbfhaft). Der Aderbau, das ältefte Gewerbe nes Rat 
fchengeichlechtes, hat zum Zweck die Befriedigung der nächften und wefentlichften Lebens⸗ 
bedürfniffe, nämlid; die Hervorbringung der Nahrungsftoffe aus dem Pflanzenreiche. 
Die Pflanzen find die eigentliche und einzige Nahrungsquelle für Thiere und Renſchen. 
Denn wenn auch viele Thiere fich von anderen Thieren nähren, und der Menſch von 
thierifchen und pflanzlichen Subftangen zugleich Iebt, fo ſtammen doch alle thierifchen 
Subflanzen mittelbar aus dem Pflangenreiche, weil nur die Pflanzen bie Fähigkeit beiigen, 
aus den Stoffen der Ieblofen Natur, aus Luft, Wafler und Erde, Die fogen. organiſchen 


* 








Aderbau. Al 


Subflanzen, and denen ſich der thieriſche Körper bereitet, herborzubringen. Andererſeits 
ind auch die Pflanzen in gewiffem Grade abhängig von dem Dafein der Thiere, ihr 
Wachsthum wird befürbert durch die von den Thieren abgefchiedenen Stoffe; deshalb und 
weil der Menfch auch thierifcher Subftanzen (wenn auch nicht mit gleicher Nothwendigkeit) 
bedarf, macht derſelbe zugleich gewiſſe Thiere zum Gegenftand feiner Zucht und Pflege. 
Zwifchen Thier⸗ und Pflanzen-Eultur findet eine innige Wechfelbeziehung ftatt, und bie 
Berbindung beider ift der Gegenſtand der Landwirthſchaft im weiteren Sinne; die 
Grundlage derfelben bleibt aber diejenige Thätigkeit, wodurch vermittelft der Pilanzen dem 
Boden und ber Luft die Nahrungsfloffe abgewonnen werden: der Ackerbau oder die 
A gricultur, deren practiſche und theoretifche Ausbildung in dem Verhaͤltniß zu⸗ 
nimmt, je mehr einerjeits die Bebürfniffe des Menſchengeſchlechts ſich fleigern, und je 
weiter andrerſeits die Einficht in die Natur Der Dinge fortfchreitet. ’ 

Zwar bringt die Erde die zur Ernährung der Menfchen und Thiere dienenden 
Gewächſe freiwillig, auch ohne das Eingreifen und Die, Beihülfe des Menfchen hervor. 
Seit dem Berluft ded Paradieſes war man indeß darauf angewieſen, gewiſſe Pflanzen, 
welche ſich vorzugsweiſe als Nahrungsquelle eignen, auszuwählen, und anſtatt ihres 
zerſtreuten Vorkommens in der freien Natur, auf einer Strecke Landes als ausſchließ⸗ 
liche Bodenbedeckung zu erziehen. Zugleich werden die meiſten dieſer Culturpflanzen 
fremden Erdſtrichen entlehnt und ihrer natürlichen Heimath entzogen und gezwungen, 
unter einem anderen Clima zu wachſen. Ueberdieß bringt der künſtliche Anbau eine 
Reihe von wichtigen Veränderungen, insbeſondere die wiederholte Bearbeitung und 
Bloßlegung des Bodens mit ſich, wodurch derſelbe feiner fchügenden und dad Wachs⸗ 
thum befördernden wilden Pflanzenbedeckung beraubt und der austrocknenden und aus⸗ 
laugenden Einwirkung der Luft und des Waſſers preißgegeben wird; insbeſondere wer⸗ 
den durch den Verbrauch der Pflanzen dem Boden’ die zur Ernährung derfelben noth⸗ 
mwendigen Stoffe entzogen. Doch dad mit dem befonderen Zweck zufammenhängende 
Abweichen von den freiwilligen Wegen der Natur rächt fi durch eine Abnahme der 
Fruchtbarkeit, und die Wirkung der: ' Pflanzencultur äußert ſich zunächſt nicht fomohl 
in einer Unterflügung, jondern in einer Störung der nahrungfpendenden Mutter Erbe. 
Die zweite Aufgabe der Pflanzencultur ift Daher vorzugsweife dahin gerichtet, Diele 
Nachtheile wieder gut zu machen. Hierzu kommt aber, daß der Zweck der Cultur nicht 
blog darin beftebt, gewiſſe Pflanzen in größerer Menge nebeneinander zu ziehen und 
yur normalen fräftigen Entwidelung zu bringen, jondern außerdem die Nabrhafligkeit 
derfelben in einen Grade zu fleigern, wie ed der Natur jelbft nicht möglich ifl. Die 
Pflanzen, welche wir cultiviren, find zwar von der Natur gegeben und bewahren auch 
biß zu einer gewiffen Grenze ihre natürliche Befchaffenbeit; indeß haben dieſelben Doch 
zugleich wichtige Veränderungen erlitten, fie find durch die Darbietung künſtlicher und 
willkürlicher Eben bb gungen in ihrer inneren Harmonie geftört, entartet. Vor⸗ 
zugsmeife und zunächft bezieht fich dieſe Entartung auf eine Störung bed chemifchen 
Gleichgewichts, indem gewiſſe Stoffe, und zwar gerade die zur Emährung der Thiere 
und Menichen, wefentlichen auf eine unnatürliche Weife gefteigert werben, 3. B. das 
Stärfmebl in der Kartoffel mit ihren von Natur keineswegs mehligen Knollen, der 
Zuder und Pectin in der von Natur holzigen Möhre. Andrerfeitd werben gewille 
Drgane der Pflanze, und zwar vorzugsweiſe die, weldhe der Sig der Nabrungdftoffe 
find, wie die Knolle der Kartoffel, die Wurzel der -Möhre und Rübe, der Stengel der 
Runkelrübe, die Blätter bei den Koblarten, die Frucht bei ven Obflarten, die Samen 
bei dem Getreide und den Delpflanzen, auf unnatürliche Weife vergrößert und in ihrer 
äußern Form verändert. Hierher gehören auch die gefüllten Blumen unferer Zier- 
gewaͤchſe. Zu diefem Zwed bedarf ed wiederum bejonderer Mittel in der Behandlung 
und Ernährung der Gewächſe. Die Gulturgereächje find Spielarten von urfprüng- 
lih wildwachfenden Arten, und bis zu einem gewiffen Grade nichts anderes ald Kunſt⸗ 
product. Die ETünftlihe Erzeugung neuer vortheilbafter Spielarten ift 
eine Hauptaufgabe der Agricultur. Daneben gebt eine andere ber: die Auswahl 
der zur Qultur geeigneten Pflanzenarten. “Denn unter ben 100,000 wild⸗ 
wachfenden Pflanzenarten ift e8 doch nur eine fehr befchränkte Zahl folcher, welche eine 
derartige Biegſamkeit befigen, wm ſich zu den nüslichen Spielarten erzieben zu lafjen, 





—8 


248 Aderban. , 


Diefe gehören vorzugsweife folgenden Familien an: Gräfer (Betreidearten), Palmen 
(3. B. Kofospalme ꝛc.), Piſanggewaͤchſe (Banane), Orneeiferen (3. 3. Koblarten, Rübe, 
Raps), Chenopodiceen (3. B. Spinat), Spleneen (3. B. Kartoffel), Bapilianeceen 
(Hülfenfrüchte, Klee) u. f. w. Jedem Volk oder’ jedem Laͤnderſtrich gehört die eine 
oder andere Eulturpflanze eigentbümlic an (3. B. die Kohlarten in Europa, ber Thee⸗ 
ftrauh in China, die Kofospalme, Banane und der Brodfruchtbaun in den Ländern 
‘der Tropen), weshalb die Agrieultur bei jedem Volk eine andere Geftalt annimmt. Es 
ift bemerfenswerth, daß diefe wenigen @ulturpflanzen fat fämmtlidy von Alters ber in 
Gebrauch waren, und dem Menfchengeichlecht, wie Die Sagen aller Völker bezeugen, 
von der Gottheit verliehen find, fo Daß menfchliches Nachdenken und VBerfuche nur 
wenig haben hiezu thun können. Gleichwohl bleibt es eine berechtigte Aufgabe, den 
Vorrath der Eulturpflanzen aus der Menge der wilden. zu bereichern zu fuchen und 
wäre es auch nur die Einführung der in verfchiedenen Xändern bereits cultivirten Arten 
in andere Gegenden und die Ermittelung, unter welchen Umftänden und Beringungen 
dieſes möglich if. (S. d. Art. Acelimatiiation.) 

3Zweck des Aderbaues ift von jeher gewefen und wird in alle Zukunft Fein ande 
rer fein, als dem Boden mit möglichft geringem Aufwande einen möglichit reichen 
Ertrag von Nahrungsftoffen in den @ulturpflanzen abzugewinnen. Die Art und Weife, 
wie diefer Zweck erftrebt wird, ift im verfchiedenen Ländern und in verfchievenen Zeiten 
ſehr ungleid. Ganz befonders ift mit dem jebigen Jahrhundert der Aderbau in ein 
neues Stadium getreten. Neue Seiten, nene Bragen haben fi eröffnet. Während 
man ſich biß dahin faft ganz Durch den Inftinft und Die fuhjertive Erfahrung und Die 
daraus abgeleiteten Regeln leiten ließ, drängt fich etwa feit dem Anfang dieſes Jahr 
bundert3 die Natumwiffenfchaft auch in dieſes Gebiet ein, um auch bier ihre ftrenge 
Unterfuchungsmethode und ihr Streben nach objectiven Wahrheiten auszuüben, und 
verfprach dafür neue Mittel, den Zweck der Pflanzencultur in höherem Maße zu er- 
reihen. Es ift gamz befonders dad Berhältnig der Natunviffenfchaft zum Aderbau, 
wodurd die Krifls, in welcher ſich dieſer Gewerbszweig noch heute befindet, veranlaßt 
wird. Auf der einen Seite trifft die Anerkennung der Bedeutung der Naturwiſſenſchaft 
überhaupt noch bei Einzelnen auf Widerftand, bei Solchen, welche zufrieden mit den 
won ihren Vorfahren erzielten Erfolgen, unbefümmert um die Vorſtellungen der Ges 
lehrten, lieber ihren ftillen, fleißigen und befcheidenen Weg fortgehen; — auf der an⸗ 
deren Seite find es Mißverftändniffe, melche fich dem vollen Einfluß der Naturwiſſen⸗ 
ihaft entgegenftellen, Mißverſtändniſſe 3. B. als beſtehe ein Gegenſatz zwifchen Der 
Wiffenfchaft und Erfahrung, während doc gerade diejenige Wiffenjchaft, um deren 
Einführung es fich handelt, felbft wie Feine andere, auf Erfahrung gegründet ift und 
mir infofern Anſpruch auf Beachtung machen Tann. Es kommt nur darauf an, ob die 
Erfahrung in vereinzelten von Vorurtheil beherrfchten fubjectiven Wahrnehmungen 
beftehen, oder ob fie mit Verſtand, d. h. mit Methode und mit dem Anfprud auf alle 
gemeine Anerkennung gemacht werden und nad) den Geſetzen des Denkens in Zuſam⸗ 
menbang gebracht werden fol. Nur dann, wenn die Erfahrung zur Theorie führt 
und auf diefer theoretifchen Grundlage neue Erfahrungen aufgebaut werben, Tann von 
einer verftändigen Erfahrung die Rede fein. In Wahrheit bat jeder Einzelne dieſes 
Streben nach Theorie und nach der Einſicht in die Gründe der Erſcheinungen; aber 
die Wiſſenſchaft allein führt zur richtigen Erkenntniß dieſer Gründe und von den Re⸗— 
gen zu Geſetzen. — Auch das ift ein Mißverftänpniß, wenn man einen Widerfprudy 
zwifchen Theorie und Praxis findet; denn Die Theorie will fich ja nicht von Dem 
prattifchen Zweck des Ackerbaues loslöfen, fondern will demfelben dienen. Und wenn 
von den Gelehrten in Laboratoriun und Stubirftube Theorien gemacht werben, ſo 
verkennen fle nicht, daß die Anwendung berjelben auf den befonderen Fall lediglich 
dem Practifer obliegt. Auch ift nicht zu leugnen, daß eine Menge von Fragen einft- 
weilen und für lange Zeit fih dem tbeoretifchen Berftändniß entziehen, wo denn der 
Tact und dad practifche Gefühl und Geſchick vorerft allein berechtigt find. Nichts deſto 
weniger bleibt dad Ziel der Agricultur eine vollftändige Durchbringung von der Natur- 
wiſſenſchaft. Die letztere Ichrt den Landwirth übrigeng nicht feinen Zweck erreichen 
(man hat Korn gezogen lange ehe man an die Willenjchaft Dachte), aber fie lehrt, den 





Aderbm. 219 


Zweck leichter und beſſer zu erreichen. Die Berechtigung der Naturwiſſenſchaft in der 
Agricultur iſt einfach darin begründet, daß die Culturpflanzen in ihrem Leben und Ge⸗ 
deihen den Geſetzen der Natur folgen und von den natürlichen Bedingungen abhängig 
. find; es Handelt fich bier wie in aller Naturwiſſenſchaft um die Erfenntniß von Urſache 
und Wirkung, und diefe Erkenntniß giebt die Miltel an die Sand, gewiffe beabfichtigte 
Wirkungen mit Sicherheit. zu erreichen. Es wird vielleicht einft dahin kommen, daß 
der Uderbau nicht mehr das Tagewerk des müheliebenden Adermanns, fondern Ihig- 
lih ein wiſſenſchaftliches Problem ift: man gebe der Willfenfchaft den Boden und das 
Klima und fie wird genau jagen, wie auf die leichtefte und ſicherſte Weije der größte 
Ertrag von Nahrungsftoffen zu gewinnen ifl. — Zunaͤchſt aber wird ſich der heilfame 
-&influß der Naturwiffenfchaft auf die Landwirthſchaft darin geltend zu machen haben, 
daß an die Stelle fubjectiver Anftchten Durch Anwendung der allein berechtigten Unter- 
ſuchungsmethoden allgemein gültige Erfahrungsgefege, — an die Stelle aller jener 
unbeftimnten Auffaffungen von Wehr oder Weniger durch firengen Gebrauch von Maaß, 
Zahl und Gewicht ganz beftimmte Ausprüde treten, — daß alfe unklaren Vorftellun- 
gen von fettem und magerm, ſchwerem und leichtem, trägem und bigigem, fruchtbarem 
und unfruchtbarem Boden, von Bereicherung, Schonung und Berarmung u. f. w. in 
klare und deutliche Begriffe, verwandelt werden, — daß alle Vorurtheile befeitigt und 
die durch practifhen Bid und Geſchick bereits gewonnenen Grundfäge und Methoden 
erklärt und begründet oder mo fle irrig find, widerlegt werben. Denjenigen Landwirth, 
welcher fich in der Praris durch die Grundfäge und Methode der Willenfchaft leiten 
läßt, nennt man einen rationellen Landwirth, zum Unterfhied von denen, welche 
ſich entweder nur durch Die Gewohnheit beftimmen laffen, oder blindlingd die Grund⸗ 
fäge Anderer wie Necepte befolgen. Die Landwirthſchaft fleht in gleicher Linie mit der . 
Medicin, für welche Niemand beftreitet, daß Der practifche Blick und Tact, die An⸗ 
wendung der Theorie auf den einzelnen Fall die Hauptfache ift, aber -ebenfo wenig 
leugnet, daß jeder Fortſchritt diefer Kunft im Verhältnig fleht zu der Art, wie ſich Die 
Aerzte der wiflenfchaftlichen Erfenntniß von Menſchen und von den Naturfräften be- 
mächtigen und bedienen. 
Der Aderbau von theoretifcher Seite ift Eeine felbfiftändige Wiflenfchaft, ſondern 
ein Theil der angewandten Naturwiffenfchaft; faft alle Zweige der legteren greifen im 
dDiefelbe ein. Denn um Pflanzen zu cultiviven, muß man vor Allem deren Natur, 
ſowohl vie äußeren Unterjcheivungdmerfmale -( Gegenftand der ſyſtematiſchen Boö⸗ 
tanif) ald ihren inneten Ban und chemifche Zufammenjegung, die Art und Weife, 
wie die Stoffe aufgenommen, fortgeleitet und verwandelt werben, d. 5. die Ernährung 
und das Wachsthum, fowie die Bedingungen, an welche das Pflanzenleben genüpft 
ift, kennen (Gegenftand der Pflanzenphyfiologie). Ferner muß der Arerbauer 
die äußeren Berhältniffe, unter welchen er die Pflanzen bauen will, die Temperatur 
der Luft, die chemifche Zufammenfegung der Atmofphäre, Die herrſchenden Winde und 
Die Niederfchläge, die Gewitter und den electriſchen Zuſtand der Luft, d. h. die klima⸗ 
tifchen Verhältniffe feines Ortes beobachten und bedarf dazu einer allgemeinen Bekannt⸗ 
fhaft mit der Meteorologie. 
Sodann iſt die Kenntniß des Bodens nach feiner geognoftifchen Befchaffenheit, 
nach feinen phyſikaliſchen Eigenſchaften und nach feiner chemifchen Zufamnenfegung 
orberlih, und zwar gehört Hierzu ſowohl Die Befanntfchaft mit den allgemeinen 
erhältniffen, als auch die Fähigkeit, die Eigentbümlichkeiten einer jeden befonderen 
Bodenart zu erfennen und zu unterfuchen. Bor Allem kommt ed auf die Beziehung 
der Bebürfnijie und der Natur der Pflanzen zu" den gegebenen VBerhältnifien ded Bodens 
und der Luft an, und darauf, was von Seiten ded Menfchen zu thun ifl, um-bie 
Iegteren den erfleren anzupaflen, und die Bedingungen für das Wachsthum, wenn biejelben 
nicht außreichend vorhanden find, berbeizufchaffen. Zu dem anderen Zweig der Lanb- 
veirtbfchaft, der Ihierzucht, gehört dann in gleicher Weile noch einiges Verſtaͤndniß der 
Zoologie, beſonders der thierifchen Phyſiologie. — Für den Aderbau insbeſondere iſt, 
weil die Ernährung der Pflanzen hauptſächlich in einem chemifchen Prozeß beftebt, und 
weil die Bedingungen bed Bodens vor Allen anf dem Vorhandenſein gemifler ben 
Pflanzen nöthigen: Stoffe beruhen, die Chemie diejenige Naturwiffenfchaft, welche die 





l 


250 Aderban. 


wahre Grundlage für die theoretifche Agricultur bildet und: die Anwendung derfelben 
auf den Nderbau, d. 5. die chemifche Behandlung der beim Ackerbau vorkommenden 
Punkte bildet die „Ackerbau⸗ oder Agriculturchemie*, durch Deren Ausbildung vorzugs- 
weife die Fortfchritte in der neueren Landwirthſchaft beflimmt merben. 

Folgendes find die wichtigften theoretifchen Grundfäge, von denen der rationelle 
Aderbau ausgeht. Ä 

1. Alle Stoffe, aus welchen die Pflanze befteht, muß Diefelbe von Außen in 
irgend einer Verbindung aufnehmen, d. 5. die Elemente ihrer Subſtanz muͤſſen gege⸗ 
ben ſein. 

2. Nur im flüffigen oder gadförmigen Buftande werben Die Stoffe von der Pflanze 
‚aufgenommen, und zwar erjtere vorzugdweije durch die Wurzelfpigen, legtere vorzugs⸗ 
weiſe durch Die Blattoberflähe. 

3. Der Hauptmaffe nach befteht die Pflanze aus folchen organifchen Verbindun⸗ 
gen, welche Kohlenſtoff, Waflerftoff und Sauerftoff enthalten, namlich Zellſtoff, Zucker, 
Dexttin, Del, Stärfentehl ıc., und befonderd die beiden leßtgenannten find es, welchen 
die Pflanzenjubftanz ihre Beveutung ald Nahrungsmittel verdankt... Es ift ald audge- 
macht anzufehen, daß die Pflanzen die hierzu nöthigen Elemente aud der Atmofphäre 
und dem Wafler, nämlich in Geftalt von Kohlenjäure und Wafler aufnehmen. Auch 


- bildet das Waffer als folched einen Hauptbeftandtbeil der Pflanzenmafle. Diefe beiden 


Verbindungen find theild in der Luft, theild in den gemöhnlichen Nieverfchlägen, theild 
im Boden in folder Menge vorhanden, daß ed Feiner fünftlichen Zuführung bebarf, 


“und wenn auch nicht zu leugnen ift, daß eine außgedehntere Darreichung biefer Stoffe bis 


zu einem gewiflen Grade dazu beitragen Tann, das Pflanzenwachstbum zu befördern, 
fo wird doch der Grund von mangelhafter Ausbildung der Gewächſe niemald in einem. 
Mangel jener beiden Berbindungen zu fuchen fein. 

4. Außerdem enthält Die Pflanze noch organische Verbindungen, melche außer 
Kohlenftoff, Waſſerſtoſſ und Sauerftoff noch aus Stickſtoff und zugleich aus Phosphor 
und Schwefel beftehen. Es find Dies die fogenannten Broteinverbinbungen: Kleber, 
Giweißftoff u. f. w. Obgleich diefe nur in verhältnigmäßig geringen Wengen vor- 
handen find, fo fpielen fie Doch eine fehr wichtige Nolle theils im Lebensproceß der 
Pflanze felbft, theils hängt von ihnen noch mehr ald von den obigen die Nahrhaftige 
keit der Pflanzen für Menfchen und Thiere ab. Denn gerade dieſe Verbindungen jind 
e8, aus welchen der thierifche Körper zum größten Theil befteht, und melche ber letztere 
nicht anverd als aud dem Pflanzenreich fich aneignen fann. Die Duelle, aus welder 
die Pflanzen diefe Stoffe, namentlich den Stickſtoff beziehen, find ebenfall8 unorganiſche 
(binäre) Verbindungen, nämlich das Ammoniak und die Salpeterjäure, welche als Pro 
ducte des Lebensproceſſes und der Verweſung organijcher Körper in Luft und Boden 
vorfonmen.. Obgleich dieſe Teßteren niemals in der natürlichen Umgebung der Pflanze 
fehlen, fo ift e8 doch mit Gewißheit anzunehmen, daß durch eine reichlichere Zufuhr 
derfelben die Entwidelung der Pflanze Fünftlich gefteigert werden kann, und dieſe künſt⸗ 
liche Zufuhr bildet deshalb, wie wir unten fehen werben, eind ber wichtigften Mittel 
der Pflanzencultur. 

5) Endlich enthält die Pflanze aber auch eine gewiffe Menge von erdigen 
‚ Beftandtheilen, welche nicht, wie die oben genannten, verbrennlich find, Sondern bei ber 
Verbrennung und Verweſung als Afche zurücdbleiben. So gering auch der Antheil if, 
den dieſe Stoffe der Menge nach an der Zufammenfegung des Pflanzenkörpers nehmen, 
fo ift Doch unzweifelhaft, daß fie für die Entwidelung der Pflanze unbedingt nothwen- 
dig find, Da fie bei Feiner Pflanze fehlen dürfen. Theils dienen fie zur mechanifchen 


—Feſtigkeit des Stengeld, wie die Kiefelerde bei den Gräfern, theils kommen fie aufges 


löft vor und fpielen bei der Ernährung felbft eine wichtige Rolle, indem fie die Bil 
dung gewiſſer Pflanzenftoffe bedingen, wie 3. B. der phosphorfaure Kalk die Bildung 
des Kleberd und anderer Proteinftoffe, die Alkalien vie Bildung von Stärfmehl, 
Zuder u. f. w., das Eifen die Bildung der grünen Farbe. Während die mehr vege- 
tative Entwidelung an Kali, Kalk ıc., ift die Entwidelung der Frucht gebunden an 
die Gegenwart von Schwefelfäure, Phosphorſäure, Thonerde, Natron. Jede Pflanzen- 
art befigt ihre beftimmte Ajchenmenge, und diefe in einer eigentbümlichen Mifchung. 


Aderban, I Lal 


Han unterſcheidet nach den vorwiegenden Aſchenbeſtandtheilen die Culturpflanzen in 
Allalipflanzen (z. B. Kartoffel, Runkel), Kalkpflanzen (z. B. Klee, Erbſen), Kieſel⸗ 
pflanzen (Graͤſer), Phosphorpflanzen (Getreide). Auch find dieſe Stoffe für die Er- 
naͤhrung der Thiere nothwendig, wie 3. 3. der phosphorfaure Kalk für die Entwide- 
lung der Knochen, das Eifen für die Blutbildung u. f. w. und bedingen aljo injofern 
die Nabrhaftigkeit der Pilanzenftoffe. Diefelden können nur aus dem Boden entnom- 
men werden, und obgleich dieſer meift reich daran ift, fo ift doch zugleich eine weſent⸗ 
liche Bedingung ihre Auflöslichkeit; wogegen die legtere andererfeitö nicht zu groß fein 
darf, theild weil aldvann die Salze zu leicht und ſchnell aus dem Boden ausgewaſchen 
werden, theils weil ein Uebermaß den Pflanzenleben eben fo ſchaͤdlich iſt, wie das 
richtige Maaß nuͤtzlich und nothwendig iſt. Bemerkenswerth iſt, daß eine und dieſelbe 
Pflanze zu verſchiedenen Lebenszeiten verſchiedener Salze zur Nahrung bedarf, z. B. die 
Getreidearten nehmen in der erſten Zeit vorzüglich Kieſelerde und Kali und erſt fpäter 
die zur Samenbildung erforderlichen Stoffe, phosphorſauren Kalt, Schwefeljäure, Na⸗ 
tron. Darum kann ein Boden, felbft wenn er arm an dieſen legteren Stoffen iſt, 
gleichwohl für Getreide fruchtbar fein, vorausgefept, daß keine Samenbildung bezwedt, 
fondern dad Getreide grün geerntet wird. Diefe mineralifhen Nahrungdmittel der 
Pflanze bilden Äh im Boden immer von Neuem buch die Verwitterung, d. h. 
durch den zerfeßenden Einfluß der Atmofphärilien auf das unlößliche Geftein. Mehrere 
derfelben, 3. B. die Kiefelerde, find ftetd im Uebermap vorhanden, andere, Dagegen, 
namentlich der fo wichtige phosphorſaure Kalk, find fpäzlicher im Boden und werden 
demfelben durch die Qulturpflanzen beftändig entzogen, andere, wie Die Alkalien, finden 
fich zwar reichlich vor, werben aber durch Die große Auflöslichkeit ihrer Salze dem 
Boden leicht durdy das Waller entführt. Es ift daher die Eünftliche Bereicherung des 
Bodens mit diefen Stoffen, und ganz befonderd der Phosphorfäure, neben der oben 
erwähnten Stidjtoff- Zuführung einer der wichtigften Punkte in der Agricultur. 

6) Die oben genannten beiden Gruppen von Nahrungsmitteln, die atmofphärifchen 
und mineralifchen, genügen zur Eräftigiten Entwidelung der Culturgewaͤchſe, und «8 
liegt Fein Grund zur Annahme vor, daß diefelben auch organifcher (ternärer) Verbin⸗ 
dungen zu ihrer Ernährung bedürfen. 

7) Die beiden Quellen, aud denen die Pflanze die Nahrungsftoffe bezieht, find 
die Atmofphäre und der Boden, und von dieſen fommt den Boden beöhalb eine 
größere Wichtigfeit zu, als der Atmofphäre, weil die-mineralifchen Nahrungsftoffe durch 
ihn ausſchließlich, die atmofphärifchen aber (4. B. das Waller) nicht nur eben fo gut, - 
fondern noch mehr durch den Boden, ald durch Die Luft den Pflanzen bargereicht werben. 
Die Bedeutung ded Bodens für den Ackerbau und zwar zunächſt derjenigen Bodenſchicht, 
in welcher die Pflanzen mit ihren Wurzeln Ieben, d. 5. der Aderfrume (ſ. d. A.), 
oder mit anderen Worten, die Fruchtbarkeit des Bodens beruht nun einerfeitd auf 
deffen Schalt an denjenigen Stoffen, welche als directe Nahrungsmittel yon der Pflanze 
eingefogen werben, nämlich Wafjer, Koblenfäure, Ammoniaf, falpeterfaure Salze und 
die anderen oben genannten mineralijchen Stoffe im löslichen Zuftand, andererjeit auf 
dem Gehalt an ſolchen Stoffen, 3. B. der gelöfchte Kalt, Humusfäure, Koblenjäure, 
Ammoniaf, welche zum Theil nicht felbft in die Pflanze eingehen, aber bie Loslichkeit, 
mithin die Aufnahmefähigkeit gewiller Direeter Nahrungsftoffe bewirken, fo wie endlich 
gewiflen phyſikaliſchen Eigenfchaften des Bopdeng: Wärme, Trodenbeit und die 
teit, Safe aus der Luft einzufaugen, Wafler zu binden und den Wurzeln zuzu⸗ 
führen. Diefe Eigenfchaften beruhen zunächſt auf der chemifchen oder geognoftijchen 
Beichaffenheit an fi, und die in dieſer Beziehung unterfchiedenen reinen Bohenarten, 
als: Thonboden, Kalfboden, Sandboden beftgen jene Eigenfchaften in fehr ungleichem 
Grade: der „bündige und ſchwere“ Thon, ausgezeichnet durch fein Vermögen, Wafler- 
dunft, Ammoniak, Koblenfäure aus der Luft einzufaugen und nebft den mineralifchen 
Nahrungsmitteln zu binden und feitzubalten, dagegen wegen feiner Dichtigkeit für bie 
Luft nicht durchdriugbar, deshalb „frifch und nachhaltig”, — der „lockere umd leichte“ 
Sand, leicht für die Luft durchbringbar und vom Wafler leicht ausgewaſchen, die Zer⸗ 
fegung der organifchen Stoffe befchleunigend, deshalb troden, raſch wirkend und wenig 

nachhaltig, — der Kalk, in allen Beziehungen zwifchen beiben die Mitte baltend, In 





‘ 


252 Acerbau. 


der Wirklichkeit kommen dieſe Erdarten nicht rein, ſondern in verſchiedenen Verhaͤltniſſen 
mit einander gemengt vor, und die verſchiedenen Bodenarten charakteriſiren ſich durch 
dad Vorwiegen der einen oder der anderen dieſer Gemengtheile und durch den Gehalt 
an anderen mineralifchen Stoffen. Indbefondere kommen ald regelmäßige Bodenbe⸗ 
ftandtheile Die verichledenen, durch theilmeife Zerfeßung, d. h. Vermoderung der im 
Boden enthaltenen organifchen Mefte erzeugten Verbindungen vor. Diefer fogenannte 
Humus theilt ſowohl mit dem Thon ald mit dem Sand, deren beiderjeitige, der 
Fruchtbarkeit günftige phyſikaliſchen Eigenſchaften, und ſeine Anweſenheit verleiht daher 
dem Boden nach jeder Seite bin, ſowohl in Beziehung auf Saugvermögen und Nach—⸗ 
haltigkeit, als in Beziehung auf Luftigkeit und Irodenheit die guten Eigenjchaften 
jener beiden Erdarten, wozu: denn auferdem noch eine größere Erwaͤrmungsfaͤhigkeit 
kommt. — Raͤchſt dieſen Berhältniffen der Ackerkrume kommt in Betracht die Tiefe 
des eigentlichen. Eulturbodend (den man in diejer Hinflcht als „tiefgrandig” oder 
„Hachgrundig* unterjcheidet), fo wie die dem letztern unterliegende Schicht: der Un⸗ 
tergrumd, welcher ebenfalld entweder locker (fandig), oder Dicht (thonig) oder felflg 
ift, und in einem beftimmten Verbältnig zur Beichaffenheit der Ackerkrume ſtehen muß. 
Fruchtbar ift nämlidy der Boden, wenn der Untergrund in Beziehung auf die Fähigkeit, 
das Waſſer zu binden oder fortzuleiten, fich entgegengefeßt wie die Aderfrume verhält. 
Ueberhaupt ift das Verhalten des Bodens zum Wafler eines der mwichtigften Momente, 
indem das Waſſer im Boden als das Vehikel aller von der Wurzel, aufzunehmenden 
Nahrungsftoffe die Grundbebingung für die Fruchtbarkeit if, andrerfeit8 aber auch, im 
Uebermaß vorhanden, durch fein Abfließen dem Boden vie löslichen Stoffe entführt, 
oder ftehen bleibend, die Bruchtbarkeit durch Kältung beeinträchtigt. — Die Lehre von 
Boden oder Die Bodenkunde und die Beitimmung des Werthes einer gewiſſen Bo⸗ 
denart Durch Unterfuchung derfelben in Beziehung auf obige Verhältniffe, d.h. das Boni- 
tiren, ift einer der ergiebigften Zweige der Aderbaumiflenfchaft. Als Mittel bierfür 
dient theils die chemifch-phHflfalifche Unterfuchung ded Bodens felbft, theild Die Beob- 
achtung gewifler, den einzelnen Bodenarten eigenthümlicdyen und wegen ibver befannten 
chemifchen Zufammenfegung den chemifchen Charakter des Bodens auch ohne Analpie 
- anzeigenden Unfräuter, wie 3. B. Rumex Acetosella ein Kennzeichen eines kalk⸗ 
armen Bodens liefert. — Die Fruchtbarkeit des Bodens befteht, wie aus Obigem ber 
vorgeht, nicht ſowohl in einer Kraft (mie man ed früher anſah), fondern nad ber 
klareren Auffaflung der heutigen Agricultur vielmehr in der Gegenwart gewifler Stoffe 
und deren Aggregatzuftand. — 

Die Aufgabe des Landwirthe (äft ſich hiernach in folgenden Punkten zu 
jammenfaflen : 

1) Der Landwirth muß fich befannt machen mit denjenigen Berbältnijien feines 
Feldes, welche ihm gegeben find, nämlich mit den Flimatifchen Zuftänden (Tempera 
tur, Luftfeuchtigkeit, Winde, Xicht), mit der geognoftifchen, chemiſchen und phyſtkaliſchen 
Beſchaffenheit des Bodens, — 

2) mit den eigenthümlichen Bebürfniffen der verſchiedenen ‚Eulturpflangen. 

3) Er Hat Diejenigen Pflanzen auszuwählen, deren Gultut nach den unabänder 
lichen Verhaͤltniſſen des Feldes und Ortes möglich ift, wobei namentlich and) bie be 
‚Tonderen Umſtaͤnde des Verkehrs und des Abſatzes in Betracht kommen. 

4) Er bat Diejenigen Mittel in Anmendung zu bringen, welche in der Hand des 
Menfchen Liegen, die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhöhen; und zwar beziehen ſich dide 
befonders auf die phyſikaliſche und chemifche Beichaffenheit der Aderfrume. 

Diefe Mittel und die übrigen Operationen Der Agricultur oder die Cultur⸗ 
methoden find folgende: 

1) Die Rodung. 

2) Die Vertiefung der Ackerkrume durch das „Tiefpflügen“ oder das 
„Rajolen.“ 

. 83) Die Entwäfferung oder die Drainage durch Gräben oder unterirdiſche 
Röhren, wodurch das allzu reichliche über dem Untergrund ftehende, an Nahrungs» 
offen arme Waſſer, welches einerfeitd die Verwitterung Der Erde verhindert und 
andererfeits eine Kältung des Bodens veranlaßt, abgeleitet wird. Diefes höchſt mirf- 


⸗ 





Fa | Aderban. 238 


fame Mittel, Die Fruchtbarkeit zu fleigern, ift zwar erft in Der jüngflen Zeit nach feiner 
großen Bebeutung gehörig gewürdigt, rührt übrigens aber, felbit die Art der Ausfüb- 
zung mit Thonröhren, in Deutjchland bereitd aus dem vorigen Jahrhundert ber und 
. if dem Princip nad) nody älter. | 
4) Die mechanische Bearbeitung des Vodens hat den Zweck, denſelben zu 
Iodern und zu ebnen, um ihn vom Unkraut zu veinigen, für den verwitternden Einfluß 
der Luft zugänglich und für die Ausſaat gefchict zu machen, — Bortheile, welde 
zwar durch die mit der Aufmwühlung zuſammenhaͤngende Austrodnung, die Zerfegung 
und Berflüchtigung der organiſchen Bobenbeftandtheile und durch die Ausſaugung 
mittelft des Regens befchräntt, gleichwohl aber durch diefe Nachtheile nicht aufgewogen 
werden. Die Vervoſlkommnung der zur VBodenbearbeitung dienenden Gerathſchaften: 
Plug, Egge, Walze ıc. ift einer der Factoren in den Kortichritten des Ackerbaues. 
Hierher gehört audy das Brennen des Bodens mittelft Torfes, wodurch, abgefehen 
von der Afchendüngung, der Boden mechanifch verbeffert und die Verwitterung befür: 
dert wird. \ ' 
5) Die Düngung. In chemifcher Hinſicht wird die Fruchtbarkeit des Vodeus 
Dur die zur Grnährung der Pflanzen nothwendigen Beſtandtheile, deren richtiges 
Miſchungsverhältniß und richtige Löslichkeit bedingt. In der Natur felbft wird dieſe 
Fruchtbarkeit dadurch erhalten und vermehrt, daß die Pflanzen an der Stelle, wo ſtie 
gewachſen find, abiterben und ihre Mefte dafelbft laſſen. Dadurch nun, daß durch den 
Aderbau dem Boden der größte Theil von den darauf gewachfenen Pflanzen entführt 
und durch die Bloßlegung des Bodens die Zerftörung der zurüdgebliebenen Stoffe 
befördert, und außerdem eine unnatürliche Steigerung des Pflanzenwachöthums bezwedt 
wird, ergiebt fich die Nothwendigkeit, dem Boden einen Erſatz und Fünftlidyen Vorſchub 
zu leiften. Dies ift die Düngung. Zwar hat man beredyncet, daß etwa drei Viertel 
aller PBilangencultur auf der Erde obne Düngung ftattfindet, indeß für unjere Gulturen, 
wo der Boden verhältnifmäßig ſtark angegriffen wird, und für unfer Klima if die 
Düngung eine erfahrungsmäßige und nicht zu bezweifelnde Nothwendigfeit. Die Mittel, 
dem Boden jenen Verluſt wieder zu erftatten, bejtehen nun zunaͤchſt darin, daß die durch 
den Haushalt der Landwirtbfchaft hHindurchgegangenen Stoffe, nämlich die Abfälle und 
insbeſondere die thierifchen Exerenente nebft dem Stroh, ald Stallmift, dem Boden 
zurüdgegeben werden. Da aber ein großer Theil der Ernte theils als Getreide, Del, 
Bekleidungsſtoffe, theils ale Kleifch u. |. w. ausgeführt wird, ein-anderer Theil derfelben 
durch Den Lebensproceß der Thiere verloren gebt, fo ift jener Erſatz nur unvollftändig; 
der eine diefer Punkte, die Ausführung der organifchen Subſtanz aus den Grünzen 
des Landgutes, wodurd, bauptfächlid, die Fruchtbarkeit beeinträchtigt wird, ift ein Uns 
Rand, auf defien Befeitigung, eben weil diefe im Gebiete der Möglichkeit liegt, Die 
neuere Agricultur vorzugsweife ihr Augenmerk zu richten bat. Es müſſen die thieri= 
ſchen Abfälle auch da, wo jle nicht unmittelbar zur Düngung benugt werben, mehr als 
bisher gewürdigt und Mittel und Wege gefunden werden, auch im Grofen eine Auss 
gleichung herbeizuführen, beſonders dadurch, daß der dem Lande entzogene, in den ˖ 
Städten angehäufte oder durch die Flüſſe entführte Dünger dem Lande zurüdgegeben 
werde. In großartigem Mafftabe hat man neuerdings einen folchen Austauſch zwifchen 
Stadt und Land vermittelft Nöhrenleitungen und Dampfmafchinen, wodurch einerjeits 
den größeren Städten friſches Waffer, andererfeitS dem Lande die Excremente zc. zuge 
führt werden, in England eingerichtet, und dadurch bereits ſehr auffallende Erfolge 
nicht nur für Die Fruchtbarkeit ded Bodens, fondern auch für den Geſundheitszuſtand 
der Städte erreicht. ° Hier liegt ohne Zweifel eine der wichtigften national-öfonemijchen 
Aufgaben der Zukunft. So lange aber der Uebelſtand eines geftörten Gleichgewichts 
im Haushalte der Stoffe befteht, hat man zu andern Mitteln, den Dünger zu vermeh⸗ 
ven, gegriffen. Diefe beftehen vorzüglich in der Cultur ſolcher Gewaͤchſe, welche felbft 
feine Tünftlihe Düngung bedürfen, welche dagegen ald Nahrungsmittel für die land« 
wirtbfchaftlichen Ihiere dienen und daher einen Gewinn an Dünger für den Ader ab- 
werfen, nämlich die Sräfer u. f. ıw. der Wiefen und Weiden. Deshalb gebört zu 
einem wobleingerichteten Zandgut ein verhältnißmäßiger Beftand an Wieſen und Weiden. 
Berner gehört hierher der Anbau ſolcher Butterfruuter, welche zwar felbjt der Düngung 





% 


254 | Acterbau. 


bedürfen, aber durch ihre Aſſtmilation der atmoſphäriſchen Stoffe eine bedeutende Menge 
von organifcher Subftanz erzeugen und hiermit, im Stallmift, dein Boden die entzoger 
nen Stoffe im Ueberſchuß zurüdzahlen, 3.3. der Klee, die Hadfrüchte. — Endlich 
dient zur Entfchädigung des Aders der eingeführte Dünger (Guano) und der 
Fünftliche Dünger. 

Um den Dünger zu” vervollfonmnen oder zu erſetzen, muß man vor Allem dar 
über flar fein, worauf die Wirkung deffelben beruht und welches feine wefentlichen 
Beftandtheile find. Diefe Frage aber gerade ift einer der Hauptſtreitpunkte der heut 
gen Agricultur, und hbauptfächlich in der Lehre vom Dünger liegt der Wendepunft 
zwifchen der alten und neuen, der empirifchen und rationelfen Landwirthſchaft. — Der 
Dünger im engern Sinne, nämlich die thierifchen Ercremente oder diefelden mit Stroh 
oder andern vegetabilifchen Reſten vermifcht, befteht aus zwei verſchiedenen Stoffgrup- 
pen: a) die organifchen Subftanzen oder vielmehr deren Zerſetzungsproducte, nämlid 
einerſeits Die ftieftofffreien aus dem Zellftoff u. dgl. 'hervorgehenden Humusartigen Vers 
bindungen, deren EndeZerfegungsproduct Kohblenfäyre und Waſſer ift, und anbrerfeits 
das Ammoniaf und die Salpeterfäure als Zerfegungsproduct der ftidftoffhaltigen orga- 
[hen Subftanzen; b) die mineralifchen Beftandtheile, 3. B. pbosphorfaurer Kalt, 
phosphorfaure® Natron, Kiefelerde, Kali ꝛc. Und zwar enthalten die feften Excremente 
befonders die mineralifchen Stoffe, 3. B. von Rind und Schaf: fiefelfaure® Kali und 
phosphorfaure Salze, vom Pferd außer erfterem befonderd phosphorfaure Bittererbe,. 


vom Menfchen beſonders phosphorfauren Kalk, der Harn dagegen befonderd Ammoniafs 


falge, Sarnfäure und phosphorjaure Salze. Aehnlich verhält fi der Guano und die 
übrigen organifchen Abfälle: Hornfpäne, Knochen, Lumpen, Oelkuchen ıc. 

Die Wirkung der Düngerbeftandtbeile ift eine breifache: 

a) ald Directe Nahrungsmittel der Pflanze. Im dieſer Beziehung werben 
die organifchen Stoffe nur in Form ihrer legten Zerfegungsproducte, ald Kohlenfäure, 
Waſſer und Anımoniaf von der Pflanze als Nahrungsmittel aufgenommen. Dagegen 
kommen bier in höherm Grade die mineralifchen Beftandtheile in Betracht. Die Ber 
deutung der verfchiedenen Stoffe wird nämlich theild Durch die Rolle, melche dieſelben 
in der Sufammenfegung der Pflanzen fpielen, theild Durch die Frage, ob fie weſentlich 
durch den Dünger der Pflanze dargeboten werden oder ob fie bereit3 im Boden ent 
halten find oder ohnehin aus der Athmosphäre in genügender Menge dargereicht wers 
den, und ob fie, wenn auch genügend vorhanden, Doch“ durch eine reichlichere Zufuhr 
das Wachsthum weientlich fördern. Deshalb kommt den bumusbildenden Stoffen nur 
eine ſehr untergeordnete, den ftiftoffhaltigen Stoffen dagegen eine vorzügliche, manchen 
mineralifchen, 3. B. der Kiefelerde eine geringe, andern, wie der Phosphorfäure, dem 
Kalk eine große Bedeutung zu. Namentlich fommt e8 bierbei auf den Grad der Ldb- 
lichfeit an, indem nur Diejenigen Stoffe, welche entweder an fich auflöglich find ober 
durch den Einfluß anderer Stoffe, löslich werden, ald directe Nahrungsmittel dienen 
fönnen. Zu bemerken ift noch, daß die verfchiedenen Arten des Düngers eine verfchier 
dene Wirkung auf die Erzeugung der wefentlichen Pflanzenbeftandtheile ausüben, in⸗ 
dem die einen mehr auf den Gehalt an Stärfemehl, die andern mehr auf die Kleber 
bildung einwirken. | . 

b) Die Beftanptbeile des Düngers ald indpirecte Nahrungsmittel, indem 
manche berjelben auflöfend auf andere wirken; fo befördern die mineralifchen Stoffe 
theils die DVerwitterung der erdigen Theile, wie 3. B. der Kalk die Auffchliefung 
der Kiefelerve begünftigt, theild die Zerfegung der Humusſtoffe; ' umgekehrt dienen bie 
Humusfloffe Cbefonders die Quellfäure und Duellfalzfäure) als Vehikel für die Auf 
nahme mancher mineralifchen Stoffe in die Pflanze; und ebenfo wirken Kohlenfäurt 
und Ammoniak auflöfend auf Die Mineralien, aus welchem Grunde e8 nicht gleichgültig 
ift, ob die beiden genannten Verbindungen der Pflanze in der Luft oder im Boden 
dargeboten werben. Auch bat die vermefende Pflanzenfubftang die Fähigkeit den für 
die Tebendige Pflanze nicht affimilirbaren Stidftoff der Luft in das aſſimilirbare Am⸗ 
moniaf zu verwandeln. | 

e) Die Beftandtheile des Düngers wirken durch ihre phyfifalifchen Eigene 
idaften, dadurch daß fle den Boden Iodern und vermöge ihres (3. B. Humuß, 





1 ’ 


Aderban. 255 


Kohle) Vermögend, Gasarten zu abjorbiren und zu condenfiren, denfelben fähiger 
machen, die wefentlicgen Stoffe aus der Luft aufzufaugen, befonderd aber indem jle 
ben Boden theild unmittelbar (durch ihren eigenen Verweſungs⸗, d. h. Verbrennungs« 
vproceß), theils mittelbar durch Ginfaugung der Sonnenftrahlen erwärmen. Daher läßt 
fih Durch die Düngung’ felbft das Klima corrigiren, d. h. man kann durch den Dün⸗ 
ger dem Boden eine Temperatur verleihen, welche einer beträchtlich ſüdlicheren geo⸗ 
graphifchen Rage entipriht. In Beziehung auf diefe phyſikaliſchen Wirkungen find es 
nun gerade die organifchen, namentlidy) Die humusbildenden Stoffe, weldye den frucht⸗ 
baren Einfluß des Düngers beftimmen. 

Das unter b) und c) Angeführte giebt Denn auch dem unklaren Ausdruck, Reiz⸗ 
mittel", womit manche Düngertheile bezeichnet zu werben pflegen, emen beſtimm⸗ 
ten Sinn. 

Wenn über die im Obigen dargeftellte Wirkung des Dünger wohl alle Agri- 
eulturtheoretifer übereinftimmen, fo find dagegen über Die relative Bedeutung der 
verjchiedenen Düngerbeftandtheile die Anfichten getheilt, und es ift nicht zu Täugnen, 
daß Die heftigen Känpfe, 3. B. zwifchen der Liebig'ſchen Schule und ihren Gegnern 
ih im Wefentlichen auf die ungleiche Beurtheilung des relativen Werthes der einzel- 
nen Düngftoffe befchränfen. Hierher gehört der Streit zwifchen der fogenannten „Mi⸗ 
neraltHeorie" und der „Stidftofftheorie". Liebig nämlich, als der Gründer und 
Vertreter der’ erfteren legt, in Erwägung der wichtigen Rolle der mineralifchen Stoffe 
in dem Lebensproceß der Pflanze und in Erwägung, daß gerade diefe Beftandtheile 
dem Boden durch die Ernte entzogen werden und daher vor Allem zurüdgegeben wer- 
den müflen, dad Hauptgewicht auf diefe mineralifchen Subftanzen und gelangt confes' 
quenter Weife zu dem Grundfag: daß der Stallpünger resp. den Wiefenbau fo wie bie 
den Landwirth beengende Wechſelwirthſchaft erſetzt, oder daß er ergänzt werben fünne durch 
eine künftliche der Natur des befonderen Bodens und dem jeweiligen chemifchen Zu⸗ 
ande deſſelben und namentlich der Natur der zu cultivirenden Gewächſe mit ihren be⸗ 
jonderen Anſprüchen an gewilfe Mineralbeftandtheile angepaßte Compoſition minerali⸗ 
her Subftanzen. Hierauf gründet fich Liebig's „hemifcher“ oder „Patents 
Dünger.” Zugleich verfennt aber Liebig keineswegs die übrigen Faetoren der Frucht 
barkeit, weder die Bereutung des Ammoniaks und der Kohlenfäure, noch den Einfluß 
der phyſikaliſchen igenfchaften des Bodens, noch den Nugen der Gründüngung. Das 
Weſentliche feiner Theorie läßt fich Furz etwa fo zufammenfaffen: jedem einzelnen Bes. 
ſtandtheil kommt fein befonderes Recht zu, und Die Fruchtbarkeit ift abhängig von der 
Gegenwart eines jeden wefentlichen Bodenbeftandtheils, — die löslichen Beftandtbeile 
des Bodens müflen in einem beftimmten durch die Natur ven betreffenden Cultur⸗ 
pflanzen vorgezeichneten Mifchungsverhältniß fleben, inden, nach allgemeiner Erfahrung, 
wenn eine berfelben fehlt, die übrigen nicht im Stande find, Die Fruchtbarkeit zu bewirs 
fen, und andrerfeitd burch übermäßige Anhaͤufung eines einzelnen das Gleichgwicht der 
Stoffe in der Pflanze bis zur Krankheit zerflört werden fann; — es muß daher bei 
der Düngung auf die im Boden fehlenden und vorhandenen Beftandtheile, fo wie na» 
mentlich auf Die Natur der Gulturpflanzen Nüdficht genommen werden; — es muß. 
nicht nur der augenblidlihe Zwed, ſondern auch die Dauer und Nachhaltigkeit der 
Srychtbarkeit in Rechnung gebracht werden; — die Menge eines Stoffes, welche der 
Boden, um für eine Pflanzenart fruchtbar zu fein, bedarf, fteht nicht im Verhaͤltniß 
zur abjoluten Menge dieſes Stoffes, welche die Pflanze überhaupt zur. Entwidlung, 
jondern zu dem Marimum, welches die Pflanze zu einer gewiffen Zeit (z. B. zur Sa— 
menbildung) bedarf. ') | 

Es geht hieraus hervor, wie unrichtig es ift, von einem Gegenſatz der „Mine 
rale Theorie” und der „Stidftoff- Theorie” zu reden. Wenn man die Anftchten der 





) Wenn der Zwed der Düngung darin befteht, der Pflanze diejenigen Stoffe zu liefern, 
aus welchen fic befleht, jo ergicht fih als eine bisher wenig beadhtete Aufgabe für die Zukunft, 
me man der Pflanze ihre Nahrung nit auf einmal, fondern nad) und nad) in dem Verhältniß, 
wie fie diefelbe bedarf, barbieten Fann, in Webereinftimmung mit der oben erwähnten Thatſache, 
a a ifche Zufanmmenfegung der Pflanze in den verjchiedenen Lebenszeiten eine fehr un: 


* 


256 Acerban. u 
Gegner Liebig's, abgeſehen von denen, welche ſich in unklaren Begriffen und Borur- 
theilen bewegen, vergleicht, jo beſchraͤnkt jich die Differenz im Weſentlichen darauf, dap 
die Einen (ohne die Bedeutung der mineralifchen Subflanz zu verfennen) den Maaß⸗ 
ftab der Fruchtbarkeit auf die organifchen reſp. ftidftoffhaltigen, Liebig dagegen (ohne 
die Bedeutung der letzteren zu verkennen) den Mapftab der Fruchtbarkeit auf Die mines 
ralifchen Verbindungen gründet. In der Hauptſache ift der Standpunft Liebig's der 
der Agricultur-Chemie, und alle Korfcher auf dieſem Gebiete, wie 3. B. Bouffingault, 
ſtehen wefentfich mit Liebig auf einerlei Boden. Liebig bleibt vor Allem dad Ber» 
dienft, in der naturwiſſenſchaftlichen Methode für die Kandwirtbichaft und in der fchärs 
feren Beſtimmung der Begriffe einen bedeutenden Schritt vorwärts gethan zu haben. 

| Die im Allgemeinen ungünftigen Erfolge mit Liebig's Patentdünger mögen größ- 
tentheild auf unrichtiger Anwendung beruhen, wie auch Liebig felbft demfelben nur 
dann eine Wirkung zufchreibt, wenn die nöthigen Humusbeſtandtheile und die übrigen 
Bedingungen vorhanden find. Das Princip diefer Erfindung fleht mit den Erfahrun⸗ 
gen, weldye von den Gegnern entgegengehalten werden, keineswegs im Widerſpruch. 

Auf demfelben Princip, wie der Patent-Dünger, beruhen aud) die übrigen mit 
dem beiten Erfolge angewendeten mineralifchen Düngftoffe: Kalt, Mergel, Gyps, Kodı 
jalz, Aſche, Ehilifalpeter, Knochenerde, Dornftein von den Salinen. Im Allgemeinen 
ift zu bemerken, daß dieſe Salze mehr durch ihre Bafen als durch ihre Säuren auf 
die Fruchtbarkeit einwirken. 

Welche Bedeutung man dem Dünger: in der Agricultur beilegt, und wie inäbes 
fondere bei der Bergleihung der verfchiedenen Dünger - Beitandtheile cin ungleicyer 
Werth und Effect fich geltend macht, gebt daraus hervor, dag man jeden einzelnen Bes 
ſtandtheil nach einem beſtimmten Geldwerth zu berechnen pflegt, womit denn auch eine 
genaue Werthbeſtimmung der verſchiedenen Düngerforten zuſammenhaͤngt, wobei übri⸗ 
gens mit dem Werth in der Regel keineswegs der Preis im Verhältniß ſteht, wie 
z. B. der beſonders wegen ſeines Ammoniak-Reichthums vorzüglich wirkſame Guano 
der in manchen Küſtengegenden, z. B. Peru, aufgehäufte Miſt von Seevögeln) wohl: 
feiler ift, als feinen Effect entjpricht,- und darum auch von allen DüngersArten die 
vortheilhaftefte ift. 

Endlih ift unter den Düngmitteln als eines der vorzüglichen das Waſſer zu, 
nennen, und zwar a. al8 Fluß⸗ und Quellwaſſer wirkt es beſonders durch feine mine 
ralifchen Beftandtheile, 3. B. Kiejelerve, weldye e&, zumal wenn ed aus den Gebirgen _ 
berabriejelt, aus den Gefteinen in ſich aufnimmt, und bildet fo für die fogen. „Nies 
jelwiefen" faſt das ausfchließlihe Düngungsmittel; — b. ald Megenwafler Dagegen 
wird daſſelbe durch feinen Reichthum an atmofphärifchen Nahrungsmitteln, namentlid 
an Ammoniak, welche es beſonders bei Gewitterregen aufnimmt (während das Ylup- 
und Quellwaſſer den Stiftoff mehr in Beftalt von. falpeterfauren Salzen enthält), 
fruchtbar für das Pflanzenleben. 

6) Was man durdy die Düngung bezwedt, nämlich Bejjerung ded Bodens, fann 
zum Theil auch auf andere Weife, nämlich durch die Drache, erreicht werben. Diele 
beftebt in der wiederholten Bearbeitung eined Feldes während eined Sommerd mit 
Pflug und Egge zum Zweck: die Stoppeln und Unkräuter unter die Erde zu bringen 
und in Dünger zu verwandeln, fo wie den Boden aufzulodern und für die befruch—⸗ 
tende Athmoſphaͤre zugänglicher zu machen. Dies ift Die eigentliche oder „ſchwarze 
Brache”, während die „grüne Brache“ darin befteht, da man den Boden fidh jelbit 
überläßt und die denfelben alsbald bededenden Unfräuter nicht wiederholt, ſondern erft 
anı Ende unterpflügt. Die „befönmerte Brache“ endlich, wobei das Land mit 
den jogenannten „Brachfrüchten“, welche den Boden beflern, bebaut wird, gehört im 
MWefentlihen zu den Fruchtwechſel. 

7) Fruchtfolge. Eins der wirkſamſten Mittel, die Sruchtbarfeit des Bodens 
zu erhöhen und möglichft zu benuben, befteht in dem abmwechfelnden Anbau verfchie- 
dener Fruchtarten auf demfelben Felde in den auf einanderfolgenven Jahren. Das 
Princip dieſer Culturmethode beruht auf folgenden Thatſachen: 

a. Die eine Pflanzenart bedarf, d. h. entzieht dem Boden gewiſſe Veſtandtheil⸗ 
gar nicht oder nur in geringer Menge, welcher eine andere Pflanzenart nothwendig ber 








Acerban 238 
⸗ [1 


darf. Durch die aufeinander folgende Bebauung mit diefen beiden Arten wird dem- 
nach der Boden auch ohne Düngung für die zweite fruchtbar fein. 

b. Rande Pflanzenarten, z. B. Getreide, Delfrüchte ıc.. verarmen oder er» 
ſchöpfen den Boden, inbem fle ihm die wefentlichen Stoffe entziehen und ihm wenig 
von ihrer Mafle zurüdlafien; — andere Pflanzen fchonen.den Boden, indem fie dem 
felsen eben fo viel an Stoffen Lafien, als fie ihm entziehen, 5. 3. diejenigen, welche 
grün gemäht werden; — noch andere bereichern den Boden, theild dadurch, daß 
fie mit ihren im Boden verbleibenden ſtarken Wurzeln und mit den abflerbennen Blät- _ 
term die organifchen Beſtandtheile beffelben vermehren (wie z. B. ber Klee), tHeild da⸗ 
dur, daß fie durch ihren dichten Stand und mit ihrem Blaͤtterreichthum ben Boden 
befchatten, feucht halten und die Auffaugung der fruchtbaren Athmofphärilien befür« 
dern. Hierher gehört ebenfalld der Klee und andere Futterkräutet und Hadfrüchte. 
Sie bereiten der Ader für die mehr erfchöpfenden Gewächſe vor, felbfi wenn fe au⸗ 
dererfeitE dem Boden mehr mineralifche Stoffe entziehen (mad ebenfalls für den EKlee 
gilt). Denn die fehonende und erfchöpfende Wirkung der Pflanzen fteht nicht im Ver⸗ 
haͤltniß zu dem, was fie dem Boden entziehen, fondern zugleich zu.dem, was fie dem 
Boden geben. 

c. Indem die eine Pflanze ihre Wurzeln mehr nahe unter der Oberfläche and 
bildet („feicht grundige” Pflanzen, 4. B. Gerſte, Efparjette), andere dagegen tiefer in 
den Boden eindringen („tiefgrundige“ Pflanzen, 3. B. Hafer, Klee, Luzerne), ſchließen 
ſich dieſe beiderlei Gewaͤchſe nicht aus, ſondern theilen ſich in Die in verfchiehener Tiefe 
vertbeilten Beſtandtheile des Bodens; durch fuccefive Eultur folder ungleichen Pflan⸗ 
zen wird daſſelbe Geſetz benußt, auf welchen die AmWbeutung des Bodens in der 
Natur felbit. dur Dad Nebeneinanderwachfen verfchienenartiger Pflanzen auf einerlei 
Boden beruht. 

d. Auch infofern können verfchiedene nach einander auf einerlei Boden angebaute _ 
Pflanzen Arten fich einander nüglich werben, als die eine den Boden durch ihr Wachs⸗ 
thum mehr bindet, die andere mehr Inder. Oder wenn nicht dutch dad Wachſthum 
der Bilanze felbft, To hängt mit der Gultur der einen Art eine künſtliche Borbereitung 
des Boden? für Die folgende zufammen; fo wird Durch die Bopenbearbeitung, weldje wie 
Hackfrüchte während ihrer Vegetation noͤthig machen, der Boden zugleich für die Cultur 
des nächften Jahres gelockert und gereinigt. 

Wir können das Obige zufammenfaflen in dem Sag: einerlei Fruchtban in 
aufeinander folgenden Jahren auf demſelben Boden fortgeſetzt, erihöpft den Boden; 
aber das Land, welches für bie eine Fruchtart unfruchtbar geworden ift,. zeigt ſich doch 
noch gefihidt für eine andere Fruchtart; ja fogar dient die eine Fruchtart dazu, das 
Land für eine nächſtfolgende verfchievene Pflanze fruchtbarer zu machen, als es ohne 
Die erſtere gewefen war. Es ergiebt fich hieraus, daß durch Benupung diefer Ver⸗ 
fchiedenartigkeit der Gulturpflangen, d. 5. durch den abwechfelnnen Anbau verfchiedener 
Fruchtarten, die Fruchtbarkeit nicht nur möglichft benugt und außgebeutet, fonbern fogar 
erhöht werden Tann. Bei der Auswahl eirfer zwedwiäßigen Aufeinanderfolge müffen 
natürlich Die verfchiedenen Bebürfniffe und Eigenthümlichkeiten der Pflanzen ebenſo bes 
rüchfichtigt werden, wie bei der Anwendung der Fünftlichen Dünger-Arten, unb während 
man bisher in der Beurtheilung dieſer Eigenthirmlichkeit und in der Auswahl der ab⸗ 
wechfelnden @ulturen rein empirifch verfuhr, ergiebt fi für die Zukunft die Aufgabe, 
auch Hier rationell zu verfahren, d. 5. die Praris auf die Theorie des Stoffmwechfels 
zu gründen und aus der chemifchen Eonftitution der Vorfrucht den chemifchen Zuſtand, 
in welchem jene den Boden binterlafien bat, zu beftimmen und aus biefem und aus 
der chemifchen Eonftitution der Nachfrucht die Wahl ver Ießteren abzuleiten. — Im 
Allgemeinen gilt der Grundſatz, nicht zwei Früchte ähnlicher Art aufeinander folgen zu 
lafjen, fondern z. 3. zwifchen zwei Getreide» Arten eine Hadfrucht oder Klee einzu⸗ 
ihieben, wodurch zugleih Dünger gewonnen und daher der Wieſenbau erfegt wer⸗ 
den fann. - 

Man nennt die Aufeinanderfolge verfchiedener Eulturen während einer Meihe von 
Jahren bis zur Wiederkehr derſelben Reihenfolge einen Turnus, Umlauf ober 
Rotation. 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 17 


+. 


ı 


258 | Aderbar. 


So gründen ſich auf dieſe Anfichten, fo wie auf den Mugen der Brache die ver⸗ 

ſchiedenen Wirtbfhaftöfpfeme, naͤmlich 

a. die Dreifelderwirthſchaft. Der ganze Acker⸗Complex wird in drei gleiche 
Felder "eingeteilt, und jedes derjelben im erften Iahr mit Wintergetreide („Winterung“), 
im zweiten. mit Sommtergetreide („Sommerung"), im dritten mit Brauche und Düngung 
(entweder reine oder grüne [Driefch-] Brake) bewirtbichaftet, fo daß von den drei 
Theilen des Gutes zu gleicher Zeit der eine ald „Winterfeld“, der andere ald „Sons 
merfeld*, der dritte ale „Brachfelo“ gebraucht wird. Dieje „reine Dreifelberwirth- 
ſchaft“ if in neuerer Zeit durch die „verbeflerte Dreifelderwirthſchaft“ verbrängt, da⸗ 
bush, daß die Brache durch die denjelben Zweck erfüllennen und nach dem Obigen 
die Fruchtbarkeit mehrfach befördernden „Vrachfrüchte“: Klee, Kartoffeln, Runkeln ı. 
(d. 5. durch die „befümmerte Brache*) erſetzt wird. 7) ift das ublichſte Wirthſchafts⸗ 
ſyftem in Deutfchland ‚ und in dieſer verbeflerten Form ſtimmt ed dem Prineip nad) 
bereitd mit dem eigentlichen Fruchtwechſel überein. Als bloße Modiſicationen deſſelben 
werben die Bier», Sechs⸗, Neun-. x. Belderwirtbichaft betrachtet. 

b. Die Coppel⸗ oder Schlagwirtbfchaft. Das ganze Feld wird in eine 
gewifle Anzahl (10—14) „Schläge” oder (mo fie wie in Holftein von Heden umgeben 
Ans) „Boppeln“ getheilt, und jeder derfelben eine Reihe von Jahren hindurch auf Die 
- felbe Weife bebaut, ein verhältnismäßig großer Theil derſelben aber mehrere Jahre 
hindurch ald Weideland liegen gelafien. Vortheilhaft iſt dieſes Syſtem da, wo ſaͤmmt⸗ 
liches zu einem Gute gehörige Land in großen Flächen zufammen liegt, wo die Arbeitd- 
kraͤfte theuer und des Land wohlfeil if; es ift befonvers gebräuchlich in Mecklenburg 
(mp der Getreivebau) und Stein (mo die Viehzucht die Hauptſache ift). 

e. Die Fruchtwechſelwirthſchaft, deren erite Ausbildung wir Den engli- 
ſchen Landwirtben und deren Einführung auf deutfchen Boden wir befonders dem hoch⸗ 
verbienten Thaer verdanken, kann als die Blüthe der heutigen Landwirthſchaft angefehen 
werdet, indem fle die oben betxachteten Culture» Methoden der Düngung, Bracde und 
beſonders bie Aruchtfolge am umfaſſendſten zur Anwendung bringt und das freiefle 
Selb für Die auf. practifchen Tact und Berechnung gegründeten Operationen des tächti« 
gen Landwirths darbietet. Don der verbeflerten Dreifelderwirthſchaft umterjcheidet ſich 
dieſes Syſtem im Grunde nur durch die größere Freiheit und Mannichfaltigkeit in der 
Fruchtfolge, für welche Feine allgemeineren Regeln beſtehen. Im Allgemeinen iſt bie 
Zahl der Schläge "mehr als drei, meift-fünf oder fechd (oder zehn oder zwölf halbe 
Schläge). Beifpielgweife eine fünffchlägige Fruchtfolge: 1) Hackfrüchte (gehüngt), 
2).Gerfte mit Klee, 3) Klee, 4) Wintergeireive, 5) Hafer, — oder: 1) Grünfutter 
(gebüngt), 2) Maps, 3) Winterung, 4) Erbfen, 5) Hafer. — In der Regel pflegt 
man Die Hälfte des Feldes zur menſchlichen Nahrung, die andere Hälfte zu Biehfutter 
zu: beflimmen. Die Wechſelwirthſchaft wird überall da vorgezogen, wo Mangel an 
Wiefen und Weiden if, wo ein flarker Viehſtand gehalten werben foll, und we bie 
Handarbeiten wohlfeil find, — und vorausgeſetzt, daß ed nicht durch Servitute (Hute⸗ 
rechte 20.) oder gerftreute Lage der Felder unmöglich ift, das Eigenthum nach eigenem 
Mane zu bewirtbfchaften. 

d. Bu erwähnen tft noch das von Schmalz aufg&ftellte, „Die Atmosphäre und 
dem Untergrund ‚möglichft benutzende Pflanzenſyſtem“, welches vorzugsweiſt den Anbau 
von Futterkraͤutern auf Koſten des Getreidebaues begünftigt. 

8) Außer den bisher betrachteten Methoden, die Fruchtbarkeit ves Bodens zu 
erhöhen und möglichſt amögubeuten, gehört zu Den Operationen der Agricultur noch 
dad Säen uud Pflanzen. Hierbei kommt es zunächft an auf Die Wahl eines 
guten Teimfähigen. Samend (wobei die für jede Pflanzenart eigenthümliche Dauer ber 
Keimfraft zu berüdjichtigen ift), ferner auf Die Wahl einer für die befonderen Umſtaͤnde 
geeigneten Samen» Sorte (Spielart), fodann auf Die :natürlich fich nach der Lage und 
dem Klima Des befonderen Ackers richtende Zeit der Ausſaat, — und indbefondere 
auf Die Art und Weife der Ausfaat felbft. In leßterer Beziehung ift Das gewöhnliche 
kreitwiuſige‘“ Säen mit der Hand und Uinterbringen des Sanıend mit ber Egge, und 
nes beſonders durch Thaer empfohlene Drill Verfahren (Säen in Meihen mitselft 
der Säemafchine) zu unterfcheiven. — Hierher gehören auch bie berſchiedencz Metho den 


F 


— 





N 


Aderban. 35% 
des „Beizen6” des Samens durch Aufquellen mit Jauche, ſchwachen Säuren, "Salzen ıc.,. 
teil um dad Keimen zu begünftigen und zu befchleunigen, theild um durch Tine folche 
Eihverleibung von Nahrungsmitteln der jungen Keimpflanze eine möglichft kraftige Ent⸗ 
widelung zu verleihen. Hiervon verſchieden iſt Das weder theoretifih noch practiſch zu 
rechtfertigende Verfahren des „Einkalfens" der Welzenkörner mit Eifenvitrlol, Kupfer» 
oxyd, Arſenik, Glauberfalz, zum Zwed, den Getreidebrand zu verhindern. 

-— 9) Die Behandlung der Pflanzen während des Wachsſthums, 5. B. die 
Berfegung der jungen Pflanzen, — die Verhütung der ſchädlichen Thiere, — das Bes 
baden und Haͤufeln zur Loderung des Bodens und zur Zerflörung des Unkrauts; ins⸗ 
befondere beruht der Werth des Häufelns der Kartoffeln darauf, daß die Knollen der 
legteren nur Umbildungen der untern Zweige des Stods find, bedingt durch Die Bes 
ruͤhrung mit der Erbe, daß alfo je mehr Zweige mit Erde bedeckt find, deſto mehr ſich in 
Knollen verwandeln. 

10) Die Zeit der Ernte und die Arbeit der Ernte, — ferner die Meinigung 
der Culturproducte, das Dreſchen und die Aufbewahrung. 

Der Pflanzenbau oder der Ackerbau im weiteren Sinne umfaßt, außer dem 
Aderbau im engeren Sinne oder ver Feldwirtbichaft, welches im Vorſtehenden vor⸗ 
zugsweife abgehandelt worden ift, außerdem noch 2) den Gartenbau, 3) die Wein⸗ und 
Obſt⸗Cultur, 4) den Wiefenhau, 5) die Forſt⸗Cultur, — von denen jeder Zweig zwar 
feine befonderen Regeln bat, in der Hauptfache aber auf die oben ausgeführten Grund⸗ 
fäge der Pflanzen⸗Cultur gegründet if. 

Neben der Pflanzen-Gultur fteht dann die andere Seite der Landwirthſchaft: die 
Thier⸗Cultur, welche, wie oben gezeigt, in den genaueſten Wechſelbeziehungen zu’ 
der erſteren ſteht. 

An dieſe Hauptzweige der Landwirthſchaft ſchließt ſich eine Reihe von landwirth⸗ 
ſchaftlichen Nebengewerben, welche ſich auf die weitere Bearbeitmig und Benukung 
der landwirthſchaftlichen Broducte beziehen ober fich zwedimäßig und mit möglichften 
Benutung der in den Zwifchenzeiten von den Hauptgefchäften zu erübrigenden Arbeito⸗ 
frafte und Räumlichkeiten in die Sefammteinrichtung einfügen laflen, 3. B. Butter⸗ und 
Käfebereitung, Bierbrauen und Branntweindrennen, Stärfemehlbereitung, BZuderfabris 
fation, Müblen, Knochen und Ziegelbrennerei n. f. w. Hauptſächlich befteht der Vor⸗ 
theil dieſer Verbindung in ber möglichſten Erhaltung der organifchen Abfälle für ben 
Ader; überbied, je mannichfaltiger der Betrieb, je mehr Ineinanbergreifenbe Thaͤtigkeit / 
deſto vortheilhafter verwerthet ſich das Gut. 

Die Fortſchritte des Ackerbaus in der neueren Zeit werden hauptſachlich durch 
Anlehnung an die Theorie bedingt, ſei es durch Anwendung der von den reinen Theo⸗ 
retikern nachgewieſenen Geſetze in der Praxis, — oder durch theoretiſche Bildung der 
Praktiker ſelbſt. Dieſem letzteren Zweck dienen die Ackerbauſchulen und bie land⸗ 
wirthſchaftlichen Inſtitute. (S. dieſen Artikel.) Insbeſondere gehören hierher 
die in der Regel mit jenen Lehranſtalten verbundenen Mufterwirthf af ten, 
welche, jo wie überhaupt die größeren Kandgüter den Beruf haben, durch einen bern 
Grundſaͤtzen der Landwirthſchaft möglichft entfprechenden Betrieb, fo wie durch Anwen» 

dung der noch nicht hinreihend bewährten, aber theoretifch fich empfehlenden Methoden, 
Anbau nener Eulturpflanzen ıc., den Eleinen Landwirthen voranzugehen. Ausfchließlich 
für den legteren Zweck hat man in neuerer Zeit eigene, Durch die Regierungen ober 
Verrinsmittel unterhaltene Verſuchs ſtationen eingerichtet. 

Zum Schluß: der Ackerbau ift im Uebergang zu einem neuen Zeitalter begriffen. 
Bon der eiien Seite fommt das, mas bid dabin ein Werk der Gewohnheit und des 
Fleißes war, in die Gewalt der Intelligenz, Die ganze Aufgabe des Ackerbaus wi 
ſich einſt ahıflöfen in ein chemifchphnfifalifches Experiment, in ein Mechenesempel. Die. 
Ariſtokratie des Wiſſens wird aber Dienfibar werben einer ftärkeren, der DWriftofwmtir' 
des großen Grundbeſitzes und weiterhin der des Gapitald. Die Kleinen werben vers 
ſchlungen von den Großen; der Aderbau theilt das Schidfal des Handwerks und wird. 
zum Fabrikbetriebe; wo einſt freie Perfonen, da arbeiten dereinft mechanifche und 
menſchliche Mafchinen unter der Leitung der Iheorie und im Dienfte bed Gapitals, 
und jenes lebte Heft vanlarchaliſcher Einfalt mündet endlich, von der Sperulation 
17* 


‘ 


260 Aderbau-Chemie. 


ergriffen, in den mächtigen Strom des modernen Induſtrialismus ein. Ob dieſe Wen; 
dung fegendreih für den Einzelnen und für dad Ganze fein wird, ift eine andere 
Frage; genug diefer Gang mird beflimmt durch ein unvermeidliched culturgejchichtliches 
Geſetz, welchem man ſich weder durd, Selbfttänfchung entziehen, noch mit Gewalt wiber- 
feßen kann, welches aber in die rechten Bahnen zu leiten die erhabene Aufgabe für die 
Meisheit der Staatslenker ift. 

AderbausChemie (Agricultur- Chemie). Die AderbausChemie ift die Ehemie 
angewandt 'auf den Aderbau. Da es ſich bei diefem bauptfächlich um die Ernährung 
der Pflanzen handelt, dieſe aber vorzugsweiſe auf einem Austauſch der Stoffe in der 
Pflanze mit der Außenwelt beruht, fo ift e8 erflärlih, dap die Agricultur⸗Chemie der» 
jenige Zweig der Naturwiffenfchaft ift, welche vor allen anderen tief in vie Agricultur 
eingreift, Die Grundlage ihrer Theorie bildet, und mit deſſen Fortbildung bie Fori⸗ 
fchritte im Aderbau gleichen Schritt gehen, wie dies in dem vorigen Artikel näher nach⸗ 
gereiefen ifl. | Ä 

Folgende Punkte find es befonders, welche den Inhalt der Ackerbau⸗Chemie bilden. 

In der Erflärung des Ernaͤhrungsproceſſes der Pflanze, welches weſentlich ein 
chemifcher Proceß iſt, hängt die Agricultur⸗Chemie mit ver Pflanzenphyſtologie zufam- 
men; — eine befondere Aufgabe der erſtern ift ed, die chemifche Zuſammenſetzung der 
verſchiedenen Gufturpflangen zu unterfuchen, und zwar nicht bloß in Beziehung auf den 
abfoluten Gehalt, fondern mit Hefonderer Nüdficht auf die ungleiche Bertheilung der 
Stoffe in den verfchiedenen Teilen der Pflanze und anf die ungleiche Zufammenfehung 
der ganzen Pflanze und der einzelnen Organe in verſchiedenen Lebensperioden. Einer 
feitö liefern Diefe Unterjuchungen die Grundlage für Die verfchiedenen Culturmethoden, 
— andererfeits ergiebt ſich aus der chemifchen Eonftitution der Pflanzenftoffe die Be 
deutung der Nahrungsmittel für Menfchen und Thiere, mithin der relative Werth 
derfelben. Die Nahrhaftigkeit resp. der Werth der Pflanzenftoffe wird nämlich beftimmt 
1) durch den Gehalt an Stärfemehl, Zuder u. dgl.; 2) noch wichtiger und maaßge⸗ 
bender aber ift der Gehalt an flidftoffhaltigen Subftanzen, z. B. Kleber, Pflanzen- 
eiweiß ıc., welche Stoffe Theil an der Blut- und Fleifchbildung des thierifchen Kbr- 
pers nehmen, fo daß man als Maaßſtab der Nahrhaftigkeit (bei gehöriger Verdaulich⸗ 
keit) den Stidftoffgehalt annimmt. Deshalb flehen in viefer Beziehung die Hülfen 
früchte und Getreide oben, die Kartoffel faft unten an in der Neihe der vegetabilifchen 
Nahrungsſtoffe. Auch die Qualität der verſchiedenen Producte einer und derfelber Art 
wird hierdurch gemeflen, 3. B. der Werth zweier Sorten von ®etreide einer Art durch 
den Klebergehalt beftimmt. Da aber im Allgemeinen der letztere im Verhältniß ſteht 
zu dem Gehalt an erdigen Theilen, fo kann auch die Afchenmenge ald Kriterium der 
Büte angefehen werben. 

Sodann hat die Ehemie ihr Feld in der Bodenfunde, indem es fa vorzüglich bie 
- gemifche Zufammenfegung des Bodens ift, welche defien Bedeutung für das Pflanzen 
Ieben bedingt. Aus demfelben Grunde ift auch die Frage nach der Verbeiferung bed 
Bodens, Erhöhung der Fruchtbarkeit eine faft rein chemifche; die Lehre vom Dünger 
ift ein Hauptabfchnitt der Ackerbau⸗ Chemie, wie es auch die letztere iſt, melde bie 
Grundlage für die verſchiedenen Bewirthſchaftungsſyſteme bildet, indem die Fruchtfolge 
wefentlich auf dem Wechfel der Stoffe im Boden und der ungleichen: Berthetlung der⸗ 
felben in den verfchiedenen ulturpflanzen beruht. 

Die Begründung der AderbausChemie fällt in den Anfang dieſes Jahrhunderts. 
Als AUrheber dieſer Disciplin ift zu betrachten der Engländer Humphry Davy, naͤchſt⸗ 
dem die deutſchen Chemiker Hermbftädt, Sprengel, Schübler u. ſ. w. Einen neuen 
° Aufihwung nahm diefe Lehre. in neuefter Zeit befonderd durch I. v. Liebig im feiner 
Schrift: „Die organifche Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Phnftologie 
1840* [über deſſen Grunbfäge, insbefondere über die fogenannte „WMineraltheerie" f. d- 
Art. Aderbau (Kandw.)], — und durch Bouffingault durch eine große Reihe umfaffender 
Berfuche (gefammelt in feinem Werk: „Die Landwirthfchaft in ihren Beziehungen zut 
Ehemie, Phyſik und Meteorologie”, deutſch bearbeitet von Gräger, 2. Aufl. 1851.) — 
Nächft dieſen ragen unter den Forſchern und Schriftflellem in der neuern Agricultur⸗ 
Ehemie beſonders die Namen Payen, Mulder, Stödharbt, Wolff u. A. hervor. 








Im weiteren Sinne umfaßt die Aderbau Chemie (oder die landwirthſchaftliche 
Chemie) audy bie chemische Vetrachtung des thierifchen Körpers, beſonders ben Ernäh- 
rumpsproceß der Iandwirtbfchaftlichen Thiere. 

Endlich laſſen fich verſchiedene Gegenftände, welche fonft zur technifchen Chemie 
gerechnet werben: die Theorie mancher in das Bereich des Iandwirthfchaftlichen Haus⸗ 
haltes gehörigen Gefchäfte, Bierbrauerei, Branntweindbrennerei, Eſſigfabrikation, Backen, 
Kochen, Butter⸗ und Käfebereitung. hierher rechnen. 

Aderbangejellichaften.. Die Erfolge im wirthſchaftlichen Leben find bei weitem - 
nicht überall die Folge der Anftrengung und Bemühung der Einzelnen, fondern ebenfo 
fehr und nicht felten in noch höherem Maaße die Frucht de8 Zufammenwirfens und das 
Ergebniß gemeinfamer Anftalten und Einrichtungen. Solche Anftalten und Einrich⸗ 
twagen und die Leitung gemeinfamer Unternehmungen koͤnnen vom Staate, den Ge 
meinden und Gorporationen ausgehen; nicht felten aber ift es der Sache viel fürber- 
famer und die Zwecke werden viel vollfommener erreicht, wenn fi Privatvereine mit 
folchen Angelegenheiten befaflen, weil ſie über Kräfte und Mittel verfügen koͤnnen, welche 
dem Staate und obrigkeitlichden Gorporationen nicht zu Gebote flehen. Sehr häufig _ 
würde dad Eintreten des Staated und der Gemeinden fogar unthunlich fein, weil bie 
Matur der Sache die Anwendung der Aucrtorität nicht geftattet. 

Solche freie Privatvereine nun, die theild die Dazwifchenkunft des Staated und 
der Gemeinden zu entbehren fuchen, weil fie über die zum Zwecke führenden Mittel- in 
volllommenerer Weiſe gebieten als der Staat und die Gemeinde, theild gemeinfame 
Zwecke verfolgen, bei deren Anwendung die Auctorität unthunlich if, find auch bie 
Alerbangefellfinaften, die zwar bereit das Intereffe der Neuheit verloren haben, was 
bei vielen Menſchen allerdings dad Ende der Sache if, deren wefentlichfle Aufgaben 
aber doch noch der Zukunft anzugebdren fcheinen. 

Die Nothwendigkeit eined rationellen Betriebes der Lanbwirtbfchaft und das 
Bedürfniß theils die gegenfeitigen Erfahrungen außzutaufchen, theild neue Verfahrungs⸗ 
weifen witzutheilen und zu Verſuchen zu ermuntern, waren bie Urſachen, welche vor 
100 Jahren die erften AUderbaugefellfchaften in’s Leben gerufen haben. Die Mittel, 
durch weiche fe zu wirken fuchten, waren diefem Zwede angepaßt. VBerfammlungen 
follten den Austauſch der Ideen und die mündliche Beiprechung einzelner wichtigen 
Segenftände und Verhaͤltniſſe erleichten, Zeitfchriften follten die Mittheilung und 
ruhigere Erörterung von neuen Verfahrungsweiſen, fowie die Mittheilung von Nadh- 
richten, welche für den Landwirth von befonderem Intereffe wären, ermöglichen, Aus⸗ 
ſtellungen zur Darlegung der gemachten Bortfchritte und zugleich zur Anregung des 
Wetteifers dienen, Preife zu Berfuchen ermuthigen. Auch heute noch verfolgen bie 
Adlerbaugefellfchaften im Ganzen jene Zwede mit vdiefen Mitteln. Einige haben 
indeffen noch andere Einrichtungen damit verbunden, die ſich wohl verallgemeinern ließen. 

So ‚bat die Fönigliche Ackerbaugeſellſchaft für Schottland zu Edinburgh ein 
landwirthſchaftliches Muſeum errichtet, in welchem Muſter von Ackerbauwerkzeugen, 
Sammlungen von den verfchledenen Gattungen von Saamen, naturgetreue Abbildungen 
von Zuchtthieren aufgeftellt find. 

Ebenſo bat dieſe Gefellichaft einen Chemiker angeftellt, welcher im Intereffe bes 
Vereins und auf Verlangen auch für die einzelnen Mitglieder — im lebteren Falle 
natürlich gegen Entſchaͤdigung — Verſuche anftellt. 

Ebenſo unterhält die Geſellſchaft den Thierarzt. Auch mögen wohl noch andere 
fürderfame Einrichtungen bier und da mit den Vereinen verbunden fein und andere 
A damit verbinden laſſen. So z. B. bat die Leipziger dconomifche Geſellſchaft ein 
Verſuchs gut eingerichtet, anf —8* ſie einen geſchickten Chemiker unterhaͤlt. Es 
iſt noch hier ein reiches Feld, welches man erſt an einzelnen VPunkten zu bebauen 
begonnen. 

Diefe Vereine Fönnen auch ſehr oft Der Regierung als Organe dienen, wo ihre 
eigenen Organe unzulängli fein würden. So haben befamntlih in Preußen bie 
landwirthſchaftlichen Vereine der Megierung wiederholt Gutachten abgegeben, welche fie 
auf anderem Wege kaum hätte erlangen koönnen. In ähnlicher Weife hat die englifhe 
Regierung ſich vr Aderbaugefellfchaften bedient, um eine landwirthſchaftliche Statiftif 


“ 


262 Alerban⸗Inftituie. 


zuerlangen, und in Preußen bat 1849 daß Landes⸗Oeconomie⸗Collegium umfafenbe 


Erhebungen über die Lage der ländlichen Arbeiten machen laſſen. Ueberhaupt fine für 
alle technijchelandwirtbichaftlichen Verhältniffe die landwirthſchaftlichen Vereine (ſ. d. Art.) 
die allein tauglichen Organe. 

Dazu iſt es denn allerdings nothwendig, daß dieſelben ſich in einem zuſammen⸗ 
hängenden Netz über das ganze Land verbeeiten, wie dies in Preußen und einigen 
anderen Staaten der Fall it. Dadurch rechtfertigt ſich denn auch, daß die Regierung 
einige StaatSmittel zur Forderung der Zwede diefer Vereine vermendet. Ohnehin ver 
dien ja jo genteinnüßige Untersehnumgen die Anerlennung und Aufmunterung ver 


- Regierung. 


Aderban- Suftitute find im weiten Sinne des Wortes alle Anſtalten, welde 
Unterweifung im landwirtbfchaftlichen Betriebe practiich und theoretifch, Durch Lehre und 
Beifpiel; zum Zweck haben. Hierher gehören Sowohl die Ackerbau⸗Inſtitute im 


‚engern Sinne des Wortes, wie auch die Aderbaufchulen mb bäuerlichen 


Aderbaun-Mufterwirtbfchaften. Sie haben alle drei im Allgemeinen benfelben 
ſchon oben angeführten Zweck, unterjcheiden fich aber wejentlich dadurch von einander, 
daß fie fich die Grenzen zu ihren Ziele nicht alle gleidy weit geftedt haben und daſſelbe 
auf verfchiedenen Wegen zu erreichen ftreben. Wie die Landwirthſchaft erft im ber 
Tenzeit ihre voiffenfchaftliche Begründung erhalten bat, fo find diefe Imftitute auch alle, 
mit einer Ausnahme, erſt in dieſem Jahrhundert entitanden. 

Die Alerbau-Inflitute im engern Sinne des Wortes, find ‚höhere laud⸗ 
wirtbichaftliche Lehre Anftalten, theild Staats⸗, theils Brivat-Inftitute, welche mit einem, 
oft. ausgedehnten landwirthſchaftlichen Betriebe verbunden find. Es werben auf beu- 
felben die lanbwirthichaftlichen Fady und Hülfswiffenfchaften vorgetragen, jedoch ifl zum 
Verſtaͤndniß diefes Vortrages eine gute Schulbildung erforderlich. Specificirt find die Vor- 
träge auf DenInftituten diefer Art etwa folgende: National«Deconomie, Bolkswirthfchafts- 


‚Politik, Finanzwiſſenſchaft, Iandwirthfchaftliche Bodenkunde, allgemeiner Ackerbau, land⸗ 


wirthſchaftliche Maſchinenkunde, Pflanzen⸗Produetions⸗Lehre, ſpecieller Wiefenbau, Vieh⸗ 
Productions⸗Lehre, landwirthſchaftliche Betriebslehre, Unterweiſungen in dem zur Anſtalt 
gehörenden Wirthſchaftsbetriebe, Buchführung, Taration-von Landgütern, Gartenbau, 
forftwirthichaftliche Vorträge, Sconomifchetechnologifche, landw. Baufunft, Thierarneibunde 
mit natomifchen Uebungen, Anatomie, Phyſiologie und Geographie Der Pflanzen, dc 
nomifche Botanif, Zoologie, Phyſik, allgemeine und Agricultur» Chemie, analptifdhe 
Chemie und Vebungen im Laboratorium, Mathematik, Mechanik, Landwjribichaftsrent, 
landw. Statiftil, Geſchichte der Landwirthſchaft se. sc. Durch Die dazu gehörenden land 
wirthſchaftlichen Betriebe wird den jungen Leuten Gelegenheit gegeben, geſunde Au⸗ 
ſchauungen in der Praxis zu bekommen. 

‚Dex mer dieſer Inſtitute iſt, rationelle, i. e. practiſch und theoretiſch tüchtige, 
brauchbare Oeconomen zu bilden, welche ſpaͤter als höhere Wirthſchaftsbeamte, Bellger 
oder Paͤchter fungiren. Sie find verſchieden in Betreff des Unterkommens der Akade⸗ 
miker eingerichtet; auf einigen wohnen dieſelben in den Inſtituts⸗Gebaͤuden, und haben 
dort gegen Zahlung eines beftinmten Stationdgelvdes Beköſtigung, Bedienung ı.; auf 
andern hingegen Haben die Akademiker für dies Alles ſelbſt zu forgen und leben im 
legtern Falle um Vieles unabhängiger vom Inititut. Es giebt jetzt fehon eine große 
Menge diefer Inftitute, von denen die hauptiächlichften angeführt - werben mögen: 


Unter den preußiſchen Inſtituten ift das aͤlteſte das vom _verfiorbenen Staatsrath 


Thaer zu Möglin bei Wrietzen a. OD. im Jahre 1806 gegründete, meldyed jegt vom 
Sohne des BVerftorbenen, den Landes⸗Oeconomie⸗Rath U. P. Thaer geleitet wird. 
Die Mögliner Wirthſchaft halt uber 2000 Magdeburger Morgen, und befindet fich da 
felbft eine vorzügliche Stammſchaͤferei. 

Hernere Inftitute in Preußen find: | 
„,; Megenmwalde tin Hinterpommern, Privat-Inftitut des Dr. Sprengel, im Jahre 
1842 exöffnet, mit einer Berjuchswirtbfchaft ven 420 Magdeb. Mosgen. _ 

Proskau in Schlefien, 1847 unter Geh. Regierungsrath Heinrich, der meh 
jegt dort Director ift, eröffnet, verbunden mit einer 4000 Morgen großen. Vechſchaſ 
mit den verſchiedenſten landwirthſchaftlich⸗ techniſchen Gewerbsbetrieben. 














Aderban Indie, . us - 


Poppeelsdorf bei Bonn, beſteht ſeit 1847; es wurde vom Landes Oeconomie⸗ 

Rath Weyhe geleitet, und bat eine Verſuchswirthſchaft von etwa 100 Magdeb. Mars 
gen zus Berfügung. Iept iſt Mrof. Dr. Hartflein dort Director. Die Schůler werden 
bei: der Bormer Univerfität inſcribirt. 
Eldena in Pommern ward 1834 vom Deconowie » Rath Säuke eingerichtet, 
der zu dieſem Behufe von Iena kam, mit einer Beifpielöwiribfchaft von nahezu 2000 
Morgen Nach Schulze's Abgang ward Pabſt Director, und. jetzt fungiert dort Pro⸗ 
ſeffor Dr. Baumftark ale ſolcher. Die „Fon. ſtaats⸗ und landwirthſchaftliche Mademie 
Eldena“ iſt im Jahre 1850 zum Reſſort des Minift. für landw. Angel. übergegangen, 
wodurch an ihrem frühern VBerhältniß zur Univerſität Greifswald, bei der Die Schüler 
Eldena's ald Studirende immatrieulirt werden und an deren Lehrkräften fie Theil Haben, 
nichts 'geindert iſt. Außerdem iſt für die Provinz Preußen Die Errichtung einer hoͤhern 
-fanbw. Yehranftalt auf der Domäne Wald au bei Körigäberg in pr. im rk un 
ſteht die Eröffnung in October 1858 in Audfiht 

Yan Defterreichifchen beftebt feit 1850 ein folches Inſtitut in Ung arifch iti— 
burg, unter Direction des k. k. Miniſterial⸗Sections⸗Rathes Dr. v. Pabſt, verbunsen 
mit einem Theile der Sr. kaiſerl. Hoheit dem ‚Erzherzog Albrecht gehoörenden Herrſchaft 
Nienburg. . 

In Bayern befindet ſich eine derartige Anftalt in Weihenſtephan, welche: 1822 
Durch. Schönleutner in Schleißheim gegründet und 1852 nach obigem Orte verlegt 
murde. Als Director fungirt dort Helferich; früher wurde Diefe Stelle Durch den ber 
, zübmien %eit vertreten. 

Die ſchon feit längerer Zeit beftebenbe Forſt⸗Akademie Tharandt im. Könige 
reich Sachſen warb 1830 van Schweizer aud) für Landwirthe eingerichtet. Jetzt bat 
Profeſſor Dr. Schober die Direction in Händen. Der Anflalt flieht has in unmikteis 
barer- Nähe belegene Folgengut :zur Verfügung. 

In Hannover if dem bisherigen landw. Lehrcurſus auf der Uniuerfit Göttingen 
feit 1857 die Bezeichnung einer Eönigl.. hann. landw. Afanesie Göttingen« Deere 
beigelegt. 

Das Anftitut zu Hohrengeim. im Königreid, Württemberg ward 1819 gegtüne 
bet, mojelbft der berühmte, Schwer; bis 1828 als Director fungirte; jetzt bekleide 
v. Balz Diele Stelle. Zur Alkademie gehoͤrt eine Wirthſchaft von uͤber 1000 Bagbeb, 
Morgen. 

In Jena im Großherzogthum Sachſen « Weimar « Eiſenach befteht unter geiums 
bed Geheimen Hofraths Profeſſor Schulze einsd Der frequentirteſten Adenbaurinftituse. 
Daſſelbe ift mit der Univerſitaͤt Jena verbumden, und biems als piaetiſches Hudfſamiuel 
die Wirthſchaft auf Dem Kammergute zu Zwaͤtzen. — 

Hiermit wären die: hauptfaͤchlichſten ver höheren landwirthſchaftlichen Lehr⸗An⸗ 
ſtalten aufgeführt; außerbem giebt es noch eine Anzahl ſolcher Inſtitute, ſogenannte 
Mittelfhulen, welche nicht ganz mit den erſteren auf eine Stufe zu ſtellen, aber 
in ihren. Art wicht minder zwedimäßig umd dieſen als Anhang beizufügen, iind. 

Es find dies Inftitute, welche Theorie und Praxis aufs Iyusigfte mit ‚ebnanber 
verbinden und zu dieſem Behufe auf Gütern errichtet find. Die, Vorträge werden hier 
einfacher und populärer gehalten, der ganze Unterricht ift mehr ein. elementaren, und 
das Sutdium bei Weitem Hein fo ſelbſtſtaͤndig wiſſenſchaftliches, als auf Deu hüberem 
Lehr⸗Anſtalten. Sie ſehen keinen langiaͤhrigen vollendeten, jedoch einen guten Schul⸗ 
unterricht voraus, und find deshalb, hauptſachlich für jüngere landwirthſchaftsbefli ſſene 
Beute, welche ſich biäher noch wenig oder gar Feine Erfahrungen in der laudwirthſchaft⸗ 
lichen Maxis geſammelt haben, Sie find theilweiſe fo eingexichtet, daß fie einem 
fingen Manne die Lehrjahre auf einem Gute wohl erſetzen köͤnnen. Da dieſe Anſtalten, 
wie fchon oben erwähnt, nur für jüngere Leute berechnet find, auf einigen ſogar Nie— 
mand, der über 18 oder 20 Jahre alt, mehr angenommen wird, wenngleich Exfahrenere 
ach in mancher Beziehung, fle weit Nutzen beiuchen könnten, ſo if die ganze Einrich- 
tung mehr eine ſchulenartige, und fiehen Die Zöglinge unter fehr ſpeciellex Anfflchie 
wohne auch lets im Juſtituts⸗Gebaͤude. Außer den nöthigiten Fach⸗ und Huilfs⸗ 
wifjenfchaften der Kandwirtbichaft, wird auch der bei den ungen Leuten noch nicht voll⸗ 

’ 


r 


— 


200 Acerbaumuſterwirthichaſten Atkerbauſchulen. 


endete, in der Regel ſchon mit der Eonfirmation abgebrochene Schulunterricht in einigen 
Punkten fortgefebt, und zu biefem Behufe Sprachunterricht se. ertheilt. 5 

. Eine beflimmte Anzahl von Stunden werben täglich dem theoretiſchen Unterrichte 
gewidmet, die übrige Zeit des Tages Hingegen .in der Wirthſchaft mit practifchen 
Uebungen und Demonftrationen zugebracht. Rühmlichſt bekaunt ift unter dieſen die 
lendwirthfchaftliche Privat⸗ Lehranſtalt zu Beberbeck in Kurhefien, welche im Jahre 1845 
gegruündet wurde. Diefelbe ift auf einem bedeutenden Gute errichtet, welches die wich. 
tigſten Branchen des landwirthſchaftlichen Betriebes in fich vereinigt. Berner mag bier 
noch erwähnt werden bie in neuerer Zeit auf dem freiherrlih von Sped-Gteruburg« 
ſchen Rittergute Rüsfchena bei Reipzig errichtete landwirthſchaftliche Lebranftalt, verbun⸗ 
den mit der chemifchen Anftalt des Dr. Kerndt in Leipzig, und die obere Abtheilung 
des Jnuſtituts zu Liebwerd bei Tetfchen an der Elbe. Bei Frankfurt a. M. in Boden 
Beim bat Weinrich eine folche Privat⸗Muſterwirthſchaft und Lehranftalt unter der Leitung 
von Dr. Birnbaum errichtet, welche dem betreffenden Gapitaliften viele Ehre macht. 

Ackeerbamufſterwirthſchaften find Bauerwirthfchaften, welche von landwirthſchaft⸗ 
lichen DBereinen, oder vom Staate beauftragten Commiſſarien mit Einwilligling des 
Wirtbfchaftseigners aus ihrer alten Gonftitution nach rationellen Prineipien neu unge 
bildet find, um den Bauern der Umgegend ein lebendiges Beifpiel für ihre eigenen 
Wirthſchaftobetriebe zu geben. - 

Es ift eine bekannte Thatfache, daß Nichts, nicht allein auf den Bauern, ſondern 
auch auf einen jeden Andern einen fo bleibenden und ſtarken Eindruck macht, als das 
Sehen .pofltiver Refultate mit eigenen Augen, und dies ift auch Veranlaffung zur erften 
Einrichtung der Mufterwirtbfchaften geweſen. 

: Der Auffaffungsweife der Bauern angemeflen hat man nicht große Güter, ſon⸗ 
dern den ihrigen ganz analoge bäuerliche Wirthfchaften zu diefem Zwede gewählt, fe 
Daß fie weiter Nichts zu thun brauchen, ald nur genau nachzuabmen, was fie dort in 
ihrer eigenen Feldmark ſtets vor Augen haben. Ein Theil dieſer bäuerlichen Mufter 
wirthſchaften ift von Iandwirthfchaftlichen Vereinen event. Regierungs⸗Commiſſarien zwar 
eingerichtet, befteht aber aus eigenen Mitteln und ift deshalb auch frei in der Bewirth⸗ 
fchaftung abfeiten des Eigenthümers. Die Commiflarien nehmen Dann nur eine confultative 
Stelle Dabei ein; bei Weiten der größere Theil erhält aber wegen des durch den intens 
fivern Wirthſchaftsbetrieb erforderlichen größern Betrieböcapitald einen beſtimmten jähr- 
lichen Zuſchuß aus der Staatsfafje (ca. 100—200 Thlr.), und muß ſich dann au 
natinilich in Betreff der Bewirtbfchaftung unter Aufficht eines landwirthſchaftlichen Ver⸗ 
eines ober eines vom Staate beftellten Commiſſairs, wozu gewöhnlich ein renommirter 
Doenom der Umgegend genommen wird, fellen. 

Die Eigner folder Wirthichaften werden Muſterwirthe genannt. 

* Diefe--Wirthichaften find gleich den Aderbaufchulen meiftens in den 40ger Jahren 
eingerichtet, und haben ſchon viel Gutes gewirkt. Am bäufigften finden ſie fich in den 
öftlichen Provinzen des Konigreichs Preußen, als Königsberg, Bromberg, Litthauen ꝛc., in 
welchen Bezirken die bäuerliche Landwirthſchaft noch am meiften der Hebung bebürftig if. 

:  Mderbanfchulen find auf Gütern errichtete Private, oder unter Staatsaufſicht 
ſtehende Lehranftalten, in welchen junge Leute aus den niederen Ständen, in dem 
Elementen der Schulwifienfchaften und im praktiſchen Wirtbfchaftäbetriebe unterrichtet 


wetben, wobei ihnen faßliche Vorträge über Naturwiflenfchaften, Thierarzneikunde, Feld⸗ 


polizei und die nothwendigſten landwirthſchaftlichen Fachwiſſenſchaften gehalten werden. 
Sie find größtentheils erft in den 40ger Jahren dieſes Jahrhunderts entflanden.: 

Die Arbeiten auf den mit dieſen Anftalten verbundenen Gütern werben in bei 
Regel von den Zöglingen felbft verrichtet unter Anwetfung und Aufficht der Lehen, 
wofhr ihnen meiftens ein mäßiges‘ Tagelohn gezahlt wird. Das zu zahlende Koſtgeld 
ift u geringe, und giebt es auch auf vielen biefer Anftalten mehrere ganze und halbe 
Freiſtellen. 

Der Zweck dieſer Schulen iſt, Bauerfühne zu befaͤhigen, ihren ſpaͤter anzutreten⸗ 
den elterlichen Hof rationell bewirthſchaften zu koͤnnen, wie auch Söhne von Leuten 
aus dem Arbeiterftanbe zu tüchtigen Wirthſchaftsaufſehern, Großknechten, Schafmeiftern *. 
auszubilden. 














f 
Aderbaudsyitent: ‚ 385 

Die ausgezeichneten Erfolge dieſer Schulen, deren ſich eine große Menge in ganz 
Deutfchland,, namentlich aber in Preußen finden, find allgemein anerkannt; beſonders 
haben dieſelben in manchen Gegenden auf den Bauernfland ſchon ſehr günſtig einge 
wirft. Man ift daher gewiß berechtigt, noch glänzendere Erfolge derfelben für die Zeit im 
Ausficht zu ftellen, in der die Aderbaufchüler der lehten Jahte zu Männern beran- 
gereift fein werden, und Jeder an feinem Plage landwirthſchaftlich wirfend auftritt. 

Acerban⸗Syſtem, auch Agricultur⸗ oder Feldſyſtem genannt, if das Princip, 
nach welchem die Iandwirthfchaftlichen Gulturgemächie jeder Art angebaut werden, ſowohl 
- in ihrer Beibenfolge auf einander, als binfichtlich der Art und Weiſe, wie fie angebaut 
werden. — Man findet heutigen Tages die mannichfaltigken Aderbau-Syfteme, von 
dem einfachften, den extenſivſten Wirthſchaftsbetrieb mit ſich Bringenden, einer früheren 
Entmidelungsperiope der Landwirtbfchaft angehörennen, bis zum zuſammengeſetzteſten 
und volllommenften, eine böchft intenfive Wirtbfchaft bedingenden Syſtem. — Es darf 
dies nicht mit „Srachtfolge” im engeren Sinne des Wortes verwechfelt werben, welche 
nur als eine Unterabtheilung hiervon anzuſehen ift und ſich ausſchließlich muf den 
Anbau der Culturpflanzen auf dem Ader, im Gegenſatze zu den Wieſen, beſchraͤnkt, wohin⸗ 
gegen daB Aderbau-Spften aud Wiefen und Weiden mit einbegreift, als Ader im 
weiteren Pine des Wortes. Die wichtigften Ackerbau⸗Syſteme mb: 

» Die reine Graswirthſchaft. 
1 Die wilde Feldgraswirthſchaft. 
NM. Die Koörnerwirthſchaft. 
IV. Die Fruchtwechſelwirthſchaft. 
V. Die Koppelwirtbfähaft, geregelte Beipgraswicthfgaft ober 
Eggartenwirthfchaft. 
VI. Die freie Wirthſchaft. 
Einige diefer Spfteme zerfallen wieder in mehrere Untatgelungen, | 
Il. Die reine Graswirthſchaft 
nugt faft das fämmtliche Land als Wiefen und Weiden. Man findet fie m ſeuchten, 
fruchtbaren Niederungen am Meere und großen Stroͤmen, namentlich in den norddeut⸗ 
ſchen Küſtenlaͤndern (Dittmarſchen), ferner in der Wald⸗ und Weideregion, wo der 
Getreidebau nicht mehr recht ſicher und die Bevölkerung dinn iſt. 

Man if in diefen Gegenden, welche meiftens durch ihre Feuchtigkeit den Gras⸗ 
wuchs ſehr begimfligen, auf den natürlichen Futterbau, und ſomit auf Viehhaltung 
angewieſen, bie bort auch faſt ausfchliehlich betrieben wird. Auf den großen Ebenen 
des dfllihen Europas findet jid die. fogenannts Puſtenwirthſchaft, welche wer oben 
befchriebenen ähnelt, die fich aber verliert, jobald man in bewohntere Gegenden Tommt. 

Diefes reine Graswirthſchaftsſyſtem, ald eines der am wenigften mudgebilbeten 
Agriculturfpfteme, if oft in folchen Gegenden rationell, we die Mil zu Hoden Preifen zu 
verwerthen oder der Abfag für Vieh ein bequemer und guter if. Berner bei hohen Lohn⸗ 
verhältnifien in feuchten oder rauhen Glimaten oder auch bei fehr dunner Bevölkerung. 

HU. Die wilde Feldgrasſswirthſchaft 
läßt das Land. eine unbeftimmie Reihe von Jahren zu Gras liegen und nimmt dann 
einige Halmfruckternten, um ed Darauf wieder zu Gras nieberzulegen. 

Es ift dies jedenfalls ein ſehr rohes, extenſives Agriculturſyſtem, und findet fi 
auch vorwiegend nur in folchen Gegenden, wo das Land noch im Ueberſtuß yorhanden 
iM und in Folge defien wenig Werth hat, außerdem durch unglmflige locale Verhaͤlt⸗ 
nifie die Düngerausfuhr erfchwert ift, oder der Boden au am ſich undankbar und 
ſchlecht. Sie kommt bauptfärhlic; in ber Region des Sommergetreided vor, in der web 
Bintergetzeived nur auf entfernt liegenden ſchlechten Außenfeldern. Oft findet man 
fie in Gebirgen und Hochebenen, wo magerer Boden und arme dünne Bevolkerung 
zufammentreffen. - * 

In dieſes Syſtem wäre auch die in den Noriſchen Alpen gebräuchliche Wirth⸗ 
fyaftsart zu vechnen, wo man das Land 5—10 Jahr zur Beide legen läßt, e8 dann 
auf 1230 Jahr mit Riederwald belegt, diefen dann ausrodet, das Aſtholz se. anf 
dem Lande verbrennt, es dann wieder cultivist, einige Jahre mit Cerealien beſtellt und 
Darauf wieder zur Weide niederlegt. 


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MM. Die Körnerwirtbfchaft; auch Getreida⸗ odm ‚Felder 
wirthſchaft. 
Sie baut nie weniger als wie Hälfte ber Gefammtäche mit Körnerfrächten, wohl 
aber oft mehr, Lmterabtheilungen find: 
A. -Dreifelbrige Körnerwirthigaft 
bebaut — %5 der Fläche mit Kom. 
a. Heine Dreifeldermisthfcaft. 
Sie hält erſtens reine Brache, baut dann Winterforn und hierauf Sonimerkorn. Die 
Süljenfrüchte und. Kartoffeln werben im Sommerfelde angebaut und außer ben Stroh 
fein Futtex anf dem Acker producirt. Deshalb muß eine. jolhe-Wirthichaft auch noch⸗ 
wendig eine Beihülfe durch Wieſen und Weiden haben; falls fich folche nicht finden, 
mafı man Udesland dazu niederlsgen, und hängt es von deren Ertsage ab; ob dir 
Brache alle 3, 6 oder 9 Jahr gedängt werden Tann. 
Imenfails erfordert eine ſolche Wirthſchaft, um auf gleicher Stufe Der Kraft 
Reben zu bleiben,: einen nicht unerheblichen jährlichen Düngerzufchuß, wer nicht ducrch 
diefes Syſtern probucirt wird, ca. 15—20 Etr. Normaldunger pr. Mg. 
Unter folgenden Umftänben fieht man dies Syſtem wohl ald gerechtfertigt om: 
1) wo fi das Korn zu fehr Hohen Preifen verwerthen läßt; 
' 2) wo man viel Futter auf natürlichen Wiefen und Weiden baut, melde FR 
zur Nutzung als Aderland nicht eignen; 
3) wo fie ald Nebenfruchtfolge auf Außenfchlägen betrieben wird, und bie 
Hauptfrucdhtfolge das nöthige Kutter liefert. 
Gin Fleiner Bortheil if noch der, daß man in der Brache den Dünger zu einer 
Zeit anbringen kann, in der man ihn fonft nicht zu verwenden weiß, und auch bie 
Gefpanne zu derſelben Zeit Arbeit finden. 
4) Wo Slurzwang dazu veranlaßt. 
| In allen in der Cultur etwas weiter vorgefchrittmen Gegenden ſchaften man 
dieſes Syfflem, mo es die Verhaͤltniſſe irgend geſtatten, mit Recht als den Zeitver⸗ 
baltniffen nicht mehr angemeſſen ab. Ihre Entſtehung fällt im die Zeit Karl's ded 
Gro 


ßen. 

b. Verbeſſerte Dreifelderwirthſchaft. 

Hier kommt die Brache entweder gar nicht mehr oder doch um in längeren Zeit⸗ 
yäumen vor. Auf dieſe Art bilven fich die verjehiedenen Bruchtfolgen. dieſes Syſtens. 
An die Stelle Der Brache tritt, wo dieſe ausfaäͤllt, eine beliebige huiterfrucht, ſei es 
Hackfrucht, Leguminoſe oder ein Handelsgewächs irgend einer Art. 

Br: Beranfhaulichung folgendes Beifpiel: 

U reine Brache, 2) Winterroggen, 3) Gerſte mit KlessEinfaat, 4) Klee (ſtatt 
Drache; 5) Winter-Weizen, 6) Safer. 

. Ban nemt dies der Anzahl der Schläge nach eine verbeflerte Gfchlägige Dryie 
felderwirthſchaft, verbeſſert, weil im vierten Jahre ſtatt der Brache Klee gebaut wird. 
Es wird in der Art dieſer Fruchtfolge nichts geaͤndert, wenn auch die Brache im erſten 
Jahre beſömmert wire Macht man nun eine Neuneiniheilung der Schläge und haut 
nob: 7) SHülfenfrüchte (flatt Brache), 8) Winterung, 9 Hafer, fo. hat man eme 
verbefierte neunſchlaͤgige Dreifelderwirthſchaft; auf dieſelbe Weiſe kann man durch Hin⸗ 
zufügung noch dreier Schläge eine zwölfſchlaͤgige derartige Wirthſchaft bekommen. 

Dieſe verbeſſerten Dreifelderwirthſchaften, welche ſich in vielen Gegenden Deutſch⸗ 
binds ſchon finden, nähern fi) bald mehr her reinen Dreifeldermirthfchaft, bald mehr 
dem Sruchtwechſel, weiter unten genau erdriert werben wird. Sie, würbee bei 
gleich ſiarker — durch Die bebaute Brache weniger Stroh und leichderes Kos 
erzielen, ba fie aber weit mehr Dünger durch ihren Futterbau produciren, jo find ſe 
auch im Stande, ftärker zu düngen, und ſo ſtellt ſich das Verhaͤltniß zu Gunſten die⸗ 
her Warthfchact Heraus, 

Den Uebelfande, daß der Klee unter bie dritte Frucht erſt gefärt wud, hilft 
man oft dadach ab, daß man ihn unter die zweite ſäet un dann zwei Jahre beibe⸗ 
haͤlt. Die ——* Dreifelderwirthſchaft iſt bei weitem nicht ſo abhängig nem Gr 
trage der Wiefen und Weiden, ale wie Die reine, vorausgeſetzt, daß Die Vrache wi 














Krlechau@gfänt au 
Futtenkruutern angebant iſt, und fonftige hochgelegene oder ſonſt dazu qualificirte Wieſen 
und Weiden umgebrochen und der Fruchtfolge einverleibt ſind. 

Will man in einer reinen Dreifelderwirthſchaft zur Sommerſtallfutterung des 
Rindviehs übergehen, fo bedingt dies zunaͤchſt ben Uebergang aus verbeſſerten Drei⸗ 
felderwirthſchaft mit Unbruch der Weiden. 

B. Bierfelprige Koͤrnerwirthſchaft, a 
bebaut %, des Ackers wit Körmerfrüchten. 

Eine Häufig in Weſtfalen vorkommende, hierher gehorige Datſchaftzart iſt 
folgende: 

1) reine Brache. 2) Winterung. 3 Sommerung. .4) Sonmmung v web vauvde 
Hüljenfrüchte. 

Im Oderbruch: 

1) Kartoffeln. 2) Gerſte. 3) Roggen. 4) Safer. 

Es giebt noch manche diefer Art Sruchtfolgen, die aber ſänmilich den X —* 
gemein verwildern. 

C. Fünffeldrige Körnerwirthſchaft, W 
gleicht der vorigen ſehr, baut aber 4 reifende Kornfrüchte nach einem Danger, und 
verwildert meiftens in Folge deſſen den Ader noch mehr. ’ 

3. B. 1) Brache. 2) Winterung. 3) Hafer. 4) Hülfenfräcdte 5) Hafır. 

Haben folche Wirthfcyaften aber eine verbeſſernde Frucht eingefchoben, fo ver- 
zwildern fie den Ader nicht fo, und gehören den befleren Sruchtfolgen an. 

3. B. 1) Brade. 2) Roggen mit Klee» Einfaat.. 3) Klee. 4) Roggen. 
5) Safe. 

Außer noch manchen hierher gehoͤrenden Folgen bat man noch 6, 7 und Sfelprige 
Körnerwirtbichaften, welche ſich aber mehr oder. weniger den befleern fünffelurigen ans 


Ichließen. 
D. Erzkoͤrnerwirthſchaften. 

Anch übertriebene Kornerwirthſchaften genannt, welche den Acker in. hohem Grade 
erſchoͤpfen. | 2 
3. B. 1) Buchweizen. 2) Roggen. 3) Roggen. 4) Roggen mit Stoppel- 
rüben. 5) Kartoffeln. 6) Roggen. 7) Roggen. ' 

Diefe Folge greift den Ader ſtark an, wiewohl alle Jahra ſtatk geringt wird. 

Die eigentliche Region der Körnermwirthfchaften ift die des. Wintergetreides, koönnut 
fe jedoch in der des Sommergetreided vor, fo folgen mer Sommerhalmfrächte aufein- 
ander. In der Megion des Weinbaues neigen fie fih mehr zum Fruchtwechſel bin. 
Sie erfordern eine flärfere Bevölferung, ald die Graswirthſchaften und Die, Koppel⸗ 
wirthſchaft. Auf leichten Bödenarten, welche fe zu ſehr auflodern, finden fle ſich nicht 
haufig mehr, und überhaupt mehr auf Bauerhöfen, als in veſchloſſenen dewirth⸗ 


ſchaften. 
V. Die Fruchtwechſelwirthſchaft oder Soſſtem. 

Ihr Zweck iſt hauptſaͤchlich folgender: 

1) jedem Gewaͤchſe in Beziehung auf Vor⸗ und Machfrucht den ihm zutraͤg⸗ 
lichſten Standpunkt anzuweiſen, 
3)_durch einen ſtaärkeren und ſicheren Futterbau auf dem Acker die Landereien 
mehr in Kraft zu ſetzen und zu erhalten, 
3) Die reine Brache durch den Anbau von Hackfrůchten und vinch den Wechſel 
Br) der Früchte. zu erſetzen. 
Man untesfcheidet: Ä Ä 
a. frengen Fruchtwechſel, | 
b, weniger firengen Fruchtwechſel. 

Der ſtrenge Fruchtwechſel duldet nie die Aufeinanderfolge zweier Oalifracht— 
fondern verlangt, daß zwiſchen zwei Halmfrüchten immer eine Blattfrucht aingeſchoben 
werde, der weniger firenge Fruchtwechſel geftattet hingegen. am Schlufle der Fruchtfolge 
die Aufeinanderfolge zweier Galmfrückte, ober auch 3. B. reine Brache vor bem Map. 

Gemeinſam ift ihnen aber beiden, daß nie mehr als Die File det Hand ii 
Koͤrnergewaͤchſen befellt jein darf, „ 


268 Aderban⸗⸗Ditem. 
Man theilt den gFruchtwechſel noch in zwei andere Klaſſen, welchen die beiden oben 
angeführten unterzuordnen find, nämlich: 
A. Fruchtwechſel ohne perennirende $utterpflanzen. 
B. Fruchtwechſel mit perennirenden Zutterpflangen. 

Sodann unterfcheidet man noch folche, Die Gemerböpflanzen in ihren Turnus 
aufgenommen haben. — 

A. Fruchtwechſel ohne perennirende FZutterpflanzen. ‚ 

Ä a, Strenger Fruchtwechſel ohne Gewerbspflanzen. 

In dieſe Klafle gehört der Norfolker Zruchtwechfel, “welcher durch Thaer auf 
deutfihe Verhaͤltniſſe übergeführt in den Rheingegenden, tiamentlih an des Mofel ein- 
geführt ward: Ä 

’ 1) Hackfrüchte. 2) Sommerung irgend einer Art. 3) Klee. 4) Winterung irgend 
einer Art. 5) Hackfrüchte. 6) Sommerung irgend einer Art.. 7) Hülfenfrüchte. 8) Win- 
terung irgend einer Akt. 

Es giebt noch viele Fruchtfolgen, welche in diefe Klaffe gehören, fie Ahneln 
aber diefer angeführten mehr oder weniger und find alle leicht zu erkennen. 

b. Weniger firenger Fruchtwechſel ohne Sewerbspflanzen.. 

3. B. a. auf fhwerem Boden mit reiner Brache: 
D teine Brache, 2) Weisen, 3) Klee, 4) Hafer, 5) Bohnen, 6) Weizen. 
B: Mit zwei aufeinanderfolgenden Halmfrücten: 

1) Hackfrüchte, 2) Sommerung, 3) Klee, 4) Klee, 5) Winterung, 6) Hülfen- 
früchte, 7) Winterung, 8) Sommerung. 

y. Rit reiner Brache und zwei aufeinanderfolgenden Halmfrügten: 

1) Hackfrüchte, 2) Sommerung, 3) Klee, 4) Klee, 5) Winterung, 6) reine 
Brache,. 7) Winterung, 8) Sommerung und Hülfenfrüchte. 

c. Strenger Fruchtwechſel mit Gewerbspflanzen. 
3. 83. im Eljaß auf ſchwerem Boden vorkommend: 
: 1) Hanf und Tabak, 2) Weizen, 3) Gerfte, 4) Klee, 5) Rays, 6) Weizen 
mit Stoppelrüben; 

- auf fandigen Boden: 

1) Kartoffeln, 2) Roggen, 3) Mais und Hanf, 4) und 5) Krapp, 6) Roggen. 

Hier wird aber nur fo wenig Stroh producirt, daß ſich die Wirthſchaft nicht in 
ſich ſelbſt erhalten kann. 

Oft ſchaltet man in die Rotation noch einen Rapsſchlag mit vorhergehender 
Brache ein; iſt dieſe Brache beſommert, ſo gehoͤrt die Folge noch in dieſe Abtheilung, 
iſt ſie rein, ſo gehoͤrt ſie unter: 

d. Weniger ſtrenger Fruchtwechſel mit Gewerbspflanzen. 

.BS. B. 1) Btache, 2) Raps, 3) Winterung, 4) Kartoffeln oder Runkein, 
5) Sommerung, 6) Klee, 7) Winterung, zuweilen auch noch 8) Sommerung. Der 
Kleefchlag Tann auch 2 Jahre beibehalten werden. : Eine recht gute Sruchtfolge, welde 
Futter und Streumaterlal genug erjielt, um ſich in fich felbft halten: zu können. 

z B. Fruchtwechſel mit-perennirenden Futterpflanzen. 
a. Nah den Regeln des firengen Fruchtwechſels. 

: 3.8. 1) Raps, 2) Weizen, 3) Kartoffeln, 4) Hafer, 5) Brache befommert, 
6) Rave, 7) Roggen, 8) Kartoffeln, 9) Gerfte mit Esparſette⸗Einſaat, 10) bie 12) 
Esparſette. 

b. Nach den Regeln des weniger ſtrengen Fruchtwechſels. ⸗ 

3. B. 1) Spelz, 2) Brachrüben, 3) Gerſte, 4) Hafer, 5) Drache, 6) Hoggen, 
T) Kartoffeln, 8) Gerfte mit Esparſette, 9—11) Ebparfette: 

Dies Syſtem würde zu den Körnerwirtbichaften gehören, wenn nicht die Eöpar- 
fenteſchlan · den Futtergewächſen die Ueberhand gäben. 

' Ueber die Fruchtwechſelſyſteme im Allgemeinen ift nut noch zu erwaͤhnen, daß 
ſie einen höhern Brutto-Extrag erzielen, als die Koͤrnerwirthſchaften auf einer gleichen 
Fläche Bandes. Sie erfordern aber, wie eine jede intenſtve Wirthſchaft mehr Capital 
und unbebingt vollſtaͤndig freie Dispofltion über den Voden. Hieraus ift erfichtlid, 
daß ihrer Ausführung ſich mannichfache Schwierigkeiten entgegenftellen Tonnen, bie es 











AderhenEyten. | 208 


raihſam machen, bei einem erienfiveen Syſteme zu bleiben; wo fich dieſe Schwierig- 
feiten aber nicht finden, muß ihr der Vorzug vor den Körrierwirthfchaften gegeben 
werben. Sehr zerſtückelte Lage der Ländereien erfchwert ihre Einführung fehr. - 
V. Die Koppelwirtbfhaft, Dreeſchwirthſchaft oder Eggarten⸗ 
wirthſchaft, auch wohl geregelte Felpgraswirthſchaft genannt. 
Nach dieſem Syſtem wird der Acker eine beſtimmte Reihe von Jahren mit ver. 
ſchiedenen Früchten beſtellt, und dann eine gewiſſe Zeit zu Gras niedergelegt. Man 
überlaͤßt dieſe Beraſung entweder der Natur, oder beſchafft ſie kimftlich. Die Anzahl 
der Schläge ift fehr verfehieden. 
Man theilt fle auf Diefelbe Weile ein, wie bie Zruchtwechfelwirtbfchaft ,. mind: 
A. Koppelwirtbfchaft ohne Bewerböpflangen. 

a. Nach den Regeln der Körnerwirtbfchaft (für die Nichtfutterfelber). 

Es giebt ſehr viele unter diefe Rubrik gehörende Syſteme, von denen nur der 
beiden haͤufigſten ermähnt werden mag. 

8. 3. 1) reine Brache (Dreeſchbrache), 2) Winterung,. 3) Sommerung, 9 ven 
Vrache (Miſtbrache), 5) Winterung, 6) Sommerung, 7) Klee, 8) und 9) Weib 

Diefe Folge bildet einen Uebergang von der Dreifelderwirthfehaft zur Koppel 
wirtbfchaft, und fommt häufig in Mecklenburg vor. 

Eine in Solftein übliche, hierher gehörige Fruchtfolge ift: 

1) reine Brade, 2) Winterung, 3) Gerfte, 9 Hafer, 5) Safer, 6) Maͤhllee, 
NT bis 10) Weide. 
Man nimmt auch wohl vor der Brache noch einmal Dreeſchhafer und erhält 
dadurch einen Schlag mehr. — Es ift aber durchaus nicht nothwendig, daß bei ber 
Koppehwiribfchaft die Weide eine mehrjährige fe, wie das in den Steyerifchen und 
. Salzburger Alpen üblidye Roppelwirtbicaftsigftem zeigt, wo zweimal nady sinander 
Winterroggen gefäet wird, und dann ein Jahr Weide gehalten. Man nimmt bort 
auch wohl flatt der zweiten Winterfaat eine Sommerfaat und ‚hängt noch einen Brad 
flag an. 

Diefe Art Alpenwirtdfchaften findet man meiſtens über einer Höhe von 2000’ 
über dem Meeresfpiegel. 

b. Nach den Regeln des Fruchtwechſels (für die Nichtfutterfelder).: 

3.8..1) Brade, 2) Winterung, 3) Kartoffeln oder Rüben, 4) Gerſte, 5) Klee 
oder Erbſen, 6) nach Klee Hafer, nach Erbſen Moggen, 7) Brache, 8) Winterung, 
9) Sommerung, 10) bis 12) weiße Kleeweide. Ohne die Kleeweide würde biefes 
Syſtem ein weniger firenger Fruchtwechſel fein, durch biefelbe wird es aber au eier 
Koppelwisthfchaft nach den Segeln des Fruchwechſels. 

B. Koppelwirthſchaft mit Gewerböpflanzen. 

Folgendes intereffante derartige Syſtem fommt im Erzgebirge vor: - 

4 Flachs, 2) Sommertoggen, 3) Gesfte und Hafer (im Gemenge), 9 Selen, 
5) Gras zum Mähen, 6) bie, O9) Weide; 

im Weſterwald: 
o is, Hafer, 2) Hafer, 3) Kartoffeln, 9 Flachs, 5) Roggen, 6) Safe, 7) bis 

) 

uf großen Gütern wird oft noch ein Rapsſchlag mit eingeſchaltet, 

z. B. in Holſtein: 1) Hafer, 2)-Brache, 3) Raps, 4) Winterung, b) Somme- 
rung, 6) Sommerung, 7) Klee, 8) bis 10) Weide; 

in Medienburg: 1) Brache, 2) Raps, 3) Weizen, 4) Gerfte, 5) Erbſen und 
Safer, —9 bis 9) Kleeweide. 

Im Allgemeinen rechnet man die Koppelwirthſchaft zu den extenſiven Syſtemen, 
doch wird folgende öfter: vorkommende Folge zeigen, daß ſie auch intenſiv betrieben 
Werben. kann: 

. 8:1) Brache, 2) Raps, 3) Winterung, 4) Kleegras, 5) Weide, 6) Hafer, 
* —2 8) Winterung, 9) Kleegras, 10) Weine. 

‚  apital ift zum Betriebe der Koppelwirtbfchaft verhältnißmäßig wenig erforder⸗ 
ih, fo Lange fie nicht intenfiv und mit Sommer-Stalffütterung betrieben wisd, da fie 
wenig Handarbeits⸗ und Spannträfte in Anſpruch nimmt, 


IB. Adergeräthe: 


‘: Ihre eigentliche Heimath HM die Wegion des Sommergetreides und ber vauhere 
Theil der Region des Wintergetreides, in Gegenden mit feuchter Atmofphäre; nie 
aber, oder jedenfalls mar fehr ausnahmsweiſe in der Negion des Weinbaues. Dem 
leiten Boden iſt die Koppelwirthſchaft vor Allem zuträglic, da durch das in Weide⸗ 
Liegen der Ader etwas mehr Beftigfeit wieder erhält; dach muß dad Land von Natur 
grasukahftg fein. . 

Bei ſolchen Ländereien, die mit gewiſſen Servituten belaftet find, iſt fle nicht 
anwendbar, wo 3. B. Uebertriebsrechte darauf ruhen, ımb dieſes Hütungsrecht dann 
fih zum großen Nachtheil des Pflichtigen auf alle Weiden erſtrecken würde, auf Län« 
dereien bingegen, von denen Natural»Fehnten gegeben werben, würde fich der Berech⸗ 
tigte die Koppelwirtbichaft nicht gefallen laffen, falls. fie nicht von Alter ber darauf 
beftände. | 

Diefen Koppelwirthfchaften, Körnerwirthfchaften und Graswirthſchaften fchließen 
ſich verfchienene felten vorkommende Spfteme noch an, 3. B. die fogenannte Zwei⸗ 
felderwirthſchaft, und diejenigen, wonach das Land nur vorübergehend mit Aderpflanzen 
angebaut wird, Die Hauptnutzung aber eine andere ift, fei es Holzeultut, Hopfen, 
Wein», Obfibau ober Fifchzucht. £ 

Bei denjenigen mit Holzcultur unterfcheidet man unter andern die hbauptfärhlid 
in Böhmen üblide Waldfeldwirthſchaft, und die im Odenwald und Schwarz- 
wald vorkommende Hackwaldwirthſchaft. Bei beiden wird der Boben gebrannt. 

Den Einbau in Weinbergen findet man in den Mheingegenden, den in 
‚Hopfengärten namentlih In Württemberg umd Bayern. In die Hopfengärten 
wird borzäglich die längere Jahre dauernde Luzerne unter Roggen eingefäet. 

Beim Einbau in zeitweilig troden gelegte Fiſchteiche iſt es Megel, nie Winters 
frucht vorkommen zu lafien, da dieſe bier zu leicht außfriert. 

Außerdem giebt es nach unendlich viele durch locale Verhältnifie bedingte Syſteme, 
die ſich bald dem einem, bald dem andern ver oben angeführten Syſteme mehr nähern. 

VL Die freie Wirthſchaft 
baunt alle möglichen Früchte in den verſchiedenſten Neihenfolgen, wobei natürlich Feine 
groben Berflüße gegen Fruchtfolge oder »mechfel gemacht werden dürfen. Sie iſt biß 
- jegt nur tathfam in der Nähe großer Städte, wo die Abſatzverhaͤltniſſe fur Gewerbs⸗ 
pflanzen fehr gänflig. find, und in fruchtbaren, wo möglich etwas ſüdlichen Gegenden, 
28. in Mittel-Dentjchland, dem nördlichen Frankreich sc, wo Mißwachs feltener if, 
ſelbſt wenn einmal: ein Verſtoß gegen Fruchtfolge gemacht werden follte. Sie erfor: 
Dort entſchieden am meiften Capital, Arbeitsfraft und Aufficht, und tft deshalb leichter 
auf kleineren Gütern einzuhalten, ald auf größeren, und noch ‚leichter auf Parcellen⸗ 
land, als auf Fleinen Gütern. . 

Sie nähert ſich bald mehe dem einen, bald dem andern ber angeführten Sy 
fteme, je nachdem mehr auf Körnerbau, oder auf Futterbau und animaliſche Producte 
gefehen wird; nur daß fie ſich nie an eines derſelben bindet. 

Welches von allen Ackerbau⸗Syſtemen das vortheilhaftefte und; rationellfte if, 
laßt fich im Allgemeinen nicht angeben und hängt ganz von Iocalen, Elimatifchen und 
ähnlichen Verhältniffen ab; am richtigen Orte kann auch das ertenfiofte zugleich DaB 
rationellfte Syftem fein: | ' | 

"Adergeräthe. Ban verfteht unter dieſer Benennung diejenigen landwirth— 
fhaftlihden Geräthe und Maſchinen (flehe daſelbſt), welche direct oder iM 
pivert zur Bearbeitung des Aders resp. der Wiefen angewendet werben um fie zum 
Standort für Eulturpflanzen ſchicklich zu machen. Die große Rannichfaltigkeit ſowohl 
der ſpectellen hierbei ins Ange gefaßten Zwecke als auch der, durch immer neue und 
verbefferte Exfindungen vervielfaltigten Wittel zu deren Erreichung, läßt eine foftematifch 
geordnete Zufammenftellung ald zum Verſtändniß erforderlich und Die Ueberſicht we 
fentlich erleichternd erſcheinen. Unbedingte Boltftändigkeit in Namhaftmachung aller ein⸗ 
zelnen, oft nur durch geringfügige Abweichungen ſich unterſcheidenden Geraͤthe, it 
übrigen®: nicht bie Abſicht diefer Darſtellung, welche ſich darauf beſchranken muß, bad 
die Sattung Charakteriſirende zu benennen und dem weniger Bekannten einige erlät- 
ternde Bemerkungen beizufügen.  ' J . 








Adrrgeräthe, zu 
l. Geräthe und Majchinen, welche Direct zur Bearbeitung des 
Aderd resp, Wieſen verwendet werden A. Zum Wendendes Bodent. 


ar Handgeräthe Die rohen Werkzeuge diefer Art finden ſich ſchon in den Alteflen 
Zeiten des Landbaues, da ohne Wenden des Bodens kein Aderban auf Die Länge denkbar 


ik. Die Haupterten, nämlihd Spaten, Schaufel und Hacke, unterfcheinen ſich 


weſentlich durch den verfchiedenen Winkel, den der breite eiferne, zum Kinvriogen in 
den Boden beftimmte Theil — das Blatt — mit dem Sandgriffe — Stiel — madıt. 
Der Spaten oder Efcher gleicht fih in den Hauptpunkten in allen Ländern, wenn 
auch viele unmejentliche linterfefiede in Form und Stellung’ fi finden. Das Blatt 
bildet mit dem Stiele nahezu eine gerade Linie. Er wird audy zum Pulvern des: Erd⸗ 
reichs und manchen andern landwirthſchaftlichen Berrichtungen benußt, das Bodenwenden 
ift aber der Hauptzweck deſſelben. Die Grabgabel dient zu demfelben Zmwede und 
unterfcheidet fi) von dem Spaten nur dadurch, daß fie flatt des eiſernen oder 
ftählernen Blattes drei fcharfe Spigen bat, welche nach vorne etwas im Winkel vom 
Stiele abitehen. Sie ift nur auf gebundenem fehr fchwerem Boden dein Spaten vor« 
zuziehen, weil fie‘ leichter eindringt. Sie wird bejonders häufig in Englanb und 
Frankreich angewendet; die englifche Grabgabel bat glatte, die franzöffhe fpige Zin⸗ 
fen. Die Schaufel, ein allgemein befanntes Werkzeug, wird bauptjächlich zur Bes 
feitigung der lodern Erde benutzt, in Bezug auf Aderarbeit namentlich beim Rajolen. 
Das Blatt bildet ungefähr einen Winkel von 1209 mit dem Stiele. Auch‘ Schaufelarten 
giebt es viele, doch ähneln fie einander ehr; der Schaufelſpaten, welcher den Mittel» 


⸗ 


weg zwiſchen Spaten und Schaufel hält, führt feine. der Functionen dieſer beiden Geraͤthe 


ordentlich aus. Die Hacke, Haue ift ein Blatt Eifen mit einer einfachen Schneide au 
einem Stiele, mit dem ed einen Winkel von 60— 909 mat. Wan fchwingt das Eifen 
mittelft des Stield im Bogen in die Erbe und zieht ed mit einem Ruck fammt dem 
darauf Hegenden loögetrennten Boden zurüd, welcher letztere dadurch umgekehrt und 
nebenbei auch gelodert wird. Das Wenden des Bodend mit der Hade ift im Allge⸗ 
meinen fehr bejchwerlich und zeitraubend, und wird nur da mit Mugen ausgeführt, wo 
der Boden fteinig oder fehr abhängig Ift, fo daß Fein anderes Infirument gebraucht 
merden kann. In fehr fleinigem oder feftem Boden braucht man die ſogenaunten 
Drehhacken bierzu, welche auf ber einen Seite eine Spishade, auf der andern eine 
Breithacke haben, beides in einem Eiſen auf dem Stiele vereinigt. Sie können beliebig 
bald auf der einen, bald auf der andern Seite gebraucht werden, wie ed bie Eigen⸗ 
shirmlichkeit des Bodens verlangt. Es ift dad bekannte Inſtrument, welches Gier in 
Deutiehland allgemein beim Chauſſeebau benugt wird. In England hat man eine be⸗ 
fondere Form ſolcher Haden. Dad Eifen bildet an jeber Seite eine Spitzhacke (Bide), 
und jeder Arm dieſer doppelten Hade ift-To lang, wie die Handhabe. Beim Anwenden 
dieſes Beräthes haut ber Arbeiter mit ber einen Seite der Hade in den Boden und 
beunkt Die andere Seite mit dem Stiel gemeinſchaftlich als Hehel zum Loäbrechen. 
Man übt auf Diefe Weile eine große Kraft aus und läuft wicht Gefahr, den Stiel im 
Zapfen abzubrechen. Die vielen zu obigem Zwecke beftimmten Hacken, welche es noch 
in den verichiedenen Ländern giebt, find int Wefentlihen nach den Prinzipien ber 
angeführten conftruirt, und weichen nur in der Form des Blattes bald mehr bald meniger 
ab. by Spanngeräthe. Schon in alten Zeiten war man darauf bedacht, fh Das 
zum Bebauen des Bodens nothwendige Wenden veflelben durch ein von Spanwiräften 
bewegtes Geraͤth zn erleichtern, und conſtruirite zu diefem Behufe, werm auch zuerft nur 
in fehr rohen Formen: a) den gewöhnlichen Pflug. Den Gebrauch dieſes Ge- 


rathes, welches den Erdſtreifen wagerecht und jenfrecht abſchneidet una dann umkehrt, 


wenn auch nicht fo vollkommen, doch erheblich ſchneller, als der Spaten und bie 
andern Handgeräthe, findet man ſchon bei allen Ackerbau treibenden alten Völkern, 
und haben ſich die alten Romer feiner ſchon bedient, wie ihm auch im der Neuzeit 
Ackerbau teribende wilde Völker hatten, che fie mit gebildeten Volkern in Beruͤhrung 
kamen. Diefes Geräth, welches jetzt wohl ſchon in hundert verſchiedenen Arten exiſtirt, 
erfordert feiner ungemeinen Wichtigkeit halber ein näheres Eingehen anf die Konftructten 
ſeiner einzelnen Theile. Es beſteht aus act Grundtheilen, welche find: Sohle, 
Griesfünute, Grindel, Pflugbaum oder Lechbaum, Sterzen oder Hand 


- 











— 


haben, Streichbrett, Schaar, Sech oder Kolter, und Regulator. Das 


Sed oder Kolter, ein im Grindel befeſtigtes ſchräg nach vorn ſtehendes Meſſer von 
verichiedener Form, ift Dazu da, um den Erdſtreifen in vertikaler Richtung vorzufchnei- 
den, umd das Schaar gegen Steine, Wurzeln x. zu ſchützen. In ganz reinem, loderm 
und fleinfreiem Lande kann es daher auch fehlen. Die Sohle bildet die Grundlage 
des Pfluges , ſie verbindet und trägt dad Ganze, flreiht auf dem Grunde der aus⸗ 
gepflügten Zurche bin und Ichnt mit ihrer linken Seite (Landfelte) an die noch ſtehen 
gebliebene. Erdwand an, wodurch fie weſentlich dazu beiträgt, dem Pfluge einen feften 
Gang zu geben. Sie wird bald von Eifen, bald von Holz gefertigt, und bei ihrer 
Conſtruction ift Hauptfächlich zu beachten, daß die untere Fläche mit ihrer Landſeite einen 
rechten Winkel bilde. An ihrem vordern Ende wird in ber Negel das Ohr des Schaars 
feigeishroben. Auf der Sohle ruhen: Die Griesfäulen, welde die Berbindung zwi⸗ 
ſchen Diefer und dem - Pflugbaume herftellen und Iegteren tragen. Bei vielen Pflügen 
if nur eine Griesfäule vorhanden, und wird die hintere durch die linke Sterze erſetzt, 
welche dann bis auf die Sohle hinuntergeht und in biefe eingezapft oder angejchraubt 
iſt. Das Schaar folgt in der Arbeit dem Sech und fchneidet den Erdſtreifen wage 
recht ab, welchen erſteres in fenfrechter Richtung lostrennte. Es hat in der Regel an 
der einen Seite eine annähernn rechtwinklige Form und zerfällt in zwei Theile, Ohr 


und Ylügel, welche indefien oft ganz in einander übergehen. Durch erftered wird bad 


Schaar mit dem Bflugkörper verbunden, letzteres iſt der fehneidende Theil. Dem Schaar 
folgt das Streihbrett, und nimmt dieſem den gänzlid) vom Grunde und der Seite 
Inßgeteennten Steeifen Boden unmittelbar ab, hebt ihm in fihräger Richtung in bie 
Höhe, und drückt, ihn um feine eigene Are drebend, denſelben bei Seite, wobei es ihn 
zugleich wendet. Es ift mithin das Streichbrett das den Pflug beſonders Charakteriſi⸗ 
uende. Damit der Erbflreifen bein .Liebergange vom Schaar auf's Streichbrett Feinen 
unmöthigen Widerftend finde, ift es nothwendig, daß die Schaarfläche ohne Abſatz in 
die des Streichbrettö übergehe. Bei ‚den rohen Pflugeonftructionen findet man bad 
Streichbrett noch, eine ebene Fläche bildend, von Holz, bei den meiften befiern Arten 
aber hat man ihm eine vom Schaar aus contan anfteigende, nach dem obern Ende zu 
ind Convexe übergebenne Windung gegeben, wodurch es im Stande ift, fich des auf 
ihm ruhenden Erdſtreifens ohne zu großen Kraftaufivand auf zweckmaͤßige Weile zu 
entlebigen. Man befeftigt es in der Negel einerfeitd an den Sterzen und anbererfeitd 
an der Griesſaͤule; oder wo zwei GBriedfäulen am Pfluge find, und daher die Sterzen 
nicht durchgehend, an beiven Griesfäulen. Am Hintern Ende des Pflugkoͤrpers, wo 
das Streichbrett weit abfleht, wird dieſe Verbindung durch eine eiferne Stange het⸗ 
geflellt. Der Pflugbaum, Sechbaum oder Grindel wird von den Griesfänlen 
getragen, oder von Griesfäule und Sterze: Er giebt dem Pfluge neben der Sohle bie 
Feſtigkeit und verbindet die meiften Theile mit einander. Außerdem wird an ihm bie 
Zugkraft angebracht, weshalb er vor allen Dingen ſtark conftruirt fein muß. Es wir 
Beht ſich von ſelbſt, daß alle dieſe Pflugtheile fo mit einander verbunden jein müffen, 
daß der Gang des Pfluges ein regelmäßiger, horizontal in her Erbe fortgehender fel, 
was fich nach befaunten. Erfahrungsjäßen angeben läßt. Bon einem in der Regel nahr 
vor dem Seh angebrachten Befeftigungspunkte am Grindel geht eine eiferne Kette oder 
Stange mit einem. Hafen aus, woran das Zuggeſchirr des Viehes befefligt wird. 
Um dem Werkzeug, je nach Erforderniß, bald einen flachern, bald einen tiefren, bald 
einen breiten, bald fchmälern Furche⸗ abfehneidenden Gang geben zu können, hat man 
vorn am Grindel oder am Vorbergeftell, worauf der Grindel ruht, einen Regulatot 
angebracht, wodurch der Zugpunkt bald mehr nach, rechts, bald nach Links, bald tiefer, 
bald Höher verlagt werben kann. Solche Megulatoren findet man von ben einfachen 
Stellfegeiben bis zu den complicksteften Gonftruftionen, eine jede Pflugart hat’ fa eine 


andere Art von Hegulator. Um endlich dad Pflugwerkzeug bei vorkommenden Kinder 


niſſen in der Gewalt zu haben, find am bintern Ende eine oder zwei Handhaben oder 
Sterzen angebracht. Die linke Sterze ift unten mit dem bintern Ende ber Sohle ver 
bunden, fails nur eine Geiesfäule eriftirt, und ift Dann der Grindel in biefelbe ein- 
gezapft; bat der Pflug aber zwei Griesſaulen, fo ift der Grindel durch einen Zapfen 


‚mit der hintern Griedfäule verbunden, und bie Sterze am Pflugbaum und der Griedſaͤule 











Adergeräthe. 273 
befeſtigt. Hat der Pflug zwei Sterzen, fo ift Die rechte in ber Regel durch eine Stanze 


mit ber linfen verbunden, und zugleich am Streichbrett befeftigt. Verſchiedene viefer Theile - 


find oft noch an ihren Meibeflächen mit eifernen Schienen verfeben, welche alle ihre dem 
betxeffenden Pflugtheile entfprechende Namen haben, die hier aber übergangen werden kön⸗ 
nen. Ban fann die gewöhnlichen Aderpflüge, ihrer Conſtruction nach, in drei Hauptklaſſen 
bringen: 1) NRäderpflüge oder Karrenpflüge, 2) Schwingpflüge, 3) Stelz= 
pflüge Die Räderpflüge. Bei viefen ruht das vordere Ende des Grindels auf 
einem Bordergeftell mit zwei Rädern, dad mit einer Kette (Pflugfette) an demjelben 
befeftigt if. _ Durch dies Vorbergeflell oder Bflugfarre glaubte man dem Pflug einen 
ficherern Gang zu geben. Sie haben bei ungefchiektem Pflügen auch entjchieden ihre Vor⸗ 
tbeile; da bei richtiger Stellung des Näpverpfluges derſelbe auch ohne vieles Zuthun des 
mit ihm arbeitenden Menfchen richtig gebt, ja fogar etwaige Fehler in der Führung, 
welche derfelbe macht, durch feinen feften Gang in der Furche theilmeife wieder außgleicht. 
Manche Nachtheile, die mit der Anwendung des Bordergeftelld verfnüupft find, laſſen es 
aber doch im Allgemeinen ald unpractifch erfcheinen; jedenfall kann nicht geleugnet 
werden, daß dieſes Geflell die Laft des Pfluges nicht unerheblich vergrößert, wenn 
man auch zugeben wollte, daß die Friction nicht dadurch vermehrt werde, was indeflen 
von Bielen mit Recht beftritten wird. Der Regulator behufd engern oder weitern 
Banges ift bei dieſen Pflügen gewöhnlid; vorne an der Karte angebracht, auch 
pflegt bei den roheren Pflügen diefer Art in der Witte auf dem Arfutter ein Höl« 
zerner Knaggen fih zu befinden, und ann man durch Auflegen des Grinbeld an 
der einen ober andern Seite deffelben dem Pfluge einen engern oder weitern Gang 
geben. Der mehr oder mindere Tiefgang wird durch Verändern des Punktes be» 
wirft, mit welchem der Grindel auf dem Morbergeftell ruht, und wird dieſe Stel⸗ 
lung bald am Grindel jelbft, bald am VBorbergeftell Durch eine höher zu fihiebende 
Auflage auf dem Arfutter vorgenommen. Es giebt viele Arten dieſer Pflüge, welche 
theilweife den beffern Eonftructionen angehören. Die Schwingpflüge. Bei diefen 
fehlt dad Vordergeſtell, und die Zugkraft wird direct am Grindel angebracht. Sie 
And im Allgemeinen den Räderpflügen unbeflreitbar vorzuziehen, erfordern aber weit 
mehr Befichidlichkeit beim Handhaben und liefern dann eine beflere Arbeit, mit ver- 
haͤltnißmaͤßig geringerer Zugkraft. Der Arbeiter kann durch einen leichten Drud auf 
Die Sterzen dem Pfluge über Hinderniffe, Die derfelbe nicht zu bewältigen im Stande 
if, ald große Steine ıc., wegbelfen, hingegen an feften Stellen durch Anheben den 
Pflug zum ebenmäßigen Durchgeben zwingen. Diefer Gattung gehören die meiflen 
beſſeren Pflugformen an, namentlich die englifchen, 3. B. der Small’fche, der Imperial- 
ihwingpflug, Der fchottifche, der Uleyſche, flandrifche u. |. w. Die Stelzpflüge 
bilden den Uebergang von den Näderpflügen zu den Schwingpflügen, indem fle am 
vorbesen Ende ded Grindels eine Stelze oder einen Schuh haben, welcher auf der Erde 
ichleift. Diefe läßt fich bald länger, bald kürzer machen, und wirft fo auf den Tief» 
gang des Pfluged ein. Bei manchen kann fle auch ganz mweggelaffen und ver Pflug 
ala Schwingflug gebraucht werden. Die Stellung behufs engern oder weitern Ganges 
wird ebenfo, wie bei den Schwingpflügen bewerfftellig. Die Stelze vermehrt jeden- 
falls Die Friction beveutend, am wenigften noch, wenn fich flatt des Schuhes am untern 
Ende ein Rad befindet. Ihr Nugen iſt derfelbe, wie die Karte bei den Räderpflügen, 
daß ſie die Fehler eines ungeſchickten Pflugmanned in etwas audzugleichen vermag. 
Ran hat auch unter Diefer Art von Pflügen ſehr gute Eonftructionen, von denen die 
Aufführung einiger der befieren genügen mag, ald: der durch Wedkherlin verbeflerte 
beigifche Pflug, der Ranſomeſche, der englifche Marfchpflug ꝛc. Eine eigene Art von 
Plügen bilden noch die in einzelnen Gegenden gebräuchlichen Wenpdepflüge, bei 
welchen das Streichbrett beweglich ift, und bald auf die eine, bald auf die andere 
Seite gefchoben werden kann, wodurch man im Stande ift, mit dem Pfluge gleich 
wieder an derfelben Furche hinunter zu adern, die man frifch aufgepflügt hat, bei 
welcher Methode die Zwifchenfurchen gefpart werden. Manche diefer Pflüge haben auch 
zwei Streichbretter, wovon dann immer das an ber Landſeite befindliche außer Thaͤtig⸗ 
keit geſezt wird. Man bat auch wohl zwei oder drei Pflugkörper an einem Grindel 
vereinigt, und dadurch ed ermöglicht, mit einem Zuge zwei vefp. drei Burchen zu 
Bagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 18 











274 | Adergeräthe. 


pflügen. Doc erfordern biefe fogenannten Doppelpflüge and doppelt jo viel Zug⸗ 
fraft,, als die einfachen, woburd der Nutzen wieder verloren geht. Beim flachen 
Stoppelpflügen, wie beim feichten Saatunterbringen laffen fie ſich oft mit einfacher 
Zugkraft ſehr vortheilhaft anwenden. b) Der Rajolpflug oder Rigolpflug. 
Beim weitern Kortfchreiten des Nderbaues bat man in der Neuzeit erkannt, wie wichtig 
es fei, ſich eine tiefere Aderkrume zu fchaffen, den Untergrund zu verbeflern und legteren 
zu diefem Behufe den Einflüſſen der atmofphärifchen Luft zu erponiren. Um dies auf 
eine weniger Toftfpielige Art, als das Majolen mit den Spaten, zu ermöglichen, con 
ftruirte man eigene Pflüge, die NRajolpflüge. Diefe find ihren Grundtbeilen nach eben 
fo zufammengefegt, wie der gewöhnliche Aderpflug, unterfcheiden ſich aber weſentlich 
durch flärfere Bauart der einzelnen Theile und durch einen weit höheren Pflugkörper, 
namentlich durch ein höheres Streichhrett. Will man ſehr tief adern, fo läßt man fie 
einem vorbergebenden Pfluge in derjelben Furche folgen, fie ftreichen dann mittelit ihres 
hoben Streichbrettö den legten Laß aus berfelben bis zu einer beträchtlichen Tiefe 
heraus und legen ihn, jehr fehön gewendet, auf den vom vorangehenden Pfluge aufe 
geworfenen Boden. Wan kann indeſſen wittelft dieſer Pflüge auch fchon mit einer 
Fuxche fehr tief adern. Die Verbindung eines Rajolpfluges und eines Aderpfluges an 
einem Grindel, wobei der Iehtere vorangeht, muß noch hier erwähnt werden. Daß dieſe 
Pflüge manche Unbequemlichkeiten mit ſich bringen, wird Jedem einleuchten. Einer der 
befiexen ift der von Morton. Man kann auch mit jeden tief gehenden Aderpfluge, 
namentlich, wenn man zwei derjelben in einer Furche geben läßt, einen Theil des Unter 
grundes beraufbringen ; doc, verrichten dieſe die Arbeit unvollkommener, weil ihre ganze 
Conſtruction nicht darnach berechnet if. Einer der beften Najolpflüge ift unftreitig ber 
Rajol-Ruchadlo ohne Vorvergeftell, welcher mit verhälfnißmäßig fehr geringer Zugkraft 
Außerordentliches Teiftet. Er arbeitet am beften, wenn man ihn in der Furche dei 
gewöhnlichen Ruchadlos folgen läßt. — B. Zum Lodern, Reinigen und Zer- 
fleinern des Ackers. Da das bloße Wenden ded Bodens nicht genügt, um ibn 
zu einem Standort für Eulturpflanzen geeignet zu machen, fo müflen die Furchen, welde 
der Pflug aufgeworfen bat, auch gehörig zerkleinert, der Boden durchweg gelodert und 
das aufwachfende Unfraut zerftört werden. Zur Erreichung dieſer verfchiedenen Zwede 
find die mannigfaltigften Geräthe erfunden worden. a) Handgeräthe. Die Harke 
ift ein überall befannted Werkzeug, aus einem mit Zinken befegten, in feiner Mitte an 
einen Stiele fihenden Querhefte, an welchem die Zinfen rechtwinklig vom Stiele ab- 
fteben. Sie wird zu den mannigfachften landwirthſchaftlichen Verrichtungen benußt. 
Zum Zerfrümeln und Lockern der Krume wird fie nur im fehr Eleinen Wirtbjchaften 
“mit Gartencultur gebrauht. Das Schaufeleifen gleicht einer Schaufel mit fer 
furzem aber breitem Blatt, und wird zum Vertilgen des Unfrauts und Lockern ber 
Bodenoberfläche benutzt. Man kann mit demfelben bei weiten nicht fo tief lockern, 
wie mit der Hacke, doch hat es das Angenehme, daß der Arbeiter beim Arbeiten rüd- 
wärts gebt, und. daher den geloderten Boden nicht wieder fefttrit. Handcultiva— 
toren dienen zur Reinigung von Meihenfaaten zwiſchen den Reihen, und beftehen bald 
aus einem verftellbaren dreiedigen Rahmen, bald aus einem einfachen Querholz mit 
Meſſern und Schaufeln von den verfchiedenften Formen, an einem Stiel. Sie werd 
yon einem Manne bald vonvärts gezogen, bald geſchoben. Auch dürften bie Drill 
barken bierher zu rechnen fein. b) Spanngerätbe. Die Egge. Die gewöhnlide 
Egge befteht aus drei oder vier Balken mit eifernen oder hölzernen Zinfen, welche durch 
Scheiden mit einander verbunden find; fle gehört zu den befannteften Geräthen. Ihre 
eigentliche Beftimmung ift, Die Pflugfurchen zu zerreißen, die Unfrautöpflanzen mit 
ihren Wurzeln möglichft herauszuziehen, Die fefte Oberfläche eines zugefchlagenen Bodens 
zu brechen, und dem Einfluß der atmofphärifchen Luft zugänglich zu machen; außerdem 
dient fie noch zum Saamenunterbringen. Man bat fie, veranlaßt durch Die große 
Verſchiedenheit, welche fich im Ader findet, von den mannigfachften Formen und in den 
verfchiebenften Größen conftruirt, fo daß ein Jeder, für feine eigenthümliche Bodenart 
und Befchaffenheit, eine geeignete Form Darunter finden Tann. Befonderer Erwähnung 
verdienen ihrer Vorzüglichkeit wegen die fchon überall verbreiteten „fchottifchen 
Rhomboidal-Eggen“, welche wohl in Anbetreff der Zerkleinerung des Bodens 


— 








Adergeräthe. | 275 
und des ſich nicht Verſtopfens durch Wurzeln (Dueden sc.) allen anderen Eggen den 
Borrang ablaufen. Der Haaken kann ein unvolllommener Pflug ohne Streichbrett 
genannt werben. Der Form dieſes Geraͤths haben bie Pflüge der Alten mehr ober 
weniger geähnelt. Der Haaken fodert den Boden fehr gut, wendet ihn aber nicht, ober 
doch nur fehr unvolffommen, fondern fchiebt ihn, wenn er fchräge. gehalten wird, nach 
einer Seite bin; wird er aber gerade gehalten, fo ſchiebt fich die Erde an ihm in die 
Höhe und fallt in fehr fein zertheiltem Zuftande an beiden Seiten herunter. Zu den 
vorzüglichften gehört der Mecklenburger Haaken und bie preußifche Zogge oder Zoche, 
welche legtere indeflen nur in den Gegenden gut arbeitet, wo ſie einheimifch if. Der 
Haaken wird bald auf einem Vordergeſtell gefahren, bald legt man den verlängerten 
Haakbaum auf dad Doppeljoch der Ochſen. Der Erftirpator beſteht aus einem 
mit Sterzen verfehenen Rahmen, in welchen eine verfchienene Anzahl eijerner Beine mit 
gänfefußartigen Schaaren eingefügt find, wovon jedes feinen eigenen Weg geht. Er 
ruht auf einem zwei⸗ oder einräbrigen Vordergeſtell, durch welches er auch flacher und 
tiefer geftellt wird, und dient zum Lockern des Bodens und Reinigen deſſelben von 
WBurzelunfräutern, abgejehen von feiner Anwendung zum Saatunterbringen. Die beflern 
dormen finden fich in England, wojelbft man fie Grubber nennt, der ganz eiferne Ten» 
nant'ſche Grubber ift einer der beften. Bei dieſem find Die Beine in einer fehönen 
Eurve nach vorne gebogen, was erftend ihren Gang wefentlich erleichtert, und zweitens 
nicht fo leicht dad Schleppen und Berftopfen zuläßtl. Der Scarificator oder 
die Mefferegge ähnelt dem Erftirpator fehr und unterfcheidet ſich hauptfächlich von 
ihm nur durch kleinere, oft gar Feine Schaare und, fcharfe Schneiden vom an den 
Beinen. Sein Zwed ift, den Boden in parallele Streifen zu ſchneiden, und wirb er 
zu diefem Behufe häufig auf Wiefen angewandt. Einer der beſſern ift der englifche 
Hensmann'ſche Scarificater. Die Pferdehacke und Häufelpflug. Erftere ift 
nach demſelben Princip conftruirt, wie der Hanbeultivator, und wird durch Geſpannzug⸗ 
fraft bewegt. Sie dient gleich diefem zum Lockern und einigen ded Bodens bei 
Reihenjaaten zwifchen den Reihen. Letzterer hingegen ift ein Pflug ohne Loch mit 
2 zu gleicher Zeit thätigen Streichbrettern, welche je nach der Entfernung der Reihen 
von einander, enger oder weiter auseinander geftellt werden Fönnen. Gr bebi die 
Erde zwifchen den Reihen der Pflanzen aus und ftreicht fle nach beiden Seiten gegen 
diefelben, wodurch um die Pflanzen eine Erhöhung, zwifchen den Reihen aber eine 
Vertiefung fich bildet. Dies gefchieht, um das Unkraut zu vertilgen, den Pflanzenftöcen 
friſche Erde zuzuführen und. der atmofphärifchen Luft mehr Zutritt zu verfchaffen. Er 
wird von einem Pferde gezogen. Oft findet man beide Inftrumente in einem vereinigt; 
es befindet ſich alddann die Pferdehacke vorne und folgt der Häufelpflug. Der Hohen⸗ 
beimer Häufelpflug mit Pferdehade dürfte zu den zweckmäßigſten gehören. Der Unter- 
geundspflug bat ein Lockern des Untergrundes zum Zwecke, ohne denjelben zu 
wenden oder an die Oberfläche zu förvern. Er hat wohl ein Schaar, doch fehlt 
ihm das Streichbrett. Man läßt ihn in der Burche eines vorhergehenden Piluges 
folgen. Es giebt verfchievene Arten. Der Pießpuhler iſt einer der beſſern, wird in⸗ 
deſſen vom amerikaniſchen Untergrundspfluge oder Mineur noch uͤbertroffen. — C. Zum 
Feſtdrücken der Krume und Zerdrücken der Schollen. Da ein Boden durch 
das Lockern für die Saat leicht eine zu loſe Beſchaffenheit an ſeiner Oberflaͤche erhalten 
kann, und außerdem oftmals mehr oder weniger große Schollen enthaͤlt, welche dem 
Keimen oder Aufwachſen der darunter liegenden Samenkörner nachtheilig find und 
auch fpäter das Mähen erjchweren, fo hat man geeignete Inftrumente conflruirt, deren 
man fich bedient, um diefen Zweck moͤglichſt vollfommen zu erreihen. a) Hands 
geräthbe. Der Schollenhammer ift in der Regel ganz von Holz, und gleicht 
einem gewöhnlichen Hanımer im großen Maßftabe, er wird von einem Menfchen geführt, 
und ganz nach Maßgabe des lebteren angewendet. Man bedient fich feiner nur, wenn 
der Härte der Schollen wegen die Wirkung der Spanngeräthe feine genügende ift. 
b) Spanngeräthe Die gewöhnliche Walze ift ein Eylinder, der fi, indem 
ex fortgezogen wird, um feine eigene Are dreht, und dadurch ſowohl den Boden feft- 
drudt, als auch die mürberen Schollen zerkleinert. Man braucht ſie außerdem noch 
zum Eindrücken von Sämereien in den Boden. Es giebt ein⸗, zwei⸗ und mehrſpaͤnnige 
18* 





\ J 
276 Adergeräthe. 


Walzen, Bald von Gußeifen, bald von Holz, eritere find gemöhnlid hohl. Die 
Stachel- und Ringwalze Diefe find beftinnt, um die Erdſchollen, welde der 
Egge und gewöhnlichen Walze hartnädig Widerftand geleiftet haben, zu zerfleinern, 
weshalb auch einige Diefer Walzen den Namen „Scholfenbrecher" erhalten haben. Erftere 
haben den Körper einer gewöhnlichen Walze, ver aber an feiner Oberfläche mit vielen 
Stacheln, ähnlich den Eggenzinken, bejegt if. Sie veritopfen ſich leicht und find des⸗ 
halb nur bei trodenem Wetter anzumenden. Lebtere beftehen aus einer Reihe neben 
einander auf eine Welle gefchobener Scheiben, deren fcharfe Raͤnder die Schollen ehr 
gut zerkleinern. Verſtaͤrkt wird die Wirkung dieſes Inftrumentes noch, wenn biele 
Scheiben ausgezahnt find, wie beim Croskillſchen Schollenbrecher, welcher, abgejehen 
von feiner großen Schwere, ein fehr praftifches Geratb if. — D. Zum Urbar- 
machen. Da manche der fchon erwähnten Adergeräthe audy zum Urbarmachen ver: 
wendet werden, ald Spaten, Aderpflug und Rafolpflug, fehwere Eggen ıc., fo follen 
bier Diefenigen angeführt werden, deren eigentliche Beftimmung ed if. a) Hand- 
geräthe. Die Rode» und Plaggenhauen. Erftere gleichen in der Hegel den ſchon 
weiter oben Ungeführten, und vereinigen gewöhnlich Spighade und Breithade. Ihren 
Namen haben fie dadurch erhalten, daß man fle meiftend zum Urbarmachen von ſtark 
Durchwurzeltem Lande gebraucht. Letztere beftehen aus einem halbmondähnlichen eifernen 
Blatt, defien beide Seitenfpigen etwas aufgebogen find. Sie bilden einen Fleinern 
Winkel mit dem Stiele, als die andern Haden, weil der Arbeiter mit ihnen nicht tief 
in den Boden zu hauen, fondern nur die Narbe abzufchälen beabfichtigt, was zwei: 
mäßig bei allen wüften Laͤndereien gefchieht, die zu Kunftwiefen angelegt werben; wie 
auch bei moorigen, unurbaren Haideländereien, welche durch Brennen in @ultur geſetzt 
werden -follen; vorausgeſetzt, daß fie nicht flark mit Baummurzeln durchwachſen find. 
Ihre Anwendung zum Hauen von Plaggen, um diefelben mit Dünger zu verlegen, 
kann bier beiläufig mit aufgeführt werden. Die Plaggenfchaufel wird zu dem 
felben Zwecke angewandt, dem fie aber nicht fo gut entfpricht, weil der Arbeiter mit 
ihe Feine fo große Kraft ausüben kann. b) Spanngeräthe Hauptſächlich zu 
erwähnen ift bier ver Rodepflug, der feinen Grundformen nad dem gewöhnlichen 
Aderpfluge gleicht, aber weit flärfer gebaut ifl, und namentlich der vielen Hindernifle 
wegen, welchen er im unurbaren Lande begegnet, das Schaar durch mehrere Sehe 
fügt. Sehr finnreich conſtruirt ift der Trocheliche Rodepflug, ein Näderpflug, deſſen 
drei Seche am Ende zweifpikig find, und von vorn nady hinten länger werben, ſo 
dag fie beim Aufftoßen auf eine Wurzel fägenartig wirken und biefelbe gewöhnlich 
zerichnitten haben, ebe fle das Schaar erreicht hat. 

1. Geräthe und Maſchinen, weldhe indirect zur Bearbeitung 
des Landes dienen A. Zur Borunterfuhung des Bodens in Bezug 
auf Untergrund ıc. Der Erdbohrer. Man hat ihn nad der Beſchaffenheit 
der verfchiedenen Bodenarten von verfchievenem Bau. In leichtem Sandboden wit 
der Stoßbohrer gebraucht, welcher aud einem Fleinen, auf einer Eifenftange befeftigten 
hohlen Cylinder mit nach innen fchlagendem Bentil am unteren Ende, bejteht. Ban 
flößt den Bohrer fo tief in den Boden, bis der Cylinder ſich vollgefchoben hat, und 
zieht ihn dann auf. Die Klappe fällt zu, fobald der Drud von unten aufhört, und 
der im Cylinder eingefchloffene Sand wird mit beraufgegogen. Die Bohrer für ſchweren 
Boden find den Holzbohrern ähnlich mit Schrauben» Windungen, und werben gleih 
dieſen gedreht. Der Amerikanifche hat eine Bohrfcheibe. Will man tiefer bohren, 10 
werden Berlängerungsftangen angeſteckt, fobald die erſte Stange bis auf die Erbe 
weggebohrt ift; Doch kommen foldy tiefe Bohrungen beim Aderbau felten oder gar nicht 
vor. -(Bgl. Arteflihe Brunnen) — B. Zur Abführung des Oberwaſſers 
vom Lande a) Handgeräthe. Speciell hierzu angefertigte Sandgeräthe finden 
fi nur beim Wiefenbau, als das Wiefenbeil, weldes zum DBorfchneiden bet 
Grabenlinien dient; der Wiefenfpaten, zum Ausheben tiefer Gräben, und dad 
MWiefenmeffer zum Befchneiden der Grabenfanten und Anfertigen der Dofftrungen. 
Mehrere unwichtigere Inftrumente der Art fonnen füglich übergangen werden. b) Spann⸗ 
geräthe. Der Wafferfurhenpflug. Ein Pflug mit zwei fehr langen Streich⸗ 
bretteen, der fehr tief gehend gemacht werben kann, und, wie ſchon ber Name jagt, 





 Alergejehe. 21 


Dazu dient, Furchen, namentlih in Winterfaaten, zu ziehen, welche dad Oberwaſſer 
abführen follen. Dan Fann bierzu aber auch ganz gut einen gewöhnlichen Aderpflug ge- 
brauchen. Er entfpricht feinem Zwecke, Doch ift es nöthig, daß die aufgemworfenen Furchen⸗ 
fümme mit der Harfe glatt gezogen und die Furchen felbft flach ausgefchaufelt, reſp. 
an jehr hoben Stellen tiefere Durcjftiche mit dem Spaten gemacht werden. — C. Zur 
Abführung des Grundwafjerd Da das im Boden flagnirende Wafler dem 
Wachsthum von ulturpflanzen aud chemifchen und phyſikaliſchen Urfachen höchſt nache 
tbeilig ift, fo fah man fich genöthigt, demjelben auf irgend eine Weife Abzug zu ver- 
Ihaffen, und fand ed am zwerfmäßigiten, Died Durch unterirvifche Roͤhren zu bewerk⸗ 
ftelligen.. Man nennt diefe Operation Drainiren. a) Handgeräthe. Die Drain- 
röhren werden auf der Sohle eined mindeftend 3 — höchſtens 6 Fuß tiefen, unten 
ſchmal zulaufenden Grabend gelegt, welcher nach dem Einlegen derfelben wieder zuges 
worfen wird. Zum Ausheben diefer Gräben bedient man fich verichiedener Inftrumente. 
Der oberfie Stich oder Spat wird mit einem breiten Spaten außgehoben, die tieferen 
mit einem fchmäleren, bis zulegt der unterfte mit einem langen fehr ſchmalen Spaten. 
Man nennt fie Drainfpaten. Zum Ausheben der unterftien Schicht bebient man 
ſich gewöhnlich der Hohlipaten, auf welchen die Erde beffer lieg. Zun Ebenen und 
Feſtdrücken der etwa einen flarfen halben Fuß breiten Sohle des Grabens, welches 
nothwendig ifl, um den darauf zu legenden Röhren einen regelmäßigen Fall zu geben, 
bedient man fih des Schwanenhalſes. Derfelbe ift ein eiferned oder flählernes 
Treißfegmentifched Blatt, ſchwanenhalsartig mit dem Stiel verbunden, und einen Winkel 
von etwa 60° bildend. Man jchneidet mit demfelben die Erhabenbeiten in ber Sohle 
ab, und füllt damit die etwaigen Löcher, in welche man die Erde mit dem Rüden 
des Blatted eindrüdt und ebnet: Die überflüjjige Erde bebt man mittelft deſſelben 
beraud. Zum Ausheben der Ioderen Erde in den höheren Erdſchichten werden verfchie- 
dene Arten von Hafenfchaufeln gebraucht. Die Erklärung diefer Geräthe Liegt ſchon 
im Namen felbfl. Das Legen der Röhren in dem Graben gefchieht mittelft des Lege» 
hakens oder Nöhrenlegerö, eined etwa einen Yuß langen Stüdes Rundeiſens von 
ca. %4 bis 1 Zoll Stärke, welches rechtwinklig vom Stiele abſteht. Man ftedt ihn 
in die Röhre und legt fie feft an die vorhergehende. b) Spanngeräthe. Der 
Maulwurföpflug Ein Pflug mit Fegelförmigem Schaareifen, welches an einem 
ſtarken eijernen Stiele tiefer oder flacher in Die Erde geftellt werden Tann. Diefe Pflüge 
erfordern alle fehr viel Zugkraft, fo daß die Engländer fie mittelft einer Winde burch 
Goͤpelwerk bewegen. Sie drängen durch daß Fegelföürmige Schaar unter der Erde den 
Boden bei Seite, und laſſen einen runden vöhrenförmigen leeren Raum hinter ſich, 
welcher nun dem Wafler zum Abzuge dient. Es iſt dies jedoch nur in flark gebundenem 
Erdreich thunlich; da in loſem Boden der Canal fogleich hinterm Pfluge, oder doch 
in fehr kurzer Zeit wieder zufallen würde. Man kann mit einem folchen Pfluge höch⸗ 
ſtens bis auf eine Tiefe von 2", Fuß drainiren, die Gandle wirken übrigens in Folge 
beiten fehr fchnell. Sie halten fich oft in feftem Boden eine Reihe von Jahren. Der 
Lumbertſche Maulwurfspflug iſt unftreitig der beite, er bat flatt des Vorder⸗ 
geftelles eine Walze, und folgt auch eine folche hinten am Pflugkörper, welche die vom 
Bfluge geloderte Erde wieder andrüdt. Es ift bier fchließlich zu bemerken, daß zum 
Zweck des Unterbringens der Saamen feine eigenen Geräthe confteuirt find, 
fonbern ein Theil der oben erwähnten Inftrumente dieſe Function mit verrichtet, als 
z. B. der Pflug für Sämereien, welche eine tiefexe Erddecke verlangen; der Exſtirpator 
bei folchen, die in mäßiger Tiefe liegen müflen; die Egge bei noch flachere Bebedung 
erforbernden, und die Walze bei ſolchen Sämereien, ‚welche nur in die Oberfläche der 
Erde eingebrüdt werden dürfen. Als Ausnahmen hiervon müſſen einige neuere viel- 
Ichaarige Saatpflüge betrachtet werden; auch werden die Drillmafchinen, welche ihrem 
Weſen nah Säemafchinen find, zugleich zum Unterbringen des ausgeftreueten Samens 
benugt. Diefe und andere in der Landwirthſchaft gebrauchte, zu andermeitigen Zmeden 
dienende Geräthe und Mafchinen, ald 3. B. zum Heinigen, Zerkleinern, Transport ꝛc., 
find nicht als eigentliche Adergeräthe anzufehen. (Vergl. darüber „Landwirthfchaft⸗ 
(ide Geräthe und Maſchinen“). 
Adergeiehe ſ. Agrargeſetze. 


278 | | Aderkrume. A Conto. 


Aderkeume ift die obere Schicht der den Anbau Iandwirthichaftlicher Gewächſe 
gewidmeten Ländereien, welche durch Düngung und die Einwirkung der atmofphärifchen 
Luft fähig gemacht worden, einen Standort für Culturpflanzen abzugeben; ſie enthält 
durch die vielen ſich in ihr unter Diefer Einwirkung zerfeßenden organifchen Subftanzen 
mehr oder weniger Humus, welcher indirect ald Koblenfäurequelle die Bebingung zum 
Pflanzenwachsthum iſt. Diefe Aderfrume ift es, welche der Landmann mit den Ader- 
Geraͤthen bearbeitet, wenngleich in manchen Fällen auch die darunter liegende todte 
Erdſchicht, de Untergrund, namentlih wenn fle undurdjlafiend für das Wafler if, 
einer obfchon in längern Zeitabfchnitten erft zu wiederholenden Lockerung und Bear- 
beitung bedarf. Die Tiefe der Aderfrume ift auf den verjchienenen Ländereien fehr 
verfchieden; doch läßt ſie fich mit der Zeit, Durch üftere® Heraufbringen des Untergrun- 
des, falls dieſer nicht aus Felſen befteht, vertiefen. Eine flache Aderfrune nennt man 
eine folche, die nur 4 Zoll ſtark und darunter ift, eine mittlere, von 4 Zoll bis 7 Zoll 
Stärke, und eine tiefe, von 7 Zoll bis 12 Zoll und darüber. Die erfte Entſtehung 
der Aderkrume ift Durch den - Bermwitterungsproceß der Urfelfen bewirkt. Diefe find 
theild auf mechaniſchem, theild auf chemifchen Wege an ihrer Oberfläche zerfallen und 
zerfegt, eine aus lauter anorganischen Beſtandtheilen beftehende todte Erde bildend, 
welche erft nach und nad durch Beimengung von vegetabiliſchen und animaliſchen Ueber⸗ 
reſten ſich an ihrer Oberfläche in fruchtbare Ackerkrume verwandelt hat. 

Adermann (Rud.), geb. ven 20. April 1764 zu Schneeberg im fächflfchen Erz⸗ 
gebirge, Sohn eines Sattlers. Er ift ein leuchtendes Beifpiel deutfcher Betriebfamfeit 
und Anftelligfeit. Nach empfangenem Unterrichte In der Schule der Vaterſtadt erlernte 
er Das Handwerk ded Vaters und ging ale Geſelle auf die Wanderſchaft. Nachdem 
er in Dresden, Leipzig, Bafel, Paris und Brüffel ald Wagenbauer gearbeitet und fich 
in gefehmadvoller Erfindung und Zeichnung von Verfchönerungen in Bezug auf Wagen- 
bau und andere Mode » Artikel Fertigkeit erworben hatte, kam er nach London. Hier 
anfaͤnglich im Kampfe mit Noth und Sorgen, fand er durch die Bekanntſchaft mit 
einem Deutfchen, der ein Mode-Journal herausgab, doch bald Gelegenheit, durch feine 
Mufterblätter Aufmerkfamfeit zu erregen. Er trat mit Künftlern in Verbindung und 
diefe veranlaßten ibn, zuerft eine Zeichnenjchule, dann im Jahre 1794 ein Kunf- 
Magazin am Strand zu errichten, in welchem er zulett, nachdem er e8 durch feinen 
unermüdlichen Eifer zum blübendften in der englifchen Hauptſtadt erhoben, täglich 
600 — 800 Arbeiter befchäftigen Tonnte und das feinen Auf im In⸗ und Auslande 
verbreitete. Nicht allein, daß er fih durch die Einführung der Lithographie in Eng- 
land Berdienfte erwarb, er fanımelte auch, eingedenk des theuren Heimathlandes, nad 
der Leipziger Schlacht für vie unglüdlichen Bewohner Sachſens Beiträge und beftimmte 
durch den Erzbifchof von Canterbury das Parlament zu einem Beitrage von 100,000 
Pfd. Sterlin. Mit feinem „Vergißmeinnicht“ für 1823 eröffnete er die Reihe der 
englifchen Damenkalender, gründete ein elegantes Mode » Journal und gab außerdem 
eine große Menge von Blättern mit Darftellungen aus dem Londoner und überhaupt 
englifchen Leben heraus. Die englifhe Holzſchneidekunſt, Die feitvem die größten Fort» 
fegritte gemacht hat, bradyte er mehr in Aufnahme. Raſtlos, wie er war, begnügte ex 
fich indeß mit diefer ihm urfprünglich fernliegenden Fünftlerifchen Wirkſamkeit nicht, ex 
war Einer der Erften, welchen es gelang, wollene und gefilzte Stoffe, Lederwerk und 

apier waflerbicht zu machen und ebenfo war er e8, der zuerſt die Bad - Belenchtung 
in feinem Magazin einführte und Diefelbe in und. außer London zu verbreiten ſuchte. 
Auch ließ er durch ausgewanderte Spanier, befonderd durch Blanco White, Iehrreiche 
englifche Werke ins Spanifche überfetzen und fendete fie nach Amerika, wo fein ältefter 
Sohn In WMerico eine Buch⸗ und Kunftbandlung angelegt hatte. Ackermann ftarb, 
nachdem er die von ihm gegründete Anflalt feinen Söhnen übergeben hatte, am 30. 
März 1834 auf feinem Landgute bei London. 

A Conto find Abfchlags-Zahlungen, welche einem Gläubiger auf Rechnung feines 
Guthabens geleiftet werden. Im Handels-Verkehr finden fie Häufig der Art flatt, daß 
der Gläubiger feinem Schuldner einen Dritten anweift, an welchen die von der Ge- 
fammt s Forderung abzurechnende Zahlung zu leiften ff. Oder der Schulpner bes 


zeichnet N” Perſon, an die fih der Gläubiger betreff8 einer ſolchen A conto- 








j Acoſta. 219 


Zahlung halten fann. Auf dieſe Weiſe werden A conlo's mit den Anweiſungs⸗ 
Geichäft verknüpft und bilden. ein Glied der mächtigen Kette von Ufancen, Durch 
welche der Faufmännifche Gredit und Verkehr zufanmengehalten werden. Das italie- 
niſche A conlo bezeichnet übrigens den Urfprungsort diefer Uſance, die fich gleich 
vielen anderen Bezeichnungen im Banquier-Gefchäft aus Italien berfchreibt. 

Außerhalb des Faufmännifchen Verkehrs haben die Gefeggeber die Abſchlags⸗ 
Zahlung ‚mit weniger günftigem Auge angefehen. , Zwar verpflichtete das römifche 
Recht den Gläubiger alle Mal zur Annahme von TheileZablungen (L.21, Dig. 12. 1. 
L. 41. $ 1. D. 22. 1.), es follten jedoch die Zinfen für die ganze Schuld fortlaufen' bie 
zur völligen Tilgung des Heftes. Die Partitular- Rechte (Defterreih, Frankreich, 
Preußen) ftellen die Annahme der Abfchlagd- Zahlung in das Belieben des Empfän- 
gerd. Erſt die neuere preußiiche Geſetzgebung bat in einer Reihe von Ausnahmen - 
von diefer im Landrecht (657, Tit. 16, TEL. 1) aufgeitellten Hegel mildere. Geſichts⸗ 
punkte gewonnen. So beitimmt fchon die Verorbn. v. 8. Febr. 1811, daß wer aus 
einer Schulpverfchreibung verbindlich ift, einen Theil der Schuld eben fo gut Fündigen 
dürfe, wie das Ganze, und giebt dem gegenüber dem Gläubiger nur das Necht, feiner 
Seitd dad Ganze zu Fündigen. Eben jo müflen fich Die Gläubiger im Concurd- und 
Gechaltsabzugd- Verfahren Theilzablungen gefallen laſſen und der MWechfele-Inhaber darf 
feine ihm angebotene Abjchlagd- Zahlung zurückweiſen (6 38 der A. D. Wechſel⸗Ordn. 
v. 6. Januar 1849). In einem Kalle ift der Zwang des Gläubiger zur Annahme 
von Theilzgahlungen fogar mit einem Zwang zur Stundung des Heftes verbunden. 
Die Novelle zur Crecutiond« Ordnung v. 4. März 1834 fegt nämlich, anlehnend an 
frühere Beftimmungen der Gerichtö-Orbn., feit, daß bei Erecutionen gegen Künftler und 
Profejjioniften die Perſonalhaft ausgeſchloſſen bleiben ſolle, wenn der Schuldner vor⸗ 
ausſichtlich im Stande ſei, binnen drei Jahren durch Terminal⸗Zahlungen die Schuld 
zu tilgen. Freilich iſt dieſe Rechts⸗Wohlthat durch die ebenfalls als Wohlthat geprie⸗ 
jene allgemeine Wechſelfähigkeit eine völlig illuſoriſche geworden, Da heute derartige 

Berfonen faum ander ald auf Wechjel Credit erhalten und jenes. Beneficium auf die 
Wechſel⸗Execution nicht ausgedehnt werden darf. 

Acoſta, Uriel, geboren im Jahr 1594 zu Porto in Portugal, gehoͤrte einer 
jener jüdifchen Familien an, die nur durch den Uebertritt zum Katholicismus die Erlaube 
niß zu ihrem DVerbleiben im Königreich erhalten hatten. In den biographifdyen Notizen 
über fich felbft jagt er zwar, daß fein Vater ein wahrer Katholif und aufrichtiger Ghrift 
war und ihn demnach ſtreng katholiſch erzog. Allein wenn auch in ſeiner Familie 
nicht wie gewoͤhnlich in dem Hausweſen der anderen zum Chriſtenthum übergetretenen 
Juden die katholiſchen, Uebungen und Gebraͤuche nur ein trügeriſcher Schein waren, 
hinter dem fich der jübifche Eifer und Haß gegen ein aufgebrungened Belenntniß ver- 
barg, jo war doch die jüdiſche Erinnerung in ihm noch fo lebendig, daß fle ihm im 
feinen religiöfen Zweifeln und Kämpfen zunaͤchſt eine Zufluchtöftätte, fodann gleichſam 
ein Arfenal bot, aus dem er die Waffen in feinem Aufftand gegen das fatholifche 
Syſtem beziehen konnte. Er war einer jener zahlreichen Juden des flebenzehnten Jahre 
Hundert3, die mit den Speinianern und Arminianern im Kampf gegen die Glaubens⸗ 
Mofterin des ChriftentHums zufammentrafen und endlich, nachdem fie dad Judenthum 
als Bundesgenoffen gegen die Kirche benugt hatten, daſſelbe gleichfalls ihrer Stepile 
unterwarfen und zulebt in einer von der Religion abgelöften Moral endigten, die wiederum 
von einem Juden, Spinoza, zur Vollendung gebracht wurde. 

Ein zwiefacher. Bruch Bildet demnach den weientlichen Inhalt ded Lebens Acoſta's, 
zuerfi der Bruch mit dem Chriftenthbum, fodann mit dem Judenthum. Den nachtheiligen 
Folgen, die der erſtere Bruch zumal bei feiner Offenheit und Aufrichtigfeit für ihn in 
Bortugal hätte herbeiführen fönnen, entzog er ſich durd die Flucht. Dem Unglück, 
melched der zweite Bruch auf ihn herabzog, konnte er fich kaum entziehen, da er das 
Judenthum als Aſyl gegen die chriftliche Kirche erwählt hatte. 

Während er ſich dem Studium der Nechtöwifienfchaften widmete und nach Voll⸗ 
endung deſſelben einen Poften in einem Firchlihen Collegium bekleidete, wurde er von 
einer Unruhe und Verzweiflung gequält, welche die Furcht vor den Höllenſtrafen und 
vor der ewigen Verdammniß in ihm unterhielt, und wurde fein Inneres durch das 


⸗ 





280 Aeoſta. 


Mißtrauen in ſeine Gerechtigkeit zerriſſen. Gerechtigkeit war das Ideal, das ihn allein 
beſchaͤftigte und niederdrückte. Um vor der Welt gerecht zu erſcheinen, erfüllte er mit 
ferupulöfer Genauigkeit die Geſetze der Gefellichaft und die der Religion. Schande und 
Beihimpfung fürchtete er in dem Grabe, daß ihm fogar dDie-Beichte zumider war. Um 
die Gerechtigkeit vor Gott zu gewinnen, beobachtete er pünktlich die von der Kirche 
gebotenen Geremonien und befleißigte er fich der Werfthätigfeit, Die der Katholicismus 
für die Nechtfertigung als unerläßliche Bedingung betrachtet. Alle feine Bünktlichkeit 
und Genauigkeit waren aber vergebend. Er gewann feine Sicherheit, fein Gemüth 
blieb leer und fein Inneres zerriflen. 

Der Zweifel an der katholiſchen Nechtfertigungslehre hatte Luthern zum Glauben 
geführt. Die Seelenangft des Auguftiner Mönche um fein Heil und die Thränen, bie 
er in feiner Klofterzelle vergoffen hatte, hatten die Zuverficht zeugen helfen, die Tod 
und Verdammniß bezwang. Acoſta ließ fich von den Martern feines Berftandes und 
Gemüthes Dadurch befreien, daß er an der Hand des Judenthums in eine Vergangenbeit 
zurüdging, in der die Schreden des Katholicismus noch nicht bervorgetreten waren. 
Er ftudirte das mofaifche Geſetz und fand, daß daffelbe noch Nichts von den Höllen 
frafen und der ewigen Berbammnif der römifchen Kirche wußte. Den inneren ragen 
und Kämpfen bes Chriftentyums glaubte er zu entgehen, indem er wieder Jude murbe. 

Er legte dem zufolge fein Amt zu Gunften eines Anderen nieder, ließ jein Haus, 
zu defien Verkauf er ohne Gefahr nicht eimmal die erften vorbereitenden Schritte hätte 
tun Fönnen, da an neuen Ghriften wie ihm Alles verdächtig war, im Stich, gewann 
Bruder und Mutter zur gemeinfamen Flucht und beftieg mit ihnen ein Schiff, das fie 
nach Amftervam brachte. Seine Erwartung, daß er hier die unbefchränkte Freiheit für 
feine Meinung finden werde, warb aber bald widerlegt. Schon in den nächſten Tagen 
nach feiner Ankunft bemerkte er den großen Abftand zwifchen den Kehren und Bebräuden 
der wirklichen Juden der Gegenwart und dem Spftem, das er fi) von dem Judenthum 
gemacht hatte. Er hatte ſich allein an dad mofaische Gefeg gehalten und danach feine 
Religion gebildet, hier jah er dagegen einen Wuft von Sagungen, denen er im Namen 
des Geſetzes als pharifäifchen Erfindungen und Mißbraͤuchen fogleich offen ven Krieg erklärte. 

Man warnte ihn, rieth ihm zu fehweigen und ſich zu unterwerfen; er wollte aber 
nicht umfonft vor der Inquifltion Portugald geflohen fein und durchaus der Freiheit 
genießen, die er auf feiner Flucht gefucht Hatte, und beftand auf feinem Widerſpruch 
gegen das pharifäifche Syſtem. Die Folge davon war feine Ercommunifation. 

Um ſich zu rechtfertigen und feine Sache gegen die Synagoge ficher zu ſtellen, 
beihloß er in einem Werke den Gegenjag des Mofaismus und Pharifäismusd nachzu⸗ 
weifen. In diefer Arbeit eignete er fich den foeinianifchen und arminianifchen Lehrias 
an, daß das mofaifche Gefeh in feinen Strafen und Belohnungen nur zeitliche Zwede 
kenne und von einer jenfeitigen Welt, dem Himmelreich, noch Nichts wife. Schon 
ehe feine Schrift im Druck erſchien, gab ein Arzt im Jahre 1623 eine Anklagefchrift 
gegen ihn heraus, in welcher ihn derſelbe ald einen Epikuräer bloßzuftellen fuchte. Als 
die Schrift Acoſta's felbft erfchien, erfolgte feine Anklage beim Magiftrat von Amfterdam 
durch die jünifchen Aelteften. Der Magiftrat ließ in der That den Prozeß gegen ibn 
inftruiren; es warb ihm eine Geldſtrafe von 300 Gulden auferlegt und die Schrift 
ſelbſt confiscirt. 

Der Zerfall Acoſtas mit der Synagoge führte ihn weiter, als er Anfangs geahnt 
hatte. Wie er das Chriſtenthum damit kritiſirte, daß er ihm den Vorwurf machte, 
Daß es mehr als feine Vergangenheit, mehr als das Geſetz ſei, fo critiſirte er das 
mofaifche Geſetz damit, daß er ihm feinen Ueberſchuß über feine Vergangenheit, über dad 
Naturgefep, zum Vorwurf machte. Mit Hülfe der Schöpfung und der Naturgejeht, 
Die dem Menfchen vom Schöpfer eingegeben feien, fuchte er die Geſetzgebung zu flürzen. ” 
Er verlangte vom Gefeßgeber, daß er wie der Fürft in einem conftitutionellen Staat | 
die Naturgefeße beobachte, und deducirte ſich aus den letzteren im Gegenfage zu Dem 
pofitiven Geſetz feine natürliche Moral. 

BZünfzehn Jahre ertrug Uriel Acofta, fo bieß er nämlich nach feinem Uebertritt 
zum Judenthum, feine Abfonderung von ber Synagoge und die Laft des Fluches, 
den feine Blutögenoffen auf ihn gefchleudert hatten. Endlich aber erlag er dem Der 











* 


Acquit. Aere. | 281 


ſchwerden feiner erceptionellen Stellung. Wie die fpäteren Philofophen im practifchen 
Schluß ihrer Syſteme die Kühnheiten ihrer -theoretifchen Kritik widerriefen, Kant 
3. B. dieſelben Dogmen, die feine Kritif der reinen Vernunft zerftört hatte, ald Poftu- . 
late der practifchen Vernunft wieder. aufrichtete, fo gab Acofta endlich dem Drange feiner 

gefellfchaftlicden Bebürfniffe nach und beſchloß, in die Gemeinfchaft der Juden mieber 
zurädzufehren. Sein Obeim vermittelte den Friedenstractat, Durch den er ſich dazu 


- berabließ, feine Ausſprüche zu widerrufen und die Anorbnungen ber Rabbiner zu 


unterfchreiben. 
Durch die Hinwegnahme des Bannfluch8 war :aber die Ruhe nicht für immer 


- wieder bergeftellt. Denunciationen wegen feiner häuslichen Speifeorbnung fachten den 


Krieg wieder an. Sein Obeim voll Furcht, daß ihm feine DBermittelung zur Schande 
gereiche, ftellte ſich an die Spige feiner Yeinde. Seine Brüder halfen feinen Gegnern 
und thaten Alles, mas zum Abbruch feiner Ehre und zum Untergraben ſeiner Vermd⸗ 
genöverhältnifje beitragen konnte. Seine Frau war inbeffen geftorben. und man vers 
binderte eine Ehe, die er zu jener Zeit wieder eingehen wollte. Dazu erfuhr man, daß 
er zwei Chriſten, von denen der eine aus Italien, der andere aud Spanien gebürtig 
war, die ohne fübijches Blut in der Synagoge Hülfe fir ihre Armuth fuchten und 
ihn um Rath gefragt hatten, von dem Eintritt in die Gemeinfchaft der Juden abgerathen 
hatte. Der große Rath berief ihn in feine Mitte: und eröffnete ibm, daß ‘der Friede 
zwifchen ihm und der Gemeinde nur wiederhergeſtellt werden fünnte, wenn er im Trauer- 
gewande in die Synagoge komme und feine ‚Gefeübertretungen öffentlich widerrufen 
wolle; dann folle er fih in der Synagoge der Geißelung unterwerfen, endlich auf der 
Schwelle derfelben fich niederlegen, daß Alle über ihn hinweggehen fönnten. Auf feine 
Erklärung, daß er diefe Beringung nicht erfüllen Eönne, warb er aus der jübifchen 
Gemeinfhaft ausgefloßen und außer Gefeped erklärt. Sieben Jahre lang ertrug er 
wiederum biefen erceptionellen Zuftand. Crmüdet und ermattet gab. er endlich. nach, 
erfüllte er jene Bedingungen, — aber erbittert amd Groll im Herzen ging er nad 
Haufe, um in firenger Zurüdgezogenbeit ſich in feinem Gegenfah gegen die Synagoge 
theoretifch zu befeftigen. Das Erzeugniß Diefes tiefen Grolles gegen feine Landsleute 
und ihre Satungen ift feine Selbfibiographie. Die Bitterkeit, mit der er fich in dieſer 
Selbftbiographie über feine Gegner und daß Leben überhaupt ausfprach, deutete Darauf 
bin, Daß er zum Aeußerften entfchlofien war. Bald nach der Vollendung dieſer Schrift, 
als einer feiner Neffen vor feinem Haufe vorüberging, trat er heraus und drüdte auf 
ihn ein Piftol ab. Als daſſelbe verfagte, verriegelte er fein Haus und erfchoß ſich 
(im Jahr 1647) mit einem Piſtol, das zu dieſem Zweck ſchon bereit lag. 

Aequit (franz.) Quittung, Empfangſchein. In Frankreich beglaubigt man ge⸗ 
wöhnlich den Empfang einer ſchuldigen Zahlung, namentlich bei Wechſeln und An⸗ 
weifungen, mit den Worten pour acquit oder par acquit. Diefen Worten folgt die 
Unterfchrift ded Empfängers der Zahlung, fo wie die Beifügung des Datums. Freilich 
ift wohl für den DBezogenen der Beſitz des Wechfeld ein binreichender Beweis, daß er 
ihn bezahlt Hat, ein Acquit von dem letzten Inhaber oder Einzieher des Wechſels ift 
aber geboten, weil dadurch verhindert wird, daß Jemand ein anderes Giro auf den 
Wechſel ſetze. Kat der Wechfel eine Alonge (Papierftreifen, der an den Wedhfel an- 
geflebt wird, jobald ed für Die weiteren Giros auf legterem an Raum gebricht), fo ver- 
merkt man dad Acquit zweimal. Wan fegt es nämlich auch auf die vordere Seite des 
Wechſels, damit, wenn die Alonge, auf der unter dem legten Giro ſich das Acquit 
befindet, abgenommen wird, ed dennoch auf dem Wechſel ſteht. (©. Wechſel.) 

„St. Jean d'Aere, Accon, oder Ptolemais. Die Stadt, Feſtung und Hafen, 
ſind a ihre Lage an der Küfte des alten Phoͤniciens feit ältefter Zeit ein politifch 
und militärifch wichtiger Verbindungspunkt zwifchen Europa und Aſten und als folcher 
Biel wechfelnder Eroberung gewefen. Napoleon erklärte durch Wort und That jede Untere 
nehmung gegen die türkifche Herrſchaft in Klein-Aflen, Syrien und Aegypten für erfolglos 
ohne den Beftt dieſer Feſtung, ebenfo ein Vorbringen europäifcher Heere in der Rich⸗ 
tung auf Süb-Aften nur dann für möglich, wenn Acre die Verbindung mit Europa offen 
erhält. Schon Strabo fpricht von diefer Stadt und ihrer Wichtigkeit in den Kriegen 
der Perfer und Aegypter. Die Römer machten eine Militär-Colonie, Colonia Claudia, 


\ 


282 Aere. 


aus ihr, die durch das Zuftrömen von Kaufleuten aus dem Litorale des ganzen 
mittelländijchen Beckens neben ihrer ‚militärifchen Bedeutung noch eine commercielle 
gewann. In der Bibel fommt die Stadt im Beflge der Kanaaniter vor; den Inden: 
gelang es nie, fie einzunehmen. Accon ward Hauptſtadt eines Kleinen Deöpoten- 
Staates des Alerander Bala, der die Tochter ded Ptolemäus Philopator zur Ge- 
mablin hatte und deshalb den Namen der Stadt in Ptolemais änderte. Es fand 
auch Hier ein Concilium ftattl. Bei der Ausbreitung des Mohamedanismus fiel 
Acco in die Hände der Araber, wurde befler befeftigt und ein Stützpunkt ihrer Herr⸗ 
ichaft und des Handels von Syrien und Palaͤſtina. Schon im erften Kreuzzuge 
juchten fi die chriftlichen SHeerführer, welche die militärische Wichtigkeit des feften 
Seeplages wohl erfannt, Acre's zu bemächtigen, flanden aber nach mehreren vergeb: 
Uchen Verſuchen davon ab, da die Beſatzung fich erſt ergeben wollte, wenn Jeruſalen 
in die Hände der Ehriften gefallen fei. Obgleich dieſe Bedingung am 15. Juli 1099 
erfüllt. wurde, verfagte Ucre Doch Die Unterwerfung und hielt fich noch fünf Jahre lang. 
Num fiel. fie aber am 24. März 1104 vor 70 Schiffen, welche befonders Genua ge 
ftellt hatte. Auch jeßt bewies fich wieder die Wichtigkeit des Platzes, denn mit feinem 
Beilge flieht und fällt fortan wechfelnd die chriflliche Herrfchaft im Orient. Sultan 
Saladin von Aegypten befeftigte feine Macht über Syrien. nicht eber, bis er 1187 
Acre den Chriften abgenommen hatte. Darauf fiel auch Ierufalem. Der neue Kreuzzug 
mußte fich, da er vorzüglich See-Expebition war, als zu feinem eriten Objecte gegen Arte 
sichten, das zu Ehren des Johanniter⸗Ordens bereitö den Namen St. Jean d'Acre 
erhalten. Nachdem Guido, König von Ierufalem, die Feſtung ein Jahr lang vergeb- 
lich belagert hatte, ftieß König Philipp Auguft von Frankreich mit einem franzöſtſchen 
Kreuzheere zu ihm. Die Belagerung war fo weit gedieben, daß man flürmen Eomnte. 
Die Gesta Dei per Francos fagen: aus Höflichkeit für den noch erwarteten König 
Richard Kömenherz von England. habe man den Sturm verjchoben. Als Richard 
eintraf, vertheidigte ſich der heldenmüthige Emir Seifeddin Ali noch einige Zeit 
mit gutem Erfolge. Saladin. unterfüßte ihn, jo viel er vermochte. Nachdem im 
Banzen über hundert Treffen um den Belt Acre's flattgefunden und Die Kreuzfahrer 
viele Leute verloren hatten, fiel die Feftung am 12. Juli 1191 abermals in die Hände 
der Chriften. Were wurde dadurd eine. Art von gemeinfhaftlihdem Beſitz aller kreuz⸗ 
fahrenden Volker, eine Bereinigung von vielen Handeld- und WMilitärftanten in einer 
. Stadt, ein Sammelplag der verfchiedenften Nationalitäten, die ſich durch Streitigkeiten 
unter einander fchwächten und. keinen vereinigenden Oberbefehl dulden wollten. Trot 
dem war und blieb Acre der Punkt, auf welchen ſich die chriftliche Herrſchaft über 
Palaͤſtina ſtützte. Am befannteften ift des Krieg, der zwifchen Genua und Veredig in 
Acre felbft und auf der Rhede geführt warb im 13. Jahrhundert. Gerade hundert Jahre 
lang, bis zum 16. Juni 1291, dauerte Acre's Unabhängigkeit vom Halbmond. Sul 
tan Kalil von Aegypten und Sultan Melech⸗Seraf (Alchraf) von Sprien ſchloſ⸗ 
fon ed zu Anfang Rai 1291 mit 140,080 Bann Fußvolk und Reiterei ein. Fünf Wochen 
lang vertheidigten fich 18,000 Mann Ehriften mit 900 Pferden, dann wurden fie von ber 
Mebermacht erdrückt und die Chriſtenherrſchaft in PBaldftina überhaupt gebrochen. Kein 
Ghrift der Beſatzung entkam dem verhängten Blutbade. Die Gefchichte macht ber ge 
theilten Herzfchaft den Zall der Stadt zum Vormurfe. Jacques de Vitri giebt an, 
dag 1250 die folgenden Staaten dort Paläfte, Quartiere und Soldaten hatten. 
König von Ierufalem und Enpern, der König von Neapel und Sicilien, 
der Fürſt von Antiochien, Graf von Jaffa, Graf von Tripolis, Fürſt von 
Baltläa, der Legat ded Papſtes (welcher dort beftändig 2500 Wann Truppen unter 
bielt), der Fürft von Tarent, König von Armenien, Herzog von Athen, die 
Generale von Benedig, Florenz, Genua, Pifa und die Großmeifter der 
drei Ritter- Orden. Mehr ald alles Andere beweift dieſe Vielherrſchaft für die 
Anerkennung der merfantilen, politifchen und militärifchen Wichtigkeit dieſes Punktes. 
Seit jener Zeit iR Acre ohne Unterbrechung in der Macht der Türken geblieben. 
Don da an blieb Acre zwar der Landungspunkt für alle Wallfahrer nad dem 
heiligen Lande, verlor aber feine politifche Bedeutung für den Occident, bis Bonn 
parte bei feinem Zuge nach Aegypten 1799 abermals durch die That erklärte, da 


Here. 283 


fein europäifcher Bells im Orient ohne Acre möglich fei. Acre war damald noch mit 
mittelalterlicher Befefligung, ftarfen Mauern, umgeben, gegen welche nur fchweres Poſi⸗ 
tiondgefchüg wirkſam geweſen wäre. Bemerkenswerth if, wad Gen. Bertrand in 
femen „Memoires d’Egypte et de Syrie“, al3 von Napoleon dictirt, in dieſer Be⸗ 
ziehung über Acre ausfpricht. Als die Türken Heere unter Ibrahim Bey und 
Schezzas Paſcha zur Wiedereroberung Aegyptens ausrüfteten, wollte Bonaparte fie 
durch die Beſetzung Syriens in Schach Halten, brad mit 13,000 Mann (9952 M. 
Inf., 900 Eav., 1700 Art. mit 49 meift ſchweren Gefchügen) aus Aegypten auf, 
nahm raſch EI Arifh, Gazah, Jaffa und erfchien am 17. März vor Arte Wie 
Bonaparte, hatte aber auch England die entfcheidende Wichtigkeit des Platzes erkannt 
und benupte feine Blotte unter dem Commodore Sir Sidney Smith, die Stabt 
zu verproviantiren, die Befagung zu verftärfen und mit Kriegämaterial zu verjorgen. 
Ein franzöflfher Ingenieur Phelippeaur, emigrirter Royaliſt und in englifihen 
Dieniten, beflerte die bis dahin vernachläfftgten Werke aus und leitete die Vertheidi⸗ 
gung. Die Kaufgräben wurden ſchon am 20. März auf 150 Klafter eröffnet und 
dazu theilweis die Gräben der alten Stadt benutzt; doch konnten die Batterieen nicht 
bewaffnet werben, da die englifche Fregatte „Tiger“ franzöftfche Transportſchiffe mit 
Belagerungsgeſchütz aufbrachte und dies Geſchütz von den Türken zur Vertheidigung bes 
nußt wurde. Erſt nad jechd Tage offenen Laufgräben machte der türfifche Gommandant 
Schezzas Paſcha den erften Ausfall, welcher aber zurüdgefchlagen wurde. Am 28. 
konnte dad Feuer aud den mitgebrachten Feldgeſchützen (4 Zmwölf-, 8 Adytpfündern 
und 4 Hanbigen) beginnen. Um 3 Uhr Nachmittag fchien eine gelegte Brefche practi- 
cabel. Die Grenadiere erbaten ſich fofort Die Ehre ded Sturmes, wurden aber zurüd« 
getrieben. Am 30. drangen die Türken bei einem Ausfall bis in die Laufgräben, 
fließen aber auf die berühmte 32. Halb» Brigade und mußten mit Verluſt in die 
Feſtung zurüd. Da der gewaltfame Angriff feblgefchlagen, mußte zum regelmäßigen 
übergegangen werden. Er dauerte 60 Tage und endete mit dem Aufgeben der Bela. 
gerung. Während verfelben lieferte Junot bei Zubi und Bonaparte ‚felbft. beim 
Berge Tabor den heranziehenden türkifchen Erfagtruppen fiegreiche Gefechte; aber 
die Feſtung hielt ſich, obgleich unterdeſſen franzöftfche Schiffe Geſchütz, Truppen, Mur 
nition und Proviant gebracht, welcher Iegtere bereit zu mangeln begann.. Bom⸗ 
batdement, Minenangriffe, Sturm erreichten gegen die heldenmüthige und gut: geleitete 
Bertbeivigung nichts. Eine türkifche Plottille brachte am 7. Mai Suceurs in die 
Feſtung, — zwei Hauptſtürme am 7. und 8. fcheiterten an einem jchnell vollendeten 
inneren Ball. Ungünftige Nachrichten aus Aegypten veranlapten endlich den Ge⸗ 
neral Bonaparte am 17. Mai, die Belagerung aufzuheben und mit beheutendem 
Verlufte nah Cairo zurückzukehren. Auch diesmal zeigte ſich der Beſitz Acre's als 
entfcheidend für einen” ganzen Feldzug. — Im Jahre 1831 Hatte ſich Mehemed Ali, 
Vicelönig von Aegypten, gegen die Oberherrichaft des Sultans aufgelehnt. Daß feine 
Herrſchaft in Aegypten unhaltbar fei, wenn Ucre im Beſitz ded Sultans blieb, fühlte 
er deutlich und fandte daher feinen Sohn Ibrahim Paſcha mit 30,000 Mann und 
60 Gefchügen nach Syrien. Zu Ende des Jahres 1831 begann Ibrahim. die Bela⸗ 
gerung, welche fyliter der neapolitanifche Ingenieur Roſette leitete. In Acre kom⸗ 
manbirte Abdallah Paſcha von Syrien, aber die mangelhafte Ausrüftung des 
Platzes, wie die undisciplinirte Beſatzung, ließen ihn den Entfag herbeiwünſchen, der 
fih, 30,000 Ramı ftark, aus Klein-Aflen näherte. Bonaparte's Beifpiel nachahmend, 
ging Ibrahim diefem Entfagheere entgegen, da es aber unthätig ftehen blieb, kehrte 
er vor Acre zurüd, wo Mojette die regelmäßige Belagerung fo weit vorgetrieben Hatte, 
dag am 28. Mai 1832 nad fünfmonatlicher Belagerung die Feſtung durch : Sturm 
genommen wurde. Die Aegypter hatten dabei gegen 2000 Wann an Todten vers 
Ioren. Kein Sieg Mehemed Ali's und Ibrahim's wurde von den europälfchen Mächten 
für fo entfcheidend gehalten, als die Eroberung von Acre, und Feiner bedrohte fo dirett 
die Türkei in ihrer Integrität, als dieſer. Acht Jahre blieb Acre im Beſttz des ägypti- 
fchen Satrayen; da fchlofieen England, Rußland, Defterreih und Preußen 
am 15. Juli 1840 den Londoner Tractat zu Gunften der Pforte, und am 29. October 
fand auf der Rhede von Beyrut an Bord des englifchen Admiralſchiffes ein Kriegs⸗ 








284 | Here. 


vath flatt, dem der Admiral Sir Robert Stopford und Commodore Napier, 
der öfterreihifche EContre Admiral Baron Bandiera, der türfifche Contre= Admiral 
Waller Bey und‘der Ingenieur Oberſt Smith beimohnten. Man befchloß, Acre, 
als den Schlüffel Syriens, anzugreifen und um fo mehr, als Ibrahim die Feftung zu 
feinem Hauptwaffenplag gemacht Hatte. Am 1. November begannen 5 engliſche Schiffe 
die Beſchießung mit 84pf. Pairhans-Gefchügen. Die Feſtung antwortete ohne Erfolg. 
Das Feuer wurde zwar den ganzen Tag, aber nur ſchwach fortgejegt, bis am 2. Nov. 
auch die öſterreichiſchen und türkifchen Schiffe eintrafen und nun 21 Segel mit 956 
Gefhügen (3000 Türken, 1500 Engländer und 200 Oefterreicher ald Landungstruppen 
an Bord) verfammelt waren. Bon diefen 21 Schiffen waren 3 öfterreichifche und 
1 türkifches, die übrigen englifhe. Um 2, Uhr Nachmittags am 3. November ber 
gann der vereinte Angriff. Die Wirkung des dreiſtündigen Bombardements war fürch—⸗ 
terlich; ein auffliegendes Pulvermagazin tödtete auf einen Limfreis von 120,000 [) Fuß 
 jebed lebende Weſen, zwei Erb» Govalinen waren zerftört, Zinnen und Bruſtwehre 
der Werke durchweg zertrünmert. Die Nacht machte der Beſchießung ein Ende, doch 
war ihre Fortfegung am folgenden Tage befchloffen. Um 3 Uhr Morgens meldete 
Waller Bey dem Erzberzoge Friedrich von Defterreich, welcher vie Fregatte 
Guerriera Tommanbirte, Daß die aͤgyptiſche Beſatzung theilweije abgezogen zu fein 
foheine, daß er einen Sturm verfuchen wolle und fich dazu öfterreichifche Hülfe erbitte. 
Sofort beflieg Erzherzog Friedrich mit 80 Mann dfterreichifcher Soldaten bie Boote 
und landete unbemerkt in der Gegend des Wafferthored. Es war verrammelt, aber 
unbeſetzt. Dur eine Schießfcharte drang ber Erzherzog ein, ließ das Thor von innen 
öffnen, marfchirte bis zur Citadelle, erftieg dieſe, fand fie ebenfalld unbefegt und 
pflanzte nun eine türkifche, englifche und öfterreichifche Fahne auf den Wall. Gleich⸗ 
zeitig waren auch englifche Truppen in die Feflung eingerüdt. Die aͤgyptiſche Beſaz⸗ 
zung hatte, der heftigen Beichießung weichend, die in Trümmern liegende Stabt ver- 
laffen. Ihr Berluft betrug über 2000 Mann an Todten und Verwundeten, 400 Po- 
fittond» und 150 Feldgeſchütze. Die Alliitten hatten nur 21 Todte und 41 Ber 
wundete. Wieder war durch Acre eine‘ Herrfchaft gebrochen. Seitdem ift Aere im 
ungeftörten Beflge des Sultans verblieben. Die Werke find gegenwärtig flärfer, als 
je vorher, und der Platz hat eine der zahlreichften Garnifonen Der Türkei. Acre ge 
hört zum. Paſchalik Syrien, Liegt 320 53° 10" nörblicher Breite und 530 3° 35" 
oͤſtlicher Laͤnge zwifchen den Paſchaliks Damask und Tarablüs, am Fuße des Berges 
Garmel, bat circa 15,000 Einwohner, und wenn auch Eeinen vortrefflichen, jo doch 
den’ beften Hafen an der fprifchen Küſte. Die fprifhe Baumwolle hat Hier einen 
Sauptftapelplag und if auch fonft die Handelsbewegung ziemlich bedeutend. Bei ber 
endlichen Vertreibung ded Mohamedanismus aus Europa wird St. Jean d'Acre 
wahrfcheinlich wieder eine bedeutende Rolle fpielen und das Studium feiner früheren 
Bezwingungen fich belohnen. Steht die Communication zur See dem Belagerten zu 
Gebote, fo bat der Belagerer zu Lande wenig Ausſicht auf Erfolg. Wichtig für den 
Einfluß, welden St. Jean d'Acre auf jede Expedition auf dem Landwege nach Indien 
ausüben muß, ift ein Promemoria von Leibnitz, welches er 1672 an Ludwig XIV. 
fandte, um ihm zu bemweifen, die Macht Hollands müfle durch Anen Angriff auf 
Aegypten gebrochen werben, weil nur fo der Weg nach Indien zu en und Hol⸗ 
lands Macht in Indien zu ſchwaͤchen ſei. Die Anwendung auf die moderne engli- 
ſche Herrfchaft in Indien liegt nahe. — Kiteratur: Strabo I. 16, — Guillaume 
de Tyr, — Jacques de Vitry, — Marino Sanudo, — Gesta Dei per Francos, — 
Doubdar, Voyage de la terre sainte, — Campagnes de Bonaparte en Egypte et Syrie 
par Berthier, — Geſchichte des Belbzuges in Aegypten von Beauvais, — Bertrand, Me- 
moires, — Victoires et conquetes des Fransais, — Willifen, Feldzug in Syrien, — 
Defterreichiſche Militärs Zeitfchrift 1841, Band I. — Pläne: in der öfterreichifchen 
Zeitfchrift und in Bertrand’ Memoiren. Die Zeitfchrift für Kunſt, Wiffenfchaft und 
Geſchichte des Krieged, 52. Band, ©. 95, enthält ven Aufſatz „Leibnitz als 
Kriegb- ⸗Politiker.“ United Service Journal. 
Acre, englifches Beld- und Landmaß, welches 160 englifche Quadratruthen bat 
— 38, 703 parifer Quabratfuß oder 40,136, Quadratfuß rheinifch. 











Act. J 285 


— Act — (abſtammend vom lateiniſchen Worte agere, thun, handeln) — bezeichnet 
bald die einzelne Handlung ſelbſt (actus) bald dasjenige was ge= ober verhan⸗ 
delt wird (aclum). In erfterer Beziehung Fennt die deutfche Sprache dad Wort „Act“ 
namentlich in Betreff der Vornahme öffentliger, in folenner Form vor ſich gehender 
Handlungen (3. B. Act der Trauung, der Gonfirmation, der Einweihung, der Grund» 
fleinlegung, der Hinrichtung u. dergl. m.); ferner in Betreff gerichtlicher, hauptfächlich 
proceßualifcher Vorgänge (z. B. Act der Zeugenvernehmung, der Acten » Jurotulation, 
der Urtheildverfündigung, der Augenfcheindeinnahme u. dergl. m.); fodann namentlid) 
zur Bezeichnung gewiffer Abfchnitte in der Darftellung einer fortlaufenden Handlung 
(3. B. Uct, "Aufzug eined Dramas). In der Malerei ift Act zeichnen das Aufnehmen 
eined lebenden Modelld in einer gewiflen Stellung. -— In der englifchen Sprache 
bedeutet act of parliament, Parlamentsact, fo viel ald Barlamentsbefchluß. Die 
Parlamentd-Befchlüffe, d. H. die vom Parlament gefaßten und vom Könige genehmigten 
Befchlüffe werden nad) Beendigung einer Saifon in eine Urkunde, dad Parlamentöftatut, 
vereinigt, welches in verfchiedenen Gapiteln die einzelnen Beichlüffe enthält. Sie pflegen 
jo eitirt zu werden, daß zugleich mit dem beftimmten Sapitel des Statutd das Regierungs⸗ 
jahr des Königs angeführt wird, in welches die betreffende Parlamentsſeſſion fiel (z. B. 
31 Charles Il., Chapter 2, d. 5. das Statut von der Parlamentäfeffion im 31. Re 
gierungsjahre fi. e. 1680] Karls II, Gapitel 2). — Ein für die englifche Geſchichte 
befonder8 wichtiger act of parliament ift der fog. act of sellleiuent. In Folge dieſes 
durch Wilhelm III. am 12. Juni 1701 genehmigten PBarlamentsbefchluffes gelangte das 
Haus Braunfchweigstüneburg. zur britifchen Thronfolge. | 

Het. (Bühnenweren.) Aus den urjprünglich deutfchen, von Rofenpfüt, dann Schnep⸗ 
perer und Genofien herſtammenden Bezeichnungen: Handlungen, Tagewerfe, Ge— 
Ihäfte, Unterjchiede, Uebungen, Rurzweile, Früchte und Hauptfäge für 
die Abtheilungen, in denen ein Schaufpiel den Zufchauern vorgeführt wurde, entfland- 
gleichzeitig mit dem Einfluffe, den die franzöflfche auf die deutſche Bühne ausübte, der 
Act, als Bezeichnung fir den Ruhepunkt, welcher für Darfteller wie Zufchauer beim 
Genuſſe eines Schaufpield eine geiftige und Eörperliche Nothwendigkeit iſt. Die Spa- 
nier blieben 6i8 zum Anfange des 19. Jahrhunderts bei der Jornada (Tagewerf), nah» 
men dann aber auch den Act (Acto, weſentlich von dem altfpanifchen auto unterfchieden) 
an. Die deutſche Bühne ift die einzige, welche der franzöflfchen Bezeichnung in ben 
Worten Aufzug und Abtheilung etwas felbfiftändig Anderes entgegenſtellt; frei« 
lich bezeichnen beide eben nur das tedhnifche oder gefchäftliche der Sache, während das 
franzoͤſtſche Wort fich auf die äftbetifche Forderung flüßt, jeder Act folle eine in fi 
abgefchloffene und nur in Bezug auf das Ganze nicht vollendete Handlung haben. 
Somit läge eine innere Nothwendigkeit in den fogenannten Actfchlüffen, die der Dichter 
gern möglichft wirkungsreich durch einen jcheinbaren Schluß der Handlung überhaupt, 
oder eine neu eintretende Berwidelung geftalte. Das griechifche Theater Tannte die 
Eintheilung in Acte nicht. Seine Abtheilungen, die Broftafe, Epiftafe und Kat⸗ 
aftafe oder Kataftrophe waren innerliche poetifche Nothwendigkeiten, keine wirk⸗ 
liche Außerliche Unterbrechung des Spield. Dagegen findet fich -bei Plautus und 
Terenz die Abtheilung in 5 Acte, woraus Abbe BP’ Aubignac für das franzöfljche 
Theater die Negel herleitete, jedes muftergültige Stud müffe 5 Acte haben, eine Bor- 
ichrift, der ſich die franzöflichen Dichter faft ein Sahrhundert lang unterwarfen und bie fie 
dadurd allerdings in Frankreich zu einer unumftößlichen Regel machten. Im Großen 
und Ganzen gilt fie auch jegt noch für das Theater überhaupt, und ſelbſt Shake⸗ 
jpear, der ſich fonft nicht leicht an eine Megel band, fügte fich der Abtheilung in 5 
Abſchnitte, für die Dauer eines ganzen Schaufpielabendse. In neuefter Zeit iſt man 
durch Borfpiele auch darüber hinausgegangen. Die der innern poetifchen Nothwen⸗ 
digkeit am meiſten entfprechende @intheilung jeder dramatifchen Dichtung würde auf 3 
Acte hinweiſen, meil fo die Erpofitton, Verwidelung und Löſung (Katy- 
ſtrophe, Denowement) auch den natürlichften äußeren Ausbrud finden Tann, doch 
ift ein Zrauerfpiel in 3 Acten etwas durchaus Ungewohntes, ohne daß ein ausreichen⸗ 
der Grund dieſe Exfcheinung erklärte. Für die technifche Geftaltung der Acte berrfcht 
auf dem. Theätre francais bie Sitte, den Vorhang nicht fallen zu laſſen. Die 


286 Acta Eruditorum. Acta Sanelorum. 


Bühne bleibt einige Minuten leer, während welcher Muſik gemacht wird. Auch in 
Deutſchland hat man dieſe Sitte allerdings nur bei ſolchen Stüden nachgeahmt, 
welche in derſelben Decoration weiter fpielen, wie Iphigenia, Die Schule der 
Alten u. ſ. w. Sonſt wird gewöhnlich eine jelten paſſende Zwiſchenmuſik gemacht. In 
neueſter Zeit bat die Berliner Hofbühne den Muth gehabt, die Muſtik ganz aus den 
Zwifchenacten zu verbannen. Die Anfangs heftige Oppofltion dagegen iſt verftummt 
und die Sache als eingeführt zu betrachten. Bei einigen Bühnen berricht die Sitte, 
während des Spield den Zuſchauer⸗-Raum zu verdunfeln, damit das Bühnenbild ſelbſt 
heller erfcheine. Bei anderen die Unfitte, den bevorſtehenden Actfchluß durch ein zwar 
nur für den Majchiniften beflimmtes, aber dem Publiftum börbared Zeichen anzukündi⸗ 
gen; eine noch ärgere Verfündigung gegen die beabfichtigte Fünftlerifche Taͤuſchung des 
Publikums, ald das Beginnen einer gleichgültigen Zwiſchen⸗Muſik nach einem fpannen- 
den oder entſcheidenden Actichlufie. 

Acta Eiraditeram if der Name der erften kritiſchen Gelehrten = Zeitfchrift in 
Deutichland. Diefe Zeitfchrift beitand etwa hundert Jahre, von 1680— 1782. Sie ift 
dem Journal des Savants, das 1665 gegründet worden ift, und dem Giornale de’ 
Letterati von 1668 wachgebildet. Für das Erwachen und die Entwidelung des, fritis 
ſchen Verſtandes bei der beutjchen Nation iſt diefe Zeitichrift äußerft wichtig. Sie bat 
unflreitig den beutfchen Verſtand in den hundert Jahren von 1680 — 1776 zut Kritif 
erzogen, fo daß die großen kritiichen Talente (wie Kant) und die Philoſophen (mie Fichte, 
Hegel und Schelling) ein vorbereiteted Terrain fanden. Für die deutfche Cultur⸗ 
gefchichte der legten zwei Jahrhunderte und Die jeßt überwiegende Kritik find die Acla 
Erudilorum die Wiege geweien. Die bedeutendften Gelehrten und Denker ber Deut 
fyen waren Mitarbeiter, wie Yeibnig. Der Herausgeber der Acta Eruditorum war 
Dito Menke in Leipzig, von dieſem erbte fein Sohn Johann M. die Nedaction. Der 
Enkel des Begründers war von 1732 an der Herausgeber bi zu Ende. Jetzt haben 
die Acla KEruditorum nur noch hiſtoriſches Intereffe für den Gelehrten, da fte nun durch 
die völlige Iimgeftaltung, Theilung und Ausbildung der Wiffenfchaften überflügelt find. 

Acta Sanctorum. Der Name Acta in diefer Verbindung bedarf einer Erklärung. 
Die Römer verftanden unter Acta (diurna) Zeitungen, oder Acta (3.8. Apostolorum, Pilati 
Bericht des Pilatus) Tagebücher und Neifeberichte. In dieſem legteren Sinne „Berichte“ 
wird bier Acta gewöhnlich erklärt. Wir müllen aber bemerken, daß Dies Teineswegd 
erfchöpfenn if. Unter Acta verftand man, wie noch jebt, auch das officielle Protocol, 
befonders eines Griminalverbrechere. Solche Vrotocolle aus dem Verhör und Procef 
ingerichteter Maärtyrer baben bie Ghriften vom 1, bis 4. Jahrhundert fich zu werfchaffen 
grwußt und abgejchrieben. Sie bildeten bald eine Sammlung, aus melcher man am 
Fodedtage eines Märtprers jeine betveffenben Unterfuchungsacten, Urtheil uud Vollzug 
biffelben im: Auszuge vorlas, Manche Vebensbefchreibungen von Märtyrern find mod 
in Rray’ und Antwort, wie bei einen Unterfuchungsverbör, ung aus den Kegenden da 
Selligaen erhalten worben. Das beweift Dad bobe Alter mancher beiligen Legenden, 
wenn Ne auch oft und vielfach überarbeitet wurden. 

Die Bebensbeichreibungen der Heiligen, gewöhnlich als vilne SS. bezeichnet, find 

ner Alteiten Abfaſſung felten erbalten, Als Fälſchungen kann man ſie aber bei 

balb nis Betrachten, ſondern fie find meiſtens Weberarbeitungen. Freilich ift ibre Abs 
Blum wer Zeit mac oft jehr entfernt von den Heiligen, deren Leben ſie beſprechen, 
em Belfsiel die Lebensbeichreibungen Der irifchen Miffionare und Mönche iu 
Ä Zi 6 0: Iabrb, fait durchgehends erft im 12. bie 13. u 
er a über ihre hiſtoriſche Glaubwürdigkeit nicht unbeach‘ 

re eng Des Namens Acta Marlyrum ift aber 
2 Eimer aller Yebenägeichichten Der Heiligen zu m 


De * Ds ae la Sanclorum: iſt eines der bedeutendſte 
ma ——— ne neben der Ausgabe der Kirchenvätere 
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* ag 71, Yr- —  eAtsıE tkaämus, Dan 














Acta Sanctorum. 287 
die Stellung diefer ganzen gelehrten, Eatholifchen, hiftoriichen Literatur zur Gegenwart 
bezeichnet, und jo muß man jeßt, da diefe Literatur nur noch hiſtoriſches, Fein prafti= 
‘ches Interejfe mehr hat, diefelbe auffafien. Es war die Abficht bei der Publication 
dieſer Quellenwerke, theild conjervativ dem Katholicismus eine wifienfchaftliche Bafls 
zu geben, theild aggreſſiv die Kritik des Proteftantismus anzugreifen. Nach dies 
jem Gefichtöpunfte wird man die Wichtigkeit der Acta Sanctorum und ihrer Gefchichte 
würdigen. Die Fortfegung der Acta Sancltorum jeit 1838 bis zur Gegenwart durch 
belgifche Iefuiten hat den Erwartungen der Gelehrten nicht entfprochen. Man erkennt 
daraus, daß jet die Iefuiten Teine Gelehrten mehr haben, wie im 17. und 18. Jahr⸗ 
hundert. Da die Acta Sanctorum alſo eine noch unvollendete Quellenfchrift für die 
Kirchengefchichte find, fo bedient fich der Gelehrte Daneben noch immer einer älteren Samm- _ 
lung von Heillgen= Xeben von Surius. Wir geben nun zur Gefchichte dieſes großen 
fatholifhen Sammelwerkes über. 

Der Iefuit Heribert Rosmweid zu Antwerpen entwarf den Plan zu einem 
auf 18 Bände berechneten Legendenwerke, das den Titel Acta Sanctorum führen follte. 
E flarb jedoch im I. 1629, ohne die Ausführung begonnen zu haben; aber jeine hin⸗ 
terlafienen Sammlungen übernahm mit den Aufteage des Ordens, das projectirte Unter⸗ 
nehmen in möglichft vervollftändigter Weife weiter zu führen, der damals 43 jährige 
Jefuit Johann Bolland (1596 — 1665), der zu dieſem Behufe von Mecheln nad 
Antwerpen überfievelte.. B. brachte aus Bibliotheken und Archiven, durch eifrige Nach⸗ 
forfhungen und feines Ordens Einfluß eine folche Menge von Handfchriften, Märtyre 
Arten und Lebenöbefchreibungen von Heiligen zufammen, daß eine nocdhmalige Erwei- 
trung des Planes eintreten mußte. Die Abjicht von Rosweid ımd Bolland war 
anfänglich, Durd, die Sammlung der. Kebensgefchichte der Heiligen eine. Beiſpielſamm⸗ 
fung für die Seelforger und die Erbauungsßliteratur zu geben. Bon 1630 an ward 
daraus eine biftorifche Quellenſammlung. Bolland erhielt im I. 1635 an feinem 
Ordensbruder Georg Henſchen (1600-81) einen fehr geeigneten Gchülfen, und jo 
fonnten bereits im I. 1643 von dieſen Hiefenlegenden zwei ſtarke Foliobaͤnde ericheinen, 
die Gefchichte jener Heiligen umfaflend, deren Gedaͤchtniß die römifche Kirche im Monat 
Januar feiert. Im I. 1658 erfchienen drei weitere Foliobaͤnde, Die Heiligen de8 Mo- 
nats Februar behandelnd. Zwei Jahre nachher kam ein neuer Mitarbeiter, der Jeſuit 
Daniel Bapebroef (16238—1714) binzu, und auf den Wunſch des Papftes Aler- 
ander VII unternahmen Henfchen und Papebroek eine Reiſe durch Deutſchland, Italien 
und Frankreich, in welchen Ländern ſie zahlreiche Quellen fanden. Diefe Reiſe bat 
ihren Zweck nicht völlig erreicht; die Venedictiner enthielten ihnen viele Quellen vor. 
Papebroek war nämlich mit den Benedictinern von St. Maur (Mabillon) in einen be 
tigen Streit (der Krieg der Diplomatif) geratben. Der bald darauf erfolgte Tod des 
Bolland Hinderte eben jo wenig das Fortfchreiten der Acta Sanctorum, ald das 
Ableben von Henjchen und Papebroek; denn das Werf war zu einem Unterneh» 
men des Ordens geworden, und für jeden abgehenden Mitarbeiter trat ein neuer ein, 
der unter der Anleitung der älteren Collegen im gleichen Geifte und nach dem gleichen 
Plane fortarbeitete. Alle dieſe Mitarbeiter und Herausgeber der Acta heißen die Bol» 
landiften, ihr Werk, von dem auch zu Venedig ein nicht ganz correcter Nachdruck 
erichien, da8 Bollandiftenwerf. Selbft nach Aufhebung des Jeſnitenordens wurde 
durch“ Unterftügung der Kaiferin Maria Thereſta das Unternehmen fortgefegt, bis im 
3. 1794- das Ginrücden der Franzofen in vie Niederlande bdemjelben ein Ende machte. 
wor auf 53 Kolianten angewachfen, von denen der leßte, zu Tangerloo 1794 er⸗ 

die Heiligen des 12. bis 15. Jahrh. incl. enthaltend, fehr felten gewor⸗ 

den eigentlichen Biographieen enthält das Werk alles dasjenige, was an 

über jeden Heiligen aufgefunden werden konnte, fo wie eine Fülle von 

ungen und Anmerkungen, wie denn überhaupt dieſe Acta nicht in 

e, jondern eines gelehrten Quellenwerkes gehalten find, jo daß ſie, 

ech Die vielen mitgetbeilten alten Urkunden und Schriften, eine der 

fie die irchengeſchichte bilden. Sehr intereffant find die Angriffe 

gr der Benedictiner 3. B. Neugart's, während die — 
ſerkannten. 














386 Acta Eruditorum. Acta Sanclorum. 


Bühne bleibt einige Minuten leer, während welcher Muſik gemacht wird. Auch in 
Deutſchland hat man diefe Sitte allerdings nur bei folchen Stüden nachgeahmt, 
welche in derſelben Decoration weiter fpielen, wie Sphigenia, Die Schule der 
Alten n.f.w. Sonſt wird gewöhnlich eine felten pafjende Zwifchenmuflf gemadt. In 
neuefter Zeit hat die Berliner Hofbühne den Muth gehabt, die Muſik ganz aus den 
Zwifchenacten zu verbannen. Die Anfangs heftige Oppoſition dagegen ift verftummt 
und die Sache als eingeführt zu betrachten. Bei einigen Bühnen berrfcht die Sitte, 
während des Spield den Zuſchauer⸗Raum zu verbunfeln, damit das Bühnenbild ſelbſt 
heller erfcheine. Bei anderen die Unfltte, den bevorftehenden Actſchluß durch ein zwar 
mr für den Mafchiniften beflimmtes, aber dem Publikum hörbared Zeichen anzufändi- 
gen; eine noch ärgere Verfündigung gegen die beabfichtigte Fünftlerifche Taufchung des 
Publikums, ald das Beginnen einer gleichgültigen Zwiſchen⸗Muſik nad einem fpannen- 
den oder enticheidenden Actſchluſſe. | 

Acta Ernditorum ift der Name der erften fritifchen Gelehrten- Zeitfchrift in 
Deutfchland. Diefe Zeitfchrift beftand etwa hundert Jahre, von 1680—1782. Sie ift 
dem Journal des Savants, das 1665 gegründet worden ift, und dem Giornale de’ 
Letterati von 1668 nachgebildet. Für das Erwachen und die Entwidelung des kriti⸗ 
fohen Verſtandes bei der deutfchen Nation ift dieſe Zeitfchrift äußerft wichtig. Sie hat 
ımflreitig den deutfchen Berftand in den hundert Jahren von 1680 — 1776 zut Kritik 
erzogen, ſo daß die großen fritifchen Talente (wie Kant) und die Philofophen (mie Fichte, 
Hegel und Schelling) ein vorbereitetes Terrain fanden. Für die deutſche Euliur- 
geichichte der Iegten zwei Jahrhunderte und die jegt überwiegende Kritik find die Acla 
Eruditorum die Wiege gewefen. Die bedeutendſten Gelehrten und Denker der Deut 
ſchen waren Mitarbeiter, wie Leibnig. Der Herausgeber der Acta Eruditorum war 
Otto Menke in Leipzig, von. Diefem erbte fein Sohn Johann M. die Nebaction. Der 
Enkel des Begründerd war von 1732 an der Herausgeber bis zu Ende. Jetzt haben 
Die Acla Eruditorum nur noch hiſtoriſches Intereffe für den Gelehrten, da fie nun durch 
die ‚völlige Umgeftaltung, Theilung und Ausbildung der Wiflenfchaften überflügelt find. 

Acta Sanctorum. Der Name Acta in diefer Verbindung bedarf einer Erklärung. 
Die Römer veritanden unter Acta (diuma) Zeitungen, oder Acta (3.3. Apostolorum, Pilali 
Bericht des Pilatus) Tagebücher und Neifeberichte. In diefem legteren Sinne „Berichte* 
wird bier Acta gewöhnlich erklärt. Wir müflen aber bemerfen, daß dies keineswegs 
erſchöpfend iſt. Unter Acta verftand man, wie noch jet, auch das officielle Protocol, 
befonvers eines Griminalverbredherd. Solche Brotocolle aus dem VBerhör und Proceß 
Kingerichteter Märtyrer haben die Chriften vom 1. bis 4. Jahrhundert fich zu verfchaffen 
gewußt und abgefchrieben. Sie bildeten bald eine Sammlung, aus welcher man am 
Todestage eines Maͤrtyrers feine betreffenden Unterfuchungsacten, Urtheil uud Vollzug 
deffelben im Auszuge vorlad. Manche Lebensbefchreibungen von Maͤrtyrern find nod 
in Frag' und Antwort, wie bei einem Unterfuchungsverhör, und aus den Legenden ber 
Heiligen erhalten worden. Dad beweift bad hohe Alter mancher beiligen Legenden, 
wenn fle auch oft und vielfach überarbeitet wurden. 

Die Lebensbefchreibungen der Heiligen, gewöhnlid, als vitae SS. bezeichnet, ind 
in ihrer älteften Abfaffung felten erhalten. Als Faͤlſchungen kann man ſie aber des⸗ 
halb nicht betrachten, fondern ſie find meiftens Weberarbeitungen. Freilich ift ihre Ab⸗ 
faffung der Zeit nach oft fehr entfernt von den Heiligen, deren Leben fle beſprechen. 
So find zum Beifpiel die Lebensbefchreibungen der irischen Miffionare und Mönde in 
Deutfchland vom 6. bis 9. Jahrh. faft durchgehends erft im 12. bis 13. Jahrh. verfaßt, 
was bei der Kritik über ihre hiftorifche Glaubwürdigkeit nicht unbeachtet bleibt. 

Bon diefer Entftehung des Namens Acta Martyrum ift aber die Bezeichnung 
des großen Sammelwerkes aller Lebenögefchichten der Heiligen zu unterjcheiven. Das 
große Sammelmerf der Acta Sancltorum ift eines der bebeutendften Unternehmungen 
der katholiſchen Gelehrfamkeit neben der Ausgabe der Kirchenväter durch die Benedic⸗ 
tiner, ven Annales Sti Benedicti und dem großen Gefchichtöwerkfe des Baronius. Wir 
dieſe lezt genannten Werke der gelehrten Benedictiner von St. Maur (fiehe dieſen Ar⸗ 
titel) und der Italiener waren die Acta Sanctorum ein Internehmen der Jeſuiten, ein 
geiftiger, wiflenfchaftlicher Feldzug. gegen ben Proteftantismus. Damit haben wir kurz 











Aeta Sanetorum. . 281 


die Stellung diefer ganzen gelehrten, katholiſchen, hiftoriichen Literatur zur Gegenwart 
bezeichnet, und jo muß man jebt, da diefe Literatur nur noch hiſtoriſches, kein prakti⸗ 
ches Intereſſe mehr hat, viefelbe auffafien. Es war Die Abſicht bei der Publication 
dieſer Quellenwerke, theils confervativ dem Katholicismus eine wiſſenſchaftliche Baſis 
zu geben, theils aggreſſto die Kritik des Proteſtantismus anzugreifen. Nach die⸗ 
ſem Gefichtspunkte wird man die Wichtigkeit der Acta Sanctorum und ihrer Geſchichte 
würdigen. Die Fortfeßung der Acta Sanctorum jeit 1838 bis zur Gegenwart durch 
belgifche SIefuiten bat den Erwartungen der Gelehrten nicht entjprodyen. Man erkennt 
daraus, daß jet die Jefuiten keine Gelehrten mehr haben, wie im 17. und 18. Jahre 
hundert. Da die Acta Sanctorum alfo eine noch unvollendete Quellenſchrift für bie 
Kirchengefchichte find, fo bedient fich der Gelehrte Daneben noch immer einer älteren Samm- 


fung von Heiligen= Leben von Surius. Wir geben nun zur Gefchichte diefed großen 


fatholifhen Sammelwerked über. 

Der Iefuit Heribert Rosweid zu Antwerpen entwarf den Plan zu einem 
auf 18 Bände berechneten Legendenwerke, dad den Titel Acta Sanctorum führen follte. 
Er ftarb jedoch im 3. 1629, ohne die Ausführung begonnen zu haben; aber jeine bins 
terlafjenen Sammlungen übernahm mit den Auftrage des Ordens, das projectirte Unter⸗ 
nehmen in möglichft vervolfftänvigter Weife weiter zu führen, der damals A3yährige 
Jeſuit Johann Bolland (1596 — 1665), der zu dieſem Behufe von Mecheln nad 
Antwerpen überfiebelte. 8. brachte aud Bibliotheken und Archiven, durch eifrige Nach⸗ 
fosfhungen und feines Ordens Einfluß eine folche Menge von Handſchriften, Märtyre 
Acten und Lebendbefchreibungen von Heiligen zufammen, daß eine nochmalige Erwei⸗ 
terung des Planes eintreten mußte. Die Abjicht von Rosweid und Bolland war 
anfänglich, Durch die Sammlung der Lebensgeſchichte der Heiligen eine. Beifpielfamm- 
lung für die Seelforger und die Erbauungsliteratur zu geben. Bon 1630 an ward 
daraus eine biftorifche Quellenſammlung. Bolland erhielt im I. 1635 an feinem 
Ordensbruder Georg Henſchen (1600-81) einen fehr geeigneten Gehülfen, und ſo 
fonnten bereitd im I. 1643 von dieſen Riefenlegenden zwei ftarke Foliobände erfcheinen, 
die Gefchichte jener Heiligen umfaflend, deren Gedaͤchtniß die römifche Kirche im Monat 
Januar feiert. Im 3. 1658 erfchienen drei weitere Foliobaͤnde, die Heiligen des Mo⸗ 
nats Februar behandelnd. Zwei Jahre nachher kam ein neuer Mitarbeiter, der Iefuit 
Daniel Papebroek (1628—1714) hinzu, und auf den Wunfch des Tapftes Aler- 
ander VII. unternahmen Henfchen und Papebroef eine Reiſe durch Deutjchland, Italien 
und Frankreich, in welchen Ländern ſie zahlreiche Quellen fanden. Diefe Reife hat 
ihren Zwed nicht völlig erreicht; Die Benedictiner enthielten ihnen viele Duelfen vor. 
Papebroek war nämlich mit den Benedictinern von St. Maur (Mabillon) in einen hef⸗ 
tigen Streit (der Krieg der Diplomatif) gerathen. Der bald darauf erfolgte Tod des 
Bolland hHinderte eben fo wenig das Fortichreiten der Acta Sanctorum, als das 
Ableben von Henſchen und Papebroek; denn dad Werf war zu einem Unterneh» 
men ded Ordens geworden, und für jeden abgehenden Mitarbeiter trat ein neuer ein, 
der unter der Anleitung der älteren Eollegen im gleichen Geifte und nach dem gleichen 
Plane fortarbeitete. Alle dieſe Mitarbeiter und Herausgeber der- Acta heißen die Bol» 
(andiften, ihr Werk, von dem auch zu Venedig ein nicht ganz correcter Nachbrud 
esichten, da8 Bollandiftenwerf. Selbft nach Aufhebung des Iefuitenorden® wurbe 
durch Unterftügung der Kaiferin Maria Thereſta das Unternehmen fortgefegt, bis im 
3. 1794 das Einrücken der Franzoſen in die Niederlande demjelben ein Ende machte: 
&8 war auf 53 Folianten angewachſen, von denen ber Iehte, zu Tangerloo 1794 ers 
ichienen und die Heiligen des 12. bis 15. Jahrh. inch. enthaltend, fehr felten gewor- 
den iſt. Nebft den eigentlichen Biographieen enthält das Werk alles dasjenige, was an 
alten Nachrichten über jeden Heiligen: aufgefunden werben konnte, fo wie eine Fülle von 
gelehrten Abhandlungen und Anmerkungen, wie denn überhaupt dieſe Acta nicht im 
Tone einer Legende, fondern eines gelehrten Quellenwerkes gehalten find, fo daß fie, 
insbeſondere aber durch die vielen mitgetheilten alten Urkunden und Schriften, eine ber 
wichtigften Quellen fir die Kirchengefchichte bilden. Sehr intereffant find die Angriffe 
gegen Einzelnes darm von Seiten der Benebictiner 3.8. Neugarte, waͤhrend die Pro⸗ 
teſtanten das Werk als gründlich anerkannten. 





288 Ade. Aetenmãßigleit. 


Durch die Revolutionskriege wurden die für die Fortſetzung angelegten Samm⸗ 
Jungen zerſtreut; Vieles iſt gänzlich verloren gegangen, Manches aber befindet ſich in 
der Fönigl. Bibliothek im Haag, fo wie in der fogenannten Burgundifchen Bibliothek 
zu Brüffel (worüber bei Berg' Monumenta nähere Nachweife zu finden). Napoleon 
wünfchte die Kortfegung des großen Werkes, allein da dieſelbe nicht einem Orden und 
zumal nicht den Iefuiten übertragen werben follte, ergaben fich unbeflegliche Schwierig- 
feiten. Endlich im 3. 1837 übertrug die belgifche Negierung wieder den Jefuiten bie 
Lortfehung, und die Baterd Joſ. Bapt.Boone, 30h. Bandermooren, Pro% 
per Goppend und. Joſ. van Heike wurden zu Mebactoren gewählt. Unter ihrer 
Zeitung ift ed auch gelungen, das Unternehmen wieder in Gang zu fegen, nachdem ein 
im 3. 1838 erfchienenes Programm: De prosecutione operis Bollandiani (Ramur), 
ſich über Die Art und Weile der Fortſetzung auögefprochen hatte. Seitdem bat die 
jelbe mit 2 Bänden begonnen, und der Vollendung ftehen Feine ernſtlichen Hinderniſſe 
mehr im Wege. 

Aete bezeichnet in der deutſchen Sprache eine ſchriftliche, geſchloſſene Aufzeichnung 
wichtiger, meiſt ſtaats- und völkerrechtlicher Verhandlungen. So führen die beiden 
erſten Grundgeſetze des deutſchen Bundes den Namen einer „Acte“. (Bundesacte vom 
8. Juni 1815, und Wiener Schlußacte vom 15. Juni 1820.) — Auch die fran- 
zöfifche Sprache Eennt dad Wort acle im Sinne einer Urkunde. Sie unterfcheibet 
zwifchen..netes sous seing prive, d. h. Urkunden, die zum vollen Beweiſe noch erſt ber 
Anerkennung der betr. Parteien bebürfen; und acles autenliques, die ſchon an fich als 
recht und vollbeweifend gelten. 

Acten werben bie über eine Angelegenheit der Verwaltung oder der Rechtspflege 
gefammelten jchriftlichen Verhandlungen genannt. Bei alten öffentlichen Behoͤrden 
werden heut zu Tage außer den General» Acten, welche ihre eigene Berfaflung, den 
Eintritt und das Ausſcheiden ihrer Mitglieder, den Gefchäftdgang u. f. mw. betreffen, 
auch befondere Acten über jede einzelne vorkommende Sache gehalten und aufbewahrt. 
In Nom war ‘ed ſchon zur Zeit der freien Mepublif Sitte geworden, daß bie Ber 
hörden über das Wichtigfte aus ihrer Amtsführung fchriftliche Notizen (actorum com- 
mentaria) aufzeichneten und dieſe Einrichtung wurde dann fpäter benußt, wichtige 
Nechtögefchäfte vor dem Magiftrate abzufchließen und in deffen Acta eintragen zu laflen, 
3. B. Teftamente, größere Schenfungen u. dgl. Bollftändige Actenfammlungen find 
aber erft in neuexer Zeit, ſeit alle öffentlichen, namentlich auch die gerichtlichen Ber 
handlungen regelmäßig jchriftlich geführt werben, in Gebrauch gekommen. Die ein 
zelnen Beftandtheile derfelben find 1) Die fchriftlihen Eingaben der Intereffenten, melde 
außer dem Terte (nigrum) eine den Namen der Behörden ausdrückende und ven Inhalt 
der Schrift und die betreffende Angelegenheit kurz bezeichnende Auffchrift (rubrum, 
weil der befjeren Linterfcheivung wegen ehemals rothe Schriftziuge dazu vermendel 
wurden) enthalten müflen; 2) die Verfügungen der Behörden; 3) die officiellen Auf 
zeichnungen der vor berfelben flattgehabten Vorgänge (gesta) in der Form von Pro 
tocollen oder £urzen Vermerken (Megiftraturen). Alle dieſe Actenſtücke werben in 
hrenologifcher Ordnung zu einem oder mehreren Bänden (Fascikel, Volumina) ver 
einigt, indem man biefelben entweber zufanmenbeftet und ben ganzen Band mit durch⸗ 
gehenden Blatt= oder Seitenzahlen verfieht (folliven, paginiren), oder indem man fie 
ber bequemeren Gandhabung wegen nur in einen Umjchlag (pallium) zufammenlegt 
und jedes einzelne Stud mit einer Otdnungsnummer bezeichnet. Jedem Bande wird 
ein Inhaltöverzeichniß (protocollerum, designatio actorum) beigegeben und auf ben 
einzelnen Stüden von dem recipirenden Unterbeamten (Actuarius, Negiftrator) det 
Tag ober wenn ed, wie 3. B. bei Notbfriften, auf größere Genauigkeit anfommt, fogar 
die Stunde ded Eingangs angemerft. 

Actenmaͤßigkeit fordert das Prozeßrecht beim ſchriftlichen Verfahren für alle 
Thatſachen, die bei der Urtheilsfalflung in Erwägung konmmen -follen. Der Richter ent⸗ 
fcheidet Iediglich auf Grund der Acten; was biefelben nicht enthalten ift für ihm nicht 


“ ba. (Quod non est in actis non, est in mundo.) Es mußten daher auch über bie 


mündlich vor Bericht gepflogenen Partei⸗Verhandlungen, über Augenfcheinseinnahmen, 
Zeugenverhöre u. f. w. vollftändige Protokolle gehalten werden. Nach Beendigung 








Aetenverſendung. | 0.289 


der Verhandlungen werden die Acten für geichloffen erklärt und ehe fle dem erfennenden 
Richter zugeben, den Parteien zur Anerkennung der VBollftändigkeit vorgelegt. (Rotulation.) 
In vielen neuen Prozeß - Ordnungen ſind indeflen die NRotulationdtermine als eine bei 
einem geordneten Regiſtraturweſen überflüffige Förmlichkeit abgefchafft. Für den Fall 
eines zufälligen Unterganges der Gerichtö-Actem oder einzelner Stüde dienen die Manuals 
Acten der Parteien zu deren Wieberherftellung (Mebintegration). Die Sachwaͤlte find 
verpflichtet, aus den Goncepten ihrer Eingaben den ihnen zugehenden fchriftlichen Er⸗ 
laffen des Gerichts und den Abfchriften ber Protokolle und Regiſtraturen vollftändige 
und geordnete Manual⸗Acten zu halten und diefelben nach Beendigung der Sache oder 
nach dem früher erfolgenden Aufrufe.der Vollmacht ihrem Mandanten auszuliefern. 
Actenveriendung. Darunter verfteht man die Verfendung fpruchreifer Proceß⸗ 
Acten durch das Gericht, bei dem der Proceß anhängig ift, an ein f. g. Spruch⸗Col⸗ 
legium, damit dieſes flatt des verfendenden Gerichte in deſſen Namen Das Urtheil 
fälle. Schon im älteften beutfchen Gerichtöwefen finden fich Andeutungen dafür, daß 
der ordentliche Nichter anderen angefehbenen Rechtöfundigen die Entſcheidung überließ. 
(Grimm, Rechtöalterthümer, p. 783). Im fpäteren Mittelalter wurde es Sitte, daß 
Die Gerichte derjenigen Städte, welche mit dem Rechte einer anderen Stadt bemibnet 
waren (einzelne Stadtrechte, 3. B. das von Kübel, Breit, Köln, Frankfurt, Magde⸗ 
burg, hatten durch folche Bewidmungen eine große Verbreitung erhalten), fich in zwei⸗ 
felhaften Faͤllen bei dem Schöffenftuhle der Mutterftabt, der daher ihr Oberhof ge- 
naunt wurde, Raths erholten. Nachdem dad römifche und canonifche Recht von den 
Univerfitäten auß in das deutſche Nechtöleben Eingang gefunden hatten, entſtand zu- 
naͤchſt für Die noch mit ungelehrten‘ Urtheilern befeßten Gerichte aller Art fehr oft das 
Bedürfniß nad Mechtöbelehrung, und Kaifer Karl V. verweiſt fle in feiner peinlichen 
Hals gerichts⸗Ordnung (1532) an vielen Stellen ausvrüdlich auf den einzuholenden 
und zu befolgenden Rath der Rechtsverſtändigen; aber auch bei den gelehrten Richters 
Collegien wurden Xctenverfendungen im ausgedehnteſten Maaße üblich und kommen noch 
jebt, wenn auch jeltener und nicht mehr in allen deutfchen Staaten vor. Hatte man 
ich Anfangs hie und da an einzelne berühmte Juriften gewendet, fo wurde ed doch 
bald burchgreifenne Megel, die „auswärtigen” Urtheile von den Juriften- Facultäten, 
die an allen Univerfitäten förmlih zu Spruch» Gollegien beftellt wurden, oder von 
einem der wenigen noch übrig gebliebenen Schöffenftühle, weldhe'nunmehr auch 
mit gelehrten Juriften bejegt waren, einzuholen. Gegen die Zwedmäßigkeit Diefer Ein⸗ 
richtung find in neuerer Zeit mancherlei Einwendungen erhoben, welche ſchon im vori⸗ 
gen Jahrhunderte die größten deutſchen Staaten zu einer Aufhebung des ganzen In- 
flitutd, und im Jahre 1835 den deutfchen Bund zu einem in Folge der Ereignifle des 
Jahres 1848 mit den übrigen Audnahmsgefegen wieder zurüdgenommenen Bun⸗ 
des » Befchluffe gegen die Verſendungen von Griminal- und Polizeis Acten veranlapt 
baden. Ban bat, abgefehen von der Vergrößerung des Aufwandes an Zeit 
und Koften es beſonders bedenklich gefunden, daß der Staat in einzelnen 
Fällen das ihm obliegende Nichter-Amt ganz aus der Hand gebe und Fremden 
anvertraue, denen bei aller Gelehrſamkeit und Rechtskenntniß doch oft Die genauere 
Bekanntichaft mit den Landesgeſetzen und befonders mit dem ungejchriebenen Landrechte 
fehle. Von der andern Seite Laßt fich nicht verfennen, daß die Actenverfendungen viel 
dazu beigetragen Haben, die Theorie mit dem Mechtöleben und die Prarid mit der 
Wiffenjchaft in fleter Verbindung zu erhalten und die Gleichheit der Nechtdentwidlung 
in den einzelnen deutſchen Landen zu fördern. Da wo das Inftitut noch befteht, wer⸗ 
den die Acten zum Spruche verjandt entweder 1) von Amts wegen, weil dad Gericht 
felbft aus irgend einem Grunde an der Urtheildfällung gehindert ift, z. B. wenn Die 
Mitglieder deſſelben fich nicht einigen können und eine Majorität nicht zu erreichen if; 
2) auf einfeitigen Antrag einer Partei, welche dann natürlich auch im Falle des Ob- 
ſiegens die Verſchickungskoſten tragen muß. Bei den in Gemäfheit des zwölften Arti⸗ 
feld der deutfchen Bundesacte errichteten gemeinfchaftlichen oberften Gerichten ift das 
Hecht jeder Partei, auf Actenverfendung anzutragen, audbrüdlich von Bundeöwegen gar 
rantirt. 3) Nach der Berfaffung einzelner Länder dient die Actenverfendung auch jetzt 
noch dazu, für nicht appellable Sachen eine befonvere Inſtanz zu fchaffen. Dabei wird 
Wagener, Staate u. Geſellſch.⸗Lex. I. 19 


230 Actie. 


alſo vorausgeſetzt, daß das Gericht, bei welchem der Proceß anhaͤngig iſt, bereits ein 
Urtheil abgegeben bat, gegen welches vie Appellation, d. b. Die Berufung an ein höhe 
res Gericht nicht flattfindet, aber gleichwohl der fich befchwert füblenden Partei noch 
ein (nicht devolutives) Mechtömittel (Meviflon, Neftitution, Zäuterung) gewährt werden 
jol. Die Sache bleibt bei dem bisherigen Gerichte, welches, da es felbft fchon ein- 
nal geurtheilt hat, das weitere Erfenntniß von auswärts einholt. Durch neuere Ge⸗ 
fee find Die Berichte ofrangemiefen, in fochen Fallen fich nicht mehr an auswärtige Spruch⸗ 
eollegien, fondern an andere ihnen coorbinirte Zandeögerichte zu wenden, namentlich in 
Griminalfachen. Bei allen Actenverfendungen ift es Regel geworben, daß jeder Partei 
das Mecht zuftebe, zwei oder drei Spruchcollegien ohne Angabe von Gründen auszu⸗ 
nehmen, unter den übrigen wählt der Richter und Hält die getroffene Wahl bis zur 
Rückkunft der Acten fireng gebeim. 

Actie (Wetten » Gefellfehaft, Actien» Handel, Actien= Schwindel). Die Papiere, 
welche unter dem Namen „Actien“ in den Handel kommen, find Schuld - Urfunden 
über den Antheil, der Iemandem an dem Gefammts Vermögen einer größeren, burd 
Affociation zu Stande gebrachten Inbuftrie= Uinternehmung, fo wie an Gewinn und 
Verluſt aus derfelben zufommt, Befcheinigungen über ben Credit, den der Actionär 
dem Unternehmen und feiner Grtragsfähigfeit giebt (cf. Stein, Volkswirthſchaftslehre 
&. 275), „der ſinnlich formulirte Anſpruch auf eine beftimmte Quote des allgemeinen 
Werthbeſtandes und periopifchen Reinertrages eined Unternehmens, dem ald Schuldner 
das Bereind.« Individuum gegenüberfteht (Runge, Lehre von ben Inhaber » Papieren 
II. Bd. 1. Abſchn. $ 114 ©. 513), die Quote eines mehrere Intereflenten vereinigen 
den Grofunternehmens ald Anſpruch und nur als Anſpruch gedacht und fombolifkt in 
einer Seriptur” (ibid. ©. 502). Sie repräfentiren nominell eine von den Theil-Ein 
beiten, in welche die zu dem betreffenden Unternehmen aufzubringende Capital-Summe 
getbeilt worden if. „ActieneBerein*® ift eine Verbindung von Commanditiſten 
unter der Firma einer Vereins⸗Perſon als Complementaͤrs und nominellen Unterneh⸗ 
mers (ihid. S. 511). 

Weil die „Actie“ im eigentlichen Sinne — im Gegenſatz zu der ſogenannten 
„Prioritaͤts⸗-Actie“ — nur Antheil an dem Ertrage enthält, geht die Verpflichtung 
durch Diefelbe am fich nicht weiter, ald der Nominals Betrag der Actie, auch haben die 
fänmtlichen Actionäre nach voll eingezahlter Actie nur Anfprüche, Feine Laften. Das 
Aufbringen gemeinfchaftlicher Fonds durch Emifflon derartiger Papiere bat jedenfalle 
das Gute, daß auf dieſem Wege bedeutende Capitalkräfte, Deren Bereinigung ſonſt fehr 
fehwierig oder gar unmöglich wäre, auf Berfolgung eines gemeinfamen induſtriellen 
Zieles bingelenkt werden fünnen. Sie ift deshalb eben Die Form, in welcher fich das 
Heine Capital mit demfelben Anrecht auf Ertrag, wie das große an Den größten Unter⸗ 
nehmungen betbeiligen Fann, und bietet Damit die Möglichkeit dar, die Herrſchaft dei 
großen Capitals über das Fleinere zu brechen, eine Möglichkeit, deren fchließliches Ge 
lingen indeß noch von vielerlei anderen Potenzen und Vorausſetzungen abhängt, wit 
fie nicht für jede Actien«Gefellfchaft vorhanden find. Ein weiterer Vortheil des Aetien- 
Weſens befteht darin, daß der verhältnigmäßig Kleine Bapitals Betrag, den eine Actie 
darftellt, von dem Beſitzer mit einer großen Leichtigkeit auf Andere übertragen werben 
fann, nämlich einfach durch Verkauf der Actie, währen es fehr ſchwierig und um: 
fländlih if, den Capital-Antheil an einem induftriellen oder Handels⸗Unternehmen, dad 
nicht auf dem etien = Princip beruht, gegen baares Geld oder Geldeswerth zu 
veräußern. So macht die Form der Actie das angelegte Capital jeden Augenblid 
fündbar und Doch der Gefellichaft gegenüber un künd bar. Die Unternehmer, wechfeln, 
während die Unternehmung feldft fortbefteht. Dieſe Eigenfchaft der leichten Uebertrag⸗ 
barkeit der Actien wird in neuefter Zeit noch dadurch erhöht, daß man immer 
davon abfommt, dieſe Papiere auf beftimmte Namen lautend auszugeben, fondern ſie 
lediglich au porteur (auf den Inhaber) ftellt, damit das Eigenthumsrecht an benfelben 
ohne weitere Kormalität, als Die der Uebergabe aus der Hand des Verkäufers in die 
des Käufers erworben werben fünne. Auf beſtimmte Namen lautende Actien verhandelt 
man überbied im gewöhnlichen Verkehr auf eine Weife, welche eine Umfchreibung der: 
felben in den Büchern der Geſellſchaft entbebrlih macht; indem nämlich verjenige, auf 








Aetie. ro) | 
deſſen Namen die Actie Tautet, fle durch Giro (Aufzeichnung feines Namens auf der 
Rückſeile des Actien-Documentes) weiter geben kann. Derartig girirte Stücke courſiren 
dann öfter durch viele Hände, ehe e3 Einen der Erlanger zweckmäßig dünkt, das Papier 
auf feinen Namen umfchreiben zu laffen. Erwaͤhnt muß bierbei werden, daß die Actiens 
Geſellſchaft felbft für die Wechtheit ver Giros auf ihren Actien-Documenten nicht bürgt 
und nicht bürgen Tann; girirt wird ohne Dazwifchenkunft der Geſellſchaft, die ſchlechter⸗ 
dings nicht zu wiffen im Stande ift, ob die Namenszeichnung des Giro eime Achte iſt. 
In den Statuten vieler Actien-Gefellfenaften ift ein Paragraph vorhanden, welcher jede 
derartige Bürgihaft ausdrücklich ablehnt. 

Die leichte Uebertragbarkeit der Actie kommt indeffen mehr dem Yetien = Beflker, 
als dem Gedeihen des Actien= Unternehmens zu flatten. Sie ift ein Vortheil für den 
Actien « Befiger, wenn fich ihm eine Gelegenheit Bietet, fein in Das gemeinfchaftliche 
Unternehmen geſtecktes Capital beffer und erfolgreicher zu verwenden, ald ed chen durch 
die Geſellſchaft gefchieht, an der er betheiligt if. Im Diefem Falle ift es ihm ein 
Leichtes, durch Verkauf feiner Actien raſch verfügbare Fonds zu erlangen, Die er dann 
jener befieren Verwendung zuführen kann. Der Uebelftand hingegen, welcher das häufige 
Wiederkehren eines derartigen Wechſels in Verwendung der Gapitale mit fich bringt, 
fönnte ungefähr damit audgebrüdt werden, daß man fagt: Capitale mietben fi 
Bloß in ein Actien-Uinternehmen ein, fie kaufen es nicht, ſie identificiren ſich nicht mit 
demſelben. Damit iſt aber eine Schattenſeite des Actienweſens gegeben: die geringe 
Sorgfalt der Actionaͤre für das Gedeihen ihrer Unternehmung und die Verſuchung, 
den Börfenfhwindel an die Stelle des reellen Betriebes treten zu laſſen. Behagt ihnen 
die Leitung derfelben nicht, fo warten fle eine günftige Börfen-Conjunctur ab, um fidh 
ihrer Actien zu entledigen; ſie denken nicht daran, den Betrieb zu verbeffern und die 
Früchte aus dem Unternehmen zu ziehen, die es bei anders eingerichteter Wirtbfchaft 
tragen koͤnnte. In der Mehrzahl der Fälle wäre das auch vergeblihe Mühe, denn 
diefenigen, welche von der Maforität der Actionaͤre mit Beaufſichtigung und Führting 
des Gefchäftes betraut, alfo zum eigentlichen Betrieb des Unternehmens bevollmächtigt 
worden, ſie mögen Direction, Apminiftration, Verwaltungsrath oder Banf- Ausfchuf 
u. ſ. w. heißen, tbun in der Regel alles Mögliche, un ſich der Eontrole der Xctionäre, 
idrer Bollmachtögeber, zu entziehen. Hiermit ift ein weiterer, beſonders in unferen 
Tagen zum Gewohnheitörecht gewordener Uebelftand verbunden: die Ausbeutung des 
Actionärd oder mindeſtens die Vernachlaͤſſigung feiner Intereffen von Seite derjenigen, 
die zur Wahrung derſelben beftellt find. Man fage nicht, es feien General⸗Verſamm⸗ 
lungen fämmtlicher, durch Beſitz einer gewiſſen Anzahl Actien fimmberechtigter Actionäre 
an der Tagesordnung, um dergleichen Ausbeutungen vorzubeugen oder die Schuldigen 
Durch Entziehung des einmal gewährten Vertrauens und Ehrenamtes zu beflrafen. Die 
General⸗Verſammlungen find meift zu einer bloßen Formalität, wenn nicht zu Aergerem 
herabgeſunken; Uſus bei denfelben ift, daß fie zu Allem confentiren, was ihnen von 
der Direetion des Unternehmens  vorgefchlagen wird, daß fle jeder ernfteren Debatte 
ängfllih aud dem Wege geben und über die wichtigften Vorfchläge mit einer Haft und 
Eile abflimmen, als wäre jeder Zweifel an die Unfehlbarfeit der Antragftellee — ge⸗ 
mwöhnlich der Diretion — ein Berbredyen. So ift es 3. B. bei der jüngften General⸗ 
PBerfammlung der Wiener Eredit= Anftalt (1858) vorgefommen, daß die Abftimmung 
durch Auffteben und Sikenbleiben erfolgte, wo doch Jeder der Anwefenden zu einer 
verfchiedenen Anzahl von Stimmen berechtigt und der angenommene Abſtimmungs⸗ 
Modus fomit eben fo abfurd als ungerechtfertigt war. Dergleichen Borfommniffe find 
aber, obgleich fie noch Tange nicht zu ben ſchlimmſten zählen, bereits zur Regel ge 
worden und nur aus ihnen iſt es zu erklaͤren, wie bisweilen die blühendſten Aetien⸗ 
Unternehmungen raſch in Verfall gerathen, die befausgeftatieten Betriebsmittel derſelben 
verwahrloſt und vor der Zeit unbrauchbar gemacht werben, wie der gute Huf und 
finanzielle Beſtand reich dotirter Netiens Gefellfchaften über Nacht dahinſchwinden — 
dahinſchwinden, um in ihren Ruin das Glück, die Exiſtenz ganzer Familien und Arbeits⸗ 
klaſſen mit fich zu reißen. 

Eine Frage, welche fich hier von felbft aufbrängt, wäre die, ob man denn der 
Läffigkeit der Actionäre in Wahrung ihrer Intereffen, jo wie dem Schlendrian in ber 

19 * 





292 Actie. 


Verwaltung von Actien⸗-Geſellſchaften nicht durch geſetzliche Maaßregeln zuvorkommen 
könne. Man hat in dieſer Beziehung darauf hingewieſen, daß die oben angedeuteten 
Uebel ihren Grund zum Theil in der befchränften Haftbarkeit der Actfen-Befiger haben, 
in dem Prineip nämlih, nach dem jeder Actionär für die Verluſte und Berbindlid- 
feiten der Gefammtslinternehmung nur bis zum Betrage feiner Artie haftbar if. Dies 
Princip ift namentlid in England durch lange Zeit heftig debattirt worden, indem dort 
bis zum Jahre 1855 das entgegengefeßte, der unumfchränkten Haftbarkeit aller Actionäre 
mit ihrem Gefammt-Bermögen für die Schulden und Verlufte der Actien= Gefellichaft, 
in Geltung war. Es bat fich Letzteres jedoch jo wenig bewährt, daß die Limited 
Stability Bill vom 14. Auguft 1855 und die Joint-Stock-Lompanies-cte vom 14. Juli 
1856 es fallen liegen. Seit Erlaß dieſer zwei Parlaments-Beichlüffe fteht einer Bil 
dung von Actien = Gefellfefaften mit beichränfter Haftbarfeit der Theilnehmer auch in 
England nichts im Wege, eine Befugniß, welche durch die Acte vom 2. Auguft 1858 
auch auf Banks Linternehmungen jedoch mit der Beichränfung ausgedehnt worden if, 
daß die Actionäre den Noten= Inhabern gegenüber nach wie vor zum vollen Beirage 
der Emifflon verpflichtet blieben. Seine nächflliegende Begründung findet dies Geſetz 
in dem fchamlofen Verfahren, welches gewiffe unumfchränkt baftbare Bank- Directoren 
(3. ®. der Western Bank of Scotland) in der letzten Kriſis zeigten, ein Verfah⸗ 
ven, welches jelbft in den Annalen der Bank» Gefchichte einzig daſteht. (Um Irr⸗ 
thümer zu vermeiden, müflen wir bier. des Umftands erwähnen, daß fünf Banken bes 
Infelreiches dad Privilegium genießen, von dem allgemein gültigen Princip des unbe 
ſchraͤnkten Haftbarkeit der Banf- Artionäre erimirt zu fein, e8 find Dies: die Bank of 
Seotland, die Royal Bank uf Scotland. die jegt ausſchließlich Bank-Gefchäfte treibende 
British Liuen Gompany, fämmtlich in Schottland, ferner die Bank of Irland in, Dublin 
und die große Bank von England.) Ä 
Auf dem ontinent kennt man in Bezug auf diefen Punkt zweierlei Formen 
von Actien= Gefellihaften, Die eine, wo die Theilnchmer indgefammt für die Verluſte 
und die Schulden ded Unternehmens nur bi8 zum Betrag ihrer Actien verpflichtet: jind, 
Die andere, bei welcher die Leiter oder Geichäftsführer der Unternehmung mit ihrem 
Gefanmt-Bermögen und ihrer Perfon für die Verbindlichkeiten der Gefellfchaft haften, 
während die übrigen Theilnehmer nur bis zum Betrage ihres Antheild verpflichtet find. 
Die erſtere Form begreift die societG anonyme des franzöflfchen Rechtes in ſich, bie 
legtere die fogenannten Commandite-Gefellfchaften. In Deutfchland pflegt man die Be 
zeichnung Actien und Wctien= Gefellfchaft nur auf jene Form ber sociele anonyıne 
anzuwenden, jo daß die Anſicht gäng und gebe ift, es fchließe das Weſen der Xctien- 
Geſellſchaft jedwede über den Betrag der einzelnen Antheile hinausgehende Haftbarkeit 
der Xctionäre nothmendig aus. Die Errichtung von Geſellſchaften, melche auf biefem 
Prineipe fußen, hängt bei und fowohl ald in Frankreich von ftaatlicher Genehmigung ab. 
Die Actien- Gefellfchaft felbft beruht auf einem Vertrag, der gewöhnlid 
zwifchen ben Gründern derfelben ausdrücklich gefchloffen wird, während die übrigen 
Uctionäre ihm ſtillſchweigend beitreten. Die Erlangung einer Actie und der Medi, 
die mit ihr verbunden find, fchließt namlich die Unterorbnung unter die Beftimmungen 
des Geſellſchafts⸗Vertrages, wie fle in den Statuten enthalten find, in fi. Inter 
fheiden muß man von den Statuten die Concefjlons » Urkunde der Gefellfchaft, durch 
welche der Staat ihr rechtlichen Befland gewährt, in der ferner die Pflichten und 
Nechte der Gefellichaft als folcher aufgezählt find, die Stellung berjelben zur. Staats⸗ 
gewalt, zu den Gemeinden präcifirt ift und Die ihr verlichenen Privilegien ſich ver 
zeichnet finden. Iſt die Conftituirung der Gefellfchaft auf dieſe Art erfolgt, fo wird 
zur Ausgabe der Actien gefchritten. Diejenigen Actien, durch welche das zur Anlage 
oder Begründung des beabfichtigten Unternehmens erforberlihe Capital (Anlage 
- Capital) aufgebracht worden if, werden Stamm⸗Actien genannt. Da jedoch 
die GEintreibung des gejammten Fonds der Unternehmung nicht gleich von Anfang 
nötbig iſt, wird von den Abnehmern der Actien zuerft nur eine Theilzablung von 10 
bi8 30 Procent auf den vollen Betrag einer Actie verlangt, ihnen über dieſelbe eine 
Quittung in Form der fogenannten „Interim Scheine” ausgeftellt, Die bei den wet 
ter laufenden Einzahlungen gegen neue eingetaufcht oder auch einfach abgeftempelt 











Aetie. 293 


und fchließlich, wenn die volle Einzahlung erfolgt ift, in eigentliche Actien umgewan⸗ 
delt werden. In der neueften Zeit hat man verjucht, gleich nach der eriten Theilzah- 
lung definitiv Actien-Documente auözugeben (öfter. Weſtbahn, neue öfter. National« 
Bank» Xctien),.wo dann bie ferneren Einzahlungen von den Kafla- Beamten der Un⸗ 
ternehmung auf den Actien felbft, wie in den Büchern der Geſellſchaft verzeichnet werben. 
IH die Actie voll gezahlt, fo werben ihr Dividenden » Coupons beigegeben,, nämlich 
Anveifungen auf Theile des etwaigen Gewinns der Unternehmung, wie fle jeder Xctie 
pro rata ihres Gapital» Betrags zufommen. Da einzelnen Actien-Gefellfchaften (Eifen- 
bahnen 3. B.) öfter eine Zinjen» Garantie von Staatöwegen gewährt. wird, d. b. eine 
auf gewiffe Procente angegebene Berzinfung des Anlage= und Betriebs - Capitals, 
muß man in Bezug auf die realiftrten Gewinne der Unternehmung den über Die ga=- 
rantirte Zinfen = Summe binansgebenden Betrag der Rein Einnahmen der Gefellichaft, 
resp. der Dividende einer Actie, unterfcheiden. Es wird gewöhnlid Super-Divi- 
deude benannt und findet eine Derartige Unterfcheidung auch bei nicht garantirten Un⸗ 
ternehmungen ftatt, indem viele derjelben die Einrichtung getroffen haben, daß von dem 
durch Rechnungs =» Abfchluß feitgeftellten Gewinn zuerft ein gewiſſer Procentiaß auf das 
eingefchloffiene Actien » Eapital ausgezahlt werden müfle, ebe die Beiträge für Bildung 
eines Reſerve⸗Fonds, für Entrechnung der Tantieme an Derwaltungs - Rath und‘ 
Beamte gededt jind. Was über dieſe Verzinfung des Actien- Gapitald und. über die 
Isgtgenannten Beiträge binausreicht, wird ſodann als Super-Dividende an bie 
Actionäre vertheilt. Unter Reſerve⸗Fonds verfteht man die aus dem Gewinn der 
Actien = Unternehmung zuridgelegten Summen, die nicht allein zur Dedung außer- 
orbentlicher Verlufte, fondern auch möglichen Falls zur Ergänzung der Dividende für 
die Actionäre bis zu dem oben erwähnten, urfprünglich feftgeftellten Procent- Sat bed 
Capitals verwendet werden fönnen. Tantièeme heißen die an Bermwaltungs - Hath 
und Direction des Unternehmens zu ertbeilenden MNemunerationen aus dem Gewinne des 
‚ Seichäftäbetriebes. Der Verwaltungs-Rath geht aus der Zahl der Actionäre 
durch flatutenmäßige Wahl hervor, er ift mehr zur Beauflichtigung des Betriebes, als 
zu deilen unmittelbarer Leitung jelbjt beflimmt; feine Mitglieder find nicht bejoldet und 
die ihnen zugefprochene Tantieme beträgt gemöbnlic 5 bis 10 Procent des Geſellſchafts⸗ 
Gewinne. Geringer find die Tantiomen der Direction (auch Wbminiftration ges 
nannt) angeichlagen, indem dieſe ſchon ohnedies mit einem feſten Gehalte bedacht ift; 
fie leitet die Gefchäfte und Angelegenbeiten der linternehmung im Sinne der Statuten 
und nad) den vom Verwaltungs⸗Rath feftgejtellten Inftructionen und hat die Firma⸗ 
Führung der Gefellfchaft über fih, jo daß diefe durch fchriftliche Ausfertigungen der 
Direstion verpflichtet wird. 

Die Repartition des Gewinnes erfolgt nad verſchiedenen Grunbfägen 
und auf verſchiedene Weiſe. Es giebt Gefellfchaften, die ihre Actien zu einem vorher 
feftgeftellten Sage verzinfen, und zu dieſem Behufe jeder Aetie einen Bogen beifügen, 
der in verjchiedenen Abfchnitten (Zind=-Coupond) an beftimmtien Tagen zablbare 
Zins» Berfprechen enthält; das Mehr oder Minder des wirklich erzielten Gewinnes 
fließt zu dem Gefellfchafts - Kapital oder wird von dieſem beftritten. Andere Gefells 
fchaften vertheilen den fich ergebenden Gewinn direct und die jeder Actie beigegebenen, 
meiſt alljährli fälligen Scheine (Dividenden- Scheine) berechtigen zu der Em⸗ 
yfangnahme ded Antheild an dem während dieſes Zeitraumes erzielten Gewinne (Dividende). 
Noch andere Gefellichaften, die fefte Zinfen gewähren, vertheilen außerdem den Ueber⸗ 
Ihuß des ſich herausftellenden Gewinnes (Super= Dividende). Zu mehrerer Bequem- 
lichkeit find Zins» Coupons und Dividenden» Scheine auf längere Zeit hinaus den 
Actien beigefügt; die Erneuerung derfelben nach Ablauf diefer Zeit erfolgt gegen Vor⸗ 
zeigung der Netien felbft, oder der zu diejem Zwed auf den Coupon» Bogen befinbli« 
chen Scheine (Talond). Befonderen Beitimmungen bleibt e8 vorbehalten, ob der 
Gewinn einer Gefellfchaft ganz zur Ausfchüttung gelangt oder ob ein Theil deſſelben 
zur Bildung eines Referve- Fonds oder irgend einem anderen, mitunter wohlthätigen 
Zwecke verwendet werben foll. 

Actionär ift der Beſitzer einer oder mehrerer Actien. Derfelbe participirt an 
dem Vermögen der Gefellfchaft nach Maßgabe der Anzahl der in ſeinem Beſitz befind⸗ 





ı 7 Aetie. 


lichen Actien. Im Allgemeinen pflegt der Beſitzer Einer Actie den verhaͤltnißmaͤßig 
gleichen Anfpruch auf den Gewinn des ganzen Unternehmens zu haben, wie der Bes 
figer vieler. Es giebt indeß Actien= Gefellfchaften, welche die fich herausſtellende Divi⸗ 
dende nur unter diejenigen ihrer Actionäre vertheilen, welche eine gewiſſe Anzahl Xetien 
befigen, msihrend der Eigenthümer Einer oder einer geringeren Anzahl Actien mit den 
yon vorn herein feftgejeßten Zinfen fich begnügen muß. 8 ift Leicht begreiflich, daß 
diefe Einrichtung für Die minder gut jituirten Wetionäre ein bebeutender Hebel zur 
Erwerbung webrerer Actien ift, und fie ift daher häufig angewandt worden, um Unter 
nehmungen zu unterflügen, die auf ſchwachen Füßen fanden. Diefelbe bildete auch 
eines derjenigen Mittel, durch die der bekannte Financier Law feine Zeitgenoffen an 
Plane zu fefleln wußte, deren Unhaltbarkeit ſich fbäter berauäftellte '). 

Die Stimmberedhtigung der Actionäre in den General-Berfammlungen 
ift jeher verfchieden und durd Statuten, die. jeve Actien-Geſellſchaft bei ihrer Ent- 
ftehung feftfeßt, getegelt. Es hat entweder jeder Nctignär, gleichviel ob er Befiger Einer 
oder mehrerer Actien ift, das gleiche oder ein je nach feinem Actien⸗Beſtitz größeres 
oder geringeres Stimmrecht. Einige Gefellfchaften gewähren indeß nur den Bellgern 
einer beflimmten Anzahl Actien das Recht in den Verſammlungen der Actionaͤre mit- 
zuftimmen. Noch verfchiedener ald die Einrichtungen, die ihnen zu Grunde liegen, find 
die Zwecke, zu denen Actien⸗Geſellſchaften geftiftet werden. In vergangenen Jahr 
hunderten errichtete man fie hauptfächlich zur Unternehmung großer überfeeifcher Han- 
del8 - Speculstionen und die Bortheile, die einige von ihnen ſowohl ihren Gründern, 
ald den Staaten, in denen fle beftanden, eingebracht haben, ftellen ihre Verwend⸗ 
barfeit bierzu außer Zweifel. Seitdem haben ſich indeß die Verhaͤltniſſe weientlid 
geändert. Man wendet Actien= Gefellfehaften daher in neuerer Zeit faft einzig und 
allein zur Errichtung von Bank⸗ und Aſſekuranz⸗Geſchaͤften oder induſtriellen Etablifie 
ments an. Die hauptfächlichften Zweige der letzteren find Eiſenbahn⸗, Chaufjees und 
Kanale Bauten, Dampfichiff= Verbindungen, Fabrik» Anlagen, Bergwerfe u. dgl. m. 

Ein Actien⸗Unternehmen fann feine. Gejchäfte wie jeder Kaufmann theils mit 
eigenem, theild mit fremdem, entliehenem Bond betreiben. Die Aufnahme von 
Anleben der XcttensGefellichaften geſchieht durch Emiſſion der fogenannten Brioris 
tät8-Dbligationen, au Prioritätd-Actien oder kurzweg Prioritäten 
genannt. Für Capital und Verzinfung derartiger Anleben haftet eine Actien⸗Geſell⸗ 
fihaft mit ihrem Vermögen und Einkommen, fo daß zuerft die Forderungen ber Prio⸗ 
ritätens Gläubiger befriedigt fein müfjen, ehe Die Actionäre kommen. Dafür haben die 
Beflder von Prioritäten als Regel nur auf die vertragsmäßig feftgeftellte Verzinfung 
ihres Papiered einen Anfpruch, es entfallen fomit für felbe die Chancen eines höheren 
Gewinnes, die dem Actionaͤr bei zunchmender Prosperität des Unternehmens zu flatten 
tommen. Ferner bringt der Beilg von Prioritäten das Necht auf Sit und Stimme 
in den General-Berfammlungen der betreffenden Actien⸗Geſellſchaft nicht mit ſich. Die 
Frage, wann ed geeignet ift, zur Aufbringung weuer Fonds einer Unternehmung die 
Ausgabe von Prioritäten zu befchließen oder aber lieber zur Emiffion neuer Actien zu 
ſchreiten, Tann a priori nicht entſchieden werben. Es hängt dies eben fo jehr von der 
Lage des fraglichen Unternehmens ab, wie von der wechfelnden Dispofition des Gelb» 
marftes, von der verfchiebenartigen Neigung und Vorliebe der Gapitaliften, deren 
Einige den verführerifchen Gewinn aus Ertraͤgniß und VBoͤrſen⸗Cours der Actie über 
die Sicherheit der Prioritäten ſetzen, während Andere der entgegengefegten Anftcht find. 


— — — — —— 


1) Bei der weſtindiſchen oder Mifftfippi-Compagnie, deren Actien-Handel in Frankreich 1718 
und 1719 unter Laws Direction aufs Höchſte getrieben war, waren nur diefenigen Actionäre wirt: 
(ihe Mitglieder, d. h. Theilnehmer am Gewinn, die 50 Actien über je 1000 Livres im Befig hat 
ten. Weil nun Jedermann von den fehr glänzend fcheinenden Privilegien ber Gefelicaft Nugen 
zu ziehen wünſchte, ſuchte er natürlid die Saft feiner Actien fo zu vermehren, daß er derſelben 
iheilhaftig würde. Es ſtiegen die Actien der Compagnie daher anf 600 p&t., indem die Actionaͤre 
hofften, daß fie als wirklidye Partieipienten der Compagnie reicylih für das bezahlte Agio würden 
entfhädigt werben, während jeder Beflger Einer oder nur weniger Actien fi) mit 5 pCt. Inierefien 
begnügen mußte, Der Erfolg bat die Nichtigkeit der gehegten Hoffnungen bewiefen, indem 17% 
bei den Zufammenfturz des Law'ſchen Syſtems auch die weitindifhe Compagnie ihre Zahlungen ein: 
ſtellen mußte, wodurch mand) erträumter Reichthum in Nichts zuſammenſank und unzählige Fami⸗ 
Jien unglüdlid) wurben, 














\ Kette. 285 


Giebt eine Actien-Befellfchaft zu den bereits emittirten noch neue Actien aus, fo Tann 
fie die Käufer Diefer entweder den älteren Actionären in Bezug auf alle Rechte und 
Anfprüche gleichftellen, oder fie kann einen Unterfchied zwifchen ven beiden Klaffen 
obwalten laſſen. Letzteres bringt natürlich mit fih, Daß dann verſchiedene Sorten 
Actien ein und berfelben Unternehmung courfiren, die im Kandel mit Lit. A, B, C 
u. ſ. w. bezeichnet werden. Es kann übrigens ſchon bei der Bonftituirung eines Xctien- 
Vereins zur Emiſſion verfchiedener Kategorien feiner Actien, vermöge der Organifation 
und Binanzlage des Unternehmens, gekommen fein, wie e8 z. B. 1848 in Köln bei 
der Bildung des A. Schaafhaufenfchen Banke Vereines der Fall war. 

Das Zuftandefommen eines Actien-Unternehmens ift von der Er- 
laubniß der Regierung abhängig, und der letzteren müffen daher die Statuten: deſſelben 
zur -Beflätigung vorgelegt werden. Eine Ausnahme hiervon machen die Commandite- 
Geſellſchaften (Societes en commandite), welche entitehen, wenn-ein oder mehrere 
folidarijch verpflichtete und durch Die Firma gewöhnlich genannte Gefellfchafter fich mit 
mehreren anderen verbinden, welche nicht verpflichtet und nicht genannt find und nur 
einen Beitrag zum Handlungs⸗Fonds geben, wogegen fie einen verhältmißmäßigen An⸗ 
theil am Gefchäfte haben. Die Iegteren nennt man „Gommanditaire" Die 
Form der Commandite⸗-Geſellſchaften für Actien » Unternehmungen ift bäufig gemäblt 
worden, wenn anzunehmen war, daß die Regierung denjelben ihre Beflätigung verfagen 
würde, und fie ift. Daher das geeignetfte Mittel, die Intentionen der legteren unwirkfanm 
zu machen. Da e8 aber äußert wünfchenswerth ift, daß gerade bei der Erlaubniß von 
Aetien⸗Geſellſchaften mit größter Vorficht zu Werke gegangen wird, fo fönnen kraͤftige 
Manpregeln gegen das Ueberhandnehmen der ohne dieſe Erlaubnig erifticenden Geſell⸗ 
fhaften nicht genug empfohlen werben. | 

Die Actien⸗Geſellſchaſten werden indeß von den Megierungen nicht nur beftätigt, 
fondern auch, bauptfächlich dann, wenn fle ein wirklich gemeinnügiger Zweck ins Leben 
gerufen bat, mit Privilegien verjeben, die ihre Eriftenz und Nentabilität fichern. Es 
ift dies der leichtefte und natürlichfte Weg, welchen ein Staat einfchlagen Tann, um 
Unternehmungen zu unterftügen, die häufig mit großen Wagnifien und Koften verfnüpft 
find. Ein Monopol oder eine Bevorrechtung dieſer Art . eben ſo gerecht, wie das 
Privilegium, welches dem Erfinder einer neuen Maſchine oder dem Verfaſſer eines 
Original⸗Werkes verliehen wird. Doch liegt es nicht minder in der Billigkeit, daß bei 


eintretender Rentabilitaͤt die Geſellſchaften jene Privilegien beſonders verſteuern. Zu⸗ 


gleich muß hierbei berückſichtigt werden, daß jedes Privilegium nur auf eine gewiſſe 
Zeit ertheilt wird; iſt dieſe Zeit verſtrichen und die Geſellſchaft hat von ihren unter 
dem Schutz des Privilegiums gedeihenden Unternehmungen den gehörigen Nutzen gezo⸗ 
gen, fo tritt der Fall ein, daß die Geſellſchaft ſich auflöſt, der Staat ihre Etabliſſe⸗ 
mentd gegen Grflattung des Werthed derſelben übernimmt und fänmtliche Staats⸗ 
Angehörigen alsdann der errungenen Vortheile theilhaftig werben. 

Wie wir Schon Eingangs gezeigt haben, eignet fich die Actie durch ihre leichte 
Vebertragbarkeit vortrefflich zun Handel mit Capital und zum Börfen-Gefchäfte 
insbeſondere. In letzterer Beziehung — als Börfen » Bapier nämlich — bat fle vor 
Staatd-Effecten den Vorzug, daß ihr Erträgniß Fein im Voraus, fondern durch ihren 
Heinertrag Beftimmtes if, die Berechnung und Schägung deflelben daher der Phantafte 
einen weiten Spielraum eröffnet und der Speculation Zaum und Zügel fchießen läßt. 
Der Handel und das Börfenfpiel bemächtigen ſich der Actie, ehe fie geboren wurde, 
und hängen ſich an ihre Ferſen, "wenn fie durch den unaufhaltſamen Verfall des Unter- 
nehmens zu Grabe getragen wird. Bei dem Auftauchen eined Actien⸗Projectes bereits 
werden Promeſſen (Berfprechen, eine beitimmte Zahl Actien den Tag nach Erſchei⸗ 
nen derfelben zu Tiefern) verhandelt, und oft liegen Jahre zwifchen der Zeit, wo ein 
Leichtgläubiger dergleichen Promefien erflanden und der verhängnißvollen Stunde, in 
der die Actien endlich auögegeben und von ihm fibernommen werden, oder auch definitiv 
nicht außgegeben und nicht übernommen, oder zwar auögegeben werden, aber feine 
Nehmer finden (Galizifche Bahn, Kärnthner Bahn). So lange dann die Actie nicht 
voll eingezahlt ift, bietet fie auch kleineren Vermögen die Gelegenheit zur Gapital- 

Anlage und dringt in die tiefer liegenden Schichten der Beuölferung ein, ohne daß 


236 Actie. 


bier die Faͤhigkeit, fie voll einzuzahlen, vorhanden waͤre. Rücken ſpaͤter die Einzablungs- 
Termine heran, ſo beeilt ſich Jeder, ein Effect, das er nicht halten kann, auf den 
Markt zu werfen und ſo den großen Capitaliſten und Speculanten die Gelegenheit zu 
bieten, zu niedrigen Preiſen zurückzukaufen, was ſie früher zu hohen emporgeſchwindelt 
und an den Mann gebracht hatten. Die Popularität der von ſolcher Enttaͤuſchung 
begleiteten Actie erleidet freilich einen argen Stoß; die Hohlheit der Anpreifungen, die 
man ihr zu Theil werben ließ, tritt grell hervor, eine allgemeine Nüchternheit bemäd- 
tigt fich der Geifter, man kann den ganzen Mechanismus und Fünftlichen Apparat des 
Schwindeld mit Händen greifen, man fann dad Trügliche feiner Vorfpiegelungen mit 
Ziffern nachweifen; der Probabilitäts-Kalfül wird in fein Necht eingefegt, die Aus- 
geburten des Schwindels feinem unerbittlichen Gerichte unterziehend und die Eoloflale 
Zukunfts-Rente der Actionäre ſchwindet in befcheidene Procentchen oder gar in Nichts 
zufammen. In folchen Momenten feiert die Speculation a la baisse Triumphe und 
fihelt ihre Ernte ein, um fpäter von der Kohorte der Hauſſiers, welche die Beſchwin⸗ 
delung des Publicumd von Neuem aufnimmt und mit denfelben alten Künften durch⸗ 
feßt, wieder einmal abgelöft zu werden. So gebt ed im Wechfel ftetig fort, bis bie 
Actie Elaffirt ift oder, wie anders die Rede gebt, in fefte Hände kommt, d. h. in 
die Hände folcher Bapitaliften, die fie zu behalten geneigt find, um lediglich aus ben 
Erträgniffen der Unternehmung eine Rente zu ziehen. ie wenig aber die angebliche 
Feſtigkeit dieſer Hände zu bedeuten hat, zeigt das Schidjal mehr als eined Elafjisten 
Börfen-Effertes, das man fchon gegen alle Stürme und Launen der Börfe geſichert 
glaubte (Coſel⸗Oderberger, üfterr. Nordbahn⸗Actie). Was fchließlich Die verfchiedenen 
Formen anlangt, unter welchen Actienkaͤufe und Berfäufe an der Börfe effectuirt wer⸗ 
den, fo genügt bier zu erwähnen, daß fämntliche Spielarten des foliden Gefchäfted 
wie der Agiotage auf diefen Handel Anwendung finden. Im Gegenfab zu ihrem 
Nennwerth nennt man den temporären Werth einer Actie deren „Courswerth“ ober 
auch fchlecht weg Cours. (Man fehe das Nähere hierüber in den Artikeln Agio, 
Agiotage und Börje.) 

Die Geſchichte Des Actienweſens nah dem gegenwärtigen Stand hiſto⸗ 
rifcher Forſchung und Kunft läßt die Zeit der erften Entftehung von Actien⸗Geſell⸗ 
fohaften ziemlih im Dunkeln; aud laßt ſich nicht mit Beftimmtheit nachweifen, von 
welcher Zeit an das Entftehen der Actien und der Verkehr damit zu rechnen fei und 
ob derſelbe früher, als der mit Staatd-Papieren eriftirt habe; doch ift anzunehmen, 
daß, obgleich Staats⸗Anleihen ſchon zu Zeiten der Roͤmer gemacht wurden, während 
Actien-Gefeltfchaften erft in fpäteren Jahrhunderten fich bildeten, Boch der Handel mit 
Actien dem mit Staatd« Papieren vorangegangen fei. Die Periode der Anwendung 
des Actien⸗Principes auf größere Unternehmungen datirt man von Gründung ber oft 
indifchen Handels-Geſellſchaft Hollands (1602). Die zwei Jahre vorher zu gleichem 
Zwede gegründete englifche Compagnie, berufen, eine fo große Rolle in der Weltge 
fohichte zu fpielen, war urfprünglich Feine Actien-Gefellfchaft, ſondern eine fogenannte 
regulaled society ’). Diefe Art von Gefellfchaften hatte die Einrichtung, daß die ein 
mal aufgenommenen Theilnehmer einen beftimmten Handel, in unferem Falle nad Of 
indien, auf eigene Fauſt und Gefahr treiben durften, während derſelbe Handel einem 
jeden in die Gefellichaft nicht incorporirten Engländer im monopoliftifchen Geifte jener 
Tage verboten war. Im Jahre 1612 wurde auch die Kondoner oftindifche Compagnie 
zu einer Actien= Gefellihaft umgewandelt. Seit jenem Zeitpunkte mehrten fi die 
Actien » Gefellfchaften in rafcher Progreſſion, und faum -ein Jahrhundert fpäter tritt, 
beinahe zu gleicher Zeit in Frankreich wie in England, zum erften Male das Actien— 
Fieber auf, und dad mit einer verheerenden Wuth und Stärke, wie felbft unfere Gene 
ration ed kaum gefehen hat. Wir fagen nicht zu viel, wenn wir die Staatsmaͤnner 
und Finanzgrößen, welche damals den Projerten Law's in Franfreich und der Südſee⸗ 
Compagnie in England Vorſchub leifteten, ald Meifter des Schwindels bezeichnen, vor 
denen die Gleiches erfirebenden Pygmäen der Gegenwart in den Staub finfen müflen. 


1) Bgl. hierzu die claffifche Geſchichte des Brit. Indiens von James Mill im 1. Bd. Als 
Guriofum erwähnen wir bier, daß man zwar gleich anfänglich die oftind. Compagnie auf Actien 
gründen wollte, aber aus Furcht, die Ginzahlungen nicht eintreiben zu fönnen, davon abftand. 











Der Actien- Handel bat feit feinem Entftehen bebeutende Conjuncturen erlebt. 
Gr ftodte nach den im Jahre 1720 hauptfählih in Frankreich und England durch 
maaßloſe Sperulationen entftandenen Berlujten faft gänzlich und hat erft in neuerer 
Zeit wiederum einen bebeutenden Aufſchwung genommen. Die Erfahrung lehrt leider, 
daß ſtets zu einer Zeit, wo Kandel und Gewerbe in Blüthe flanden, auch der unreelle 
Geſchaͤftsbetrieb florirte. Die Gefchichte des Actien⸗Handels bietet Hierfür mannichfache 
Beläge und es ift Leicht erflärlich, wie die Sucht, ohne Arbeit und Mühmaltung reich 
zu werben, fich der Actien-Unternebmungen ald des geeignetften Mitteld Hierzu bemäch- 
tigte. Wenngleich der Uctienfchwindel fchon im vorigen Jahrhundert eriftirte, fo trat 
er damals doch nur zeitweife auf und wurde der Geſellſchaft von einigen Wenigen 
förmlich octroyirt, während er jeßt, Dank dem Ueberhandnehmen des Materialismuß 
unſeres Zeitalters, dem Genuß und daher die Mittel dazu über Alles gehen, eine eben 
ſo conſtant gewordene, als allgemein perbreitete und insbeſondere auch in die unteren 
Schichten der Geſellſchaft eingedrungene Krankheit iſt. Ein Belag hierfür iſt die eigen⸗ 
thuͤmliche Ausbildung, die der Handel mit Actien ſeit einiger Zeit gewonnen hat. Bon 
dem wirklichen Gefchäfts-Betriebe abgelöft, haben fich eigene Börfen für den Fonds⸗ 
und ActiensHandel gebildet und dort werben von vereibeten und unvereideten Courtiers 
(ſehr bezeichnend fogenaunten Pfuſch⸗Maklern) Gefchäfte gefchloffen, die fich faft immer 
binter dem Anjchein einer reellen Speculation auf fehr geſchickte Weife zu verfieden 
wiffen. Der fo enorm gefteigerten Speculationd-Luft genügen natürlich die vorhandenen 
Papiere nicht und es werden daher Actien verkauft und gefauft, ohne daß der Ders 
fäufer fie befißt oder der Käufer fie von ihm erhalten will; beide verpflichten ſich nur 
gegenfeitig, den Unterfchien (Differenz) zu bezahlen, der zwifchen dem jet für einen be⸗ 
ſtimmten Termin bezahlten und dem bei Ablauf des Termined (am Stichtage) - gelten- 
den Courfe fich ergeben wird. Man nennt diefe Art Gefchäfte „Lieferungs⸗ oder Zeit⸗ 
fäufe”, weil fich der Verkaͤufer zum Schein verpflichtet, Die Papiere zu. einer gewiflen 
Zeit zu liefen. Diele Lieferungs⸗-Geſchaͤfte werden auf fehr verfchiedenartige Weiſe betries 
ben und erklären allein die fabelhafte Höhe des Umſatzes in Actien an unferen Börfen 
und bie vielfachen Schwankungen ihrer Courſe. Man bat die Zeitgefchäfte Wetten ge- 
nannt und fie find in der That nichts Anderes, Die Unfolivität eines ſolchen Ge- 
fchäftö- Betriebes liegt auf der Hand und führt Die bedenklichften Folgen herbei. Ein 
leichter, mühelofer Gewinn reizt zu verſchwenderiſchem Lebenswandel, zu einer kunſtlichen 
Steigerung aller Bedürfniſſe und iſt häufig Veranlaſſung, daß dem Vergnügen auf 
Koſten der Moralitaͤt geopfert wird. Zudem ſind die Zeitgeſchaͤfte nur zu geeignet, un⸗ 
bemittelte aber gut creditirte Perſonen, (3. B. Beamte) auf den ſchlüpfrigen Pfad der 
Speculation zu locken, die demſelben fern bleiben würden, wenn die abzuſchließenden 
Geſchaͤfte Zug um Zug erfüllt werben müßten und zu ihrer Ausführung ein baares 
Gapital nöthig wäre. Die Hoffnung auf einen ohne Auslagen zn .erzielenden Gewinn 
ift ein zu mächtiges Reizmittel, als daß die Eventualität eined Schadens gehörig ge= 
würbigt werden follte. Tritt diefe nun dennoch ein, fo wird fle in dem einen Ball 
mühſam erworbene Erfparnifie aufzehren, im anderen, wo die vorhandenen Hülfsmittel 
nicht audreichen, Vorfälle herbeiführen, wie wir fe jeit einiger Zeit fo häufig als Fol⸗ 
gen unglüdlicher Speculation zu beflagen haben. 

Die Regierungen haben bisher wenig gethan, dem Unweſen des Artien- Schwin- 
dels zu fleuern, denn die lange vor der eigentlichen Blüthezeit deſſelben erjchienene Ver⸗ 
ordnung vom 13. Mai 1840, welche den Zeithandel mit- ausländifchen ‘Papieren ver- 
bietet, ift die einzige ihrer Halbheit wegen unwirkſame Maßregel gegen denſelben. Ein⸗ 
mal find es nicht die Zeitgefchäfte überhaupt, die darin verboten werden, fondern nur 
die in ausländifchen Papieren und dann enthält fle Feine Straf- Androhung für den 
Fall einer Mebertretung; nur den öffentlich beſtellten Maklern und Agenten wird mit 
Amts-Entfegung gebroht, falls fie derlei Gefchäfte. vermitteln. Da aber Die Mehrzahl 
der Makler nicht öffentlich angeſtellt iſt und daher den Abſchluß von Zeitgeſchaͤften in 
fremden Bapieren nicht zu fcheuen braucht, dient jene Verordnung nur ber raffinirten 
Gaunerei zum Nüdhalt, indem eine Menge von unreellen Gefchäftäleuten durch dieſelbe 
in den Stand gefegt ift, gefahrlos zu ſpeculiren. Für den Ball des Gelingens eines 
derartigen Gefchäftes des erzielten Gewinnes froh, weigern ſie ſich im umgekehrten 


⸗ 


298 Helle 

Fall der Bezahlung und koͤnnen hierzu auch nicht angehalten werben, da ihrem Gläu- 
biger aus ſolchem Gefchäft kein Klagerecht zufteht. Ein Berbot aller Zeitgefhäfte in 
Papieren unter Strafe Androhung gegen Die Eontrabenten eines folchen waͤre eine Maaf- 
regel, die Schreden verbreitend unter der großen Menge der Börfen-Speculanten, von 
jedem Einfichtigen, fei er Kaufmann oder nicht, mit Freude begrüßt werden würde. 

Daß der Actien⸗Handel auch in vergangenen Jahrhunderten ohne vie in leßter 
Zeit erhaltene Ausbildung genug der Chancen für Gewinn und Verluſt geboten babe, 
beweifen am beften Die wechſelnden Schicffale der großen Kandeld- Eompagnien, über 
‚ die das Folgende eine gebrängte Ueberficht bieten möge. 

Bor Allem ift e8 die engliſch-oſtindiſche Compagnie, die 1599 bis 
1600 gegründet, die großartigften Erfolge erzielte und einen Laͤnder⸗Beſitz errang, ber 
die Ausdehnung des Mutterlandes um das Zehnfache überftieg. Die Wirkfamkeit ber 
Compagnie ald Handels⸗Geſellſchaft bat indeß aufgehört, jeitdem der Handel nach In⸗ 
dien jedem englifchen Untertban mit Ausnahme einiger weniger Artikel, namentlich des 
Opiums, freiftebt. Sie bildet nur noch eine politifche Körperfchaft und auch ihre Eri- 

enz als folche ift durch die neueften Ereigniſſe in Indien in Frage geftellt. Die briti⸗ 
he Suͤdſee⸗Geſellſchaft wurde 1710 geftiftet und machte ein: Decennium hindurch glän- 
zende Gefchäfte. Durch einen Nachahmer des Lawſchen Syſtems, Blount, gerleth fie 
1720 an den Rand des Verderbens, wurde indeß durch Die Bank von England and 
die oftindifche Compagnie gerettet. Seit 1750 befteben ihre Gefcyäfte nur in der 
Zins⸗Verwaltung des der Regierung geliehenen Capitals von 80 Millionen Lſtr. der 
Snuth-Sea-Stocks. . 

Die däniſch-oſtindiſche Gefellfehaft wurde 1616 errichtet und erreichte 
um 1783 ihre Blüthezeit. Seit dem Uebergewicht der Engländer in Aften find ihre 
Geſchaͤfte indeß von fehr geringer Bedeutung. 

Die Holländifch- oftindifhe Compagnie um 1594 von Cornelius 
Houtman unter dem Namen „Compagnie für _entfernte Länder“ gegründet, erlangte 
1602 durch die Vereinigung mehrerer Eleiner Gefellichaften eine große Ausdehnung und 
war in ihren Operationen jo glüdlich, daß fich ihre Dividende bi8 auf 50 pEt. fies 
gerte. Während des 30jährigen Krieges indeß gingen ihre Artien bis auf 30 pCt. 
herunter und zu Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte fie 120 Rillionen Gul⸗ 
den Schulden. Seit 1815 bat fih aus ihren Trünmern eine neue Actien-Gefellichaft 
gebildet, die unter dem Namen Nederlandsche Handels - Maatchappy den chinefifchen 
Theehandel betreibt. 

Die franzöfifroftindifche. Handeld-Gefellichaft wurde nach Dem 

Mufter der bolländifchen im Jahre 1664 von Eolbert mit einem Fonds von 50 Wil 
lionen Livres gegründet. Sie erlag in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts den 
fortwährenden Neibungen und offenen einbfeligkeitn mit England. Frankreich ver 
dankt diefer Gefellfehaft fehr bedeutende Eolonien, und noch heute ift das von ber Ge 
fellfchaft an der Küfte von Koromandel gegründete Pondichery feiner vortrefflichen Lage 
wegen der Mittelpunft des franzöflfch-oftindifchen Handels. 
Die portugiefifh » oftinpifhe Handels-Geſellſchaft iſt die ältefle 
aller mit Oftindien Handel treibenden und überhaupt befannten Aetien⸗Unternehmun⸗ 
gen. Basco de Gama landete ſchon 1498 an der malabrifhen Küfte von Hindoften 
und nach wenigen Jahren geborchten viele Fürſten der indischen Halbinfel dem gefürd- 
teten Namen ded Königs von Bortugal. Der Handel mit Oftindien machte Liffabon 
zu der lebendigſten und veichften Handelsſtadt Europas. Seit aber 1580 Portugal 
durch Philipp I. mit der fpanifchen Krone vereinigt wurde und die Verbindung der 
Verwaltung Indiend mit dem Mutterlande lockerer geworden war,, fehlichen fi Miß⸗ 
brauche aller Art in diefelbe, Die 1640 ihre Auflöjung berbeiführten. 

Die Zahl der Actien-Geſellſchaften ift ſeitdem zur Legion angewachſen, 
ed ift durch fie Großes verrichtet und Großes verbrochen worden, und wenn bet 
Schwindel, dem fte von Anfang an verfallen, fie zum Werkzeug volkswirthſchaftlicher 
Zerſtoͤrung gemacht bat, fo brachte die ſittliche Kraft der Arbeit das Zerſtörte, das in 
Trümmer Oelegte wieder in Ordnung. Von den zukünftigen Gefchidlen des Actien⸗ 
weſens hängt die Wohlfahrt zahlreicher Klaffen der Geſellſchaft ab; es können die wie 


\ 








Ace. 29 


derkehrenden Ausartungen einer Vergangenheit, die in unfere Zeit herüberreicht, Das 
nothdürftig geftügte Gebäude Faufmännijchen Credits erfchättern, ja zum alle bringen, 
ed können auch fernerhin die ficherfien Gefchäfts - Verbindungen verfagen, ‚die beften 
Hänfer flürzen, die mächtigften Actien⸗Geſellſchaften an den Rand des Bankerotts ges 
rathen; wie immer jedoch fich die mannigfaltigen Interefien und Berbältniffe der Zeit 
geftalten mögen, dad Eine bleibt gewiß, daß einem Jeden der dabei Beteiligten fein 
Necht widerfahren wird, denn es iſt denen geworden, welche die VBergötterung des 
Materiellen zum Glaubens- Artikel der Gegenwart machen wollten, es wird auch Ienen 
werden, die dieſe DBergötterung fortfeßen. Zu erwähnen ift hierbei nur noch, daß auch 
m dem erften Viertel des vorigen Jahrhunderts der Handel mit Actien überall, haupt⸗ 
fächlich aber in England, Frankreich und Holland in erfchredender Ausdehnung betrie- 
ben wurde. Durch Die zahlreichen Borfpiegelungen derjenigen Wänner, die an der 
Spite bedeutender Unternehmungen fanden und entweder Utopiften oder Betrüger was 
ren, (Blount bei der Sübfee-Bompagnie, Law bei der Wiffliippi» Compagnie) war bie 
Nachfrage nach den Actien fo gefliegen, daß man für eine über 100 Lſtr. lautende 
Actie der Süpdfee-Sompagnie 1000 Ltr, für eine Aetie der franzöftfcheindifchen Gefells 
fchaft über 1000 Livres 6000 Livres bezahlte, ja daß man in Frankreich in den Poſt⸗ 
Billets fpeculirte, deren man bevurfte, um in Paris felbft operiren zu Fönnen. Daß 
Jahr 1720, das den wahren Sachverhalt aufflärte, beendete dieſe künſtliche Steigerung 
und der Cours der Actien fiel fo plöglich, daß befonder® in Frankreich aller Handel 
und Wandel ſtockte, der Grebit untergraben und unfägliched -Unglüd angerichtet wurbe. 

Wie vor diefer Kriſis das Unweſen auf das Höchfte gefliegen war, bemeift, daß 
Eur; vor derfelben fich in England 168 Actien⸗Vereine bildeten, bie meiftend nur auf 
Iuftige Profecte gebildet waren. So entfland die „Millionen-Banf*, die „Degenklingen 
Geſellſchaft“, die „Strider-&efelfchaft”, ein Berein „zun Handel mit Menjchen- Haaren”, 
ein anderer „zur Einführung der Efeld-Hengfte aus Spanien”, ein dritter „zum’Mäften 
der Schweine” u. f. w., eine Gefellfchaft „zu einem fich von felbft bewegenden Rabe”, eine 
Aſſecuranz „gegen Verluft durch Bediente, gegen Diebftahl und Raub* u. few. Alle 
Diefe Aetiene Bereine verfchwanden aber in kurzer Zeit und brachten ihren Theilnehmern 
bedeutende Verlufte zu Wege. Daß auch in Deutichland zu jener Zeit der Actien⸗ 
Handel an einigen Orten fo audgeartet gewefen fein muß, daß bedeutende Nachtheile davon 
befürchtet werben fonnten, Läßt fich unter Anderem daraus entnehmen, daß der Verkehr mit 
Actien Ducch eine Verordnung des Hamburger Raths vom 19. Juli 1720 abgethan wurde — 
„ein weifes obrigkeitliches Mandat, dad zwar einem Jeden freiließ, in und mit Actien 
zu bandeln, doch erklärte, daß Fein Gericht im Hamburg irgend eine Rechtsklage dar⸗ 
über annehmen würde, machte demſelben em ſchnelles Ende." (Ioh. Georg Büfch 
©. 347). . 
Ein ſolches Verbot wäre heut zu Tage unftatthaft, da ein Aufhdren des Actien- 
Handels zugleich lähmend auf Actien-iinternehmungen zurücdwirken würde, dieſe aber, 
Durch Geſetze geregelt und vor Mifbräuchen bewahrt, vom größten volkswirthſchaftlichen 
Mugen find. \ / 

Um ſo dringender iſt aber das Bedürfniß und die Nothwendigkeit von Seiten 
der Regierungen, nicht nur das Publicum, ſondern ganz beſonders auch die Actionaͤre 
fowohl durch die Legislation, als durch forgfältige und ſcharfe Controle gegen vie 
Verwaltung ſicher zu ſtellen. Das Princip dieſer Maaßregeln muß ſtets und vor Allem 
die Beſchrankung der Actien⸗Geſellſchaften auf eine beſtimmte Aufgabe fein, wie 
Dies in dem jehr empfehlenswertben Werke von Garl Schwebemeyer: „Das XActien- 
Geſellſchafts-⸗,/ Bank» und Verſicherungs⸗Weſen in England" (1857) nüher ausgeführt 
if. Es Heißt dort wörtlich: 4 

„Die Vereinigung zerftreuter Kräfte, deren jede Einzelne an fi, bedeutungs⸗ und 
wirkungslos ift, fehafft eine wahrhafte Macht, die in ihrer Action Großes und Hohes 
leiften Tann; allein nur dann, wenn auch dieſe Action eine vereinte bleibt, fich nicht 
zerfplittert und daher wieber ſchwaͤcht. Wenn ſonach eine Aectien⸗Geſellſchaft das 
vereinte Capital, über das fie gebietet, nicht auf einen beſtimmten, in fich begrenzten 
und abgefchlofienen Zweck, fondern auf eine größere Anzahl von Unternehmungen ver⸗ 
wendet, fo muß nothgedrungen bied Capital wieder zerfplittern und feine Wirkſamfeit 





300 _ Ketie. 


in gleichem Maaße fich ſchwaͤchen: es geht mithin der eigentliche oftenfible und rationelle 
Zweck der Vereinigung‘ verfchiedener Bapitalien, nämlich die Concentrirung der Kraft 
und deren Anwendung in fruchtbarer Weife, wieder verloren: — die Actien⸗Geſellſchaft 
handelt in Wahrheit gegen ihr eigenes Princip; ſie lähmt fich den Arm und zerflört 
von vornherein eine der wefentlichften Bebingungen des Erfolged. Und dad nicht.allein. 
Jedes in einem größeren Umfange betriebene Unternehmen dieſer Art erbeifcht, damit 
es gebeihe, Seitend derer, die 28 leiten, eine volle und grimbliche Keuntniß aller 
dafielbe conftituirenden Elenıente, eine ftete und, auf alle einzelne Theile fich erſtreckende 
Ueberwachung, eine auf praftifche Erfahrung gegrimdete Erfenntniß der Beringungen 
eines erfolgreichen Betriebe und aller betreffenden Yactoren. Bei Actien-Gejellichaften 
ift aber die Leitung flet3 in den Händen einiger wenigen Perfonen, der Directoren, die 
in der Negel jährlich gemwechfelt werden, wenigftens dem Wechfel untenvorfen find. 
Menn nun die Gefellfchaft, anftatt auf einen Gegenftand ihre Wirkſamkeit zu ber 
fehränfen, ſich, wie es fo häufig und felbft der Regel nach gefchieht, auf eine Menge 
von Unternehmungen einläßt, die ohnehin oft ganz gefchieden und verfchieden von ein- 
ander find, fo ift es ſchlechterdings unmöglich, daß jedes diefer einzelnen Unternehmen 
mit jolcher Sachkenntniß, ſolchem Nachdrucke und folcher Einheit und Gonfequenz ge 
leitet werde, die unumgänglich nöthig find, um demfelben eine prima facie Bürgfchaft 
des Erfolges zu fichern. 
Manche der Gründer folcher Gefellfchaften, Die in neuerer Zeit mit jo Hochtönen- 
den Programmen fich „eonftituirt” haben, und die mit Subferiptionen überſchüttet 
worden, dürften in der That verlegen fein, diefe Frage genügend zu beantworten. 
„Credit⸗Geſellſchaft“, „Mobiliare und Immobiliar⸗Credit⸗Geſellſchaft“, „Geſellſchaft zur 
Förderung der Induftrie, des Handeld und der Agricultirt. ı.. — Das fagt fehr viel 


„und. auch fehr ‚wenig. Allgemein gefprochen, befinden fe biefe Unternehmungen in 


N 


einen Dilenmta. 

Entweder die linternehmer find felbft darüber noch nicht ins Reine gefommen, 
was fie mit diefem Programme meinen. ie laden zu Subferiptionen ein unb bie 
Subferiptionen fließen ihnen zu; ſie ſehen fich daher in den Fall gefeßt, ihre „Ope⸗ 
rationen” bona fide zu beginnen; fie überbliden ihr Programm und werben plöglid 
inne, daß fie fich felbft noch nicht Elar gemacht, was fle eigentlich darunter verfteben, 
wie und wo ſie eigentlich anzufangen haben — Daß, in einem Worte, ihnen die Ope: 
rationsbafts fehlt inmitten ihrer Schätze. So hieß ed vor Kurzem, daß die. eine ber 
Erebit-Gefellfchaften, die in Hamburg. fich. gebilbet, und deren Subferiptionen ſich auf 
das und das fo und fo viel Hundertfachſte des feſtgeſetzten Grund - Capitals beliefen, 
ihre Operationen auf unbeflimmte Zeit „vertagt“ babe, angeblich, weil ſich fein Di⸗ 
rector gefunden! — Wahrfcheinlicher ift, weil fich Nichts zu dirigiren gefunden. 

Oder aber die Geſellſchaft beginnt wirklich ihre „Gefchäfte". Welcher Natur 


dieſe Gefchäfte fein werden, ift leicht zu ermeflen. Die Gefellfchaft wird ſtets über ein 


bedeutendes Capital zu verfügen haben, und wird daſſelbe felbftverftändlich da zu ver 
wenden geneigt fein, wo ſich augenbliclich der größte Gewinn bietet; oder durch den 
Beſitz dieſes flüfflgen und ſtets disponiblen Capitald wird es felbft in ihrer Mad 
liegen, vergleichen „günftige Gelegenheiten” zw fchaffen und zu benugen. Sie wid 
daher ihr Capital auf einen gewiſſen Punkt werfen, d. b. fpeculigen, und vermuthlich 
meiftens mit Erfolg, da fie die Situation mehr als Kleinere Gapitaliften in ihrem de 
reiche bat, fie felbft mehr oder weniger beherrſcht, fo wie aber dieſer günftige Zeit⸗ 
punkt vorüber, ſich eben fo fihnell wieder zurüdziehen, um fich in gleicher Weife auf 
irgend einen anderen — feiner Natur nad) von jenem vielleicht himmelmeit .verjchiede 
nen — Gegenftand zu werfen. Nun kann e8 jehr wohl gefchehen, daß in Folge eine 
folgen mächtigen Anftoßed auch. bie und da dem allgemeinen Intereffe Vortheil er 
waͤchſt, fei es, daß Schwierigkeiten gegen Die geringere Capitalten nicht anzukämpfen 
vermochten, befeltigt, oder Der allgemeinen Gewerbthaͤtigkeit neue Bahnen eröffnet. oder 
zugänglicher gemacht werden: ſolche eventuelle Vortheile dürften aber keinesweges bie 
Uebel aufwiegen, die in. anderer Hinficht und nach anderen Seiten hin dem allge 
meinen Intereffe durch fo übermiegende und principiell durch Feine Rückſichten des. allge 
meinen Wohles geleitete Finanzfräfte unzweifelhaft erwachſen müflen: Die in folder 











Aetie. 361 


Weile plöglich bervorgerufene Thätigkeit ift in Den meiften Hallen nur -eine jietine, 
fünftliche, momentane, und daher geeignet, größere und nachtheiligere Störungen zu 
‚ verurfachen, welche durch jene vorübergebehden theilweifen Vortheile nicht aufgewogen 
werden. Wie die ganze IThätigkeit der Gefellihaft auf feinen feften und leitenben 
Gnmdfägen beruht und feinen permanenten und beftimmt vorgezeichneten Zwei im 
Auge bat, fo enibchren auch Die jeweiligen einzelnen linternehmungen in der Hegel 
jedes tieferen rundes, als des augenblidlichen ſpecifiſchen Intereſſe es der Geſellſchaft 
oder richtiger der Directoren. 

Eine ſehr verſchiedene Bewandniß hat es daher mit der Wirkfamkeit der Actien⸗ 
Geſellſchaften, die von vornherein zu einem beſtimmt bezeichneten und begrenzten Zwecke 
begründet ſind. Hier concentrirt ſich das vereinte Capital auf einen einzelnen Gegen⸗ 
ſtand, wie andererſeits die ganze Thaͤtigkeit ber Geſellſchaft, beziehungsweiſe der Di⸗ 
testoren. 

Vervollkommnung und Bolltommenheit find nur zu erreichen durch Concentrirung 
der ganzen geiſtigen und materiellen Kraft auf einen Gegenſtand, durch Beharrlichkeit 
und Ausdauer. Der viel gerühmte „praftifche Sinn" der Engländer, was ift er 
anders, als eben. diefe Einheit der Abficht und Einheit des Zieles? Das ift das Ge 
beimniß der materiellen Größe Englands, die vorzüglichfte der moralifchen Urſachen 
feiner inbuftriellen und eommerziellen Macht: Das Princip der Aſſociation ift feit lange 
beimifch in England. Aber wie verfteht der Engländer dies? Als eine Aſſociation von 
Gapitalien und Kräften, um dieſe durch gleichzeitige Verfolgung einer Anzahl ver- 
I&iedener und mehr oder weniger heterogener Unternehmungen fogleich wieder zu zer» 
ſplittern und zu zerflören? Keineswegd. Er vereint ſich, um vereint zu bleiben und 
vereint zu wirfen. Gin Unternehmen zu folchem allgemeinen. und vieldentigen Zwecke, 
wie „Börberung der Induſtrie“, „Hebung des Handels“ ⁊c. würde ohne Sinn für ihn 
fein, er weiß aber, was e8 heißt: „Edinburg Gas⸗Compagnie“; „London und Weſtir⸗ 
land Fifcherei-Compagnie"; „Efiex Drainirungs⸗Compagnie“; „Neath⸗Thal Brauerei« 
Compagnie”; „Patent Stereotyp-Gonpagnie” ; „Mivdlefer Grafſchaft Land⸗Meliorations⸗ 
Cempagnie“; „Nord⸗England Dampfe&ifcherei-Compagnie* u. |. w. Hier weiß ein 
Jeder, um was ed fih handelt. Das Publicum ift auf der Stelle im Stande ſich 
Rechenichaft zu geben über die Bedingungen des beabjichtigten Unternehmens und feinen 
vorausſichtlichen Erfolg; ein Jeder ift befähigt zu erwägen und zu prüfen für fich felbft, 
und wer fein Geld einlegt, weiß, zu welchem Zwede es gefchieht. 

Die Credit⸗Geſellſchaften dagegen bezwecken vorzugsweiſe die Ausleihung von Ca⸗ 
pitalien. Das iſt aber, in der Weiſe wenigſtens, wie es zur Zeit in der Regel ge⸗ 
ſchieht, eine in feiner allgemeinen Tendenz und feinen Reſultaten nichts weniger, als 
eriprießliche Praxis. Es ift freilich Eein fehr mühfames Gefchäft, das iu Actien auf- 
gebrachte Bapital in dergleichen Anleihen vorzuftreden. Wird Seitens der Anleiher 
allen Verbindlichkeiten genügt, fo erhält die Gefellfchaft, d. h. die Direction, das vor« 
geſtreckte Geld mit guten Zinſen zurüd; ſehen ſich aber die Anleiber durch den Nicht⸗ 
erfolg ihrer Unternehmungen oder aus anderen Gründen außer Stande, integrale Rück⸗ 
zahlung zu leiſten, ſo iſt die Geſellſchaft dennoch gedeckt durch die Sicherheit, die ſie 
nicht zögern wird, zu verwerthen: aber der unglückliche Anleiher wird ruinirt. Die Ge⸗ 
ſellſchaft hat in dieſer Beziehung Fein Riſico: fie halt fich in alfen Fällen ſchadlos und 
erzielt „hohe Dividenden”. Sie kümmert fi nicht Darum, wie Das geliehene Ca⸗ 
pital verwandt wird, ob eine vernünftige Ausficht zun Erfolge vorhanden ift oder 
nicht. Sie giebt ihr Geld und ift ficher, ed wieder zu erlangen auf eine ober Die 
andere Weife. 

Ein anderer fehr woefentlicher Vortheil der Fleineren Unternehmungen (zu einem 
beflimmten Zwed) unter dem Geſichtspunkte des oͤffentlichen Wohles liegt darin, daß 
ihre Actien im Allgemeinen nicht einen ſolchen Anlaß und eine ſolche Verſuchung zum 
Vörſenſpiele bieten, wie Die der größeren Geſellſchaften. Dieſe Actien können ſchon an 
und für ſich in der Regel keinen namhaften Schwankungen unterworfen ſein, da ſie ſich 
auf Unternehmungen beziehen, Die eine wirkliche Exiſtenz und Subſtanz haben, und 
daher fich nicht in fictivem Lichte heute fo und morgen anders darftellen laflen; dann 
werden fehr wenige dieſer Actien überhaupt an die Börfe kommen, obwohl fie in 


‚3% Actie. 


gleichen Maaße veräußerlich find; es wird daher auch bei dem Umfage folcher Actien 
ein „reelleres" Geſchäft obwalten. “ 

Mit anderen Worten. wirkliche reelle probuctive Verwendung zu einem genau bes 
flimmten und begrenzten Zweck. 

Anderenfall8 und in ihrer jeßigen theild ſchwindelhaſten, theils beträgerifchen 
Unbeftimmtheit ift es durchaus zutreffend, wenn Garl Grün (die Gefahren des Banks 
Flebers oder Entwidelung des Eapitalbegriffs, Stuttgart 1857, ©. 65 und 70) bes 
bauptet, „daß die Actie einfach den Proceß bejchleunigt, der und dahin gebradt 
bat, wo wir fleben, daß fie den bisher verborgenen Baarbeftand in die großen Bes 
bälter zieht, wo Die Aufbäufung des Gapitald in wenige Hände aufgeführt wird, 
daß fie Die Action des Individnums töbtet und aus felbftftänpigen Producenten Ra 
rionetten macht, Die Vergoͤtterung der Actie ober der Bankſchwindel ift nicht ber 
Charakter des Jahrhunderts, fondern die Krankheit des Jahrhunderts, die öko⸗ 
nomifche Schwind juht der Verfönlihkeit. Die Collectivfraft, wie fle fich in der Actie 
und im Mobilier aufthut, ift die Anarchie in der Production, ift der Vernichtungsfrieg 
von Goalitionen gegen Inbivinuen, iſt Die organifizte Unmöglichkeit, arbeiten zu Fön 
nen, wenn man arbeiten will, ift ber neuefte Socialismus, nachdem wir all den 
anderen Humbug glücklich verbaut hatten, der die Gefelljchaft Euriven wollte, ohne bie 
Ge zu Eennen, ift abftracte Geldmacherei. (Bergl. übrigens Vanken und Credit 

er.) 

Der gegenwärtige Stand der betreffenden preußifchen Geſetzgebung 
ift Eumz folgender: Dem Allgemeinen Landrecht ift Die Actie nicht unbefannt. Es fprict 
von Actien als geldwertben Papieren beim Darlehn und im Erbrechte. Im $ 12, 
Tit. 2, Thl. 1. fagt es, daß die Actien zum Gapital-Bermögen zu rechnen. ine fon 
flige Begriffs-Beftinmung von „Actie“ enthält e8 eben fo wenig, wie eine Andeutung 
über Entftehung und Rechte einer Actien⸗-Geſellſchaft. Die Gerichts- Praris half ſich 
deshalb in Preußen mit den geſetzlichen Beftimmungen über Soeietäten und erlaubte 
Gefellfchaften, bis der erbkühende Eifenbahn = Verkehr zunachft fir Eifenbahn » Actien- 
Geſellſchaften fpecielle Beftimmungen nothwendig machte. Diefe brachte das Geſet 
über Eiſenbahn⸗Unternehmungen vom 3. November 1838. Dafielbe machte vorweg dad 
Zuftandefommen einer EifenbahnsUnternehmung von der ſtaatlichen Conceſſion abhängig, 
verlieh aber demnächſt der Gefellichaft die Rechte einer Corporation. Sodann traf «8 
verfchiedene fpecielle Beſtimmungen über die Actien und die Verpflichtungen der Actien⸗ 
Zeichner. - 

Neichten aber dieſe Beftimmungen fchon für die Eiſenbahn⸗Geſellſchaften nicht 
bin, fo fehlte es fir Gefellfchaften, die ſich mit Actien= Capitalien zu anderen Unter: 
nehmungen conftituiren wollten, vollends an jedem leitenden Grundſatz. Dieſem Be 
Per follte erft daB Geſetz vom 9. November 1843 (über Actien » Sefellfchaften) 
abbelfen. 

: Daffelbe ftellt in feinem nllgemeinen Theil die landesherrliche Genehmigung: ald 
Borausbedingung an die Spige; hauptfächlich unterliegt einer folchen Genehmigung 
"Das Statut (Geſellſchafts⸗Vertrag), welches gerichtlich oder notariell aufgenommen fein 
und nothmendig beftimmte im Gefeg einzeln aufgeführte Mequiflte enthalten muß. Dahin 
gehört unter Anderem die Benennung des Gegenftandes des Unternehmens, Megulirung 
des Stimmrechts. Demnächft werden in einer Neihe von Paragraphen die Rechtsver⸗ 
baltnife der Actien⸗Geſellſchaften und Actionäre zum Theil in Wiederholung, zum Theil 
in Erweiterung und Aenderung der Beflimmungen des Gefehed vom 3, November 1838 
normirt. Danach ift die ActiensGefellfchaft eine unbenannte privilegirte Geſellſchaft mit 
Corporations⸗Rechten, welche Actien au porteur oder auf beftimmte Perfonen mit bes 
fonder8 auseinander gehaltenen gefeglichen Folgen ausgeben darf, und deren echte und 
Pflichten nach dem Statut: und in subsidium nad den gefeglichen DVorfchriften über 
Geſellſchafts⸗Verträge beuribeilt werben. 

Ein weiterer Abfchnitt behandelt die Nechte und Pflichten des Vorſtandes. Der 
jelbe bildet ein Eollegium und feine Mitglieder müſſen öffentlich befannt gemacht werben. 
Er ift kraft des Gefehes General: und Special-Bevollmächtigter der Geſellſchaft, ex führt 
Daher ihre Proceſſe, leiftet ihre Eide, verflichtet Die Gefellfchaft Durch Wechfel u. |. w. 











Activa, Activhandel. 803 


Schließlich find im Geſetze Die Fälle der Auflöfung einer Aetin-Gefellfchaft aufs 
gezählt. ES find Died: Zurüdziehung der Conceffion, Aufhebung wegen Mißbrauchs 
bes Privilegii durch Richterfpruch, Concurd u. f. w. - 

Bemerkenswerth ift noch Die Anordnung des 6 5, wonach die Gefellfchaft Feine 
Firma annehmen darf, welche die Namen der Betheiligten ausdrückt, vielmehr nach dem 
Gegenftande, für welchen ſie errichtet worden, zu benennen ift. 

Uebrigens galt e8 nach beiden Geſetzen für völlig erlaubt, jchon vor der Con⸗ 
cefflonieung des Actien⸗Unternehmens und auch vor Zuficherung derjelben Actien⸗Zeich⸗ 
nungen zu eröffnen und die darüber auögegebenen Promefien (Quittungäbogen) in den 
Verkehr zu bringen. Nachdem aber fchon im. Binifterial-Refeript vom 14. Juni 1837 
(Rinifterial- Blatt der inneren Bermaltung S. 420) vor den etwaigen aus einem folchen 
Verkehr dem Publicum erwachfenden Täuſchungen gewarnt worden, erging am 24. Mai 
1844 ein directes Verbots⸗Geſetz, nach welchem Gelbbuße und Gewinns-Confiscation 
Denjenigen treffen foll, der ohne ausdrückliche Genehmigung bed Finanz⸗Miniſters für 
ein Eifenbahnslinternehmen ActiensBeichnungen eröffnet und alle aber Quittungs⸗Vogen 
aus folchen unreifen Unternehmungen abgefchloffenen Berträge, fofern fle nicht Zug um 
Zug erfüllt werben, für nichtig gelten follen. 

Verträge über anusländifche auch voll eingezahlie Actien waren ſchon durch Das 
obenerwähnte Geſetz vom 13. Mai 1840, falls fte nicht von beiden Theilen Zug um 
Zug erfüllt worden, für nichtig erklärt. 

Activa und Passiva. So nennt man die pofltiven und negativen Beftanbtbeile 
eined Bermögend. Das Uebergewicht des einen oder anderen Elements entſcheidet die 
Frage der Suffizienz. In dieſem Gegenfak umfaflen die Activa alle die zum Ders 
mögen einer Perſon gehörigen Sachen und Rechte, dern Werth eine Schaͤtzung nach 
Geb zuläßt. Activum im engeren Sinne gilt als Bezeichnung für eine jede aus⸗ 
ſchend, Borberung. (Actiomaffe, Aetivvolumen, f. Concurs.) 

Activhandel, im Gegenfa zum Paſſivhandel, bedeutet den Handel eined Volkes, 
das denfelben jelöftftändig betreibt, dergeftalt, daß es bei Fremden ald Käufer und 
Berfäufer erfcheint, die eigenen MWaaren nad fremden Rändern erportirt und dagegen 
die Waaren fremder Länder in das eigene importirt. — Es ift vielfach, jedoch irrthüm⸗ 
lich behauptet worden: es fünne fein Volk allein Activhandel treiben; daß biefe Annahme 
irrig, bemeifen biftorifche Bräcevenzfälfe. Wir erwähnen beifpieldweife die alten Phoö⸗ 
nizier, deren Tauſchhandel nach der Oft- und Norbfee den beflen Beleg dafür giebt, 
daß eine Nation ganz ausfchließlich den Activhandel betreiben könne. In neuerer Zeit 
freilich Haben die gegen früher wohlfeilen, fehnellen und ficheren Gemmunicationdmittel, 
im Berein mit der faft überall regen Speculationsluft es bewirkt, daß beinahe kein 
Land den Activhandel oder den Paſſivhandel allein betreibt, vielmehr find bei den 
meiften Handel treibenden Nationen beide innig verbunden. Preußen z. B. treibt 
Paſſivhandel, wenn ihm Rußland die Reichthümer feiner Felder und Wülder, Holz und 
Getreide, die Weichjel herunterſendet; es treibt indeß mit denſelben Producten, deren 
es felbft nicht bebarf, fofort wieder Activhandel, wenn es biefelden aus feinen Oſtſee⸗ 
bäfen nach denjenigen Staaten ſendet, die Begehr dafür haben. Daß ed indeß noch 
beute Länder giebt, die nur Activhandel treiben, bemeift Norwegen, bad Durch feine 
Lage und die Schwierigkeit jeiner Küftenfchifffahrt auf denfelben angewieien if. In 
Bahrzeugen, deren Bauart, ihrem Zweck entfprechend, von der anderer Schiffe abweicht, 
verfendet dieſes Land alljährlich die Ergebnifle feines bedeutenden Fiſchfangs: Heringe, 
Thran ꝛc., importirt dagegen bie Erzeugniſſe fremder Ränder: Colonialwaaren, Getreide, 
Manufacte. Aeltere Schriftiteller verbinden mit Actiohandel einen Begriff, der mit 
demfelben durchaus Nichts zu ſchaffen hat; fie nennen nämlich Activhandel einen folchen, 
deſſen Reſultat gewinnbringend fei und fomit in ber Bilance einer Handlung bie 
Activa derielben vermehre. Joh. G. Büſch (in: Kleine Schriften über die Handlung), 
ein um die Handelswiſſenſchaft überaus verdienter Schriftfteller, wieß zuerft das Irrige 
diefer Annahme nach und präcifirte den Begriff des Activhandels in der gegebenen 
Weile. Es mag wohl von diefer irrigen Annahme herrühren, daß Staatö-Defonomen 
und Handelsſchriftſteller im vorigen Jahrhundert nicht genug gegen den Paſſtivhandel 
eifern Fonnten und fid in Vorſchlaͤgen überboten, wis ber Bafftohandel eines Landes 


304 | | Aectuarius. 


in Activhandel zn verwandeln ſei. Das Müfige einer ſolchen Bemühung iſt leicht 
erklärlich, da eine Nation beim Paſſivhandel fich fehr wohl befinden kann. Der Gewinn 
deſſelben ift ein auf alle Bälle geflcherter, während der Activhandel allerbings die 
Chancen eined weit größeren Gewinnes mit fich führt, allein auch Die Möglichkeit eines 
Verluſtes durchaus nicht ausſchließt. 

Actuarind war bei den Römern ein mit verfchiedenen gefchäftlichen Functionen 
betrauter Secretär oder fonftiger HSausofficiant, dem u. U. auch die Aufbewahrung von 
Urkunden oblag. Die Bedeutung von „erichtöfchreiber" bat das Wort erft im Bit 
telalter erhalten. Der älteren deutſchen Gerichtöverfaflung ift das Inftitut eines Ger 
richtöfchreibers völlig fremd. Zwar jchreiben ſchon die alten Volfärechte vor, daß über 
die Procepverbandlungen und das Urtheil eine Urkunde (charta judicii, notilia, testa- 
mentum) aufgenommen werben follte. Die Beweiskraft diefer Aufzeichnungen lag aber 
nicht in der Aufzeichnung felber, fondern bing immer noch von der Glaubwürdigkeit 
der Zeugen ab, deren Außfagen die Verhandlung bildeten. Die PBerfon des Schreibers 
war Daher eine gleichgültige, auf die fo wenig Gewicht gelegt wurde, daß zumeilen fein 
Name ungenannt blieb. Nebenbei gab es allervings ſchon in jener frühen Zeit Schreis 
ber von Beruf (notarii, cancellarii, scribae), und Karl der Große verordnete, daß 
Grafen, Biſchoͤfe und Aebte jolche haben und die missi fie auswählen follten, aber Die 
Theilnahme diejer Perfonen an gerichtlichen Handlungen war und blieb eine nur zu 
fällige, nicht gebotene. Erft mit Aufnahme der fremden Rechte trat Hierin eine Aende⸗ 
rung ein. Ein Decretale Bapft Innocenz II. hatte (a. 1216) angeoronet, daß über 
alle gerichtlichen Proceßacte von einer öffentlichen Berton, oder wenn eine folche nicht 
zu haben fei, von zwei glaubwürbigen Männern ein Protocoll aufgenommen, und wenn 
Streitigkeiten über das Verfahren entfländen, nur durch Died ProtocoH die Wahrheit 
bewiefen werden ſolle. Hierdurch wurde zuerft den Aufzeichnungen über das im Pro 
ceß Verhandelte eine überwiegende Wichtigkeit beigelegt, und es folgte mit Nothwen⸗ 
digkeit darand, daß man den Auftrag, folche Aufzeichnungen vorzunehmen, nauıentlid 
auch die Yührung der Gerichtsbücher, welche jeßt nicht mehr bloße Urtelöfällungen ent 
bielten, nur erprobten und zuverläffigen Männern anvertrauen konnte. So entitand 
zuerfi für die geiftlichen, fpäter auch für die weltlichen Gerichte das Amt des Gr 
richtöfchreiberd, der im 15. Jahrhundert als eine gerichtliche Nebenperfon vorkommt, 
deren man zwar entratben Eonnte, deren Zuziehung jedoch üblich war. So fagt Eime 
rih in den Frankenberger Gewohnheiten (bei Schminde, Monumenta Hassiaca Il. 
p. 714), „ein Schryber pleigt oich bym Gericht zu fyn, der Anclage, Antwurt, Ortil 
und ale Gerichtshandel fchribe. Der ift aber nicht von noden.“ Erſt die Ride 
gefeßgebung des 16. Jahrhunderts führte für den Civilproce vor dem Reichskammer⸗ 
gericht fchriftliches Verfahren und ftändige Gerichtöfchreiber ein. Die Territorialgerichte 
folgten dem Vorbilde. Die bedeutendere Rolle wird aber dem Gerichtäfchreiber durd 
die Carolina (1532) im peinlichen Proceß zu Theil. Diefe beftimmte, dag an allen 
peinlihen Gerichten Richter, Urtheiler und Gerichtöfchreiber geſetzt werben follten, bie 
legteren mit der eiblichen Verpflichtung, was verhandelt werde, getreulich aufzufchrei- 
ben, zu verwahren, und, fo es Noth thue, zu verlefen, und bezeichnete als Zweck aus⸗ 
drücklich: „Damit auf jollich förmlich gründtliche Befchreibung flattlich und ficherlich 
geurtheilt werben möge." Aus diefen gefchichtlichen Momenten bat fi das Actuariat 
gebildet, ein Amt, deſſen von den Barticularrechten häufig überfehene Wichtigkeit noch 
heute am fchärfiten in jeiner criminalprocefiualifchen Thätigfeit hervortitt. Die Functio⸗ 
nen eined Actuars find übrigens ſehr umfaflend. Sie beftehen eines Theiles barin, 
daß. er alle richterlihen Verfügungen und Communicate, weldye demnähft vom Geridt 
als folchem auszufertigen find, fehreibt, oder durch feine Gehülfen (Eopiften, Canzliften) 
ſchreiben Iäßt, fo wie dasjenige, was von Gerichtd wegen vorzulefen ift, vorlieft, an 
deren Theild in der Beichaffung eines auf eigener Wahrnehmung beruhenden urkund- 
lichen Zeugniſſes über alle gerichtlichen Vorgänge, über die Handlungen des Richter 
ſowohl ald der Parteien, in dem Sammeln, Ordnen und Aufbewahren diefer Auf 
zeichnungen mit den bazu gehörigen Eingaben und Berfügungen, d. i. der Acten, 
und in ber Beglaubigung der abfchriftlichen Mittheilungen, welche vom Richter aus 
den Arten gegeben werden. In jener erften Nichtung ift der Artuar durchaus vom 


* 


Aclum ut supra. Adalbert. 305 


Nichter abhängig, feine Ihätigkeit eine rein mechanifche, in der andern Dagegen bat 
er eine felbitfländige Aufgabe, die ihn zum öffentlichen Neamten und zum unentbehr- 
lichen Gliede des Berichts macht. Auf dieſe Seite feines Amtes bezieht ſich nament⸗ 
lich die ihm durch den Amtseid auferlegte Pflicht der Wahrbaftigfeit, auf deren Grund 
feinen Bunctionen vom Staat Öffentliher Glaube (publica fides) beigelegt if. In 
manchen Ländern haben Die Actuare zugleich die Befugniffe der Notare. Ohne Notare 
zu fein, dürfen fie, von den Interefienten dazu aufgefordert, über Nechtögefchäfte, die 
vor ihren Augen abgefchlojfen werden, und andere Vorgänge des Rechtölebens Urkun⸗ 
den aufnehmen, welche, joweit fie die gemachten eigenen Wahrnehmungen documentiren, 
ein gegen Jedermann brauchbares Beweismittel bilden. Die preußifchen Proceford- 
nungen geben dem Actuar da, wo er ald Protocollführer auftritt, Stellung und Namen 
einer zweiten Gerichtöperfon und machen feine Mitwirfung, wo fie vorgefchrieben ift, 
zu einer fo wefentlichen, daß der Nechtöbeftand der Verhandlung davon abhängt. Lei— 
der entjpricht aber die Vorbildung dieſer Beanıten wenig den Anforderungen, welche 
die Natur der von ihnen vorzunehmenden Amtshandlungen von felber aufftellt. Koch, 
deffen Urtheil in dieſer Beziehung gewiß competent zu nennen, fagt darüber ſehr rich- 
tig (preuß. Eivilproceh $ 55): „Die Praris, veranlaßt durch das Erſparungsſyſtem, 
macht dergleichen rechtöfundige und zuverläffige GerichtSbeamte (sc. wie das Gefep ſie 
zum Actuariat eigentlich fordert) entbehrlich, man behilft fich mit jungen, im Schreib» 
fach geübten Leuten, denen zwar eine Art von Eramen abgenommen wird, die jedoch, 
wenigftend zum großen Theil unzuverläffig find, denn es genügt zur Qualification, 
dag ſie ein Protocol fchreiben Eönnen und allgemeine Kenntniß von Rechtöverbälts 
niffen haben.” 

Aclam at supra, abgekürzt a. u. s., bedeutet „gefchehen wie oben.” Diefer 
Formel bedient man fich bei der Aufnahme amtlicher Protokolle, un am Schluß der- 
jelbden Drt, Zeit, Behörde und Eontinuität des Altes durch Verweiſung auf eine frühere 
Angabe zu bezeichnen, Die fich gewöhnlich im Eingange des Inftrumentes findet. Iſt 
3. B. ein gerichtliche Protokoll mit den Worten begonnen: „Gefcheben Berlin am 1. 
Mai 1858, Fönigl. preuß. Stadtgericht”, fo werden unmittelbar vor der Unterſchrift 
der unterzeichneten Gerichtö-Perfon die Worte a. u. s. eingefchoben, welche ausdruͤcken, 
dag an demfelben Tage und Orte, wo die Verhandlung flattgefunden, auch Beginn 
und Schluß des Protofoll3 continuirlich vor fih gegangen fel. Wird daher eine Vers 
bandlung abgebrochen, um zu einer fpäteren Tagesſtunde fortgefeßt zu werben, fo wird 
gleichwohl das Protofoll mit a. u. s. gefchloffen und der Wiederbeginn der Verhandlung 
mit den Worten „continuatum eodem“ eingeleitet. 

Adalbert, von 1043—1072 Erzbifchof von Bremen und Bifchof von Hamburg; 
eine der hervorragendſten und Durch fein Wirken und Streben auf alle Zeiten merfwür- 
digften Geſtalten der älteren Deutfchen Kirchen- und Neichögefchichte. Entfproffen einem - 
mächtigen fächftfchen Gefchlechte, das ſich dem Intereffe des fraͤnkiſchen Königshaufes mit 
Huger Berechnung gewidmet hatte, wurde Adalbert durch Die Gunft Konrad IT. zuerft 
zum Probft von Halberftadt und dann, noch immer ziemlich jung, zum Erzbifchof von 
Bremen erhoben. Kein anderer Stuhl eröffnete damald durch feine Lage und Umflände 
eine fo weite Ausſicht für Firchliche und politifche Thätigkeit, als der vereinigte Bremen» 
Samburgifche, und fein Prälat war geeigneter, eine folche Gelegenheit auszubeuten, 
als Adalbert, der mit hohem Ehrgeize alle zur Befriedigung deffelben erforderlichen 
Eigenſchaften paarte: ein Mann von überlegener Klugheit und Beredtfamkeit, dabei von 
impofanter Geftalt und freigebig, aber auch rechtzeitigen Gewaltmaßregeln nicht abge= 
neigt; erfüllt von den Anfprüchen feiner Würde, fromm, felbft adcetifch im Sinne des 
Zeitalterd, aber ohne möndhifche Morofität, Iebensfroh, prachtliebend, milde gegen Unter- 
gebene. — Wie die Biſchöfe im 11. Jahrhundert überall die Verbündeten der Eaiferlichen 
Gewalt gegen die großen Stammesherzoge waren, fo hatte der Bremifche Erzbifchof 
zunächft Die Aufgabe, in dem für die Salifche Dynaſtie befonders ſchwierigen Sachfen- 
lande das Gegengewicht gegen den zur Selbftftändigfeit aufftrebenden Nationalherzog 
aus dem Billungfhen Haufe zu bilden. Heinrich IM., der die Herzogthümer alle 
auf jeine Bamilie übertragen wollte, fand an Adalbert den wirkfamften Helfer. Sein 
Erzbisthum wurd bedeutend vergrößert, er war unter diefer Regierung der einfluß- 


Wagener, Staats u. Gefellih.-Ler. 1. 20 


⸗ 


7 


300 Adalberi. 


reichſte Reichsfürſt, eingeweiht und ſorglich betheiligt an allen kaiſerlichen Planen, 
zumal gegen die trotzigen Sachſen. Noch wichtiger und verhängnißvoller ward ſeine 
Stellung zu dem jungen Heinrich IV. Anfangs als Rathgeber der Kaiſerin-Mutter, 
dann zugleih mit Hanno von Köln, bald aber allein, ald Vormund und gleichfam als 
Reichsverweſer, endlich als Minifter und Vertrauensmann des mündig erflärten Königs, 
hat er bis zum Ighre 1066 die Neichögefchäfte geführt und die politiiche Richtung 
Heinrichs IV. beitimmt, ohne ihm vie Charafterfeftigkeit feines Vaters anerzieben 
zu fünnen, oder vielleicht zu wollen. Zwar wurde Adalbert nun durch die gegneri« 
chen Großen geflürzt und vom Hofe vertrieben, aber nachdem er 1069 wieder zu 
feinem alten Einfluffe gelangt war, hat er den Knoten vollends gefchürzt, mit welchem 
das Geſchick Heinrichs IV. und des deutfchen Königthums verfnüpft war. Adalbert 
ftarb 1072 im Augenblick, da der Krieg zwifchen Heinrich und den Sachfen audbrad 
und die Kataftrophe begann, in der feine Tihätigkeit erfolgreicher ala je hätte wer 
den koͤnnen. \ 

Auch in Bezug auf die Firchlichen Angelegenheiten war Adalbert's Streben im 
engften Zufammenhange mit den Entwürfen des größten der Salifchen Kaifer, Heinrich Ill. 
Bremen-Hamburg, zu deſſen Miffionsfprengel feit Ansgar's Zeiten der ganze ſlawiſche 
und ffandinavifche Norden gehörte, follte zu einer von Rom möglihft unabhängigen 
Metropole, zu einen eigenen Patriarchat über Die Kirchen ded Nordens, welche gerade 
damald der fefteren Organijation beburften, erhoben werden. Zwölf Bisthüner, aus 
den nächftgelegenen norbfächftichen und flamifchen Gebieten gebildet, follten den un 
mittelbaren Erzfprengel Bremend ausmachen und die neu zu errichtenden Erzbigthümer 
des Nordens mit ihren Suffraganen demfelben unterworfen werden. Kaifer Heinrich 
verfolgte bei dieſem Plane den doppelten Zweck, die mächtig heranwachſende kirchliche 
Alleinherrfchaft des Papftes (Die natürliche Bundesgenoffin der fürftlichen Oppofttion 
im Neiche) zu befchränfen und den deutjchen Einfluß auf den Norden dauernd zu bes 
gründen. Eine Zeit Yang Tieß fich Alles zum Gelingen dieſes Gedanfend an. Die 
damaligen vom Kaifer geſetzten deutſchen Päpſte Damafus II., Clemens I1., Xeo IX, 
welcher Adalbert zum päpftlichen Legaten für den Norden ernannte, Victor II, ſelbſt 
noch Alexander II. waren nicht in der Rage, offenen Widerſtand zu leiſten, fle mußten 
im Gegentheil durch neue Privilegien dem Bremer Erzbiſchof behülflich fein. Pie 
Verhandlungen, die Adalbert felbft mit dem Könige Swen von Dänemarf führt, 
hatten den beſten Grfolg, der große Slawenfürſt Gottſchalk förderte feine Wünſche 
aud religiöfem Eifer und aus politifcher Klugheit, da der Bremifche Erzbifchof fein 
befter Bundesgenoffe gegenüber den fächllfchen Herzogen war. Selbſt England hoffte 


'nan in. dies neue Kirchenfuftem bineinziehen zu Fönnen. Schon fuchte des Ep 
biſchofs Prachtliebe und Bauluft das Fleine Bremen auch äußerlich zu der Würde ein 


PBatriarchalftabt, eines zweiten Noms zu erheben. Gefandtfchaften der Fürften und 
Völker des Nordens, bis aus Island, Grönland und den Orkaden trafen dort ein, 
um fich Mifflonare auszubitten. Die von Brenien ausgehende Tirchliche Thaͤtigkeit um 
faßte wirklich das ganze Nordeuropa. Nach Kaifer Heinrichs III. Tode ward indeſſen 
die förmliche Aufrichtung des Patriarchats in die Ferne gerüdt und Adalbert zu fer 
in die endlofen Schwierigkeiten der politifchen Gefchäfte verwidelt, als daß er die, 
der größten Kraft jchon an fich allzu hohe Ziel hätte erreichen können. Seine Nach— 
folger haben daran ſchwerlich mehr gedacht. Die Zeit zu ſolchen Firchlichen Ausbil 
dungen war damals Yängft vorüber; aber Adalbert von Bremen hat das Verdienſt, 
den legten Moment der wahrfcheinlichen Möglichkeit benutzt und einen groß angelegten 
Berfuch zur Errichtung eined 6. Patriarchatd gemacht zu haben, deſſen Gelingen bie 
nun fofort mit Gregor VII. Leginnende höchſte Ausbildung des Papalregiments vielleicht 
auch für den Decident unmöglich gemacht haben würde. 


Adalbert, Prinz von Preußen. Prinz Friedrich Wilhelm Adalbert von Preußen | 
wurde am 29. October 1811 auf dem alten KHobenzollernfchloffe zu Köln an ber 


Spree, dem föniglichen Schloffe zu Berlin, geboren. Seine Aeltern waren Prinz 


Wilhelm von Preußen, König Friedrich Wilhelm II. jüngfter Sohn und die Prinzeffin - 


Maria Anna von Preußen, geb. PBrinzeffin von Heffen- Homburg. Prinz Wilhelm, 
einer der ruhmreichften Reiter⸗Feldherren des Befreiungskrieges und bie Prinzeſſin 


— 


— 








Adalbert. 307 


Maria Anna, eine der edelften Frauen ihrer Zeit, Beide begeiftert für die Erhebung 
des Baterlandes, bildeten. den Mittelpunkt eines großen patriotifchen Kreiſes. In folchen 
Umgebungen verflofien des Prinzen Adalbert erfte Jugendjahre, in denen feine ganze 
Art zu fühlen und zu denken frühe jchon die beſtimmte Nichtung empfing. Die erſte 
Grziehung des Prinzen leitete, neben dem Vater und der Mutter, der Rittmeiſter im 
Generalſtabe, Graf von Egloffflein. Mit dem zehnten Jahre erhielt der Prinz ben 
bohen Drden vom Schwarzen Adler und trat ald Secondeskieutenant bei dem zweiten 
Garde Regiment zu Fuß ein. Zwölf Jahre diente der Prinz in biefem Regiment, 
wurde 1833 Major und trat zur Gavallerie über, in bdemfelben Regiment der. Eönig- 
lichen Gardes du corps dienend, bei dem einft fein Vater auch geftanden. 1834 
wurde ber Prinz der Artillerie aggregirt und 1838 zum Oberſten ernannt. Oberſt⸗ 
Lieutenant werden nach dem Herfonmen die Prinzen ded hoben Füniglichen Hauſes 
nicht, fie avanciren vom Major gleich zum Oberft, man fagt, weil König Friedrich 
Wilhelm 1. über den damaligen Kronprinzen ald „Oberfl-Lieutenant Brig” habe Stand» 
vecht halten laffen. Am 22. Auguft 1840 wurde der Prinz General-Major und folgte 
1843 feinem Better, dem Prinzen Auguft, in der bedeutenden Stelle als erfter General- 
Infperteur der Artillerie. Am 31. März 1847 erfolgte feine Ernennung zum General⸗ 
Lieutenant. 

Während dieſer Zeit hatte der Prinz größere Reifen gemacht, 1826 nach Hol⸗ 
land, 1832 nach England und Schottland, 1834 nach Petersburg und Moskau, 1835 
war er bei der großen Heerſchau in Kaliſch, 1836 war er in der Schweiz, 1837 bei 
den merkwürdigen Mandvern von: Wosneſensk; von dort reiſte er über Odeſſa nad 
der Krim, dann nach Konftantinopel, Athen, Korfu und Venedig. Im Jahre 1842 
endlich unternahm er feine große Neife nach dem Innern von Brafllin, von der er 
1843 über Liffaben und London zurückkehrte. Diefe Reife wurde auch für die Wiſſen⸗ 
ſchaft eine Duelle mannichfacher Bereicherung. Seit dem Jahte 1848 war der Prinz 
befonders thätig bei der Schöpfung einer preußifchen Kriegsmarine, durch reiche: Er⸗ 
fahrungen und ernfte Studien zu folcher Thätigkeit ganz beſonders befaͤhigt. Man 
fann fagen, daß für die preußifche Wehrbarmachung zur Sec bisher nichts gejcheben 
if, woran Brinz Adalbert nicht wefentlichen Antheil genommen. Se. Maj. der König 
ernannten den Prinzen zunächft zum Ober » Befehlähaber über fänmtliche audgerüftete 
Kriegöfahrzeuge, nach der definitiven Feftftelung des Marineweſens aber am 30. März 
1854 zum Admiral der preußifchen Küften und Ober⸗Befehlshaber ber Marine. Seit: 
dem flieht der Prinz an der Spike des Seewefend und if mit größeflem f&ifer für 
befien Hebung und Zörverung bemüht; Alles, was die Marine betrifft, ift fo, innig mit 
der Perfönlichkeit dieſes Prinzen verknüpft, daß derfelbe im gemühnlichen Leben kurzweg 
der Prinz» Admiral genannt wird. Einen großen Theil des Jahres bringt ber Prinz 
zur See und in den Hafenpläpen zu. Im Sonmer 1856 machte der Prinz >» Anmiral 
auf der Dämpfcorvette „Danzig“, Gapitain Prinz Wilhelm von Hefien - Philippsthal, 
eine Uebungdfahrt nach dem Mittelmeer. Die „Danzig” Hatte in Gibraltar Kohlen 
eingenommen, der Prinz» Admiral wollte an der Küfte des Riff den Punkt bejichtigen, 
an weldem einige Jahre zuvor eine preußijche Handelsbrigg von den Wiffpiraten ge- 
nommen worden war. Gr wurde bei diefem linternehmen von den Miffpiraten bemerkt, 
erfi- mit Friedenszeichen begrüßt, dann aber plößlich befchoflen. Der Prinz » Admiral 
glaubte der Ehre feiner Flagge für diefe Beleidigung eine Genugthuung verfchaffen zu 
müflen. Er landete mit 65 Mann, flürmte, ein echter Hohenzoller, an der Spige Dies 
jer Kleinen Schaar die von den Biraten befehte Höhe und brachte ihnen eine blutige 
Schlappe bei. Der Prinz Apmiral ſelbſt wurde, jedoch nicht gefährlich, bleifirt; er er⸗ 
bielt eine Kugel in den rechten Schenkel. Dur Bombemwürfe von der „Danzig“ 
aus dedte der Prinz von Heflen - Philippsthal den Rückzug, der endlich vor der ſich 
ſtets vergrößernden Uebermacht der Feinde angetreten werden mußte. Leider koſtete 
Diefe® Gefecht auch der tapferen Schaar einige Todte und Verwundete. Man hat den 
Ungriff des Prinzen tadeln wollen, aber gewiß mit Unrecht; eine junge Marine darf 
weniger als jede andere dulden, und im preußifchen Volk war nur eine Stimme, die 
den Angriff billigte. Am Liebften bätte man den Prinzen mit größeren Streitkräften 
nach dem Miff gefchict, um der Marine Raum zu Thaten zu verfchaffen, die politifchen 

20 * 


4 


308 Adam. 





Berhältniffe hinderten daB weitere Vorgehen. Der jugendliche Sohn des Prinzen, Herr 


von Barnin (der Prinz iſt in morganatifcher Ehe mit einer Frau von Barnim vermaͤhlt), 
welcher der Affaire beimohnte, bat die „Danzig“ im Feuer gezeichnet; das Bild ift im 
Farbendruck erfchienen. 

Adam. Diefer (bebräifche) Name des erften Menfchen ift mit dem, welcher die 
Erde (Adamah) im Urterte des alten Teftamentes bezeichnet, von gleidjer Wurzel. Adam 
bedeutet der Nötbliche, der Bräunliche. Die Schoͤpfungs-Geſchichte der Bibel "giebt 
über feinen Urfprung zwei Darftellungen (1. Mof. 1, 26 flgd. — 1. Mof. 2,7 flgv.). 
„Die zweite Schöpfungs - Gefchichte ift weder Zufaß noch Ergänzung zu der vother⸗ 
gehenden, am wenigften ihre Wiederholung. Sie ift die bildliche Darſteltung der 
Schöpfung von Mittelpunkte des emigen Gedankens aus. Alfo müffen in ihr Pflanzen 
und Thiere nach den Menfchen angeführt werden, wie in der erften vor ihm“; giebt 
ſelbſt Bunfen, der neuefte Bibelerklärer, zur Rettung der Einheit der Schöpfungss 
Geſchichte zu. | 

Adam ward unmittelbar durch Die Allmacht Gottes erfchaffen,, „nach dem Bilde 
und der Aehnlichkeit Gottes", wie der Grundtert wörtlich (1. Moſ. 1, 26) fagt, „ein 
Bild, das uns gleich fei”, wie Luther überfegt, und zwar bildete ihn Gott „auß echtem 
Erdenkloß und blies ihm ein den Tebendigen Odem in feine Nafe. Und alſo ward 
der Menfch eine lebendige Seele" (1. Mof. 2, 7.). Es ergiebt ſich daraus eine 
Miſchung des Menfchen ans göttlichen und irdiſchem Wefen, ohne daß letzteres, ebenfalls 
von Gott gefchaffen und von feinem Fluche noch nicht getroffen, als ein Gegenſatz zum 
Göttlihen gebacht werden dürfte Weil nach dem Bilde Gottes, ift der'Menfch voll 
kommen erfchaffen, aber es geht die® Ebenbiln zum Theil durch den Sündenfall ver 
loren. Die bibliihe Schöpfungd » Gefchichte charakfterifirt uns den Menfchen vor dem 
Sündenfalle dahin, daß er ergänzungsbedürftig („es ift nicht gut, daß der Menſch allein 
fei"), aber ohne das Bemußtfein der Sünde („und fehämten fich nicht”), mit der Her 
fchaft über Die ganze Erde begabt („er gab jeglichem Vieh feinen Namen*), unſterblich 
und in ſeinem Entfchluß frei gemefen fei. Auf Grund diefer Breiheit des Willens geſchieht 
der urfprüngliche Abfall des Menſchen, Evas, dann Adams, von Gott durch änfer: 
Verführnng und inneres Gelüſt, welche beiden zufammienwirkenden Urſachen in ihnen 


\Miderftreben gegen den göttlichen Willen und Plan und dann ein Vebertreten bei 


göttlichen Gebotes hervorrufen. Die Folge ift, daß Bott die Macht des Renſchen 
vermindert („da ließ Ihn Bott der Herr aus dem Garten Eden"), die Unterwürfigkeit 
der Natur gegen ihn aufbebt („Dornen und Difteln foll dir der Ader tragen” — „im 
Schweiß deines Angefichts follft du dein Brot effen”) und den Menfchen ein Ziel fein 
Tage feßt. Die Größe des Sündenfalls erhellt aus dieſer Größe der Strafe. 

Da aber ferner in Adam ver Keim und die Anlage ded ganzen Renſchen⸗ 
gefchlechted enthalten ift, fo zieht er mit ſich das ganze Gefthlecht zum Wider⸗ 
fireben gegen Gottes Willen, zur Beindfchaft Gottes herab, und bie ganze Schöpfung 
wird durch ihn entweiht. Die Größe der Erlöfungsthat Gottes, der feinen eigenen 
Sohn für die Menfchheit dabingiebt, Läßt anf den Umfang der Entfremdung bed 
Menfchen von Gott einen weiteren Nüdfchluß machen, und die Apoftel machen die 
fen Rückſchluß mit befonderer Hervorhebung, indem ſie eine - gänzliche Verderbniß 
des Menfchen predigen und ausfchlieplich aus einer unendlichen Gnade Gottes die 
Erlöfung deſſelben ableiten. Die evangelifche Kirche, melche in dieſem Stüde de 
apoftolifchen Lehre (in der Mechtfertigung durch den Glauben allein des zur Wit 
wirkung am GErlöfungswerfe gänzlich unfähigen Menfchen) ihren Mittelpunkt findet, 
nimmt daraus Anlaß, fh auch gegen die Lehre der Fatholifchen Kirche von ber 
Ebenbildlichkeit des Menſchen und vom Sündenfall zu erflären. Jene ehrt nämlid: 
Adam ſei gefchaffen mit einer zwifchen Gutem und Boͤſem indifferenten Vernunft und Frei⸗ 
heit (in paris naluralibus), wozu gleich bei der Schöpfiing ald „übetnatirliches Geſchenk 
die urfprüngliche Gerechtigkeit und Unfterblichfeit gekommen ſeien. Letzteres Geſchenk 
fei durch den Sündenfall verloren gegangen, Bernunft und freier Wille ihm aber geblieben, 
fo daß nicht alle menfchlihen Werke, die vor der Erlöfung gefchehen find, Sünden 
gewefen wären. (Conc. Trid. Sess. VI, ec. VI.) Nach: der Lehre der evangeliſchen 
Kirche dagegen iſt dad Ebenbild Gottes: dem erſten Menfchen durchaus anerfchäffen 


— — — — — — — — — —— — —— — ————— — 


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Adam. Adamello⸗Gruppe. 309 


N ' 
(naturalis), jedoch nicht als Wefen, fondern nur als fortpflanzungsfähige Eigenfchaft der 
nenfchlichen Natur (accidentalis und propagabilis), und es ift mit dem Sündenfall gänzlich 
verloren gegangen. Die evangelijche Kirchenlehre giebt demnach) dem erſten Menfchen 
vor dem Sündenfalle eine viel erhabenere Stellung und fegt damit ein menjchliches 
Ideal, das für das ganze Leben und Streben in der evangelifchen Welt, in Kirche und 
Staat und Gefellichaft gleicher Weile, eine große praftifche Bedeutung erhaͤlt. 

‚Die großartige Einfachheit der biblifchen Ueberlieferung genügte den Philoſophen 
vielfach nicht. Sie überfahen dabei zunächft den merfwürbigen Umſtand, daß in den 
esften Sagen der andern alten Völfer deutliche Anklänge dieſer hebräifchen Schöpfungs= 
Geſchichte fich finden. Zwei tiefe Gedanken liegen derjelben zu Grunde: das Bewußt⸗ 
jein der Einheit des ganzen Menfchengefchlechtes, einer Einheit, die der göttlichen Ein- 
heit entſpricht, ihr nachgebilvet ift, und das Bewußtfein von einem hohen von Gott 
geſetzten Zwecke des Lebens der Menjchheit, einer nach Ihm zurüditrebenden Entwid- 
lung. Beide Gedanken daͤmmern, wenn auch in unbeflimmten Umriflen, 3. B. auch in 
der babylonifchen Ueberlieferung auf. Bel, d. b. der Herr, der Schöpfer des Himmels 
und der Erde, fchnitt fich (fo berichtet Beroſus) das eigene Haupt ab, die Elohim 
aber fingen das herabtriefende Blut auf, mifchten es mit Erde und bildeten den Men- 
fhen, welcher dergeftalt der Vernunft theilhaftig ward. Alle Menfchen redeten nach 
derſelben lieberlieferung eine Sprache, bis ihr Uebermuth fich an ihnen rächte und ſie 
zerfizeute. Aehuliches bei anderen Völkern. Die neueren Philoſophen überfahen die 
Bedeutung der bebräifchen Schöpfungsgefchichte, weil ihnen die Einficht in den Werth 
der Menfchenfeele abhanden gekommen war. Was Kant, der noch ein rabisales 
Böfes im Menſchen anerkannt hatte, nicht gewagt hätte, lehrten neuere Schulen ohne 
Bedenken. ine anerichaffene Heiligkeit fei undenkbar und unter dem göttlichen Eben⸗ 
bilde fünne nur eine Anlage zum Guten verflanden werben. Der Sündenfall und die 
von ihm auögehende Erbjünde, welche der ältere Rationalismus u. A. Eomifcher Weife 
als phyſiſche Folge des Genuſſes von einem Giftbaume erklärt hatte, wird von der 
neueren Speculation zu einen Fortfchritt der Menfchheit erklärt, indem fle den Wider⸗ 
ſpruch Evas und Adams gegen Gott ald dad Symbol eines erſten Actes der menſch⸗ 
licgen Freiheit auffaßt. Daß fol eine Lehre allen Chriſtenthum ein Ende, macht, 
geht ſchon aus dem Worte des Apofteld hervor, der Adam (NRöm. 5, 14) „ein Bild 
defien® nennt, „der zufünftig war,“ und in Chriſto Die volle Herftellung des Ideales, 
Das in dem fündlofen Adam Geftalt gewonnen hatte, erreicht ſieht. 

Adam, Eva, der Sündenfall und die Verftoßung aus dem Paradieje find Sujets 
für die chriſtliche Kunft, wie für die Allegorie und Symbolik in derfelben 
geworden. Als Symbol der. Erbfünde fand die chriftliche Kunft den Apfelbaum für 
geeignet. Das Paradies ward dargeſtellt in den vier allegorifchen Figuren der vier 
Flüfſe des Paradieſes (Pifon, Gihon, Tigris und Euphrat). Adam und Eva werden 
im Paradiefe nadt, mit PBeigenblättern umgürtet, neben den Baum der Erkenntniß 
dargeflellt. Diefe flehenden Figuren kehren auf allen Taufbeden von Mefling und 
Silber im 14. und 15. Jahrhundert wieder. Berner find die Tauffeffel von Stein 
nach dem Typus und. Antitypus mit Kreuz und Baum ver Erkenntniß gefchmüdt. 
Adam und Eva im Zuftand des Paradiefes, oft mit dem Baum der Erfenntniß, were 
den in der üblichen Weile bei den großen gotbifchen Kathedralkirchen im fogenannten 
Paradiefe, der Vorhalle vor dem Haupt-Bortal, abgebildet. Bon der Verdammung 
Adamd und Evad an beginnt dad Werk der Erlöfung, daher Beide in mittelalter 
licher Tracht, Adam Aderbau treibend, und Eva fpinnenn, mit einem Kinde, an dem 
Chore außen dargeftellt werben. Die Erfhaffung der Eva aus der Nippe des Adam 
ift der ſymboliſche und Fünftlerifche Antitypus der Verfündigung Marid. Die Erftere 
ift der Anfang der Sünde, die Letztere Anfang der Erlöfung — Die Kunft fiellt 
Beine nicht felten gegenüber. (Vergl. Otte, Abriß einer kirchlichen Kunft-Archäologie, 
1845.) . 

Adamelle: Gruppe, eine der Kette der Central⸗Alpen angehörige Gruppe hoher 
Berge, unter denen der 11,252 Fuß bohe Berg gleihen Namens der höchfte ift; ſie 
liegt jüblich vom Ortler, trägt die Gletjcher der Vedretta da Mandria und di Sa—⸗ 
viore; in ihr bildet der 6252 Buß hohe Tonale. eine tiefe Einjenfung; gleich den 


310 Abdamiten. Adams, John. 


Ortler⸗Alpen ſcheidet auch dieſe Gruppe die Lombardei von ber gefürſteten Graf⸗— 
ſchaft Tirol. 

Adamiten. Unter ven zahlreichen gnoſtiſchen Secten des 2. und 3. chriſtlichen 
Jahrhunderts find die Adamiten oder Adamianer nur darum erwähnenswerth, weil fie 
die der Richtung gemeinſame Abläugnung eines fittlicden Falles ver Menfchheit zu der 
praktiſchen Conſequenz trieben, die urfprüngliche und unverlorene (oder Doch durch die 
Erkenntniß diefer Wahrheit wiedergemonnene) Unfchuld durch Nadtheit beider Geſchlechter 
bei ſich wiederum berzuftellen. Aus wefentlich gleichen Grundfägen zog eine während 
der huffltifchen Bewegung in Böhmen auftauchende Verzweigung der „Brüder des freien 
Geiſtes“ unter demſelben Namen auch viefelbe fcheußliche Gonfequenz. Wo ration 
liftifche und pantheiftifche Grundgedanken der bezeichneten Art von rohen fleifcheslüfter: 
nen Menfchen ergriffen und mit religiöfer Schwärmerei gemifcht werden, müflen fh 
überall folche und ähnliche Folgen ergeben, wie denn die Kirchengefchichte deren ud 
den verſchiedenſten Zeitaltern und in mannigfach wechfelnden Formen aufzuzeigen bat. 
Die böhmifchen Adamiten wurden durch Johann Zisfa mit Feuer und Schwert vertilgt, 
und gerade die radikalften Huffiten mußten fich beeilen, ihre beſſere Sache von der jener 
Unholde auf8 Entfchiedenfte zu trennen. = 

Adams (John) iſt der Name eines der unternehmenden Männer, welche das 
18. Jahrhundert harakterifiren; denn John Adams ift der Haupturheber der amerifanifchen 
Breibeit, zu der er im Jahre 1765 durch einen einfachen, das Tanonifche und dab 
Beudalrecht betreffenden Artikel in der Boſtoner Zeitung den erften Anftoß gab; er war 
e8, der durch feine Fräftige Entfchiedenheit die Wahl Georg Wafhington’3 zum Ober 
befehlshaber durchfeßte, und er war an der Spite der drei Genoflen Benjamin Franklin, 
John Jay und Henry Lawrence, welche am 30. Noveniber 1782 zu Verfailles die einſt⸗ 
weiligen Artifel des Friedend zwifchen Großbritannien und den abgefallenen Colonien 
fehfoffen, die am 3. September 1783 ebendafelbft zu einem endgültigen Frieden erhoben 
wurden, defien Urkunde Namend des Bongrefied Iohn Adams, der Gefandte im Haag, 
Benjamin Franklin, Gefandter am Hofe zu Verfailles, und John Jay, Gefandter in 
Madrid, und Namens des Mutterlandes David Hartley unterzeichneten. „Der König 
von Großbritannien anerkennt die dreizehn vereinigten Staaten als freie, fouveraine 
und unabhängige Staaten und verzichtet für fi wie für feine Erben und Nachfolger 
auf jeden Anſpruch an die Regierung, dad Eigenthum und die Hoheitörechte diefer 
Staaten." So lautete der erfte Artikel des Vertrages, durch den die Freiheit eine 
jungen Volks flaatsrechtlich feftgeftellt wurde, welches, wiewohl als Theil der Menſch⸗ 
heit noch in der Wiege liegend, doch ſchon jegt, nach Ablauf erſt vom drei Die 
theilen eine® Jahrhunderts, Die unendlich große Bedeutung erwiefen hat, zu ber es 
im‘ Leben der neuen Welt von der Borjehung berufen if. Im Art. 2 beſchrieb 
man genau die Grenzen zwijchen den vereinigten Staaten und den englifchen Be, 
figungen für den ganzen Umfang von Nord- Amerika. Diefe Grenzen beginnen am 
Fluffe des Heiligen Kreuzes, im Norden von Neu Schottland, folgen von da dem Berg 
fannme und fleigen zur Quelle des Connecticut hinab: Sie kreuzen dieſen Fluß un 
ter dem 45. Gr. der Breite, um fich an den Fluß der Irofefen angufchließen. Sie folgen 
den Laufe dieſes ketztern Fluſſes, um durch die Mitte der Seen Ontario, Erie, Hure, 
de8 Obern, des Langen und des Sees der Büfche zu geben, von wo fle an den Rifr 
fiffippi- Fluß gelangen. Weiterhin ift die Mitte dieſes Fluſſes in feinem ganzen Laufe 
bis zum 31. Gr. der Breite die Grenze, die dann gerade gegen Morgen an den Fluß 
Apalachieola over Catahouche gebt, dem Laufe diefes Fluffes bis zu feiner Vereinigung 
mit dem Fluffe des Kiefelfteines (Flint) folgend und von da die Quelle des Fluſſes 
gewinnend, der bis zu feinem Ausflug in den Atlantifchen Ocean die Grenze ausmacht. 
Diefer Grenzzug umgürtete ein Gebiet von mehr als 70,000 deutſchen Geviertmeilen, 
wad faft die Hälfte des Feſtlandes von Europa ift, ein Gebiet, deffen zum großen 
Theil fruchtbares Erdreich, in Verbindung mit einem gemäßigten Clima, einer ungeheuern 
Bevölkerung einen Wohnplag anmwied. Ueberdies war es von einer Menge fiffbarer 
Flüſſe bewäflert und von großen Seen bdurchichnitten, ‚welche den Handel und ben 
Waaren⸗Transport erleichterten. Wie diefe natürlichen Vortheile von der Betriebfam- 
keit des jungen Volks ausgebentet worden find, haben die nachfolgennen Zeiten gelehrt, 











Adams, John. 311 


Soll man fi aber heute noch darüber wundern, daß England und die vereinigten 
Staaten, Rutter und Tochter, Länder unter ſich theilten, Die ihnen nicht gehörten, die 
ihnen fogar zum großen Theil ganz unbekannt waren; Länder endlich, von, Voͤlkern 
bewohnt, die allerding8 zwar Barbaren, doch aber freie und unabhängige Gejellfchaften 
bildeten, die niemald unter der Herrjchaft weder des Mutterlandes noch der Colonien 
geftanden hatten! Diefer Artifel 2 des Vertrages von Verſailles war ein Abbild der 
Bulle vom 4. März 1493, vermöge deren ein römischer Bapft, Alerander VI, fi 
bewogen fühlte, die Welt, zu Gunften Spaniens und Portugals, durch feine famofe 
Demarkationslinie in zwei Hälften zu theilen! Wenige Wochen vor den Präliminarien 
von Verfailles, nämlih am 8. October 1782, ſchloß John Adams im‘ Haag mit der 
Republik der leben vereinigten Provinzen ienen Sreundfchaftd- und Handeldvertrag, 
zu dem die Väter der Stadt Amſterdam bereitd im Jahre 1778 den Entwurf gemacht 
batten, und in welchem Hinſichts der Kriegs-Contrebande der Grundfaß angenommen 
wurde: Schiff det Ladung und Mannfchaft. Unter Contrebande verftand man bloß 
Kriegäbedürfniffe und Waffen, Soldaten, Pferde, Sättel und anderes Gefchirr der zum 
Kriegszweck beftimmten Vierfüßer. John Adams war e8 aych, welcher in Gemeinjchaft 
mit Benjamin Franklin und Thomas Jefferfon den erften Freundſchafts- und Handels⸗ 
vertrag zwijchen dem jungen trandatlantifchen Staate und dem, auch noch ganz jugenb- 
lichen, Königreich Preußen abſchloß, der am 10. September 1785 ebenfalld im Haag 
zu Stande Fam, und Namens des Königs von deffen Gefandten bei den Generalftaaten, 


v. Thulemeyer, unterzeichnet wurde. In bdiefem Vertrage wurde jener Grunbfaß bes. 


Seerechts noch fehärfer ausgedrüuͤckt. 

John Adams flanımte aud einer angejehenen Puritaner-Fanilie, welche 1630 das 
Vaterland verlaffen und die Anſiedlung an der Mafjachufetts-Bucht mit begründet hatte. 
Hier wurde er zu DBraintree am 19. October 1735 geboren. Vor dem Aufſtande der 


Colonien, dur den und feinen weitern Verfolg Adams’ Name weltgefhichtlich gewor- 


den ift, zeichnete er ſich als Mechtögelehrter aus. ALS folcher leiftete er feinem Vater⸗ 
lande die wichtigften Dienſte. Er Fannte Die Bebürfniffe und die bergebrachten Ge- 
vechtfame deſſelben auf's genauefte, und ließ fich in jeinen Grundfägen nicht von einer 

wild dahin braufenden blinden Leidenfchaft, fondern einzig und allein von dem über 
dem wogenden Meere der Gefühle mit klarem Auge ſchwebenden Verftande und 'mora- 
liſchen Tact leiten und beflimmen, Daher war er ed auch, der am längften gewalt- 


famen Maßregeln abgeneigt und immer jeder Einrichtung zugethan blieb, welche die 


rohe Gewalt in irgend einer Weiſe im Zaume zu halten vermochte. 

Don Maſſachuſetts für die Verſammlung gewählt, welche in Philadelphia zue 
jammentrat, um die gemeinfamen Angelegenheiten der Eolonien zu berathen, eine Ver⸗ 
fammlung, aus ber anı 4. September 1774 der Gongreß von zwölf Provinzen ent- 
fand, war John Adams unter feinen 54 Mitabgeordneten dad thätigfte Mitglied, 
welches, durch die Wahl Wafhington’d zum militärifhen Führer des Aufftandes, es 
dahin brachte, dag nun auch die noch fehlende Colonie Virginien dem Congreſſe bei- 
trat. Hier, in biefer Berfammlung, war es, wo John Adams im Mai 1776 den An⸗ 
trag zur Bildung einer vom Wutterlande unabhängigen Regierung ftellte, der, nachdem 
er an dem Yennfplvanifchen Abgeordneten, Dickenſon, Widerftand gefunden, welcher 
noch immer eine Verſoͤhnung mit dem Mutterlande hoffte, aber von Hee befürwortet 
worden war, am 4. Juli 1776 einflimmig zum Beſchluß erhoben wurde. Daß ift der 
Geburtötag der DBereinigten Staaten von Norb- Amerika, der Unmandlung der 13 
Colonien in eben fo viele freie, fouveraine und unabhängige Staaten, umd John 
Adams der eigentliche Urheber dieſes Tages. 

Er wurde auch der Begründer der Staatöverfaflung der neu gebilveten Gefellfhaft. 
Bon den .diplomatifchen Sendungen nad) Europa 1787 in fein Vaterland zurückge⸗ 
fehrt, Iegte er feinen Freunden Franklin, Waſhington, Madifon und Hamilton den 
von ihm während feines Aufenthalts in Europa ausgearbeiteten Entwurf zum Staatd- 

undgefeg vor. Diejen Entwurf theilte der Eongreß den einzelnen Staaten zur Prü- 
—* und Aeußerung mit. Da bloß Nord⸗-Carolina und Rhode-Island abweichender 
Meinung war, und die Zuflimmung von 9 Staaten hinreichend fein folfte, dem Ent: 
wurfe Geſetzeskraft zu geben, fo wurde er zum Geſetz erhoben, und am 4. März 1789 





312 Adams, John. 


Wafhington, der Manit des Schwertes, erfler Präfldent des Bundesſtaates, fo wie 
unfer John Adams, der Mann von der Feder, erfter Virepräfident, da er nah Wa- 
fhington die meiften Stimmen hatte. j 
Zwei Mal wurde Georg Wafhington an die Spige der Union berufen. Als er 
‚ nach Ablauf der zweiten vierjährigen Wahlperiode 1797 in’3 Privatleben zurüdkehrte, 
da war e8 John Adams, den die Danfbarfeit der Bürger Amerifa’8 zum Präffdenten 
des Vaterlandes beftellte. In dieſer höchſten Würde Hatte er, bald nad) Antritt feiner 
Regierung, Gelegenheit, in einer an den Congreß gerichteten Botfchaft vom 16. Mai 
1797 die Nichtswürdigfeiten und Anmaßungen fundzugeben, welche bie franzöftiche 
Republik, vertreten Durch ihr vollziehendes Directorium, Barras an der Spige, gegen 
die DBereinigten Staaten und ihre Bürger fich erlaubt hatte. Diefes entwürbigte Regi⸗ 
ment konnte es nicht ruhig mit anfehen, daß zwifchen Mutter und Tochter ein gutes 
Einvernehmen beftehbe, und daß in Folge deſſen ein fehr lebhafter Handel zwiſchen 
Großbritannien und den Vereinigten Staaten entftanden war, welcher zwei Völker ein 
ander näher brachte, welche ein Jahrzehent vorher ſich no aufs Wüthenpfte befämpft 
hatten. Am 31. October 1796 erließ das Directorium einen Befehl, der mit einem 
tödtlichen Schlage die englifche Imduftrie und den einträglichen Handel, welchen die 
Amerikaner mit den Erzeugniffen jenes Gewerbfleißed in Frankreich trieben, vernichten 
follte. Alle Vorftellungen gegen die angeordneten Maaßregeln fcheiterten an dem Dün- 
fel und dem Hochmuthe, durch den ſich die Parifer Gewalthaber damaliger, wie jpäte 
ter Zeit zu ihrer Schande bemerfbar gemacht haben. Die Beleidigungen, welche der 
Regierung der Vereinigten Staaten zugefügt wurden, und die Beichädigungen, die 
amerifanifche Bürger erleiden mußten, waren fo hoch geftiegen, daß es offenbar hätte 
zum Kriege fommen müſſen, wäre ein Anderer ala John Adams an der Spige der 
Gefchäfte gewefen. Er aber) der Mann des Friedens, verfuchte noch ein Mal den Weg 
der Unterhandlung. Die Bevollmächtigten, die er nach Paris fchidte, richteten nicht 
‚aus, wohl aber lernten fie die Entfittlihung der Menſchen an der Regierung Frank—⸗ 
reich8 kennen: gefchäftige Zmifchenträger kamen und gingen und boten ihre guten 
Dienfte an zum rafchen Abſchluß eines Vertrages, wenn ſich die amerifanifchen Mi⸗ 
nifter entfchließen Tönnten, Geld, und zwar viel Geld, für die Mitglieder des Directo⸗ 
riums' — fpringen zu laffen; für vier der Directoren wurden nicht weniger. als 1,200,000 
Frans verlangt, und für die franzöflfche Staatskaſſe? Die Kleinigkeit von 32 Wil- 
lionen! Nach dieſem Ausgange der eingeleiteten Unterhandlungen und nach dieſen 
Erfahrungen über den tiefen Verfall des franzöflfchen Volkes war der Congreß von 
Philadelphia auf dem Punkte, Frankreich den Krieg zu erflären, und ſchon war Georg 
Wafhington zum General Lieutenant und abermaligen Ober Befehlshaber der bemaff- 
neten Wacht ernannt worben, als John Adams — wohl erfennend, daß nicht Hader 
und Streit und offenbarer Krieg, fondern Einigkeit und Frieden, mit allen Wohlthaten 
in ihrem Gefolge, ein Land groß und glüdlich machen Fönnen, namentlich eine fo ju⸗ 
gendliche Staatsgefellfchaft, wie die amerifanifche Union e8 war — fein Praͤſtdial⸗Veto 
einlegte und zur Anfnüpfung neuer Unterhandlungen mit der franzöfifchen Regierung 
rieth, was durch Eröffnungen erleichtert wurde, welche das Directorium, durch feinen 
Minifter der auswärtigen Angelegenheiten Talleyrand auf andere Gedanken gebradt, 
unter der Hand hatte machen laffen. So wurde denn, nachdem die Directorial⸗Regie⸗ 
zung am Tage des 18. Brumaire geftürzt worden war und ber aus Aegypten befer- 
tirte General Buonaparte als erfter Conful der franzöflfchen Republik ſich der Zügel 
der Republik bemächtigt hatte, am 30. September 1800 eine Uebereinkunft zwifchen 
beiden Nepublifen gefchloffen, die den durch franzöflfchen Uebermuth hervorgerufenen 
Zwiftigfeiten ein Ende machte. John Adams beftätigte diefen Vertrag, unter gemiflen 
Borbehalten, am 18. Yebruar 1801 und Buonaparte am 31. Juli deſſelben Jahres 
unter Anerkennung jener Vorbehalte; fein Bruder Iofeph war der franzöflfihe Haupt⸗ 
Unterhändler gewefen. Jene Beftätigung war eine der legten Präffpial« Handlungen 
John Adams, deſſen Amts» Thätigkeit in der äußern Politit von diefen Wirren ganz 
- in Anfpruch genommen worden war. Sie hatten aber auch weſentlich beigetragen, in 
ihm die Ueberzeugung zu befeftigen, wie noth feinem Vaterlande bei fo vielen hundert 
Meilen offener Küften es thue, bewaffnet zur See zu fein, infonderheit einem Feinde 














Adams, John. Adams, Samuel. 33 


gegenüber, dem alle Borfchriften des Sittengefehes, gefshweige denn des Bölkerrechtes, 
abbanden gekommen waren. Darum wirkte er während feiner Verwaltung für die Er- 
richtung einer Seemacht, an der ed zu feiner Zeit gänzlich mangelte, was auf feiner 
Seite mwefentlich dazu beitrug, der aufiprudelnden Lebhaftigkeit des fouverainen ameri- 
Fanifchen Volkes im Congreß, bei den erlittenen Beleinigungen feiner Majeftät durch 
die dollarsjüchtigen Gewalthaber der Pariſer Revolutions⸗Hydra, einen Damm entgegen 
zu ftellen. So legte John Adams den Grund zu der. jeßt fo bedeutenden Seemacht 
der Vereinigten Staaten und ihrer eigenthümlichen Verfaſſung. Ä 

Nah Ablauf feiner Wahlperiove 1801 trat fein Vicepräftdent Iefferfon, der eine 
Stimme mehr hatte, als er, an die Spitze ded amerifanifchen Bundesſtaats. Das Ver— 
trauen und die Liebe feiner Landsleute ficherten ihm: nichtsdeſtoweniger den ihm gebüh⸗ 
senden Antheil an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten. Nocd 1820, in dem 
hoben Alter von 85 Jahren, arbeitete er als Mitglied des Ausichuffes, welcher in 
Maffachufett3 zur Verbeſſerung der VBerfaffung dieſes Staats gewählt worden war, mit 
Kraft in einem Wirfungskreife, für den er wie geboren war. Der SOfte Jahrestag der 
Geburt der amerifanifchen Freiheit wurde fein Todestag. „O, der herrliche 4. Julius!” 
rief er, ald ihn zu New= Dorf daß feierlihe Glodengeläut und der Donner des Ge⸗ 
ſchützes an dieſem Tage weckte, „Gott fegne ihn!" Am felben Tage ftarb er. Kurz 
vorher rief er noch ein Mal: „ES ift ein großer,-berslicder Tag — Yefferfon überlebt: 
ihn!“ Aber Jefferſon war an. demfelben Tage heimgegangen. 

Adams (John), ein Praͤſident ver Vereinigten Staaten, Sohn des .Borigen, geb. 
1767 in Maſſachuſetts. Er warb in Europa, wohin fein Vater in Angelegenheiten 
feiner Republif gefandt war, erzogen, Eehrie mit ihm nach Amerika zurüd und wurde 
1797, unter der Präflventfchaft feines Vaterd zum Gefandten am Föniglich. preußiſchen 
Hofe ernannt, 1801 aber bereits abberufen. Er wandte fich jebt den politifchen 
Kämpfen der Heimath mit 'größerer Theilnahme zu, im Grunde des Herzens Der füne- 
ralififchen Partei und den Anfchauungen der Stifter der Union Huldigend, wenn er 
auch eine diplomatifche Gewandtheit durch Compromiſſe mit der entgegengefegten Partei 
zeigte. Präfldent Madifon, fein politifcher Gegner, ſchickte ihn als Geſandten nad 
Rußland, ſodann nach England, wo er 1814 zu Gent an der Serftellung bes Friedens 
zwifchen England und den Vereinigten Staaten Theil nimmt. Präfldent Mouron er- 
nannte ihn 1817 zum Staatd«Secretair. 1825 warb er zum Präflpenten ber Vereinig« 
ten Staaten erwählt. Seine Regierung zeigt Mangel an Kraft neben dem reblich ges 
meinten Verſuch, unverföhnliche Parteigegenfäge zu vereinigen. 1830 wurde er für 
Maflachufetts zum Mitglied des Mepräfentantenhaufes erwählt, und er feßte Dort ener⸗ 
gifcher als früher. feinen Kampf gegen die („demokratiſche“) Sclavenpartei und für die 
Abolitioniften fort. Er farb zu Wafhington, 17. Februar 1848. 

Adams (Samuel), zu Bofton im Jahre 1722 geboren, gehört ebenfalls zu den 
Männern, denen die Vereinigten Staaten ihr Entftehen zu verdanken haben. Bon der 
Theologie, die er zu ſtudiren begonnen hatte, wandte er ſich, ſchen als junger Mann 
ein eifriger und nichts weniger ald gemäßigter Politiker, bald wieder ab und nahm 
einne Stelle als britifcher Steuereinncehmer in feiner Heimath an, in welcher Stellung 
er die Beſchwerden und Bedrückungen von Grund aud kennen lernte, unter benen 
die amerikaniſchen Colonien durd die Steuergefehgebung des Mutterlandes zu leiden 

Ohne tiefere Einficht, ein in Theorien lebender Phantaft.und mit allen Mit« 
teln eines. überwältigenden Redner⸗Talentes begabt, warb er zu einem ber Haupterreger 
des Volks, zu einem Wühler, wie man fich heut zu Tage auszubrüden pflegt, der die 
Leidenfchaften der Maflen zu werfen und audzubeuten firebt. Er war es, der 1772 mit 
Jakob Warren durch Errichtung von Clubs Das Parteimefen in Maflachufetts plan⸗ 
mäßig in Gang brachte. Der Gentralclub war in Boſton unter der: Leitung von ſechs 
Vertrauendmännern, von denen jeder eine Bürger-Abtheilung befehligte, die in mehrere 
Rotten unter eigenen Führern zerfiel. Im jeder Stadt, in jedem Fleden, jedem. Dorfe 
der Provinz beftanden eigene Clubs, die mit dem Gentealclub in Bofton Briefe mechfel« 
ten, daher man fie auch „Eorreiponding Societies“ nannte, und als ein taufenbfältiges 
Echo jedes Wort über das Rand verbreiteten, Das zu Bofton im Centralelub gefallen 
war. Maffachufetts diente in diefer Hinficht ben übrigen Colonien zum Mufter,; die 


. 





4 


34  Kbemshit. Abeitation 


alsbald fein Beifpiel nachahmten. Ohne den fittlichen Ernft und die ſtaatsimaͤnniſche 
Bildung, wie fein Namendvetter John Adams, fondern ein Demagog vom reinften 
Waſſer und ungebänbigter Leidenſchaft, warb Samudl Adams, nachdem er vom Könige 
für vogelfrei erklärt worden war, 1774 in den allgemeinen Congreß gewählt, wo .er 
durch feine glänzende Beredſamkeit, neben Lee, Iefferfon, Sherman, Livingjton ıc. ber 
Unabhängigkeitd - Erflärtung vom 4. Juli 1776 und ihrer einflimmigen Annahme för- 
derlih war. Noch in dem hohen Alter von 72 Jahren beriefen ihn feine Mitbürger 
ald Gouverneur an die Spige Der Gefchäfte ded Staates Maſſachuſetts, welche Würde 
er aber nach drei Sahren, 1797, niederlegte. Er ſtarb 1802 zu Boſton in dürftigen 
Umftänden. | 
Adams: Bil, (Talmala im Sanskrit, Ham⸗al⸗el bei den Ringalefen, St. Tho- 
mas bei den Europäern, Rohrau bei den Arabern) ift ein den Buddhiſten, Brahmanen 
und Muhamedanern heiliger und von ihnen zu einem Wallfahrtöorte beftimmter Berg 
Ceylon's, der nach dem 7586 preuß. Fuß hoben Pedrotallagalla der. höchfte Berg diefer 
Infel ift, indem er ſich 6724 Buß über das Meereönivenu erhebt. Sechs deutſche 
Meilen dftlih von Ceylon's Hauptſtadt, Colombo, entfernt, fteigt er aus der Hoch⸗ 
ebene ald ein Oranitfegel empor, den Fein Pflanzenwuchs, nicht der Höhe wegen, 
ſchmückt, fondern weil er, eine einzige Felſenmaſſe bilvend, ohne alle Erdbedeckung if. 
Trotz der großen Menge Pilger, die jährlich ven berühmten Berg befuchen, ift der 
Meg zur Spike des Pils in hohem Grade beichwerlich; Stufen in den Felſen zu 
bauen, war zu umflänblich, flatt deffen findet man zahllofe Ketten jever Art, links und 
rechts des Pfades, uralt und roflig und von neuem Gepräge an ben Zellen ange 
fihmiebet, um ſich an ihnen binaufbafpeln zu koͤnnen. Der Gipfel ift von einer ftarfen, 
etwa 3 Buß hohen Steinmauer umgeben, welche einen Erdgürtel einfchließt, der einen 
Meg um den im Wittelpuntt ſich erhebenden Steinblod bildet. Diefer befteht aus 
zwei ungleichförmigen Maflen, deren hoͤchſte und größte die heiligen Fußtapfen trägt. 
Auf der öftlihen Seite des um den ‚Steinblod laufenden Pfabes zwifchen den erfleren 
und ber. Mauer hefindet fich. ein großer Reum; bier hat man eine Bungalow ober 
Hütte von Flechtwerk errichtet, worin bie Priefler während der Wallfahrtszeit wohnen. 
Die erwähnte Sohlenſpur, über der ein Feiner, etwa 8. Buß hoher und 10 Zub im 
Geviert enthaltender, an ben Belfen mit ungeheuren Ketten befeftigter . Tempel aus 
Eifenbolz, mit vielem Schnigwerf und nievrigem Ziegeldache, erbaut ift, foll, wie die 
Mohamedaner fagen, von Adam, der bier taufend Jahre auf einem Fuß geflanden hat, 
ebe er Geylon, fein Paradies, verließ, nach bubbhiftifcher Sage von Gautama Buddha, 
der. diefe Fußtapfen feinen Verehrern bei feinem Scheiven aus Ceylon zurüdlieg, und 
nach brahmanifcher Mythe von Wifchnu herrũhren. Die Fußſpur iſt ungefaͤhr 3 Fuß 
lang und an der breiteſten Stelle zwei und einen halben Fuß breit, und beſtand wahr⸗ 
ſcheinlich anfangs aus zwei halbkreisformigen Hoͤhlungen, die verſchieden groß waren 
and in einer entfprechenden Entfernung von einander lagen. Die kleinere dieſer Hoͤh⸗ 
lungen bat man in den Abdruck eined Hackens, die größere in den eines, Fußballens 
verwandelt und dem Ganzen, um die Achnlichkeit in Die Augen ſpringender zu machen, 
Beben aus Gyps zugefügt. Die Einfaffung der Sohlenfpur ift ein goldener Rahm, 
mit vielen Edelfteinen von bedeutender Größe befeht; einige davon follen wirklich aͤcht 
fein. Hier an. diefem bürftigen Orte verrichten jährli) Tauſende ihr gläubiges Gebet; 
die Vorſchrift für die Wallfahrer ift, in einem Zuge den Berg hinaufzuflettern, dann, 
nachdem das Gebet verrichtet und das Geldopfer dargebracht, ohne umzuſchauen, wieder 


hinabzuſteigen. 
| —* (Beiladung, mise en cause) iſt die richterliche Vorladung eines 
Sen er an einem bereits ſchwebenden Nechtöftreit zu betheiligen. Nach gemeinem 
Prozeß iſt es zweifelhaft, ob der Richter ſie ohne Antrag einer Partei erlaſſen darf. 
Trotz des entgegenſtehenden Verhandlungs⸗Principes entſchied ſich die Prarid für die 
bejahende Alternative, indem fie Die richterliche Prozeß⸗Direction und die damit ver 
bundene Sorge für Abkürzung und VBefchleunigung der Prozefle in ven Vordergrund ftellte. 
In der That iſt denn auch der Zweck der Meitation fein anderer, ald die Ver⸗ 
hütung einer vervielfältigten Rechtfprechung. über denſelben Gegenfland. Der: Haupt 
unterjchleb der Adritation von ber Litis⸗Denunciation — welche außerbem ftetd eine 








- 


\ 


u Adda, Fuß. 35 


beantragte ift — beſteht darin, daß ber Adcitat zum Prozeß als principaliter mit 
fireitender Theil zugezogen wird, während die Theilnahme des Litiß- Denunciaten am 
Prozeß durch gewifle zukünftige Eventualitäten und Androhungen von Prozeß - Unan- 
nebmlichkeiten bebingt ift, ein Unterfchied, den die deutſchen Worte „Beiladung” und 
„Streitverfündung* fofort erkennen laffen. | 

Die preußifche Gerichtd - Orbnung ließ auch die Adcitation ohne Antrag. zu mit 
der Maaßgabe, daß der Adeitat des Richters nur ald Zeuge pro informatione, d. 5. 
zur befieren Aufklärung der Sache vernommen werden durfte, im Prozeß alfo nur eine 
Rebencolle jpielte. Seit Einführung der Verhandlungs⸗Maxime in den preußifchen 
Prozeß (1333) giebt es nur noch eine beantragte Adritation und diefe hat im preußifchen 
Prozeß diefelben Formen, Boraudfegungen und Regeln, wie die Bitid + Denunciation 
(. —— | 

Adda (Europa) ift ein linker Nebenfluß des Po, der von den Hochalpen des 
Stilfſer Jochs, vorzugsweife von dem Monte Gallo herablommt, erſt in fühlicher, dann 
in woeftlicher Richtung läuft, bei Tirano und Sondrio vorbeigebt,. durch ben Lago bi 
Como und defien fünöftlihe Verlängerung, den Lago di Lecco fließt, in feinem ſüd⸗ 
lichen Kaufe Lecco, Brivio, Lodi, Pizzighettone befpült und 1), deutſche Meile weſtlich 
von Gremona, unweit ded Dorfes Spinabedco, in den Po fich ergießt. In ihrem 
Dberlaufe, ehe fie in den Lago di. Como tritt, durchfließt die Adda die beiben ehe⸗ 
maligen Graubündner Landfchaften Worms oder Bormio und Beltlin..oder Valtellin, 
und nimmt in beiden zahlreiche kleine Gewäfler auf, unter denen der Roaſco⸗, Val⸗ 
fontano=, Malero- und Maſino⸗Fluß auf der rechten Seite, der. Branglie-, Frabolfo⸗, 
Belvifo-, Baninae, Madrosco⸗ und Tartanoe Fluß auf der linfen Seite noch die größ« 
ten find. Die Landichaft Worms, im Often an Tirol grenzend, 5 Meilen lang und 
faſt eben fo breit, fehr gebirgig und rings umher von hohen, fteilen und faft immer 
mit Schnee bevedten Gebirgen umgeben, ſowie das Baltellin, ein an der Nordgrenze 
des Herzogthumsd Mailand und des ehemaligen venetianifchen Gebietes liegendes, über 
aus fruchtbares, 8 Meilen langes und 2 bis 5 Meilen breites Thal, gehörten mit der 
Landſchaft Chiavenna oder -Eleven kraft einer Faiferlihen. Schentung dem Bisthum 
Chur, wurden aber letzterem durch ihre Nachbarn, namentlich durch Mailand. entriffen. 
Nach fruchtlofen Verfuchen ver Wiedererlangung, beſonders in den Jahren 1486 und 
1487, gelang ed endlich 1512 dem Bifchofe von Chur und den drei Bünben, ihre 
alten Rechte auf die Landfchaften geltend zn machen. Der Biſchof trat fle aber 1530 
mit dem Vorbehalte, daß dem Bisthume gewiffe Zahlungen ans dem Zolle geleiftet 
würden, den Bümden ab, und diefe blieben, nachdem 1620 Unruhen in den Landfchaften 
ausgebrochen waren, vom. Jahre 1637 an faſt zwei Jahrhunderte lang in dem ruhigen 
Bells von Beltlin, Wormd und Gleven, bis fle, nach einer ‚ausgebrschenen Rebellion 
und Unterfikgung der Hochverräther durch ben franzöflfchen General Buonaparte, mi 
tet Proclamation deflelben vom 10. October 1797, mit der cisalpiniſchen Republik, 
Bei Errichtung des Königreichd Italien, mit dieſem als Gouvernement Adda, und end⸗ 
lich durch die Vefchlüffe des Wiener Congreſſes mit dem lombardiſch⸗ venetiamifchen 
Kömigreiche als Delegazion Sondrio vereinigt mwınden. — Die Adda iſt jetzt einge« 
dammt, befonderd in der Nähe von Sondrio, durch große Deiche, indem fie früher Bei 
öfteren Ueberſchwemmungen eine Menge Sümpfe, bie fi von Colico bis in die Um⸗ 
gebungen Sondrio's erſtreckten, erzeugte. Die peflartigen Ausdünftungen diefer Sumpfe 
wirkten hoͤchſt nachtheilig auf die Bewohner, welche häufig hartnaͤckigen Wehhſelfiebern, 
der englifhen Krankheit, den Köpfen und ber Kretinbildung unterworfen waren. — 
Nach dem Austritt der Adda aus dem Lago bi Lecco, wo ſie fchiffbar wird, vereinigt 
fih mit ihr oflwäarts von Trezzo, Der Naviglio della Martefana, der von Mailand 
ausgeht und bei Gorgonzola vorbeiführt, währenn fle auf der linken Seite den Brembo 
und den auf dem Monte Forone eutjpringenden und bei Crema vorbeigehenden Serio 
aufnimmt, der ihr größter Nebenfluß if. Die Abba und ihre Zuflüfie haben von jeher 
in milidaͤriſcher Hinficht eine große Wichtigkeit. gehabt; an ihren Ufern: hat man 
entweder feſte Schlöffer oder andere Vertheidigungswerke errichtet oder es find zahl⸗ 
reiche kleine und große Schlachten geliefert worden. In erſter Beziehung iſt das 


Caſtell von Bormio, welches 1639 gefchleift wurde, das fehle Schloß von Groflo, 





316 Adda, Stadt, Addiſon. 


1526 zerflört, dad von Groſſotto, die drei von Mazzo, das Eaflell von Tirano, das 
von Sondrio, das ebenfalls 1639 gefchleift wurde, das Schloß von Chiuro, 1512 
‚von den Graubündnern zerflört, dad von WMorbegno, 1521 gefchleift, das von Colico, 
das von Piantedo, Die Schanze von Montello, die. den wichtigen Paß über die Adda 
vertbeidigte, 1639 aber zerftört wurde, Das Fort de Fuentes, vom Grafen von Fuentes, 
jpanifchem Statthalter von Mailand, 1603 angelegt, das fefte Schloß von Lodi, 1158 
vom Kaifer Brieprich I. erbaut, die Eleine Feſtung Pizzighettone, wohin König Yranz 
als Gefangener nach der Schlacht von Pavia, 1525, gebracht wurde und die Feſtung 
Grema zu erwähnen, während, nur. das Mittelalter und vorzugsweiſe Die Neuzeit br» 
rüfichtigt, 1635 in der Umgegend der Bagni di San Martino, in demfelben Jahre 
m dem Campo de luco, in dem Ruvinertbale, bei Mazzo und bei Morbegno, Ende 
des elften Jahrhunderts bei Gamposvico, 1432 und 1434 bei Delebio, 1525 bei 
Dubin, 1705 und 1799 hei Gaflano, 1522 bei Bicoca, 1509 bei Rivolta und Agna⸗ 
delle, 1515 bei Malegnano, zwifchen dieſer am Lambro ‚liegenden Stadt: und der Adda 
und 1796 bei Lodi Schlachten vorfielen. Letztere Schlacht beiteht bekanntlich in der 
Erzwingung des Uebergangs über die 600 Fuß lange Brüde bei Lodi Seitens bed 
Generald Buonaparte, eine Waffenthat, Die man in der Negel höher anjchlägt, wie fie 
eigentlich ift, indem die Öfterreichifche Armee bereitd im Ruckzuge war, den größten 
Theil ihrer Artillerie Schon zurüdgezogen und nur einige Kanonen zur Vertheidigung 
der. Brürfe hatte ſtehen laſſen. An dieſem Fluß ſchlug dann am 27. April 1799 der 
ruſſiſche Feldherr Suwarow den franzöftfchen General Moreau und bemichtete Damit die 
cißalpinische Republik, denn ald unmittelbare Folge Diefer Schlacht ergab ſich Die gänz- 
liche Räumung der Lombardei durdy die Franzoſen, jo daß Sumarom fhon am Tage 
darauf. in Mailand einzog. | 

Adda (Afrika) ift eine Stadt von 3000 Einwohnern an der 60 beutfche Meilen 
langen Lüfte Ober⸗Guinea's, die gemeiniglich unter dem Namen Goldküſte bekannt if 
und die fih von dem Aſſimi bis zum Volta mit einer nicht zu beſtimmenden Aus- 
behnung in's Innere des Landes hinein erftredt. 1', Meile von der Mündung de 
Bolta und zwar auf der. linken Seite deſſelben erbaut, liegt das fo ohne Ausnahme 
von Eingebornen bewohnte Adda Dicht neben dem 1783 angelegten Fort Kongenfeen 
(Königeftein), welches, wie das in der Provinz Acra 1659 von den Portugieſen er- 
baute und 1694 von den Dänen noch mehr befeftigte Wort Chriftiansborg, das 1734 
angelegte Hort Freedensborg (Friedensburg), die Faktorei Frederiksberg, die Anlagen 
Frederiksſted und Frederiksnopel, das Fort Prindfenſteen (PBrinzenftein), außerhalb ber 
Goldküſte in der Provinz Popo des. Königreichd Dahomey liegend und 1783 erbaut, 
nebft den von den Eingebormen, den Fantis und Afchantie, bemohnten und in ge 
wiſſer Hinficht abhängigen. Städten und Dörfern Urfu, Labadie, Taſſy, Temma, Poni, 
Prampram, Ningo, Occo und den beiden Dörfern Attafoo und Quitia, einft ſtark be 
völfert, «an der fogenannten Sclavenküfte, zufammen mit einer Bevölkerung von 56,000 
Seelen, von der daͤniſchen Megierung an bie britifche im Iahre 1850 für die Summe 
von 10,000 Pfo. St. verkauft wurden. Diefe jetzigen englifchen Beflgungen wurden 
von der daͤniſch⸗ weſtindiſchen Compagnie 1754 der dänifchen Megierung gegen Ent⸗ 
ſchaͤdigung überlaffen und find urfprünglih, wie alle die zahlreichen Eleinen-im Beſit 
der Engländer, Holländer, früher auch der Franzoſen und Dänen fich befindenden Au⸗ 
ſiedelungen auf dieſer kurzen Küftenftrede nur Behufs befferer Handhabung und. Br 
teibung des Sclavenhandels erworben und mit zahlreichen Befeftigungen ausgeſtattet 
worden. Urfprünglich waren faft alle diefe Niederlaſſungen auf der Goldküſte von den 
Portugiefen errichtet, die über die gefammte weſtliche Küfte Afrika’s, Fraft der Demar⸗ 
Tationdlinie des Pabſtes Alerander VI., ein Territorialrecht anſprachen, und, obgleich 
dieſe Schenkung nie von irgend einer andern europälfchen Regierung, Spanien außge⸗ 
nommen, anerlannt worben mar, machte- man den PBortugiefen den Beflg: nicht eher 
fireitig, bis einzelne Seemädte den; Werth der Negerarbeit in den transatlantiſchen 
Pllanzungen kennen zu lernen anfingen. . 

Addiſon, Joſeph. Diefer englifche Schriftfteller des 18. Jahrhunderts nimmt 
weder als Dichter, noch als Gelehrter, noch al& Staatsmann eine Stelle unter den 
erften Geiftern ein, aber fein Name wird. wegen. feiner Perfönlichkeit und feiner Zeit⸗ 














Addifon. — 317 
kritik mit Recht verewigt. Um die Entwidelung diefed Mannes’ von echt engliſchem 
Charakter und. gediegener Hafjifcher Bildung feiner Zeit vecht aufzufaffen, glauben wir 
eine Biologie ſeines Talente® nah Duetelet verfuchen zu müſſen. Quételet hat 
nämlich durch ftatiftifche Zufammenftellung die Entmwidelung des dramatiſchen Talente, 
was bei Addiſon neben dem Fomifchen auch hervor trat, auf Gefege zurüdzuführen ge⸗ 
fucht. In der Schrift: „Ueber den Menfchen und die Entwieelung feiner Faͤhigkeiten“, 
deutſch von Niede, hat Duetelet gewifle Grundzüge der Biologie der dDramatifchen 

Schriftſteller feſtgeſtellt. In feinem Buche: „Zur Naturgefchichte der Geſellſchaft“, 
deutsch von Adler, Hat Quételet ©. 128 flgg. vom Einfluß des Alters auf die Ent: 
wickelung des dramatiſchen Talentes gefprochen, Nach feinen Reſultaten wollen wir 
bier Addiſon's Entwidelung angeben. QDuetelet fagt: „In England befolgt Das dra⸗ 
matifche Talent, wie in Frankreich, diefelbe Stufenfolge: es giebt ich nur etwas früh⸗ 
zeitiger vor und mit dem zwanzigften Lebensjahre fund; Die Dichter betreten in Eng- 
land die dDramatifche Laufbahn etwas früher und erreichen dann auch eher bie volle 
&ntfaltung ihre® Talentes. Die Entwidelungsftufen find mie in Frankreich; dad dra- 
matifche Talent entmidelt ſich energiſch bis gegen das breißigfte Jahr, wachſt fortwaͤh⸗ 
rend, erreicht ein Maximum und erhält ſich in ziemlicher Lebendigkeit bis gegen das 
Alter von fünfzig bis fünfundfünfzig Jahren. Darnach aber nimmt es merklich ab, 
namentlich rückſichtlich des Werthes der Erzeugniſſe. Zwiſchen dem zwanzigſten und 
fünfundfünfzigſten Jahre haben wie in Frankreich fo in England die Meiſterwerke der 
franzöftfchen Bühne ihre Entftehung gefunden, außerhalb diefer Grenzen. trifft man nur 
Merte zweiten Ranges an. Diefe fünfunddreißig Iahre bilden fonach gewiffermaßen 
die Rennbahn des bramatifchen Talentes. Wir haben bereitd darauf bingewiefen, daß 
das Talent des Tragddiendichters früher zur Reife kommt, als Dad des Luſtſpieldichters. 
Für Erfteren tritt das Maximum zwifchen dem vreißigften und vierzigften Jahre ein 
und für Legteren zwifchen dem vierzigften und fünfundfünfzigften Jahre. Dieſe Beob- 
achtung laͤßt fich nicht blos rückſichtlich der Bruchtbarkeit des Talentes, fondern auch 
rückſichtlich des Werthes der Erzeugniffe machen. — Dieſe Ergebniffe ſcheinen, ſobald 
fie einmal erkannt find, ſich in der natürlichen‘ Weile zu erklären. Die Tragoͤdie ſetzt 
mehr die Leidenfchaft und Phantafie des Dichters in Bewegung, die Comödie erheiſcht 
aber einen mehr entwickelten Verftand, eine tiefere Menfchenkenntniß und jene Ruhe der 
Beobachtung, die fich erft einflellt, wenn einmal Das Spiel der Leidenſchaften im eige⸗ 
nen Buſen ausgetobt hat.“ 

Vergleichen wir die Lebensjahre Addiſon's mit ſeinen poetiſchen Leiftungen, ſo 
finden wir Quételet's Entwickelungsgeſetz beſtaͤtigt. J. Addiſon iſt 1671 in Milton, 
in der Landſchaft Wiltſhire, geboren. Vor ſeinem 22. Lebensjahre befaßte er ſich mit 
lateiniſcher Poefte, d. h. er machte lateiniſche Verſe, welche in der Musa anglicn 1691 
bis 1693 erſchienen. Im 22. Jahre verfaßte er ein Lobgedicht an Dryden, im 24. 
überfegte er Virgil's Georgica und ſchrieb das Helden⸗Gedicht auf Wilhelm III. Im 
29—31. Jahre war er auf Reiſen. Mit 32 Jahren verfuchte er ſich nochmals im 
beroifchen Epos und faßte feinen phllologifchen Meifcberiht ab. In dieſe Zeit ger 
bört auch fein philvlogifch » archädlogtfches Gefpräh von den Mimen. Mit dem 
35. Lebensjahre erfchienen feine Luſtſpiele, „der zärtlide Ehemann“, „das Geſpenſt 
mit der Trommel.* Erſt 1713, alfo im 42. LXebendjahre, erfchten fein ,Cato“. Das 
ift fein Beweis gegen Quetelet's Gefeß, daß dad Talent für die Tragddie früher ſich 
zeige, ald das für die Comödie. Das Drama „Cato“ war fchon längft von Addiſon 
von Jugend an, alfo vom 20. Jahre an, bearbeitet worden. Die bramatifche Idee, 
welche ihn gegen das Ende feined Lebens (im 48. Jahre) bewegte umd wovon: .wir 
"unten fprecken, wurde nicht mehr ausgeführt. Das Hauptwerf von Addiſon war eine 
profaifche Comödie, d. h. eine ſatyriſche, feine Kritif feiner Zeit. Er zeigt darin fein 
komiſches und beobachtendes Talent und Darftellungsvermögen in der Profa. Das Werk, 
worin Addiſon jein. feines Beobachtungsgenie leuchten ließ, ift der Spectator (Zufchauer), 
den er mit Steele herausgab und deſſen achter Band von ihm allein herrührt. Dieſer 
erfehien von feinem 39. Lebensjahre an. Duetelet hat alſo Mecht, wenn er fagt, der 
Höhepunkt des Fomifchen und beobacdhtenden Talented trete vom 40. bis 50. Jahre 
ein. Bei Addiſon war es zwilchen dem 39. und 48. (feinem Todesjahre). 


318 Abdiſon. 


Nach dieſer biologiſchen Skizze wird Addiſon leichter zu beurtheilen ſein, wenn 
man noch das Folgende beachtet. Addiſon hatte ſich in Oxford ſtreng nach dem Vor⸗ 
bild der Klaſſiker gebildet. Er hatte dadurch zuerſt im Lateiniſchen und dann in ſei⸗ 
ner Mutterfprache große Gewandtheit erreicht. Das war für feine Meifterfchaft in der 
Zeichnung fehr wichtig. Bekanntlich ift es fehr fehwer, angeborene Neigung zum Wige 
oder extravagante Einbildungsfraft zu zügeln. Beides ift Abbifon durch feine Elafitfche 


"Bildung gelungen. Diefe letztere galt in jener Zeit noch mehr, als jetzt, und man 


ſtellte fle fogar über angeborened Genie und nationale Ipealität. Aus dieſem verkehr⸗ 
ten ober einfeitig das Klaffifche vergötternden Zeitgeifte hat man die Erftlinge von 
Mdiſon's (lateinischer) Poefle in der Musa anglica fehr überſchaͤtzt. Selbſt Boileau 
hat Addiſon zu viel Lob gejpenbet. Dad erfte Versproduct Addiſon's war an Dry 
den gerichtet; dieſem folgte dann die Ueberfegung von Virgil's Georgica. In dieſer 
geichraubten Poeſie, die jeiner natürlichen Anlage ganz und gar fremd war, blieb 
Addiſon, bis ihn die Reiſe nach Italien und Deutfchland auf die Beobachtung der 
Gegenwart — fein eigentliche Element — zurüdführte. Nach dem Wunfche ſeines Vaters 
folfte er Geiftlicher werden. Doch ftellte er ſich dieſen Beruf ſo ſchwer vor, — Ernſit 
und Beſcheidenheit zeichneten feinen ganzen Charafter aus —, daß. er ſich nicht ent⸗ 
fließen Eonnte, dem Willen feines Vaters zu folgen. Dieſer Ernft war aber bei ihm 
mit der ächt englifchen Jovialität und Hang zur komiſchen Kritif und Garricatur vermiſcht. 
Eine ſolche Veremigung des tragifchen und Eomifchen Talented findet man bei den 
englifchen Dramatifefn nicht felten. ALS. Dichter hat eigentlich Addiſon nach unferem 


jetzigen Standpunkte nicht viel geleiftet. Sein „Eato”, der feiner Zeit fo verherrlicht 


wurde, ift froftig und geziert, er gleicht einer Statue des vorigen Jahrhunderts, welche 
eine Antike nachahmen follte, und nur ein Zerrbild des Verſailler Geſchmackes bietet. 
Die  beftellten und bezahlten Hof⸗ und Lobpoeflen von Abdifon, gefertigt, um feine 
Anftellung zu erreichen, find auch ohne poetifchen Werth. So hat er Lord Sommer? 
und dem Herzog von Malborough gefchmeichelt, bis er an Loke's Stelle als Appella⸗ 
tionsrath ein Amt erhielt. Er ward dann 1709 Secretär beim Statthalter Wharton 
in Irland. Addiſon's Hauptthätigkeit war die eines Publiciften. Seine Stellung als 
Minifter 1717 war nicht bedeutend. Nach feinem „Gato”, der damals in fremde Spra- 
chen übertragen wurde, hatte Addifon die Abficht, eine Tragödie: „der Tod des So 
crates“, zu fehreiben. Es beweift dies fowohl den Ernft von Addiſon, ald auch feine 
richtige Anficht von tragifchen Stoffen. Er felbft äußerte fly: Die Bühne wolle er 
zu einer veligiössfittlichen Bildungsfehule machen. Ehe wir vom Spectator Addiſon's 
fpsechen, führen wir noch an, daß U. einen Traktat „von der chriftlichen Religion 
hinterlafien bat. | 

Die Perfönlichfeit und Stellung von Addiſon — nämlich die klaſſiſche Bildung 
und der Mann in der Welt — geben feinem Zuſchauer eine hohe Wichtigkeit. Der 
Zujchauer Addiſon's hat ungefähr auf London gewirkt, wie des Ariſtophanes' Luft 
ſpiele auf Athen. Beide Dichter bielten ihrer Zeit einen Spiegel vor, beide hatten 
in-ber- Welt gelebt... Addiſon ift Durch den Spectator der verförperte Ausdruck eined 
biederen religiöd-fittlichen und dabei jovialswigigen altenglijchen Charakterd geworden. Im 
Spectator betrachtet ein englifcher Gentleman mit fittlichem Stolz und doch befcheiben, 


mit Ernſt und doch mit Wit die Welt in ihren Ständen und Zuftänden. Die Wochen 


Schrift: „der Zuſchauer“, begann 1710. Der Gedanke dazu ging von Steele aus. 
Es war die Zeit, wo auch „der Schmäger”, „Tadler“ und „der Aufieber“ als aͤhn⸗ 
liche Zeitſchriften in London erſchienen. Die von Addiſon iſt die beſte; er hatte die 
meiſte Bildung und Beobachtungsgabe gehabt. 

Was dem Spectator vor Allem feine Bedeutung giebt, iſt die eigenthümlich ver⸗ 
mittelnde. Stellung, die er zwifchen den Producten eines oft unfläthigen Wiges, welche 
die letzten Zeiten der Reſtauration überfchwemmten, und dem puritanifchen, hie und da 
heuchlerifchen Ernſt der Gegenpartei einnahm. „Der Krieg zwiſchen Wit und Puritanid- 
mad war unter der Meflauration bald ein Krieg zwifchen Wit und Sittlichfeit gewor⸗ 
den... Der gemeinichaftliche Charakter der Generation von Dryden bis auf Durfeh 
herab war rückſichtsloſe, fchamloje, prablerifche Zügellofigkeit,“" und „nichts ift charalteri⸗ 
ſtiſcher für dieſe Zeit, als daß die Dichter alle ihre ſchlüpfrigſten-Verſe abſichtlich 











Additional⸗Aete. 3 
Frauen in den Mund legen mußten; aber das Gift, das dieſe Schriftflelfer verabreichten, 
war fo ftark, daß es in Furzer Zeit mit Efel wieber auögeworfen wurde." (Macaulay 1, 
294 flg. Ueberfeßung v. Lemcke. Braunfchweig, Leibrod.) Die Veraͤnderung der 
Dynaſtie und die „Wiederberftellung der alten Verfaſſung“ veränderte den Zuftand der 
Geſellſchaft, indem fie den Geiftern die harte Schule der Freiheit zumuthete. „Die alte 
Genfur hatte der Ausgelaffenheit und Irreligiofität faft gar Feine Feſſeln auferlegt. Das 
„Berlorene Paradies" mar mit Mühe der Verſtümmlung entgangen, aber Etherege's 
Zuftipiel „Sie würde, wenn fie fünnte*, "hatte ohne Mühe die Druderlaubniß erhalten... 
Bon dem Tage an, wo die Emancipation unfrer Literatur vollendet war, begann auch 
ihre Läuterung... Selbſt diefenige Klaffe von Werken, in welchen ‚früher eine wols 
lüftige Phantaſie fich bevorrechteter Weife berumtummeln zu dinfen glaubte, Liebeslieber, 
Luftfpiele, Romane, ward anftändiger als die Predigten des flebenzehnten Jahr» 
hunderts“ (Macaulay, Band 7, ©. 53, Ueberfegung von Lemde). Diefe plögliche und 
fegensreiche Veränderung ber unterhaltenden Literatur Englands ift, wie der ‚berühmte 
Geſchichtsſchreiber mit Recht andeutet, nicht einer Intervention der Megierung, fondern 
"vielmehr einer harten Arbeit der Geifter, einem inneren Rampfe zu verdanken, unter deſſen 
Häupter Addifon gehört. Sein Spectator macht allerdings auch noch gegen den Puri« 
tanismus und feine Uebertreibungen Front, aber ftet8 ift er dabei bemüht, eine Grenze bed 
Wipes feftzuhalten und die Bedeutung des Iepten Grundes, von dem Diefe und andere 
religiöfe Richtungen ausgehen, und die Bedeutung deffelben für Staat und Gefellfehaft 
anzuerkennen. Was mehr oder minder von jeden ber bedeutenderen englifchen Volksſchrift⸗ 
ſteller gilt, galt ganz beſonders von ihm, er fühlte fich, wenn er die Feder ergriff, als 
Staatdmann, niit verantwortlich für den Frieden und die Ordnung der Gefellfchaft. 
Der „Zufchauer” ift eine Wochenschrift, welche ihre Zeit Fritifirte, ein charakteri⸗ 
ſtiſches Bild der Gegenwart zu geben, Sitten und Thorbeiten der Menfchen vom Stand⸗ 
‚ punkte eines milden Philofophen aus zu recenfiren verfuchte. Wer fich näher mit ber 
Sache befaffen will, den verweifen wir auf die Vorrede Addiſon's zum Spectator an 
den Lord John Somers von Evesham und auf die deutfche Ueberfeßung vom Spectator 
bei Breitfopf in Leipzig 1751. Addiſon ward im vorigen Jahrhundert als ein Mufter 
des feinen Gefchmades überall Empfohlen, 3. B. in Deutfchland von Durſch: „Briefe 
an einen jungen Herrn von Stande zur Bildung des Geſchmackes“. Und aber Tiegt 
Addiſon's Spectator aus einem anderen Grunde näher. Was nämlich heute in England 
der „Punch“, in Paris der „Charivari” (mar), in Dentfchland der „Kladderadaiſch“ 
oder der „Dorfbarbier” u. f. w. find, dad war feiner Zeit der Spectator von Addiſon. 
Bergleigt man die Producte diefer bumoriftifchen Tagesliteratur der Gegenwart mit 
der Zeit von Addiſon, fo fteht in mancher Hinficht Addiſon's Spectator viel hößer. 
Die modernen Wipblätter bieten feine Einheit des Principe, des Zwedes, und haben 
feine fo bedeutende Perfönlichkeit an der Spite ftehen, wie Addiſon war. Zmeitend 
ift die Wirkung unferer modernen wißigen Zeitkritifer nur fehr nmıomentan, die Wirkung 
ded Spectatord war weit anhaltender. Addifon ift nicht rein negirenn aufgetreten, 
wie jeßt unfere beutfchen und bie englifchen Wigblätter, fondern hatte eine confervative 
fittliche Tendenz. Addiſon verfolgte einen beftimmten Zwed, ein bewußted Ziel — 
was aber dad Ziel des „Punch“ oder „Kladderadatſch“ fein fol, das weiß Die bes 
treffende Rebaction felbft nicht. So fleht uns alfo der Spectator des Addiſon als 
ein NRepräfentant der öffentlichen Meinung im Anfang des 18. Jahrhundert da — 
wie unfere Wigblätter jebt der Ausdruck der öffentlichen Meinung oder vielmehr der 
allgenteinen, öffentlichen Stimmung find. Es ift wohl nicht nöthig,- darauf aufmerkſam 
zu machen, daß Addiſon für die Gefchichte der öffentlichen Meinung und des herr⸗ 
chenden Geſchmacks des vorigen Jahrhunderts eine Hauptquelle if. Wenn nıan einmal 
eine wirklich erfchöpfende Gefchichte ded vorigen Jahrhunderts fchreiben wird, fo wird 
auch Addifon darin eine andere Stelle finden. Außer den Titeraturgefchichtlichen Wer- 
fm von Chambers, Hettner u. A. ift Macaulay „Critical and historical‘ essays“, 
Aikins „life of Addison“ und Tidell’8 Leben von Addiſon, deuti vor dem 5. Band 
des Spectators, zur genaueren Kenntniß Addiſon's zu vergleichen. 
Additional⸗Aete von 22. April 1815. Napoleon, von Elba zurüdgefehrt, fand 
bie politifchen Ideen, welche er in Frankreich fo lange und fo beharrlich zurückzudraͤn⸗ 


320 Additional⸗Aete. 


gen verſtanden hatte, in voller Gaͤhrung. Ludwig XVIII. hatte dem Volke eine freie 
Preſſe und eine freie Tribüne zurüdgegeben, und es war dem kühnen Exkaiſer unmög- 
lich, wollte er feine Bopularität nicht gefährden, dieſe Rechte Des Volkes zurüdzunehmen. 
Da es ihm aber wiberfixebte, Die Geſetze der Bourbonen anzuerkennen, fo gab er in 
einem Zufag zu der wieberhergeitellten Gharte des Kaiſerreichs, eine Betätigung ber 
feit Kurzem in Frankreich wieder geltenden Freiheiten. 

Die Urſachen, warum Napoleon nicht, wie er Anfangs verjprochen hatte, eine 
ganz neue von Abgeordneten der Nation zu prüfende Conftitution, ſondern nur eine 
Aufaßacte zu der Gonftitution des Kaifertbums gab, find befannt. Theils hielt er die 
Zeit felbft nicht zu öffentlichen. Debatten darüber geeignet, theils wollte er nicht den 
Schein haben, ald begönne er eine neue Herrſchaft. Cr, der fich über die Anmaßung 
„des Königs von Hartwell” ') Luftig machte, feine Regierung von Ludwig's XVII. Tode 
an zu datiren, wollte doch ebenfalls nicht fein Reich durch das Eril auf Elba 
ald unterbrochen gelten laſſen. Umfonft beſchworen ihn Gonftant, Decrès, Fouche, 
Coulaincourt, umfonft zeigten jie ihm, daß man die Erwartung des Volkes erfüllen 
und eine neue, von allen despotifchen Acten gereinigte Conftitution geben müfje, um 
nicht das öffentliche Zutrauen ganz zu verjcherzen. Seine Acte erſchien. Statt der 
gehofften und zugefagten neuen und gereinigten Berfaifung erhielt man nur eine Modi⸗ 
fication der alten, die früheren verbaßten Senatusconfulte bildeten noch immer bie 
- Örundlage; die Männer der Gleichheit, welche ganz in die Fußſtapfen von 1791 wie 
der einfegten, zürnten offen über die Beibehaltung der erblichen Pairs kammer neben 
einer fünfjährigen Repräfentantenfammer, die Begüunftigung des Adels und feiner Infi- 
tutionen; Andere tadelten, daß Napoleon nad) Ludwig's Art dem Volke dieſe Arte 
octroyirt und als unabänderlich aufgedrungen habe, da fie doch von den Volke felbfl 
nur mit. feiner Beiwirkung bätte auögehen ſollen; ferner daß die durch die Föniglide 
Charte ſchon aufgebobenen Confiscationen wieder bergeftellt worden wären u. |. mw. 

Die Unzufriedenheit des Volkes zeigte fidy fo deutlich, daß Napoleon eine Tange 
Proclamation, worin er fih und den Branzofen zur Herrſchaft dieſer neuen Geſetze 
Glück wiünjchte, bei Seite legen mußte. Er ließ dafür das Decret zur Berufung der 
Wahlcollegien erjcheinen, welche die Mitglieder der neuen Nepräfentanten ernennen foll- 
ten. Ein fogenanntes „Maifeld" — eine Nachahmung jener National VBerfammlungen 
unter der fränfifchen Monarchie — wurde zum Behuf der Einführung der neuen 
Verfaſſung endlich auf den 1. Juli berufen. | 

Eine Bartei hatte gewünfcht, Daß der Kaifer bei dieſer Gelegenheit das Kaiſer⸗ 
thum umſtürzen und Die Republik wieder aufrichten follte; eine andere, Daß er Napo⸗ 
leon Il. proclamiren möchte, eine dritte, daß er Die Krone niederlegen und dem foue 
raͤnen Volke das Mecht hätte geben follen, jle ihm zurüdzugeben oder einem Wuͤrdi— 
geren anzubieten. Ein Augenzeuge fagte, daß nur der Anbli der Deputationen det 
verfhiedenen Armee⸗Corps, die dazu von der Grenze hergefommen waren und jogleid 
nachher wieder dahin aufbrachen, das Volk, indem fle es rührten, zum Schweigen 
bewogen hätten. Schienen fie doch dem Volke und dem Kaifer zuzurufen: moriluri 
ie salutanl! („Dem Tode DVerfallene grüßen Dich“, Worte, welche Die zum Todes⸗ 
kampfe eilenden Blakiatoren in der Arena im Alterthum auszurufen pflegten.) 

Der Eröffnung der Kammern fah der Kaifer nicht ohme eine ahnungsvolle Un⸗ 
ruhe entgegen. Aus feinen Betrachtungen darüber wählen wir die über feine Situa⸗ 
tion ihnen gegenüber im Kriege ald fehr merkwürdig aus: „Wenn der Krieg einmal 
ausgebrochen ift, fo wird die gleichzeitige Fortdauer der Seſſion einer berathenden 
Verſammlung eben fo ſtörend als bedenklich. Sie verlangt nach Siegen. Trifft den 
Fürften ein Mißgeſchick, fo bemächtigt ſich der furchtfamen Leute Schreden, und ſie 
werben ohne e8 zu willen die Werkzeuge waghalfiger Menfchen. Die Furcht vor dei 
Gefahr, die Neigung, fich ihr zu entziehen, verwirrt alle Köpfe. Die Vernunft if 
dahin, Die phyſiſchen Eindrüde und Erregungen gelten alles. Die Laͤrmmacher, Die 
Ehrgeizigen, gierig nach Auffehen und Volksgunſt, erheben ſich aus eigener Machtvoll- 
fommenbeit zu Volksfürſprechern und Mäthen der Fürften; ſie wollen alles willen, 





ı) Hartwell in Budinghamfhire in England, wo ſich Ludwig XVIII. feit 1807 aufhielt. 








A deeouvert. .. Mick, Pine des Muffe: MER 


alled regeln, alles: lenken. Wenn man auch ihre Rathſchlaͤge nicht hört, ſo werben fie 
»aus Mätben zu ‚Eenforen, und aus Genforen Berfihmörer und Rebellen. Dan muß 
wer Fünf fich entweder unter ihr Joch beugen ober fle bavon jagen, und in einem wie 
dem andern Fall compromittirt er fafl immer feine Krone und. den Staat:* 

Diefe Worte allein genügen, um die Meinung, ald ſei Napoleon: in den 
hundert Tagen. nicht mehr der alte, fehasfiinnige und überlegene Kopf gewrfen, zu 
wiberlegen. Was er bier jagt, iſt eine Prophezeiung, die Wort fir Wort wenige 
Wochen darauf, als feine. signe gefeßgebende Berfammlung gegen ihn mitten Allinten 
ſich in’8 Einvernehmen zu feßen fuchte, eintraf. Frankreich war eben am Ende aller 
Moglichkeiten angefommen, umd fein Halbgzott hätte fih in ihm als Herrſcher halten 
fönsen, auch Napoleon nit. Es wat alles zerrüttet, alles unzufrieden, und Niemand 
wußte recht warum. 

So groß auch bei Errichtung der Pairskammer der Andrang Nady dieſer, ie 
war, fo gab es doch fünf bis ſechs, Die diefelbe ablehnten, unter. ihnen war Macdo⸗ 
nad. Goulaineourt war zuerſt der Meinung gewefen, daß auch große Grundeigenthi⸗ 
mer, Kaufleute, Gelehrte, Ranufacturiſten, Nechtögelehrte se: zu dieſer Würde, die aber 
nicht erblih fein follte, zuzulaſſen wären; Napoleon hätte dagegen gein:bie.großen 
hiſtoriſchen Familien Namen unter ihnen gefehen; doch gab er. enblich nach uni, entheilte 
nur einigen vom alten Bergamenis Übel die Rairswürde; die zurückgeſetzten rühmten ſich 
nachher, die Würde. ausgefchlagen zu haben. Die zweite Kammer zeigte Dem: Kaifer 
bei. der eriten Zuſammenkunft ſchon durch die Wahl des Hrn. Lanfeindis. zum: Präfl- 
denten (Hatt bes vom Kaifer gewünfchten Bring Lucien), daß ſie nicht unter feinem 
Einflufle fände, und fie drohte in ihrer zweiten Sitzung ſchon, ih nicht befinktiv zu 
conftituiren, ehe nicht der Kaifer bie Lifte der. Pairs bekannt. gemacht haben wsürbe, 
und bereitö in ver dritten begannen führe Stimmen in ihr eine Unterfuchung. der echte 
des Kaiſers. Der Kaifer empfand dies tief, ohne jedoch, ferner und Frankreichs kriti⸗ 
fiher Rage gedenkend, von feinem Rechte die Kammer ſogleich aufzuiäfen,: Gebrauch 
machen zu wollen. Am 7. Iuni- eröffnete er die Kammern. . Am 12. Iunt Kachts 
reifte er zur Armee. Sein Stern war gefunfen und dad Schiff „Belleropbon*: wartete 
ſchon feiner, um ihn nach dem dden Eiland im Ocean zu bringen. | 

A deseuvert, . Mit dieſem Ausdruck wird im kaufmaͤnniſchen Verkehr jede Oper 
ration brzeichnet, bei weicher der zu bemwerffbelligende Werthumſatz nicht durch Den. Beſttz 
ber verhandelten Werthe ober entfprecheniver Sicherheit verbirgt iſt. Man. keunt alfo 
Verkäufe a decouvert, wenn ber Berkänfer bie :zu liefernde Waare wicht befigt und 
er .fich jelber fe befchaffen muß. Dergleichen Verkaͤufe werben zumeiſt von ſolchen 
Speculanten unternommen, die auf baldige Preidermäßigung der a decouvert verkauften: 
Waaren hoffen, indem. fie dann vor dem contractlich feſtgeſtellten Beitpunft. Dad zu 
efernde wohlfeiler zu befunnmen erwarten, als ſie es verkaufen müflen: Sölde: Wer⸗ 
färsfe heißen auch Blawco'verfäufe. Beinahe fämmtliche Börfenopemtisnen a la baise 
(wo Der Berläufer aus dem Ballen ber Eourfe zu gewinnen hofft) werben & decesirart 
gefehloffen; deun der Buifiler verkauft in der Erwartung, daß die Papiere noeh. unter 
bee Cours fallen, zu welchen er fie zu "liefern verſprochen, ſo daß bie Differenz zwiſchen 
dene Berkaufbprels und dem tiefer gefalbenen Börfeneoma,. zu dem er ‘einkaufen Cfidy. 
desten) Tann, feinen Gewinn ausmacht — A döcouvert kann man ferner Eredite 
erdffnen, wenn die Perſonlichkeit ober bes. Ruf: des Creditnehmers Einem’. Biugſchaft 
genug find, daß er pünktlich Zahlung leiften werde. Im Handelsverkehr bercchen bie 
ſogenannten Gefalligkritswechſel (papier de complaisanee) auf-berartig ungedecktem Credit. 
Es find Wechfel, welchen kein Werthumſatz, Feine Gutrichtung ‚der -Baluta, Feine Deckung 
oder Sicherung der eingegangenen Verbindlichkeit zu Grunde liegt, fonbern diem 
Handelsfreund dem andern aus Gefülligkelt girirt oder acceptirt, im‘ guten Olauben, 
daß dieſer zahlen und — vielleicht demnächft Gleiches mit, GSleichem vergelten' werbe: — 
Das Gegmihrl: von den A deeouvert ertheilten Grebiten bilden Grebitgewährungen gegen 
Deckeng (Ginterlegung guter Wechfel, öffentlicher Papiere w. f. w.), bei dieſen iſt Der 
Gläubiger dutch: das Hinterlegte geftihert, wenn der Schulpner im Rückſtand bleiben follte. 

Adel, Plan des Aufſatzes. Kritil der allgemeinen Adels⸗hed⸗ 
rigen yon Bluatili, Welder und Haller. Unſere Aufgabe bei Behandlung Diefer 

Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. 1. 21 





— 


X Abel, Plaa ves Aufſahes. ...64 


fo wichtigen Frage haben wir als eine dreifache erkunnt, nümlich eine Lritiftrende, 
eins hiſtoriſch referirende und ſchließlich eine nach den falttfcher Zuſtäͤnden conä⸗ 
ſtruirende oder legislatoriſche. Nach dieſer Aufgabe richtete fich des Plan ber 


ganzen Arbeit, und nur nach dieſem Plane mäge man dieſelbe beurtheilen. Es war 


nicht unſer Plan, eine doctrinäre Anſicht vom Merl von vornherein als Dogma 
aufzuftellen und dann nach diefer toten Theorie die enderen Theorieen und bie Ge⸗ 
ſchichte zu beurtheilen, fondern wir wollten nur mit geößerer Genmtigfeit und Dem 
durchaus nöthigen Weberblid die Gefchichte des Adels. betrachten und daraus ein Hr 
fultat abftrahiren, dad als Balls für eine Adels⸗Theorie dienen Fönnte. 

Die Brage, ob es einen Adel geben foll ober nit und weicher. Abel mit um 
feren heutigen Zuftänden verträglich jet, bildet im ganzen Verlauf der Hriftlich-ruropätfchen 
Staatengefhichte und bis heute eines der Motive des großen Kampfes zwiſchen RNo⸗ 
manismus und Germanismus. Seit der franzöflfchen Revolution ift der Widerſtand 
auf dem faft ganz romanifisten Feſtlande gegen den Homaniemus im Wadhfen- begriffen, 
und es war natürlich, daß man das Modell des Germantsmus, England, zum Duder 
und Borbilb in dieſem Kampfe gegen den NRomanitmus genommen bat. : Deutfihland 
M in feinen Imflitutionen und beſonders in der Stellung des Adels ganz dem roma⸗ 
nifcgen ‚Frankreich gefolgt, und die Nachahmung der Megierungen Lubiwig’3. XIV; und 
XV., befonderd im füdlichen und mittleren Deutfchland, bat alle ober faft alte Ueber⸗ 
refie des Germanismus zerftört. So hat Deutſchland eine mehr Branfreich als Eng 
land analoge Entwidlung durchlaufen, und ſelbſt alle Nachahmungen Englands vom 
Barlamentarismus, der Adelsreform, den Schwurgerichten u. f. w. an bis auf Die aͤußer⸗ 
liche Anglomante im Leben bat man auf dem Feſtlande erft über Frankreich bezogen 
und auf eine gewaltfame Weife, d. 5. auf dem Wege der Revolution, ohne Rückſicht 
auf die eigene Nationalität, in's Leben gerufen. Ob fle aber in dem Treibbauie bei 
Feſtlandes lebens faͤhig fein, das bat man erft dann angefangen zu überlegen, als dieſe 
ſchoͤnen nad Frankreich 1789 verpflanzten englöfchen Gewaͤchfe 1851 bort plöglic ab⸗ 
geftorden And. Erſt durch dieſe Erfahrung iſt es dem Feſtlande son Europa nahe 
gelegt worden, daß man eine tauſendfaͤhrige Entwicklung doch nicht fo leicht. Durch eine 
Mode verdrängen kann. 

Wir gehen deshalb auch nicht von einem Faeäl aus, das und in England etwa 
ober in dem romanifchen Sicikten realiftrt erſchiene, fondern wir nehmen Die Derhilb 
nifle, wie fte find, und anflatt — wie anderswo — biefen Artikel mit einer. langen, 
son und tonflruirten Adelstheorie zu beginnen, werben wir nur zum Schluſſe ver 
fuchen, in den Gemeinfamen und in Dem Principe Der geſchichtlichen Entwiclelung ei: 
penetifche Theorie zu gewinnen. 

Die Wichtigkeit des Artikels: Adel bat Die Rebaction veranlaßt, henſelben in 
größerem Umfange zu geben. Es war indeß Doch nicht ausführbar, die Geſchichte des 
Adels in den aͤlteſten Staaten Afiens, bei den ‚Griechen und Mömetn, ſowien den all 
deutfägen Adel und den des Mittelalters erfchöpfend gu behandeln. Es wäre Dabud 
bes Umfang des Aufſatzes zu groß geworden. Zudem ift ed, auch mern man bie so 
claſſiſche Geſchichte und das Alterthum ausfiheidet, nicht möglich, Hom Abe bei ben 
alten Deutfchen oder im Mittelakter zu fprechen, ohne Die Bamalige Geſellſchafts⸗ wm 
Staatöorganifation mit in die Betrachtung binsinzugiehen. Ja wir hätten g. B. dei 
Bogteiwefen im Mittelalter ımd die Stellung des Adels zum Vermoͤgen der Kitche 
betrachten, erörtern und und ganz eingehend mit der Privatwitthſchaft des Asch 
im Mittelalter befaflen müflen, wie er auf dem Lande und in den Gtäbten gam 
verfchtedene Wirthfchaft, Gewerbe und Yabrientien trieb. - Richt anders waͤrr es und 

esgangen, wollten wir bie Culturgeſchichte des Adels nach den modernen Prixtipien 
Qustelet’S3 an ber Hand der Statiſtik beſprechen. Es reichte zu allen. dieſen — 
führungen der Raum bier nicht aus. 

Rifo konnte der Bien nur in eines eingeſchränkten Skizze euägefäkt 
werden. Es follte der ganze hiſtoriſche Theil — Witdensfcher Adel und Abel an 
Mittelalter — nur Gttzzze fein. Daran follte ſich in ahnlich bemeffenem Mınfange eine 
Ueberſchau Über den Adel dr Gegenwart anfdhließen, wobei wis Me Mittheklungen 
über den Dil in en eingelnen Landern ve den biefen Landem ſelbſt ge⸗ 








Adel, Pia des Aufſatzed. 323 


wiönseten Artikeln vorbehalten mußten. Nachdem wir alkbann einen Blick auf die 
Zu kunft des Adels gethan haben, geben wir -zu einer wirklich anwendbaren, practiſchen 
Adelstheorie über. 

Wad den altgermanifchen oder, wie wir ihn nennen, altdeutſchen Adel bes 
trifft, fo müffen wir bemerken, daß es und nur auf zwei Punkte anfam: 1) die richtige 
Anficht (von Welder) anzuerfennen, und 2) den Punkt hervorzuheben, um welchen ſich 
Die ganze Frage eigentlich dreht, welchen uber Welder nicht erfannte. Die zwei anderen 
Anſichten und Die ganze damit verbundene Polemik, die bis in die Jahre 1818-1820 
zurückgeht, bat für uns jeßt nur noch ein literar⸗hiſtoriſches Intereffe. Werner mußten 
wir ganz kurz den Kampf der Geltomanen und der Deutfchthümler berühren; es Hätte 
und zu weit geführt, denſelben, der jebt noch nicht entſchieden tft, eingehend zu be⸗ 
fprehen. Wir nahmen die neueſten Nefultate der Forſchungen von Mone mb La⸗ 
tbam ald unfere Balls an. 

Bei der Geſchichte des Adels im Mittelalter konnte es ſich natürlich ebenfallis 
mer um eine Skizze handeln. Nichtsdeſtoweniger find wir ſicher, daß wir in unſeren 
Andeutungen manche Winke zu einem eingehenden Verſtaͤndniß gegeben haben, bie man 
In den bisherigen Geſchichten des Mittelalterd nicht findet. 

Daffelbe gilt von den Abel der Gegenwart und ver Zukunft. Es mußten auch 
bier, wie beim mittelalterlichen Adel, mitunter vortefflihe Monographien über den 
Adel einzelner Staaten unberhcfichtigt bleiben. Wir wollten nur den Adel in Curopa 
im 19. Jahrhundert ſchildern. Aber auch dabei war es unfere Pflicht, Hauptfächlich 
ven deutfchen Adel unfere Aufmerkfamfeit zu widmen. 

Für unferen Zweck wird es genügen, wenn man die drei für bas Bertändnif | 
des heutigen Adels wichtigften Momente befprochen und gründlich gewürbigt ſindet: 
1) Europa fcheidet fich noch jetzt in zwei Theile, in den des Familien⸗ (Blut⸗NAdels) 
and bes Beſitz⸗Adels, oder, wie man fagen Tann, in den Senioren-sund Odal⸗Adel, 
wie dies nach der Völkerwanderung ſchon im 6. Jahrhundert der Fall war. 2) Eu- 
ropa fcheidet fich in Anbetracht der Staatöverfaffungen in zwei Theile, und dieſe geben 
zugleich zwei Arten des Adels: den Imperialismus mit der noblesse imperiele, und 
die Ausläufer der mittelalterlichen Feudalſtaaten (Finanzflaaten nennen wir fie), wekche 
einen hiſtoriſchen Adel haben. 3) Endlich wird der Verſuche gedacht, die feit Anfang 
Diefed Jahrhunderts angeftellt wurden, dem Abel wiederum eine feiner Bergangerfheit 
entfprechende Stellung durch Zuweiſung foctaler 2. Aufgaben zu geben. &s reiht ſich 
daran die Brage, welche Schritte gefchehen nrüften, um derartigen Verſuchen die Moͤg⸗ 
lichkett des Gelingens zu ſichern. 

Aus dieſem Plane erſieht man, daß wir auf hiſtoriſchem Wege zu einer 
Anelstheorie gelangen, daß wir eine genetifche Definition von Adel geben wollen. 
Wie der Adel nothwendig entfland, wie er mit berfelben Nothwendigkeit ſich in ein⸗ 
"zelnen Rechten entwideli und wie er fich vermehrt bat nach verſchiedenen Printipien, 
das war unfere Abficht nachzuweiſen, bevor wir dem Lefer ımfere praktiſche Adelstheorie 
vorlegin. Wir haben ibm alfo umfere Abſicht nicht aufgebrängt, ihn niegend bei 
den Ausſpruch von Autoritäten oder Doctrinen beſtochen, fonbern ihm durch Die Meber- 
Heferung des hiſtoriſchen Apparate vie Möglichkeit eines eignen Urtheils geſtchett. 

In Folge dieſer objectiven, vein-bifterifchen Würbigung des Adeld- Inflitutes 
fann unfere allgemeine Apelstheorie nur darin beftehen, 1) die bisherigen Theorien 
von Bluntſchli, Welder, Haller zu verwerfen, 2) die unfrige nach folgendem 
Brincipe zu conftruiren: Aus der Theorie des National= Adel bei allen Volkern, bed 
yolitifchen, des foeialen, des wirtbfihaftlichen (Gelo⸗Adels), des Intelligenz « Adels, 
jo wie aus der Theorie des romanijchen Blut⸗Adels und des deutſchen Gut⸗Adels, 
des Erb» und Berfonal- Adels ergtebt fi; als Grundlage unferer Befammtthesrie eine 
Einficht in den die nothwendigen Arten des Adels verbindenden Organismus. 

Unfer Artikel, Adel“ zerfällt alſo in drei größere Stücke: 1) die Krtik der bis⸗ 
herigen Theorieen vom Abel, 2) eine hiftorifche Melatien und 3) eine praktiſche Adels⸗ 
theorie, wie fie nach der Entwickelung des Feſtlandes geboten, den Bebürfniffen ber 
Gefellſchaft und des Staates angemeſſen und mit ben vorhandenen Elementen durch⸗ 
ſahrbar erfcheimt. 

21* 


—— 


IH Add, Keiitl dert Melothtovieen. 


Gehen wir zuerſt bei der Kitik über NRlums ſchtid Eelsthedrie auf deſſen 
Definition von Abel ein. Er fagt in. ſeinem. Staatswörterbuch“ ©. 30: „Adel im 
vollen Sinne des Wortes ift nur da, wo die foriale Anlage der Auszeichnung auch 
eine ſtaatsrechtliche Erfüllung und Anerkennung gefunden bat.”. Werner unterfcheibet 
Bluntſchli Individual Adel vom Erbadel und auch Den latenten von 
activem Adel. Dieſe beiden Säbe Eönnen nach unſererAnſicht niemald der Aus⸗ 
gangspunft ‚einer Üpelstheorte fein. Wir nehmen Anſtoß⸗ an dem Ausprud „Auts 
zeichnung.“ ‚Wir nehmen Anſtoß daran, daß Bluntfchli: bezweifelt, ob der focialen 
Auszeichnung’ auch die flantörechtliche folgen müfle; endlich müflen wir durchaus Den 
Unterſchied zwiſchen ſeinem Individual» und Erbadel verwenfen; nach unferer Auf⸗ 
fafſung beſteht Der Adel eines Individuums darin, daß. dieſes. Individuum gewiſſe 
beſonders qualificirte Eigenſchaften hat, welche anderen Individuen fehlen. Bad für 
Eigenſchaften es find, deren Beſitz einen einzelnen Menfchen vor den Mebrigen aus⸗ 
zeitimet, Died hängt von der Zeit und von dem Ort ab, wo das Inbivibuum lebt. 
In der frübeften Zeit find dieſe Eigenfchaften mehr anßerlich amd materiell, bei zuneh⸗ 
mender Eultur erhalten felbige eine mehr immaterielle Natur. Idee Menfch lebt drei, oder 
wenn man will vier wenigftens begsifflich zu trennende Leben. zu gleicher Zeit; er lebt 
ein phyſiſches Leben, er lebt ein ſocial⸗politiſch⸗ wirthſchaftilches Leben, er Iebt ein 
Leben feiner Intelligenz ‘und zulegt ein individuelles Leben it; 'eminenten Sinne, Dad 
it ein Leben feines freien Willens, feines Gewiſſens und feiner individuellen Beziehung 
zu Gott. In jedem dieſer Leben vermag der Menfch fig Wüter zu verfchaffen, über 
welche er dann als über ein Capital verfügen kann. Gewiß haben biefe Güter zu 
verschiedenen Zeiten und. bei verfihienenen Völkern einen. h verfchiebenen Wertb; 
es wird alfo die Summe diejer Güter und Qualitaͤten 4 ‚ Höchft ungleiche Aus 
zeichnung vor den übrigen Menfchen geben. 

Natürlig, Daß die ermorbenen Güter oder die Summe won. Dualitäten, alſo dad 
Enpital vererbt werden Fönnen, daß der Erbe derfelben fie Armehren oder aufzehren 
Tann. (oder wie Bluntfchli fagt, daß fle fich verflüchtigen könien). Wir wollen einige 
Beifpiele anführen. Wenn im chriftlichden Mittelalter ein Menſch in feinem individuellen 
Leben des freien Willens und feiner Begiehung zu Gott Uund in feinem Gewiffen eine 
geoße Anzahl von morelifhden Gütern oder Eigenfchaften füch -erniorben hatte, fo nahm 
er Durch dieſe Eigenfchaften eine unglaublich hohe Stellung: vor alfen übrigen Men: 
fehen ein. Wir erinnern z. B. an den heiligen Bernhard. Jetzt in unferer Zeit haben 
diefe Güter und Eigenfchaften des freien Willens nicht mehr venfelden Werth, als im’ 
12. Jahrhundert; Dagegen nimmt ein Mann, 3. B. ein Rothſchtld der ein ſehr große 
Bermögen beſttzt, alſo in feinem wirtbfchaftlichen Leben eine Maſſe von Gütern ſich 
erwerben oder ererbt bat, eine bedeutende Stellung ein, d. h. er genießt einen Perſonal⸗ 
Adel. Ebenfo mußten in anderer Zeit Männer wie Schiller und Goethe adelig wer 
den, weil das dichteriſche Capital, über das ſie verfügten, in fee hoben Werthe fleht. 
Ob durch Grundbeflg oder Durch großes bewegliched: Verarmögen;. ober Durch hervor 
ragende Eigenfchaften ded Geiftes und des Charakters bedingt, Aniner ergiebt fich md 
dem Obigen doch von felbft, daß Dad Weſen und der Begriff des. Adels auch nach bet 
Anfeflung Bluntſchli's zunächft Davon abhängen müflen, welchen Eigenſchaften, welchet 
Kategprie ımd Summe von Gütern die vernünftige Gefademiheit Der Menjchen in einem 
Bande offietell den höchflen Werth beilegt. Bit anderen Wortenen der Adel hängt de 
von. ab, welchen Preis⸗Courant der Güter das öffentliche. uebereintemmen der Menſchen 
eines Landes feſtſtellt. 

. . Eine aͤhnliche Bewandtniß aber hat es mit Der. Grit. tee Adels. Es leuch⸗ 
tet ein, daß die „auszeichnenben" Eigenſchaften in: der Art uns Eicherheit der Der 
erdung-wie in der Leichtigkeit des Erwerbes und: der Aufzehrung worfentlich verſchieden 
find, daß 3.3. die Nationalität (der Eroberer in einem von ihnen zur Sclaverei ge⸗ 
brachten Volke), welche in früheſter Zeit als Adels «Cigenjchaft”beitachtet wurde, viel 
ſicherer und natürlicher durch Fortpflanzung vererbuewird, als Tugend und Genie, ja 
Pa dals porie —— daß geſchloſſener befeſtigter Grundbeſitz ſicherer an den 

Gaben gelangt, bewegliches rotivendes Capital; : waͤhrend unbernfülls die Eigen⸗ 
ſchaften, welche * die Nationalität und phyſiſche Vorzüge oder das Genie angeboten 

















— 


Abk Sri ver ·Adeildcheoutren 926 


find, viel. feltenen von Beſttzer wieder nufgegehrt werben, als andere wie z. DB. baares 
Gele. Nach diefer Eintheilung der Eigenfchaften des Menfchen bat die Geſammtheit 
in ihrem öffentlithen und offisieWen Ausdruck denjenigen den Vorzug im Werthe ges 
geben, welche bauernder find und: eine Garantie bieten, Daß fie bleiben und ſich ver» 
erben laffen. Mit dieſer Fortdauer sund ficheren Bererbung der Borausfehungen und 
Bedingungen des Adels iſt aber: dee Erbadel in jedem Staate von felbft gegeben, 
denn der Erbadel iſtiga abe wichts anderes, als die Vererbung bed Adels in Folge 
ber unzweifelhaften Berenbung. eines anerkannten Fundaments. Ia, was nod mehr 
ift, jeder Staat muß dancch ſtreben; daß jeine Muglieder, wo möglich alle, au 
alle Eigenfchaften und: Sater des phyſlſchen, des foclal» politifch = volföwirthfchaftlichen, _ 


des geiftigen und flitlirhew Nebend in ſich vereinigen, daß jedes Inbivibuum alle dieſe 


Eigenſchaften in dem hohen Gräde beſtze, daß fe ber feinen Nachkommen fich immer 
in gefleigertiem Maße Mirberfinden,. fo daß mit der Zeit das Ende zum Anfang zuvüd«- 
kehrt, und alle ſocialrund politiſch: Freie auch wieber Erb-Adelige werben. Leider aber 
wandeln Neid und Mißgumſt. überall: ben umgekehrten. Weg: Wir wollen fogleich dies 
mit einem bekannten Beifiel ausırder Geſchichte belegen. Jedes Volk geht durch ven 
Imperialismus unter, weil dieſer ſich auf die allervorübergehendſten @igenfchaften und 
Güter feiner Untertbanen übt, wie das römifche Reich z. B. auf bie perfünliche 
Zapferfeit und. bad Feldherrnglück eines Stiliho oder Aetiud oder auf die dankbare 
Treue des Odoaker. Dauſſelbe war in den Reichen der Diadochen Aleranderd der Fall. 
Die Eigenfhaft, welcher der Staat des Bafeus in Macsdonien,. deB Antiochus in 
Syrien, der Ptolemäer in Aegypten und des Achäifchen Bundes, das entjcheldende Ges 
wicht und den höchſten Merth beilegten, war ber Haß ‚gegen Rom! — Und darin 
gingen jene Staaten unter.:.: 

Kehren wir hiernach zur. Bluntfhli's- Theorie zurüͤch ſo wurde ſein Satz: Der 
individuelle Adel wird von Staatswegen anerkannt, wo indivi— 
duelle Auszeichnung: affenbar iſt“, ein Sab, den er mit eier verwandten 
Auffeffung Napoleon J. und St. Simons belegt, ganz der unfrige werden, wenn 
Bluntfchli ſich entfchließen Böriute, ‚mit und einen Werthmeſſer aufzuſuchen, an wel 
chem der. Staat die individuelle Auszeichnung immer meflen wird. Wir fagen, Dev 
Staat wird dad als Werthmeffer annehmen, was ihm die Barantie für feine Exiftenz; 
feine Zufunft und fein. Gedeihen giebt. Jeder Staat, der an feine Zukunft und Con⸗ 
tinuität glaubt, muß deshalb auch für einen Adel der Zukunft forgen, und Welderd 
Anſicht, daß der Erbadel her Ratur widerfpreche, tft jo unrichtig, Daß im Gegentheil 
der reine Perſonal⸗Adel überall. eben fo das Symptom, wie die Quelle des Verfalls 
des Staaten geweſen if: Daß :in Amerika, das fo oft angeführt wird als ein adel⸗ 
loſes Land, der Weiße Adeliger fei und ber Neger und Halbſchw und. Yarbige 
Hintesfafle, Unfreier und Skfave, und: daß mithin Amerika die Entwidelung des Nas 
tionalitaͤts⸗ Adels auf. ver. Baſts des Bluts in ſich wiederholt, dad vermögen nur Dies 
fenigen noch zu laͤugnen, ‚welche. den Begriff. „Menſch“ auf den freien Amerikaner 
befchränten und von dem Begriff: und Befen: bed Adels nichts weiter kennen, ala daß 
leidige Wörtchen „von”. — 

Die Haupt-Andführung‘ Bluniſchli's ſtutzt ſtch auf die höchſt unklare Vorſtellung 
von gewiſſen Eigenſchaften bes Monſchen, welche die Urſache des Adels ſeien, und welche 
nach feinen Meinung eine ruhende und. eine active Berechtigung zum Adel verleihen. 

Dieſe Tatenterund active Mbel-Berechtigungs- Theorie kleidet er dann in fol⸗ 
gende ſechs Sätze ein; . 

a). Es giebt einermmdende: Anlage des Adels und. einen bethatigien Abel (activer). 

h) An dem ruhenden Adel haben alle ehelichen Kinder Antheil, denn die Anlage 
besubt lediglich auf der Vortpflanzung des Gebluͤtes und der: Erziehung. 

.) Der ruhende Adel wird zum achiven, wenn bei: dem Individuum eine: Erfül⸗ 
kmg hinzukommt. (CWirn etlauben und bier zu bemerken, daß Bluniſchli vergeſſen 
hat, welches dieſe Esfillung. jet iv % das Inbtoibinum oder der Staat biefe Erful⸗ 
lung gewaͤhren) v riit u dies; 

d)’, Ihe Ast. der. Erfüleng'. vutch— perſdnliche Auszeichmmg, welchen zum 
Jabdividual⸗ Mel erhebt, Tb hiureichend, ven Latent⸗Abei zum Effeetiv⸗Abel zu erheben. 





6 Adel, Kriikb der Adelotheoncen. 
e) Eine Krfklfang iſt der adlige Grundbeſtz, ſei es der durch Erbrecht üͤber⸗ 


kommene, ſei es der neu durch eigene Thaͤtigkeit erworbene. (Wliger Grundbeſitz 


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beißt derjenige, der als fandeögemäße Audflattung einer adligen Bamilie betrachtet 
werden Tann.) Der Stammgutöbeftg ift für ſich ſchon Verwirklichung des Adels im 
Reben und im Staat. Bewegliches Bermögen hat diefen Charakter nicht. 

fy Wird Die vererbte Anlage (zum Abel) laͤngere Zeit nicht bethätigt, fo geht fe 
naturgemäß unter, und if fle uniergegangen, fo Tann file nicht durch Fortpflanzung 
überliefert werden. Sol das Hecht mit der Ratur geben, fo muß ed dafür forgen, 
Daß der Erbadel in den Linien erlifcht, welche «8 während einer oder zwei Generationen 
nicht zur Bethätigung, d. h. zum wirklichen Abel gebracht haben. 

Wir Fönnen nicht leugnen, daß wir diefe Theorie wenig wiſſenſchaftlich finden. Eine 
vererbte Anlage zum bel, namentlich eine Tatente Anlage, möchten wir Taum irgend 
Jemandem abfprechen, und eine ruhende Anlage, Die noch auß der zweiten Stufe er 
zeugt werben kann, follte man der dritten u. ſ. w. nur aus befieren Gründen abfprechen. 
Die vollfreien Sachſen, welche auch vielleicht einmal vorübergehend ihren Grunbbefit 
verloren hatten, oder welche zu ſtolz mwaren,' irgend welchen Inpivinualadel zu erlangen, 
baben deshalb Die Adelsrechte nicht nach zwei Generationen verloren. Wie oft it «8 
im Mittelalter vorgefommen, daß Adlige zwei Generationen lang von ihrem Grund 
befig vertrieben und verjagt, ohne allen Perfonalavel in der Welt herumirrten, bis fie 
irgendwo in eine politiſche Stellung traten und mit ihrem vollen Adel anerkannt wur⸗ 
den. Es ift in der Geſchichte erwiefen, daß Bluntſchli's Theorie niemals irgendwo 
geltend war. 

Wir erlauben und noch den inneren Widerſpruch Bluntfchli’8 aufzudeden. Er 
theilt den Adel in bohen und minderen (niederen) Adel. Der hohe Adel fol mım 
noch feiner Theorie nicht Intent werben Tönnen, d. 5. dem hohen Abel foll die weſent⸗ 
lichfte Eigenſchaft des Adels abgehen! Nichtöpefloweniger hat auch Bluntſchli ein 
dunkles Gefühl von den zwei wichtigen Entwidelungs- Stavien des Staates, menn 
er fagt: „Sp lange das Mittelalter in aufſtrebender Richtung fortfchritt, hob eb 
den Adel empor. Als es abwärts ging, und bie Zeit fih für die moderne Ent⸗ 
wickelung vorbereitete, gerietb auch die mittelalterliche Adels» Inftitution in unanf 
baltfame Abnahme und Auflöfung. Die Gefchichte fchlug freilich verſchiedene Wege 
unter den großen Gulturvölfern ein, aber ſie bewegen fich alle in derſelben (aufmärtd 
und) abwärts geneigten Richtung.” Es ſchwebte Herrn Bluntfchli das vor, daß im 
Stadium des Rechtsſtaates in Deutjchland von 1120 bis 1500 die Dligardyie bed 
Adels fich immer mehr erweitert bat, zur Ariſtocratie überging und endlich in eine 
völligen Adelsrepublik auslief. Er fühlte, daß vom 16. Jahrhundert an ber Finanz⸗ 
faat begann, deſſen Weſen es ift, die Centraliſation der Staatögewalt und den Abie 
Intismus des Staates nach beftimmten Entwickelungsgeſetzen zu fleigern und dabei al 
Vorrechte und Privilegien der juriftifchen Perfonen zu vernichten. Diefe beiden Ent 
widtelungdftabien des - Staates Haben wir Mechtäftant und. Finanzftant genannt. Unkt 
Rechts ſtaat verfichen wir deu Staat, welcher durch einzelne Rechtsſpharen, die 
beftimmt abgegrenzt find, gebildet wird (3. B. der Lehnflaat). In dieſem Entwidelungd 
Radium beruht der Nerus des Staates zur Corporation, zu den Ständen und dem 
Individuum auf der Garantie der berfönunlichen Mechtöfphären im Mittelalter, 3. B. 
der Rechtsſphaͤre der Kirche, des Adels, des Territorialheren, der Städte u. fe m. IM 
Finanzſtaat if diefer Rerus nur dad Steuerzahlen und »fordern. Während Roß⸗ 
bach den Iegteren Freiſtaat nennt und Rofcher zwei andere Namen vorfchlug, Die 
wir unten nennen, machen wir den Leſer auf obige Bezeichnungen aufmerkfam, 
ihm dieſe Ausdrücke im Berlaufe des Artikels „Abel“ noch öfters begegnen werben. 

Betrachten wir ferner die Adelstheorie, mit welcher Welder hervorgetreten Hi 
Wir verfennen nicht, Daß beim altdeutfchen Adel Welder Die einzig richtige, ja bie ein 
zig mögliche Anſicht durchgeforhten hat, aber was das Mittelalter und bie Gegenwart 
betsifft, fo gelten’ ganz beſonders von ihm ſelbſt feine eigenen Worte: „Die unklaren 
Degriffe und die Täufchungen in biefer Materie (Adel) werden durch eine Gefangen 
Stimmung der Benrbeiter veranlaßt." Es iſt namentlich die liberale Auffafſung dee 
Mittelalters ald der Epoche des Fauſtrechts, Pfaffenthums und Kaſtengeiſtes, weißt 

















Mel Mitit ber Adtlaheoieen ar 


Meldet Wegriffe tobt und weiche als Deckmantel für hiſtoriſche Unkenntuiß Bient, 
MWelcker ſcheidet zwilchen wahrer und ariftofwatifcher Geſchichte des Adels; was foll bag 
heißen? * Es :giebt Dad nur eine Geſchichte, und ihre Lauterkeit ift fchnell erkannt, 
ſabald nur ihre. inneren Geſehe und die Nothwendigfeit in. ihrer innern Folge nachger 
wieſen iſt. Welder geßeht durch feine Aeußerung (Staatölerifon, 3. Aufl., S. 174) 
felbft.:ein, Daß er dad Mittelalter gar nicht Fenne. Wer kann denn in Deutjchland 
leugnen, daß Die Maſſe des Volks fait durchgehends von Kelten, Romanen und Slawen 
abfiummt, daß alſo ein nationaler Vorzug des deutfchen Adels ganz natürlich war. Um 
zu. feiner Anslätheorie zu kommen, geht Welder von einer völligen Mißkennung des 
heutigen Abel-Iuftituted aus. Nach Zupenal's „miserum est, aliorum incumbere famae“ 
glaubt dieſer Staatörechtölehrer, das fei dad Weſen unferes Adels, daß er der Stank 
fei,. der jagen koͤnne: — mein Geſchlecht gebt Jahrhunderte zurüd, fo viel meiner Vor⸗ 
eltern find im Turnier, im Felde gefallen, fo viele ald Stegreifritter gehenkt worben, ſo 
viele wegen bewaffneten Widerſtandes gegen die Fürſten enthauptet worden u. ſ. w. Dieß 
aber ift, wie jeder Bernünftige einfiebt, nur die Schaale des Adels, und der Kern ber 
Sache ‚bleibt Dabei ganz aus. der. Beachtung. Diefer aber ruht in dem Umftande, daß 
mit ‚Der. Ahnenreihe eben geſagt wird. man babe es bier mit einem Gefchlechte zu thum, 
deffen Wohl. und Wehe feit Menfchengevenken wit dem des Staates in ber genaueften 
DVerkinnung ſteht, und deſſen Glieder fich feit Genergtionen in dem Beſitz der vom Stante 
anexfannten Beringungen und Voraußfegungen Des erblichen Adels befinden. Welfer hätte 
bei. feiner. luckenhaften Kenntniß. des deutſchen Mittelalterd nicht über Peter ab Andlo ale 
einen Ariſtokraten jcherzen follen, denn es iſt erwieſen, daß die deutichen Patrizier nur 
gesmanifiste Momanen waren und von den equites romani und Decurionenfamilien ab» 
Ramımien.. Die Abſtammung den Kranken von Troja wird: hier von Welder als böswillige 
Küge. aufgefabt. Wie wenig war fie es. Aber Herr Welcker weiß nicht, maß bie Fran⸗ 
fen Damit ſagten, es ift befangen in feinen eigenen überfpannten Vorwürfen gegen Das 
Mittelalter. Wenn bie Frarken fagten, wir flammen non Troja, fo hieß dies, wir find 
Das einzige. deutſche Voll, Das von den damals noch vorhandenen. römifchen Kaiſern 
Isgitimirt wurbe! Welser findet es lächerlich — und wir flimmen ihm mindeſtens bei 
— wenn mau (Bouald) Die Dreieinigfeitätbeorie fo anwandte: ber König fei Gott 
Dates, des Adel Bott Sohn, die Bürgerlichen die Ereatur. Uber er bätte Doch beden⸗ 
"isn follen, daß man die Erinitätstheorie auch auf die Waflerfloffe, Kohlenſtoff⸗, Stid- 
Beff- Verbindungen und ihre Reihen angewendet bat, — beweift Died aber etwa gegen 
Me Nothwendigkeit and Richngkeit der Sache an ſich? 

‚ : MBelderd Begriff vom mohemen Abel wäre gewiß auch weniger parteiifch, wenn 
es einen vichtigen: BVegriff vom Königthum hätte. Er flieht den König als erblichen 
Staataraſidenten an, der fo lange in Bunction if, ald er etwaß zu präfibiren bat. 
Daß dieſe Prafiventichaft. exblich iR, Das ift eben nur fo berfömmlidh; es kann auch 
anders werden. Eine gang faliche. Anficht vom deutſchen und europäifchen Königtbume! 
Rie.; hat men die Känige in den chriſtlichen Lehnftgaten als Präflnenten angejeben, | 
fondem. nis Cigenthumer des Landes. Macht ſich ein König zum Staatspräſtdenten, 
wie Ras XVL, XVII, Charles X,, Louis Philipp, fo ift das legitime Königthum 
fon ‚dam Imperialigmus gewichen, und hie Möglichkeit, daß auch ein alüdlicher General 
Staatapraſident werden kann, iſt ia. Ausſicht geſtellt. Welder will, daß die Erbfürjten 
ſich an Ihr Volk gufchließen, - ſich von der Allianz mit dem Adel los machen umd dem 
Balke,.:». h. alfo Der Mehrheit deſſelben innerlich perantwortlich, den oberiten Amts— 
Messer deſſelhen fpicken. Ex nennt Dielen Weg den Stein’jhen (armer Stein!). 
Man. anderen aher, daß Der Kimft vor Allem ſich an den Adel und feine eigene Familie 
nur, idea Tradition auſchließe und nicht an's Volk, nennt Welder ven Kreuzzel— 
sungdmeg.. Mlıde es Welcker fehr geiftreich finden, wenn wir feinem Ötaats- 
Praͤßdentan den Rath extheilten, ſich nicht au Die Minifter, fondern an bie Gensb'arımen 
eAzuſchließen? Und nach führt der Welcker'ſche Weg zu Diefem Extrem, wie nicht 
loß Frautatich zeigt. Kin Monarch, d. h. ein Iegitimer, muß vor Allem für jich und 
feine Familie lehen. Hier — wenn irgendywo — iſt das Wohl dei Königs und bes 
Materlondrä. am unzesteonnligften. Gr aunfi danach trachten, Daß er bie talentvolliien 
ra Männer, d. ha nen Adel der Nation, um ſich verfummle, daß er Die 


—— — 


Abel, Kriuit der Adeldcheouetu 


Beten and wohlgerathenſten Kinder babe, daß er reich und im: Lande begüilert fe; 
kurz, er muß in ſich und feiner Familie zunachſt dem Abel, dann dem Volke. ein Ideal 
des tapfern, befaͤhigten, ehrenhaften Mannes, oder mit anderen Worten, er muß ſelbſt 
Der erſte und der beſte Edelmann fein. „Die fleigende Mißſtimmung der Völker,“ vom 
welcher Welder „fürchtet, daß fle größer und fdmeller in der Zukunft fet, als bie 
Rettingsmittel”, wollen: wir durchaus nicht läugnen, doch gilt Diefelbe. nicht Dem erb⸗ 
lichen Königthum, fondem: dem Fürftenthum und des Dynaftie, welche und weil fie 
ſich ſelbſt vernachläfltgt: Haben. Wer die franzöflfche Revolutionsgeſchichte gruͤndlich 
ſtudirt, der bemerkt, daß das Heer der Ouvriers, das Louis XVE., Charles X., Louis 
Philipp flürzte, nicht Durch Die Rechte des Koönigthums erhitzt war, ſondern — 
durch Aneldotchen über die Perſon feines König. Alio Gmtrüflung . darüber, 
daß der König: fein volles Königthum nicht außübt, daß er felbft nicht Dex erfle- und 
befte: Edelmann Hit: Das ift e8, was die Könige flürzt. Stetd find ed Züge aus bem 


‚Bumilienleben der Dynaſtie, aus denen man bemweifen will, daß die Dymmaftie: zu wenig 


ihren königlichen and fürftlichen Pflichten genügt. Möglich, daß zu gewiffen Zeiten der Abel 
wicht Dazu angethan ift, Die Perfon des Fürften mit der Mafle des Volkes zu verbinden 
und zu vermitteln, Doch ift alddann der Mangel nicht in dem Princip, ſondern in der 
geitwetligen Verfaſſung des Adels zu fuchen. Ganz richtig äußert felbft Welser: „Die 
Borftellungen von den :gefchichtlichen ‚Verhältnifien find auch praftifch fehr wichtig, fe 
üben eine wunderbare Gewalt aus auf. die politifchen Grundfäge.“: Das bat das Jahr 
1848 und 1849 gezeigt, gerade, weil man die deutſche Gefchichte völlig mißkannt hat, 
ift Die ganze Bewegung jener Jahre in einer Kächerlichkeit ausgelaufen, eine Rächerliegkrit, 
ver ülle Theorteen verfallen muͤfſen, welche die Gefchichte ihres Vaterlandes nicht kennen 
oder ignoriten. Seine Definition yon Abel giebt Welder S. 178 in folgenden Worten: 
„Adel oder Erbadelſtand im eigentlichen juriftifihen und polltifchen Sinne ift:sin be 
fonderee Stand unter den Bürgern eines Volles, für melden eine bevorzugtenerblick 
Abſtammung und beſtimmte mit ihr verbundene bürgerliche und politifche Vorvechte 
don’ den üͤbrigen Bürgern rechtlich: anerkannt find.” Der Adel oder Erbadel if alfa 
nach Welcker 'eined und Daflelbe, und von dem gegenfeitigen Bedingtſein Der eigenthim⸗ 
lichen Geſtalt der Staatögewalt und des Adels fcheint derfelbe nichts zu wiffen. Und 
doch iſt der Adel nichts Anderes als die Auszeichnung, welche die Höchfte "Central 
gemalt im Staate" oder (im weiteften Sinne) die höchſte moralifche Gewalt, alſo Got, 
mit det Summe gewifjer ausgezeichneter Kigenfchaften ober mit moraliſchen und. phyſi⸗ 
fhen Gütern des einzelnen Menfchen nach ihrer eigenen Natur verbindet, im politifchen 
Sinne 'alfo die Relation der eigenthümlichen Intereffen der Staatsgewalt (mein wis 
ben ſpeciell politifchen Abel betrachten) zu ben bleibenden moralifchen onen phyſiſchen 
Gittern einzelner Menschen. Der. Menſch kann im Körperbau, in: der: Gefinnung, 

in jeder Gigenichaft adelig fen, wenn die hoͤchſte Autorität: piefe:: igenfchaften als: für 
ibre eigenen Intereffen förderlich auszeichnet. Es iſt alfo das der Adel,“ mas cabeiig 
macht. In den Gigenfchaften ebelicher Geburt aus alten Familien Tiegt des Adel nicht, 
ſondern in Beziehung umd -in dem’ Verhältmiß der höchſten Autorität im Staate nad 
dem Umftande, daß einige Menſchen aus berühmten Bamilien ſtammen und dadurch ein 
moralifched Gut ald angeboren ererbt haben. Dieſes moraliſche But wird. afer nur 
dann ald ein folches auch -Außerlich und: rechtlich anerfannt, wenn es den morslikhen 
Gütern der höchſten Autorität im Staate homöogen iſt und wenn: Deren Intereffe gerade 
Durch jeme ebeliche Abſtammung aus alten Familien gefoördert wird. Der. Adel liegt 
alfo wicht in der Famille N. N. oder 2. &i, fondern in- der: Beziehung vier höchſtes 
Staatögewalt zu diefen Familien: Ein Here von N.:R. kann in Preußen hochgeachttt 
und abelig fein, des Namens und der Familie halber, in Amerika. kümmert fidy: wedet 
die Staatögewalt, noch eine dritte Petfon um ihn. Er hat dieſelbe Summe von Eigen 
ſchaften in Preußen wie in Amerika, aber in Amerika wird derſelbe Mann: nur weg 
feiner weißen Sautfarbe für adelig ‘gehalten: gegenüber dein: Farbigen):in - Preußen deb⸗ 
halb, weil er von deutſchem Adel /abſtammt oder von dem alteſten Beamtenthume der 
Monarchie gegenüber dem ſlaviſchen untetjochten VBolke. In Heiden Faällemniſt es das 
Interefe des Staates ſelbſt, das dieſen Mann adelt. In Amerika die Furcht vor den 
Megern, in Preußen dası Bertrauen üuf ſeine Ehrenhaftigkeit, Tapferkeit; Dpferbeitt 





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Adel, Kristt ver: Aickgiheorieen. 08 


nilligtsit uud Taste; :Icher Ameribaner weiß, daß es nicht. ſein Merdaenſtift, daßner 
der kaukaſiſchen Race angehört, und doch. macht es von dieſem Raceadel, ven: der Staat 
ihm gavantist hat, Gebrauch; in Europa aber follte ein Mann nicht auch von feinem 
angeborenen Adel Gebrauch machen dürfen, wenn ber Staat med) Gewieht uf Dir 
entiprechende Eigenfchaft legen maß? 

Welder bemerkt ſelbſt, daß feine Definition nicht ſchaef genug iſt un fagt: ‚nom R: 
politifchen Abel ift zu unterfheiden der Vorzug des Freien vor dem Sclasen, des Gier 
gers vor dem . Beflegten, bed Vollbürgers vor dem: Halbbürger. Das. widerfpricht 
feiner eigenem trefflichen Debuction, daß im altbeutfchen Staate der freie Gmunbbeflger 
der Adelige gewefen fe. Es if, wenn man dis Adelsfrage richtig auffaflen und: eine 
Theorie aufftellen will, vor Allem nöthig, den böchk relativen Begriff von Adel nach 
ber. beiveffenben Entwidlungsftufe des Staates zu geben. In: feiner befangenen 
Definition von Axel erkennt Welder nicht, daß die Franken im fränfifchen Reiche ver 
Gebadel waren, wie Guizot ganz richtig fügt, die Romanen aber wun Verdienſtadel 
wurden, er erfeunt wicht, Daß der fränfifche Staat ſich auf die angebornen Eigen⸗ 
ſchaften der Franken flügen mußte, alfo fle zum Erbadel erhob, nicht auf bie perfän- 
lichen Cigenſchaften einzelner Nomanen (Bildung). Weller flieht daher auch in Den 
Quiriten des römifchen Staates Leinen Adel den Plebeiern gegenüber. Den. Inbipi« 
dual» Adel oder Verdienſtadel rechnet Welder. eigentlich gar nicht zum Adel, weil er 
ja auch gemeinen Schmeichlern ohne Berbienft verliehen werden Eönnte! Dann giebt es auch 
keinen Exrbabel, weit möglicher Werje bei einem Sohne adeliger . Eltern alle Eigenſchaf⸗ 
ten des wirklichen Adels abjolut fehlen. Das hieße mit anderen Worten, den nearmer 
len Zuſtand von der Misgeburt aus feſtſtellen! Weltker laͤßt nur das als Adel gelten, was 
mit dem Worte Adelſtand bezeichnet wird, er kennt alſo nur den juriſtiſchen Begriff 
des Adels. Unſere Anficht laͤßt fih an die. feinige ‚allerdings anlehnen. Da nur der 
Staat den Adel macht, fo giebt es nur.einen vechtlichen, oder, wie. Welker Sagt, jurt- 
ſtiſchen Adel. Die öffentlihe Meinung, welche aber. ebenfalls über bie. Vorzüge des 
Menſchen urtheilt, iſt durch das Weſen ded Staates: und den jeiveiligen Stantigarfland 
bedingt. Sie giebt noch keinen politiſchen juriſtiſchen Adel, aber fle bezeichnet Die: zu 
adelnden . Elemente und hilft diefelben firmen, Damit ver: Staat fle juriſtiſch adle. 

- &8-.ift nach unferer Auffaffung der Schwetpunft bei der Adelstheorie weſentlich 
yerändert, er legt nicht mehr int Individuum und im Vorrecht, das dieſes erbt, ſon⸗ 
dern im Staatszuſtand und in demjenigen öffentlihen Interefle, welches. die; Benerbung 
eines. ſolchen immateriellen Kapttald für den Staat wünſchenswerth macht. . ha 

In Weldckers Anfichten vom Abel befämpfien wir Die ganze altliberale. Anſchaucua 
von Staat, Geſellſchaft und Geſchichte, mb: wir können jetzt ſeinen Ausdruck „der 
Erbadel ſei eine Unnatur, ſei widernatürlich“, ohne Weiteres zurückweifen. 
Was wirklich vorhanden iſt, kann keine Unnatur fein, ſondern weil:.ed.ift) muß es 
auch eine: natirrliche Möglichkeit und eine geſchichtliche Nothwendigkeit in fich 
baden; d. h. nicht als Wunder erklaͤrt werben bürfen, "Wer: von dem Gwrundſate 
ausgeht, daß bir Erbadel ſetwas Widetnatürliches ſei, zwingt aber. den Leſern an ein 
Bunder: zu glauben. Das iſt Welckers Abſicht micht. Es if mithin. fein. Angriff 
gegen ben juriftifchen Erbadel eigentlich gar nicht gegen diefes Imftitut. an: undufin 
fich-getichtet, fondern gegen die Staatöform; in welcher ein ſolches Inſtitut noch!exiſtirt. 

Welcker und Haller find in ihren Mpelsiheorien..im Grunde ganz derſelben 
Anficht über den Adel, wie weitlaͤuſtg erſterer ſich auch gegen Hallen: auslafien ! mag. 
If Dder Heutige: xbabel, das Vollburgerthum, bie wolle: Breiheit, wie bei dem altdeut⸗ 
ſchen Adel Diefed den Adel andınachte, jo wird Weider gewiß bee waͤrmſte VBertheibiger 
der Erblichkeit dieſer Vollfreiheit fein, nachdem er. Die "richtige Idee vom altneutfchen 
We ſo ſchlagend gegen Autoritäten vertheidigt hat. Daß aber unſerem naberneik, 
theils —— theild imperialiſtiſchen Adel und feineaw:forialen Vorrechtene nur ber 
Begriff Der Vollfreiheit zu: Grunde liegt, iſt unzweifelhaft. Es ſoll der Mel das 
auhere Zeichen ſein / daß nur einige wenige aller. Freien do. viel Bildung und Beſitz, 
ab: vorzüglich. die: Tradition der Polittk ihres Baterlanded haben (wagınifı eben ıbei 
dem : Erbäbel:am leichteſten der Fall) Ddaß ſie bei ben. Berathungen über nad: Staat» 
Hohl untibirken konnen. Der Staat, wehdger.. einen. Erbadel gelten Tape, geſteht alfy 





ein, Bafı :ärgelse Menfiken, welche ihr ſelbſtandiges Auſkommen babe ımb zwar Ken 
Biegenfchaften innerhalb des Staatsgebietes, welche bie nöthige Bilbung beilgen, em 
befahigteſten :feien, bei ‚ver Berathung über Dad Staatöwohl: gehört. zu werben. Daß 
nicht alle Menſchen im Staate ihre Vollfreiheit äußern konnen, das verficht. ſich von 
felbft. Die größere Zahl der Staatöbürger Tann ih nicht von dem Berbienft ihres 
Käglichen. Unterhaltes entfernen, um fich mit den öffentlichen Dingen zu befaflen. Der 
Staat erkennt. dies dadurch an, daß er jene nicht in Anfpsuch nimmt. 

- Die Theorie des Adels, welche v. Haller In feiner „Neftaurstion der Staate: 
wiſſenſchaften“ aufgeftellt bat, ift allerdings, wie Welder und Segel ſagten, unklar und 
verfchmonmen. Auch Haller geht von demjelben falſchen Begriffe von Adel aus, wir 
Bluntſchli und Welder, Daß Der Übel etwas der Berfon oder einer Familie, einem 
Btande Inhaͤrirendes ſei. Das ift aber, wie wir gezeigt haben, ganz irrig; der Adel 
if ein Ausflug der Stantögewalt und ber öffentlichen Meinung, welche beide gewifle 
moraliſche Güter bei einem Menſchen mit Rechten und Borrechten -ausftatien, damit 
derſelbe als Stütze des Staates diene. Haller fühlt dad Michtige, wenn er ig Adel 
das nothwendige Reſultat der Verſchiedenheit angeboremer Kräfte. und erworbener 
Gtüudsumfande findet. Aber fein. Ausdruck if fo undeutlich, ald fein Gedanke une 
beftanmt. und unklar, und es wäre vor. Allem nöthig geweſen, daß er hinzugefingt hätte, 
wie die Geltendmachung folcher verfchiedenartigen Koäfte, folcher angegebenen Glücks⸗· 
wwhtände ıc. ‚bedingt if von dem jeweiligen Zufand der Geſellſchaft, ber 
Volkswirthſchaft, des Staatslebens und Der Gultur Mas hilft es 
einem . Genie, wenn ber Staat und die öffentliche Meinung vor der Einilifation keint 
Achtung haben, daun entfteht auch Fein Adel des Talentes, wern auch zahlreiche Talakı 
in dem Volle vorhanden find. Wenn alfo Haller die biäherigen Definifiomen van 
Abel, welche die „Bhilofopben“ auffellten, angreift, fo flinmen wir ganz bei. Galle? 
Theorie hat richtige Momente 3. B. daß es überall Adel gebe, weil es überall ver⸗ 
ſchiedene Stufen des Anjchend gehe. Das Letztere iſt ganz richtig; war als 
entſcheidet über. die Verſchiedenheit der Stufen? Das if Die Stantögewalt; fie if dir 
Autorität, weile die Stufen bed Anſehens nach ihrem. eigenen: Intereſſe nichtet. 

Bergleichen wir zum Schluffe Welders md Hallers Theorie und fehen. wir, meabadb 
ſich diefe Männer widerfprechen, obſchon fie derſelben Anflcht im weſentlichen ˖ huldigen. 

Welcker Halt ſich für einen Gegner des juriſtiſchen Erbadels, uͤberſieht aber, Ab 
or eigentlich ein Geguer des Staatszuſtandes iſt, welcher dadurch, daß er ber. Gehnzi 
einen Vorzug einraͤumt, einen Erbadel hervorruft. Auf Seite 183 feines „Stop 
lexttons“ giebt er zu, daß es verfchiebenen bel gebe, alſo auch verſchiedene Borzüge 
Muũter oder Eigenſchaften) berechtigt: ſeien, Auszeichnungen zu geben, aber er. koum 
acht zu einer. richtigen Etkenntniß derjenigen Macht, die dieſe Anerkennung gewährt 
wer Boch. fanstivnirt. Haller will auch eine Meform des Adels durch Bermchrumg 
Werielben. mittels Intelligenz Adel mit Grundbeſitz. Alſo auch: in ber Meformidee Ar 
Abela find Dis genannten. Gegner ſich nicht fo feindlich, als es nad). Welders Darßeb 
tung ſcheinen koͤnnte. Haller vertheidigt den Erbabel au ſich, flatt des Staetes, in 
welchem berfelbe vorhanden ſein muß. Welcker greift deu; Erbadel an, zexſtört. abti 
damit den beteffenden Staat in feinen traditionellen Prinzipien. .7 
Adel, altdeutſcher (altgermanifcher).: Bevar wir. die zwei entgegen 
gefehten Anſichten über den alideniſchen Adel beſprechen — ob «in Erb⸗Adel, 
Adelsotkaſte, mit adeligen Dynaſtieen, oder ein Vollbürgerthum mit: 
Attributen und Rechten des Adels, als feinen weſentlichen Mepkmalen, — 
fen wir die Zeit, von welcher hier die Rede iſt, etbmelggifch bewachten. 
..Im Allgemeinen ſoll hier nur vom Adel oder Der Geſellſchaftsllaſſe, welche des 
Adel im Mistelalter nd jetzt entſpricht, in der Zeit um erſten Auftreten der: Deutſchty 
im den. Geſchichte bis zum Untergang ber fränkiſchen Wenarchie den Baxlingemand: Pi 
zum Aufkommen nationale Staaten: an Ende des 9. Jahrhundarts geſprochen werdes 
Dasa exſte Anftreten ber. Deutſchen in..nor Geipichte.: aber und ihre, Berüßraue 
nt dem romiſchen Fielche iſt ein Gegenſtand zweier ganz ſtreng geſchie denex michi 
Siorer fee DMieſer Amſichten, welche Die: Tradition und. bedeuatcde bisherige Muteritädet 
que ih. hat, geht won der Vorausſegzung amd, daß nis Valker am xechten Rhein⸗Nicz 











Bl, Hefe. | m 


mit wehhen Caſar in Berührung gekommen iſt und Aber welche Taeitus feine Gert 
mania fihrieb, daß Die Bölker, welche im erften Jahrhundert v. Chr. fo wie im erften 
und zweiten n. Chr. auf dem rechten Ufer des Rheines, in den Alpen und bem mitt 
leren Dautfchland wohnten, wirklich die Voreltern ver jehigen beutichen Nation ger 
weten fein. Man glaubt, dieſe Völker hätten wirklich eine vorgothifche veutfche 
Sprache gefprochen, fie hätten Inflitutionen gehabt, welche man fpäter als urdeutſch 
bezeichnete. Diefe Völker führen den Gefanımtramen Germanen, ein Name, ber 
— wie auch Leo und Grimm anerkennen — entfchieden undentich, nämlich celtiſch 
it, und nady der gaelifchen Ableitung einen „Schreier“, d. i. einen Kriegshelden, 
bezeichnen fol. Ste find aber Feine Deutfchen, fonbern fie waren Eelten, wie 
die Germanen in Hispanien. Nah ber Hypotheſe, daß bieſe Waller 
wirklich Deutſche gewefen feien, bat man fih dann die Völkerwanderung und bie 
Staatenbildung der deutichen Stämme vom 3. bis 6. Jahrhundert dadurch zu er 
flären gefacht, daß man eine neue Hypotheſe conſtruirte. Da nämlih von 
Caſar und Taritus, fo wie von Plinius, Teine Alamannen, Franken, Thireinger u. f. mw. 
ale große Bölker genannt, fondern In deren fpäteren Wohnfigen die Sigambrer, 
Chatten u. f. w. aufgeführt werben, fo bat man bie Hypotheſe eonfruirt, die germa⸗ 
nifchen Bölkerfchaften Hätten ſich in Bündniffe mit einander eingelafien und fich pie 
fpäteren Namen der Alamannen, Franken, Vandalen beigelegt, umter welchem Namen 
fle dann das römifche Reich erobert hätten. Diefe Hypotheſe — denn mehr ifl es 
möcht — iſt in alle unfere Lehrbücher der deutſchen Geſchichte übergegangen und bat 
die Anfchauung und Unterfuchung über Die aliveutfchen Staatenbilpungen fehr getrüßt. 
Wir glauben, biefe Hypotheſe als einen nun überwundenen Standpunkt betrachten zu 
bärfen. Es find in den legten zwanzig Jahren fo viel Interfuchungen auf dem Be 
biete Der Sprache, Der Mythologie, der Schädelbildung, der Numismatik wie der 
ganzen germanifchen Alterthumskunde gemacht worden, daß man ſich zu dem Schlufle 
berechtigt fand, jene Volker am Mbeine, die Cafar, Plinius und Tacitus nennen, 
feten keine Deutſchen gemefen. 

Die Deutſchen, das Heißt die Gothen, Alamannen, Franken, Sachſen, Burgunder, 
Vandalen und Thüringer find — und das iſt die zweite Anſicht — erſt im zweiten 
Jahrhundert n. Chr., theilweiſe erſt im 3. und 4. Jahrhundert zwiſchen der Elbe, ven 
Mpen und dem Rheine erſchienen, ſie haben die bier wohnhaften Celten ſich unter⸗ 
worfen, das romiſche Reich in einem zweihundbertjährigen Anſturm erobert und unter 
ſich die Bente vertheilt, fie haben unter fich jedem Stamme eine beflimmte Provinz als 
Eroberungsobject zugewiefen. Diefe zweite Anflcht theilen wir auch unfrerfeits aus fols 
genden Brimden: 1) haben Die Unterfuchungen der Schädel in den alten Gräbern von 
Deutfgland ergeben, daß Diefe dem celtifchen Volksſtamme angehören, daß die Schaͤdel⸗ 
bildung der freien Franken, Mamannen u. f. w. eine durchaus verfihiedene iſt von ber 
keunzeichnenden Geſtalt der Schädel, welche in den aͤlteſten Gräbern von Deutfehland 
geſunden werden; 2) zeigen die in den Gräbern gefundenen Gegenflänbe, daß diefe 
Volker eine andere Mythologie als die Deutfchen gebabt haben; 3) beweiſen die in 
Deutſchland gefundenen celtiſchen Münzen, daß dieſe Alteflen Völker Deutſchlands Bergbau 
trieben und Münzen prägten. Beides Dinge, welche den Deutfchen bei ihrem erſten 
Auftreten völlig unbekannt waren. Wir konnen dieſe Beweiſe ber völligen Verſchie⸗ 

t dev Sranfen, Alamannen und Sachſen mit den älteften Bewohnern Deutſchlands, 
das heißt den Gelten, noch durch den lingniſtiſchen Beweis vermehren. Bir hegnüigen 
und aber in viefer Hinfiche zu verweilen auf: Mone, die gallifhe Sprache und ihre 
Brauchbarkeit für Die Gefchichte und deſſen celtifche Forſchungen für die Gefchichte Mittels 
enropa's. Was die Schadel⸗ Unterſuchungen betrifft, fo find die Werfe von Lath am 
(Faertus Gem), von Prichaud und Froͤre bekannt. 

Wenn wir aber Die Bisherige Anſicht, daß die Deutfchen von jeher In Deutſch⸗ 
hun gewohnt hätten, verwerfen, wenn wir fefthalten, daß die von Tacitus Germu⸗ 

nen genannten ‚Völker, worumter allerdings einige Deutſche find, *y' nicht als die Vor⸗ 


). Dieſe einzelnen deutſchen Voͤlkerſchaſten in Mitte der Gelten haben 
—— Curopa bringen koͤnnen. ‚Sie Waren nut eingefprengt in Kr I 


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I% 007 Me u 


fehren der Deutjihen zu betrachten. .feien, jo wird Die ganze -Umterfuchung über. Deu all 
deutfchen Adel : abgekürzt. Damit nun Keine Verwechſelung der Namen flatifinde 
und. durch dieſe «ine Verwirrung und Unklarheit .entflebe, wie fie A. Solsmann 
mit meifterhafter philologifcher DVirtuofltät in dieſe Frage gebracht bat, jo wollen wir 
unfere Terminologie. feftftellen. Die „Sermanen” find „Celten“, welche mit. ben 
Deutſchen urfprünglich Nichts gemein, mit Der Zeit aber in dem jegt Deutſchland ge« 
nannten Theil. von Europa Die deutſche Sprache angenommen haben. Sie haben in 
ältefter Zeit, ja bis in dad 16. Jahrhundert das Subftrat gebildet, auf welchem Die Deut- 
fehen ihre. nationalen adeligen Lehnsſtaaten errichteten. Altgermanifch-ift uns alio 
gleichbeneutenp mit celtifch oder vordeutfch, umd bie Brage, ob die Gelten. einen Adel 
gehabt haben, intereffirt und bier nicht. Von einem altgermanifchen Adel handeln wir 
alſo nicht in. dem Sinne, daß wir Darunter die Celten verfiehen, fondern wir haben 
aus Nüdjicht auf den Sprachgebraudh altgermanifch als gleichbedeutend mit alt- 
Reutfih Oben angenommen, weil man eben bisher nach der antiquirten Anſicht beide 
Bezeichnungen als identisch aufgefaßt hat. Wenn wir den altdbeutfchen Abel alio 
betrachten, jo Fünnen wir nicht weiter zurückgehen, alö auf, das zweite und dritte Jahr⸗ 
hundert nach Chriſtus, wo zum erften Male die Deutichen als Völker in der Geſchichte 
auftreten. . | Zu 
.. Behrachien „wir nun zunaͤchſt bie ſocialen Zuſtaͤnde in den Ländern, wohin bie 
Deutfchen im 2. and 3. Jahrhundert ald Eroberer gekommen find, fe. zeigt. fich, daß 
Die Nationalität, ob deutſch oder. nichtdeutfrh, Der tiefgehende Begenfag in der Geſell⸗ 
Schaft war. Die Deutfchen waren hie Freigeborenen, das. heißt. der Adel, Die Unfreien 
waren, die unterworfenen Völker. Nur der Deütiche, d. h. der Preigeborene, ber Ger 
noffe der hexrſchenden Nation, konnte an dem nationalen Verein, an dem nationgken 
Recht, an. dem nationalen . Staataſchutz, fo wie an der nationalen Religion uud ihrem 
beidnifchen Kultus, Theil. nehmen. Nur der Deutfche konnte Band befigen ald Eigenthum, 
denn bie-Nation hatte nur für ſich felbft, wicht für Andere die nationale. Eroberung 
gemacht. Aus biefem nationalen Vorrecht, das der Deutjche, Vollfreie genoß, ent⸗ 
ı widelten. fich die Vorrechte des Deutichen Adels mit, innerer Nothwendigkeit. Diele 
äußeren Vorrechte waren: 1) das Recht, Waffen. zu tragen; 2). das Racht, in. den 
Nathöverfammlungen. zu figen und an ihnen Theil zu nehmen; 3) Das Necht, die natio- 
ı nale Kleivung äußerlich zeigen zu dürfen. Zu den legteren gebörte unter Anderem bie’ 
Tracht eineß langen Haupthaares, weshalb Die Freien, d. i. Die Adeligen, auch comali, 
sapillati, erinifi, erinosi genannt. werden. Sollte Einer Dusch irgend ein. Vergehen aus bat 
Zahl der Freien. ausgeſchloſſen werben, fo. hat man ihm das firhtbare Zeichen. ber Na 
tipnalität au rauben gefucht. Es liegt alſo in der Cæemonie des Haarſcheerens bei 
einem, vollfseien Deutfchen, wie Died ‚bei den Mervingern, und Carlingern verfam,. eine 
Bergubung der Nationalität, woraus dann der Berluft, per Adelsrechte, Der. Rechte im 
Staat, wie in der Gefellichaft fih ganz. von ſelbſt ergab... Was. das - Tragen I 
Waffen betrifft, ſo muß man willen, daß im ‚sämigchen Reich nach: dem. Aufftande des 
Claudius Cipilis und der Bagauden in Gallien durch Die, Geſetzgebung bed. Diodetian, 
des Dalentinian und Conſtantin d. Gr. allen Provincialen, den Celten vote. ben, Ro⸗ 
manen, ‚der Gebrauch yon Waffen. unterſagt war. Man muß wiſſen, daß: Die. Furcht / der 
römifchen Aurperataren ver. den auögeplünderten Provinzen. ſchon fo groß war,. daß 
Das. Berfaufen yon Waffen an die Propincialen. von Couſtantin mit ſchweren Strafen 
hebroht wurde. Ia, es iſt nicht gang unmöglich, daß die große Anzahl seiner 
Schneide und Stechwerfzeuge, welche man in Deutſchland und Frankreich findet, eben 
daxin -ipren. Grund hat, daß man den Provincialen hen Gebrauch des Eiſenselbĩ 
für, Werkzeuge des gewöhnlichen Lebens verboten hat. Wenn, daher in der lex Bur- 
gundionum und im Decret Childebert's von 595 den Unfteien das Tragen ‚ver. Waffen 
vezbyoten wurde, ſo war Died nur eine Ernenerung der altes römifchen Kaifttgeſetze. 
AA ‚Stellyartgeter.. uud Nachfolger der romiſchen Kaiſer betrachteten. ſich aber die Denk 
ſchen Commandanten (Herzoge, Könige) der deutſchen Rilitaär⸗Colonieen. un. 4° 
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Deutſchen ſich mit den unterworfenen Natio⸗ 
altem; über welche ſie zuerſt als Militär-Eofoniften, hierauf. als, nationaler Ange 
Häht tegierten, Auch durch Die Ehe nicht vermengen wollten, daß alfo das Goppubium 














beider Nationalttäten, der celtiſch⸗ romaniſchen und der deutſchen, 'nicht gefbittet wer: 
Es mußten, ſobald einmal hierin Ausnahmen gemacht wurden, nothwendig Zwifchen- 
ſchichten zwifchen der Gefellfihaft ver Deutfchen und der untermorfenen Romanen,“ ja 
fogar Mitielfhichten zwiſchen der deutſchen und nichtbeutfchen Nattonulität entftehen, :o& 
mußten fi dadurch nothwendig Mittelftände bilden, welche die Rechte der Freien be⸗ 
aufpruchen Fonnten, auf der anderen Seite aber auch einen Madel ihrer Geburt gehabt 
bätten. Solche Beforgnif Hat die Deutfchen veranlaßt, eine unüberſteigliche Scheide 
wand zwifchen Deutfchen "und Nichtveutfchen, zwifchen Adel und NMichtadel, zwiſchen 
Freien und Umfteien zu ziehen. Zunaͤchſt muß alfo bei der Unterſuchung über. ven alt« 
dertſchen Abel uns die Frage befchäftigen, wie haben die Deutfchen, welche den Abel 
in den neugebilveten Staaten vertraten, das Zuftandefommen folcher Mittelfchichten ver⸗ 
bindert? Der erfte Grundfaß, den die Deutſchen aufftelten, um bie Rationalität. ihre® | 
Adels zu erhalten, war: Das Kind folgt. der ärgeren, Hand. Das wit fo 
viel fayen, ald: Jedes Kind, das unfreied Blut, alfo nicht deutſches Blut, ſei es vom 
Vurter, fet es von der Mutter „in ſich Bat, bleibt in dem Stande der Unfrrien. 
| Beftätigung findet dieſe Anftcht in dem, was die fränfifchen Kapitularien, z. ®: 
das vom 803, in Beziehung auf die Stanveseintheilung der Deutfchen ſagen. ES 
giebt nur Freie md Unfreie (non amplius est nisi liber et servus) ift mm eine 
Negation aller Mittelichichten und gegen bie Vermehrung des Adels aufımmationale Weife 
gerichtet. Diefe Negntion findet fi 780 in den Annalen von Lorſch, wie in dem | 
Briefe Ludwig des Frommen. Nur zwei Stände, fein Uebergangsſtand wird anesfannt: 
Henn nichts Deitoweniger auch bei den Deutfchen mit der Zeit eine Mittelfidicht ich 
gebildet, fo waren die erzeugenden Bactoren die Monarchie und die Kirche. Die 
erſtere bedurfte gemifler Beamten, d. b. eine Adels der Intelligenz (Minifle% 
rialen, Zeuves, Leute), die Letztere gab den Unfreien dur Firhlihde Würden 
eine Stellung, melche ver de nationalen deutſchen Adels gleichkam. Doch 
auch dieſen Mittelfchichten gegenäber bat die Eigenthümlichkeit des deutſchen Weſens 
an der Nattenalität feftgehalten. Der urfprüngliche deutfche Adel, der auf der Natio⸗ 
nalität beruhte, hat feine Rechte und Borrechte für fich behalten und faft gleichgiltiiy 
zugeſehen, als das Königthum und die Kirche einen nicht nationalen Adel fihufen. \ 

" Dab die beiden Schichten ber Geſellſchaft in den altventfihen Staaten durch 
verfchiebened Erbrecht und durch verfihlenene Religionen in fräbefter Zeit. getremmt 
waren, verfieht ſich von ſelbſt. Es darf nicht auffallen, wenn nady den norbifchen 
Neligiond-Vorftellungen der Brele nach dem Tode zu Odin fommt, während der Un⸗ 
freie, d. 5. der Nichtveutfche, zu Thor berufen wird. Berner batten auch natürlich 
neben det Romanen die Gelten, fo weit fle im römifchen Meiche befhloffen waren; 
das römifihe Erbrecht und damit die Theilbarkeit des Vermoͤgens nad ber Zahl ber 
Kinder, während die Deutſchen am Erſtgeburtsrecht feſthielten. ' 

Hierdurch iſt unfer Standpunkt zu den Anſichten von Eichhorn, Groͤm n 

and Savigny, ſowie zu der Anſicht von Welcker feſtgeſtellt. Eichhorn Hat im 
feiner „Deutfihen Staats⸗ und Rechtsgeſchichte“ an mehreren Orten über ben altger⸗ 
manifchen Adel geſprochen, Grimm in feinen „Rechts - Altertbümern“ imb Savigny 
im der „Geſchichte des römifchen Rechts“. Diefe drei Männer vertreten eine und 
dieſelbe Anficht, welche wir als unhiftorifch bezeichnen mäflen. Welder dagegen bat 
vad Verdienſt, in feinem „Staats sLericon” unter dem Artikel Altgermanifcher Abel 
den‘ Mebergang zu ber: richtigen Anſchanung angebahnt zu haben. Indeſſen iſt es 
ihm nicht Far, wie der ſtaatliche Zuſtand vor der Einwanderung und Eroberung der 
Dentichen und wie er’ nach der gelungenen Eroberung bes weitrömifchen - Heiches 
durch dieſelben fi geftaltet bat. Man muß, um über das Weſen des altdeutfchen 
Adels urtheilen zu fönnen, vor alten Dingen unterſcheiden zwiſchen dem Zu⸗ 
ffande der beginwenden Eroberung, der fortgefehten Kriegführung, 
mm Bmwede Aned Landerwerbes und dem Zuftand des Beſitzes nach der: 
sberung, wo wlle focialen Verhältniſſe jo eingerichtet werden mußten, daß haft ber ⸗ 
Lanud ſowohl gegen aͤußere Feinde als gegen bie unterworfenen Gelten und Romasute feß⸗ 
tiner) behauptet werden fonnte Es ergeben ſich alſo gewiſſe Entwicklungs v Namen 
der ſocdhalen guſtande vom erſten Auftreten der Deutſchen an bis auf. Chlodweim Berg 


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RR 007 Mc: are 


fohren der Deutichen zu betrachten. feten, fo wird Die ganze Timterfuchuag über Dem all 
deutſchen Adel abgekürzt. Damit nun feine Verwechfeluug der Namen flattfinde 
und. Durch biefe «ine Verwirrung und Unklarheit entftehe, wie fie A. Holzmann 
mit meifterhafter. philologifcher Virtuoſitaͤt in dieſe Frage gebracht hat, fo wollen wir 
unfere Terminologie. feitftellen. Die „Sermanen" find „Celten“, welde mit den 
Deutſchen urfprünglic Nichtd gemein, mit Des Zeit aber in dem jet Deutfchland ge- 
nannten Theil, von Guropa Die deutiche Sprache angenommen haben. Sie. haben in 
ältefter Zeit, ja bis in das 16. Jahrhundert das Subflrat gebildet, auf welchem Die Deut- 
fehen ihre, nationalen adeligen Lehnsſtaaten errichteten. Altgermanifch iſt uns alio 
gleichbedeutend mit.celtifch oder vordeutfch, umd Die Brage, ob die Gelten einen Abel 
gehabt haben, intereffirt und bier nicht. Von einem altgermanifchen Adel. handeln wir 
aljo ‚nicht. in. dem Sinne, daß wir darunter Die Gelten verftehen, ſondern wir haben 
aus Nüdjicht auf den Sprachgebrauh altgermanifch ald gleichbeneutend mit alt- 
Deutfih. Oben angenommen, weil man eben bisher nach der antiquirten Anſicht beibe 
Bezeichnungen als identiſch aufgefaßt hat. Wenn wir den altdeutſchen Abel alfo 
betrachten, fo Fönnen wir nicht weiter zurüdgehen, als auf das zmeite und dritte Jahr⸗ 
bundert nach Chriſtus, wo zum erſten Male die Deutichen ald Völker in der Gefchishte 
auftreten. j 

‚.. Betrachten wir nun zunächft die jocialen Zuftände in nen Rändern, wohin bie 
Deutſchen im 2. und 3. Jahrhundert ale Eroberer gekommen find, jo zeigt ſich, daß 
Dia Nationalität, ob deutſch oder. nichtdeutich, der tiefgehenne Gegenſatz in Der Geſell⸗ 
ſchaft war. Die Deutichen waren die Sreigeborenen, das heißt der Adel, bie Unfreies 
waren, die unterworfenen Völker. Nur der Deütiche, d. b. Der Freigeborene, ber Ger 
noffe der hexrſchenden Nation, Tonnte an dem nationalen Verein, an dem nationaken 
Recht, an. dem nationalen ‚Staatgjhuß, fo wie. an der natisnalen Religion und ihrem 
beibnifchen Kultus. Theil nehmen, Nur der Dautiche konnte Land befigen als Eigentum, 
denn Die-Nation hatte nur für ſich felbft, wicht für Andere die nationale, Ersherung 
gemacht. Aus diefem nationalen Vorrecht, das der Deutjche, Vollfreie genoß, ent⸗ 
wickelten ſich Die Vorxechte des Deutſchen Adels mit innerer Nothwendigkeit. Diele 
Außeren Vorrechte waren: 1) das Recht, Waffen zu tragen; 2) das Recht, in den 
Rathoverſammlungen zu. figen und an ihnen Theil zu nehmen; 3) Das Mecht, die natio- 
nale Kleidung äußerlich zeigen zu dürfen, Zu den letzteren gehörte unter Anperem bie 
Tracht. eined langen Haupthaares, weshalb Die Freien, d. i. die Adeligen, auch comali, 
eapillati, criniti, crinosi genannt: werden. Sollte Einer durch irgend ein Vergehen aus da 
Zahl ner Freien auögefhloffen werben, fo hat man ihm das ſichtbare Zeichen ber Na⸗ 
tionalität zu rauben gefucht. Es Tiegt alfo in der Caremonie des Haarſcheerens bei 
einem. vollfseien Deutfchen, wie Dies bei den Mervingern, und Garlingern  vorfam, eim 
Beraubung der Nationalität, woraus dann. der DBerluft. ber Adelsrechte, der. Rechte im 
Staat,- wie in der Geſellſchaft fi. ganz von felbit. ergab... Was. Dad Tragen Dei 
Waffen beteifit, fo muß man willen, daß im sömifchen Meich nach: dem: Aufſtande bed 
Glaubius Kivilis und der Bagauden in Gallien durch dir, Geſetzgebung des Dioeletian, 
des Valentinian und Conſtantin d. Gr. allen Provincialen, den Galten wie ben, Nor 
manen, des Gebrauch von Waffen unterfagt war. Man muß wiſſen, Daß. die Burihi- bet 
römischen Aurperatoxen vor den ausgeplünderten Provinzen ‚fehon fo groß mar, daß 
Das. Berfaufen von Waffen an die Propinciglen. von Couſtantin mit ſchweren Strafen 
hebroht. wurde. Ja, ed ift nicht gang unmöglich, daß die große Anzahl Aeinerner 
Schneide und. Stechwerfzeuge, welche man in Deutfchland und Frankreich ſindet, eben 
darin ihren Grund bat, daß man den. Provincialım den Gebrauch des ‚ifens.kihl 
für Werkzeuge des gewöhnlichen Lebens verboten hat, Wenn, daher in her lex Bur 
gundionum und im Decret Childebert's von 595, den. Unfrelen das Tragen der Waffm 


uber wurde, fo. war Died nyr eine. Ernenerung: der altes rösmifchen Kaifergeſetze. 


Stellvertreter. und Nachfolger der romiſchen Kaifer. betrachteten. ſich aber. die deut⸗ 
Ihren Sommandanten (Herzoge, Könige), Der deutſchen Militaͤre Colonieen. u, m. 

Es verfieht fich von ſelbſt, dag die Deutfchen fich mit den unterworfenen Nativ- 
Hafitäten, ‚über welche fie zuerft als Militär⸗Coloniſten, hierauf, als, nationaler Adelo⸗ 
hät! zegierten, Auch durch Die Ehe nicht vermengen wollten, daß alfo das Coppuhium 


Abel, altdeuiſtcher. 333 


beider Nationatttältn, ber celtiſch⸗ romaniſchen umb der deutſchen, nicht geſtättet war. 
Es mußten, ſobald einmal hierin Ausnahmen gemacht wurden, nothwendig Zwiſchen⸗ 
ſchich ten zwiſchen der Geſellſchaft der Deutſchen und ber unterworfenen Romanen,“ je 
ſogar Mittelſchichten zwiſchen der deutſchen und nichtdeutſchen Nattonhittät entfichen, nes 
mußten ſich dadurch nothwendig Mittelſtaͤnde bilden, welche Die Rechte der Freien bes 
auſpruchen konnten, auf der anderen Seite aber audy einen Madel ihrer Geburt gehubt 
hätten. Solche Beforgnip Hat die Deutfihen veranlaßt, eine unüberſteigliche Scheide⸗ 
wand zwifchen Deutfchen und Nichtveutfchen, zwifchen Adel und Nichtadel, zwiſchen 
Freien und linfreien zu ziehen. Zunächft muß alfo bei der Unterſuchung über. den alt⸗ 
dentjchen Adel und die Frage befchäftigen, wie haben die Deutfchen, welche ven. Abel 
in den neugebilbeten Staaten vertraten, daB Zuſtandekommen ſolcher Mittelfchichten ver⸗ 
bindert? Der erfte Orundfaß, den bie Deutſchen aufftelkten, um bie Rationalität. ihre® | 
Adels zu erhalten, war: Das Kind folgt. der drgeren. Sand. Das wili ww 
viel fayen, ald: Jedes Kind, das unfreies Blut, alfo nicht deutfche® Blut, ſei «8 vom 
Bater, fei ed von der Mutter „in ſich Bat, bleibt In dem Stande der Unfrrien. nr 
Beftätigung findet dieſe Anftcht in dem, was bie fränfifchen Kapitularien; 3. B. 
das von 803, in Beziehung auf die Standeseintheilung der Deutfihen fagen. . © 
giebt nur Freie nd Unfreie (non amplius est nisi liber et servus) ift nur eine 
Negation aller Mitteljchichten und gegen die Vermehrung des Adels auf ımmationale Weiſe 
gerichtet. Diele Negation findet fi 780 in den Annalen von Lorſch, wie in em | 
Briefe Ludwig des Brommen. Nur zwei Stände, fein Uebergangsſtand wird anerkannt: ' 
Wenn nichts deſtoweniger auch bei den Deutfchen mit der Zeit eine Mittelfedicht füch 
gebildet, fo waren die erzeugenven Bactoren die Monarchie und die Kirche. ' Die 
erſtere bedurfte gewiſſer Beamten, d. h. eines Adels der Intelligenz (Minifle* 
rialen, Leudes, Xeute), die Letztere gab den Iinfreien durch firhlihe Würden 
eine Stellung, welche der des nationalen deutſchen Adels gleihfam. Doch 
anch dieſen Mittelfehichten gegenüber hat die Eigenthümlichkeit des deutfchen Weſens 
an: der Nationalität feftgchaften. Der urfprüngliche deutfche Adel, der auf.ber Natio⸗ 
nalität beruhte, "bat feine Nechte und Borrechte für fich behalten und faft gleichgültig 
zageſehen/ als das Königthum und die Kirche einen nicht nationalen Adel ſchufen. 

Daß die beiden Schichten ber Geſellſchaft in den altdentfchen Staaten durch 
verſchiedenes Erbrecht und durch verfihledene Religionen in früheſter Zeit. getremmt 
waren‘; verſteht ſich von ſelbſt. Es darf nicht auffalfen, wenn nady den norbifchen 
Religiond-Vorftellungen der Freie nach dem Tode zu Odin fommt, während :ber’ Un⸗ 
freie, d. 5. der Nichtveutfche, zu Thor berufen wird. Ferner hatten auch natürlich 
neben den Romanen die Gelten, fo weit fle im römifchen Reiche befchloffen waren; 
das römifhe Erbrecht und damit die Theilbarkeit des Vermögens nach’ der Zahl der 
Kinder, während die Deutihen am Erſtgeburtsrecht fefthielten. 

Hierdurch iſt unfer Standpunft zu den Anftchten von Eichhorn, Grimm 
md Savigny, ſowie zu der Anfiht von Welder feftgefiellt.. Eichhorn Hat ie 
ferner „ Deutfchen Staats und "Rechtögefchichte” an mehreren Orten über den altger⸗ 
manifhen Adel geſprochen, Grimm in feinen „Rechts⸗Alterthümern“ und Savigny 
in der „Geſchichte des römifchen Rechts“. Diefe drei Männer vertreten eine und 
diefelße Anftcht, welche wir als unbiftorifch bezeichnen mäflen. Welder dagegen bat 
dad Verdienſt, in feinem „Staats⸗-Lexicon“ unter dem Artikel Altgermanifcher Adel 
dem Mebergang zu der richtigen Anſchauung angebahnt zu haben. Indeſſen iſt es 
ihm nicht klar, wie der ſtaatliche Zuſtand vor der Einwanderung und Eroberung: der 
Dentſchen und wie er’ nach der gelungenen Eroberung bes weftrömifchen - Heiched 
durch Diefelben ſich "geftaltet bat. Man muß, um über das Weſen des altveutfchen 
Avels urtheilen zu können, vor allen Dingen unterfijeiden zwiſcher dem Zu⸗ 
Rande der beginnenden Eroberung, der fortgefegten Kriegführung 

zum Zwecke eines Randerwerbes und dem Zuftand des Beſitzes nah der Er⸗ 
berung, wo alle focialen Berbältniffe jo eingerichtet werden mußten, daß dMeſes 
Xamdb forwohl gegen äußere Feinde als gegen die unterrworfenen Gelten und Romanen (fa 
ünery. behauptet werden fonnte, Es ergeben ſich alfo gewiſſe Entwidlungs« Stadien 
‚ ber Mohalen:äuflände. vom erſten Auftreten der Deutfehen m bis auf Chlodwech. Und 


Mm. 


En | Adel, alcdeutfrhor. 
nach Chlodwech bis zum Auffommen natidnaler Staaten am Ende des neunten 
Jahrhunderts. Im dieſen zwei ganz verſchiedenen Zeitraͤumen und Entwicklungs⸗ Ste- 
Bien Der Gefellfchaft und des Staates bat fich natürlich auch das, was man Mel 
nennt, ganz verfchieden audgeprägt. Es verſteht fich dom felbfi, daß wir diejenigen 
deutſchen Völker, weiche Teinen bleibenven, dauerhaften Staat bilden Tonaten, wie bie 
Weſtgothen, Oſtgothen, Bandalen, Alamannen, Baiern, Thüringer und Sacıfen nur 
zu der erſten Periode zählen fünnen, d. h. unter dem Gefichtöpunfte betrachten, daß fie 
eine Staatenbilbdung und Organijationder Geſellſchaft verfucht haben, 
weiche aber nicht gelungen if, demnach concentrirt fich die Betrachtung über ben 
altheutſchen del, als wirklich ein Staat (nämlich der fränfifche) zu Stande gekommen 
wer, lediglich auf die Verhaͤltniſſe des Adels in der fränkiſchen Ronarchie, 
wir verweiſen deahalb hier auf dieſen Artikel. Die erſte Periode nun laͤßt ſich ungefähr 
- m folgender Welfe charakteriſtren. Die Deutſchen, welche vom 2. Jahrhundert an un⸗ 
nnierbzochen gegen das weftrömifche Reich anflürmten, von ber Noth der Uebervolkerung 
gevrüdt, Hier fih Wohnfige und Land zur Agricultur zu ‚erwerben fuchten, haben fi 
ein ganz beftimmtes Eroberungs «Object ausgeſucht. Sie haben, jeder Stamm für 
ſich, eine beftimmmte Provinz der rdmifchen Uiniverfal- Monarchie zu erobern getrachtet, 
fie Haben die Nothwendigkeit erkannt, ihre Gefellihaft fo zu swrganiflren, daß 
immer em Impuls im Molke bliebe, die Eroberung fortzufegen und unter allen 
Umftänden das Eroberte zu behaupten. Diefe fociale Organifation warb dadurch 
erreicht, daß die nachgeborenen Söhne jedes freien Deutfchen, welche gar feinen Anſpruch 
auf bie Erbſchaft ihres Vaters, Die auf den Erfigeborenen überging, hatten, dadurch, 
Daß fle fein Land befahen, eine diminutio capitis” erfuhren, das heißt, Daß fie weder 
in der GSefellfchaft noch im Staate diefelben Rechte beanfpruchen konnten, welche dm 
Erben der Güter zufamen. Sie waren darauf angemiefen, entweder ſich felbft ein Be 
fistkum zu erobern, ober als eine Art von Unfreien ihren älteften Brüdern ımterworfen 
zu bleiben. Natürlich wählten fie den erſteren Weg. Sie fammelten fich um einen 
ala militärifcher Fuͤhrer bekannten Mann, bildeten, Gefolgichaften und traten als eine 
Militär Colonie in roͤmiſche Dienfte. Diefe Abhilfe war indeſſen nur im drltten und 
vierten Jahrhundert möglich, als 408 n. Chr., oder ſchon 394 vie Mömer ſich 
jenfeits der Alpen zurädgogen und das römifche Neich eigentlich. auf Italien befchränft 
(= hörte die Möglichkeit eined Landeserwerbes durch die Militär- Gnlonte anf. 





Darauf erfolgte ein gefteigerter Wunſch, fich als freie Tigenthümer in den Bellg der 
romiſchen Ländereien zu ſetzen. 
Die als nachgeborme Söhne früher ohne Landbeſitz und mit geringeren politi⸗ 
fen Rechten nusgeftatteten Deutfchen wurben, fobald fie auf dieſe Weile Land erwor⸗ 
‚ ben hatten, wieder Boll» Bürger, d. h. Freie, welche mit allen echten ausgeftattrt 
| waren, welche die Majorats» Herren in Deutfchland von feher beſaßen. Wir haben in 
der Geſchichte ein Analogon in der Eroberung ber Dorier im Peloponnes, fomte in 
ver Eroberung der Mömer in Italien in der erften Zeit der Republik. Im biefen 
beiden Fällen hat man auf eine viel grelfere Art die nachgeborenen Söhne gezwungen, 
Ach durch Krieg und Eroberungen in den Bells von Wajoratögütern zu fegen. Ba 
den Doriern hießen diefe Güter Loofe, bei den Roͤmern ager publicus. Es war bi 
der Eroberung des Peloponnefed (1104— 1070 v. Chr.) die Beſttznahme und Orge 
aifation der Gefellſchaft mit der deutfchen Eroberung vom 3. Jahrhundert an bis auf 
Chlodwech nicht unaͤhnlich. Derfenige, welcher ein Gut (xA%pos) zugetheilt bekommen 
; hatte, abernahm damit die Laft, nicht nur fir fi und feine Familie, ſondern arch 
für feine jüngeren Gefchwilter ben Lebensunterhalt zu beſtreiten. Um tiefe Laſt von 
ſeinem Gute abzumälgen, betrieb er natürlich in der Bolkäverfammlung bie Fortſetzung 
des Eroberungokrieges, wodurch feine Brüder und feine nachgeborenen Söhne ebenfalls 
in den Beſitz eines ſolchen Gutes kommen follten. Daffelbe fand in tom ſtatt, wo 
nur die alteſten Familien⸗Oberhaͤupter in dem Beſitze des eroberten Landes, d. h. des 
ager ublicus waren. Natürlich war es deren Intereſſe, ven ager publicus durh 
Eroberung zu vergrößern und fo ben Staat auszudehnen, damit auch Bir nachgebore⸗ 
wen Söhne in den Beſttz eined Gates bed ager publieus fommen folten. Betrachten 
wis diefe Ausdehnung des Staates, dieſe Erweiterung ber Gefellichaft ganz abſtratt, | 





pet, altcutſthet 3 


für wrgieht ieh, daß alle Laſten des Gtmates; alle Milicten ver Wertheidigung bes | 
Stantägebietes, mithin auch le Rechte des Boll- Bürgers oder des Adeligen nur anf: 
eine se geringe Anzahl von Familien⸗Oberhaͤuptern gewäht waren, welche ben Adel 
in dieſen Staaten repraͤfentirten. Es war mithin: das Privat⸗Intereſſe dicſes Adels 
mit dem Wunſche, die Eroberung und vadurch "den Adel ſelbfi za vermehren; iventifl⸗ 
est, Die Uebereinſtimmung biefer:: Staats⸗Crweiterungen und dieſer Berniehrung bes 
Aels mit der Ersberung der Deutſchen vom 5. Zahrhundert an liegt anf der Hande 
Wenn wir dieſes feſthalten, ſo begreift man, weiche ungeheuere maſſenhafte Heere die 
Alamannen 3. B. zweihundert Jahre lang auf das romiſche Reich warfen, fo werfteht 
nun, welche ununterbrochene Sülfelaftung die Staufen in Gallien von ihren Heimath⸗ 
lande aus (dem Nievershein) an fich ziehen fonnten. Ban begreift ferner, daß diejen⸗ 
gen Bälkerfchaften, weiche ganz ins roͤmiſche Gebiet einwanderten, wie Die Vurgun⸗ 
der, Vandalen, Oft» und Weſtgotchen nothwrndig in ihrem Steatenbilbunge Vrozeffe 
untergehen mußten, ‘weil ihnen ber nöthige Suecurs von nathgehorenen Sdhnen, vb 
von deutſchen Abel aus ber aͤlteſten Heimath fehlte. 

Nach dieſer Auffaffung if: der altveusfche Adel: ymuchft aalo ein natlouales 
foriates Inflitut inmitten der neuen Staatsbildungen zu betrachten. Das erfie Vor⸗ 
vet, aud dem ale anderen’ ſich nothwenbig .ableiteten, war für den Adel vie 
Deutfhe Nationalität. Dieſes Vorrecht mußte natürlich erblich fein, weil Die 
Rntienalität angeboren ifl. Der Deutfehe Abel bildete überall den Staat, die unter 
vosrfenen Romanen, GBelten und Slaven waren nur dad Gubflvat für dieſe ferien: 
BeilsBürger, und es wird nicht nöthig fein, noch hervorzuheben, daß in biefer Stellung 
Der dentſche Boll-Binger in ven eroberten Laͤndern, nothwendig in gewifſſer Welſe Die 
Stellung einer Adelſs⸗Kaſte eingenommen hat. 

War aber danach der Adel in fraheſter Zeit vom Nicht» Adel;durd die 
Mationalitaͤt unterfchieden, fo folgte nun mit der Zeit der zweite Unterſchied durch 
Beſitz und die Art und Größe des Beſitzes. Diefer letztere Unterſchied CE 
nicht national. "Bom NRomanen unb Gelten ſchied ven deutſchen Adel die Natiema« 
Iität, wen dem nichtadiigen Deutſchen das freie Beſitzthum und bie Erſtge⸗ 
burt. Der urfprängliche Begriff des altveutfchen Adels iR alfo: Der alteſte Sohn 
eineß freien Orundbeftgers d. h. ein Menſch, Der bei feiner Ger 
burt ein Gut bat. ES zeigt fich bier in ganz Europa, fo weit Deutfche is 
men, ein großer aͤußerſt inierefianter Gegenſatz; naͤmlich der dev Romanen and 
De ut ſchen, der ded Kamilienrechtes und des Befigrecdhtes. Bel ben oma. 
nifirten Deutichen hielt nun und benannte pen Abel danach, daß fein: Trager ber ültefe 
Subu der Familie war: senior, seigneur, signare, sennore, bei ben Deutſchen, 
Englaͤndern ımd Nordlaͤndern nannte man ihn nicht nach Der Geburt, ſondern nad: 
feinem ererbten Beiig: Adeling, Adalbonde, Adelboren, d. 5. mit Erbgut 
geboren; eine Differenz, Die in ihnen wefentlichen Zügen noch jegt in Europa den Ger 
genfah der Länder in Anfehting des Adels charakteriſtrt. Betrachten wir die hieraus 
erwachfenen forielen Vethaͤltniſſe in den altveutfchen Staaten, fo ergeben ah wet 
große Schichten der Geſellſchaft, 1) Der Adel nnd vie Adelsverwandten, 2) bie‘ 
Unfeeien. Die Unfreien zunächft waren zweierlei Art, 1) die Kanfiflanen, meiſtens 
Slaven, Dalmaties m. f. w., melche die Juden und DBenetimer in den Handel brachtun, 
farmer die Narchfommen der Keuffklaven ver Romer, fo tange das römifſche Meich noch 
beſtand; 2) Die Leti ober Biti, d. h. bie römeifegen und celtiſchen Golonen; welche ſchon 
im romiſchen Reich, ſei es als Paͤchter, ſei es nis Leine Landbeſiger, vorhanden 
waren nnd: Ackerbau getrieben hatten. Dieſe zwei Maffen der Unfſreien oder der Kreis 
gen waren keine Deutſchen, fie hatten keine politifchen und ſocialen echte, fe einen 
kein Eigenthum, ſondern die letztere Klaffe defſelben wurde nur ale RPachter (Cebpacht) 
betrachtet. Wir verweiſen bier auf: vie Schrift von Jae. Benedey: Chriftenthum, 
Geemanenthum, Stlaventhum, worin nachzuweiſen verfucht wird, daß nicht das Ehrkſt 
thum Die Sklaverei aufhob, ſondern die auf Ackerban organifirte Geſeliſchaft * 
Deutſchen. Es leuchaet von ſelbſt ein, daß bie Leii oder Liti, Die auf einem Gute ſeß⸗ 
haftes Unfreien, ein ginſtigeres Loos hatten, als bie Kauffklaven (Ueber den: Namen 
Leti mergli den Artikel: Alamannen) In der Goßellſchaftsklaſſe, welche im Veſit 





au Abel, alweutſcher. 


ber Freiheit in verſchiedenen Abſtuſttugen war, zeigen ſtich zwei, ober wenn man will, 
bei Unter» Abtheilungen, veren erfte ver Adel, 'd. 5. die erfigeborenen Schne 
bee,vollfreien Allodtalgüter » Veftger, deren’ gweite die nchyeborenen 
Eöhne diefer dentſchen Familien, welche nicht im Beflg eines eveibten Fami⸗ 
liengutes waren und bereit drilte der Stanb des romanus possessorn waren, d. 5. 
deſsjenigen Romanen, der auf irgend eine Weife in Beflg eines freien Grundſtückes 
gekommen, ſich: von dem Allodial» Erbbeflger, d. h. dem Adel nur durch. Die Ratio 
nalität nad. das römifche Erbrecht umterfchieb und ein, wenn auch dem Abel nachſtehen⸗ 
der doch freier Stand war. Die Namen, welche die erfte Klaſſe der Breien, d. h. bes 
älteften Abels bezeichnen, waren Wehrmann oder Arimann ober, wie ga 
natürlich if, primus Alamannus, d. i. im Gegenfab zu den nachgeborenen Göb« 
en zum medius Alamannus ober secundus, d. 5. zu dem, welcher nicht durch 
feine. Geburt ſchon im Beſthz eined Freigutes if. Ste beißen ferner Franci, weil 
man hierin befonderd hervorheben wollte, daß fie die Repraͤſentanten der frantifken 
Narion find. Sie werden au primi, meliorissimi,.optimates, bei den Bur⸗ 
gundern vorzugsweiſe liberi genannt. Im Deutfchen hat man für biefe Befellfchaftsfiafien 
den‘ Ramen von ihrem Beftgthum, d. h. von dem freien; nach Brimogentturrecht vererbten 
Samiliengute Od oder Alord (sors), Adalinge oder Edelinge, d. i. Adelige ber 
genommen. Die ‚zweite Klaſſe ver Freien waren bie jüngeren Söhne ver deutſchen Fami⸗ 
lien, weldye aber dadurch, daß fie fein Familiengut geerbt Hatten, die Attribute des Abels 
verloren. Diefe zweite Klafie werden medii Alamanni, aud ingenui im @e 
genfag zu den Sclaven, meiftens aber minores personae, wobei natu zu ergängen 
ii; genaunt. Diefer gangen zahlreichen Geſellſchaftöklaſſe der Hinterfaflen blieb nichts 
Anderes übrig, als auf irgend eine Weiſe in den Beſitz eined Gutes, eined Grund 
befiges zu kommen. Diefed geſchah durch die Monarchie. Es fchloffen ſich nämlich, 
wie wir: fehon. gezeigt haben, dieſe Drutfchen, welche Teinen Grunbdbeſttz ererbt hatten, 
zuerfi an Fuͤhrer an, welche mit.ihnen irgend eine Eroberung bezweckten, ſpaͤter an bie 
Mouarchie und erhielten als Gefolge des Konigs den Namen Untraflionen. Als Be 
lohnung fir ihre Dienſte erhielten fle von ihren Monarchen zbenfalld ein Grunftüd; das 
ihnen aber nur. perfönlich, nicht für die Familie verlishen wurde. "Der. verliehene 
Grund beſttz, den die Monarchie als Befolbung ihren Dienern gab, war das Trengut 
oder Feod, feudum (feudum nblatum), d. h. nicht vom Bater ererbt, 
ſondern auf Treue, auf gewiſſe Verpflichtungen Bin, ſei es lebenslänglich, ober. auf 
eine: Meihe von Jahren, verdieben. Die Klaffe, welche nur im Bells eines. Feudumb 
ſich befand, hatte urfprünglich feinen Anſpruch auf ben Abel. 

t.". Die dritte Klafſe der Freien, welche wir kurz ald die romani possessores bezeich⸗ 
neten, gehörte nicht dem Abel an, fondern war den Beſttzern eined Feudums gleide 
geſtellt. — 
Einen eigentlichen Kaſtenadel, etwa .den der Prieſterkaſte, gab es in Deutſchland 
nteuals. Der. Grund, weshalb Männer, wie Grimm, Saviguy und: Eichhorn daran 
denfen konnten, daß die‘ Prieterfchaft bei den alten Dewifchen eine Kafte gewefen 
feis beruht: anf einer petitio principii. Die diten Deutfchen "hatten wie alle Völker 
einen doppelten Eult, alfo auch ein doppeltes Prieſterthum, +). Familiencult, 2) natio⸗ 
nalen Cult der Landſchaft oder der Gegend, mo fie wohnten. Der rrſtere wurde vom 
Haupt der Familie als Priefter beforgt, der zweite von Jungfrauen, welche ji, aut 
dem Stande ber Freien, natürlich zu dieſem Culte freiwillig verpflichteten. Aus di⸗ 
ſem geht. hervor, daß Die Stellunge der Priefter gar Fein Sonberintereffe derſelben alt 
Send möglich machte, alfo auch Feine Priefterkafte. entftchen bonnte, indem der Briefer 
ale: ſolcher nie im Belle eines Grundſtücks war und vom Beſitztham einer 

jede: ſotiale Stellung bei:den Deutfchen abbing. N ee 
ro Es fegeint ‘gegen arhfere Ausfichrung zu forschen, "daß ſich, bei den Gothen, bei 
ben Vandalen, bei den Alamannen und Kranken, ſowie ‚bei den Buiern, Sachſen, Tha⸗ 
tingern und Burgundern koͤnigliche und herzogliche Dynaſtieen finden. Diefe Dim 
fiieen ſtammen jedoch nicht 'amßireiner Adeldkaſte, ſondern fle wurden gegründet ums 
weder von Fuhrorn der Gefslgichaften, welche das Land erußmten, ober yon Beil 
fuetett, 8: ho Abeligen, Dierii Weihe eines ererbten Gutes ich im Kriege: auggezeichnet 














Abel, alldeutſcher. M 


hatten und deren aͤlteſten Sohnen man wiederum die Leitung ber Kriegführung über⸗ 
ung. Solche Dynaſtieen find alſo nur ein Wahlkönigthum, ein Beamtenadel 
geweſen, ber aus der Zahl der Adelinge durch perſoͤnliche Tüchtigkeit hervorgegangen 
iſt. Die Ritglieder dieſer Dynaflieen, welche wirklich das Amt eines Heerführers 
bekleideten, wurden Herzöge, Könige, von den Romern reges und reguli genannt. Die 
fachlichen Rechte, welche dem Adaling, d. 5. dem Maforatöherrn zufamen, waren außer 
dem bereits erwähnten Waflen- und Kleiderrecht 1) der Landbeſitz, 2) dad Stimm- 
recht in ber Verfammlung aller Apalinge, -3) daB privilegirte Erbrecht. Mit biefen 
Mechten waren auch bie entfpreigenden Pflichten verbunden, nämlich die Vertheidigung 
ded Landes, die Andführung der Execution eines DBefchluffes und der Schuß der jün- 
geren Brüder und der Uinfreien. Hat hiernach alfo eine Kaſten⸗Herrſchaft in den alte 
Deutihen Staaten und überhaupt in Eusopa nirgends eriftirt, als in den Köpfen ver 
Mittberalen, welche eines Schlagworte® bebürfen, und war die einzige foriale Herr⸗ 
ſchaft im altbeutfchen Staate die der Nationalität und auch diefe durch die Kirche ſehr 
gemildeet, durch Anerkennung aller Intelligenz faſt aufgehoben: fo war auch ber einzige 
Kampf der Geſellſchafts⸗Klaſſen — um mit 2. Stein (die Geſellſchaftsblehre ©. 386 ff.) 
zu reden — der Kampf der AllovialBeflger gegen die Beod- oder Feudum⸗Beſttzer, 
mit anderen Worten der Kampf des Adels der Erfigeburt gegen den Verdienſt⸗ und 
Beamten Adel der nachgeborenen Söhne durch das Königthum. Je nachdemdiefer 
Kampf zu eimem günftigen oder ungünftigen Mefultate für die Allodial⸗Beſitzer führte, 
Danach geflaktete ſich die Stellung des Adels in den altdeutſchen Staaten. Der Ver⸗ 
dienſt⸗Adel der Feudum⸗Beſitzer, ver Minifterialen de Könige, der Mitgliener eines 
Gefolges, mit einem Worte die Berechtigung der nachgeborenen Söhne am Staate, 
gegenüber den Majoratsherren, d. b. dem eigentlichen Adel, war naturgemäß ein Kampf 
dee Monarchie und ihres Beamtentbumd gegen die urfprüngliche Stellung der Voll⸗ 
freien. Bei vielen deutfchen Völkern hat Diefer Kampf die Monarchie gefkürzt ober ihr 
Auflominen unmöglich gemacht, wie bei den Sachſen, Thüringern, Alsmannen und- 
Batern, bei den Weſtgothen und Vandalen. Ueberall hat bei diefen Völfeen ver große 
foetale Kampf der zwei genannten Gefellichaftsflafien eine politiſche Färbung anges 
nommen und die Eriftenz des Staates in Frage geflellt. Die aͤußeren politiſchen Er⸗ 
eigniffe, wie unglüdliche Kriege u. ſ. mw. haben die Auflöfung diefer Staaten um einige 
Zahrzehente beſchleunigt, aber fie waren nicht die Urfache der Auflöfung., Nur in zwei 
Siaaten bat diefer fociale Kampf in dem Staate ſelbſt feine Harmonie gefunden, nur 
in zwei Staaten wurde ein fociale8 Gleichgewicht des Erbapeld und des Adels der 
Intelligenz und des Beamtenthums gefunden. Diefe zwei Staatm warm die frän⸗ 
tifhe Monarchie und die angelſächſiſche Heptarchie. 

Die Rechte, welche der Primogenitur- oder Allodial » Avel nothwendig befaß, 
haben wir oben fchon angegeben. Wenn wir fle bier wieverholen, fo follen ſie nur 
ein Bild des damaligen Entwidelungs - Stabiums des Staated geben: 1) ein böheres 
Wehrgeld für den Mord oder Todtſchlag eines Angehörigen dieſes Adels, als bei der 
Tödtung eines Mitglieved der niederen Klaſſe; 2) warb diefer Adel bei National⸗An⸗ 
gelegenbeiten gehört und verfammelte fich zu dieſem Zwede auf dem-Bärz- und Müi- 
Felde bei den Franken, auf dem Witenagemot bei den Angelfachfen; 3) kam demſelben 
ein privilegirter Gerichtöftand zu, indem bie ‚seniores oder Adalinge nur von ihres 
Gleichen gerichtet werden Eonnten; 4) hatten fie das Necht, die linfreien oder ihre 
jüngeren Brüder, welche Tein Allop Befaßen una deshalb Hinterfaflen bießen, zu ver« 
treten; 5) Hatten fie Immunität ihrer Güter, d. 5. fle waren vom Reichspfennig befreit 
aus dem Grunde, weil fle ja felbft die Waffen führten, damit fernere Allode für bie 
Sinterfafien esobert werden Tonnten. In den Ländern, wo fein Königthum war, wie 
bei den Briefen und Sachſen, fam auch Fein Intelligeng- und Beamten-Abel auf. Der 
vollfeele Najorats⸗Erbe hat bier nicht nothwendig gehabt, feine Rechte als Adelſdrechte 
gegenüber dem Beamtenadel auszubilden. Es bat aljo bier Fein Kampf der Sonber- 
Intereffen tiefer erſten Gefellichaftöliafie gegen die zweite Gefelfichaftsklaffe flattge- 
funden. Wenn daher Schrader die Nichterifienz eines Adels bei den Sachen vor 
vom zwoͤlften Jahrhundert nachgewiefen hat, fo will das nichts Anderes fagm, als 
daß die erſte Gefeltfchaftätlafte bei den Sachſen nicht das Bepürfniß hatte, ihre Adels⸗ 


Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Ler. 1. 22 





2— 


M Adel, altdeutiirr: 


Rechte in Dem geſellſchaftlichen Kampfe geltend zu machen. Wie ſehr übrigens ber 
altveutfche Adel, d. h. die Allodialbeſitzer oder seniores auf ihre Freiheit ſtolz waren, 
zeigt eine Anekdote aus ber Zeit Ludwig des Frommen. Es wird nämlich erzähl, 
daß ein Adeliger, deſſen Sohn (natürlich der Erfigeborene und deshalb Majoratberbe) 
in die Gefolgfchaft des Königs getreten war, deshalb aus Schmerz und aus Scham 
wegen der Schande feiner Familie ſich in ein Klofler zurückgezogen habe. Es iſt ber 
kannt, Daß Die Getreuen des Königs, d. 5. die Feod⸗Beſihher von deu Allodial⸗ Bes 


: figern, d. 5. dem Adel fo fehr verachtet waren, daß noch Ludwig d. Br. (823) gegen 


Diefe Verachtung feines Gefolges eifern mußte. Der Berluft dieſes Adels konnte um 
flattfinden, wenn der Adaling fein freies Gut verkaufte oder durch Schulden verlor. 
Es wear alfo nichts natürlicher, als daß das Sonberinterefle der Adalinge dahin ging, 
daß fie für ihre Allovialgüter ein eigenes Pfandrecht und Unveräußerlichkeit der Maio⸗ 
satögüter, fo wie für fich felbft ein eigenes Cherecht durch die Gefehgebung erſtrebin, 
und ift Iehtere bei den Sachen ganz feftgeftellt. Der Fuldaer Mönch Rudolph in her 
Mitte des 9. Jahrhunderts, und Adam von Bremen, fo wie Wittuchind erwähnen, daß 


. bei den alten Sachfen nur die Ehe innerhalb deſſelben Standes der vier Stände erlaubt 


gewefen jei und Uebertretung dieſes Gebotes mit dem Tode beſtraft wurde. Darmad) 


. Tonnte der AllodialsBehlger nur wieder die Tochter eines Allodial⸗Beſitzers heirathen, 
' der freie Sinterfafle nur die Tochter eines Hinterfaflen, der freigelaflene Erbpaͤchter nur 


wieder eine Breigelaffene und ber Unfreie nur eine Unfreie. Welder in feinem Staat 

Leriton, 3. Aufl, Bd. 1 ©. 225, bezweifelt die Eriftenz eines ſolchen Geſetzes, ein 

Bweifel, durch welchen er Unkenntniß in der Gefchichte der. Gefellichaft verrät. Dad 

glauben wir zwar auch nicht, daß die Todesſtrafe in jenem Falle häufig zur Anwen 

Pa fam, aber Daß die Höhe der Strafe jenem Nechtözuftande entfprach, iR Teim 
age. 

Die Patrimonial- Jurispiction der Adalinge war ebenfo etwas ganz Matürliche 
und Nothwendiged. Natürlich, weil fie aus dem natürlichen Familien⸗Verhaͤltniß herr 
vorging, nach welchem die nachgeborenen Söhne durch den Erſtgeborenen juriſtiſch 
vertreten wurden; nothwendig zu einer Beit, wo die Erecutivgewalt des Staates nad 
aͤußerſt ſchwach und die ganze Rechtshilfe eigentlich Selbfthilfe war. 

Die Anficht von Grimm, Eichhorn und Savigny, daß nicht dieſer Abel ber 
Vollfreien, fondern eine Adelskaſte von wenigen Familien beftanden babe, welche auf 
alle ihre Angehörigen, alfo auf Söhne und Töchter den Familien Adel hätten vererben 
koͤnnen, biefe Auſicht haben Welder, fo vie Waitz und Maurer treffend widerlegt. 
Waig und Maurer verfulgen einen Mittelweg zwiſchen ber Theorie von Eichhorn uad 
der von Welder, fle verwerfen eine gefonderte Adelskaſte, fehen aber nicht, dag nur bie 
Bollfreien, die Befiger von Alloden, die erfigeborenen Söhne den Adel gebildet haben. 
Welcker's Anficht theilen wir wefentlich, nur bemängeln wir, Daß er in feinem großen 
Auffage (in feinem Staats⸗Lexicon) die Hauptfchwierigkeit, wie naͤmlich mit ber Zeit 
die vollfreien Allodial⸗Beſitzer fich von einem nationalen Adel zu einem politifchen und 
Samilien- Adel außgebildet haben, umgangen bat. Diefe Frage wäre eigentlich das 
Haupt» Thema geweien, um welches fich die ganze Erörterung hätte drehen müſſen. 
Jetzt, nachdem die irrigen Anftchten von Eichhorn, Grimm und Sapigny befeitigt. und 
von dieſen Maͤnnern zum Theil felbft zurüdgenommen find, jegt, nachdem Waig um 
Maurer felbft Teinen anderen Ausweg mehr haben, als die Vollfreien als «einzigen 
nationalen Adel anzuerkennen, jebt, fagen wir, führt obige Frage allein zur Entfcheibung. 

Fragen wir aber nach dem Beamten- und Intelligenz⸗Adel in den altdeutſchen 
Staaten, fo zeigt fi, daß urfprünglich nur der freie Allopial-Befiger, aljo Der Apelige, 
der durch feine Geburt ſchon den Abel hatte, Graf, d. 5. Richter werden konnte, 
denn nur ein folcher nahm bei der Wahl zum Grafen Theil, und nur auf ihn 
konnte die Wahl fallen. Do flellte fih in der fränfiichen Monarchie chen im 
6. Iabrhundert der Zuftand ein, daß beim Erſtarken der Monarchie das Grafennut 
nicht mehr Dusch Wahl, fondern durch Ernennung verlichen wurde War aber ein⸗ 
mal die Berechtigung der Vollfreien fo weit gebrochen, daß die Nichissflellen nicht 
mehr Durch Wahl vergeben wurden, fo war der zweite Schritt, die Michterftellen auch 
an Nichtallodial⸗ Beſiher gelangen zu laſſen, leicht ausführbar. So kam es, daß 





Adel im. Mittelafter. 839 


Beute aus der Gefolgſchaft des Koͤnigs Richter, d. b. Grafen wurden. Was ur 
ſprünglich eine Ausnahme war, daß naͤmlich der Antruſtis Graf werden konnte, ward 
nun zur Regel. Auf dieſe Weiſe gelang es allmälig, die Allodial⸗Beſitzer aus den 
Volksamtern zu verdrängen und dieſe mit Miniſterialen, d. i. den Leudes oder Feod⸗ 
Beſſhern, zu beſezen. Aus den Miniſterialen, d. i. dieſem aͤlteſten Beamten⸗Adel, 
Rommen faſt ſämmtliche unſerer heutigen Adeligen ab, nur ſehr wenige Fürſtenhäuſer, 
wie etwa die Habsburger, Zollern, Zaͤhringer und Welfen, ſtammen vielleicht aus den 
seiprünglicden Vollfreien, alſo Allodigl⸗Beſizern, ab. Der Adel der Miniſterialen, 
d. i. die Beamten der fraͤnkiſchen Monarchie, waren Unfreie, Celten und Romanen 
oder romani possessores; es waren aber auch Deutſche, welche nicht im Beſttze eines 
Allodes waren. In dieſem Beamten⸗Adel hatte indeß wiederum bie Natienalität eine 
Kluft geöffnet, nämlich der Beamte, der Deutfcher Abfunft war, d. i. der Antruftis, 
Rand in höherem Anſehen, als der geadelte Beamte, in welchem weljches Blut war. 
Letztere zählte man zu den Leudes. 

Die Briefter wurden wie dee Beamten⸗Adel nobiles, ja fogar wie der Allovial- 
Adel seniores genannt. Auch fie gingen aus Leibeigenen, aus Romanen und Gelten 
hervor. EB war aber dad Amt, das fie adelig machte. Ban muß alfo ben Clerus / 
jener Zeit zum Beamten⸗Adel rechnen. 

Adel im Mittelalter. Unter Mittelalter möchten wir bier hauptfächlich das 
deutſche Mittelalter verfianden wiflen. Auf Die Gefchichte Des übrigen europäiſchen 
Adels Tann weniger Rückſicht genommen werden, da dad Gebiet zu groß für einen 
Artikel if. Der Ausdrud Mittelalter ift unbeflimmt, ja doppelfinnig, in fo fern, 
wie Leo, viele Hiftorifer von einem Mittelalter als mittlere Zeit bei der Gefchichte 
jedes Volkes fprechen. Wir geben deshalb zuerft eine Definition von Mittelalter für 
die deutſche und chriftlich»abendländifche Geſchichte. Das Mittelalter beginnt mit der 
Auflöſung der carlingifchen Monarchie in einzelne nationale Staaten. Es umfaßt alfo 
esftens die Zeit, wo die europäifch = chriftlichen Lehn» Staaten in Verbindung mit der 
romiſch⸗ Fatholifchen Hierarchie beftanden. Das ift das theokratiſche Zeitalter 
der Staaten oder der theokratiſche Staat, welcher mit der Trennung der Kirche 
vom Lehnftaat zwifhen 1074— 1125 aufbörte. Auf den theofratifchen Staat folgte 
der Rechtsſſt aat, der in Deutichland als ein Bundesftaat von feudalen Ter⸗ 
sitorialfinaten gebildet, von c. 1137 — 1500 erſchien. Rechtsſtaat ift bier 
nicht in dem Sinne der Juriften gemeint. Auf diefen folgt der Finanzſtaat, an 
defien Ende und bei deſſen Auflöfungsproceß wir jetzt leben. (Die Erklärungen diefer 
Ausbrüde gaben wir bereit? Dben) Für Die Verfaſſung des Gefammtftaated Dentfch- 
land iſt die Periode des Finanzflaates der Staatenbund. Frankreich hat den 
Uebergang des Finanzſtaates zum Militärdespotismus von 17891851 
durchlaufen. Yür Deutichland wird dieſer Uebergang vom Finanzflaat in den Rili⸗ 
tärdespotiömus unter einer der folgenden zmei Möglichkeiten ‚eintreten. Entweder ent- 
ſteht im Innern von Deutichland dur Mevolution ein erobernder Wilitärbespe- 
tismus, unter welchem der Gefanmtflant Einheit und Gentralifation erhält, oder 
der Militärdespotismus in Frankreich erobert nach dem Sturze Napoleon's III. ganz 
Euroya. Deutfchland iſt dann ein Theil der europäifchen Univerfalmonardie, waß 
es unter den Mönern und Garlingern auch war. Mofcher in feinem Grunbriß 
über die Staatswiflenfchaft S. 33 drüdt Die zwei erften Entwidelungsftufen des bent- 
ichen Staates Damit übereinftimmenn, doch nicht fo präcid dahin aus: „ber krie⸗ 
- gesifhspriefterlihe Volksſtaat hatte fich in einen ritterlich-hierar« 
chiſchen Lehnsſtaat verwandelt." Diefe drei Entmwidelungsftufen des chriftlich- 
germanifchen Staated: den theofratifhen. Staat, den Rechts⸗ und den 
Finanzſtaat haben wir als MittePalter Hier zufammen gefaßt und zwar um deß⸗ 
willen, weil Diefe ganze Periode ald das Zeitalter des Feudalismus in auf und 
abfleigender Bewegung bezeichnet werden muß. Zuerſt die allmalige Verdraͤngung und 
Ueberwindung des urfprünglichen Adels der Vollfreien "durch Dad Civil⸗ und Militär- 
Beamtenthum des Lehnsſtaates — den Feudal⸗Adel und das Ritterthum — fodann 
Die analoge Beſeitigung des Feudal⸗Adels und Ritterthums durch Den abſoluten 
Staat und deſſen Beamten⸗ und Ritterthum und endlich die Entwickelung eines moder⸗ 

22* 


[4 


348 Adel im Mittelalter. ° 


nen Abeld, wie wir Ddenfelben in dem imperialiftifchen Adel Frankreichs bereits in 
greifbarer Geftalt vor uns haben. _ 

Es ift Died die Periode und die Entwidelung, in welcher und durch welche bie 
Mechte, welche bis dahin Gemeingut aller Bollfeeien waren, durch Die veränderte Ge⸗ 
ftalt des Staats Mefervatrecht und Borrecht Derjenigen blieben und wurden, welde 
ſich innerhalb des veränderten Staats «Organismus zur herrſchenden Klaſſe erhoben, 
ſelbſtredend um ihrerſeits Demnächft wiederum der neuen berrfchenden Klaſſe des aber 
. mals veränderten Staates Play zu machen. Wir fleben jegt am Ende und Ausgang 
des deutſchen Mittelalterd, bis zu dieſer Zeit foll die Geſchichte des Adels durch⸗ 
laufen werden. 

J. Aeußere Geſchichte des deutſchen Adels im Mittelalter. no 

In der Natur des Menfchen iſt der Adel, d. 5. der angeſtammte Vorzug 
einer Klaffe nicht begründet, aber in der Natur der Geſellſchaft, Volks. 
wirthbfchaft, des Staates und der Cultur, wenn biefe aus Eroberung hervor⸗ 
geben, wie in Deutfchland, muß e8 unter gewiffen Bedingungen und in 
gewijfen Zeiten immer einen Adel geben. Diefe Beringungen find bei den 
Perfern, Griechen, Römern, furz bei allen Völkern, die erobernd auftraten, Dageweien. 
Daher in der Entwidelung dieſer Völker ein Adel unter verfchiedenen Modificationen 
unvermeidlich war. In den chriftlich-abendländifchen, den flavifchen und magyariſchen 
Reichen waren in verfchiebenem Grade dieſe Vorbebingungen auch vorhanden. Auf 
Eroberung berubte der Beſitz und die Freiheit der Deutjchen und ihre Herr⸗ 
ſchaft über die unterbrüdten Nationen der Romanen, Gelten, Slaven, Ladiner u. |. w. 
Bei den alten Deutfchen von 140—880 n. Ehr. gab es Feine Adbelskaſte, aber bie 
Klaffe der Freien, der Bollbürger, bekam eine höhere Geltung, fobald der Gegen- 
fa zu den Leibeigenen Anderer Abflammung, fo wie zu den nachgebornen, nicht erb⸗ 
berechtigten Söhnen der Freien, welche feinen Grundbefig hatten, und dadurch auch in 
ihren echten beeinträchtigt waren, fich entwidelte. 

Ein dunfle8 Gefühl eines nationalen Unterfchiedes des deutſchen Adels und bei 
dienenden, unfreien Volkes hat fich im ganzen Zeitraum des Rechtsſtaates 1130 bis 
1500 und fpäter erhalten. Allgemein war Die Annahme (z. B. bei Michel Beheim, 
Buch von den Wienern 1462 — 65), daß die Bauern in Deutfchland von Ham ab 
flammten, der Adel aber von römifchen Patriziern (Peter von Anblo), ja jelbft von 
Troja follte der fränkifche Adel herftammen. Etwas Wahres ift daran. Die Bauern, 
d. 5. Hörigen, Xeibeigene, Kauffklaven, waren meiftend Gelten, Ladiner, Romanen und 
Slaven, ein Theil des Abeis die Patrizier der Rhein⸗- und Donauſtädte ſtammten 
allerdings von den römifchen equites oder ordo equestris ab und nannten ſich, weil 
biefe allein münzen durften, die Münzer. In Ungarn berubte der Adel auch auf der - 
Nationalität. Der Slowack ward ald Sflave des Magyaren von Natur aus angefehen. 
Bis heute hört man dort das alte Sprichwort: Der SIowad ift fin Menſch! Im Preußen 
und Gurland hieß SIave und Kette ſoviel als Keibeigener, Deutfcher war fo viel als Breier 
oder Abelig. In einem Theile Oeſterreichs ift noch jeßt, z. B. in Ungarn, Edelmann 
und beutfch reden können, identiih! In Polen, vermuthen mandye Hiſtoriker, befteht 
der Adel aus Nachlommen der Alanen, das Volk aus Slaven. Da alfo die Natione 
Iität die Vorzüge vor der Dienenden Klaffe gab, fo verfteht fich von ſelbſt, daß dieſe 
Borzüge angeboren umd erblich waren, wie Die Nationalität. Wo Leine Eroberung 
früher flattgefunden hatte, konnte natürlich feine Adelsklaſſe entfliehen, da mar noth⸗ 
wendig Alles Bollbürgertfum, Adel, wie in frühefter Zeit in Norwegen. Wo wenig 
unterworfene Gelten, Slaven und Romanen Ichten, war für Die Deutſchen ber nationale 
Vorzug nicht von Bedeutung, wie in der Schweiz und in Ungarn, yo jeder freie und 
Land befigende Magyar in feiner Abflammung fehon das angeborne Adelsrecht hatte. 
Erhielt er großen Reichthum oder ein Amt, fo trat ex fein angebornes Recht an und 
erhob fich über die Gemeinfreien. 

. Diefe nationale Höhe des Vollfreien ald Adel Hat man im theokratiſchen 
und im Nechtöftaate anerfannt. Die deutſche Nationalität gab Anſpruch auf Abel, 
reſp. fle war ein flillfehweigenner Adel. Im Rechtsſtaat 12 —16. Jahrh. wat 
Freiheit und Eigenthum die Bald des Adels. Diefen Vorzug der Nation and des 





Adel im Mittelalter. 34 


Bermögend in Liegenfchaften beftritt ver Finanzftaat. In dieſer Entwidelungsjtufe mußte 
fi der Adel auf feine Privilegien berufen. Das war ſchon eine Verkürzung des 
Anels, der im erobernden theokratiſchen und Nechtöftaat Feine Berufung auf Privilegien 
brauchte. Der Finanzſtaat ignorirt alle perfönlichen und angebornen Vorzüge, ber 
Menfch wird nicht nach feiner ihm angebornen Nechtsfphäre und Grundeigentbum, fon« 
dern nach der Arbeit beurtheilt. Der Uebergang in den Binanzftaat wurde in Deutfch- 
land vom Ende des 15. Jahrh. Bid ins dritte Decennium des 16. Jahrh. vollzogen. 
Blutige Kämpfe — Prinzipienkriege und nationale Empörungen gegen den deutſchen 
Adel — wurden dadurch wach gerufen. Die Lofung der einen Geite hieß „gegen 
die Banern“, und der Gruß der Bundſchuh Angehörigen von 1504— 14 auf der 
andern lautete: „Wie treibt Ihr Euer Weſen?“ Antwort: „der Bauer kann vor Adel 
und Ritter nicht mehr geneſen.“ Die Ereigniffe, in Folge deren der Adel endlich nach acht» 
zigfährigem Kampf in eine unnatürliche Stellung zum Yinanzftaat gedrängt wurde, 
waren: der Huſſttenkrieg 1415 — 1430, die Aufftände der Bürger in Speier und 
Augsburg gegen die Geiftlichfeit vom Abel 1422, eben fo die vereinzelten Revolu⸗ 
tionen in den Stäbten im 15. Jahrhundert, die demofratifhe Strömung auf den 
Eoncilien zu Conflanz und Bafel 1414 und 1435, der fogenannte Schwabenkrieg 
Marimiliand, der Krieg des Königs Johann von Dänemark und des Herzogs Fried⸗ 
rich don Holflein gegen die Dithmarjen 1500, die vereingelten Bauernaufflände 
um 1493 im Elſaß, Franken, Schwaben. Gegen das Landesfürftentfum, ald Ober» 
hanpt des beginnenden Finanzſtaates, hat fich der Adel nicht fo energifch erhoben, als 
er ſich nach unten gegen den Bauernftand gewehrt hat. Mevolutionen machte der Adel 
gegen dad Fürſtenthum bei dem Uebergang in den Binanzflaat, wie 3. B. die der fraͤn⸗ 
kiſchen Hitterfchaft gegen die Brandenburger im 15. Jahrhundert, oder die Mevo- 
lution Sidingend 1523 und die Verfohwörung Wilhelm’s von Grumbach, die f. gen. 
Grumbachiſchen Händel, deren Abſicht die Ermordung des Fürſten war. Die Bewes 
gung gegen den Adel dauerte bis zur Befeftigung des Finanzſtaates unter folgenden 
Kataftrophen fort: Die des Bundfchuhes 1504— 14, des Aufftanded der flavifchen 
Bauern in Kärnten 1517, desjenigen in Salzburg, des belannten Bauernkrieged, 
1524— 25. In Ungarn erblicken wir den Aufftand der Bauern gegen den Abel 1439, 
und auch bie furchtbare Bauernrevolution 1514 bafeldft trug den nationalen Stempel. 
Diefe Uebergangszeit von 1420 bis 1530 Hat einen nationalen Ausglei— 
chungsproceß zwifhen Adel und Volk, zwifhen Deutſchen und Eelten ober 
Slayen herbeigeführt. In dem Finanzſtaat ift e8 Princip der Regierungen, "den 
Übel zu beugen. Die perfönliche, rechtlich beftimmte Leiſtung hört auf, die Finanz⸗ 
leitung, Steuer, beginnt. Die Armee ift Feine durch Nitterlichkeit und Ehre und 
Lehnseid gehaltene, fondern durch Sold. 

Wenn der Adelvon der Staats⸗Regierung preißgegeben wird und feine Privilegien, um 
der doctrinaͤren Revolution zu gefallen, vernichtet find, fo geht der Abel leicht felbft 
zur Mevolution über. Das war fchon in Athen und Rom der Ball. Wie in Rom fo 
ging auch in Frankreich der Sieg der Revolution, bie zur Militairdefpotie führt, vom 
Adel aus. Caſar und Napoleon Bonaparte flammten aus abeligen Geſchlech⸗ 
tem. Eigenthbümlich und für die Zukunft manches deutfchen Staates bemerfens- 
werth iſt die Stellung des Adels zur Staatsgewalt ded Finanzftantes, 1789 — 1804 
in Stankreih und unter der MNeftauration 1816— 30, ferner in Defterreih 1848 — 
1849. €3 ift bekannt, daß auf einen Schlag 1791 der franzöfifhe Adel zum 
großen Theil zur Revolution übertrat. Die fähigften Köpfe lieh der Adel der 
Sache der Demokratie (Mirabeau). In der Conftituante und im Convent waren 
viele vom Adel, feldft die, welche ken König zum Tode verurtheilten, waren zu 
beträchtlichen Theile Edelleute. Was man zur Zeit der Meftauration in, Frankreich 
ven 1816— 48 für Uebertriebenheiten des Adels anfah, hat einen tieferen Grund. 
Der Abel hoffte vie Wiederkehr der Militairdefpotie verhindern zu fünnen, wenn er ſich 
eine Tegitimiftifche oder dynaſtiſche Höhe in einer erblichen Pairwürde oder in einem 
fortalen Stande erwirbe und fo Die Regierung unter fich vertheilte. Es iſt mißlungen. 
Defterreich Bietet eine ähnliche Erſcheinung, welche die Zukunft anderer Staaten 
anfpanlich macht. In Oefterreih war e8, feit die Habsburger dort einen Finanzftaat 





342 | Adel im Mittelakter. 


mit Perfonalunion verſchiedener Königreiche gegründet hatten, der ſtehende Regierungs⸗ 
grundſatz, den privilegixten, angeftammten Adel durch Aufnahme fremden Adels aus 
dem Meiche, aus Irland, Frankreich, der Schweiz, Belgien u.f.w., ober durch Erelrung 
eines neuen Adels in feinem Anfehen berabzufegen. Ban hoffte durch Vermehrung 
des Adels die Rechte und Anfprüche deſſelben unvermerkt vermindern und dann caffiren 
zu fönnen. Indem fo der öfterreichifche Staat in büreaufratifcher Gefchäftigfeit einen 
focialen Umſturz vollzog, reifte die nationale Revolution gegen den einheit⸗ 
lichen Staat heran. Der Adel trat zur Revolution, die vor der Hand nur national war, 
dann aber auch fchnell demofratifch geworben ift, über. So der magyarifche und italientfche 
Adel. Das mußte ebenfo nothwendig kommen, wie ed in Frankreich 1791 eintrat. In 
Preußen kommt die nächfte Revolution nicht unter dem Dedimantel der Rationalität 
wie in Defterreich, ſondern als national= döfonomijche Demokratie, als materielle Be 
glüfungspolitif. Der Adel Tönnte dabei in eine gefährliche Pofttion kommen. Sat 
die Staatögewalt die organifche Corporation des Adels gelodert, fo fprengt das erfle 
große Ereigniß die ganze Gefellfchaft auseinander und ihre Atome werben nad allen 
Winden zerftreut. Dann ift es nicht zu vermeiden, daß auch in daB Lager der Revo: 
lution ein Iheil des Adels gefchleudert wird, mie es in Defterreich 1848, in Frank⸗ 
veih 1791 geſchah. So if die Lage des Adels beim lintergang des Pinanzftaatel. 

In Deutſchland fcheidet fich der Adel nah den Ländern in zwei Klaffen. 
Der Adel im Rheinthal, Weftphalen (dem alten Sachſen), Alamannten, 
Baiern, Lothringen, der Mel in Defterreih, Kärnten, Steiermark, 
Böhmen, Krain, dazu ber öftlih der Elbe in Pommern, Brandenburg, 
Schlefien, Mecklenburg. Der weftdeutfche Adel bat eine ganz andere Geſchichte 
durchlaufen, al® der ofldeutfche. Die oſtdeutſche Geſchichte weiß deßhalb von feinen. 
fo weit greifenden Adelsrevolutionen als die in den Rheinlanden. Daher auch jeht ganz 
verſchiedene Verbältniffe des Adels im Often und Weften von Deutſchland fich finden. 
Im Often ift der Adel eingewandert. Der wefldeutfche war mit der Geſchichte des 
Landes verwachfen, der eingewanderte Adel im Oſten war nur an die Dynaſtie gefnäpft. 
Bon Schwaben wanderte Abel nach Kärnten und Oefterreih im 12 — 15 Jahrhundert 
(3. 8. die Wallfee, Sponheim u. f. w.). Bon Weftphalen wanderten adelige Fa⸗ 
milien oͤſtlich der Elbe. So ift im Often ein Adel, ver gleichfam bie deutfche Eofo- 
nifation vertritt, im Weften eingeborener nationaler Abel. Im Oſten bildeten ſich 
größere Staaten, in welchen ber an und für ſich als Einwanderer ſelbſtſtaͤndigere Abel 
eine freiere Stellung einnahm, als im Welten, wo lauter Heine Staaten beftanden. 
Ein voltswirtbfchaftlicher erhöhter Gegenſatz des weſt⸗ und ofldeutfchen ober auch nord⸗ 
und fübdeutfchen Adels trat mit der Reformation und Secularifation des Kirchen 
vermögend ein. Dadurch ift der Fatholifche Adel oder der In katholiſchen Laͤndern 
wohnende Yerarmt, Dagegen behielt Der proteftantifche norddeutſche feine bisherigen 
finanziellen Bortheile bei. In den nord» und ofldeutfchen Ländern trat der Adel als 
Corporation in die Erbſchaft der Kirche ein, nicht ver Staat. Die Adeligen, berm 
Vorfahren Klöfter geftiftet hatten, ‚erhielten nun auch durch die Neformation den Genuß 
diefer Stiftungen zurüd. Alſo ging es im proteflantifchen Norbdeutfchland, wie in 
England. Anders verhielt es fih am Rhein und in Süddeutſchland. Entweder war 
bier im 16. und 17. Jahrhundert gar nicht oder wenig fecularifirt. Im Großen ge 
ſchah dies erſt im 19. Jahrhundert. Der Finanzftaat brauchte Geld und war in feine 
Omnipotenz ſchon fo erflarkt, daß er alles an ſich riß. Der Abel mit feinen Anfpri- 
hen auf die Stiftungen feiner Ahnen ward hier von dem Staate ungerecht beeinträchtigt. 
Ja felbft die Landesfürften in Süddeutſchland waren fo wenig auf die Rechtsanſprüuͤche 
ihrer Dynaftie bedacht 1803, daß fle die Stiftungge ihrer eigenen Familie bei der Seen⸗ 
Iarifation in die Staatöfaffe fließen Tiefen! Norbbeutfchlann hat fo einen corporativ 
gegliederten wohlhabenden Adel, — durch feine eigenen Intereffen fchon eine Gorp 
ration —, bewahrt, Weft- und Süddeutſchland erhielt einen verarmenden Abel ohne 
corporativen Zuſammenhalt. Die franzöftfche Revolution und Oceupation von 1791— 
1815 Hat diefe Scheidung vollendet. Wo franzöftfche Idee und Geſetzgebung geberrfiht 
hatte, blieb yon Moeldvorrechten nichts mehr übrig, wo die franzäflfche Nivellimumgd- 
herrſchaft nicht eindrang, blieben die alten Verhaltniſſe wenigſtens zum Theil beſtehen. 


* 














Adel im Mittelalict 343 


U VBerſchiedene Stufen und Arten des dentſchen Adels. Es gab vom 
12. Jahrhundert an bis jegt.einen Hohen und niedern Abel. Zu dem erfteren gehörten 
»ie Grafen, Gau, Pfalz⸗, Mark-, Lande, Burggrafen, Fürften, Dynaftengefchlechier, Ser» 
zöge, Re evoate kurz alle welche bei dem Reichstag vertreten waren. Wer im Geſammt⸗ 
ſtaat, d. 5: im deutjchen Reiche, eine politifhe Stellung einnahm, zählte zum 
hohen Abel. (Vgl. übrigens den Artikel Erlaucht. Wer mit den Regalien vom 
Kaifer belehut war, alſo auch die Bifchöfe und Aebte ald Landesherren, wer das Münz- 
recht, Jagdrecht, Bergregal, Judenſchutz u. ſ. w. von jeher, auch ohne ausdrückliche 
Belehnung, beſaß, gehörte zum hoben, d. b. jouyeränen Abel, der nur den Kaifer 
über fi fannte. Der niedere Adel oder die Ritterſchaft (f. d. Art.) und Die 
Bafallen flauden in Dienftbarfeitögerhältniß zu irgend einem Dynaſten, einem Zerriterials 
ſtaat oder den König felbfi; ober fie waren Patrizier (ſ. d. Art.) einer freien 
Stadt. Ober endlich fiewaren unmittelbar unter Dem Kaifer, aber ohne Vertretung beim 
Reich — dieſe zählten nicht zum hohen Übel. Die ſchweizer Adeligen, die weftphä- 
liſchen, die fränkischen und ſchpabiſchen Ritter, die ſich in Oſtdeutſchland angeflevelt, 
gehörten nicht zum hoben Ad 

Auf die Etymologie des — Adel, ob ed von Odling, Gutsbeſitzer, oder Alhal. 
vornehm, abzuleiten fei, legen wir fein Gewicht. Doch ift die Definition von Adel, wie 
mar fie in den meiſten Büchesn findet, als ein Stand mit höherer Standedehre und 
wit. Genuß gewiſſer Vorrechte nicht allgemein genug. Es find ebenfo gut gewifie 
und ſehr wefentliche Berpflichtungen, welche der Staat von jeher und noch jebt auf 
Den Stand des Adels waͤlzt. Früher waren fle materieller Art, jet find dort, wo 
überhaupt der Staat noch officiell deu Adel anerkennt und ihm in feinem Organismus 
eine Ihätigfeit zuseift, die Anfprüche des Staates an den Abel mehr moralifcher, im⸗ 
materieller Natar. Wie oben gefagt wurde, muß überall ein Adel entfleben, wo fi 
die Geſellſchaft gliedert, wo ſie organijch aus einer nationalen Eroberung fich entwidelt, 
we bei mangelhafter Volkswirthſchaft nur der große Grundbeſttzer Arbeitöüberfchuß, 
das it Bapital, bat, wa endlich die einheitliche Stantögewalt durch einen nationalen 
Erooberungskrieg entflanden iſt und Daraus der nationale Staat hervorging. Auch muß 
#8 da einen Übel geben, we nur der freie Maun fi Culture aneignen kann. Alle 
diefe Vorbebingungen waren in ber deutſchen Gefellfchaft, Volkswirthſchaft, Staat und 
Cultur immer und bis heute vorhanden. Zugleich muß ed nach dem Zuſtand des Staa⸗ 
tes, ob er noch national erobernd ifl, oder feubaler Rechtsſtaat, ober bureaufratifcher 
Finamsflaat immer einen verſchiedenen Adel geben, je nad; den Entwidlungeftufen 
des Staates. Wir werden alfo in chronologifcher Folge die Arten des Adels aufs 
zählen. Erbadel gab e8 in der Karolinger Zeit nur in deu römijchen Stäbten, bie 
sömifchen eiwites. Sie waren außer in den größten Städten in Italien faft gar nicht 
beachtet. Bein Untergang der Karolinger im 9. Jahrhundert war nur Beamten» 
Adel da; der aͤlteſte Erbadel der Vollfreien und Majoratserben ift vom Staate da» 
mals bereitd ganz bei Seite geichoben und bat feine politifche Stellung mehr. Die 
Lehnsbüreaufratie war der Adel. Die letzten Karolinger mußten foͤrmlich 
um. die Gunft dieſes Amtsadels buhlen, weil nur noch in feiner Irene und Hülfe 
ihre Stärke lag. Sie befanden fi den DBeamtenabel gegenüber in der Lage, wie 
jegt Napoleon HI. dem Geld⸗ und Soldaten⸗Adel. Der ganze Staat von Napoleon ll. 
hängt vom Credit und Waffenglüd ab, es ift deshalb nicht zu verwundern, wenn ber 
jübifche Induſtrie⸗ Abel die Minifter liefert und ein Rothſchild Die Hoffeſte durch feine 
Gegenwart ehrt. Das. Entwidlungdfadium des Staates fpiegelt fi 
geireulich in der Umgebung be Fürſten ab. 

Was Die Grafen beim Ausfterben der Karlinger ald Beamten zur Nutznießung 
hatten, die Comitate — Grafſcha — , ‚wollten fie nun erblich als Eigenthum 
befigen. So and die Pfalzgrafen — der in Aachen der bebeutendfle —, die Mark⸗ 
geafen, bie Rammeboten auf Hohentwiel. Diefe letzteren haben unter Gonrad 1. 
ihr Sterben nad dem Beſitz der Tarolingifchen Kanmergüter mit dem Leben bes 
gablt. Das gewöhnliche war, daß die Grafen durch Erbjchaft und Heirathen zwei, oft 
fechs Grafſchaften in einer Perfon zu vereinigen ſuchten. Dann Eonste man fie bei 
Vrledagunag des Herzogihums nicht umgehen. Sp find die Zäringer, fo bie Conra⸗ 





364 Abel im Mittelakte. 


Diner in Franken, fo die Ottonen, fo bie Salier emporgekommen. Diefer Tarlingifche 
Beamtenadel hatte neben fih den Winifterial= Adel, d. h. Beamte und zu Dienfs 
leiftungen verpflichtete Männer, welche ein Herzog oder König auf feinen Privatgätem 
figen hatte. Aus dem Miniſterial⸗Adel foll Conrad II. ſtammen, der wahrfcheinlic, auf 
der Burg Stauf bei Kaiferdlautern zu Haufe war. Mit Conrad II. tritt 1037 eine neue 
Epoche in der Üpelögefchichte ein. Er machte in feiner conslitutio de feudis bie 
Lehen erblidh. Noch unter den Ottonen iſt aber eine Umgeftaltung vor ſich gegan⸗ 
gen, die im 12. und 13. Jahrhundert von großen Kolgen wurde. Es war nämlich 
bis ind 10. Jahrhundert etwas Unerhörted, einem Sachſen in Baiern, ober einem Alu 
mannen in Franken ein Reichs⸗Lehen zu ertbeilen. Heinrich Il. war dazu genöthigt; 
fo verlor der Lehnsadel fein Iocales, nationales Stamminterejfe, wie 
ed die Bolläherzöge auch verloren. Dad war ganz gegen die Verfaſſung ber karlingi⸗ 
fehen Zeit, wonach fein Mann ein Lehn in einem fremben Lande tragen konnte. Unter 
Heinrich IV. nahm die Unabhängigkeit des höheren Adels zu, doch wurden die Grafen 
als Richter noch gewählt bis 1160. Das Auflommen des Ritterweſens feit 
der normännifchen Eroberung in England, 1066, brachte eine adbelige Gorparar 
tion hervor. Die Ritter bildeten eine Zunft mit Rangordnung, Ritter, Knappen 
u.f. w. Sie waren die zünftig geworvene Armee des Lehnſtaates. Das Mitterweien 
bat die provinzielle Schranke des Adels durchbrochen, e8 gab fahrende Leute, die ſich 
in beliebigen Gebieten ein Reben Durch Krieg erwerben wollten. Mit der Landeshoheit, 
welche 1230 Friedrich II. allen großen Lehnsträgern des Heiches gab, war der Dyna⸗ 
ſtenadel — der hohe Adel, mit ihm der niedere da. Der niedere Adel be 
fHäftigt uns nun für die Folge am meiften. Dan kann ihn eintheilen in: 1) Ba- 
trizier in den Städten, die auch außerhalb Bellgungen hatten, 2) Bauernadel, in 
Weftphalen und der Schweiz am bäufigftlen noch vorhanden. Das iſto der Adel, ber 
fein Leben hatte, in einem Dienflverhältuis war und neben den Gemeinfreien befland, 
3) Ritterſchaft, das ift der Abel, der Lehen vom Kaifer, von einzelnen Sürften ver 
übengehend hatte. Diefer Adel bildet die Mitterfchaft, d. i. die Armee beflen, ber ihn 
in Sold nimmt. Befonderd zahlreich war dieſer in Franken, am Rhein, im Elſaß; 
4) Titularadel. Die früheren Aemter mit Beil eines Lehen wurden bloße Titel 
So das Herzogthum, die älteften Titularherzoge kommen bei den Ottonen vor, Dann 
find die Zäringer vie befannteften. Bald gab es TitulamMarkgrafen, Fürften, Gra⸗ 
fen, ohne daß ihre Inhaber eine Grafſchaft gehabt hätten. Ban kann dieſen Titulam 
abel nicht ‚zum Pürftenfland zählen. In Defterreich iſt er namentlich feit bem 16. 
Jahrhundert ſehr häufig; 5) mit dem 14. Jahrhundert unter Earl IV. kam der Brief 
adel auf, der gewöhnlih an Doctoren utriusque juris verliehen wurbe; 6) eine ber 
verachtetften Adelsverleihungen war ber fog. Vicariato-Adel. Bei Erledigung bed 
deutfchen Thrones hatten nämlich Chur⸗Pfalz und Chur⸗Sachſen das Recht, Adels⸗ 
viplome zu verleihen. Gewöhnlich ernannten nun dieſe Reichsverweſer in einigen Wochen 
einige Dugend ihrer Kammerbiener, Küchenjungen u. dgl. zu Baronen. Namentlich 
waren die letzten Churfürſten in der Pfalz deshalb verrufen. Ein großer Theil dei 
Adels in Baden, Heflen, Baiern ift. jolcher Vicariatd- Adel. Er hat Feine Büter und 
nie weldhe gehabt. Die verſchiedenen Stufen des Adels, des alten auf Geburt ger 
gründeten, des jung gefchaffenen, des Dienſte und BerfonalsAbels, kann man in de 
focialen Entwidlung bei den Griechen und Roͤmern ebenfo nachweifen, wie ins chriftlichen 
Mittelalter. In Griechenland war der Abel der Gupatriven, Gamoren, Hippoboten 
der alte. Erbadel, der Briefadel (Titularadel) kam mit Perikles auf, das find bie 
rarpödev („nach dem Vater“) benannten, flatt waic vos. In Rom find es die gentes, 
ber Geburtsadel, die nobilitas ift Verdienſt⸗ und Amtsadel, die equites der: Geldadel. 
Der Abel des Imperialismnd in Rom find die Romines novi. 

Die gewaltige Erfchätterung des mittelalterlichen Finanzſtaates, welche feit 1803 bei 
Aufldfung des Neichöverbanbes und meiter Durch die franzöflfche Occupation eintrat, Hat 
auch zwei neme Klaffen von Abel in bie founeränen deutſchen Bundesflaaten gebracht, naͤm⸗ 
lieh Die Standesherren md Grundherren. Die erfleren ſind mebiatiftrte ſouveraͤne 
Reichöfärften, die Hoheisrechte hatten, Die leßteren find der Land beſtzende Adel, ber noch 
Batrimonialgerichtöbarkeit, Batronatsrechte u. |. w. hatte, aber beim Reichstag nicht ver⸗ 


| 








Hi in Miteldiier. | ME 


tusten war. Bei der Muftbfung des beutichen Meiched verlor der reichsummitlelbare Adel 
feinen Rechtoſchutz, er ward ganz der Bureaukratie und den Eonftitutionen geopfert. Er 
verlor die Biſthumer und Pfränden. Die fortlaufenden Beſchwerden ber Standesherren und 
Grundherren gegen die fouveränen Staaten von 1817 an bid zur Gegenwart find eine 
inteseflante Seite in der Gefchichte des 39. Jahrhunderts. In allen deutſchen Bundes. 
Tasten trat der Adel — die Grundherren — in diefer Zeit bald als politiſch, bald 
ale privatrechtlich verlegt vor dem Bundestag und vor den Kammern auf und nahm bei 
politifchen wie focialen Fragen eine Barteiftellung ein. Es waren die Iehten Wider . 
fſtandsverſuche gegen ben allgemeinen Nivelliungsproceh. Des Abel verloz unter ſich 
feibft die berfümmlichen Rangſtufen; es giebt nur noch reihen und armen Abel. — 
Diefed Jahrhundert hat auch nee Arten von Übel hervorgerufen. Der bonapara 
tiftifche Berdienfi-Adel, la noblesse imperiale, wovon noch unten die Mebe iſt. 
Der Adel, den gewifle Orben, wie in Württemberg, Baiern, verleihen, der Perſo⸗ 
nal⸗Adel. Ueberdies fpricht man auch von Geld» Adel, Eiſenbahn⸗Adel, innen man 
Die Induſtriellen und Actionäre bezeichnen will, welche eine hohe Ariſtokratie in Der Fin 
nanzmelt bilden. Für Die englijchen Verhältniffe ift der Artikel Adel Der Gegenwart 
und feine Zukunft nachzuſehen. Literatur: Die Statuten des napoleonifchen Adel⸗ 
Juſtitutes von 1808. Klüber's Acten des Wiener Eongrefied von 1815, darin bie. 
Schritte des Adels bei der Errichtung bed Bundes. 
. IL Die innere Geſchichte des deutfchen Adels in der Periode des erobern⸗ 
Den priefteslichen Staates 888—1137, in ber des feußalen Rechtsſtaates 11371500 
( Bundesſtaat) und in ber des burtaukratiſchen Finanzſtaates (Stantenbund, 1500 
bis Heut). 

a. In dieſer Hinficht muß man den Abel in feiner focialen Stellung, ald 
foedalseorporatives Element, als nationale Schichte, als Lehnsbureauktatie, als veiche 
Landwirthe, ald Bögte der Kirche, als Ritterſchaft, als foriale Armee, als Adels⸗ 
Geonföberation, als ſoeiale Hierarchie, und den Abel im Boſtz der Pfrunden betrachten. 
Man muß davon handeln, wie dieſe Schichte durch materielle, perſonliche, immaterielle 
Berzüge (kirchliches Amt) und durch Bildang durchbrechen wurde. 

b. Maß der Adel in ſeiner volkswirthſchaftlichen Stellung betrachtet werben. 
Der Adel tritt bier als Arbeitstheiler auf. Hiernach if von dem Stadts 
Adsl — Patricier, Großhändler — bis c. 1360 und dem Land-Adelızu 
fyorchen. Der letere repräfentirt den Gapitaliften, welcher fein Landgut ‚nicht mobili» 
ſtren durfte (da ein dingliches Recht darauf laftete), welcher aber mit ſeinen Rohpro⸗ 
Duschen und: Frohnden der Hörigen Yabrication und Handel an den. Grundbeſitz Arekpfie. 
Yeht kommt das felten vor, daß ber größte. Grumndbeflger ber bedeutendſte Producent 
an Leber, Leinwand, Eiſenwaaren und der größte Yabrifant zugleich ifl. Im Mitteln 
alter war diefes aber die Stellung des Adels. — Wegen ber Ausbeutung der Stifts« 
präbenden in&befondere hat der nievere Land» Abel emen breifachen Kampf durch⸗ 
gemacht. Zuerſt gegen bie Bürgerlichen im 12. Jahrhundert, dann im 43. 46 
16. Jahrhundert. gegen die Patricier der Städte. Als der ritterbürtige Land⸗ Abel 
fiegreich Diefen beftanden und die Patricier geftürzt waren, bat dee hohe Adel 
ih in die Domflifter gelegt. Die Diymaflieen von Naffau fürchten fi in Mainz den 
Grzbiſchofaſtuhl zu erhalten, die von Baiern und Oeſterreich Koln und fo weiter. Des 
Papft hat in dieſer Ainangiellen Lebensfrage immer Partei ergriffen. für das Recht deu 
Patricier dem Lande Adel gegenüber, dad war juriflifch- gerechtfertigt. Aber feig waren 
Die: Bäpfte gegen die Anmapungen des hohen Adels. Sie ließen es gefchehen, daß wiber 
Met wer landſchaftliche Ritter⸗ Adel und das Bürgertfum aus den veichen fatholifchen 
Pfründen verbrängt wurben. Die Folge war bie Mevolmtion des deutſchen Epiöcopatd 
gegen Rom felbft, die Emſer Punktation 1786, formell gmammen, ein Vorläufer des 
Rheinkundes gegenndad Reich. Die Säcylarifatien bat dieſem Streit hoben und nie 
denen Adels ein Ende ‚gemacht. Diefes durch vier Jahrhunderte in Deutſchland ſich 
bingiehende Ereiguß, daß der hohe Abel ven nieberen u. ſ. w. and Deus. Genuß der 
kiechlichen Pfrunden drängte, war von aͤußerſt wichtigen Folgen. Die Kirche war ihrem 
Principe untren und verlor ihre ſociale Bedeutung, wie Died L. Stein in feiner. Geſell⸗ 
fepafinlehte Herwargehoben hat. | 





3 Adel im Bitelalien. 


ec. Der Abel iſt ferner zu betrachten in. feiner zehtlihen Stellung zum 
Staste — zum Rechtsſtaate 1137 — 1500, ala Lehnsbüreaukratie nnd politifche 
Corporation, zum Finanzflante von 1500 bis jegt, ald Glied der Zandflände 
oder ald politifche Partei. 

d. Endlich muß derfelbe beſprochen werden in feiner culturhiſtoriſchen 
Stellung, ald Träger der Bildung und @ultur, der theologifchen und national⸗epiſchen 
Dichtung bis in’& 14. Jahrhundert, in feiner Stellung auf ven liniverfitäten, in den 
Domfiftern, in dem Staatsbienfte u. f. w. 

Es war hoͤchſt einfeitig, daß man biöher in allen Abhandlungen über den Adel 
im Mittelalter und in der Neuzeit denfelden nur vom rechtlich «politifchen Geſichtb⸗ 
yımfte aus betrachtet hat. Die übrigen Gefichtspunfte, wie fle hier gegeben murben, 
find eben fo wichtig, fa vielleicht allein entſcheidend. Freilich ift der Raum bier zu de» 
figeänft, um biefe vier Seiten des Adels in jeiner Stellung zur Gefellichaft, Wirth⸗ 
feheft, Staat und Gultur erfhöpfend zu behandeln, und begnügen wir uns deshalb 
mit Andeutungen und Skizzen. 

Zuerſt die fociale Stellung des Adeld in Deutfchland in den drei durch⸗ 
laufenden Staatsformen. Im erobernden tbeofratifchen Staate, oder wie Rofder 

ihn neunt, ‚in dem friegerifch- hierarchifchen Volksſtaate, war es der Noel allein, 
der den Staat bildete. Seine Eorporation machte die Staatögefellfehaft aus. Selbß 
Die Kirche, die am erabernden Staats Teinen Antheil hatte, warb bem Adel unter 
werfen durch die Bogteien. Im Rechtsſtaat war der Adel die fociale Armee bed 
GStaates. EB war eine halb national, halb jocial getrennte Schichte Der Geſell⸗ 
haft, welche den Staatsſchutz gewährte — der Abel und die Nitterfchaft. Das Bitter 
weien kam auf durch die Eroberung Englanke 1066. Es beruht auf der Brund- 
Anſchanung: Alles Land gehört Dem .Könige als Eigentbum — Bir 
Sehne find nur Sold-Anweifungen Miles ift ein Ritter aus abellgem 
Bit, der alle Grade der Ritterzunft — alſo den armiger (Ruappep) u. f. w. durch⸗ 
kaufen, den Ritterſchlag erhalten und einen Feldzug mitgemacht battle. Kür jenes 
Stadium des Staates war die Ritterwürde ein Verdienſft⸗Adel. Walters Di 
zition davon (Destiche Nechtsgeſchichte B. 2. S. 247 bis 251) ift nicht fchlagend. 
Die Röterbürtigen bildeten eine ſociale Kaſte, eine fociale Kriegerfafte, doch war 
dieſe Leicht zu durchbrechen, da nicht allein Crblichkeit, fondern auch eine yperiät- 
liche Auszeichnung für dieſe Zunft erforverlih war, nämlich Die Kenntnis und 
Der. Beruf des geregelten Kriegsweſens des Mitterdienfted. Die Ritterfcgaft wer 
ein bel des Berufs, eine Corporation, welche foriale Vorrechte gersährie, 
Die Miniferialen, urſprünglich Unfseie, find neben biefer ſoeiaben Armee ber 
Nitterfchaft eim Adel der Beamten ober ein Diener⸗Adel. Die Entwickelung giag 
fo. ver fh, daß, als Der Mechtöftant feine Höhe erreicht hatte, der minifteriale 
Dem freien ritterbürtigen Adel gleichſtand. Der Adel und Die Mitteefchaft giugen 
Herr ſreien Stellung im Mechtäftante durch die Landfriedens⸗Geſetze mad 
das Aufkommen der Lanzknechte verluſtig. Letztere und ber Gebrauch bei 
Feunerwaffen machten Die militäriſch organiſirten Lehnsſtaaten zu Finanzſtaaten, Dir 
Sold und MRuüͤſtzeug in Geld bezahlen und anſchaffen mußten. Es werd bald alles in 
Gelb bezahlt, was eigentlich vertragsmäßige Leiftung fein folle. So bedurfte mar 
Beiner. focialen, corporativ geglisverten Armee mehr. Bon ben Landfriedensgeſetzen und 
Vandfricdenobucdniffen des bogen Adels hat man vielfach ganz falfche Anfichten gehabt. 
Ban hat geglaubt, das ſei ein Zuſtand des Rechts geweſen. Es war absr ein Zur 
Hand der. Rechtsloſigkeit des Schwachen, eine legale, ſucteſſiver Mediau⸗ 
Ksung des kleinon Adels, eine alfarälige ſociale Revolution, Die mit Gonfequeng uud 
Schlauheit von Selten des Reiches und bed Territorialſtaates durchgeführt wunde. 
Das Mecht Waffen zu trugen £onitte man nimläh dem Adel nicht chmen;,. daher 
verbot man ihm Deren Anwendung, zuerſt darch ben Getteöfrieden, dann in den 
Landfriedensgeſetzen unb ‚Bünbniffen. Das Fehderecht bes Adels aufheben «ante 
Beiedri III.) hieß ihn der Macht des Starkern, d. i. des hohen Adels, preiſsgeber 
fo geſchah ed am Ende des Rechtsſtaates. Der Adel wurde nun eine ſociale Schicht, 
deren Vorrecht Waffen zu tragen und zu führen, ſich ſelbſt Recht zu nehmen, aur von 








Adel im Mitteldint, 


fetne® Gleichen gerichtet zu werben, vernichtet war. Der Finanzſtaat fihrinkte bie 
foeialen DBorrechte des Adels durch die: Hofe und Kammergerichte — denen bierin bie 
weftphälifcgen vorgearbeitet hatten — durch Meichs-@intheilung, den fchwäbifihen Bund, 
ſtehende Heere u. f. w., ein. Damit war die Stellung des ritterbürtigen Adels anfı 
geboben; nur eine Waffe hatte er noch, fich feine foriale Stellung im Geſammtſtaat, 
dem Heid, und im Territorialftaat zu erhalten, Das waren Die Adelsbündniſſe, weiche 
im 14. und 15. Jahrhundert die legte Anftrengung der focialen Macht des Adels 
waren. In Baiern kommen fie fchon 1315 vor (Muffat die Bündniffe des Wels 
1315), fle geben durch alle Länder und Jahrzehnte bis in die Zeit Maximilian's 1. 
Die befannteften find: zum Greif, zum Georgenſchild, Die Bruder, die Finken, die 
Schlegler, die Schweribrüber, die Efel im Kraichgau u. |. w. Ban findet das Meifte 
hierüber bei Datt de pace publica, auch ift der Nrtifel Adelsbündniſſe nachzufehen. 

Wie fchon gefagt, war der ſ. g. Landfrieden der Borwand, Den Beinen. Anel 
— die Reichsritterſchaft — zu mebtatifiren. Die habsburgiſchen Kaiſer Markwiiten 1. 
und Karl V. boten, ald der Staatenbund um 1500 begann, bereitiwillig Die Sand 
zur Pürften- Revolution gegen den Abel. Im Yahre 1500 bat WMarimiltan I. das 
Netchöregiment in Nürnberg eingefegt — die Städte waren ba vertreten; and bie 
Kreife, aber der Adel nicht. — Das Heichöregiment und die Kreiseinthellung Maris 
milian's war formell ein Bundesftaat — fartifch befand ſchon der Staa⸗ 
tenbund. Bormell war der Territorialſtaat ein Rechtsſtaat — wirklich aber ſchon 
Finanzſtaat. Marimilian hat auch den Landfrieden ernenert, Der gegen der Abel ge- 
richtet war. Die Wahlcapitulation von Karl V. von 1519 verlangte vom Abdel, d. i. 
der Bitterfchaft, Aufhebung aller Adelsbündnifſe. Das bezeichnet die Kataſtroph«, 
welche über die noch immer focial-fouveraine Stellung des Adels bereingebrochen wir. 
Wie ſich der Abel in den Dynaftenflanten des 15. und 16. Jahrhunderts geſtaltete, 
erſteht man aus Höfler’& „feäntiihen Studien.“ Wichtig iſt die Stellung - des 
Aels zum brandenbargifchen Staate unter Friedrich J. Rarkgraf von Branbenbur. 
Unter ihm fand der Adel die Stellung wieder, die er im Reiche ſchon verldren Hatte; 
ee warb ald Armee wieder verwendet und an bie Intereflen einer Dynaſtie und eines 
Staates gefnüpft. Die ſyſtematiſche Vernichtung des Abels als fociale Schichte ging 
im 16. und beſonders im 17. Jahrhundert vorzugsweiſe von Oefterreich aus. Mat 
milian., Garl V., Ferdinand I. u. f. w. machten Freiherren, Grafen und Finſten im 
Mei und in ihrem Lande nach Belieben. Leopold I. geflattete das Kaufen der „Prä- 
dieate“ 1659 und fehte die „Neichshoflanzlei-Tareronung” fe, Des Titel Durchlaucht 
koſtete 600 Gulden u. f. w.; Helm anf dem Wappenſchilde 100 9. : Ia, derfeibe 
Kaifer ließ die Prädiente „von* und „auf“ für 300 Gulden, ‚die Löwen in am 
bürgerlichen Schilde fich mit 40 Gulden bezahlen. Es war Hflerreichifche Erbland⸗ 
politit, den Adel auf jede Welfe zu vermehren, Damit für den landſaßigen und berech⸗ 
tigten Adel, der feine nationale, rechtliche Stellung fühlte, ein Gegengewicht da ſei. 

Die volkswirthſchaftliche Stellung des Adels im deutſchen Mittelalter, 
wie in Frankreich und England, ift im Größen und Allgemeinen feine 6m allein vor« 
behaltene Advocatie des Kirchenguted. Der Adel war Stifts⸗ und Klofternogt. Karl 
der Gr. verordnete die Advscatie über Die Kirchengüter. Was Anfangs politiſch⸗recht⸗ 
Ischer Beiftanb war, ward im 10.—16. Jahrhundert eine financielle Stellung des Abeld. 
Ausführlich handelt davon Saint-Genois histoire des avoueries en Belgique unb 
Die Werke über das Vogteiweſen im Mittelalter, au Walter, Rechtégeſchichte Si K 
&. 211, 2. Ausgabe, ſpricht davon, doch ift zu bedauern, daß die financiefle Seite 
und das Volkswirthſchaftliche Der Advocatie zu wenig beachtet wurde. Die Vogte, 
u. 9. der Abel, wahrten die Integrität der Bauergüter. Es wurve durch die Bogtel 
die Serfplitterung durch Erbtheihmg und Die Entfiehung der Latifundien verhindert 
Dear Wendepunkt fir den Adel als erbliche Bogt- ober Addoentie⸗Kaſte war vas 
13.—14. Jahrhundert, wo die Stifte Die Advocatien abkauften ober an die Lanves⸗ 
furſten gelangen Tießen. Die foctale Seite der Vogtei des Adels tiber Wie ſogenannten 
Bfiegbaften, advoealilii, bat Waltr, Bd. 2 ©. 241, ſchön außeinanbergefeht. 
Bir verweiſen darauf. Ueberdies genoß der Adel als Weberrefi der früheren Immen 
mtät aller Solfrelen in wen einzelnen Rechts⸗ und Finanzſtaaten gewiſſe finankitlie 


MR Ä Adel. im Mittelalter, 


Porrechte, 3. B. die Hälfte eines Rittergutes ift ſteuerfrei (Medienburg),, oder die 
adeligen Samilien find ſteuer⸗, zolle und accisfrei. Der Finanzſtaat bob alle dieſe 
Vorrechte auf — es geihah natürlich ſueceſſive. Volkswirthſchaftlich hat Den Adel bie 
Geſetzgebung von Frankreich 1790, von Bayern 1808, Preußen 1811, Württemberg 
1817, Baden 1848 in diefer Hinficht beeinträchtigt. Für die Volkawirthſchaft der 
neueren Staaten — der Sinanzflaaten in ihrem Uebergang zum Militär Dejpotiänens 
oder Imperialismus — iſt es ein wichtiger Punkt, ob durch fortgeſetzte financielle 
Beeinträchtigung des Adels eine andere ſociale Corporation Arbeitötheilerin wird. 
Betrachtet man die innere Gefchichte des deutjchen Adels nach der politifchen 
Seite in feinem Verbältnig erfiens zum Geſammtſtaat (Reich, Bundesſtaat, 
Staatenbund) und zweitens zu der Hegierungdgewalt der Territorialflaaten, fo 
beginnt die Gefchichte ded Adels um 888 mit dem Liebergewicht des Amtsadels und der 
Minifterialen über die Gemeinfreien. Epoche machend ift hierauf 1027—37 die Erblich⸗ 
erklärung der Lehne von Conrad Il. Bis dahin war das Adelsweſen in Deutſchland nur 
Fortentwicklung der Trümmer der carlingifchen Lehnsbürenufratie. Die Eroberung Eng⸗ 
lands durch Wilhelm den Eroberer 1066, und die Vertheilung Englands in Barenien, 
war ber erfte „großartige adelige Zreifchaarenzug, der gelungen if. Seine bleibenbe 
Nachwirkung für ganz Europa war dad Rittertbum Nachdem von England ber 
Dad normännifche Ritterthum dem deutſchen Dynaſten⸗Adel den niedern Vafallen- Adel 
an die Seite flellte, trat im 12. Jahrhundert ein Wendepunft ein, welcher die Periode 
des Nechtöftanted herbei führte. Diele Dynaften verjchuldeten durch Die Kreuzzüge. 
Die Allodien oder Eigengüter waren verpfändet an Klöfter, Bisthümer und Inhaber 
mehrerer Grafichaften. So wurden Die Adeligen, Grafen und Semperfreien gezwun⸗ 
gen, ihre Güter ald Lehn zu nehmen. Mit Friedrich l. 115080 iſt das Ritter⸗ 
weſen fo erftarkt, daß er Dafielde als Corporation im Reiche, ald die Stübe feines 
Thrones, ald feine Militär» Zunft beteachtet und conftitnirt. Das war der Culmina⸗ 
tiondpunft des Keinen Adels in feiner zechtlichen Stellung. Vom 13. Jahrhundert an 
bat. Friedrichs 11. Tyraunei und feine unpolitiſche Regierung den Eleinen. Adel, wie bie 
Städte in Deutjchland gezwungen, revolutionär zu werden. Bon 1232 d. h. 
von dem. Momente an, wo Friedrich II. Die geiftlicden und weltlichen Territorialſtaaten 
canftituirte, wo er diefen Landesfürften fogar den Eleinen Adel und Ritterfland, ber en 
Die Perfon des Kaifers gefeflelt war, und die Städte opferte, von der Zeit am if 
Die Mevolution unausbleiblich geworden, weil dad Gleichgewicht der Stände: geflört war. 
Friedrich II., der Staufe, liefert ven Beweis für die bekannte Thatfache, daß jede Revolu⸗ 
tig a von Oben ausgeht. Friedrich II. hatte fich ald König und Kaifer von ber Mitterfchaft 
Inägemacht. Da fie nun ald Stand in ber Reichsverfaſſung Feine Stimme mehr hatte, fo 
ſchlaß fie fich Leicht jenem Führer an, der Solb verfprach. Ein Theil dieſer Ritter, beſondero 
and Schwaben, zog mit den Habsburgern nach Oſten, um dort fich Lehn zu erfünıpfen, oft 
auch nur, wie Wolfram yon Eſchenbach, einen Saul zu erfingen. Andere zogen nach Preußen 
umd der Mark. Die Zahl des berrenlofen Nitteradeld wuchs fo, daß Adolph von Naſſau 
1292 — 98, ein Barvenu, der mit englifchem Gelde fih Ritter fammelte und in Thä- 
ringen ein Stammland erobern wollte, ſich ganz guf Diefen kleinen Adel fügen konnte. 
Molph von. Nafau ſtellte fi) an Die Spige der Mevolution gegen die Lanbesfürften. 
Gr wiegelte den Lehnsadel Albrechts auf, den Herzog abzufegen und das Land zu 
teilen. Nachdem der König ſelbſt ‚auf die Seite des revolutiondluftigen Eleinen Adels 
geissten: war, konnte e8 nicht außbleiben, daß Die Idee, die Landesfürften zu flürzen 
und zu töbten, und aus Deutjchland eine Adels⸗ und Mittes-Mepublit zu machen, wie 
Polen und Ungarn ſolche waren, immer mehr wuchs. Das 14. Jahrhundert brachte 
Bundniſſe auf Buͤndniſſe des Eleinen Adels gegen die Landesfürſten, 1394 kam es zum 
Sing. — Er war zuerft gegen Württemberg gesichtet und heißt der fogenannte Schlegler- 
eig. Es war durch Ansfterben von Tanbesfürftlichen Familien und durch jene Bünd- 
niſſe des Heinen Adels diefem im 14. Jahrhundert in Schwaben, Franken und am 
Rheine gelungen, ber Lanbeöhoheit der. Neichöfürften fich zu entziehen. Im felgen 
den Jahrhundert ſtrebte nun dieſer fouveräne Adel, der nicht als folcher anerkannt 
und doch factiſch fonverän war, nach ber Vertretung im Rei, d. h. na, Anew 
Immung. als fnuperänes, geirhloffener Reichsſtand. E6- warb ihm verweigert. (ER 











Adel im Mittelältn M 


Gißeten ſich nun die Ritter⸗ und Adels⸗Cantone zur politifchen Gorporation, das ſind 
Die ehemaligen reichritterfchaftlichen Gebiete Was man in Güte im 15. Jahr⸗ 
Hundert nicht erreichte, verfuckte Sickingen 1523 und Grumbach mit Waffengemalt. 
Auch das fchlug fehl. Als man den weftphälifchen Frieden abfchloß, verfuchte Die 
Meichöritterfchaft nochmals Die Anerkennung als Reichsummittelbare⸗Corporation durch⸗ 
zufegen. Es fiheiterte. Den legten Verſuch machte der Abel auf dem Wiener Con⸗ 
greg 1815. Ebenfalls erfolglos. Das ift die Entwicklung des deutſchen Adels dem 
Gefammtftaat gegenüber. ”. 

Die Stellung ded Adels zum Territorialftaat in Deutfihland haben wir 
ſchon bei feiner foctalen Stellung angedeutet. Hier tritt hauptfächlich nuch Die Ber- 
teetung des Adels auf den Landtagen in den Bordergrund. Der Adel, die Geiſtlichen, 
Die Städte und die Bauernfchaft waren bie überall vorkommenden Stände. Der Adel fpielte 
bei den Landfländen Die erfte Rolle. Ex hatte die entfcheidende Stimme als Hauptglied ber 
Armee, als große Büterbefiger, Hofbeamte, Staatsbeamte, Gebilbete und Kapitaliften. 
Doch für feine rechtliche Stellung konnte der Adel bier-nichtE gewinnen. Nachdem er feine 
Reichbunmittelbarkeit verloren, war e8 nur wenig, wenn er in ber Landesunmittelbarkeit 
und in der landſtaͤndiſchen Bepräfentation feiner Hnterfafien einen Schatten feiner friw 
beren rechtlichen Stellung bewahrte, doch freilich auch hier analog ber Ausbildung der 
Zandeöhoheit felbft wefentlich auf Koften der Gemeinfreiheit. Als die Landflände Beden⸗ 
tung gewannen im 15. und 16. Jahrhundert, machte jeder Landesfürft feinen Staͤnden hohe 
Conceſſionen, nm die Reichsſtaͤdte und den Eleinen Adel zu koͤdern, daß fte fich ihm unter» 
werfen-follten, d. h. fich freiwillig mebiatifiren ließen. Der Adel hat diefe Vertretung bet 
den Landftänden dem Staatsoberhaupt und dem Staate gegenüber bis -in die neuen 
Gonftitutionen des 19. Jahrhunderts beibehalten. Doc find alle jetzigen deutſchen 
Ständeverfaffungen und Kammern nach Theorien conſtruirt, fie find nicht traßitionell 
fortgebilbet aus den mittelalterlichen Landſtaͤnden. Diefe letzteren hatten ſich in den 
einzelnen Kronlänvern der öfterreichifchen Monarchie noch am meiften erhalten, bis bie 
resolutionäre Regierungsweiſe des Kaiferd Iofeph 11. und Die neueſte Zeit alles zertrüm⸗ 
merten. Es ging eine Borporation des Adels, der Staͤdte, Geiftlichen und Bauern aus 
den Landſchaften, wie man ed nannte, in Steiermark, Kärnten, Defterreich, Tyrol, Krain 
bervor. Der Adel fam dort nie in eine principielle Oppofttion mit den andern Stän« 
den der Landſchaft. Ganz anders ging die Entwidlung des Adel in feiner Betheiligung 
an der modernen Landesvertretung, er verlor Die Möglichkeit, eine ſoelale Schichte 
zu vertseten. (Gier ift am Plage eine gediegene Schrift der neueften Zeit anzufirgren: „Die 
Zukunft des deutſchen Adels vom ariftofratifch-confervativen Standpunkte, Berlin 1851, 
zweite Auflage.“ Ueber die Stellung des Adeld zu den a priori conflruirten Conſtitu⸗ 
tionen in Deutſchland vergleiche man: „F. Liebe. Der Grundadel und vie neuen Ber- 
faffungen. Braunfchmeig, 1844.) 

Der ventfehe Adel ald Träger der deutſchen Bildung bat eine großartige 
Culturgeſchichte. Der Abel ftubirte im 9—11. Jahrhundert in den Benebiktiner- 
"Aalen. Die berühmteflen Männer der Wiffenfchaft gingen damals in St. Gallen, 
Tegernfee, Corvey, Hirfau, Weifenburg, Stablo aus dem Adel hervor. Wir nennen 
nur Hermann Gontraftus, einen Graf von Beringen und Otfried von Weiſenburg. Seit 
dem 12. Jahrhundert befuchten Die jungen Adeligen auch die Domfchulen, vorzüglich 
war aber Clugny die deutfihe Apeläuniverfität. Die Patrizierfühne aus den Städten, 
wie der Bifchof Burfard von Worms finbirten fon im 11. und 12. Jahrhundert 
in Paris. Speculationstalent hat der Deutfche Adel in der Philofophte und Theologie 
im Mittelalter gezeigt, Albertus Magnus war ein Adeliger aus Schwaben und Hen⸗ 
dene de Haflla, Kanzler der Univerfität von Paris und Wien 1383-97 war ein Gert 
dv. Langenftein aus Heflen. In der Geſchichtsſchreibung leuchtet hervor Otto v. Frei⸗ 
fingen, ein Staufe. Es wäre eine fehr lohnende Arbeit, wenn man"ftatiflifdy zufan- 
menflehlen würde, welche berühmten Männer der veutfchen Wiſſenſchaft vom Mittelalter 
Bid jet aus dem Adel bervorgingen. Wenn man ferner zuſammenſtellte, welche Ge⸗ 
genden die meiften Gapacitäten des Adels für die einzelnen Zweige ber 
und Kunſt hervorbrachten. Die Verſchiedenheit ver Begabung in den einzelnen Ländern 
M ganz auffallend: während der fihwählfege und fränftfche Abel zahlreiche Dichter 


Hieferte, iſt der altbaieriſche Adel Hierin gar nicht vertreten. Daß der nel ver Aaͤger 
des nationalen Epos, Der Lyrik und Hymuenpoefle in Iateinifcher Sprache im 12. und 
13. Jahrhundert war, braucht man nicht zu erwähnen. Die Namen Hartmann v. d. 


Are, Wolfeam v. Eſchenbach, Ofterdingen, Montfort, Hohenems u. f. w. beweiſen ed. 
Dieſe Dichter waren meift Minifterialen. Die größten politifchen Talente, Staatsmaͤn⸗ 
ner, Miniſter des Meichd brachten die Patrizier in den Reichsſtaͤdten hervor. So haben 
Heinrich IV., V., Zothar, eine Frankfurter Patrigierfamilie als Finanzconſulenten immer 
um fich gehabt, fo ift der Minifter Rudolfs v. Habsburg ein Patrizier von Isay, Ur 
neld v. Selenbofen bei Friedrich I. u. fi w. Als die Univerfitäten auffamıen, bat der 
Adel fich ganz beſonders dem Studium des römifchen und canonifchen Rechtes zuge 
wendet. Seine Stellung als Erben der Stiftspraͤbenden veranlaßte ihn ſchon Dazu. 
Es gab felbft Adels-Univerfitäten, wie Tübingen bei feiner Gründung, die Adels⸗Aka⸗ 
demien, Fürftenfchulen und Nittergamnaften haben im vorigen Jahrhundert noch bedeu⸗ 
bene Männer geliefert. Die fähigften Minifter, Diplomaten, Generäle in der Zeit 
Friedrich des Großen find in jolchen Adelsſchulen gebildet worden. 

Kiteratur. Die Literatur über Diefen Gegenftand ift in füngiter Zeit jehr 
gewachſen. Das Allgemeine über den Adel findet man in den Staatd- und Rechis⸗ 
gefchichten. Für Deutfchland ſind Die von Eichhorn, der freilich bisweilen unhal- 
bare Anfichten enthält, die von Zopfl, ferner Walter's deutſche Rechtsgeſchichte 
Die befaunteften. Die zweite Ausgabe von Walter, 1857, haben wir beſonders benugt. 
Zu trugen dürfte fein, daß die Geſellſchaft, Volkswirthſchaft und der politifche Staat 
zu wenig audeinandergebalten find. Berner it Waitz' Verfaflungsgefgichte und 
Noſcher's Grundriß nicht zu überfehen. Philipps Heichd- und Rechtsgeſchichte, 
4856, iſt ebenfalls zu Mathe zu ziehen. Für Frankreich ift Die franzöfifche Staats⸗ und 
Mechtögefchichte von Stein und Warnkönig, für die Niederlande die flandriſche 
Staatsa⸗ und NRechtögefchichte von Warnkönig, für England die englifche Rechtsge⸗ 
schichte von Philipps zu benupen. 

In den bekannten enchflopädifchen Werken finden ſich weitläuftige Artikel über 
„Adel“ und das damit zuſanmenhaͤngt. Welder giebt in feinem Staatslexikon ben 
Artikel Adel ſelbſt. Es fehlt ihm mehrfah an Klarheit und hiſtoriſcher Kennt- 
niß. Wirth's und Motteck's Geſchichte find feine Baſis. Sein Auffag in der 3. Ausgabe 
über den Adel im Mittelalter (dem deutfchen zunächft) zeigt den antiquirten Standpunkt 
deutſcher juriſtiſch⸗ philologiſcher Gefchichtchenfchreibung. Geſellſchaftliche Stellung, volks⸗ 
wirthſchaftlichen Werth, politiſche Rechte im Geſammt⸗ und Partichlarftant von Deutſch⸗ 
land treunt jener Artikel nicht. Die Citate, Die er anführt, beweiſen, daß es in Deutſch⸗ 
land im Mittelalter immer einen hiſtoriſchen Adel neben Verdienſtadel, (dem Dienſt⸗ 
adel, Miniſterialen, Ritter, Doktoren u. ſ. w.) gab. Er glaubt, Fauſtrecht (ein finulofed 
Schlagwort), Despotismus und Anarchie feien Die Grundlage des befondern Adels Am 
altbeutfchen Uradel gegenüber geweien. Er erkennt nicht, daß dieſes nur die Oppoſition 
der freien Vollbürger, welche al8 biftorifcher Adel daſtanden, gegen den Rechtsſtaat und 
Die Omnipotenz des Yinanzflaates waren. Was das Schugverhältniß unter dem Schwert 
eined Adeligen im Mittelalter betrifft, fo waren dies eben Staatenbildungen von Parti⸗ 
eular- und Territorialftanten, die nur Dadurch möglich wurden, daß eben feine alit 
einfache Staatsordnung (wie Welder eine ſolche annimmt) vorhanden wel 
Eine richtige Würdigung des Adels im Mittelalter kann nur dann flattfinden, wenn 
bie Entwicklungsſtadien des germanifchen chriftlichen Staates und der Geſellſchaft im 
Mittelalter klar erkannt find. Nur in biefer Beziehung zu den flaatlichen und ſocialen 
Buftänden im Mittelalter Tann man den Adel beurtheilen, nicht nach der fallen 
Annahme, daß der Stans und bie Gefellihaft damals fchon das war, was fie M 
find. Welcker's Geundaufchauung wie auch Die von Waitz, daß in früheſter Zeit ein 
georhneter Urzuſſand des Mechtes gewefen fei, ift falich, Das Recht entſteht erſt a 
durch Lange andauernde Gewalt. Die geordneten wealen Urzuftände waren Zuflinde der 
Gewalt, wo das Rechtsbewußtſein nech ganz fehlte. Für die Entwidlung hot Welde 
feinen BE, wie alle juriſtiſchen Hiftorifer. — Alles ift bei ihm Definition; was be 
Mel if und wie er es bjs jept geworben -ift, wirb son ihm gar nicht gefchieden. Die 
Schutherrſchaft des Adels fell ein Vorrecht geweſen fein? Das Vorrecht, daß ein 








0 10 DEE 2 Zu 2 2.1 20) 2 20 U 0 02 ad 


neliger, dem ſich ein freier, alfo auch adeliger Mann und bie Unfreien unterwarfen, 
Diefe im Felde vertrat und fich für ihre Sicherheit und ihren Brieben todtfchlagen ließ! 
Für ein ſolches Vorrecht würbe fich heute jeder Staatsdiener wohl bedanken. Diefe 
Bflicht des Adels, Schug zu gewähren, warb allerdings au, wie alles Menfchliche, 
oe Eigennutz und Egoismus ausgebeutet, das zeigt bie Entwicklung; doch Fauſtrecht, 
dieſes finnlofe Schlagwort, ift nicht die Mutter des Adels, es war ein ganz natärlicker 
Entwidllungszuftand, denn Das Fauftrecht war Rechtsſchutz und Selbftgülfe zur Zeit, 
wo Die ſtaatliche Mechtähülfe fehlte. Nicht viel beſſer als Welder's ift der Artifel Blunt⸗ 
fhli’s in feinem Staatswdrterbuh. In Erfch und Gruber's Encyklopadie findet 
man vier Artikel über Adel. Der erfle und britte if von Mitiermaier, Der zweite 
von Hüllmann, der vierte, das Schlechtefte, was man über Abel fchreiben kann, ift 
von Hau. Mittermaier bat am Ende des erften Artikels bei Erich, Baub I. 
S. 383 die Literatur über den Adel bis 1817 zuſammengeſtellt. Wat von Ron 
graphien feither erfchienen, ift: Fürth, Die Minifterinlen, Köln 1836. Strang, 
Geſchichte des deutſchen Adels, Breslau 1845. Roth von Schreckenſtein, 
das Patriziat in den deutſchen Städten, Tübingen 1856. Gottſchalk, Almanach 
der Ritterorden 1817. Für Hannover bat man ein hiſtoriſches Taſchenbuch des 
Adels, 1840. Für Baden Caſt, badiſches Adelsbuch, 1845. 

Adel ver Gegenwart und feine Zukunft. Nachdem wir die Entwicke⸗ 
Iung des beutichen Adels im Mittelalter mit den Umgeflaltungen der Staatsformen 
verglichen haben, ift auch der richtige Standpunkt gewonnen, von welchem aus man 
den Adel der Gegenwart und Zukunft betrachten muß. &8 ſcheidet ſich der Adel 
des gegenwärtigen Europas nad der Verfaſſung der Länder jegt in 
zwei große Klaffen. Der Abel in ven Ländern, die’ unter Riltär-Deipoten ſtan⸗ 
den oder noch fliehen (Branfreich: „la noblesse imperiale“) und der Adel in dem 
Zändern, welde am Ausgang des Finanzflaates und dem Uebergang zum 
Militär-Defpotismus ſich befinden. Der erfiere Adel if der perfönlihe Mer⸗ 
dienſt⸗Adel — der Parvenu» oder Abenteurer Abel. In Frankreich beißt er jet 
officiell la noblesse imperiale. Der andere iſt der hiſtoriſche Abel oder 
ver Beamten- und Geld⸗Adel. Eigenthümlich ift in einem Lande von Europa, in der 
Türkei und in Griechenland, ber jebige Zuftand des Adels. In der Türkei ſollten 
eigentlich die Türken den auf Eroberung beruhenden nationalen Adel bilden, aber jet 
baben fie alle Vorrechte vor den Griechen verloren; fle haben ferner Die theuerſte Pri⸗ 
vatwirtbichaft, jo daß ein Türke felten zu Wohlfland Eommt, während die Griechen, 
wenn auch keinen äußerlichen Wohlftand, doch bad baare Geld in Händen Haben. Ein 
folcher Adel, wie der national türfifche, ift unhaltbar. Noch ſchlimmer iſt es im 
Koͤnigreich Griechenland, wo ed eigentlich Feinen Adel giebt. Reiche Landbeſther, 
wie die Maurecordato, haben keinen Borzug vor den andern Bauern. Die Palilaren- 
Söhne, die Miaulis, Kolettis, Kolokotronis find nur Söhne von ausgezeichneten Sol 
Daten, die im Freiheitskriege kaͤmpften. Cine Spur hiſtoriſchen Adels und adeliger 
Namen findet ſich nach auf den griechifchen Infeln. Hier finden fich noch Nachkommen der 
großen fpanifchen Compagnie mit abeligen Namen. Die ganze abenplänbifche Geſell⸗ 
Ichaftd-Einrichtung iſt Daher in Athen eine Karrifatır geworden. Der Klephtenführer, 
der Heifende morden und plündern Laßt, ſteht in der Phalanx (Landwehr) ald Obriſt 
und erfcheint bei Hofe. Es fehlt dem griechifchen Beamten- und Militaͤrſtande das, 
was einen Verdienſte und Beamten-Avel möglich macht. Ein Erb» Abel ift gar nicht 
vorhanden. Die Phanarioten (Fanarioten) der Griechen find eigenflich Tein hiſtoriſcher 
Adel, fondern nur alte Gefchlechter, die bei der Einnahme von Konftantinopel 1458 
nicht audgerottet wurden, alfo Ablümmlinge der Patrizier, und ferner gebildete Griechen, 
Denen man Ehren halber noch jet dieſen Namen giebt. Die Fanarioten vertreien 
den Zitular- Adel; aus ihnen wählte man die Hoſpodaren. Es iſt nicht zu verkennen, 
das biefelben auch als Adel der Intelligenz gewirkt haben und zum Theil noch wirken, 
namentlich geichah dies Dusch Stiftung von Schulen und bergleichen. Will man biefe - 
Adelspartei in Conſtantinopel bezeichnen, fo ſpricht man von einer Bhanarioten-Partei, 
während man in Griechenland jenen Gentleman Phanarist nennt, was ehwa unferem Baron 
oder auch dem neugriechifchen Effendiko entfpricht, welches Wort aus dem Altgriedgtichen 


ı Rh 





De ee nd es ee En DEE Yen GE 


Authentis entftanden fein foll. Die urfprüngliche Bezeichnung dieſes Wortes ſtimmt 


mit der eines Freiherrn ungefähr überein. Es handelt ſich Hier vorzüglich nur um den 


italtenifchen, franzöftfchen, engliſchen, deutfchen und ruſſiſchen Adel. Natürlich muß 
dabei der gegenwärtige Zuſtand des Adels in den einzelnen Ländern und Staaten nod 
beachtet werden. Alfo wird unter obiger Gintheilung auch fpeciell vom venezianifchen, 
neapolitaniſchen und fpanifchen Adel gerevet werben müſſen, ebenfo mie gelegentlich auf 
den ſchwediſchen und norwegifchen, den dfterreichifchen und den: Schweizer Abel hinge⸗ 
wiefen nerven foll. Es verfteht ſich von felbft, daß der Adel in Ungarn unter dem öfter 
reichifchen befprochen wird und daß bei Erwähnung des rufftfchen Adel natürlich aud 
von Polen und den OÖftfee- Provinzen die Rede fein muß. 

In Italien iſt der Adel durchgehends der Eigenthämer des Landes. Bür ifm 
tft die Frage, ob man die Güter der Corporation (Kirche) veräußern und ber Kirche 
dus Recht, Land zu beſttzen — eine Grundmacht zu bilden — entziehen foll, eine 
hoͤchſt wichtige und folgenretche. Diefe Frage kann nur eine flegreiche Revoluton ent- 
ſcheiden. Der Adel in Italien fchloß fich Daher in Neapel, Ober-Italten, Giellien 


and im Kirchenſtaate der Revolution, die zugleich eine religidfe Bewegung ift (Unit 


rier), an. Die italienifche ſociale Revolution trägt bekanntlich einen national-patriott- 
ſchen Dedmantel. Die befannteften Agitatoren der italienifchen Demokratie gehören 
dem Abel an, wie der Fürft von Ganino, Orftni, da Mula u.f.w. Der lombardiſche 
Adel befonderd gab die großen Summen zu ber Nevolution und den Attentaten gegen 
das öfterreichifche Militär. Diefe Entwidlung des italienifchen Adels, daß er zur na 
ttonalen Revolution überging, war ganz natürlich und nothmwendig, denn e8 fehlt im 
Itallen eine große Hofbaltung, ein Mittelpunft für den Adel am Gipe des König, 
es fehlt dem Adel die fociale Stellung in einem großen Staate, die er feinem Weſen 
nach beanfpruchen muß. In Sarbinien, ein Staat, der nur noch die Wahl Hat, Ita 
lien zu erobern und ald Militärvespotie zu beberrfchen, oder fi und Italien dem 
erobernden Imperalisınus yon Frankreich zu Füßen zu legen, ift der Adel der Haupt 
träger: der Bewegung. Die Staatöfchulden Sardinien find feit 1849 fo gewachſen, 
daß diefer Feine, vier .eine halbe Millionen Menfchen zählende Staat die Stunde fehn- 
lichſt herbeimünfchen muß, wo er Italien mebiatifiren und fäculärifieen Tann. Hier 
fammelte ſich alfa der geſammte italienifche revolutionäre Adel und wartet den Aus⸗ 
bruch der Revolution ab. An eine fociale Neform im confervativen Sinne iſt in 
Italien nicht mehr zu denken. Die Staaten, welche fie vielleicht hätten durchführen 
Tönen von 1845 an, Defterreih, Rom, und Neapel, haben das verfäumt. 
Im Kirhenftaat bat der Abel noch einige Anfprüche auf ein politiſches 
Scheinleden; e8 ftehen ihm gewiſſe Erbämter zu, aber er vermag es nicht dieſer feiner 
ftaatlicden Stellung gerecht zu werben. Gin Gorrefpondent aus Rom fchreibt darüber: 
„als ein Hauptübelftand des römifhen Verwaltungsorganismus kann die fogenannte 
Sopravivenza, Dad von der Regierung an Abkömmlinge altadeliger Familien von Zeit 
zu Bett verlichene Nachfolgerecht für gewiffe hervorragende Beamtenftellen, bezeichnet 
werden. . Abgefehen davon, daß dadurch dem Nepotismus ein leider nur zu weiter 
Spiekaum eröffnet wird, wirkt dann beim wirklichen Amtsantritt Die Unfenntniß des 
Berwaltungszweigd nur ftörend auf den Gefchäftsgang, während dadurch auch den 
untergeorpneten, ohnehin fchlecht bezahlten Beamten Gelegenheit geboten wird, auf das 
nothgedrungene Bertenuen des neuen Amtsvorftandes hin durch Unzukoömmlichkeiten 
aller Art zu fündigen. Beifpielsweife verdient in dieſer Beziehung erwähnt zu wer 
ben, daß für den alle Aufmerkfamteit erfordernden Directorpoften des Hypothekenamtes 
in Ancona als Nachfolger, für den Fall des Ablebens des gegenwärtigen Amtsvor⸗ 
ftandes, ein bis jet ald Privatmann lebender Conte, und als dieſes letzteren Nach⸗ 
folger ſchon jetzt deſſen fünfjähriger Sohn ernannt if. Die Nachfolgerfchaft für bie 
faum minder wichtige Poftdirectorftelle wurde einem zwoanzigjährigen Conte verliehen, 
ber in feiner Anftellung als Telegraphbeamter erft Türzlich durch die verfäumte Abſen⸗ 
bung eines Telegramms einem deutſchen Handelshauſe nicht unerheblichen Nachtheil 
verurſacht bat.” Gegen erbliche Aemter an fich willen mir nichts einzuwenden; aber es 
ift ein Zeichen von der Säylaffheit und dem Egoismus bed römifden Adels, daß et 
das Wort Noblesse oblige fo ganz vergißt. 











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Roc tiefer gefunden fcheint der neapolitanifche Adel zu fein. Seine große 
Anzahl und die Armuth der meiften feiner Stanveögenofjen find feine charafteriftifchen 
&igenjchaften. Die verfchiedenen Dynaſtien, welche nach und nach Neapel bebertfcht 
baben, vermehrten vie Adelsklafſſen, indem fle, um fid Anhänger zu verfchaffen, Adels⸗ 
Diplome verjchwendeten. Daber giebt ed nirgends in der Welt fo viele Principi, 
Barone, Grafen, Marcheſt ald in Neapel. Der eine Theil des neapolitanifchen Adels, 
ber vom goldenen Buche, zerfiel einft in Die fogenannten Sedili (Adelsbaͤnke) und fpielte 
ald mächtige Körperjchaft bis auf die Zeit Karls DIE. eine große Mole. Aber feit den 
Meformen Karld Il. und der Aufhebung des Lehnmefend durch Iofeph Bonaparte exiſti⸗ 
ren die ftolzen Gefchlechter der Caraffa, Palliano, Sangro, Miranda, Policaftro, Rocca⸗ 
Romans, Ruffo u, f.w. nur noch als glänzende Namen. Die Majorate bringen Die 
jüngeren Söhne wieberum dem Bolfe näher, und Armuth wie das Bedürfniß fich her 
vorzutbun und, eine Rolle zu fpielen, nacht fie politifchen Hevolutionen zugeneigt. 

Man wird ſich fol einem Adel gegenüber die Lage der Regierung vergegen=' 
wärtigen können, auch wenn fie mit dem beften Willen eine fociale Reform durchzuführen 
beabfichtigte. Einen Adel der Intelligenz zu bilden und ſo die Ariftofratie zu heben 
und wieder zur Regierung fähig zu machen, ift in Neapel faft unausführbar, weil die 
Unterrichtd-Anftalten fehr wenig leiften und Die Vorliebe zu wiffenfchaftlicher Befchäftis 
gung und etwas Idealem aus dem Volke faft gänzlich gefchwunden ifl. (S. Italien.) 

Bon dem Abel in Venedig und feiner Zukunft kann Bier nicht geredet merden, 
da die fchöne Ragunenftadt Feine Zukunft mehr Hat. lim fo mehr aber wird die Ver» 
gangenheit dieſes Adels hervorgehoben werden müffen. Da fie indeß mit der Geſammt⸗ 
geichichte Venedigs faft ganz zufammenfällt, fo verweilen wir von hier aus auf den 
Artikel Venedig. 

Auh in Spanien bat der Adel immer mehr und mehr feine alte Bedeutung 
verloren, und die Züge deutfcher Abflammung, die er cinft trug, verwifchen fich immer 
mehr. Dennoch bewahrt Spanien mitten in feinem politifchen Ruin nicht unbedeutende, 
im übrigen Europa wenig gefannte Refte germanifcher Organijation (freie Municipien 
mit Selbſtregierung), für deren Erhaltung dem eigentlichen „WVollbürger“ in dieſer 
„Adelsnation“ zu danken if. Die Spanier haben fich vielleicht reiner als irgend eine 
erobernde Nation Europa's von der Vermiſchung mit den Unterworfenen erhalten, und 
noch heut fcheint die Verachtung des echten Spanierd gegen die dunkelen Ueberbleibfel 
der älteften und älteren Einwohner nicht ganz verwijcht zu fein. (S. Spanien.) 

„Der fpanifche Abel, fchreibt die „Gegenwart“, ift ſehr zablreih. Der 
höhere theilt fich in Grande und Titulados del Reina. Die Orandezza wirb von 
der Königin, theild als perfönliche Auszeichnung, theils erblich ertheilt, und zerfällt 
in drei Abftufungen oder Klaffen. Alle. Granden haben das Pradicat Excellenz. Die 
Titulados find Familien, die von Alters ber die Titel Herzog, Marquis, Graf, 
Visconde und Baron führen, welche Titel jedoch nur auf den älteften Sohn ver- 
erben. Die Zahl der Herzogstitel beträgt gegenwärtig 66, wovon 33 Granden 
erfter, 5 zweiter, 28 dritter Klaffe find. Die Zahl der Marquis beträgt 419, 
darunter 19 Granden erfter Klaffe, Grafen giebt es 416, darunter 17 Granden 
erſter Klaſſe, Visconden 48 und 40 Barone. Es beſteht unter dem Vorſitze der 
Königin eine permaneyte Diputacion de la Grandeza de Espana aus 6 Witglievern, 
außerdem eine Adelskammer aus 18 wirklichen und 7 Chrenmitgliedern, Cuerpo 
colegiado de caballeros hyos-dalgo genannt.” 

Italien und Spanien mit Portugal ſtehen alſo in Anfehung de3 Adele 
mit dem nördlichen und mittleren Europa mit Ausnahme von Frankreich in folgenden 
Gegenſatze. In den romanifchen Ländern giebt es nur biftorifchen ‚Adel und Daneben 
einen Abel, der feine Eriftenz nicht dem Talent, Verdienſt oder feiner Grundmacht ver- 
dankt, fondern der Laune der Fürften. Es fehlt ganz am Adel der Intelligenz. Ganz 
entgegengefegt ift e8 in Deutjchland, England, Rußland und im Norden, wo ein Adel 
ber Intelligenz und des Verdienſtes fich allmählich gebildet Hat. Ja man kann nad 
den Breitegraden eine Scala entwerfen, wie von Sicilien an bis Norwegen der Adel 
immer mehr auf die perfünlichen und befonders geiftigen Vorzüge fich flübt. Während 
in Italien der Geiftliche verachtet ift, ift in Norwegen der Gebildete und ber Geiftliche 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 2) 


Dr 


auf die Stufe des Adels geſtellt. Es kit nicht zu verfennen, daß der Proteſtaativenus die 
Perfönlichkeit fo gehoben hat, daß derſelben eine größere joctale Stellung zufonmt, als 
in den Fatholifchen Ländern, daß in den proteftantifehen Lündern fich leichter und noth- 
wendig ein Abel der Intelligenz bildet, während in den katholiſchen nur ein Adel der 
Vürftenlaune (in manchen wie in Spanien der Bürftinnenliebe) oder des Imperialidmus 
creirt wurde. 

Der biftorifche Adel in. Frankreich ging mit der erſten franzöſtſchen Revolution 
1789 unter. Ieder fonnte nad) dem Ausspruch der Nevolution den Adel führen, ') 
womit der biftorifche Adel aufhört. Bon Napoleon I. ward ben 1. Bär; 1808 der, 
imperialiftifche Adel ind Leben gerufen. Er war an die Perſon des Kaiſers 
und fein Haus gefeflelt, wie jeßt die noblesse imperiale an die. Napoleons MH. Die 
Titel: Prinz, Herzog, Graf, Baron follten nach der Höhe des Amtes oder der Größe 
des Verdienſtes jich richten. Jeder Inhaber des Zeichens ber Ehrenlegion war Ritter. 
So find die Herzoge von Abrantes, von Eckmühl, von Dalmatien u. f. w. entftanden. 
Leute ohne Bildung und von der nieberften Herkunft haben ſich durch Tapferfeit dieſen 
Adel erworben, einen Adel, der indeß Doch immer noch eine innere Bedeutung hatte. 
Anders ift aber dad Verdienſt des neuen imperiafiftifchen Adel Napoleons II. Nicht 
Zapferfeit, mit der Ausnahme des Herzogs von Malafoff, fondern perfünliche Gunſt 
oder natürliche Verwandtſchaft führt in die heutige noblesse imperiale ein. Der Kaifer, 
der überall nach einer äußerlichen Wieneraufnahme der Fäden, vie fein großer Onfel 
fallen ließ, fucht, überfleht feinen Der unter der Herrichaft des Corſen bekannt gemor- 
denen oder mit der Geſchichte deflelben irgendwie verfnüpften Namen, und man fieht 
heut Leute, die gar nichtd haben als diefen Namen, aus dem Dunkel ihrer Privat 
Eriftenz hervorgeholt und zu einen imperialiftiichen Titel verurtheilt. Inter der Reſtau⸗ 
ration ward der biftorifche Adel, fo viel davon zurüdfchrte, und der napoleonifche Abel 
verfchmolzen. Er ward auf Grundbeftt und Majorate baflrt. Der Herzog mußte min 
deftens 30,000 Br. jährliche Revenue, der Marquis und Graf 20,000 Fr. nachweiſen 
Im Jahre 1817 zählte der franzöfliche Adel 65 Herzöge, 49 Marquis, 87 Grafen, 
6 Vicomten und 6 Barone. Die Errichtung von Majoraten wurde 1635 verboten, 
die beftehenden follten im zweiten Grade erlöfchen. Louis XVII. bat durch bie erblid: 
Pairswürde allerdings eine foriale Neform verfucht. Der Abel follte eine focinle Auf 
gabe Löfen und follte einen beftinnmten Zwed in ver besorganifirten Geſellſchaft er 
veihen. Man nahm dabei England zum Mufter, ahmte aber nur ganz äuperliche Züge 
englifchen Lebens nad. Mit Louis Philipp ward der Uebergang zum Imperialismus 
Napoleons HI. vollzogen. | 

Louis Philipp vernichtete Die leßten Reſte des althiftorifchen Frankreichs, welde die 
große Revolution überbauert und unter der Neflauration wieder zu neuer Bedeutung 


— ⸗ — 


1) Im Jahre 1700 ſchrieb ein Deutſcher aus Paris in die Heimath: Zu Verſailles hat an 
luſtiger Kopf, die Titel lächerlich zu machen, den Einfall bekommen, fie unter feine Bediente nal 
den Eigenſchaften ihrer Verrichtungen zu vertheilen. Seinen Reitknecht hat er zum Chevalier ge: 
macht, weil Ritter von reiten herfonmt. Sein Kutſcher ift Duc geworden, weil tiefes Wort Führer 
bedeutet. Die Lakaien haben den Grafentitel erhalten, weil tie erſten Contes Leute waren, bie Die 
Großen begleiteten. Endlich, da der Name Marquis für diejenigen erfunden worden, melde bie 
Grenzen, tie Marchen des Reiches bewachten, jo hat er ihn feinem Thorfleher gegeben, ber den Ein: 
gang und die Treppe feines Haufes Hütet. . 

Zu Pomerol ließ fih ein Bauer von einem gewefenen gnädigen Kern, mit dem er einen | 
Rechtshandel hatte, duzen, während ex ihn Ihr Gnaden hinten und vorn titulirte. Seine Wit: 
bürger fanden fid, durch diefe Erniedrigung beleidigt, fie verflagten den Bauer bei der Gemeinde, 
welde ihn zu viergenntägigem Adel verurtheilte mit dem Anvdenten, daß ihn Jeder die Zeit bet 
Strafe über Herzog, Graf, Marquis, Baron u, ſ. mw. ſchimpfen folle. 

Man glaubt niht, wie weit der Abfchen gegen Alles geht, was an das Feudalſyſtem und 
bie alte Sclaverei erinnert. Die Stadt Grimaud im Deparlement du Bar hat zufolge des Decreis 
vom 19. Zunt 1780, das allen und jebem feinen patronifchen Namen zu tragen Befehtt, ihren alten 
urfprünglidyen, der Nthemple heißt, wieder hervorgeſucht und den Namen Grimand abgelegt, den 
ihr vor Zeiten ein Baron anfgedrungen hatte. 

Die Stabt Tours fowie einige andere, hat alfen öffentlichen Plätzen, Häufern und Strafen, 
die von gemaliit inficirte Benennungen tragen, der neuen Gonftitution angemellene gegeben.” | 

(Briefe Delsners an v. Halem, von Paris aus gefchrieben zwifchen 1790 und 30 Berlin 
1858. Jul. Springer. S. 34— 35.) 


Aue Der Gegenwari, ERHIUND. wy.o 


gekommen waren. Cr förberte die Fiction von einen neuen egalitarifchen Volksganzen, 
in welchem mur noch die lingleichheit des Geldbeſitzes Verſchiedenheiten begründet: et 
begründete alfo nur die Baſis, auf welcher dann die Wahl Louis Napoleons zum Kate 
fer der Franzofen vollzogen und auf welcher damit jener neue „commiffarifche Despo⸗ 
tömus” errichtet wird, über den der Lefer den Artifel Imperialismus vers 
gleichen wolle. " | 

Eigenthümlih und von dem Feſtlande von Europa gewöhnlich als ganz vers 
fhieden dargeftellt, find Die Adelsverhältniſſe jegt n England. England bat Feinen 
kaiſerlichen Adel (noblesse imperiale) oder homines novi, wie unter Cäfar und Auguftus 
in Nom der neue Adel der Imperatoren hieß, es hat noch den hiftorifchen, mittelalter⸗ 
lichen Abel. Diefer Hiftorifche Adel in England, normännifchen Urſprungs, hat fi 
ganz verfchieden von dem nes Feſtlandes in politifcher, wie focialer Hinftcht entmidelt. 
Neben demfelben beſteht ein Verdienſtadel, ein creirter Adel des Beſitzes und der In- 
teffigenz, der aber nicht auf alle Kinder erblich if. Der obere Adel in England iſt im 
erblichen Beſitze des Oberhauſes. Die zweite Adelsſtufe ift der Titular» Adel, Ritter⸗ 
fyaft, Oentlemen, Geld» und Beamtenadel, mit einen Worte, die Gentry. 

Das englifche Königthum übte von Wilhelm J. an dad Necht der Adels⸗Creirung 
aus — es ernannte Peers. Die Peeröwürve ertheilte nur das Recht, daß dad Fa⸗ 
miltenoberhaupt im Parlament, jpäter im Oberhaufe erfcheinen durfte, fonft war damit 
fein weiteres Recht oder Vorzug verfnüpft, Es ift alfo die Peerdernennung ein Adel 
zum Zwed der Regierung, ein Beanten= Abel. Wir machen darauf wiederholt auf- 
merffam, daß die Gefchichte des dfterreichifchen Adels, die wir im vorigen Artikel ans 
gedentet haben, in dem fchlagendften Gegenſatz zur Entwicklung des englifchen Adels 
ſteht — in dem Gegenſatze, in dem fich die Gefellfyaft im Agriculturs und Induſtrie⸗ 
Staate gegenüber ftebt. Wie Leopold 1. in Defterreich, fo verkaufte Jacob J. in Eng— 
land für 1095 Pfd. St. die erbliche Ritterwürde. Die Ritterfchaft in England, gentry, 
entfprechend der römifchen nobilitas und den equites, hat vom 18. Jahrhundert an die 
ganze Regierung des Landes in die Hand befonmen. Der Grund ihrer hohen Stel» 
lang war, daß fich dieſer Vervienfte Adel an die Städte anſchloß — nicht an den alten 
Adel — und dadurch einen focialen Wirkungskreis — in ganz confervativer Richtung 
— erhielt und noch hat. (S. England.) — In der Entwidlung des Schweizer 
Banern- Adels von 14. Jahrhundert an, der auch Vertreter und Bunbesgenoffe 
der freien Lanbbauern und Verbündeter ver Städte war, erfennen wir das Analogon 
des continentalen englifchen Gentry⸗Adels. Die Schweiz ift aus demſelben Grunde, 
weil man dad Affocintionsrecht dem Adel ließ und ihm freie Bewegung geftattete, 
fociel fo confervativ und ein Staat von fo beveutender Intelligenz geworben. 
Ohne daß Fürften aus Eitelkeit in der Schweiz Univerfitäten gründeten, Wiffenfchaften 
in den Treibhäufern der Akabemieen groß zogen, bat bie Schweiz im Verhaͤliniß zu 
ihrer Volkszahl umd dem culturfähigen Boden die meiften und beften wiffenfchaftlichen 
Inftitute, Die größte Zahl von GelehrtensGefelffchaften und verbreitetite Bildung. Der 
Grund Tiegt nicht in der Demokratie der Schmelz, fondern weil man ben hiſto— 
riſchen Ständen es überlaften bat, fociale Bebürfniffe zu befriedigen, foriale Zwecke zu 
verfolgen, ohne daß, Pie auf dem übrigen Feſtlande in Europa, der Staat als omni— 
potent die Verwaltung der Gefellfchaft in die Hand nahm. Die Träger der Wiffen- 
fchaften und der Staatöverwaltung in der Schweiz jind meiftend Patricier oder Rand» 
Adel, 3. B. Merian, Planta, Meier: Kronau u. En Die Schweiz (Bafel z. 3.) bat 
vieffeicht die feftefte und focial wirkſamſte Ariſtokratie. Diefer Adel der Schweiz ſtützt 
ſich auf hiſtoriſche Tradition, Bildung oder Vermögen. Die öffentliche Meinung creirt 
in neuefter Zeit bier ven Adel, der andberwärts nur durch Cabinetsordre verlieben 
wird wohel es ſelbſtverſtaͤndlich iſt, daß der alte Patricier- Adel auch immer noch eine 
Macht, wenn auch leider eine ſchwindende iſt. Er hält fich vielfach vom dffentlichen Leben, 
um deffen Führerfchaft ihn Die Mevolutionen der neueren und neueften Zeit brachten, 
ie zurüd. Daß die öffentliche Meinung auch in England im Grunde genommen bie 

Isernennungen im Allgemeinen macht, ift eine Frage. Was in England durch Ge- 
fege beftimmt iſt, wirb im der Schweiz durch Die Gewohnheit erreicht. Wer hier um 
dad öffensliche Wohl fich verdient macht, Bildung befigt und ein unabhängiges Eins 

23* 





fommen bat, wird zu den Aemtern gewählt und als Mitglied der Ariflofratie ange⸗ 
jehen. Diefer Adel der Schweiz mit und ohne Prädicat „von“ oder „zu“ hat einen 
bedeutenden Einfluß auf die Leitung der einzelnen Staaten, auf das ganze Leben, die 
Volkswirthſchaft und die Geſellſchaft. 

Möge man Doch durch die Gefchichte des englifchen und fchweizer Adels zur 
Erkenntniß kommen, wenn man aus der Gefchichte etwas letnen will, daß nicht durch 
bezahlte Beamte die Gejellfchaft reorganiftrt oder fociale Zwede erreicht werden, jon- 
dern durch freie Corporationen oder Affociation von Ständen! Wir führten Oefter- 
reich und Die Schweiz an, weil nur allzuhäufig das englifche Adelsinſtitut zu einfeitig 
ohne die continentale Analogie betrachtet wird. Der jegige Abel in England bat 
fünf Stufen: Herzöge, Marquis, Grafen (Earld), Viscounts und Lords (Baron). 
Die Mitglieder. Diefer Stufen befegen Durch angeborne Rechte das Oberhaus. Im 
Ganzen zählt England jet 377 Peer, Davon find nur 14, welche directe Nachlom 
men mittelalterlicher Peers find. Die bei weitem größere Zahl davon find ganz jun 
ger Adel — Geld» und Verdienſtadel. Im 19. Jahrhundert find davon 171, im 
18. 124 creirt worden. Wir wollen die Vermehrung des Adeld der Peers in Eng 
land von Georg Ill. bis jetzt zuſammenſtellen. Gngland war nicht bei der heiligen 
Allianz, England hat auch bei den Eongrefien im Geifte der Allianz zu Aachen, Trop⸗ 
pau, Zaibach feine Rolle geipielt. Die Metternich’fche Idee, den Adel zu reformiren 
in eine conjervative Affociation, paßte nicht für England und reichte nicht dorthin. Es 
find aljo Feine a priori conftruirten focialen Inftitute Dort. Georg Ill. hat ˖ 254 Peers 
ernannt; nach ihm feit 1820 geftaltet fi) das Verhältnig der Adelscreirung in Eng- 
land fo, daß mit jedem Jahre diefelbe zunahm. Georg IV. hat in 10 Jahren 58, 
Wilhelm IV in 7 Jahren 55, Victoria in 6 Jahren 51 Peers gemacht. Alfo von 
1820 bis 1843 find der jährlichen Peers-Ernennungen 5%,, 79%, 8Y. Man erfennt 
hieraus die Notbwendigfeit, der focialen Revolution Dadurch entgegen zu arbeiten, daß 
man die Ariftofratie auf dem hiftorifch üblichen Wege vermehrt. Die englifche genly 
(Nitterfchaft oder Beamten⸗- und Verdienſtadel), welche jebt 60,000 Menſchen zählt, fo 
wie der alte Adel der Marquis und Grafen, repräfentirt in England Feine Grund» 
macht, Feine confervativ-jociale Schichte, denn der Adel der geniry ift nicht im Belt 
von Nittergütern, faft feiner der neuerfchaffenen Barone befigt eine Baronie. De 
neucreirte Beer kann feinen Grundbefig und Titel nur feinem Sohne vererben, die nad> 
gebornen Söhne und Töchter, fo wie Enfel gehören wieder dem Bürgerflande an, 
Diefe Unvererblichkeit und Untbeilbarfeit der Adels = Eigenfchaften hätte man auf dem 
Feftlande von Europa oft gern nachgeahmt gefchen, fo daß Feine DBerarmung bed 
Adels durch Gütertheilung und feine Meberzahl von Adel durch die Vererbung des 
Titels auf alle Kinder entſtände. Die Erfahrung, wie eine volfäwirthichaftliche Rüd- 
ficht Tehrt aber, daß der englifhe Zuftand für Deutfchland feine große Schatten 
feite Haben würde, wie er fie in England auch ba. Soll der Adel einen focialen 
Zweck erfüllen, foll er confervativ die Geſellſchaft zuſammen halten und ſoll dem bel 
ein Einfluß auf die Aemter eingeräumt fein, fo muß ihm dazu auch das Mittel geboten 
fein, dauernd von Oeneration zu Generation zu wirfen. Der Adel im Oberhauje in 
England ift erblicher Gefeßgeber, aber doch jo von der öffentlichen Meinung beherriät 
und im Befige fo vieler Erfahrung, daß er nur fegendreich wirft, was Graf Derby 
1853 in einer Nede mit Recht hervorhob. In England giebt e8 erbliche Gerichto— 
höfe, d. h. einen erblidyen Juriftenftand für die höchſten Tribunale. Niemand hat 
noch je diefe Tribunale der Beftechlichfeit oder Kriecherei beſchuldigt. Die Familien, 
welche dieſe Gerichtöftellen beſezen, haben einen esprit de corps und ein größeres Ge⸗ 
fühl ihres Amtes als erwählte Beamten. Es iſt in den Fleinen deutfchen Staaten 
ebenfo, mit Ausnahme von Oefterreih, wo nicht felten Abenteurer in die Regierung 
eintreten, daß die Beamtenfamilien feit den legten zwei Jahrhunderten faft alle Staat« 
ftellen inne haben. Jedes Land hat ſolche, und es ift die vortreffliche Orbnung in ber 
Berwaltung der Eleinen Staaten viel von dieſer Erblichkeit herzuleiten. i 

Die Eigenfchaften, welche man bei einem Esquire oder Gentleman. voraudiel, 
find, daß derfelbe von feinen Revenuen leben kann und eine höhere Bildung belkt; 
mehr äußerlich ift ed, wenn man fordert, daß er ein Wappen führe. Diefen Eigen⸗ 


Adel der: Gegenwart, England und Deutſchland. 357 


haften entfprechen auch vollfommen, nicht mehr und nicht zu wenig, Die Mechte, welche 
dem entry» Adel zukommen. Dagegen darf die Nobility ein Gericht von feines 
Sleichen verlangen und hat Privilegium der Freiheit von @ivil- Arreft. Indeß find 
diefe Mechte nur nothmendige Folgen der obigen Eigenfchaften. Wer ein reichliches 
Austomnen bat, wird nicht in den Ball kommen, im Schuldthurm figen zu müflen; 
wer eine böbere Bildung beſittzt, ald die Maffe, wird nicht leicht gemeine Ver⸗ 
brechen Degeben, böchitend politifhe und ſolche, die nach einem anderen Stande 
punfte beurtheilt werden müflen, alfo von Leuten veilelben Standes, die in der 
Rechtsanſchauung, die der Gentleman vermöge feiner unabhängigen Stellung haben 
muß, leben.- Ein ſolches privilegirtes Gericht find in Deutfchland die Ehrengerichte 
in Duellſachen. Die Gentry iſt eigentlih auch in England nur ein geabeltes 
Beamtenthum, denn die meiften Briebensrichter- Stellen haben die Rittergutsbeſitzer 
inne. Aus dieſer Bergleihung der weientlihen Merkmale der englifchen Adelsver⸗ 
hältntffe und ver deutfchen glauben wir bewieien zu baben, daß man die Ana⸗ 
Iogie engliſcher Berhältniffe in Deutfchland nicht durch eine bloße Neuorganifation 
unfere® biftorifchen Adels bervorbringen Tann, fondern nur dadurch, daß der be⸗ 
fiebende Adel fih gewilfe große flantlihe Aufgaben ftellt, und zugleich Ieden, ver 
fi? an ihrer Loͤſung mit Erfolg zu verfuchen im Stande ift, als feinen Genoſſen bes 
trachtet. (In wie weit in Preußen diefe Anfchauung zur Anerkennung gekommen ift 
und wie fie weiter zu realffiren if, darüber vergleiche die Artikel Preußiſche Verfaſ⸗ 
ung und Herrenhand.) Die englifchen Adelsverhältniſſe haben aber auch ihre Schat- 
tenfeiten. Der Erb» Adel oder hohe Adel oder der biftorifche Adel des Oberhaufes bat 
alterdings feine gewachfene Organifation dem Staate und der Hodhfirche gegenüber. 
Anch der Gentry- Adel bat feine innigfte Beziehung zur Hierarchie der Hochkirche. Die 
hoben Würdenträger der Kirche zählen zum Adel, ja fie bilden eine Gliederung in ber 
Ariftofratie. Diefe Zuftände waren haltbar, fo lange den Katholifen im ganzen bri- 
tiſchen Neiche Feine activen politifchen Rechte zugeftanden waren, jebt dagegen entfleht 
die Stage, welche Stellung im englifchen Adel der hohe Tatholifche Elerus einnehmen 
wird? ES entitebt ferner die Frage, ob e8 in Deutfchland überhaupt mit der Firch- 
lichen Berfaffung vereinbar iſt, den Würdenträgern der proteftantifchen Landeskirchen 
und der Fatholifchen Kirche den Adel zu verleihen. | 

Man bat es als einen bedeutenden Borzug des englifchen Adels und der Gentry 
besvorgeboben, daß dieſelben beim Volke nicht fo verbaßt feien, wie bisweilen der Adel 
in andern Ländern (Deutjchland wollte man nicht offen fagen!). Es Tiegt dies größten 
fhetls in dem Bemußtfein des Volkes, den Adel für feinen Dienft am Staate vere 
pflichtet zu fein. Indeſſen trat Doch auch in England der Radikalismus vielfach und noch 
unter Georg IV. wieder gegen den Abel auf und firebte feine Abfchaffung an; wir erinnern 
an den Führer der Radikalen Hunt. Der Sieg dieſes Radikalismus gehört auch in 
England nicht zu den Unmöglichkeiten; bie Armee der Revolution wächſt auch dort 
ſtüͤndlich; die Gentry aber wird Faum ein Damm gegen die Regung der Radikalen 
fein fünnen. Die Denofratie zerftört natürlich auch den Verdienſt- und Beamten- Abel. 
In nothwendiger Conſequenz muß die nivellirende Demokratie alle Staatsämter durch 
Dahl and dann durch 8608 befegen, wie dies in Syrakus, Tarent und Athen der 
Ball war. Denn ift die Gleichheit ald Grundſatz ausgeſprochen, fo iſt die Wahl eine 
ganz ungerechte Bevorzugung, ed muß dann das Loos entfcheiden ! 

Es Tiegt nahe, die englifche Nobility mit unferem hohen Adel in Deutfchland, 
mit den fogenannten Standeöherren, zu vergleichen. Wir wählen zunächft einmal 
Preußen, weil bier die Copie des englifchen Oberhaufes verfucht wird. Preußen zählt 
gegen zwanzig Familien vom hoben Adel over doch Standesherren, welche zum hoben 
Abel in Preußen gerechnet werden. Im Jahre 1845 wies der vereinigte Provinzial- . 
Lundtag aller Provinzen auf: aus Preußen einen, aus Pommern einen, aus Brane 
Denburg drei, aus Bofen vier, aus Schleften zehn, aus Sachſen fünf, aus Weftphalen 
zwölf, aus den Nheinlanden fünf. Dazu kommen jetzt noch aus Hechingen die Fürftn 
Furſtenberg. Diefe würden aljo die erbliche Paitie in Preußen bilden und dem hoben 
(Mflorifhen) Adel Englands entſprechen. Nun entfteht aber die ganz natürliche Frage, 
66: Diefer höhe Adel don Preußen fe mit der Befchichte des preußifchen Staates ver⸗ 





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wachen ift, oder mit feinee Dynaflie, wie der englifche hohe Adel mit der Gefdgichte 
von England feit der Eroberung 1066? — 8 entfteht ferner die Brage, ob dieſer 
hohe preußiſche Adel, die preußifchen erblichen Pairs, von jeher ſich mit ver Bolitit 
und der Staatöverwaltung in Preußen befaßt haben, wie der engliiche hohe Adel, ob 
endlich die preußifchen Pairs eine traditionelle Bolitif Haben, wie die englifchen, in denen 
3. 2. die auswärtige Politik oft gleichfam zu einer perfönlichen der einzelnen Kamilie 
wird und erbliche Neigungen nnd Abneigungen ſich bemerklich machen, deren Einfluß 
auf die großen Weltgeſchicke nicht ganz unbedeutend if. — Diele Fragen, ob der 
deutfche hohe Adel der Nobility von England entjpreche, werden dadurch noch fehr er 
ſchwert, Daß die deutjchen Verhältniffe, Die deutſche Bolitit und Action gegen dad Aus— 
land ungleich fchwieriger zu leiten find, als die traditionelle englifche Politik. Wir 
fehen alfo, Daß zu den Bau eine englifchen Oberhaufed dem deutichen hohen Adel 
eigentlich da8 gerignete Material fehlt, und daß unfer höhere Adel die Aufgabe, die der 
engläfche ausführt, nicht löjen könnte. Wenn bei Errichtung des deutſchen Bundes die 
mebintifirten Fürſten (Standeöherren) in einer Kammer in Frankfurt vereinigt, und ihnen 
eine berathbende Stimme für alle Actionen der dußern und innern Politik von 
Deutfchland eingeräumt worden wäre — eine allerdings etwas ungeheuerliche Cou⸗ 
firuetion —, fo wäre wenigftend eine äußere Achnlichkeit des deutſchen und englifchen 
hoben Adeld, wenn andy nur für den Augenblick, bergeftellt gewejen. 
Werfen wir einmal die aufrichtige Frage auf: haben bie deutſchen Standesherren 
das Bedürfniß gefühlt, in einer erften Kammer der einzelnen Staaten als erbliche Pairs 
vertreten. zu fein? — Niemals; aber beim Bundestag vertreten zu jein, das war ein alle 
gemeiner Wunfch der mebiatifirten Fürſten und .cin Bedürfnif. Es reiht fich hieran 
die Erörterung, ob eine deutjche erfte Kammer je einen größeren Wirkungskreis haben 
wird, als den einer Controlbrhörde für dad Budget, ald den einer. Superrenijion 
des Staatshaushaltes. Wer die Gejchichte der deutſchen Territorialftaaten feit 1232 
fennt, der weiß, daß Diefe Staaten alle dad, was jle find, nur durch ihre Dynaſtie 
gevoorden find, wicht durch ihre Ariftofratie wie England. In Deutichland batte ſich 
der Adel nie in die einzelnen Regierungs⸗ und Verwaltungszweige des Dynaftenftaated 
feeiwillig und autonom getbeilt, wie in England. Alles überließ man der Dynaflie 
in Deutfchland, Die Hausgeſetze, Primogeniturrechte, Untheilbarkeit des Landes und bie 
Hoheitsrechte, In allem Diefem Haben die Fürſten für fich mit ihren Agnaten gehanbelt. 
Es Tann alfo gar Feine Tradition geben, welche die Deutichen Standesherren an Die ein⸗ 
zelnen Laͤnder und. ihre Dynaſtie knüpft, wie follte ein Herzog von Aremberg oder 
Fürſt von Fürſtenberg Intereffe für die Landesregierung in Poſen haben ober wie 
hängen beide mit den Intereften Der Hohenzollernſchen Dynaftie zufanımen? Ober haben 
dieſe und andere Standesherren wirflid; die Tradition ihrer Kamilie, daß. fie den Preußi⸗ 
ſchen Staat groß gemacht Hätten, daß fie dies oder jened Interefie des Preußifchen 


Staates jeit dreihundert Jahren vertreten hätten? Gewiß nicht, gder nur ſehr wenige 


Familien können diefe Tradition beanfprucdhen. Will man nun vermitteld einer Ver⸗ 
foffung und erblichen Pairskammer die Standesherren fchnell zu der Stüge des Preufi- 
ſchen Staates und der Preußiſchen Interefien machen, jo find Dies. nur widernatürliche 
gekünftelte DVerfuche. Denn das fann man nicht läugnen, daß es nur Zufall if, 
daß die Aremberg auf Preußiſchem Gebiete entfchädigt wurben, und daß es Zufall 
ift, Daß die Fürftenberg, weil ihre Güter in Hechingen liegen, zum Hohen Adel von 
Preußen kamen. In England aber ift es fein Zufall, daß der hiſtoriſche Adel sin In- 
terefie bat, die Dynaftie zu erhalten, denn er half der Dynaſtie das Land erobern uab 
vegieren feit 1066. Alfo koͤnnen wir wohl fagen, die Englifchen Apelsverhältnifie find 
von den Deutfchen durchaus verfchieden, fo daß die Deutjchen jegt nicht mehr nad 
den Englifchen gewaltſam umgemodelt werden Lönnen, ſondern neue geichaffen werben 
müflen oder das englifche Ideal aufgegeben werben und nach der Entwicklung ber deut⸗ 
ſchen gpetorialſtaaten ein unſern Verhaͤltniſſen entſprechender Zuftand geſchaffen wer 
den muß. | 


Bevor wir num die Gefchichte des Adels in Deutjchland betrachten und daraus 


und einen Schluß auf feine Zufunft erlauben, müſſen wir bie nörblichfien Länder Cure⸗ 
pa's, Die grellſten Gegenſaͤze zu dem romaniſchen Süben ins Auge: faſſen. Es finh 


y 








Zu ver Gegenwart, Hocmegen. 33 


Ds Die Lander Schweden uud Mormwmegen. Bei 4 Millionen Menſchen gehörten 
1850 in Schweden 11,700 dem Abel und der Mitterfchafs an. Den fchwehifchen 
—— bilden Vertreter jeder Adelsfamilie, der Geiſtlichkeit, der Bürger und Bauern. 

Es giebt alſo in Schweden nur einen hiſtoriſchen, den Landbeſttzer repraͤſentirenden 
MA. Dieſer iſt aber zugleich ein Abel der Imtelligeng. Neben m ſteht von 
jeher als gleichberechtigt in ver Geſellſchaft der Intelligenz⸗Adel, d. i. bier die 
Geiſtlichkeit. 

In Norwegen gab es einen einheimiſchen Adel in des Wortes neuerer Be⸗ 
deutung nie, Dort hatte ſich die altdeutſche Fügung der Geſellſchaft weſenilich erhalten, 
eine Eroberung des Landes fand nicht flatt umd bie Monarchie entwickelte ſich hier 
auch nicht in der gebräuchlichen Form. Die Einverleibung in Danemark und die 
Gemeinichaftlichkeit der Inſtitutionen mit dieſem Lande bewirkten jedoch, daß daͤniſcher 
Adel auch in Narwegen als Adel galt, und. dieſelben Vorrechte bier wie in Dänemark 
genof. Mehrere Glieder des dänischen Adels ſiedelten fich förmlich in Morwegen an 
und vererbten ihre Beilgungen auf Defcendenten. Der dänifche Adel konnte in Nor- 
megen. bei der feftumfchriebenen und eiferfüchtig bemachten Verfaffung bed Landes feine . 
Bedeutung erlaugen. Die Zahl feiner Defcendenten in Norwegen blieb fehr befchränkt, 
und mit deichter Mühe Tonnte man 1821 zu dem Befchluß gelangen, den Adel 
abzuſchaffen. Man folgte dabei nur dem Grundgeſetz, welches dad Princip der völligen 
GSieichheit geradezu ausfpricht. Keine perfünlichen Brivilegien, beißt e8, dürfen irgend 
Einen zugeftanden werben. Majorate und Fideicommiſſe dürfen nicht errichtet werben, 
um den Grundbeſitz nicht auf gewiſſe Kamilien zu concentriren. Schon bisher traten 
alte Brüder gleichmaͤßlg in Die GErbfchaft, auch von Bänbereien, und vom Stortbing 
wurde neuerdings ſogar ein Gefeh angenommen, demzufolge Schwefter mit Beuder 
gleich erbt. Adelsrechte werben nur den Defcendenten der Adelsfamilien vorbehalten, 
die vor dem Geſetze von 1821 geboren waren. 

Die norwegiſche Geſellſchaft erhält dadurch einen eigenthümlichen Charakter, und 
man kann ſie wohl das grade Gegenbild der franzoͤſiſchen nennen; denn während in 
lehterer Die Sucht nach, Gleichheit dad Niveau der Geſellſchaft immer tiefer ſinken macht 
und gute Sitte, Ehre und feiner Ton dort immer mehr ſchwinden, zieht fich bier ein 
altfreies, adelndes Bewußtſein durch wie ganze gebildete Geſellſchaft. 

„Mir wenn ein Glied des Geſchlechtes ſich zu einer bedeutenden Hoͤhe in der 
Gefellſchaft erhoben bat, pflegt es einen Familiennamen anzunehmen. Wan bedient 
ſich Dazu: wieder ſeines ſchon beſtehenden Vaternamens, der alsdann in ber Deſcen⸗ 
denz feſgehalten wird (jo z. B. daß ein Hand, Sohn von Harald, ſich jetzt nur „He: 
Hareloſon“ nennt und ſeine Töchter nicht etwa wie ſonſt „Martha“ oder „Marta 
Hanstochter“, ſondern, Jungfrau Haraldſon“ titulirt werben) oder, was immer beſſer 
klingt, man nimmt den Namen feines Grundſtücks an, wie z. B. „Herr Bergheim”, 
„Herr Sandſtad“ ac. In dem lehten Jahrhundert bat ſich der abgeſchmackte Gebrauch 
eingrichlishen und .feftgefeht, daß man Alle, die auf irgenn eine Weife der höheren Ge 
ſellſchaft, d. h, der mit. Geſchlechtsnamen bezeichneten, zugerechnet.werben, „conditionirt” 
nemt, die zur Maſſe des Volks gehörigen aber „gering“ ober „nichtconditionirt“. 
Gietger, Ergang⸗Lex.) 

In Der Geſchichte des hiſtoriſchen Adels in Deutf chlanb vom Sturze Napos 
lean’s bis jetzt traten zwei wichtige Kataſtrophen ein, welche ibn von Grund aus hät- 
ten reſtaurien fünnen. Diefed find die fogenamte heilige Allianz in der Zeit 
ihrer unbeflrittenen GHewfchaft (1815—1826) und Die conſervative Reaction 
feit 1849: 

Des Adel war am Ende Des vorigen Jahrhunderts in allen Staaten im Zerfall. 
Des, was Ihm Yen Geiſt der Corporation geben follte „fehlte. In die Armeen ſtellte 
dee Adel von 1791-1806 unfähige, manchmal ſogar feige Offiziere. (Wir deuten: 
bier freilich zuvärberft nicht an Preußen,, deſſen adelige Dffiziere an der Seite Des 

Friedrich des Großen auch bei Jena Heldenthaten verrichteten, wie die neuere 
weparkelifhe Geſchichtsſchreibung dies hervorgehoben hat.) Die Sittenloſigkeit an 

Deu Höfen Hatte, den Adel am Ende bes vorigen Jahrhunderts entnervt, und bie oͤffent⸗ 
liche Meinuuig, : welche unter allen Umſanden eine Macht vepräfentirt, Haste über ihn 





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gerichtet. Es war alfo Außerft ſchwierig, die früheren wittelaiterlichen Standesvor⸗ 
vechte, äußerlichen Auszeichnungen u. f. w. wiederherzuſtellen. Hatte doch ein Yürft 
felöft in einer Proclamation’gefagt: „Der Adel bat durch feinen früheren Mangel an 
Patriotismus feine alten Rechte verfcherzt." Außerdem aber war mit dem Einbringen 
des franzöflichen Rechtes in die Rheinbundſtaaten und auch in das preußtfche Gebiet 
eine frembdartige Gleichheitätheorie zur Herrfchaft gefommen, innerhalb deren Eaum für 
einen Scheinadel fich ein Platz fand. Nach der Wieberberftellung der Freiheit Deutſch⸗ 
lands befanden fich die deutſchen Regierungen in einer fchlimmen Lage. Das Gefühl, 
dag eine Reform im Innern des Volkes nöthig fei, bebrängte Alle, aber wie dieſe 
Reform erreichen? Jeder einzelne Staat fühlte, daß fie über feine Kräfte ging, umd 
ein ſocialer Neubau konnte nur von fämntlihen Staaten außgeben, 
welche 1815 die Revolution niedergeworfen hatten, von der foge- 
nannten heiligen Allianz: von Rußland, Defterreih, Preußen. Die 
heilige Allianz zeigte fich aber auch bierin als halbe Mafregel. Der Geift der heiligen 
Allianz war eigentlich nur negirend gegen die Revolution, lebensfähige Inftttutionen 
fonnte fie nicht fchaffen. So blieb vie fociale Neorganifation den kleinen Staaten 
felöft überlaffen. Sie gaben (in Süd⸗ und Mittelveutfchland) ihrem Abel in den erften 
Kammern eine Stellung, oder fuchten ihn gar burch Zuwendung mancher Eleinen Bor 
tbeile zu gewinnen, ärmliche Aeußerlicjkeiten, die dem Adel, den Bürften und dem 
einzelnen Volke gleichmäßig ſchadeten. Die deutfche Bundesacte 3. B. Bat im 6. umd 
14. Artikel nur für den hohen Adel (d. h. die im deutſchen Meiche früher reichs⸗ 
unmittelbaren Reichsſtaͤnde, jetzt mebiatifirte Fürſten, Grafen und Freiherren, die Stan- 
des⸗ und Grundherren), das Mechtöverbältniß zu den fouverainen Fürften und den 
wieder neu organifttten Staaten geregelt. Für den niederen Abel, die Ritterſchaft und 
alle anderen Arten von Adel war gar nichts vorgefehen. Damit konnten ſich bie 
Standeöherren, d. h. die mebiatifirten Dynaſtien, nicht begnügen, fie verlangten Ber: 
tretung im Pleno der Bundeöverfammlung, indeß vergeblih. Sie befinden fich ſeitdem 
in einer troftlofen Lage. Der Bundestag, fo ungenügend feine Zufammenfeßung ihnen 
erfcheint, bildet Doch noch immer ihren Appellbof, aber finden fie in ihren privatrecht⸗ 
lichen (denn folche find es meiſtens), oder ftaatsrechtlichen Forderungen fein Gehör bei 
ihrem Landesfürſten und deflen Kammern, fo weiſt fle auch der Bundestag, wenn fle 
an ihn ſich wenden, nicht felten geradezu ab. Nimmt der Bundeßtag, was auch vor- 
fommt, die Beichwerde der Standesherren an und fällt ein Urtheil, fo IR in Wirklich⸗ 
feit kaum ein Mittel vorhanden, fein Urtheil zu vollziehen. Um einigermaßen bem 
mebiatifirten Adel, d. b. den Standes» und Grundherren gerecht zu fein, verlieh man 
den Fürften das BPrädicat Durchlaucht, den Grafen Erlaudht, und fprach ihre Ebm- 
bürtigfeit mit den Fürftenhäufern aus. Das Geſuch der Standesherren, Gefandir an 
die Höfe fenden zu Dürfen, ward vom Bunde abfehlägig befchieden, man erkannte, fo 
zu fagen, die ſtaatsrechtliche Seite der Brage gar nicht an. Die Standeshersen, doh. 


die ehemaligen Reichsſtaͤnde, alfo Oberhäupter fouverainer Staaten im beutichen 


Neiche, — dem Bundesſtaat mit Kaifer« Oberhoheit — wurden nun aber. durch bie 
Bundesacte befonders darin ihrer flaatsrechtlichen und focialen Stellung beraubt, daß 


- man ihnen reich begüterten Lehns⸗Adel — ja, Kaufmanns- und Induſtrie⸗Adel gleich 


feßte. Deshalb konnten fie nicht mehr als eine Gonföderation von Kanbesherren, denen 
Die Souverainetät beftritten wird, auftreten. So wurden z. B. die Kürften Dietrich⸗ 
ftein, Eſterhazy, Bugger, Khevenhüller neben die Kürften Hohenlohe, Leiningen, Löwen 
ftein geftellt, neben die früheren Souveraine ihre früheren Vaſallen und Diener. Eben 
fo erging es ben gräflichen Häufern, denen die Titular-Grafen gleich geſetzt wırden. 
Nichts Tag alfo dem Bundestag ferner, als im Gelfte des großen Gegenſazes gegen 
Die Revolution, den die beiligelllianz in ihrem erften Auftreten fund gab, sie 
fociale Reform des Adels und der Geſellſchaft der Staaten überhnupt vorzumehmen. Im 
Gegentbeil fistt mit den Stanbesherren die confervative Richtung zu heben und We 
dauerhafte Neugeftaltung der Gefellfchaft durchzuführen, wurden die Standesherren durch 
Berlegung ihrer privatrechtlähen Interefien zue Oppoſttion gedrängt. Ohne und in 
Prophezeiungen ergehen zu wollen, Tönnen wir fager, es wäre in ben Jahren 1848 
und 1849 manches anders gegangen, wenn man dreißig Jahre früher der bedenenden 








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Grunbmacht des Stanbeöherten auch einen focialen Wirkungskreis eingerdumt gehabt 
Hätte. An niederen Adel fand in der Epoche der heiligen Allianz ebenfalls Feine 
foctale Reform fatt. Nicht einmal der Verjuch wurde laut. Der niedere Adel warb ähnlich 
dem ‚boden mit ungeeigneten Elementen vermengt und dadurch berabyebrüdt. Der ver- 
kommene Adel, wie ihn Abenteurer führten, oder der Bicariats- ‚und Titular- Adel, oder 
der Geld⸗ und Induſtrie-Adel, alle dieſe Arten wurden dem Grundherrn fat gleich⸗ 
geftellt — allen aber die feciale Wirkfamkeit entzogen. Aller Haß und alle Vorur⸗ 
theile, welche der Adel der leßtgenannten Gattungen auf ſich gezogen hatte, mußte der 
ganze Stand tragen. Nicht einmal dieſes Recht räumten die durch die heilige Allianz 


verfüngten Staaten dem Adel ein, daß genaue und neue Adeldmatrikeln ausgeftellt uns 


Die eigen des Adels gereinigt würden von Parvenüs und Leuten, welche die Willkar 
der legten kleinen Fürſten des deutſchen Reiches in den Adelſtand erhoben hatte. 
Metternich fühlte allerdings diefen foclalen Uebelftand. Er war es, der das 
Broject entwarf, den niederen Adel Deutjchlands zu reorganifiren und dadurch ber Ge 
fellichaft eine Neugeflaltung zu geben... Ex wollte einen allgemeinen dentſchen 
Adelsbund gleich einer Adelskette über ganz Deutichland verbreiten. Gin Zweck 


ſollte den ganzen niederen Adel befeelen, ein edler Wetteifer der Mitglieder angefacht- 


werden, voll Kraft und Ausdauer in ihrer jocialen eonfervativen Aufgabe auszuharren. 
Deutſchland wäre zu dieſem Zwecke in Kreife und Gauen eingetbeilt worden und ber 
Ael hätte Zufamnıenfünfte gehalten Ahnlic den Orbend-Gapiteln. Ban ſteht, Metter⸗ 
nich's Idee war, einen allgemeinen Adeld- Orden aus dem niedern 
Adel zu machen. 

Wir fühlen die Großartigfeit dieſes Vrojectes Metternich’. Wenn man die ma⸗ 
tegiellen, volkswirthſchaftlichen Intereflen, wie Zoll«, Steuer⸗, Poſt⸗, Münz«, Eifenbabns, 
Bank⸗ und Gredit-Bereine centralifirt, nach einer leitenden Idee bereinigt und gefaltet, 
warum folkte man nicht jociale Bebürfniffe ebenfo durch Aſſociation befriedigen konnen? 
Warum follte nicht der Staat ſelbſt eine Aſſociation für fociale Zwecke in's Leben rufen? 

Indeſſen blieb Metternich's ſocialer Reform⸗Entwurf nur Project. Die Heinen 
Staaten verhinderten die Ausführung, weil ſie keine über ihre Grenze gehende Aſſocia⸗ 
tion dulden oder vielmehr ertragen Fünnen. Pan bat zwar vermuthet, ein ſolcher 
Berein des Adels beftände doch im Geheimen, aber dad war nicht der Fall. Die 
foeiale Revolutionspartei jprengte ſolche Dinge aus, um eben die Heinen Staaten in's 
Lager der Revolution zu ziehen. 

Dieſes letztere gelang 1848 vollftändig, die Eisinen Staaten fanten in das res 

volutlondre Getriebe herab, und damit beginnt die letzte Entwickelungoſtufe des Deut⸗ 
ſchen Adels. Zur innerlichen und gänzlicden Befeitigung und Bellegung der Revo⸗ 
lution durch die heilige Allianz wäre -allerdings die SHerftellung end neuen ſocialen 
Ordnung in Europa erforderlich geweien, fie war verfäumt worden; 
im Jahre 1848 nach dem Siege über die Socialiſten (22. — 27. Iuni 1848) ‚Zelt, 
dad Werk wieder aufzunehmen und jene alte heilige Allianz auf rund organifcger 
Principien zu erneuern. Letztere blieb ſelbſt nach ihrer erſten Geftaltung eine balbe 
Mapregel, fo lange Frankreich nicht wie Polen getheilt war. Im Jahre 1848 lebten: 
noch zwei Männer, welche, zu hohen Ideen befähigt, eine Umgeftaltung, namentlich 
eime foriale, in Europa bästen hervorrufen können: Nikolaus I. von Rußland und’ 
Metternich. Doch die Ereigniffe gingen über die Willensftärfe und die Wacht beider 
Stentsmänner hinaus. Man machte der obnmächtigen republique honndte im Jahre 
1848 in Paris fein Ende, man benupte ihren Mangel an national⸗ Friegerifiber Bi 
geiſterung nicht, um Branfreich zu theilen und eine neue Gliederung der eurvpaͤiſchen 
Geſellſchaft herzuſtellen. Mit der Wahl Louis Napoleon's zum Prafldenten ver fran⸗ 
zöftfchen Republik war Die Revolution wieder auferflanden, die Neugeftaltung der Ge⸗ 
ſeliſchaft Durch die confervativen Staaten wefentlih und bedeutend erſchwert. 
Es trat der letzte entfcheidende Wendepunft des neunzehnten Jahrhunderts ein, bie’ 
legte Tradition der Heiligen Allianz warb 1853 geſprengt! Jetzt war- eine ſociale 
Aeform Curopa's auf dem Wege der Geſetzgebung der drei conſervativen Landſtaaten — 
unmöglich — jetzt war Metternich's Project fin Immer unausführbar geworden 
Hrſfterreich hatte ſich zudem viellricht fin immer von Rußland getrennt. 


er noch war es 


—ñ⸗ 


Wir Haben His in die neusfte Zeit Die Befchichte Der forialen Geſetzgchung uud 
Meform vom allgemeinen Geftchtöpunkte aus verfolge. Wir Haben wenig über die 
legte Zeit. zu fagen, fie ift eben fo inhalislos, ald das Wollen und PBollbringen ber 
in ihre zur That Derufenen nichtig, und felbit der Gulminationspunft der Reaction, 
in dem man auch vom proteflantiichen Standpunkte Energie nicht verfeunen wird, 
DaB öflterreihifche Concordat von 1852, ift eine halbe Maßregel, weil feine foriale 
Reform damit verbunden ift, und ed in feiner abftracten Form nicht durchgeführt wer⸗ 
den kann. 

Nicht durchgeführt ward auch Die deutfche Heichöverfaflung von 1848. Sie 
enthält. uber die fociale Reform nidyts, ſondern vernichtet fie. Ald Guriofum wollen 
wir bien berichten, wie die deutſche Revolution der Eleinen Staaten, denn dad war Der 
Kern der. Bevegung von 1848, ed wit dem Adel zu machen gedachte. Eiuen Tag — 
den 1, Auguft 1848 — bat man fi in der Paulslirche in Frankfurt über Die Fünf- 
tige Stellung des deutſchen Adels herumgeftritten und fchließlich feſtgeſetzt: „Alle 
Deutſchen find vor. Dem Geſetze gleih. Standeöprivilegien finden nicht flat.“ Die 
Linke wollte noch ven Being: „Der Adel felbit ift aufgehoben.“ Die Abſtimmung 
hat mit 282 Stinmen gegen 167 dagegen entichieden. Auf Die Debatten über eu 
Adel, wie fie in der Paulskirche geführt wurden, «inzugeben, geftattet: und biee Ver 
Raum nicht. Mit Ausnahme der Rede Lichnowskys baben alle. anderen Redner ‚gegen 
ben Adel und für ihn fick auf den gewöhnlichen Gemeinplägen und befannten. Redens⸗ 
ten bewegt. Die tiefere Bedeutung einer Organiſation der Gefellichaft, der. Theilung 
der Arbeit für fociale Zwede, der Affociation zur Erreihung focialer Reſultate wurbe 
Dabei gar nicht in Anregung gebradit. 

Weann die Revolution von 1848 ſich unfähig und ohnmächtig gezeigt bat, eine 
Meform der Geſellſchaft herbeizuführen, oder Inftitutionen in's Leben zu rufen, welche 
die Geſellſchaft auf eine dauerhafte Baſis gründeten, fo fonnte das nicht überrafchen. 
Dagegen ift es ein Gegenftand gerechter Beſorgniß, daß Die deutſchen Regierungen und 
befonders die Staaten Defterreich und Preußen nach der Revolution von 1848 nicht 
eine Durchgreifenne Reform der Gejellichaft vorgenommen Haben, um Der Wiederkehr 
aͤhnlicher Rataftrophen, wie Die Jahre 1789, 1830 und 1848 fe brachten, vorzubeugen. 
Es Eonnte diefe Reform während der flegreichen Meaction von 1849 Bis 1853 vor 
dem: Bruche Oeſterreichs mit Rußland vorgenommen werden. Der Adel, zunächft we⸗ 
nigften8 der ber Eleineren beutjchen Staaten, hätte im Sinne von Metternich eine fos 
ciale Affoeintion erhalten, und de Kräfte, welche in diefem Stande vorhanden find, 
hätten einen Wirkungsfreis gefunden, zugleich aber auch einen Anſchluß an denjetrigen 
Theil des deutfchen Adels, der größeren Staaten angehört und von der Zufunft ned: 
beſgndere politiiche und fociale Aufgaben mit Sicherheit erwarten kann. Aber nichts. 
iR geſchehen, und die Fünftige Revolution wird nur eine leichtere Arbeit und ein ge⸗ 
eigneteres Terrain finden, ald Die deö Jahres 1848. Noch iſt eined Berfchlages aus dem 
Jahre 1850 gu gedenken, welcher die Reform des deutſchen Adels betrifft- an von 
verfiorbenen Fürften Leiningen ausging. Wir wollen deilelben nach einer Turgen. Bor 
trachtung Der jehigen ‚Zuftände des Adels erwähnen. 

Bei allen Bölkern beruhte der Adel und die Ariſtokratie anf einem gew iſſ en 
Grade 000 Beſitz, der erforderlich war, Die Muße und Bildung zu erlangen, 
wege zur Betheiligung an.den öffentlichen Angelegenheiten befäbigk 
Sp wan es in Hellas, in Nom, bei den Deutichen. Über der Reichtum allein kann 
als Baſis für den Adel jet nicht mehr. genligen, bad .wirbe zu einer Plutokratie, wie 
fie in. Amerika umd Frarkreich exiftirt, führen, alio muß Der ‚Dersfchaft Des Geldes bie. 
Herrſchaft der. Bildung in: der Gefellichaft an die Seite. gefellt werben, und es iſt Diet. 
auch, wie vos ſahen, zu jeder Zeit eingetreien;. e8 bildate ſich ein Adel aus- fürperlichen: 
Vorzügen (Mitter), aus geiftigen Vorzügen (Doectoren- Adel). Beide Arten müſſen au 
jegt noch Die Arifkgkratie der Gefellichaft bilden. Es iſt nicht zu läugnen, daß ererbter 
Grsudbeilg: eine edlere Bildung verbürgt, her wohlhabende Vater verwendet auf 
bie Erziehung der Kinder die größte Sorgfalt; aber Doch Jehrt Die Erfahrung, daß die 
waßten Gapasitäten Der Mehrzahl mad nicht aus dem grundbeſitzenden Abel hernor⸗ 

chen, fondern vielmehr. audı Dem VBesaritenſtande und üherhauut aus Dem Biugenihunts 








2 ‚6, 0 Ber BE ne 4 asdate ni u BED EN, re 5: vi FR. 


Dieſes Nikverhaͤltuß kann nur ein Berbienfkabel ber Intelllgenz auäglakhen, Ban 
müßte auf der einen Seite den armen Übel in den Bürgerfland ftsigen laflen, dem, 
reichen Iandbefigenden Adel aber den Verdienſtadel mit Beſoldung und hohen Ehren 
ftellen an die Seite feßen. Die deutiche Bierteljahresfchrift von 1850, drittes Heft, 
enthält in dem Auflage: Ueber Ariftofratie, S. 142—43 (bei Befpreihung der Schrift 
des Fürſten Leiningen), in dieſer Hinficht VBorjchläge, welche wir bier als Repraͤſentanten 
der Anſchauung der AUdelsfrage nad) der Nevolution von 1848 wiederholen. : „&8 jo, . 
feinen Adel ohne Fideicommiſſe geben, die jüngeren Söhne jollen in den Bürgerfland 
eintreten und ihn ohne irgend eine Ausnahme angehören; hingegen joll Ieber, welcher 
durch feine Stellung im Staate und jeine Vermoͤgensverhaͤltniſſe ſich zur Aufnahme in 
den Adel eignet, ohne Nüdjicht auf feine Geburt in denſelben aufgenonmen werden; 
ed jollen alle Beichränfungen der fogenannten Cbenbürtigfeit, alle Bevorzugungen des 
alten Adels als jolchen wegfallen, es foll aber auch bewegliched Bermögen (allein, 
ohne Intelligenz) niemald einen Anfprud auf Eintritt in den Adel geben.“ 
„Wenden wir dad bisher Geſagte auf die Verhältniffe des Deutichen Adels an, 
fo würden wir ald die Grundbedingung einer zweck⸗ und zeitgemäßen Orbnung feiner 
Berhältniffe fordern: Beſchraͤnkung des Adels auf die Fideicommißbeſitzer in der Art, 
daß für jeden Adelstitel ein Minimum des Fideicommißbeſitzes feſtgeſetzt, bezüglich Der 
Bildung defielben alle Erleichterung hinſichtlich der lehnherrlichen, agnatifchen und 
vormundfchaftlichen Einwilligung gegeben, Dagegen aber auch beftimmt würbe, Daß, mer 
binnen einer feftgefegten, binreichend geräumigen Friſt fein oder ein feinem Adelstitel 
nicht entjprechenbes Fideicommiß errichtet, feinen Anfpruch auf, den Adelstitel habe.“ - 
„Wir würden ferner die Aufhebung aller noch beſtehenden Benachtheiligungen 
fogenannter nicht ebenbürtiger Eben, fo wie aller ebenfalls nach beſtehenden Bevor⸗ 
zugungen des jogenannten alten Adels, dagegen aber auch firenge Beilimmungen ber 
Vorbedingungen bHinfichtlich der perſönlichen Befähigung ber in den Adel«aſtand 
aufzunehmenden verlangen. m beiten dürfte letzteres dadurch geichehen, daß ald 
unerläßliche Vorbedingung für die Erlangung des Adels die Ausübung gewiſſer Hffent- 
licher Aemter oder politiicher Verrichtungen während einer beſtimmten Zahl von Jahren 
feftgefeßt würde, 3. B. fechsjährige Praͤſidentſchaft einer Gentralbehörbe oder her Ständes 
verfammlung, mehrmalige Wahl in die Ständeverfaumlung, in ben Landrath u. f. w. 
Eine Ausnahme von diefer Regel auf den Grund bias perfönlicher . 
Gunſt de3 Landesherrn dürfte unter Feines Bedingung, zugelaſſen 
werden. Um in Deutichland, wo bei minder entwüdelten Gemerbö- und Handels⸗ 
verhaͤltniſſen größere Vermögen in der Negel nur langſam erworben werden, die Bil 
dung folcher und damit die Möglichkeit Fünftiger Adelserneuerungen nicht allzuſehr zu 
erſchweren, würden mir die Errichtung von Fideicommiſſen auch bei Nichtadligen 
unbedingt zulafien, jedoch immerhin unter Feftjegung eined Minimumd, welchas rim 
allzu Häufige Bildung derjelben und Bindung eines zu ‚großen Theils des Grund und 
Dodend durch folche zu verhindern geeignet wäre. ine Forderung der Billigkeit wäre 
endlich nach, daß den Nachkommen adeliches Familien, welche ‚ihren: Adelstitel weg 
Nichterrichtung von Fideicommiſſen verloren, die Wiederannahme daſſelben geſtattet 
würde, wenn fie in Folge ein —* Fideicommiß errichten ſollten.“ Der Mefment in 
der: Deutſchen Vierteljahrsſchrift ſchließt mit folgenden Worten: „Würde der Adel auf 
dieſe· Weiſe blos auf diejenigen befchränkt werden, welche dad ariſtokratiſche Element 
im Staatsleben in Wirklichkeit zu: vertreten und geltend zu machen befähigt find, Se 
würde deſſen Beſtehen und deſſen politifche echte, welche wir einzig und allsin im 
einer vorzugsmeifen Berückſichtigung deſſelben bei der Volksvertretung finden wurden, 
bald ihre wohlthätigen Folgen fühlbar machen und die, Zahl feiner Gegner fi, ebenſa 
vermindern, wie in England, wo die Mafle des Bolkes im Gefühle. ihrer. Freiheit uud 
Geltung keineswegs Den Adel un, feine Mechte beneidet, jondern Die Tüchtigſten ige 
Volke darnach firehen, in den Abel aufgenommen ‚zu werben, nicht aber eine Infiie 
tution u serfidren, deren Zweckmaͤßigkeit fie aus langer Erfahrung kennen gelernt 


Es draͤngen alfo die Berhältuiffe, in welchen, wir leben (nie bedautende Mack 
der Intelligenz) und bie Ra! der Stimmen bahn, daß ver Adel ald cine Macht 


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der Intelllgenz ſich darftelle. Aber freilich bleibt dabei immer noch bie Frage übrig, 
inwiefern felbft mit Hülfe des Adels der Intelligenz eine fociale Reorganifa- 
tion in Deutfchland noch möglich ift, und wo dieſelbe etwa bereits Platz gegriffen hat? 
Verſuche zu einem Adel der Intelligenz ſind wohl in Deutſchland ſchon gemacht, man hat, 
wie in Württemberg und Baiern einen ſolchen Adel der Intelligenz dadurch ange⸗ 
bahnt, daß man Männern von Bildung und hervorragendem Talente durch Verleihung 
eines Ordens den Titular-Adel gegeben bat. Do das ift nur Mittel ohne Wir- 
fung; wenn ber betreffende "Ordensträger des Kronorvend Fein Vermögen beftgt, fo 
fann er feine Stellung in der Nriftofratie einnehmen, wie fie feinem neuen Berufe ent- 
fprechen follte. In Defterreich ift hierin ein Uſus eingetreten, der einige Beachtung 
verdient. Jeder Offizier, ver eine gewiſſe hohe Charge erreicht hat, wird eo ipso alß 
abelig betrachtet. Die württembergifche Regierung bat vor einiger Zeit in diefer Hin- 
fight eine fehr anerkennenswerthe Initiative ergriffen. In einer Eircular« Note an die ' 
deutfchen Negierungen, machte die genannte Staatöregierung auf den Unfug der zu 
häufigen .Orbenöverleihungen aufmerkſam, woburch dieſe Auszeichnung im Werthe ſinke. 
Namentlich war darin hervorgehoben, daß man ſich über vie Grundfäge bei Ordens⸗ 
verleihungen einigen follte, damit nicht Leute mit Orden decorirt würden, die „nur 
geholfen. haben, da zu fein“ und bei den Reiſen der Fürſten an den Bahnhöfen als 
Statiften figurirten. Das Zmwedmäßige der württembergifchen Darlegung Teuchtet Jedem 
ein. Der Umftand, daß ein Diplomat eine politifche Frage daraus macht, wenn der 
Souverän eines benachbarten Staates einen Orden meniger bei feiner Badereije ver 
theilte, als fein eigener Fürft, wäre damit bejeitigt worden. Die deutfchen Regierungen 
fimmten im Princip der württembergifchen bei, erklärten aber, es ließe fich nicht anderd 
machen. Auch in diefem Punkt von untergeorbneter Wichtigkeit zeigt ſich, daß die 
deutfchen Staaten die Kraft nicht mehr in fich fühlen, eine fociale Reform und Reor⸗ 
ganifation Durchgreifend auszuführen. 

Die Nothivendigkeit einer focialen Reform vermittelft eines Adels der Intel» 
ligenz oder einer Ariftofratie des Talente ift übrigens in Deutſchland nicht 
allein zu finden, ſie wird in England jeßt eben fo offen befürwortet. Thomas Gar 
Igle giebt in feinen ausgewählten Schriften, deutfch von A. Kregfchmar, Bd. 6, S. 27 ff. 
einen Auffag: Die Ariftofratie des Talente, woraus wir folgenne Stellen 
entiehnen: „Wir müflen mehr Weisheit haben, Die und regiert; wir müflen von den 
Weiſeſten regiert werben, wir müflen eine Ariftofratie des Talents haben! rufen Biele 
Wahr, fehr wahr, aber wie follen wir Dazu gelangen?” Hierauf giebt Carlyle einen 
Haszug aud dem Houndsditch Indicator. Darin heißt e8: „Die Ariftofratie des Ta⸗ 
lentes iſt eine regierende Klaſſe, welche wirklich regiert, Die nicht bloß den Kohn für's 
Regieren bezieht und dafür uns falfch regiert und den Teufel mit uns fpielt.“ — Die 
Errichtung einer folchen Ariftekratie ift eine furdjtbar fchmierige Sache. Ermartet man 
vielleicht, daß man die Ariftofratie des Talentes glei Weizen aus der Spreu aus den 
fleben umd zwanzig Millionen britifcher Unterthanen herausfinden kann, und daß eine 
andere politifche Mafchine den befagten Proceß des Siebend wirklich durchführen wird? 
Wir rollen immer fihneller auf der Bahn des Verderbens dahin. Jede Stunde bringt 
uns demfelben näber, fo lange nicht dieſes Rettungsmittel (der Ariſtokratie des Talentes) 
zu Stande kommt.“ 

Derſelbe engliſche Hiſtoriker ſagt an jener Stelle a. a. D. ©. 228 über Europa 
Folgendes: „Die Wahrheit hat die Zeit von 1789 bis jegt gelehrt: daß Europa ein 
wirkliche Arikofratie, einen wirklichen Priefterftand verlangt; fonft kann es nicht fort 
fahren zu exiſtiren. Ungeheure franzöflfche Nevolutionen, Napoleonismen, Bourbonis⸗ 
men, Ludwig⸗Philippismen — follten doch wohl ein wenig bivaftifch fein! Alles Dies 
kehrt und, Daß falfche Ariftofratien unerträglich find, daß Nicht⸗Ariſto⸗ 
Matien, Freiheit und Gleichheit unmöglich, daß wahre Ariftofratien 
gleichzeitig unumgänglich nöthig, aber nicht leicht zu erreichen ind.“ Den Grund 
ver Nothwendigkeit eines Adels und einer Ariftofratie giebt Carlyle in folgenden Sägen: 

„Der Menfch if, fo wenig er es auch felbft glaubt, gezwungen, denen, die ihm über⸗ 
Kan find, zu gehorchen: Kraft dieſes Zwanges tft er ein gefelliges Wefen ja, er 
Ponnte ſonſt gar nicht geſellig ſein. Er gehorcht denen, welche er achtet und die er 


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für klüger und waderer ball.” Im Feolgenden fpricht Carlhle ſehr treffende Apho⸗ 
rismen über die Ariftofratien Des Mittelalter aus. Namentlich heben wir- bier bie 
Stelle in Beziehung auf England hervor: „Iene Feudal⸗Ariſtokratie war durchaus feine 
eingebildete. Ihre Jarls, was wir jetzt Earld nennen, waren in bebeutendem Grabe 
der That ſowohl ald dem Worte nach flarfe Männer, ihre Herzöge Anführer, ihre Lorda 
Law-wards oder Gefegeöhüter. — Es it in vielen Beziehungen das Gefeg der Natur, 
dieſes jelbe Geſetz des Feudalismus, und es giebt Feine Äächte Ariftofcatie außer einer 
Land>Xriftofratie! ” . | 

Dad es im Weien der Gefellfchaft liegt, daß eine erſte Gefellichaftäflafie exiſtire 
und dieſe die Ariftofratie bilde, vwoird Niemand bezweifeln. Die Arifkofratie vertritt: alfo 
ein wahres und nothmwendiged Interefje in jeder Staatöform. Nicht minder bawiefen 
durch die Erfahrung in der Gefchichte ift Dem Satz, daß der Beflgenve fi ala Gef 
griftofrat ober Gelbabel immer confervativer verhalten und an die hiſtoriſche Ariftofratie 
des Adels anfchliegen wird. Doch zu einer baltbaren Ariftofratie und einem focial wirfs 
ſamen Adel muß noch außer der hiftorifchen Berechtigung und dem Bell von materiellen 
Kapital ein weiteres Element binzutreten, die Intelligenz, zunächft in fo weit, als ſie für 
diejenige ideelle Macht, die den Adel fanstionirt, von Bedeutung wird, alfo die Intelligenz 
zunächſt in ihrer Beziehung auf das Leben des Staates und der Kirche. Die intelli- 
genten Männer und die Gelehrten in der Gefellichaft find als Die Beſitzer des immate⸗ 
ziellen Kapitald zu betrachten. Wenn man alfo einen Abel der Intelligenz verlangt, 
fo will man damit nur das immaterielle Kapital neben das materielle geftellt wiſſen. 
Diejes Tann auf zwei Wegen erreicht werden, entweber durch Zwang, indem man bie 
— ihrem Beflge nach — erfte Klafle der’ Gefellfchaft zwingt, das immaterielle Kapital 
ſich anzueignen, oder die Befiger deflelben der erften Klafie der Geſellſchaft zutheilt. 
Den erfleren Weg hat man nicht felten auch fo erftrebt, daß man jeden Beilglofen von 
der Möglichkeit, ſich Bildung anzueignen, ausſchloß. In diefem Zuflande befanden ſich 
in Griechenland und Rom die Sklaven, in dieſem Zuſtande find Die Schwarzen in 
Amerika den Weißen gegenüber in den SEflavenflaaten. Daß dieſes jet nicht mehr 
möglich if, leuchtet von felbft ein. Es bleibt alfo nur der zweite Weg übrig. (Vgl, 
den Artikel Geſellſchaft und Geſellſchaftsklaſſen.) 

Bei der Betrachtung über die Zukunft des Adels in Deutſchland müfſen wir au 
der Stellung gedenken, welche der Adel zu den Kammern einnehmen fol. Die 
meiften Staatsrechtslehrer und Politiker, wie z. B. Welder, meinen, man jollte eine 
adlige erbliche Bairdfammer, ähnlich der englifchen und franzöfijchen unter Ludwig XVIII. 
und Karl X. auch in Deutjchlann beibehalten. Wir fünnen, wenn wir die MRefultate 
des conftitutionellen Lebens auf dem -Eontinente von 1517 an bis jegt betrachten, biejer 
Anficht nicht beiftinnmen, Die Kammern, die Budgetberathungen, die Comitoͤfitzungen, 
die Wahlbewegungen demoralifiren den Beamten und Bürgerſtand fehr, und nicht minder 
würden fie auch den wieder neuerftandenen Adel durch dieſes politifche bureaufratifche 
Parteigetreibe, das nicht dem Patriotismus, fonvern dem Egoismus huldigt, demorali⸗ 
firen. 68 ift eine befannte Thatſache, daß das fittenlofe Hofleben im 18. Jahrhundert 
den Adel in feiner Kraft und Anſehen geſchwächt hat. Nicht weniger verderblich dürfte 
ih aber der Einfluß der parlamentarifchen Intrigue erweifen. Die Aufgabe des Adelq 
it nicht..in den Kanımern, fondern in feiner Wirkſamkeit in der Geſellſchaft und Volks⸗ 
wirthfchaft zu fuchen. Der Adel in einer erften Kammer iſt bisher noch immer bes 
zweiten Kammer unterlegen. » 

Wie follte in einer Adelskammer gegenüber der Volkskammer bes Adel wirken 
fonnen, er hat ja nicht zu vertreten ald die fubjective Meinung! An der politischen 
Wirkjamfeit der Staatsregierung nach Außen läßt man die Kammern nicht Theil neh⸗ 
wen, alfo auch bier haben biltorijche Namen fein Feld für igre Ihätigfeit mehr. Will 
man der oft aufgeworfenen Stage, wie der Adel ſich zung conftitutionelfen Leben ven 

Iten foll, richtig begeguen, fo erwäge man, ob eine fociale Reform ‚nöthiger ift als 
einzelne Abänderungen der beſtehenden Gejeßgebung? Denn über Lebtered geht doch 
die Onmipotenz einer erften deutfchen Kammer nie hinaus. Welchen. Borzug für den Adel 
oder den Staat ſoll es nun aber haben, wenn die Abichreibgebühren der Staats» 
ſchreiber x. von adeligen und bürgerlichen Abgeorbneten geprüft. werben und dag Sch 





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vaftnt angewieſen wud? 7° Wie hoffen aber, daß ber deutſche hiſtoriſche Adel, wenn er 
fich durch einen Adel des Talentes verjüngt hat, außerhalb der Kammern ald Arbette- 
theiler, als intelligente Kaffe, als confervative Schichte und als Gegengewicht gegen Die 
Speculsation in’ Maplofe und gegen bie reine Geldwirthſchaft feinen Wirkungskreis 
finde. Wenn der intelligente Adel unfere Zeit betrachtet, ſieht et wohl ein, daß es 
feine Aufgabe fein muß, die Maximen, welche jest in Reben allein Geltung haben, 
Rügen zu flrdfen. Dieſe Martmen find: Die Güter der Menſchen und mithin Die Men- 
fehen felbft ftehen nur nach dem „Angebot und Nachfrage” in Beziehung zu einander. 
Berner in der Geſellſchaft giebt es Feine andere Beziehung der Menfchen unter ſich als: 
„ven Nexus der Baarzahlung!" Diefe moderne, rein materialiftifche Weltanſchauung 
im Leben practifch zu widerlegen, muß bie Aufgabe des Adels fein, wenn er fich feiner 
Milton bewußt fein will. 

Die Wirkſamkeit und Stellung behjenigen Adels, der nicht zur noblesse imperiale 
zähle, fo mie des hiftorifchen Adels, als erfter Gefelkichaftöklaffe in Folge feined Befiges, 
für die Zukunft namentlih in Deutichland zu beftimmen, Hat große Schwierigkeiten. 
Die Zukunft des biftorifch erhaltenen Adels hängt von dem Streite 
zwifhen Geld- und Grundmacht ab. Diefer Streit ift bis jeßt weder in der 
Volkswirthſchaft noch in der Staatögefeßgebung zum Abfchluffe gekommen. 

Als Grundeigenthümer ift der Adel jebt nur ein für fih reicher 
Stand, wie der Stand der Banquiers, Der Fabrifanten u. ſ. m. So bat der Abel 
jest in Allgemeinen ebenfo wenig einen erbaltenden (confervativen) oder fittigenden 
Einfluß auf Die Vermögensloſen (die Proletarier) als andere reiche Privatperfonen, 
wenn auch der Natur der Sache nach die Tagelöhner des großen Brundbeflgerd um 
Vieles ficherer und freier geftellt find, als die Arbeiter eines ſtädtiſchen Fabrikanten. 
Ale Staaten des heutigen Europas bi8 auf Napoleon 11. haben fich gefcheut, eine 
Kataftrophe in dieſem Streite zwifchen Grund und Geld herbeizuführen. Aber je böber 
die Geldmacht fteigt, deſto größer wird das Broletariat, defto lockerer und brüchiget 
der Geſellſchaftsbau, deſto näher rückt Die Gefahr des Zuſammenſturzes. So bielbt 
alſo dem Mel, fo weit er den Stand der großen Grundbefiger vertritt, immer 
noch die Hoffnung, daß die Staatöregierungen vor dem Uebergewicht der Induſtrie "bei 
der reinen Geldwirthſchaft als vor einem Außerften Uebel zurüdichreden, Daß ſie bie 
Speculatton in's Maßlofe als die nothmwendige Folge der überwiegenden Induſtrie er- 
kennen und fi dann nach einem feften Damme gegen biefe Macht des Geldes umfehen. 
Das wird am Ende jede Megierung gewahr, daß man über einige Millionen Menſchen, 
die nur noch im Nerud der Baarzahlung zuſammenhalten, nicht mehr regieren Tann. 

Auf die neneflen Verſuche und Vorſchlaͤge, den Adel in ven einzelnen Rändern, 
wie in Baiern, Medlenburg und Preußen zu organifiren, fünnen wir bier nicht eins 
geben, fondern verweiſen dafür auf die Artikel, welche von diefen Rändern handeln. 

Für die Zukunft der Ränder in Oft-Europa find die Verhältniffe des Adels in 
denfelben von größter Wichtigkeit. Deshalb muß hier noch von dem Adel in Ungarn, 
Bolen und Rußland gefprochen werben. 

In Ungarn herrfehte nicht, wie in Deutfchland, England und Frankreich, ein 
eigentlicher Lehndöverband. Der Adel felbft, der weniger begäterte, hatte folgende Rechte 
(wir fpredden bier von den Zuftande vor 1848): 1) Steuerfreiheit und die Preibeit 
von Öffentlichen Laften, 2) das Aviticitätsrecht, d. i. Familienrecht an den vererktn 
Grundbeflg, 3) das Mecht der Königswahl. Der König hatte dem Übel gegenüber 
nach der altıngarifchen Verfaflung das Mecht, daß die Güter der ausgeflorbenen Adels⸗ 
Familien ihm anbeimflelen. Die ganze Regierungsweiſe bat man mit Hecht ein ſchlaffes 
abelige® Runicipal- Megiment genannt. An eine Enwickelung einer ſtarken Executiv⸗ 
Bewalt und an einen Abfolitismusd der Staatsgewalt im Innern war nicht zu denken. 
Ban vergleiche Aber den Zuftand Ungarns vor feinen Erobernngen durch Franz Joſeph F: 
Deſterreichs Nengeftaltung, bon €. Czornig. 


— — —— — — 


) Ee verhchi ſich von ſelbſt, daß wir hiermit nicht die Beſeitigung ber erſten Kammiera 
empfehlen; wir verlangen nur, daß denfelben zuvor wieder ein ihrer Aufgabe entſprechender Des 
tujskreid Jugewiefen werbe. 





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Jeder Freie war abelig, alfo ganz noch nach dem altgermanifäjfen Grundfatze 
umd dem Vorzug der Nationalität. Ungarn zählt mit vier Millionen Einwohnern 
325,000 Adelige. Diefe genofien bid 1849 die üblichen Vorrechte der Steuerfreiheit, 
Hepräjentution am Reichstage, eigene Gerichte u. f. w. Diefer Adel ging zum native 
nalen Revolution über, weil die Regierung von Oefterreich feit 1844 eine Stellung zu 
Ungarn einnahn, die unhaltbar war. Die Oppoſttion begann feit Dem Neichdtage 1840 
und 1841, mit der Induftriefrage und der Upelsfteuerfreiheitfeage befonderd in Folge de 
Sprachentampfes, welcher endlich fogar zur Uufitellung einer Sprachfarte von Ungarn 
führte (Häuffler 1846). Alle diefe Symptome wiefen einen Elar jehenden Staatsmann 
wur auf tiefer liegende Reformverſuche der Ungarn: durch den Sprachenftreit wollte der 
magparifche Adel eine fociale Scheidung zwifchen Adel, Bürger (Magyar) und Prole- 
tarier (Slowake) herbeiführen, durch Die nationale Inbuftrie neben den magparifchen. 
Zandadel den Jdufttieadel (meift Deutfche) ftellen. 

In dem ungarifchen Abel von 1840 bis 1848 zeigten fich vortreffliche Elemente 
einer focialen Reform, welche jedoch von der Regierung nicht benugt wurden. Die 
liberale Partei hat auf den Reichdtagen zu Preßburg 1840 und 1843 es durchgefeßt, 
Daß die Unverleglichkeit ded Edelmannd als, Schuldner aufgehoben und die dffentlichen 
Aemter den Nichtndeligen zugänglich gemacht, fowie den nichtadeligen Bauern der An- 
fanf von Adelögütern geftattet wurde. Diefe Neformen fanden felbft "beim hoben Adel, 
wie den Batthyany, Kirolyi, Uihaͤzy, Telefy Anklang. Man drang von Seiten der 
Oppoſttion auf die Aufhebung der Steuerfreiheit des Adels. Die Öfterreichifche Regie⸗ 
zung hielt es aber mit den Gonjervativen und befämpfte diefe nothwendige Reform, 
welche jle indeß zehn Jahre fpäter mit dem Bafonette einführen mußte! So kurzſichtig 
wor man in Wien, daß man den Ideen fich widerfeßte, welche allein die Baſis einer ver- 
nünftigen Reform hätten fein fönnen. Der magparifche Adel fträubte ſich freilich aegen die 
regelmäßige Stener ald ein Zeichen der Untertbänigfeit und der Erniebrigung bes freien 
Evelmannes (nemes ember), und doch waren ed nicht wenige Adelige, welche ſich frei« 
willig in die Steuerliften ihrer Eomitate einfhreiben ließen. Die Negierung, immer 
ängflli auf die Majorität des Reichſtages bedacht, wagte feine Meformen. Daß in 
einer folchen focialen Bewegung in Ungarn ein gefunder Kern lag, ahnte man in Wien 
nicht. Hätte man flatt des unglüdlichen Projectes von Seiten der Eaiferlicheu Regie 
rung, in die Gomitate beſoldete Apminiftratoren zu ſchicken, einem ungarifchen Intelli⸗ 
geng- und Induftrie- Adel die Obergefpane übertragen, jo väre das Gleichgewicht des 
hohen und des niederen Adels von felbft hergeftellt geweſen. 

Jede einigermaßen erleuchtete Regierung hätte dieſes glüdliche Streben‘, einen 
Mittelftand in Ungarn zu fchaffen und die Grundmacht mit der Geldmacht und dem 
Talent zu vereinigen und andzufdhnen, mit danfbaren Händen feftgehalten. Die 
Revolution bemächtigte ſich daher Ddiefer gefunden Ideen und flegte. Die Revolution 
ward Hierauf national und zulegt demokratiſch 1848 und 1849. Der Adel, der die 
Baſis der Neugeftaltung jein follte, focht unter den ahnen Koſſuth's. Alles das 
war .eine natürliche und nothwendige Folge davon, daß Defterreih, wie in Italien, 
fo in Ungarn verfäumt hatte, eine fociale Organifation zur rechten Zeit zu begründen. 
Jetzt iſt Ungarn eine eroberte Provinz von Defterreich und wird als fulche behandelt. 
Keine fociale Organifation will und Fann man mehr in’s Leben führen, fondern die fociale 
Nivellirung, bewacht von den Bajonetten, blieb der einzige Ausweg. Der Adel tft nun 
in Ungarn in Folge der Paciflcation, der Steuern u. f. w. zun Theil verarmt und 
lebt eingezogen auf jeinen Gütern. Die Ariftofratie leiftet einen paſſiven Widerſtand. 
Die Bodenausbeutung und die Inbuftrie hat man nicht gefteigert, und fo find audı 
dieje focialen Gegenmittel gegen das einjeitige. Mebergewicht des Landadels wieber ab⸗ 
geftorben. Ein oͤſterreichiſches Beamtenheer Hat Ungam überſchwemmt, ohne beim 
nationalen Adel Achtung zu finden. Statt eine Intelligenz und Ariſtokratie zu bilden 
mit Sülfe der zahlreichen magyariihen Advocaten, bat man die fociale Auflöfung ber 
beigeführt. Die Bereutung des Adels für einen dauerhaften confervativen gefellſchaft⸗ 
lichen Geiſt in der öflerreichifchen Monarchie ift fehr wichtig. Es trat dies 1850 Kai 
der Pairiefrage in Oeſterreich hervor. Als man auch Hier, wie 1789 in Paris und 
1852 in Berlin, die Copie eines englifchen Oberhauſes verſuchte, ergab ſich kin ‚großer 





„  Mebelfland. Oeſterreich hat namlich nur einen ungarifchen, boͤhmiſchen und italieniſchen 
hoben reichen Adel von Fürften und Grafen. Der beutjch = öfterreichifche ift Dagegen 
weder fo reich noch fo zahlreich wie jener. Es ift aljo der hohe Adel nicht Deutich 
und der niedere Adel nur zum Theil. Dadurch kommt in die Elemente felbft, von 
welchen die fociale Gliederung ausgehen follte, ein Gegenfak. 

Bei dem Adel in Rußland muß man nach den Ländern und nad den Arten 
des Adels. unterfcheiden. Anders ift die hiftorijche Enhviclung des polniſchen Adels, 
anders Die des cur- und lievländifchen Adels (Näheres darüber |. unter den Ländern) 
anders endlich ift der Adel im eigentlichen Rußland. 

Betrachten wir zuerft dad Verhältniß des rufjifchen Grund-Adeld in feinem Ber 
hältnig zu den Leibeigenen, dem nicht abeligen Volke. Der ruſſiſche Grundadel 
ahmte die Kronfabrifen nah und zog feine Keibeigenen in die verfchiebenften Zweige 
feiner Induſtrie. Diefem induftriellen, leibeigenen Proletariat war die Möglichkeit ges 
geben, Grundftüde zu erwerben vom Adel. Dadurch wollte der grundbefigende Adel 
den Leibeigenen einen fichern Lebensunterhalt gewähren, um nicht mehr Direkt verpflichtet 
zu fein, für ihn forgen zu müffen. Diefes Verhältnig lockerte zuerfi (vor den Refor⸗ 
men Alexanders 1., 1855) das Abhängigkeitsverhältniß des Wabrikleibeigenen zum 
Srundheren, ja die Stellung ded Grundadeld ald alleinigen Grundbefigerd warb ver 
ändert. Es veränderte jich damit das frühere Wechſelverhaͤltniß vom grundherrlicyen 
Adel zum Bauern, es traten Zuftände ein, wie fie in den ruflifchen Oſtſeeprovinzen 
ſchon früher eingetreten waren. In den Oftfeeprovinzen entftand mit ber Aufhebung 
der Leibeigenfchaft, ohne Verleihung von Grunbbeſitz, ein feindſeliges Verhaͤltniß 
zwifchen Abel und Bauern; im innern Rußland entfland daſſelbe Verhaͤltniß dur 
Berleibung von Grundbeflg, ohne Aufhebung der Leibeigenfchafl.e Man hat das 
Berhältniß des ruſſtſchen Adels zu den leibeigenen aber Land befigenvden Kabrifarbeitern 
und zu den freien aber den Grundbeflg entbehrenden fo ausgedrückt: dem Bauern 
ward eine flumpfe Waffe gegen den Adel in Die Hand gebrüdt, dem Adel die Waffe 
feines Grundbeſitzes und feiner Herrſchaft vergiftet. Etwas Wahre liegt darin, Seit 
der Aufhebung der Leibeigenfchaft durch Alerander Il. haben fich auch einige Uebel⸗ 
fände, die nur vorübergehend find, eingeftell. Der grundbefigende Adel zeigte nam 
lich feinen großen Eifer, Die Leibeigenen freizulaffen und ihnen Eigenthum (gegen all 
allmälige Abtragung der Kauffumme) zu verleihen. Mag der Vormurf gerecht jein 
oder nicht, Die Bauern glaubten wenigftend ſich vom Adel betrogen, und man nannte 
e8 einen Mißgriff der Regierung, daß fie dem Adel die Initiative für Die Meform ges 
lafien hatte. Die ganze Güterparcellirungd« und Grundbeſitzverkaufs⸗Frage ift nämlich 
in die Bände eines Adeldcomite'S gelegt worden. Wir finden in legterem feinen Rip- 
griff, fondern halten es für fehr gut, daß dem Adel, ver Grundbefit bat, die Initiative 
gelaffen wurbe und er die Möglichkeit behielt, in einen anderen focialen Nerus zu dem 
freigewordenen Eigenhörigen zu treten, als in den des Sirämers, der eine Waare (bier 
dad Grundeigenthum) auf einem Jahrmarkt verkauft. Das ift nämlidh eine ſehr be 
denkliche Schattenfeite der focialen Zuftände in Nußland, daß der Freibauer (Odeod⸗ 
werge, ObelngesKreftjanie u. f. w.) in gar feiner Beziehung zu dem Grumbabel oder 
den Eigenhörigen fteht. Im 6. Bo. der „Gegenwart“, Leipzig 1851, ift ein Aufiab: 
das ruffifche Staatsleben, welcher jich in Diefer Hinficht fo außert: „Der Erb⸗ um 
Grundadel tft principiell in eine Iſolirung gedrängt, daß er als folcher eigentlich ald 
ſtaatliches Element (focial) gar. nicht in Betracht Fonımen kann, daß er befonders al# 
Stüge des focialen Beſtandes der Dinge (db. b. in conjervativem Geiſte) burd bad 
Regierungsprincip ſelbſt verneint wird. Der Staat kann fich alfo in einem gegebenen 
Kalle nicht guf jeinen Erb» und Grundadel als folchen berufen. Diefer Widerſpruch 
wird noch um fo Elaffender, als doc eben diefer Adel eined Theils für die fortwäh- 
sende Leiftung der materiellen Stüugen des Staats durch die Rekrutenſtellung und bie 
Kopffteuerzahlung der Leibeigenen folivarijch haftbar gemacht, anderen Theils mit fafl 
unbegzengter Machtbefugniß acht Neuntel der Gefammtbevölferung als Leibeigene be 
figt." Diefer Uebelſtand der forialen Ifolirung des Adels von den jeht freien Leib- 
eigenen, iſt auch in Polen vorhanden. - Wie weit diefe Ifolirung und Wirkungslofig 
keit des Adels auf die freien Grundbeſitzer auf dem Lande geht, erfennt man ſchon as 

















AD DEE Begenwart, Nußland UND Polen. 209 


der Umgebung eines ruſſtſchen Landedelmannes, feine ganze Dienerfchaft, die Erzieher feiner 
Kinder, vielleicht ‘gar auch fein Beifllicher, alle find Ausländer. Der Freibauer und 
der jeßt freie Leibeigene ift in der Erziehung, Bildung, religiöfen wie politifchen An- 
ſchauung ganz unabhängig vom Adel. Wenn mit Hülfe des Grandadels und Durch 
ihn aus dem freien Stande der Bauern die fähigften Köpfe zum Beamtenadel heraus- 
gezogen und berangebildet würden, dann erft würde ein organifches Verhältniß zwifchen 
Adel und Bauernthum geſichert fein. 

Das Verhaͤltniß des rufftfchen Adels zum Staate ift in feiner Eigenthümlichkeit 
und dur die füngften Reformen Aleranders II. nicht wefentlich verändert. In Rußland 
giebt es einen biftorifchen Grundadel (der aber nie in Lehnsverband war) und einen 
Staatsdiener- Adel, Tfehinadel. Seit Peter dem Gr. war e8 Prinzip der Regie⸗ 
rang, den Erbadel d. i. dem Grundadel die ftaafliche Anerkennung zu fehmälern. Ein 
Vorrecht dieſes Hiftorifchen Adels ward um das andere ihm entzogen. Ja man hat diefen 
Erbadel gezwungen, in den Beamtenadel einzutreten, indem daB Belek gegeben wurde, daß 
in der vierten Generation der Erbadel ganz erlöfchen follte, wenn er did dahin nicht durch 
die Erlangung eines wenigſtens perfönlichen Adel verleihenden Staatsdienftes aufgefrifcht 
würde. Der Adelige ward fogar mundtodt gemacht, wenn er fich nicht in den Staates» 
dienft begab, denn e8 warb verorpnet, daß jeder Erbabdelige, der nicht im Staatäbienfte 
ftand oder einmal geflanden batte, ohne juriftifche Afftftenz feine vollgültige Rechts⸗ 
handlung vollziehen konnte. Die fuccefiive Aufhebung des rein biftorifchen Erbadels 
ging noch weiter; jeder auf bloßem Herkommen (Notorietät) beruhende und geführte 
Moelstitel follte feit 1836 erlöfchen. Nur die gewöhnlichen Apelsrechte, Befreiung 
von der Kopffteuer, von der Militairpflicht und das Mecht, von feines Gleichen ge- 
richtet zu werden, theilte noch der hiftorifche Adel mit dem Beamtenadel. Es iſt alfo 
durch diefen Zmang unmöglich gemacht, daß der Grundadel fih der Bildung und des 
Staatsdienſtes entfchlage, auf der andern Seite ift e8 aber auch unmöglich gemacht, 
daß Der Orundadel eine ceonfernative fociale Macht bildet. Der anderen Art, dem Tfehin- 
adel, Kann natürlich Feine andere Bedeutung zuerfannt werben, als fle der Büreaufratie 
anderer Länder ebenfalls zufteht. Der Adel, welcher fih an den büreaukratiſchen Rang 
nhpft, mochte von Peter I. gefchaffen fein, um dem Erbabel ein foctales Gegengewicht 
gegenüber zu ftelfen, indefien war es natürlich, daß ein bloßer Rangadel als jolcher 
dem Staate niemals jene Vortheile gewähren Tonnte, melche beſonders jeder Monarchie 
im &femente des Adels geftchert find. 

Die Gewaltſamkeit, mit welcher die Gzaaren den ruſſtſchen Staat begründet und er- 
richtet haben, tritt natürlich auch in ihrer Behandlung des Adelsinftttutes hervor. Die 
Natur der Dinge mochte fe freilich dazu treiben. Ein Urenkel Rurik's, der heilige Wladimir, 
hatte 1015 vr großen politifchen Fehler begangen, Rußland in zwölf Fürſtenthümer 
zu theilen.“ Unter der Mongolenherrſchaft trat indeffen Die Reichseinheit wieder her⸗ 
vor, und —9* IV., einer der Moskauer Kürften, konnte 1547 den Titel eines Czaa⸗ 
ren aller Reußen annehmen, aber e8 blieben neben ihm immer noch in bebenklichem 
Glanze die apanagirten Fürftennachfommen der anderen Linien ftehen. Es gelang ben 
Gzaaren, dieſe faſt aller der ihnen noch zugehörigen Domänen zu berauben und fie 
dann auch der übrigen nmosfowitifchen Ariftofratie im Range gleichzuftellen. Schon 
Johann IM. Hatte darauf Hingearbeitet, indem er eine Art von Eodiflcation des Adels 
vornehmen Heß: ein genealogifches Buch (rodoslovnoia Kniga) ward angelegt, in wel⸗ 
ches neben den alten apanagirten Fürftenhäufern, die gleicher Weife wie die Moskauer 
Großfürſten von Rurik abſtammten, die Familien der Moskauer Boyaren aufgenommen 
wurden. Zur felben Zeit, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, wurde feftgefebt, daß 
der politiſche Hang nach den Hofe oder Armeeänıtern, welche der Vater, der Groß⸗ 
vater und die Ahnen jeder Perſon eingenommen Hätten, beftimmt werben follte. Dies 
Gefeß, das Bis zum Jahre 1682 In Kraft war, machte die Boyarenwürde fo gut wie 
erblich, wenn auch nicht rechtlich, fo doch tbatfächlich, und vollendete die Unterſchieds⸗ 
loſigkeit zwiſchen den fürftlichen und den Boyaren- Familien. Die auf dies Geſetz 
gegründete Inftitution, möstnitchestvo, wurde durch das Geſetz vom 12. Jan. 1682 

') Notice sur les principales familles de la Russie par le prince Pierre Dolgorouky. 
Berlin. ’ Ford. Schneid er, 18b8. p prince ſ x 

Wagener, Staateé⸗ u, Geſellſch.⸗Lex. 1. | 24 

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2 ROTE BEL egeniali, UBLETE RU TB DSECH, 


abgeſchafft, nach weldgem „alle ruſſiſchen Edellente an echten gleich find“. Damals 
wurde zum legten Male das alte genealogifche Buch abgefchrieben, welches, in rothen 
Sammet gebunden, den Namen barhatnaia Kniga (Sammetbuch) erhielt. Es befindet 
ah gegenwärtig in Der Herolböfammer zu Peteröburg. Am Tage der Abfchaffung des 
möstnitchestvo warf man: zu Moskau freilich nicht Die alten Anelsurkunden, wohl aber 
die Protocolle über die Streitigkeiten um den Vortritt, welche im fechözehnten und 
fiebenzehnten Jahrhundert die vornehmen Bamilien oft geführt Hatten, in's euer. 
Keine der neuen Boyarensamilien hat e8 übrigens erlangen Eönnen, in das Sammet- 
bach aufgenommen zu werben. 1722 veröffentlichte dann Peter I. das Beleg, nach 
welchem jeder Beamte, der einen beſtimmten Grad erhalten, und jeder Offizier der 
Lande oder Seemacht ohne Ausnahme rechtlich den erblichen Adel beflgt. 

Bis auf diefen Czaaren, der den Kaifertitel annahm, gab ed in Rußland nur 
ſolche Fürſten (Kniaz), welche von fouverainen Yamilien herſtammten. Er führte Den 
Gebrauch ein, auch Fürſten, Grafen und Barone (leptere beide Titel waren bis dahin 
in Rußland ganz unbefannt) zu ernennen. Der erfte in dieſer Art ernannte Fürft war 
Menſchikoff, dem der Kaifer Leopold 1705 den Titel eines Meihsfürften gab, und den 
glei, Darauf Peter der Große auch zum ruffifchen Fürſten machte. Ruſſtſche Fürſten⸗ 
familien, die von rufftfchen oder Lithauifchen fouverainen Häufern abitammen, giebt es 
heut noch 45, dazu kommen noch eilf rufftfche Fürftenfamilien mit fremden, zum Tell 
polniſchem, zum Theil heidniſchem ꝛc. Urfprung und 16 Fürftenfamilien, die erft feit 
Peter I. exiſtiren. Es ift Teicht einzufehen, Daß die Politif der Moskauer Czaaren bis 
auf Peter den Großen dahin ging, jeden Reſt focialer und politiſcher Selbftfländigkeit, 
aljo auch den alten Adel, zu zerbrechen, und unter Peter dem Großen wurde dann ein 
bereitä nach aflatifchem Ideal nivellirtes Volksfthum mit den Namen, Formen und Ti- 
teln des Abendlandes, als mit einem leichten Flitterwerk neu geſchmückt. Der ehrwür⸗ 
dige Titel eines Grafen, der den ſeiner alten Geſchichte kundigen Deutſchen an die 
Ausübung feierlicher Staatöfunctionen erinnert, ward zu einer Decoration entwürdigt, 
und der Schwerwiegende Titel eined Barons zum ausſchließlichen Gnadengeſchenk für 
Emporkommlinge. „Der Titel eines xufilfchen Barons*, fagt Fürſt Peter Dolgorudi 
in feinem oben citirten Buche, „bat gar feinen focialen Werth, und es beftet ſich ihm 
felbft die Idee des Lächerlichen an, was befonderd daher Fommt, weil es Gebrauch it, 
ihn den Hofbanquierd in einem Lande, wo die induftrielle Claſſe Feine Art von Ach⸗ 
tung genießt, zu verleihen.” Im Jahre 1716 wurde felbft einer der Hofzwerge zum 
Baron gemacht, die Bekannteften dieſer ruſſiſchen Barone find Solovine,. Fredericks, 
Meſtmacher, Velho, Rall, Stieglik, Bode, Fraͤnkel. Auch ein Engländer, der Katha- 
rina 1. und Paul geimpft hatte, wurde rufflfcher Baron. 

Unter folgen Umfländen mußte natürlich dad Mißverhaͤltniß zwijchen dem hiſto⸗ 
rifchen Adel, der ohne allen focialen Wirkungskreis Icht, und dem corsumpirten und 
total abhängigen Bureaufratie=- Adel unerträgli werden. Wie Eönnte bier geholfen 
werben? — Nach unferer Anſicht nur durch größere Selbſtſtändigkeit und Unabhängig- 
keit der Bursaufratie und durch eine Controle bed Landadels dem Tichinadel gegenüber. 
Ä Soll der Adel ald eine Affoctation zu focialen Zweden feine Aufgabe in der 
Geſellſchaft wirklich Löfen, foll er ald Grundmacht ein Gegengewicht gegen die Specu- 
lation und den Credit in's Maßloſe bilden, fo muß man ihm natürlich der centralifieten 
Bureaufratie gegenüber, alfo in Rußland dem Tſchinadel gegenüber, eine gewifle Frei⸗ 
heit der Bewegung geflatten. 

In Polen war einft der Abel Alles und if es bis auf Weiteres noch jekt. 
Einen thätigen Bürgeritand Eennt Polen nicht. Die wenigen Fabriken und großen ge 
werblichen Anlagen find in den Händen von Fremden, der Handel ift faft ausfchließlich 
Kleinhandel, der Grundbeſitz gehört dem Adel. Diefer vepräfentirt auch die Intelligenz, 
ift Advocat, Schriftfteler, Profeffor, Künſtler. Das alte Polen Eannte keinen Unter: 
fehled zwifchen hohem und niederem Adel, und eö wird aus diefem runde von polnifchen 

Schriftſtellern wohl mit dem ſonderbaren Namen Adelsdemokratie bezeichnet. Spaͤter 
hat ſich ein hoher Adel gebildet, der ſich noch jetzt von dem unteren ſtreng zu ſcheiden 
ſucht, und dieſen Gegenſatz zwiſchen dem Magnaten und dem Schlachzig meinen 
die Polen, wenn ſie von einer Ariſtokratie und Demokratie reden. Der polniſche De⸗ 











MILE VI DIENTE, DER DIR BRVY DU yM- AL 


mokfrat tft immer ein ſtarrer Edelmann, wenn er Died vor feinen angeblichen Meinungs⸗ 
genoflen andexer Ränder auch verbirgt, und weiß von Feiner Berechtigung des Bürgers, 
oder gar des Bauern. Die Schlachta oder Der niebere polnifche Abel ift ein Stand, 
von dem fonft fein Land etwas weiß. Ein genauer Kenner polnifcher Verhältuiffe ) 
fchrieb bald mach der Nevolution von 1831, als die flüchtige polnifche Armee in 
Breußen internirt ward, von Diefem niederen Abel: „Gewöhnlich ohne Eigenthum, 
bald der Lafai, Gaͤrtner, Jäger oder Schreiber, öfters der Prorenet des reicheren Edel⸗ 
manned, ift er (der nievere Adel) heute fein treufter Diener, und morgen vielleicht 
fein erbittertſfter Feind. Er ift die Mittelöperfon zwifchen dem böberen Adel und dem 
Bauer, der von Jugend auf von ihm gekantſchuht und betrogen, oder wenigftens doch 
irre geleitet, denjelben eben fo fürchtet, als er ihn gewöhnlich haßt. Sie find die 
Heber und Träger der Gefinnungen des höberen Adels, die Zwickſcheeren beflelben, 
und baben zu allen Zeiten dem reichen Adel dazu gedient, feine Fehden mit Dem Könige 
burchzufechten und den jegenannten Gonföberationen ben Nachbrud zu geben. Ihr nach⸗ 
theiliger Einfluß, der noch von feinem Hiftorifer gehörig gewürdigt ift, gebt wie ein 
dunkler Faden durch die polnifche Gefchichte, und an allen Ereigniffen, wodurch der 
Untergang Polens herbeigeführt worden ift, haben fle den thätigften Antheil genommen. 
En pansant les chevaux de leurs mailres ils se donnent le litre d’eclecteurs des 
rois et de destructeurs des Iyrans. Voltaire: Charles XII. Livr. I. Sie waren bie 
Hände jenes hundertköpfigen ariftofratifchen Gemeinwefend, dad in feiner eigenen Bere 
derbtheit untergiug, nachdem es Jahrhunderte lang daran gefränfelt Hatte und. fein 
Untergang ihm vor Jahrhunderten von feinen eigenen Königen vorbergefagt war. — 
Auf den erften Ruf von der Revolution war jeder Schlacdhzig, wenn er fich fonft nicht 
a son aise in ruffijchen Dienfien befand, nach Warfchau geeilt, um bier nach ber 
Väterweiſe das Seinige zur Mehrung der Unordnung beizutragen. Die Ucclamationen 
biefer rohen Mafle waren es faft allein, welche den Stand der Dinge in Warſchau 
Bezeichneten und weldye Die Witzbolde in der Mefidenz die öffentliche Meinung zu 
Pferde nannten, im Gegenfag der öffentlihen Meinung zu Buß, worunter 
man Die Anfichten derer verftand, Die befcheiden zu Buße einbergingen, und Die bie 
Ehrengarde zu Buße des Dictatord bildeten. Gegen dieſe Schlachta beſonders waren 
die Ausfälle der wahrhaften Patrivten gerichtet, wenn fie von den mäßigen Pflafter- 
tretern der Reſidenz vedeten, die alle öffentlichen Bläge und Häufer füllten, und überall 
Unordnungen erregten, während fie das Geräufch der Kriegslager flohen. Und wirklich 
waren es auch dieſe, welche an allen Unordnungen den .thätigften Antheil nahmen und 
den Meigen in der Schredensnadht vom 15. Auguft führten. Durch fle flürzte Krufo- 
wiedi den edlen Skrzynecki, ihrer bediente man ſich noch nach der Wegnahme 
von Warfchau in Plock, um den wortbrüchigen Uminski an die Spige der Regie⸗ 
zung zu bringen und jenen Derfucd zur Plünderung der Bank zu wagen. Sie bildeten 
endlich bis zur völligen Flucht des polnifchen Heered die Prätorianer-Garde B. Nies 
mojewöfi’s, Lelewel's, Pulawski's und anderer Klubbiften; viele jedoch hatten 
auch als Parteigänger während des Krieges felbft gedient und bier Freund und Feind 
ohne Ungerjchied. geplündert und beraubt, und maren daher einer doppelten Profrription 
verfallen. Dieſe Schlachta nun, welche fich mitunter der gröbſten Verbrechen und 
Schandthaten felbft anklagten, und welcher fich die meiften Polen felbft fchämten, waren 
bei Stradburg (in Preußen) in Haufen mit über die Grenze gefommen und der Sub- 
fiftenz wegen den verfchiebenen Negimentern einverleibt worden. So wie Die Intriguanten 
anfingen, ihren Plan mehr zu entwideln, wurde jene faubere Gejellichaft gleichmaͤßig zu 
den Negimentern gegeben, um dort die Heber und Träger der Anfichten der. Factionairs 


zu werden. Un Geift deu Soldaten überlegen, in der Schule der Intriguen bei ihren 


Edelleuten herangewachfen, und gereift endlich in den Gräueln der Revolution, warb 
ed ihnen Feicht, jenen Samen des Ungehorfamd und Mißtrauend gegen die Negierung 
auszuſtreuen, der den Bactionaird zur Frucht beranreifen follte." 

Der bobe polnifche Adel if nach 1830 von Gütereinziehungen beimgefucht 
worden, die ſich bis 1846, in welchem Jahre in den weſtlichen Provinzen die 


ıy Die Polen in und bei Elbing. Ein Beitrag zur Tagesgeſchichte von einem Augenzeugen. 
Halle, C. A. Kümmel. 4832. 
241% 


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Liquidationen noch fortdauerten, über 270 Güter mit 57,303 Bauern erſtreckt haben. 
Die Schägung ergab ihren Geſammtwerth auf 7,252,644 R. ©., und ihr baates 
Jahreseinkommen betrug 564,690 R. ©. Da diefe Angaben in dem Rechenſchafts⸗ 
bericht des Reichsdomaͤnenminiſters für 1845 beftehen, fo beziehen fie fih nur auf 
folche Grundſtücke, welche Die Krone damals noch befaß, nicht auf die vielen Güter, 
welche inzwifchen an Generale, Staatsmänner und Bünftlinge verfähenkt worden waren. 
Die neuen Beſitzer bilden mitten in Polen einen ruſſiſchen Adel und muͤſſen, um fi 
ganz zu amalgamiren, ihre Söhne im griechiſchen Glauben erziehen laſſen. Der nievere 
Mel ift durch das Gebot, feinen Adel urkundlich nachzumeifen, hart betroffen worden. 
Die Wenigen, welche den Nachweid zu führen vermochten, wurden in die zufftfihe 
Adelsmatrikel aufgenommen, die Anderen ſämmtlich, und nicht mit Unrecht, ihres Adele 
beraubt. Ein Ufas von 1847 fchreibt vor, daß alle Schlachzigen, die ihren Adel 
nicht bewiefen und fich auch nicht in Die Klaffe der Bürger haben einfchreiben laflen, 
„ohne Weiteres in Die Lifte der Krondauern aufgenommen und gleich diefen verwaltet 
werben ſollen“. 

Die polnischen Bauern find auch in Polen, feit die Regierung fie unterflägt, 
gegen den Gutsherrn in Oppofltion getreten. Am verhängnigvollftien für den polni« 
fohen Mpel trat dieſer Gegenfag 1846 bervor, als er in Galizien gegen bie öfterreichifche 
Regierung die polnifche Nationalfahne erhob. Die Bauern überfielen ihn und richteten 
unter ihm ein Blutbad an, für das unmöglich die Öfterreichifche Regierung verantwortlich 
gemacht werden kann. Uebrigens wies jener Aufftand, wie die öfterreichifche Regie⸗ 
rung in ihren offleiellen und anonymen Bertheidigungsfchriften mit befonverer Beto⸗ 
nung berborhebt, fehon in feinen erften Vorbereitungen demokratiſche neben ariftofra- 
tifehen Momenten nah. Fürſt Adam Czartoryski warnte freilich in feiner von Paris 
aus erlaffenen Proclamation Die Aufftändifchen vor „den jungen Fanatikern“ und „ben 
republifanifchen Hoffnungen“, aber der ephemere Dictator Johann Tyffowsfi procle- 
mirte zu derfelben Zeit „Breiheit und Gleichheit“, erklärte alle Roboten, Zinfen, Ab⸗ 
gaben ꝛc. für aufgehoben und fprach in feinem Wanifeft an die Polen geradezu den 
Sa aus: „Die Titel Fürſt, Graf, Baron find abgefchafft.* Lebtere Redensart Tönnte 
auch dahin gedeutet werden, es follte Fünftighin nur niederen Adel geben. Die Un- 
fähigkeit des polnifchen Adels zu einer ftaatlichen und dabei opfernden Thätigkeit iſt 
durch die Sefchichte ſchlagend bemiefen, feine Zeit ift vorüber, und auch feine lebte 
Hoffnung, die Revolution, ſchwindet um fo mehr, je mehr die polnifchen Bauern am 
Segen deutfcher Herrfchaft und Wirthſchaft Theil nehmen dürfen und fe meitere Kork 
fohritte in polnifyen Landen das Wachsthum des dort bis dahin faft unbefannten 
Standes der Bürger macht. 

Des berechtigten und gefunden Adels Motto mar zu alter Zeit das Wort: „Ich 
dien’*, und überall da, wo er aufgehört bat, fich zuerft feiner Pflicht gegen dad Ganze 
bewußt zu fein und ihr nachzuleben, da ift feine Zeit vorbei, und er wird, nachdem 
er noch eine kurze Zeit Vorrechte genoffen hat, vergeflen oder vertilgt fein. 
| Wir haben nun unferer Skizze gemäß zuerft bewiefen, daß der alt⸗deutſche Adel 
ein nationales Inflitut war, aus welchem fich nothwendig ein privtlegirter Stand im 
ausſchließlichen Beilge aller politifchen Rechte bilden mußte. Wir haben ferner gezeigt, 
daß dieſer Stand nicht nur politifch wirkte, fondern auch eine fociale, volkswirthſchaft⸗ 
liche und culturhiftorifche Stellung eingenommen bat. Wir haben endlich in einem 
Blick auf die Adelsverhältniffe von ganz Europa gezeigt, daß überall durch die flaat- 
lie Entwidlung im Binanzflaate dem biftorifchen Adel feine politifchen echte immer 
mehr entzogen worden, daß ihm ein Abel der Intelligenz an die Seite geftellt wurde 
und daß dieſer creirte Adel wie der biftorifche als Vertreter der Grundmacht gegen- 
über der Geldmacht jetzt und in der Zukunft nur noch zwei Thaͤtigkeiten und Vorrechte 
genießen wird. Diefe find — einen focialen Zweck zu erreichen, den der Staat durch 
Polizei und Gefeß nicht erreichen kann und ein volfswirthfchaftliches Problem zu Idfen, 
welche® der Staat durch feine Strafe Androhung überwinden Fann. 





Wir Iafien dem Artikel: Adel der Gegenwart und feine Zukunft 
die kurze Darlegung des weftphälifchen Adels folgen. Sollte eine foriale Reform in 








Adel enpmalend, BR 


Breußen oder Deutfchland verfucht und dem Adel eine Meorganifation und eine neue 
fociale Stellung gegeben werden, fo mußte diefer Verfuch fich an einen ſchon beftehen- 
den Kern anfchliegen. Der beftehende Adel irgend eines Landes hätte für das Metter- 
nich'ſche Projekt, wie für die Vorfchläge des Fürſten Reiningen, von welchen wir oben 
gehandelt haben, den Kryftall bilden müſſen, an welchen fich dann Die fernere Kryftalli- 
fation der ganzen Geſellſchaft nothwendig hätte anjchließen müflen. Wir glauben, vom 
weftpbälifchen Adel aus ließe fich die Neorganifation des Adels fehr wohl vornehmen. 
In Weſtphalen haben fich alte Verhaͤltniſſe erhalten, dort ließe fich zuerft eine größere 
Berheiligung des Adels am Selfgovernment im Staate ind Werk ſetzen und auch die 
Gleichſtellung des Geburts⸗ und Intelligenz Adele durchführen. Die ſehr geiftreichen 
Projekte von Metternich und Reiningen leiden an dem Uebelftande, daß fie Entwürfe 
auf dem Bapier biteben, weil der Anfnüpfungspunft an die Wirklichkeit fehlte. Diefen 
bat von allen Staaten in Deutfchland allein Preußen in feinem weſtphaͤliſchen 
Adel und in dem noch Grund befibenden Adel öſtlich der Elbe 
Es if von großer Tragmeite, daß Preußen noch fo viele Elemente hat, womit eine 
fociale Reform ſich durchführen ließe, welche in andern Ländern fehlen. Freilich iſt die 
Zeit von 1815 an verfloffen, ohne daß etwas in dieſer Hinficht geſchehen if! Wenn 
wir gerade auf den weſtphaͤliſchen Adel unſere Blicke für die Zukunft richten, fo leitet 
und dabei die gute Lehre, welche wir aus der deutſchen Befchichte ziehen. Die weft 
phaͤliſchen Gerichte (Vehmgerichte) waren befanntlich der Anftoß, daß in ganz Deutfch- 
land Hof⸗ und Landgerichte eingeführt wurden und die Territorialftaaten einen geord⸗ 
neten Rechtszuſtand in ihrem Innern begrändeten. Das geſchah am Ende des 15. und 
Anfang des 16. Jahrhunderts. Die altberfömmlichen Inflitute hatten in Weftphalen 
fih erhalten und den Anſtoß zur Neubildung gegeben. Ebenfo wird man faft unwill⸗ 
farlich getrieben, die Anknupfung für eine Neorganifation des Bauernthums in Weft« 
phalen zu fuchen. Hat jeht Deutfchland weniger Energie ald im 15. und 16. Jahr⸗ 
hundert, bat es weniger ein Bebärniß forialer Neform ald damals nach Meform der 
Jurisdiction, fo find freilich Die Vorſchlaͤge Metternichd nnd Leiningens überflüſſig 
geweſen. | 

Adel Weſtphalens. Währenn zur Meichözeit vie Kriterien des hohen Adels 
wefentlih in der Reichsunmittelbarkeit und in der Reichsſtandherrſchaft 
befianden, find die unterfcheidenden Momente deffelben für diejenigen Bamilien, weldye 
nach Aufhebung des deutfchen Reichs die Landeshoheit verloren, theild perſön⸗ 
licher, theils Dinglicher Ratur. Der Artikel 14 der veutfchen Bundes - Alte 
bilvet die Grundlage der rechtlichen Stellung des hoben Adels in den deutſchen 
Staaten, alfo auch in Preußen, wo indefien nur in Weftphalen und der Rhein⸗ 
provinz zum eigentlichen hoben Adel gehörige Familien fich befinnen, aus Gründen, 
wie im Artikel „Adel des Mittelalter" angegeben wurden. Kraft jener völferrechte 
lichen Alte ſteht viefen chemald unmittelbaren und reichsſtaͤndiſchen Familien das 
Hecht der Ebenbürtigkeit, des erimirten Gerichtöftandes, Der Freiheit von der Milie 
tärbienftpflicht in perſoͤnlicher Beziehung zu. In dinglicher Hinficht find ihnen 
in Bezug auf ihre ehemaligen reichsunmittelbaren Bellgungen eine Anzahl anderer 
Regierungsrechte, welche weſentlich in Verwaltungs» und Juriédiktionsrechte zerfallen, 
ertbeilt worden. Die preußifche Befeggebung von 1815 und 1820 (Verordnung, be⸗ 
treffend die Berhältniffe der vormals unmittelbaren deutſchen Reichöflände im den preu⸗ 
fifchen Stantn. Bom 21. Juni 1815. — Infruftion wegen Einführung dieſes Ediktes. 
Bom 30. Mat 1820) hat, davon ausgehend, daß die Bundesgefehgebung nur die alle 
gemeinen Grundzüge ber rechtlichen Stellung der ehemals unmittelbaren und reichöftän« 
diſchen Häufer feftzuftellen beabfichtigte, deren Rechtszuſtand näher fpezifigirt und ihnen 
nicht allein die in der Bundesakte zugeflandenen Rechte eingeräumt, fondern ihnen auch 
ſolche Rechte gewährt, welche in der Bundes- Akte zwar nicht ausbrüdlich erwähnt find, 
aber aus dem Prinzip der dafelbft getroffenen Beftimmungen bervorzugehen fchienen. 
So ift denfelden auf Grund der bundesgefeglichen Beftimmung in Betreff der Steuer- 
freiheit, obgleich dieſelbe bunvesgefeglih nur in fehr befchränktem Sinne verftanden 
werden durfte, da die E. bayer. Verordnung vom J. 1807 im Artikel, 14 der B.A. 
in Bezug genommen war, dennoch fowohl Die Freiheit von perfönlichen Steuern al$ 





Adel Weſtphalens. 


auch von den dinglichen Steuern, fo weit ſte von ben Stammgutern bes Hauſes er⸗ 
hoben werben, zugeflanden. Preußen bat die mediatifirten Finſten viel rückſtchtsvoller 
behandelt als die Kleinen deutſchen Staaten, 3. B. Würtemberg. 

Zu dem hohen Adel in Weftphalen, welcher demnach durch die Bundes⸗Alte 
eine völferrechtliche Garantie für feine Stellung bat, die dem andern Adel abgeht, ger 
hören: die berzoglichen Familien von Uremberg und Eroy; die fürftlihen Familien 
von Salm-Salm, Salm-Horftmar; von Benthbeim- Steinfurt, Bent- 
heim» Tedlenburg; von Sayn-Wittgenſtein-Hohenſtein und Gayn- 
MWittgenftein- Berleburg Die fürftlihe Familie Salm-Kyrburg, melde 
früher ebenfalls dem weftpbälifchen hoben Adel angehörte, ift durch Verkauf ihrer Bes 
figungen und Abtretung ihrer Nechte an das fürftliche Haus Salm⸗Salm, fo wie 
durch Auswanderung aus den weftphälifchen Familien des hohen Adels audgefchieden. 
Bon den genannten Familien gehören nur die beiden fürftlichen Häufer Bentheim: 
Steinfurt und Bentbeim-Tedlenburg, fo wie die beiden fürftlicden Häufer 
Sayn»-Wittgenftein-Hohenflein und Sayne Wittgenflein=« Berleburg 
von Alters Her der jegigen preußifchen Provinz Weſtphalen an, und find dieſe vier 
Familien auf ihren angeftammten Beflgungen geblieben. Die fänmtlichen anderen be: 
nannten Familien find Dagegen erft in Folge des NeichB«Deputationd-Hauptichluffes vom 
3. 1803 im Wege ber Entfchädigung für ihre durch den Lüneyilfer Frieden an Franf⸗ 
reich abgetretenen, jenfeitd des Rheins belegenen Beſitzungen in Weftphalen anfafflg ge 
worden. Indeſſen gehörte urfprünglich audy Die herzogliche Familie zu Looz⸗GCors⸗ 
waarem, melde ebenfalls durch den Reichs⸗Deputations⸗Hauptſchluß innerhalb des 
früheren Münfterlandeg — mit Theilen des Kreifes Rheina⸗Bevergern und Abſplifſen 
des hanndverfchen Gebietes als Fürſtenthum Rheina⸗Wolbeck — eine Entfehäbigung 
erhalten: hatte, ) den Bamilien des hohen Adels an, welche die völkerrechtliche Garantie 
der Bundes» Akte für fich hatten. Diefes Haus ift aber für Weftphalen ausgeftorben, 
und im Wege des Erbganges find die Bellgungen der Familie Looz auf den Grafen 
von Lannoy⸗Clairvaur, fegigen Fürften von Rheina⸗Wolbeck, übergegangen. Die 
fer gehört aber keiner ehemals reich8unmittelbaren und reichöfländifchen Familie an und 
kann daber für feine Perfon und Familie auf die perfönlichen Vorrechte, welche die 
Bundes⸗Akte den Mediatiſtrten ertheilt hatte, keinen Anſpruch machen. Dagegen hat bie 
preußifche Regierung ihm die Dinglichen Vorrechte aud der Bundes⸗Akte in Bezug uf 
feine ehemals! Looz'ſchen Bellgungen gelaſſen. Darnach rangirt alfo der Fürſt vom 
Rheina⸗Wolbeck nicht zu dem weftphälifchen hohen Adel, fondern er nimmt eine eigen 
thümliche Stellung ein; er bildet für fich allein eine befondere Kategorie innerhalb des 
weſtphaͤliſchen Adels. 

Weſentlich verſchieden von den Rechtszuſtaͤnden jener mediatiſtrten Haͤuſer iſt ber 
Rechtszuſtand der bloßen Standesherren und Grundherren. Allerdings ſind 
bie faͤmmtlichen vorgenannten fürſtlichen Haͤuſer, insbeſondere auch der Fürft von Rheina⸗ 
Wolbeck, ebenfalld Stamvesherren. Die anfer ihnen in Weſtphalen befinplühen Stan⸗ 
desherren unterfcheiden fi aber von den ehemals fürftlichen Haufern dadurch, Haß fie 
Feine völkerrechtliche, durch die Bunded« Akte garantirte Stellung haben, nme in Bezug 
‚ auf ihre perfönliche Stellung lediglich dem niederen Abel angehören. In biefe Klaffe 

von Standesherren gehört zunächfi der Graf von LendsbergeGemen, weicher bat 
ehemals anmittelbare und reichsſtaͤndiſche Gebiet des Freiberen von Bömmelberg an 
ſich gebracht Hat, und dem durch allerböchfte Verleihung die Stellang eines preußifchen 
Standesherrn im ühnlicher Weife zu Theil gemorben ift, wie fle den Fürſten von Habs 
feld und Karolath in Schleflen zufteht. In demfelben Kechtszuſtande befinden fich bie 
Erben des Freiherrn von und zum Stein, bes berühmten Staatsminifters, deren Rechte 


i) Der damalige Herzog zu Looz machte geltend, daß er der Souveränetät über feine anger 
flammten, zum deutfhen Reihe gehörenden Befisungen durch das Bisthum Lüttich gemaltfam de: 
raubt worden, daß er dariiber prozeffire und der Prozeß noch nidyt entfchieden gewefen be, als Krank: 
reich jene Befikungen mit Sequefter belegte. Auch forgte man dafür, baf der damalige franzöf. 

nifter bes Auswärtigen, Fuͤrſt Talleyrand, die Gigenfchaft ber Reicheunmitielbarfeit für jene 

ungen anerfannte, Jene Luͤtticher Befibergreifung fand aber ſchon i. 3. 1320 ftatt, und durch 

Verleihung des Gerzogtitels und andere, Vortheile wurde das gräfliche Haus Looz bereits von 
Kart V. bei der Hulbigung der Niederlande entichäbigt. | 








ad us 


gegenwärtig Durch den Grafen von Kielmanndegge bertreten werben. ine beſon⸗ 
Dere Erwähnung verdient bier noch die Grafihaft Kaunitz⸗Rietberg. Dieſe Graf- 
[haft gehörte fo Lange, wie fie fih im Beſitz des Grafen zu Kaunitz befand, zu den 
ehemals reichöunmittelbaren und reichöftändifchen Beflgungen in Weftphalen; wenigftens 
wurde fie, obgleich ihrer in der Bundes Akte nicht ausdrücklich Erwähnung gefchieht, 
von Preupen dafür anerkannt. Die Grafſchaft ift indefien an den Rittergutsbeſitzer 
Herrn Tenge verkauft worden, und ſeitdem bat die preußifche Negierung Dderfelben, 
refp. ihrem -Befiger, weder die völferredhtliche Stellung aus der Bundes⸗Akte noch auch 
fonft eine bevorzugte Stellung eingeräumt. 

Durch die Gefeßgebung feit dem Jahre 1848 tft eine wefentliche Uenderung in 
den Rechtözuftänden des hohen Adels in Preußen entitanden, indem durch die nivelli- 
- sende Tendenz jener Tage demſelben nicht nur alle diefenigen Gerechtfame entzogen 
wurden, welche ſich auf die preußifche Gefeßgebung gründen, fondern fogar Diejenigen, 
welche duch die B.⸗A. unter Die Garantie des Völkerrechts geftellt find. Die preu⸗ 
Bifche Regierung hat indeſſen fchon jeit längerer Zeit den völkerrechtlichen Zuſtand 
wieberberzuftellen fich beftrebt, und Dur das Geſetz vom 10. Juli 1854 ifl audges 
fprochen, Daß Der Wienerberflellung der echte der ehemals reichönnmittelbaren und 
reichsfländifchen Haͤuſer, welche ihnen durch die B.⸗A. und die fpätere Bundesgeſetzge⸗ 
bung zugefichert find, die Geſetzgebung jeit dem Jahre 1848 nicht entgegenflehen foll. 
Nur in denfenigen Bällen, wo dieſe Häufer durch vechtöverbindliche Verträge ihrer 
bundesgefeglichen Stellung entfagt haben, bat e8 bei diefen Verträgen fein Bewenden 
(wobei allerdings fich Die Rechtsfrage aufgeworfen, ob ein folcher von einem Fami⸗ 
lienbaupte (durch revolutionaͤre Zeiten abgetroßter) eingegangener Vertrag auch für 
die Agnaten vechtöverbinplich iſt, ob 3. DB. letztere auf die Steuerfreibeit weitern” 
Anſpruch haben, nachdem das Familienhaupt derfelben durch Vertrag entfagt hat. 
Diefer conerete Fall liegt im Croy'ſchen Haufe vor). Durch die Allerh. Verordnung 
vom 12. November 1855 ift jenes Geſetz zur Ausführung gebracht, und ver Staats⸗ 
minifier von Düesberg, Oberpräfldent von Weftphalen, mit der Regulirung dieſer 
Verhaͤltniſſe beauftragt, welche unter deſſen Leitung der Staatdanwalt Hering in 
Münfter bearbeitet. Sicherem Bernehmen- nach ſind die Verhältniffe mehrerer fürftlicher 
Säufer bereitd georonet, und ſteht die definitive Befeitigung des Diefen Häufern zuge» 
fügten revolutionaͤren Unrechts binnen Kurzem zu erwarten. Verdient e8 dabei einerſeits 
hohe Anerkennung, daß dieſe fürftlichen Haͤuſer fich bereitwillig den nicht unerheblichen 
Opfern unterziehen, welche in diefer Hinficht Durch die einmal gegebenen Timflände 
ihnen zugemnthet werden möüflen, fo kann doch anderfeitd nicht genug betont werben, 
wie ganz entgegen allen gebetligten, . verbrieften und garantirten Recht, ja ſelbſt der 
gewoͤhnlichen Bllligkrit gegen ‚ven Hohen Adel eine Zeit und eine Hichtung handelte, 
welche das Recht im Umfturz erblickte und unter dem Banner ber Freiheit die Berges 
waltigung ‚[anctionirte. 

Außes nem hoben Adet, dem eigenthumlich geſtellten Fürſten zu Kiheina ⸗ Wolbec 
und ben Standesherren befindet ſich der Abrige weſtphaͤliſche Adel in keiner, von den 
NMechtozuſtaͤnden des preußifchen Adeld in den übrigen Provinzen der Monarchie ab⸗ 
weichenden Lage. Seine Situation ift vielmehr ibentifch ber bes niebern Adels ir: 
Doutichland und Preußen überhaupt Doch aber ift Die Stellung bes weſtphaͤliſchen 
Adeld, weil fie weientlich-nuf. Grundbeſitz baflrt, eine bedeutungsvollete als die Stellung 
des. niedern Adels, fobald ex feinen Grundbeſitz mehr bat, oder in einer Gegend, die 
große Städte enthält, zu fein pflegt, und. zwar dadurch, Daß die Griftenz der meiſten 
Familien durch — geſichert iſt. Indeſſen iſt zu bemerken, daß eigentliche. 
Fideicommiſſe vorzugsweiſe ‚unter dem katholiſchen Adel beſtehen; wenigſtens ſchlißßen 
Die in den proteſtantiſchen Familien aufgerichteten Statuten über die Bererbung des 
Grundbeſitzes der Regel nach Heiratben mit bürgerlichen Frauen micht aus. 

Bon den 325 Hittergäteen Wetphalend (in den Regierungsbezirken MRimften,' 
Minden und Mrasberg) find weitaus die meiften in ben Händen abeliger And zwar alter 
ritterlicher Geſchlechter; gang befonders iſt dies der Fall mit den 139 Rittergütern Im 
RB. Münfter. Daß: der ‚ritterbärtige Adel im Weftyhalen — Briefadel if ſehr wenig 
vorhanden — darchweg von Winifteriolen abflanime, iſt behauptet worden, aber nicht 


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zu. beweifen. Ziemlich ſicher ift nur, Daß viele der noch eriflirenden Geſchlechter im 
tem Münfterlande unter den fogenannten Burgmännern vorlommen, d. 5. unter 
den Dögten, welche für die Fürftbifchöfe die feſten Pläge und Burgen des Hochſtifts 
befeßt hielten, und Die daher Minifterialen waren. Dagegen iſt aber auch urkundlich, 
daß ein großer Theil der weſtphaͤliſchen Adelsgeſchlechter in eine Zeit zurück geht, wo 
ihre Vorfahren dem Stande der Minifterialen noch nicht angehörten, ſondern unter der 
Bezeichnung nobiles und liberi dem Stande der Hochfreien beigezählt wurben. Der 
Srund, weshalb in Weftphalen fich ein freier Adel ohne Lehnsverband erhielt, liegt 
darin, daß hier Feine mächtige Dynaftie, wie in Branfen, Schwaben u. f. w. aufkam. 
Ueberhaupt hört mit dem Schluffe des 14. Jahrhunderts die Minifterialität, welche 
den niebern Adel in ſich begriff, auf, und ed trat ein freies Vaſallenthum an ihre 
Stelle, eine freie Herrfchaft, dem höheren Abel allerdings nicht angebörig. Es können 
indefien nur wenige Bamilien des weftphälifchen niedern Adels ihre Genealogien bis in 
die erfte Hälfte des 12. Jahrh. binaufführen, wie 3. B. die von Drofte, melde 
bereitö zu ‚jener Zeit im Beſitz des Münfterfchen Truchſeſſen- oder Droften- Amtes, 
alfo unzweifelhaft Minifteriale waren. Iene eben erwähnte freie Serrichaft iſt eine 
althergebrachte unbezweifelte Thatfache. Eine Iandesübliche Anfchauung ift es, welche 
viele Adelsfamilien in Weftphalen veranlaßt, das freiherrliche Prädikat, als von Alters 
her. ihnen gebührend, in Anfpruch zu nehmen. Und es ift auch nachweisbar, daß zum 
Mindeſten -vom 17. Jahrhunderte an aus Courtoifle und provinziellem Uſus Dem weit 
phälifchen ritterlichen Gefchlechtern der freiberrlihe Titel zugeflanden wurde. Manche 
derjelben ließen im verflofienen Jahrhundert dieſe Titel ausdrücklich yon Kaifer beſtaͤtigen 
und folche reichöfreiberrliche Diplome (auch ein gräfliched, dad der Grafen von Mervelbt. 
Pol. den Artikel: Adel des Mittelalters, die Stelle, wo von. Leopolo I. von. Oefter- 
reich Die Rede if.) find dann von der preußifchen Megierung anerkannt worden. Andere 
Familien — ganze Gefchlechter und „Linien — führen den Breiherrntitel auf Grund 
einer Anerkennug durch Cabinets⸗Ordres, oder der Aufnahme In die rheinifche Adels⸗ 
matrifel, oder endlich auf Grund des eben erwähnten, mehr. als bundertjährigen landes⸗ 
üblichen Gebrauchs, der ihnen notorifch Die freiherrliche Bezeichnung unangefochten bat 
zu Theil werden laſſen. Nah der Anfchauung der legten Kategorie ift infofern nur 
zwifchen Reichsfreiherren und einfachen Breiherren zu unterfcheiden, ald jene Würde 
durch kaiſerliches Diplom ertheilt if, Diefe aber nur den freien Herrenſtand bezeichnet, 
der dem Begriffe des alten ritterbürtigen Adels entfpriht. Keinem ber fjüngern 
Geadelten, . oder Stadtadel⸗(Patrizier⸗) Gefchlechter, geftand man letztere Würbe 
zu, gewährte fie jedoch in Ritterſtuben und Domfapiteln, ohne hierbei .eine Anmaßung 
ſich bewußt zu fein, allen ritterlichen und ftiftsfähigen Geſchlechtern des Landes. In 
folcher Weife haben fih in Weftphalen die Begriffe Freiherr und alter landfaͤſſtger 
Adel identifiziert. (Kür Spezielleres ift zu vergleichen: v. Ledebur, Dynaſtiſche For⸗ 
ſchungen. 2. Heft. Berlin, 1855. Der bel der Provinz Weftphalen, mit befou- 
derer NRüdfiht auf den von demfelben in Anfpruch genommenen Breiherenftand.) 

Was die edlen Stabtgefchlechter anbelangt, fo fepten es die unter dem Namen 
der Erbmanner bekannten Münfterfihen Familien — welche, ohne eigentliche Patri⸗ 
zier zu fein, doch im Mittelalter bis gegen die Wiedertäuferzeit hin, wo bie Zünfte fi 
Antheil am Stabtregiment erzwangen, die Hegierung der Stadt audfchlieglich beſaßen 
— nad einem 150 Jahre dauernden Streite durch, daß i. I. 1709 ein Reichsſchluß 
dahin entſchied, daß fle als fliftöfähig und ritterbürtig zu Aufſchwoͤrungen zugulaffen 
fein. Bon da an alfo fand ihrer Aufnahme in die Domftifter nichts im Wege, for 
bald le die nöthige Anzahl von Ahnen nachweiſen Eonnten. (Vergl. den Artikel: Abel 
im Mittelalter und beſonders: Janſſen, 2. Band der Münfterifchen Gefchichtöquellen, 
worin ein folcher Ball, der von Nom entfchieden wird, vorkommt.) 

Unter Stiftsfähigfeit ift hier zunächft die Ahnenprobe zu verſtehen, welche erfor. » 
derlich war, um eine Präbende an den Domftiften Münfter, Paderborn und Osnabrück 
zu erhalten. Es wurden dazu anfangs acht, fpäter ſechszehn Ahnen, acht von Vater⸗ 
und acht von Wutterfeite, verlangt. Erft im Jahre 1785 fand indeflen das Münfterfche 
Domkapitel nöthig, die Faiferliche Betätigung dieſer Obfervanz einzuholen. Auch um 
im Stande der Mitterfchaft auf den Landtagen des Bisthums ericheinen zu Lünen, 


GIERD ER YZEREN —* RIED TIER 


mußte man, abgefeben von dem Beil eines Imbtagsfähigen Guts (dad aber fehr unbe⸗ 
deutend fein, ja in einem kleinen Haufe befteben Tonnte), die Abftammung von ſechszehn 
adeligen Ahnen, acht von Bater- und acht von Mutterfeite, erweifen, doch follte nach 
dem im Jahre 1784 vom Münfterfchen Domfapitereingeholten Eaiferliden Concluſum 
nicht nothwendig jein, daß die ſechszehn Ahnen in der oberfien Reihe von alten deut⸗ 
fchen Adel abftammten. Seit diefer Zeit wurde bei Aufichwörungen verlangt, daß in 
der oberften Meihe der fechdzehn Ahnen Fein Diplomatikus ') ſei. Die Echtheit des 
Stammbaumes mußte, nachbem die gehörigen Bewelfe geführt waren, vor der Berufung 
des ſich Meldenden zum Landtag, von einigen Standeögenofien beſchworen werden, baber 
der Ausdrud: Zum Landtag aufgefchworen werben. 

Adels⸗Theorie und Adels⸗Reform. Haben wir oben an der Hand der Geſchichte 
erfannt, daß der Adel niemals etwas Anderes geweſen ift, auch niemald etwas An⸗ 
deres jein fann und darf, als die jebesmal herrſchende Geſellſchafts-Klaſſe, 
der Stand der focial und politifch Vollfreien, in feiner Außern Lage und 
Erſcheinung bedingt und mobificırt durch die jeweilige Geftalt ded Staates und feiner 
Berfaflung, fo haben wir damit auch die feſte Bafld gewonnen, anf welcher wir un⸗ 
ſere eigene praktiſche Adels⸗Theorie zu gründen vermoͤgen. 

Wir hatten zuerſt den urſpruͤnglichen Abel aller Vollfreien, d. h. aller derer, 
welche in ihrer Geburt und dem Beſitze eines Wehrgutes die Möglichfeit und Ga⸗ 
tantie der Theilnahme an der urfprüngliden Gelammtbärgichaft, d. h. die Mitglieds 
ſchaft der damald herrſchenden Geſellſchafts⸗Klaſſe befaßen, wenngleich. hier und dort 
modificirt Durch gewiſſe fürftliche Familien, welche ſich in factifcher Nobilität, im Be⸗ 
fige der Häuptlings-Funcionen und mit der Vorflelung göttliher Abkunft, wenn auch: 
nicht ber doc thatfächlich, Über den eigentlichen Stand bed Adels erhoben. 

Wir fahen fodann mit der Steigerung der Functionen der Staatdgewalt und’ 
mit der Theilung der Arbeit die allmälig wachſende Bedeutung der Groͤße des Ve⸗ 
figed, jowie der Gewohnheit und Uebung in den Wunctionen des Regimentes, bie 
graduelle Befeitigung derjenigen, deren Grundbeflg nicht mehr die Potenz gewährte, 
den gefteigerten Anforderungen der Herrfchaft zu genügen, dad theild freimillige, theils 
tenbenzidfe, fowohl active als paffive Ausfcheiven aus der allgemeinen Wehrpflicht md. 
Waffen-Berechtigung ber Breien. Wir jahen ferner die Bildung eines eigenen, wejentlich 
auf dad Gentrum des Staates bezogenen, die Herrichaft berufsmäßig treibenden Cüvil⸗ 
und MilitärsBeamtenthumd des neu fich bildenden Lehnsſtaates, des fogenannten Feudal⸗ 
Adels, den langjährigen Kampf zwifchen Lehn und Allod und die wachfende Abjorbtion 
des urfpränglichen Adels der Bollfreien durch jenes Lehnd-Beamtenthum, fo weit nicht 
Beide mit einander verſchmolzen. 

Dabei überzeugten wir uns, daß, der Bleichartigkeit der Entwicklung im Ganzen 
und Großen ungeachtet doch die Nüancen und Faͤrbungen ber Staats⸗ und Geſell⸗ 
ſchafta⸗Verfaſſung und ihres gegenfeitigen DVerhältniffes überall eine entfprechende Ge⸗ 
ftaltung und Mopification des Adels im Gefolge hatten und daß danach die Entflehung, 
wie bie Fortbildung des Adels nicht als etwas Willkärliches, ſondern als das noth⸗ 
wenbige Nefultat des Zuſammenwirkens von Mecht und Sitte, Staat und Gejellſchaft 
und traditioneller Vollfreihoit ſich darſtellt. 

Wir ſtehen drittens vor der noch in der Vollendung begriffenen Thatfache, daß 
mit der abermaligen Veränderung des Staates und. feiner Verfaſſung, wit der Aus⸗ 
bildung bier des abſoluten, dort des parlamentariſchen Staates dafjelbe Geſetz der 
Entwicklung ſich vollzieht, daß wiederum die Bollfreiheit und der Adel der verfloffenen 
Epoche je länger deſto mehr dem Beamtenthum und der Vollfreiheit des modernen 
Staates und ber neuen Periode weicht und zum Opfer fällt, daß indbeſondere ba, 
wo das Princip des modernen Staates feiner Verwirklichung relativ am nädften ge⸗ 
treten, ber gefchichtliche Adel auch rechtlich von der Bureaufratie und deren Rangklaſſen 
abforbirt worden if, oder gar ein neuer imperialiflifcher Adel auf neuer Grundlage 
ſich entwidelt, ja daß ſelbſt dort, wo der hiftorifche Adel verhältnigmäßig noch am un« 
verfehrteften und Fräftigften iſt, Die Geldherrſchaft in ber Berfon bes reichflen Juden 


ı) Dieſet Ausdruck bezeichnet einen Brief-Miyligen, d. h. durch Adelsdiplom Geabelten. O. Reb. 





> VEBEETT YET DIE —⏑— 


den Eintritt in die herrſchende Klaſſe erzwingt und damit auch für: den. Parlamenti« 
Adel eine neue Epoche eröffnet. Ä 

Abftrabiren wir hiervon unfere praftifche Adeld-Thevrie, fo gelangen wir zu 
folgenden Sägen: | 

J. Es if ein Widerſpruch in ſich felbft, und eine feciale wie politifche Unmoͤg⸗ 
lichfeit, ven Adel einer vergangenen Epoche und deſſen eigenthirmliche Geftalt länger 
und weiter conferviren und reflauriren zu wollen, al& die Elemente und Vorausfegungen 
reihen und geftatten, welde aus der alten Zeit in die neue mit. binübergenommen 
find. Die Adelöhezeichnungen, welche vordem Aemter waren und jpäter leere Titel 
geworden find, die Adeldwürde, welche Anfangs ein auf Geburt und Beflg gegrünbetes 
politisches Recht der Vollfreiheit, demnaͤchſt für wenige Gulden Fäuflih war, — fle fönnen 
fchwerlich weder durch thatlofe Klage über den Berluft untergegangener Aemter und 
Befigrechte, noch durch kurzfichtigen Haß gegen die durch die Fortſchritte der Volks⸗ 
wirthfchaft und der geiftigen Bildung bewirkte limgeflaltung der Grundlagen forialer 
und. politifcher Freiheit, ſondern lediglich durch das rechte Berflänpnig und daB that« 
fräftige Ergreifen der unveränderlichen Xebend-Elemente und der bleibenden Aufgaben 
des Adeld bewahrt und wiedergewonnen werden. Mit den Aufhören ver ausſchließ⸗ 
lihen Berechtigung ded Grundbeſitzes, mit dem Auftreten ded beweglichen Beflges, des 
Geldes und feiner Bedentung, mit der Veränderung ber Leiſtungen an und für ben 
Staat, mußte- ſich die Baſis der focialen und politifchen Yreiheit und damit auch bie 
Baſts des Adels nothwendig und von felbft verändern, und der Kauf und Verkauf bes 
Adels war Nichts, als die Karrifatur des an fich nicht unrichtigen Gedankens, das in 
dem ınndernen Staatsorganismus ber Adel auch durch qualiflcirten Geldbeſttz erworben 
werden muß und fann. Nicht minder ergiebt es fih von felbft, dag DBerhältniffe und 
Beziehungen, welche ihre Berechtigung felbft nur in der damaligen Geſtalt des Staates 
und der Staatögewalt hatten, mit der Veränderung diefer auch ihrer früheren Berechti⸗ 
gung verluftig gehen, daß der. Feudal⸗Adel, wie er feiner Seite die frühere Vollfreibeit 
aufgezehrt, jo jet nach derſelben gejchichtlichen Logik felbft dem neuen Amts⸗Adel und 
der neuen Bollfreiheit weichen muß; daß Herrfchaftöverhältnifie, welche auf bie foriale 
Unfreibeit und Gebundenheit gewiſſer Volksklaſſen gegründet und berechnet waren, ‚mit 
der Freilaſſung diefer ihre Endſchaft erreicht haben, und daß es feine Gebäube auf 
Sand bauen heißt, wenn man nad dem Aufhören der Urſache dennoch die Wirkung 
fefthnlten zu konnen vermeint. 
| Eine ähnliche. Bewandnip hat es fodann mit der Bedeutung bed Blutes und 
Geſchlechtes. Richt, daß wir unferer Seits die Bedeutung des Geſchlechtes und ber 
Familie unterfchägten oder verwürfen; wir wiflen, daß Alles, was gegen ie Erblich⸗ 
tet des Adels vorgebracht werden kann, gegen bad Erbrecht überhaupt gerichtet ift, 
und daß eh dad Erbrecht auf feiner. nieberften Stufe fefkhalten heißt, menn man nicht: 
in gleicher Weiſe die Vererbung des politiihen, als die bed Geld⸗Capitals geſtatten 
wid. Wenn wir nichtd deſto weniger heute, wo der frühere nationale Gegenſatz 
unb hamit der weſentlichſte Theil der urfpränglichen Bebeutung ber. leiblichen Ahklama. 
mung und bed Blutes verwiſcht und in Bergefjenheit geraihen ift, dem Blute und 
Geſchlechte nicht mehr die frühere Bedeutung: zugeftehen und inöfefendere nach den 
Borbilde ded Landes, wo jene Fuflon am eheſten zu Stande gekommen und wo ber 
Adel noch heute am meiften in der Blüthe fleht, dem älteren continentalen Begriffe 
der Ebenbürtigfeit- nicht mehr die frühere. Berechtigung guerfennen, fo ſoll Damit weder. 
ber Geſchlechts⸗, noch der Erb⸗Adel verworfen, fondern mır — analog ber Metamors 
phoſe des Staates überhaupt — der privatlichde Begriff der Familie in ben. ſtaats⸗ 
reshtlichen.. verwandelt und dad Geſchlecht aus ber niederen leiblichen Sphäre von 
Fleiſch und Blut auf dad höhere politifche Gebiet des Geiſtes erhoben werden. Es 
iR da der höhere ftaatörechtliche Fortjchritt der Familien wie der Nationen, ‚die geiftige 
Abſtammung und Gemeinſchaft allmälig an die Stelle der leiblichen treten zu laflen, 
und fp die Verwandſchaft und Natipnalität des Blutes in ihren höheren geiftigen und 
politiſchen Ausdruck, in die Verwandſchaft und Nationalität des Herzens und des 
Kopfes, des politiſchen Glaubens und Denkens umzugeſtalten. Aus dieſer geiſtigen 
und. politiſchen Auffaſſung der, Familie aber ergiebt es ſich denn auch von ſelbſt, daß 














AD SRUITEDE INS TUE ALOE, Hs 


weder bie biofe Abſtammung des Blutes, noch das gewöhnliche privatrechtliche Erb⸗ 
recht, fondern nnr die geiflige Kindſchaft, d. h. adelige Lebensart, Erziehung und Ber 
ſchäftigung und die Uebertragung des politifchen Sapitald, d. h. ein qualifkirtes Erb⸗ 
recht, das Geſchlecht und defien Adel zu bewahren und zu Abertragen vermögen. 

I. Ebenſo ergiebt fich leicht von felbit, daß eben, weil der Adel und deffen eigen» 
thuͤmliche Geftalt überall und zu allen Zeiten als das Probnet der befonderen Ber 
faffung von Staat und Gefellichaft fich darftellt, e8 eben fo unrathſam als unmoͤglich iſt, 
die charakteriftifche Beftalt des Adels eines fremden Landes und Volkes von andersiwoher 
zu übernehmen und nahzuahmen. Es geſchah — worüber bie geſchichtlichen Thatſachen 
feinen Zweifel laſſen — fchon in den erſten Entwidelumgs-Stadien von Staat und Geſell⸗ 
ſchaft, Daß je nach der Individualität bes domintrenden Volksſtammes und Rechtes hier das 
Bamilien=, dort dad Beſitz⸗Recht in den Borbergrund trat, daß damit nicht nur bie 
Benennung, fondern mit dem Namen auch das Weſen und die Anfchauung bed Adels 
fi; verſchieden geftaltete, daß die demnächftige, je nach Volt und Land verfchiedene 
Ausbildung der Staatögewalt und die unabweisliche Beziehung des Adels auf diefe 
bald felbft deffen Fundamente umgeftaltete, und daß daher je nach der eigenthümlichen 
geographifchen und politifchen Lage der einzelnen Laͤnder und je nach dem Nebergewicht 
des fländifchen oder färftlichen Elemented, ein mehr oder minder zahlreicher, ein Beam⸗ 
ten= und militärischer oder ein fländifcher und parlamentarifcher Adel ſich entwickelte: 
eine Entwickelung, die am beften im der Parallele Englands und Frankreichs fi ver- 
felgen läßt. Wie e8 zur Zeit der herrſchenden Bolld-Gcmeinde die Mitgliedſchaft an 
Biefer Gemeinde und zu den Zeiten des Fendalismus die Zugehsrigkeit zu der militä« 
riſchen oder bürgerlichen Hierarchie des Lehnd » Staates war, weiche ben Adel verlieh, 
fo war ed mit der fleigenden Entwidelung der Staats⸗Gewalt Die nähere ober ent⸗ 
ferntere Beziehung zu dem Centrum des Staates, ſei es zu der Perfon des Fürſten, 
fei e8 zu einem ftändifchen oder parlamentarifchen Körper, in welthem Grund und 
Zegitimation der größeren oder geringeren Berechtigung ded Adels gefucht und gefun⸗ 
den wurden. Diefe geſchichtlichen Factoren und Momente aber zu verfennen und zu 
ignoriren, würde auch heute noch eben fo bedenklich als unflettbuft fein. Denn, wie 
in Rußland nach der Fixirung der unbedingten Selbfiherrichaft des Czaaren von einer 
poHtifchen Bedeutung des früheren gefchichtlichen Adels neben den Rangklafſen des 
Milttäre und Civil⸗Beamtenthums (Tſchinadels) nur noch in fofern die RNede ift und 
fein kann, als derjelbe periodiſch — um mit Talleygrand zu fprechen — auf die Todes⸗ 
art der Kaifer reagirt, oder wie in Frankreich der gefchichtliche Adel, nachdem er vom 
Lehnss Adel zum Hof⸗Adel herabgefunfen war, mit dem Koͤnigthum zuglei unmöglich 
geworben if, fo iſt auch anderswo bie gegenwärtige Geſtalt des hiſtoriſchen Adels, 
ſelbſt in Ihren Mängeln und Schwächen, nichts Willkurliches, ſondern ein nothwen⸗ 
diges Prodnet der Geſchichte, welches nur an feiner Wurzel und Quelle gereinigt umb 
verbeffert werben Tann. Ä 1 

Iſt dies aber unzweifelhaft, ſo iſt es auch unbeſtreitbar, daß alle weſentlichen 
und ſpeciſiſchen Veränderungen des Staates und der Geſellſchaft, auch. die neueren, 
bie Geftalt und Stellung des Adels. entfpreihend verändern werben und muͤſſen, und 
daß daher der Abel, wenn: ex. aniberd feine Zeit. und Aufgabe recht verfteht, ſeine 
Kräftigung und Mefurmation eben in diefen und in der Antnüpfung an biefe forieden: 
und politifchen Veränderungen ſuchen und finden wird. : Gonereter ausgedrücht will 
dies fagen, daß. mit ber Abftveifung des patrimonialen Gharakters ded Staated und 
mit der neueren verfaffungsmäßigen Unmvandelung der abfahıten Monarchie auch der Adel 
den Schwerpuntt feiner Stelung und Aufgabe nicht mehr in dem’ patrimorialen Weſen 
und in dem Hof-⸗Adelthnum, fondern in dem communalen und ftändifchen Weſen und: 
in dem adeligen, d. b. freiwilligen und Ehrendienſt des ſtaatsrechtlichen, die. Berfön- 
lichkeit deod Staates repräfentirenden Königthum zu fuchen hat. Alle. funftigen Bes 
firebungen des Adels, als Adels⸗Vereine und Adelsketten, Adels-Berbrüderangen und 
wie man ſte fonſt nennen mag, nicht minder die privaten Bemuͤhungen einzelner Ge. 
fAhlechter, ihren Grundbeflg und damit ihre fociale Bald wieder zu befefligen und um⸗ 
beweglich zu machen: ſte mögen den zeitigen Mitgliedern zur voräbergehenben Befrie- 
digung gereihen und bie betreffenden Familien vor dem finnuztelen. Ruin bewahren, 


Am. 





20 a 4 na a a an ee Dee AA Bee WUETIWTTENN 


die Erhaltung und Verfüngung bes Adels als folgen und feiner poltttfgen Bebeutung 
it nur auf dem communalen und ftaatlihen Gebiete zu finden. Und — es ift die 
eilfte Stunde! 

I. Der Abel ift nur dann und in foweit wirklicher politifcher Adel, ald er bie 
jedesmal herrichende Geſellſchafts⸗Klaſſe ift, und er finkt in demfelben Maße zu einer 
dem lintergange geweihten privilegirten Klaffe oder Kafte herab, ald er anfängt, Pri⸗ 
vilegium und Vorrecht anftatt der Pflicht und bed Mechtes, und bie Früchte anſtatt der 
Arbeit der Herrichaft zu ſuchen. Wie mit der Aufhebung der gleihen Schug- und 
Kriegöpfliht auch der gleiche Adel aller Freien, wie mit der Ausbildung ˖des Lehns⸗ 
Beamtenthums der Adel der Vollfreien überhaupt, fo ift auch in neuerer Zeit der 
Feudal⸗Adel dort, wo er am meiften feines Dienftes und damit feiner Herrſchaft ver⸗ 

gefjen und dennoch im Befige der Früchte diefer Herrfchaft geblieben war, mo er, eben 

weil er nicht mehr zegierte, durch die ausfchließliche Beichäftigung mit ſich felbft und 
feinen Sonberintereffen in der öffentlihen Achtung in demfelben Maße gefunfen, als 
er in feiner eigenen gefliegen war und — wie ſich dies auch an anderen Orten wies 
derholt — um fo hochmäthiger und anmaßender wurde, je weniger er politiſch bedeu⸗ 
tete, in einer Nacht zum größten Theil durch ſich felbft und fein eigenes böfed Ge⸗ 
wiffen hinmweggefegt, wohl bemerkt, ohne daß ınan feine Befeitigung — und das iſt 
das Lehrreichfle daran — in dem Organidmus des Staates ald einen Mangel oder 
Verluſt empfunden hätte. Nur dort, wo die alten Serrfchaftöverhältniffe noch am un⸗ 
berührteften geblieben, war dem Abel feine urfprünglihe Stelung in ſoweit bewahrt, 
daß es ihm noch gelang, das Volk für das Königthum in den Kampf zu führen un» 
feines ‚Adels wärbig zu fterben. Wie anders dies Alles dort, wo der Adel, eben weil 
er fih mit Sicherheit als herrfchende Gefelichaftd-Ktlafle weiß, von Engherzigleit und 
Hochmuth, von quälender Beforgnig vor fremder Nichtachtung und von eigener Ueberhebung 
gleich weit entfernt, ſich vorzugsweiſe mit den Interefien des Staated und nur mittels 
bar mit feinen eigenen bejchäftigt und feine Grenze ſtets flüfftg erhält, weil er alle 
Bolffreien nad wie vor ald feines Gleichen betrachtet. Dort if der Adel nicht arifte- 
Eratifcher als dad Volk und, weit entfernt, durch ihn die Freiheit gefährdet zu fehen, 
iſt es die gemeine Breiheit jelbft, welche in ihm, wie ihre ſchoͤnſte Bluͤthe, jo auch ihren 
ftärfften Hort zu erbliden gewohnt if. Den englifchen Adel aufheben, ſchon der Ge⸗ 
danfe ift eine Unmöglichkeit; es hieße das nichts Anderes, als England und den Staat 
England felbft aus der Geſchichte ftreichen. 

Freilich if} Damit auch das Urtheil gefprochen über eine felbfi von befreundeter 
Seite vertretene Anſchauung, melde dem Adel feine redyte Stellung anzuweiſen meint, 
wenn fle ihn als den Stand des forialen Beharrens bezeichnet. Ein Stand, der nur 
bad Beftern und nicht das Heute vertreten und leiten will, über den muß bie Gefdyichte 
zur Tageborhnung gehen. Führer und Richter des Bolfes in Allem unb für Alle, 
oder Ballaft für die Bewegungd- Partei: — wir zweifeln faum, daß man heute auch 
auf dem Bontinente verfiehen wird, warum ber englifche Mel ſelbſt den Meetings 
des Schuputzerjungen praͤfidirt. 

Noch iſt zum Glück auch außerhalb Englands die Herrſchaft des Adeld nidit 
völlig verloren, noch bat zum Gluͤck auch in Deutſchland der hiſtotiſche Adel feine ur⸗ 
fprängliche Stellung in feiner biöherigen patrimonialen. und grundherrlichen Gewalt, 
ſowie in dem Civil⸗ und Militär-Beanttentbum des abfoluten Staates fo weit bewahrt, 
um barin wenigftend eine Anfnäpfung für weitere Bildungen zu gewähren, und zwar iſt 

TV, diefe Anknupfung für Bewahrung und Fortbildung des Adels in und mit 
deſſen Verhaͤltniß fowohl zu ben veränderten Inftitutionen des Stanted, ald zu der 
fortalen und politifchen Gemeinfreiheit und Bollireiheit gegeben. . 

Wir fahen hier zunächft das warnende Beifpiel des urfprünglichen Adele der 
Vollfreien, melde, indem fie theild grollend theild gleichgiltig neben bie Entwidelung 
bed Lehnsſtaates fi flellten, almälig neben dem neuen Lehns⸗Adel in ihrer ſocialen 
und‘ politiihen Bedeutung verſchwanden und wohl gar Genoſſen ihrer früheren Hin⸗ 
terfaffen wurden. 

- Wir haben fodann die Erfahrungen des frangdftfchen Feudal⸗Adels, der, anflatt 
bie Gemeinfreiheit ald feine Bald und dad Bürgertum als feinen fängeren Bruber. 





GERT ALTEN. BAT WEDER! —. OR 


zu betrachten, fi hochmüthig über die anderen Stände erhob und mit.ber Freiheit 
des Vollkes natürlich auch feine eigene verlor, der, anftatt fein Weſen ſtraff und feine 
Grenzen fläffig zu erhalten, in dem Maße, als er im Innern erfchlaffte, nad) Außen 
fi um fo fchroffer abſchloß und dadurch ‘zu einer politiſch eben fo gehaßten als ein» 
flußloſen Kaſte verknoͤcherte; der, anftatt fein Adelsrecht in der perfönlichen Vertretung 
der Gemeinfreiheit und in ber bevorrechteten Arbeit am Staat und an ber Krone zu 
erbliden, ich mit dem Genuß von Geld» und Ehren-MRechten für vordem geleiftete 
Dienfte begnügte, die Arbeit am Staat dem Roben⸗ und Geld⸗Adel und ben Rotüriers 
überließ und zur Vergeltung über Nacht ald Staatsdrohne ausgetrieben wurbe, 

Wir beflgen endlich ald Maßſtab für’ die Gegenwart den englifhen Adel, ber, 
weil er eben nichts Anderes ift und nichts Anderes fein will, ald die Spike und das 
Haupt eine in allen feinen Gliedern ariftofratifchen Volkes, und weil er von feinem 
erfien Auftreten al8 Stand neben feiner eigenen mit richtiger Erkenntniß ftet6 auch Die 
Freiheit der anderen Stände vertreten, feine geichichtliche Vollfreiheit und feinen poli⸗ 
tiſchen Einfluß nicht nur bewahrt, fondern — allerdings zum Theil auf Koften bes 
KönigtHumd — entſchieden gefteigert; der, meil er fich ſtets eben ſowohl feines Zu⸗ 
fammenhanges und feiner Gemeinſchaft mit den Gemeinfreien, als feiner hervorragenden 
Stellung bewußt geblieben ift, mit dem flärffien Standedgefühl die flüffigfte Grenze 
verbindet und gleichmäßig von innerer Erfchlaffung, wie von Außerer Erftarrung und 
Ueberhebung fi frei erhalten hat; Der, weil er das Abelsrecht ſtets ald ein poli« 
tiſches Hecht betrachtet und das Vorrecht bed Adels wenigftend prineiptell nicht in dem 
arbeitölofen Genuß und in höflfchen Ehren, fondern in dem unentgeltlichen Ehrendienſt 
an Staat und Gorporation gefunden, anch heute noch mit dem Staate und deflen Re⸗ 
gierungd-Drganismus fo eng verbunden, ja identifleist ift, daß er nur mit Alt⸗England 
zugleich befeitigt und aufgehoben werden kann. 

Scäwerli wird es einer näheren Ausführung bebürfen, welchen Adel und aus 
welchen Gründen wir ihn zur Nachahmung empfehlen, freilich nicht, wie Manche wohl 
gemeint haben, ald Original zum bloßen Eopiren, fondern als Vorbild und Muſter 
zur Nachbildung unter anderen Verhältniffen und in anderem Stoffe. 

Es if nur eine ber gangbaren Phrafen des Liberaliomus, daß in England der 
Adel kein anderes Vorrecht habe, ald die Patrie. Denn nicht allein, daß die englifche 
Bairie ein ganz enormes Adels⸗Vorrecht ift, ein Vorrecht, defien Gleichen in anderen 
Ländern ſchwerlich noch gefimden wird, es konnen auch nur diejenigen fo fprechen, 
weiche den englifchen Adel auf die geringe Zahl der Mitglieder des Oberhaufes be 
fhränfen. Das englifhe Volk ift aber ein ariftofratifches, nicht weil es einige hun⸗ 
dert Lords in feiner Mitte zählt, fondern weil die Maſſe ver ſocial und politiich 
Freien die Rechte des urfprünglichen Adels der Bolfreien, hauptſächlich dabei durch 
die Edniglihe Gewalt des normännifchen Erobererd geftüßt und unterflügt, be 
wahrt und inöbefondere durch das Recht wählen und gewählt werden zu tünnen, Mit⸗ 
glied der herrſchenden Klaſſe geblichen if. Ob Leptered ein wirkliches Vorrecht, 
darüber haben ſich die englifchen Chartiften bereits wiederholt auf dad Einbringlichfte 
audgeiprochen. 

In diefer Homogenität des politifchen und focialen Zuftandes aber, in biefer 
weniger rechtlich und qualitativ, als nur tbatfächli und quantitativ unterichledenen 
und geglieberten Gleichartigleit der Situation, im diefem gleichmäßigen Bewußtſein bes 
gegenfeitigen Bebingt- und Getragenwerbens ift dad Geheimniß der Harmonie ber 
Boltsklafien, der politifchen Kührerfchaft des Adels und des Wohlgefallend des Volkes 
an feinem Adel befchloflen. Denn wie die Mafle der Gemeinfreien in dem Abel nur 
den perſoͤnlichen und perfonificirten Ausdruck ihrer eigenen fidatlichen und corposativen 
Stellung erblidt, fo achtet und fehägt der Adel die anderen Stände — wenn man 
überhaupt auf England den continentalen, im Worte „Stände” gegebenen Begriff an⸗ 
wenden darf — ald den corporativen Ausdruck feiner eigenen Stellung und Geltung, 
als die freiheitliche Baſis der flaatörechtlihen Pyramide, von welcher er jelber Die 
Spige if. 

* Es tritt hinzu, daß dort, weil die „Familie“, analog dem Adel ſelbſt, ſtets als 
ein politiſcher Begriff behandelt worden ift, mithin bie continentale Auffaſſung dex 


A 0 4 Bee ee ee u 1 


Ghenbürkigfeit und der Titular⸗Adel der jüngeren Söhne feine Aufnahme gefunden 
haben, ſtets eine lebendige Wechſelwirkung zwiſchen dem Perfonal- Abel und dem übri- 
gen Volke .flattgefunden hat und zugleich durch dad Zurüdfirömen der jüngeren Söhne 
(cf. die folgende geiftreihe Bemerkung von Stein in feiner Volkswirthſchaftslehre 
©. 178) das geiſtige und politifche Eapital des Adels durch alle Klaffen verbreitet 
und fo dad materiell allerdings geringere Erbtheil „mit dem freien perfönlichen Ele⸗ 
mente einer ber verlaſſenen höheren Stufe entfprechenden Erziehung und Lebensweiſe 
begleitet wird, fo daß die Erziehung die perfönliche Kraft und die kindliche Gewöhnung 
ben Drang und Trieb geben, in die Stellung des Erblaſſers zurüdguftreben, und damit 
Energie und Thatkraft audy in den anderen Klaſſen des Volles heimisch zu machen.“ 

Rach dieſer unferer Anſchauung wird auch der gewöhnlichen Eintheilung des 

englifchen Volkes in Pairie, Gentry und fonftige® Volk unfchwer die rechte Stelle 
anzumweifen fein. Zuerſt die Pairie, der reichsunmittelbare hohe Adel, weil eine yer- 
fönliche, unmittelbare Stellung zum Reich enthaltend und gewährend, fodann bie ſog. 
entry, der höhere Grafſchafts⸗Adel, weil im Beflg des Iocalen Negimented und 
factifch die Maſſe der Wahlfähigen in fi beichließend, und drittens die Maſſe der 
wahlberechtigten Vollfreien, letztere den nicht Wahlberechtigten gegenüber das 
fociale und politifhe Vollbürgerthum darftellend, hinter der Gentry nur in Bezug auf 
das locale und corporative Regiment zurüdtretend, dagegen in Bezug auf den Ges 
ſammiſtaat wenigftens rechtlich durchaus gleicdhgeitellt. 
Es iſt dies diejenige Gradation der VBollfreiheit nnd Folgeweiſe des Adels, 
welche, fo weit nicht Gentralifation und Büreaufratie die Vollfreiheit überhaupt 
erftiden, ſich in allen neueren Staats = Organismen wiederholt oder wenigiiend 
zu wiederhulen ftrebt, immerhin mit der Maßgabe, dag man fie hier durch mißber- 
ftandene Wahlgejege zu drei Cenſus-Klaſſen earrikirt und dort mit Ignorirung ihrer 
eigentlichen Bafld der Vollfreien in drei Graden, des hoben, mittleren und niederen 
Adels, feſtzuhalten fucht. 

Veberhaupt fcheint man, und zwar am aründlichiten auf der Seite, wo man 
am meiften für die Gemeinfreiheit zu eifern ſich anſtellt, völlig wergeflen zu haben, 
daß dad weientlihe Hecht des deutſchen Adels in nichts Anderem befieht und beftand, 
ald in der vollen deutfchen Freiheit, und daß es daher bei dem Adel und für den 
Model vor Allem eben auf jene Erwerbung und Bewahrung der realen deutſchen Frei⸗ 
heits⸗Rechte ankommt. Diefe deutfche Kreiheit aber war — wie felbfi Welder 
anerkennt — „wicht jene negative Freiheit des Freigelaſſenen, der bei Ber Freilaſſung 
auf dem Kreuzwege mit der legten Ohrfeige die Wahl erhält, ledig und los nach allen 
vier Weltgegenden zu Inufen”, fo daß darüber hinaus fchon das Adelöprivileg begönne, 
nein, diefe Freiheit war cine fehr pofltive, und zwar (mir eitiren: Welder, Adel im 
Mittelalter) „a) als Verbürgung und feſte Grundlage für die felbfiitändige freie 
Perſoͤnlichkeit und ihre freie Erfüllung der genofjenfchaftlihen Pflichten, frcied Grund⸗ 
eigonthum mit Schug und Mepräfentationdgewalt über die Butöbewohner, Sinterjaften, 
über die Familie im engeren und weiteren Sinne. b) Volle politiſche Freiheit, öffent- 
lihe Stimmberedtigung, Standfchaft, freie Stenerbewilligung und Stimme im Gericht, 
zur Bewahrung des gemeinschaftlihen Wohl! und Rechtes des Vaterlandes, zur 
Schaͤtzung der felbfifländigen perfönlihen Rechte und zur Vertretung der Gutshinter⸗ 
faflen. c) Recht und Ehre der unmittelbaren Theilnahme an der gemeinjchaftlichen 
Wehrpflicht zur Vertheidigung des Vereins und an der Waffenbrüderſchaft für He.“ 

Iingveijelhaft aber werden diefe Rechte auch damals fchon von Allen, welde 
Davon ausgeſchloſſen waren, ald Vorrechte empfunden worden fein, ja es dürfte auch 
gu jenen Zeiten ſchon die Zahl ver Ausgefchlofienen größer gewefen fein, als die Zahl 
ber. Bereshtigten, und es heißt daher, jelbft für den Liberalismus das Privilegium feiner 
hiſtoriſchen Unwiſſe nheit und politifchen "Charlatanerie auf unerlaubte Weiſe miß⸗ 
braudyen, wenn er der Sache den Anftrich zu geben verſucht, als wenn aud in dem 
alten: Deutichland fchon der Verfaffungd- Artikel gegolten: „alle Deutſchen find vor dem 
Geſetze gleih"; wenn er das ganze Gapitel vom Adel und deſſen Vorrechten mit den 
banalen Schlagwörtern: PBrivilegium, Bauftrecht und Feudalismus abfertigen zu können 
meint, ja menn es — kaum glaubliher Weile — feinen vermeintlichen Kampf um die 








IIVFS IRB UREU SEDVED # SEIDEL, PB 


Wiedergewinnung jener uralten Adels⸗Rechte für die Mafle ber ſoeial und politiſch 
Bollfreien mit der Beraubung und Ausplünderung Derjenigen beginnt, welche jene 
Rechte noch ganz oder zum Theil bewahrt. Vielleicht, daß man auf biefe Weife, wie 
ed in Frankreich geichehen, jo auch in Deutfchland den biftorifchen Adel in ber That 
befeitigen kann, doch nur, fo wie dort, zugleich mit der Freiheit des Volkes, und nur, 
um alsbald einen wirklich gewaltfamen und fittlih wiberwärtigen Geld» und Militär- 
Adel auf der Stätte des unterbrüdten erwachlen zu fehen. 

. Allerdings ift ed auf der anderen Seite nicht wefentlid) geiftreiher und politi= 
ſcher, wenn ein Theil des gefchichtlihen Adels feine Macht in feiner geringen Zahl, 
feine Bedeutung in feiner Abfonvderlichfeit, fein Wachsthum in feiner Abfchließung und 
feine Zufunft in feiner Vergangenheit ſucht. Was nicht zunimmt, dad nimmt ab, 
was nicht wächt, das verfimmer. Was die Speife dem Leib, daß ift die Aufnahme 
und Alftmilation gleichartiger Elemente für die politifchen Körper; aus dem Standeb⸗ 
Adel in den perjönlihhen Adel, aus dem Stande der Freien in den Standes Adel: ed 
ift das Geheimniß der ſtets jungen Kraft des englifchen Adels, daß er jede politifche 
Potenz in fich aufzunehmen und mit ſich ſelbſt und feinem Intereſſe zu verfchmelzen weiß. 

Mit Diefer unferer Auffaffung und Darftelung flimmt ed in Wefentlichen. über - 
ein, wenu Stahl ald die Quelle und Die inımer erneuerte Urfache des Adels den Krieg 
bezeichnet. Er jagt, die Friegerifche Kraft verleiht nach Naturgefeg die Herrfchaft, und 
der da die Anderen ſchützt, bat ein Recht, fie zu beberrfchen. Der König if feiner 
erfien Bedeutung nach Kriegöfchußherr; Der Adel der Stand der kriegeriichen Beichäfr 
tigung und der hervorragenden friegerifchen Faͤhigkeit. Was im Syſteme der Kaſten 
die Kafte Der Krieger, das ift im Spfleme der Stände der Abel. 

Der arbeitende Stand verliert fich in der Gegenwart und ihrer Sorge, der Stand, 
der höherer Beichäftigung zugewendet ift, und Der die Ihaten des Volkes vollbringt, 
pflegt das Andenken der Vorfahren und ihres Ruhmes, Hat fein Bewußtfein in Der 
Geſchichte. Das find die Momente, melche in Wechfelbedingung die Stellung des Adels 
begründen: £riegerifches Leben, Reichthbum, Erziehung und Sitte, Stammbewußtfein und 
ald Ergebaiß zugleich und Urſache alles deſſen — Herrſchaft. 

Diefe urfprüngliche Stellung des Adels enthält aber einen Drud gegen die Uebri⸗ 
gen. Der Bortgang und Die Aufgabe ift daher die Emancipation der anderen 
Stände Die orientalifche Kaſtenverfaſſung fehließt folgen Bortgang aus. In den 
antifen Hepublifen erfüllt er eben die politifche Gefchichte, bier aber ift der Zeitpunkt, 
in welchem das Bolf den völligen Sieg über den Adel erhielt, zugleich auch derjenige, 
mit welchem der DBerfall des Staates beginnt. In den germanifchen Staaten erfolgte 
diefer Fortgang Dadurch, Daß Die Momente, weldye urfprünglich in unauflöslicher Ver⸗ 
bindung die Stellung des Adels ausmachen, einzeln abgetrennt an andere Stände fals 
len. Bor Allem kam bie politifche und Friegerifche Beichäftigung, der Dienft bed 
Fürſten, an einen Stand beionderer Borbildung und Faͤhigkeit; die Entflehung bes 
Beamtenweſens und Der ſtehenden Here ift Der erfte und mächtigfte Durchbruch des 
Adels. Der Reichthum Eamı neben dem adeligen Grundbeſitz zugleich an den bürges« 
chen Geloheflg und vielfach erwarb Letzterer auch von Erfteren. Die höhere wiſſen⸗ 
fchaftliche Bildung, dereinft der ausfhließlihe Beſitz des dem Adel gleichitehenven Gle⸗ 
rus kam num auch an Die Gelehrten, Künftler, Beamten, und die feinere Lebensſttte 
ward mehr und mchr zum Gemeingut aller vermöglichen Klaſſen. Damit war Die 
Emancipation des Volkes gegenüber dem Adel vorbereitet. Vollbracht wurbe ſie end⸗ 
lich durch Die Idee der menfchlichen und flaatöbürgerlichen Gleichheit, welche das ener⸗ 
gilche Princip Der Zeit ift. 

Das ariftofratifche Element beruht aber im Allgemeinen, fpecielle Zuſtände aus⸗ 
genommen, naturgemäß auf zwei Vorausfegungen: auf Grundbefig und anf hifto- 
rifher Continuität des Standes, 

Der Stand der großen Grunbbefiger ift der einzige unter den Vermögensfländen, 
der ohne Arbeit und Sperulation, obne auf Steigerung feined Erwerbs bedacht zu 
fein, fein Vermögen erhalten kann. Er allein ift daher frei von gewinnfüchtiger Sorge, 
auf die höheren Angelegenheiten der eigenen Bildung und der öffentlichen Intereſſen 
gewiefen. Der Grundbeſitz allein enthält ferner eine Stetigkeit des Vermögens für die 


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Generationen und deren Verbuͤrgung, und damit die Haltung, welche dad Bewußtſein 
verleiht, nicht erft zu Vermögen gekommen zu fein und nicht um Meberlieferung anf 
Die Nachfommen bange fein zu müffen. Der Grundbeflg hat endlich fein Interefle am 
untrennbarſten mit Dem des Landes verfnüpft. Ueberdies ift der Grundbeſitz Die natür- 
liche Unterlage aller Bermögenderzeugung und alles focialen Zufammenbangee. Er if 
fo die Eulmination aller Bermögenöftellungen und darum der naturgemäße Träger 
jenes erforberlihen ariftofratifhen Elemented. Eine nicht minder weientlihe Voraus⸗ 
feßung deſſelben aber ift die hiftorifche Gontinuität des Standes, Die auch ſchon in 
einer Wechfelbevingung mit jener erften ſteht, indem fle bei einem wohl eingerichteten 
Grundbeſitz ſich von felbft ergiebt und ohne denſelben nicht Leicht fich erhält. Die 
Stetigkeit des Beſitzes in denfelben Familien ift die Vorbebingung, um jene Haltung 
den einzelnen Befigern, bez. Familien zu verleihen; fle ift die Borbebingung, um einen 
Zufammenbang ded Standes und einen Stanvesgeift zu bewirken, ohne die er Feine 
politifhe Bedeutung bat. Sie ift endlich die Grundlage für die Bewahrung ber 
Stammerinnerung. Diefe nun muß an fich ſchon ale ein höherer Zuftand betrachtet 
werben, weil fie ein Zuftand tieferer Selbftbemußtheit, alfo in dieſer Beziehung größerer 
Berfönlichkeit ift; fie enthält aber auch fittlichde Impulfe: eine Hebung der Gefinnung 
durch Die ererbte politifche Tugend und bei entwidelterem öffentlichen Leben auch durch 
die ererbte politifche Beſtrebung. Wie der einzelne Nenſch an feiner bisherigen Ber 
währung einen Halt und Antrieb befommt für die Zukunft, fo auch die Familie und 
der Stand. Sie bewirkt auch eine Verflechtung wie der &amiliengefchichte, fo des 
Familien⸗Intereſſes mit dem des Landes, und endlich ift fle im Allgemeinen der Boden 
ftetiger, den Zufammenbang mit der Vergangenheit bewahrender (confervativer) Ge⸗ 
finnung. 

Es handelt fich aber in der Gegenwart nicht bloß um eine Grund» Ariftofratie 
überhaupt, fondern zugleich um den ganz beftimmten beftehenden Adel mit feiner ſpe⸗ 
cififchen Gefchichte, ald früheren Träger der Feudalberrfchaft, mit feiner fpecififchen 
Art und Gefinnung, feinen fpecififchen ftttlich polttifchen Traditionen, es handelt fidh 
um den noch vorhandenen „romantifchen”" Adel, wie Stahl ihn nennt. Gegen 
ihn gerade ift Die Ungunft der öffentlichen Meinung. Eine Grund « Ariftofratie jener 
Art ließe man fich allenfalld gefallen, wenn nur dieſer romantifche Adel, der Reſt des 
Mittelalterö, aufbörte, jede Spur und Grinnerung deflelben in der Form und Sitte 
des öffentlichen und gefelligen Lebens ausgetilgt würde. Aber mit Unreht. Es ift in 
allen Dingen und fo aud bier nicht möglich, ein Princip zu realificen, außer in einem 
ganz beftimmt gegebenen Stoff, in einem Element, dad als Träger defielben ſich vor⸗ 
findet. Es ift eben nur dieſer romantifche Adel, der den überwiegenden Grundbeſttz 
inne bat, es iſt nur er, der eine hiftorifche Erinnerung beflgt und fte bewahrt bat, 
defien Geſchichte ald Stand und in feinen einzelnen Familien mit der Gefchichte des 
Landes verflochten if. Aber noch mehr als dad! Gerade diefer Adel als folcher bat 
eine Bebentung für die Nation, die nicht unbeachtet bleiben darf. Sie befteht in 
feiner beſtimmten eigentbümlichen Geflnnung, der perjdnlihen Hingebung an den 
Bürften und den fpecififchen Begriffen von Ehre und edler Sitte, die wir mit Dem 
Namen der „Ritterlichkeit“ bezeichnen. Das find Züge, die biftorifch tra⸗ 
bitionell in dieſem Stande ihren Sitz haben, fte haben fich theilmelfe von ihm 
aus in weiteren Kreifen verbreitet, im Militär, in ven höheren Ständen überhaupt; 
aber er ift Doch der Hiftorifche Ausgangspunkt und bi8 jet noch ein Hauptträger 
diefer Züge germanifcher Geſittung. Es ift alfo eine fittlihe Individualität 
und zwar eine hohe edle Individualität in diefem Stande, und deshalb foll er nicht 
zerſtoͤrt werden. 

Jedenfalls find die eigenthümlichen fittlichen Triebfebern der neueren Zeit, wie 
die Wirklichkeit fle und zeigt, etwa die der franzöflfchen Bourgeoifle ober des Deuts 
ſchen Induftrialismus oder liberalen Patriotismus, doc nicht der volle Strahlenkranz 
menfhlicher Sitte, der Feiner Ergänzung mehr bebürfte, Feinen Zug außer ihm ſelbſt 
zuließe. Insbeſondere aber bei der conftitutionellen Richtung der Zeit ift ein Element 
nicht zu zerftören, das zugleich die perfänliche Hingebung, dieſe fpecififche Triebfeder 
ver Monaschie, ſtützt. Das, wad am Mel am meiften in die Augen fällt, mag 


J 





RITREHT. 3a 


freilig — wie Stahl. Hinzufügt, — bäufig nicht jene edle Lebensfitte fein, ſondern 
eine anmaßliche Ueberhebung und eine innere Hohlheit bei gefchliffenen Formen, das 
fchlechte Junkerthum flatt der Achten Mitterlichfeit. Aber das ift nicht minder auch 
bei den anderen Ständen der Ball. Auh am Bürgerflande fällt in der That nicht 
der edle Gemeinfinn, die Hingebung an die Öffentliche gefeßliche Orbnung uns immer 
vorberrfchend in die Augen, fondern eben jo oft der bodenlofe Stolz des Reichthums, 
Die Profanität des Urtheild und jene Table d’höte- und Eifenbahn- Gefinnung: „mo 
ih gezahlt Habe, da ftehe ich Jedermann gleich und iſt Nichts über mir, das Ehr- 
furcht fordern fan.” Die VBürgerlichkeit bat ihre Schattenfeite jo gut, als die Ritter⸗ 
lichkeit, und in ihrer Neinheit find beides individuelle fittliche Züge von abfolutem 
Werthe, die nicht gegen einander verglichen werben Fünnen, daß Eine dad Andere 
aufheben und an die Stelle treten foll; fondern es ift ein Vorzug, folche Elemente 
neben einander zu baben, jedem jein Recht und feine Geltung zu lafien. Die deutfche 
Hation, fagt Goethe, follte froh darüber fein, zwei folche Kerle zu haben, wie mich 
und Schiller; das gilt auch von den Ständen mit ihrer ſpecifiſchen Würbe. 

Die Erhaltung dieſes romantifchen Adels beruht nun vor Allem darauf, daß 
derfelbe eben das pflege, was Der Urſprung feiner ausgezeichneten Stellung ift, doch mit 
der Maßgabe, daß er das Feld feiner politifchen Thätigfeit eben fo verbreitert und refp. 
verändert, als feitvem das Gebiet des Staates felbft ein größeres und andere gewor- 
den ifl. (Bergl. übrigens die Artikel Ariftofratie, Junkerthum und Ritterſchaft.) — 

Die Anwendung unferer in den obigen Punkten bargelegten praftifchen Theorie 
anf andere Länder und indbefondere auch auf Preußen dürfte leichter fein, als ed auf 
den erften Anblick erfcheint, doch darf hierbei felbftredend wiederum nicht außer Acht 
gelafien werden, daß die abweidhende Stantöverfaffung, fo wie die eigenthüntliche 
Lage und Situation ded Staats, eine entſprechende Abweichung ber Geftaltung bes 
Adels mit Nothmendigleit bedingen. Für Preußen find deshalb, außer feiner Ge⸗ 
fhichte, fein Königthum, fein Civil» und Militär Beamtenthum, feine abfonderliche 
Lage in Deutfchland und Europa eben fo viele unabmeislihe Worberfäge, welche in 
fo weit eine von England abmeichende Geftaltung feines Adels bedingen, wie dies 
des Näheren in ven Artikeln England (Adel) und Preußen (Adel) — auf 
welche wir hier verweifen — audgeführt werden wird. 

Adelaide, eine der zwölf Grafſchaften, in welche die Provinz Süd» Auftralien zer- 
fällt, grenzt im Welten an den St. Bincent-Golf, im Norden an die Graffchaften 
Gawler, Light und Eyre, im Often an die Graffchaften Sturt und Hindmarſh und 
im Süden an letztere. Bon den Hügelfetten, die die County durchfchneiden, flreichen 
Die Loftg «Berge in nordweſtlicher Richtung, und nachdem fle in ihrem erhabenften 
Punkte eine Höhe von 2270 (preuß.) Fuß erreicht haben, fallen ſie nach Sübweften 
bin ab und endigen etwa 7, Meilen füblich der Holbfafl-Bai an der Küfte des St. 
Bincent- Golfes. Jenſeit, parallel mit dem Lofty⸗Gebirge, Läuft die Mount-VBarker- 
Kette; der Kamm derſelben ift 775 Buß über der angrenzenden, 1550 Fuß über ber 
Meeresflaͤche liegenden Landſchaft und bildet ein Plateau, auf dem gute Schaf- und 
Rinderweiden find. Unter den Flüffen der Grafihaft, von denen der Gamler, auf 
eine Strede die County gegen Norden begrenzend, der Onfaparinga, an deflen Mün⸗ 
dung ſich eine bebrutende, aber leicht zu entfernende Sandbarre befindet, der Sturt- 
und der Tleine Para⸗River nur unbebeutend find, ift der Torrens, fo genannt zu Ehren 
des Oberſten Torrend, noch der wichtigfte, verbient aber, gleich vielen der „Flüſſe“ 
genannten Gewaͤſſer Auftraliend, den Namen „Fluß“ eigentlich nur während ber Re⸗ 
genzeit, wo er tief und reißend einherflürzt, große Stücke feines fteilen Ufers zerflörend 
und häufig in Waflerfällen über gigantifche Bäume binwirbelnd, die er von feinem 
Rande loägeriffen und an engeren Stellen in feinem Bette der Quere nach eingeflemmt 
hat. In der trodenen Jahreszeit aber bietet er das eigene Schaufpiel eines Fluſſes, 
der nicht fließt und dennoch Wafler enthält. Das Bett des Torrend befteht nänılidy 
faft aus Tauter einzelnen Weitungen (meift mit fleilem, 15 bis 20 Buß hohem fer), 
die felbft im Sommer eine nicht unbeträchtliche Tiefe haben und bei verfchiedener Ränge 
felten mehr als 30 oder 40 Fuß breit find, oft nur eine weit geringere Breite be⸗ 
figen. Diefe Weitungen, einzelte Reſervoirs bildend, werden durch Außerft flache 

Wagener, Staats. u. Geſellſche⸗Lex. 1. 25 





Stellen von einander getrennt, die ursprünglich vielleicht dadurch entftanben, daß van 
der Strömung fortgeriffene Bäume ſich einflemmten und einen Damm bildeten, gegen 
den die Maflen von Schutt und Erde abgelagert wurden und fo eine flellenweife Er⸗ 
böhung des Bettes bewirkten, über die hernach in jchmalen Einfchnitten das Waſſer 
des oberen Mefervoird mit dem unteren eine Communication wieberherfiellte. Leber 
dieſe flahen Stellen fließt in der heißen Jahreszeit das. Wafler in faum fupbreitem 
und zolltiefem Strome, und fehr häufig flagnirt es in größeren und Eleineren Tüm⸗ 
pen, und nur durch die Heinen Nollfteine Hindurch fidert vielleicht unterirbifch ein 
Weniges. Diefe flachen Stellen wechfeln in der Länge von einigen Fußen bis zu 20 
oder 30 Schritt. Außerdem, daß man an allen dergleichen Punkten den Fluß über- 
fpringen fann, bilden auch eine Menge quer über die breiteren Stellen gefallener 
Bäume, unmittelbar auf dem Wafferfpiegel oder in einiger Höhe darüber, natürliche 
Brüren, und nur, wenn zur Megenzeit die flacheren und niederen Uferfireden über- 
ſchwemmt find, ift die Paffage oftmald erfchwert und der Fluß laͤßt fih dann bis zu 
dem links in ihn mündenden, beinahe 1”, Meile von der Landeshauptſtadt entfernten 
Greek verfolgen, während er für gewöhnlich fehon eine halbe Stunde unterhalb der- 
jelben im fogenannten Reed⸗bed fich verliert. Dies ift eine fumpfige, niebrige Fläche, 
mit hohem Schilfe bemachfen, welches für die erften Hütten der Ankümmlinge auf Süd⸗ 
Auftraliend Grund und Boden das willfommenfte Material abgab. In den Tümpeln, 
die fih zur Zeit des niedrigen Waflerd mit animalifchen und vegetabilifchen Stoffen 
anfüllen, wimmelt es von Blutegeln, deren man beim Baden gewöhnlich einige an ſich 
hängen Hat; zum Wachen und auch zum Trinken wirb das Wafler des Fluſſes 
Seitend feiner Anwohner benußt, da ed zwar lau, auch nicht allzu rein, doch aber 
dem meift brafifchen Wafler der Brunnen vorzuziehen if. Ohnedies findet man in 
fehr vielen Häufern der Adjacenten Biltrirmafchinen zum Klären und poröfe Gefaͤße, 
er Monkies, ähnlich den Alcarrazad der Portugiefen, zum. Kühlen ded Trink 
waſſers. 

Der Strand längs des Vincent⸗-Golfes, nördlich der Holdfaſt-Bai, iſt von nie 
drigen Dünen eingefaßt, meift nur al8 einfacher Wall zu einer Höhe non 20 bis 30 
Fuß aufgeworfen, während im Süden, wie fohon erwähnt, die Mount=Rofty = Kette in 
kahlen, Elippigen Felſen an's Meer tritt und der Küfte eine durchaus bergige Geftal- 
tung verleiht, eine Geftaltung, die fich in die Graffchaft Hindmarſh hinein erſtreckt und 
hier bis zum öftlichen Theile der Encaunter- Bai reiht. So mie größten Theils bie 
ganze Provinz Süb-Auftralien, fo ift auch infonberheit die County Adelaide veich an 
dem prächtigften Gradlande, obgleich fe diejenige Grafſchaft diefer Provinz ifl, wo ber 
Unbau des Landes noch am meiteflen gediehen ift, indem die übrigen Diſtricte ent 
weber faft ausfchlieglih ald Weiden, bei der Schwierigkeit, Ernten zu Markt zu briw 
gen, benugt werden, oder in Folge der auf ihrem Grund und Boden entvedten reichen 
und unerfchöpflicden Minen nur mit Wohnftätten der Bergleute, der bei den Berge 
werfen nöthigen Beamten u. ſ. w. befledelt worden find. Die nicht der Adercultur 
unterworfenen Zlächen bilden in der Regel einen ziemlich dichten Wiefenteppich, be⸗ 
ftanden in den meiften Fällen von einem lichten parkaͤhnlichen Wald riefiger Eukalyp⸗ 
ten, die mit ihren glatten und ber äußeren Nindenfchicht beraubten Stämmen in abge 
meſſenen und oft fehr regelmäßigen Entfernungen von einander ſtehen. Wo der Boden 
mager iſt, treten hin und wieder Gafuarinen auf, deren braungrüne Kronen im Fruͤh⸗ 
jahr fonderbar mit dem faftigen Grün der Wiefen contraftiren. Auch die Gummi lie 
fernden Akazien gehören zu dieſer Begetationsform, während ſich Straucharten nur 
fehr wenige finden. Eine Abart des Graslandes ift das Grubenland, wellenfürmige 
Ebenen und fanft geneigte Hänge, die einem inmitten des Wellenfchlages erſtarrten 
Meere gleihen. Die Vertiefungen find grubenförmig und von ringförmigen Erhöhun⸗ 
gen umgeben und haben eine eigenthümliche Flora. Während dort baumlofes Gras⸗ 
land verhaͤltnißmaͤßig felten ift, zeigen diefe Gegenden eine entjchiedene Abneigung gegen 
den jonft faft überall herrſchenden Eufalyptus, der fich hier gewöhnlich nur ald Saum 
der eingefchnittenen Wafferläufe findet. Haͤufiger ift die Gafuarina, ein Baum mit 
ſchwerem, hartem Holze, der aber noch leichter wie der Eufalyptus in feinem Innern 
verfault, am Häufigften Acacia pycnantha, die vorzugsweife bier zu Waͤldchen zufam- 














SIEIREST, 


mentritt. ine zweite Barietät der Vegetation des Gradlandes bilden die im Som⸗ 
mer ausgetrockneten Flußbetten; die Stämme der Ufer-Eufalypten erreichen bier un⸗ 
glaubliche Dimenflonen,; Stämme von 8 Fuß Durchmefler find etwas ſehr Gewoͤhn⸗ 
liches und liefern ein Holz, das fich fehr leicht, wenn auch zu krummen und krumm⸗ 
faferigen Stücken, fpaltet und zu Stadeten (fences), Schindeln und Brettern benugt 
wird. Im eigentlichen Bette drängt fich eine Flora größten Theil europätfcher For⸗ 
men burcheinander, die, zurüdgebalten durch das früher über fie hinfließende Waſſer, ihre 
Blüthen erft entwideln, wenn alle andern verborrt find. 

Bei dem vortrefflihen Boden innerhalb der Grafſchaft, Der zum großen Theil 
aus braͤunlichem Thon befteht und fo fett ift, daß Backſteine leicht und ſchnell daraus 
gebrannt werben können, und bei dem Grasreichthume gedeihen Aderbau und Vieh⸗, 
befonders Schafzucht auf das Befte, und auf den Probucten dieſer beiden Gewerbe be« 
rubt vorzugsweiſe die Eriftenz der Bewohner des Diſtriets. Der Anftenler, der ſich 
dem Aderbau widmen will, bat bier nicht nöfhig, wie in Amerika, ganze Waldungen 
zu vertilgen, um den Boden zur Cultur zu reinigen, er braucht höchftens einige Bäume 
zu fällen, welche er auf der Stelle verbrennt, bevor er den Boden umpflügen Fann. 
Er pflügt mit Ochfen, ſobald die heißefle Jahreszeit (d. h. der December) vorüber ift; 
Weizen, Mais, Gerfte und Kartoffeln find die Hauptfrüchte. Alle in Deutfchland, Ita⸗ 
lin und Spanien einheimifchen Gemüfe und Früchte gedeihen auf das Bortrefflichfte, 
3. B. erreichen die Waffermelonen ein Gewicht von 50 Pfunden und darüber. 

Unter der Bevölkerung des Diftricted zeichnen ſich beſonders die deutſchen Ans 
fiebler aus, deren gejellfchaftliche Stellung eine im Ganzen befriedigende ift, und beſſer als 
in Nordamerika. Die Gründe dafür, daß der Deutfche bier höher geachtet ift, find leicht 
herauszufinden. Indem die Mafje der aus Deutichland fliehenden Gauner und Schwind- 
ler den fürzeren Weg und daß ergiebigere Feld in Nordamerika vorziebt, ja Die Menge 
der durch die Verhältniffe verfimmerten Auswanderer faum die bilfligere Ueberfahrt nach 
Nord Amerikas Häfen erfchwingen Tann, fo ift die Provinz Südauſtralien und fomit 
auch Die Graffchaft Adelaide von denjenigen Europamübden verfchont geblieben, die dem 
dentſchen Namen nicht zum Ruhm oder geradezu zur Schande gereihen. Hatten ſich 
einzelne fchlechte Individuen eingefunden, fo wandten fie ſich bei der Entvedung ber 
Goldfelder Auftraliend gewiß fchnell dorthin, um, flatt durch andauernden Fleiß fich 
eine forgenfreie Eriftenz zu gründen, hier in kurzer Zeit Schäge zu ſammeln, die in der 
Regel eben jo fchnell verrinnen, wie fie gewonnen wurden. Die Zahl der Ureinwohner 
der County, ein fchwacher, furchtiamer Menfchenichlag, welcher den Europäer eher flieht, 
als ihn beläftigt, ift fehr gering und vermindert fich immer mehr und mehr, um den 
civiliſtrten Eindringlingen Plag zu machen. Diefe Verminderung und dieſes allmäh- 
liche Erldfchen ift eine Erfcheinung, die in diefem Falle nicht vereinzelt daſteht, ſon⸗ 
dern überall vorfommt, wo zwei heterogene Volksſtaͤmme zu einer engeren Berührung 
zufammentreffen. Außer ven bekannten Urfachen ift in Bezug auf die rafche Abnahme 
das merkwüuͤrdige phyſiſche Geſetz, deſſen Graf Straelefi zuerſt erwähnt zu haben fcheint, 
nur allzu ominds für das Schidfal der Neuholländer. 

Trogdem die Colonifation der Provinz Südauſtralien und zuerft der jegigen Graf⸗ 
Ihaft Adelaide im Jahre 1836 begonnen wurde und zwar durch eine Gompagnie, die 
jübanftralifche genannt, und troß der bier nicht näher zu erörternden Mißgriffe Sei- 
tens dieſer Geſellſchaft, find doch in dem fünlichen Theile der Provinz, infonderheit im 
Difkricte Adelaide, fehnell eine Menge Anfleplungen entflanden, die zu Dörfern und 
Städten herangewachfen find. So Cumaroka, nicht weit vom Torrend liegend, Salis⸗ 
bury an dem Pleinen Parafluß, GBlenelg (nach dem damaligen Staatsſecretair der Co⸗ 
Ionteen, Lord Glenelg, fo genannt), an ber den Südweſtſtürmen und einer ſtarken Dei⸗ 
ning ausgeſetzten Holdfaſtbai, mit einem Seebade, Marino ſüdlich von Glenelg, Noar⸗ 
lunga an dem Onkaparinga und Willunga noͤrdlich vom Mount Terrible. Die Deut⸗ 
ſchen wohnen außer in der Grafſchaftshauptſtadt in den Doͤrfern Klemzig und Hahn⸗ 
dorf, nach dem Capitain des Schiffes, auf dem die Auswanderer die Ueberfahrt nach 
Auſtralien machten, genannt. Der Gründer Klemzigs und Hahndorfs iſt der altluthe⸗ 
riſche Paſtor Kavel aus Klemzig im Züllihau- Schwiebufer Kreife der Provinz Bran⸗ 
denburg, welcher in feiner Batronin und damaligen Beflgerin des Rittergutes Alte 

25 * 


Abelnide. 


Klemzig !), der Fürſtin Reuß, eine warme Veſchützerin fand und dadurch in den Stans 
gefegt wurde, im Jahre 1838 mit 600 Altlutheranern von Hamburg aus nach Auſtra⸗ 
lien überzuſtedeln. Die füdauftralifche Compagnie gab diefen Auswanderern bedeutende 
Vorſchüſſe auf Die Ueberfahrt, die erſten Einrichtungen und die Berforgung mit Lebens: 
mitteln und wied ihnen die Ländereien zur Pacht an. Die fo tief verfchuldeten Leute 
zahlten nicht nur ſtets pünktlich die hohen landesäblichen Zinfen, ſondern tilgten auch 
in wenigen Jahren ihre Schulden und erwarben ſich ein fehulbenfreicd Eigenthum, wo⸗ 
bei fle den Are (1,555 preuß. Morgen) bis zu 49 Thlr. bezahlten. Bei ihrer Ein- 
Tchiffung in Hamburg befaßen fe zufanmen faum 60,000 Thlr., bei ihrer Ankunft in 
Auftralien kaum 5000 Thle. und die Hahndorfer Gemeinde machte allein für Lebens 
mittel 10,000 Thlr. Schulden. Im Jahre 1841 wurde aber ſchon der Eigenthums⸗ 
werth diefer 600 Auswanderer, denen die Colonie in Hinficht -ver Hebung der Schaf 
zucht und des Anbaued der Weinrebe vieles verdankt, auf 134,000 Thlr. veranfchlagt. 
Beicheiden. in ihren Sitten, böchft betriebfam und dconomifch, bilden dieſe Deutfchen 


einen wahrhaft unabhängigen und glüdlihen Theil der Bevölkerung der Graffhaft 


Adelaide. 

Adelaide, Hauptſtadt der Provinz Sud⸗Auſtralien, nach der Gemahlin des Rd 
nige Wilhelm IV. von Großbritannien, Amalie Adelheid, genannt, wurde 1336 ge 
gründet, nachdem der Generals Land» Bermeffer der neu zu gründenden Golonie, der 
Oberſt Light, Die Kängeru- Infel und die Umgegend des Spencer» Golfed zur Anlage 
einer Nieberlaffung, wo der Sit der Megierung eingerichtet werden konnte, nicht für 
geeignet gefunden hatte. Der Capitain Hindmarſh, der Gouverneur der Golonie, lan⸗ 
dete am 28. December 1836, verlas feine Ordre unter einem Gummibaum in Gegmn- 
wart von ungefähr 200 .Einwanderern und Beamten, fühlte fich aber hoͤchſt unbefrie 
digt von der Wahl der zufünftigen Hauptſtadt. Daß er unbefriebigt mit einer Wahl 
war, woburd die Hauptfladt in ein pittoreöfes aber heißes, fern von einem Hafen 
Viegendes Thal, in dem fich Eein fchiffbarer Fluß befand, verlegt wurde, und daß er 
als Seemann ‚die Koften der Landung und des Transporte der Waaren von ber 
Küfte nach dem Innern fehr Hoch anfchlug, ift nichts Außerordentliches; die Erfahrung 
bat jedoch gelehrt, daß der Platz fo gut war als irgend einer, der hätte gemählt wer 
den können, und die Kunft hat die Mängel der Natur verbeflert. Im Mär; 1837 
wurden die erften Gebäude Adelaide's errichtet, welches 1845 fchon 20,000 Einwohner 
zählte, und bereits 8 Kirchen für alle Confeſſtonen, darunter eine Fatholifche mit einem 
Bifchof, viele Schulen, auch für Kinder von Eingeborenen, d. h. Neuholländern, meh⸗ 
rere Buchdrudereien, 7 Apotheken, eine Bank, ein Theater, viele flattliche Gebäude, 
deren Zahl fih im Ganzen auf mehr als 2000 beläuft un» in der Hauptſtraße fo 
große und glänzende Käufer, wie eine Stabt erfter Größe befitt. Diefe Hauptſtraße, 
die Hindley⸗Street, ift für Adelaide das, was „Unter den Linden“ fir Berlin ift, und 
hat den Vorzug vor den übrigen Strafen, ein Pflafter zu beflgen. Weil es in ben 
übrigen Straßen dieſes Lurusartikels der Civilifatton entbehrt, ift Adelaide ſchrecklich 
vom Staube geplagt, ein Schidfal, dad ed mit allen auſtraliſchen Stäbten theilt. 
Der nörbliche Theil der Hauptflabt, North» Adelaide genannt, liegt auf einem fanft 
anfteigenden Hügel und gewährt malerifche Ausfichten auf die Ufer des Torrensfluſſes 
und Die Ortfchaften der Umgegend. Diefer Stabttheil ift durch einen herrlichen natin⸗ 
lichen Park getrennt von der eigentlichen Stadt oder dem füblichen Theil derſelben, 
der ald dad commercielle Viertel Adelaide's betrachtet wird und das Gouvernementt- 
gebäude, das mitten auf einem zehn Acres (15,940 preuß. Morgen) großen Grundſtücke 
ftebt, enthält. Adelaide bietet, wenn es auch einer Stadt nach europäifchen Begriffen 
wenig Abnlich flieht, mit feinen Parks, Boulevards und geraden Straßen einen freund- 
lichen, fogar ſchönen Anblid dar. Die Parks, Die es umgeben oder die weitläufigen 

1) Klemzig oder zur Unterfcheidung der naheliegenden Eolonie Neu : Kt ‚Alt: i 
genaninl, hatte Als Befiper ben einen Hrincid IX Meuß Blauen (Schlei-Raftit p bis m Jahre 
1833, wo mit deſſen Tode das Mittergut an die Wittwe, Dorothea, geb. Prinzeifin von Garolath: 
Schoͤnaich, und an die Tochter, die Prinzeffin Caroline Henriette Neuß, feit 1844 vermählte Gräfin 
Rüdler von Grodig auf Tannhauſen, Het Mutter und Tochter verfauften 1844 das Gut an die 
Koͤnigl. Seehanblung und von diefer erwarb es 1852 ein Hamburger Kaufherr. 


= Abelbonbe. Abelepfen. 389 


Strafen durchſchneiden, erinnern an das reizende Wiesbaden, und in den Berfiäpten 
erblidt man viele hübſche Landhaͤuſer, Pie jo zierlich und vollendet find, mie in Eng⸗ 
Iand. Außer den Parkländereien gehören noch ein Todtegader und ein Rennplatz unter 
Die Zierden der Stadt vor den Thoren. Unter den Bewohnern Adelaide's giebt es 
mehrere, die mit ungeheuren Gapitalien bei den reichen Minen Süd -Auftraliend be⸗ 
tgeiligt find oder Heerden von 20 bis 30,000 Schafen und hunderte von Pferden und 
Rindern beiigen, oder einen bebeutenden Export⸗ und Importhandel teriben. In der 
Lokal⸗Literatur ift Adelaide faft allen größeren Städten Auftraliens voraus, und, wenn 
man den zu Sidney erfcheinenden „Morning Herald“, der die „Times“ der füblichen 
Hemiſphaͤre bildet, ausnimmt, fo find die Zeitungen und Beitichriften Adelaide's Denen 
von Neu» Süd» Wales und Port Philipp in Styl und Inhalt bei Weitem überlegen. 
Borzuͤglich zeigt ſich Died am den in Adelaide erfcheinenden- fübeauftralijchen Almanachs, 
welche eine Menge nüßlicher, belehrender Sachen aus der Statiflif, Ader- und Garten» 
eultur und über die Fortfchritte der Minen der Golonie enthalten. 

Wie ſchon erwähnt, ift der an ber Stabt vorbeifließende Torrens für Schiffe 
nicht tief genug, man hat beshalb 1Y, Weile unterhalb Adelaide an der Manglebaum⸗ 
Bucht den Hafen angelegt, in welchem bie größten Schiffe dicht an einem bequemen 
Werft antern können. Vom Hafen führt durch Dorf Alberttown ein macadamafirter 
Weg über unfruchtbaren, ſandigen Boden bin zur Stadt; Fuhrwerk aller Art, von 
ſchweren Laftwagen bis zum Omnibus und elenden Hundefurren Freuzt ſich auf dem⸗ 
ſelben. Jetzt ift zwifchen der Stadt und Bort Adelaide, wo Die Agenten der in 
Adelaide anfäpigen Kaufleute wohnen und das etwa 2000 Einwohner bat, eine Eiſen⸗ 
bahn angelegt, hauptſaͤchlich zu dem Endzwed, Schiffögüter auf derfelben zu 'transpor« 
tisen. Port⸗Adelaide, mit dem etwa '/, Meile nördlich liegenden Neuen Hafen, wurde 
am 15. Juli 1845 zu einem Freihafen erklärt und wird gegen Weſten durch die Loͤſevre⸗ 
Salbinfel und im Rorden durch zwei kleine Cilande geſchützt, wovon das größere 
Toreens«Infel Heißt. 

Adetbonde if gleichbedeutend mit Obalbonde im Schwediſchen und nur eine 
nosdifch-beutiche Mebertragung dieſes Ausdrucks. Bonde (bönder) beißt in Beziehung 
auf Landbeſitz fo viel ald proprium certo modo liberum,. alfo freied Eigenthum, 
worüber der DBefiger frei verfügen fann. Im Jütifchen wird das Wort Bonde über-- 
haupt für Grundeigenthümer oder Hofbefliger gebraucht, wobei wahl nur. der freid 
Eigenthümer gedacht werden joll. Norwegiſch beißt Bonde fo viel als unfer douts 
ſches Wort Bauer. In Holſtein wurden bie Bonden son ben Feſten, und bem: 
entiprechend die Bondehufen von den Feſtehufen unterſchieden, über welche Letz⸗ 
texe dee Beſitzer nicht frei verfügen konnte. Seit vie Reibeigenfchaft und alle dahin 
gehörigen Berhältniffe in Holftein aufgehoben: worben (1804), find dieſe Linterfcheis 
dungen aus dem Leben und aus der Erinnerung des Volkes faſt verſchwunden. 
Das ſchwediſche Odalbonde ift fo viel wie allodialium et avitorum bonorum domi- 
mas, alfo einer, ber fen Gut nicht zum Lehn oder gegen Bins bat, fondern es von 
Alters ber als Erbgut befigt, mithin auch ein freier Mann ill. Das Schleswigfche 
Atelbonde ift ebenfalld avitus dominus, ingenuus possessor — gewiſſermaßen Erbherr. 
Norwegen bietet noch eine befondere bierber gehörige Eigentbümlichkeit dar, Die in 
andern Ländern jetzt wicht mehr vorkommt; es bezeichnet dort nämlich der Ausdruck 
Odelsret das Erbrecht, vermoͤge deffen Einer fein Landgut, wenn es verkauft wird, 
innerhalb 10 Jahren für die Verkaufsfumme wieder an fich bringen: kann. Odels⸗ 
bonde, ber Adelsbauer, ift ein folcher, der feine Hufe mit Odelsret beilst; Odelogods, 
das Landgut mit Odelsret; Odelsmand, der. Adelsmann, Beſther eines Adels guts. 
Odalboͤnder iſt übrigens nicht zu. verwechſeln mit Oldesboͤnder. Letzteres bedeutet 
posseasaorem proediorum avitorum jure nobilium proxime instructum, alfo etwa ein’ 
Eigentbümer in der Oualität .umfrer fegigen bürgerlichen Rittergutsbeſitzer. Vergh. 
Westehaten Monum. ined. T. :ll. praefat: ‚Kalt, Stantäbfırgerliches Magarin Bo. 1 
S. 560. Häberlin, Staats⸗Archiv. Heft 52 ©. 419. 

Adelepſen. Die von A. find eine uralte niederveutfche Sippe, die nicht zu dem 
niedern Adel gehörte, wie mehrere Vermaͤhlungen mit Dynaftentöchtern (don der Piefle 
unb Andere) zu einer Zeit bezeugen, wo folche Chen zwifchen Dynaften und Minifte« 





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rialen niemald flattfanden. Sie gehörten zu dem Stande Der Mittelfreien, als Diefe 
noch einen befondern Stand ausmachten. Der clafilfche Hiftoriker von Braunfchmeig 
und Lüneburg, Wilhelm Havemann, charakterifirt dieſes edle Geſchlecht alio: „Die von 
Atholvefien, Atelveßen, Adelepſen, an beiden lifern bee Weſer angefeflen, von Maynz 
mit dem Zehnten und einem Busgmannfige auf dem Hardenberge belehnt, durch Des 
wandtichaft und politifche Stellung dem hohen Adel mebsfach nahe gerüudt, weniger 
vielleicht al8 irgend eine andere rittermäßige Sippe der welfifchen Lande an den Pfrün⸗ 
den bifchöflicher Capitel betheiligt, mild gegen benachbarte Klöfler, namentlich gegen 
Mariengarten, wo viele ihrer Töchter Gott dienten, trugen erft 1512 ihr Stamsmfchloß 
ben Herzogen von Braunfchtweig = Rimeburg zu Lehn auf." Söhne dieſes Stammes 
fpielten im Kriege wie im Frieden feit den älteftlen Zeiten bis auf ven heutigen Tag 
eine bedeutende Rolle in den welfifgen Landen und waren fortdauernd in hoben 
Aemtern und Stellungen. Schon im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren 
fie fo mächtig, daß ſie 1305 den Grafen Otto H. von Waldeck fingen und erichlugen; 
die Sühne dafür leifteten fie 1310 im Klofter Netza felbhundert von rittermäßiger Ge: 
burt. Die Sippe iſt noch jetzt im Bells des alten Stammhaufes Adelipfen au ber 
Schwülme im Böttingenfchen, fo wie auch größtentheild ihrer alten GErbgäter in jewer 
Gegend. Das Wappen zeigt einen gefpaltenen und zwei Mal quer getheilten Schild 
von Blau und Silber mit gemechfelten Farben ohne Bild. Auf dem Selm ein blau 
und filberner Wulft und zwei Büffelbörner, die, wie der Schild, zwei Mal von Blau 
und Silber mit gewechfelten Barben quer getheilt find. Helmdecken blau und ſilbern 
Devife: Wohlauf wie von Alters ber. Einige dieſes Geſchlechts haben auch in ber 


preußifchen Armee gebient. 

Adelmann von Adelmannötelden. Die Anelmänner find ein altfchmwäbifches 
Weſchlecht ; ihr Stammhaus iſt die Burg Adelmannsfelden im Virnegrund bei Ellwan⸗ 
gen. Die beglaubigte Stammreihe beginnt mit Gonrad A. in ber erſten Hälfte des 
14. Jahrhunderte. Iohann U. von Adelmannsfelden war Deutfchhere, wurde 1499 
Comthur zu Blumenthal, 1508 Comthur zu Mergentheim, 1510 Deutſchmeiſterer 
fland der Orbensregierung bis zu feinem Tode 1515 wit großem Lobe vor Iohann 
Chriſtoph U. flarb 1687 als gefürfteter Bropft zu Ellwangen, fein Bruder Wil- 
helm aber brachte 1675 dad Erbmarfchallamt des fürftlicgen Stiftes Ellwangen und 
1680 die Freiherrnwürde an fein Haus. In den Meichögrafenfiand wurden Die Abel 
mänser am 22. Sept. 1790 unter dem churpfälzifchen Reichbvicariat erhoben. Das 
gegenwärtige Haupt der Bamilie iſt der Reichegraf Sigismund Clemens Phi⸗ 
lipp. Das Wappen iſt ein quadrirter Schild mit goldner Ginfaffung. Des erfe 
und vierte Selb zeigen in Silber einen blauen rethgefrönten Xömwen ‚mit doppelten 
Schweif. Das zweite und dritte Feld in Schwarz ein goldnes Sich. Bun ben ber 
den Helmen zeigt der rechte den Löwen des erflen und vierten Feldes wachſend und 
links gelehrt, der linke ein halbes goldnes Sieb, das vorn und binten mit drei ſchwar⸗ 
zen Straußfedern beftedt if. Die Helmdecken find rechts blau und filbern, links golden 
und ſchwarz. 

elöberg, Kreis in Illyrien und Marktfleden daf., an der Straße von. Trieſt 
nach Laibach, mit Pferdezucht, einer Burg⸗Ruine und trefflihen Tropfſteinhöhlen. Im 
der Nähe befindet fi die Adelsberger Grotte, in bie fih die Prik, ein ſtarber 
Bach, flürzt. Sie theilt fih in die 143 Klaftern lange alte end in Die neue Grotte, 
die 1425 Klaftern mißt. Die letztere befonbers weißt die interefianteflen Stalaltiten 
auf. Die Grotte endet in zwei, Gängen, deren einer zu einem See führ. Die Höhle 
darf, da fe verfchloffen ift, nur in Begleitung vereiveter Führer Betreten werden. 
Ein Nebengang ift die Iohannisgrotte, eine Stunde vom Orte liegt bie ehemfalls 
durch ihre Stalaktiten ausgezeichnete Magdalenengrotte. Virgil foll dieſe Grotten ge 
Tannt und im fechften Buche feiner Aeneide als Unterwelt beſchtieben haben. 

Adelö- uud Abnenprobe. Seit den 15. Jahrhundert fing man ar, von bene, 
welche an Stiftungen, Rechten, Ehren, Würden und Bortheilen, die der e Mel für ſich 
allein und ausſchließlich begründet oder für ſich errungen hatte, Theil nehmen wollten, 
außer dent Beweis des eigenen Adels, Ahnen zu verlangen, d. h. man verlangte ben 
Beweis, daß die Elieen, Großeltern, Urgroßeltern u. f. w. abligen Standes geweſen. 





Abttperöinbungenn - a 


GE war diefſes Verbangen eine berechtigte Nothwehr des Adels gegen ben Anbrang 
des fogenammten Briefadels, d. h. derjenigen, Be von den KRaifen und. Souverainen 
in den Adelsſtand erhoben oder vielmehr wur mit einem adligen Präpicat begnadigt 
werben waren, und gegen einen Theil des Patrizieradels der Städte. Freilich hal⸗ 
fen ſich Die Kaiſer bet ihren unehelihen Kindern (mie Maximilian bei Rang) zumwellen 
Dagegen, indem fle dem Neugeadelten gleich vier, acht ober ſechszehn Ahnen verliehen, 

v. 8. feine Borelten Bis ins zweite, dritte ober vierte Glied im Grabe adelten. 
Det fand das ‚bei ven Ahnenproben meift flegreichen Widerſpruch. 

Die einfahe Adelsprobe beſteht in wem Nachweis abliger Geburt, in dem 
Beweis rechtlich ausgeübter Adelsvorrechte, der Borzeigung des Adelsbriefes; fie if 
weſentlich verſchieden von der Ahbnenprobe. Au dieſer gehört 1) die Uhnentafel 
oder der Stammbaum, d. 5. die Darfkellung der ununterbrochenen rechtmäßigen Auf- 
einanderfolge der verlangten Ahnen in auffleigender Linie Ban richtet die Ahnen- 
tafel oder den Stammbaum fo ein, Daß man auf Die Tafel unten. bin den Namen 
deſſen fihreibt, Deren Stammbaum man darſtellen will, rechts (b. h. heraldiſch rechts), 
vorüber Tommi der Name des Vaters, links der Der Mutter. Das iſt daB erſte 
Ohr. Ins zweite Glied kommen über den Namen des Baterd der des väterlichen Groß⸗ 
vaterd und der der vaͤterlichen Großmutter, über den Namen der Mutter die des mätter- 
lien Großvaters und der mütterlichen Großmutter; das zweite Glied bat alfo vier 
Plaͤtze, vier Ahnen. Das dritte Glied zeigt rechts die Großvater Eltern und Groß⸗ 
mutter » Gltern vaterlicher Sets, fo wie links die Großvater» Eltern und Großmutter 
Eltern mütterlicher Seits; das dritte Glied giebt alfo acht Pläge, acht Ahnen. So 
geht e3 immer weiter hinauf. Das vierte Glied giebt ſechszehn Ahnen, das fänfte 
zweiunddreißig, das ſechſte vierundſechzig Ahnen. Es werden aber gewöhnlich nur 
ſechszehn Ahnen gefordert. 

Zu diefer Ahnentafel wird bei dee Abnenprobe verlangt 2) die Filiation, 
d. 5. der Machweid, daß die in der Mbnentafel aufgeführten Perfonen bürgerlich und 
fir in vechtmäßiger Ehe gelebt, und Daß ber, welcher die Probe zu leiſten bat, 
au rer Ehe von Yen genannten Berfonen flanımt; 3) die Ritterbür⸗ 
tigkeit, d. 5. daß ſede bei der Filiation betheiligte Berfon ein geborener Edelmann 
war. De: Bereit für Fillation und Ritterbärtigfet wird geführt durch Urkunden, 
Trauſcheine, Taufſcheine, Adelömatrileln, Denkmäler, Wappen, Gtabftene, Nekrologe 
und endlich durch das eidliche Zeugniß von zwei oder mehr ritterbärtigen, ſtiftsmaͤßigen 
Edelleuten (Aufſchwoͤrern). Der Beweis ift nichtig, ſobald eine der Berfonen, auf die Bes 
zug genommen wird, den Adel nur durch Adoption, Begitimation oder Verleihung Hatte. 

Ahnenproben wurden und werben zum Theil noch jeßt verlangt beim Eintritt in 
Domcayitel and Stifte, Ritterorden, adelige Ganerbichaften, verfchtenene Lehngüter, 
ritterfihaftliche Eurien der Landtage (im Koͤnigreich Sachſen zum Beifpiel bis zum 
Jahre 1834) adlige Bänke einiger Gerichte, beim Antritt verſchiedener Aemter, Hof⸗ 
chargen, bei Stipendien u. ſ. w. Bet den Turnieren wurben gewöhnlich bie Wappen 
von. zwei Ahen aufgeſtellt. 

Die Zahl ver Ahnen, die man verlangte und verlangt, war und iſt verſchieden; 
einige Hochs und Domſtifte ausgenommen, begrrügte man fich insgemein mit 16 Ahnen, 
sft auch ſchon mit 8, fa fogar mit 4 Ahnen. Gegenwärtig wire die Ahnenprobe nur 
noch felten verlangt, und wenige Stifte, Ritterorden, Ganerbſchaften unb Höfe halten 
noch fireng darauf. Eine Folge davon ift, daß ablige Herren viel weniger Bedenken 
gegen Heirathen mit Frauen von weniger Ahnen oder mit Frauen bürgerlichen Standes 
haben, unb beöhalb werben. ver Familien auch immer weniger, die einen Stammbaum 
beweiſen können, die alfo Ahnen im Sinne des Ahnenrechts haben. 

Abeboproben waren auch in andern Laͤndern herfämmlich, Ahnenproben aber gew 
hören hauptfachlich Deruſchland an; fte kommen zwar in Frankreich und England, 
Spanien und Italien auch nor, Doch wurbe nirgend mit ſolcher Strenge darauf gehal⸗ 
ten, wie in Deutfchland. Eine „Praktifche Anleitung zur Ahnenprobe” ſchrieb I. ©. 
Eſtor, fie: eufihlen in Frauffurt 170. (S. auch ven Art. Ahnen.) 

Adeiönerhiudun Die Geſchichte des Mittelalters ift veich an Anelsverbin- 
bungen aller Ast, die zahlteichen Ritterorden ſind alle aus Apeisperbindungen hervor⸗ 





gegangen, bie wenigften Derfelben wurden gefchaffen, fonbern fie entwickelten ſich nach und 
nach, bis fie eine beftimmte Regel annahmen und fo zu Orden wurben; Abelsverbin- 
dungen, Die nicht zu Orden wurden, dennoch aber längere Zeit beflanden und hiſto⸗ 
rifche Bedeutung gewannen, hat namentlich die deutſche Geichichte mehrere aufzumeifen, 
der Mangel an Urkunden macht ed bei den älteren befonders fchwer, le in ihrer eigent- 
lichen Bedeutung aufzufafien. Hauptſaͤchlich fallen dieſe Adelsverbindungen in's vier⸗ 
zehnte und in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts und waren wohl meiſt Ver⸗ 
theidigungsbündniſſe des Adels gegen die mächtig ſteigende Macht der Fürſten, Die den 
Adel ihrer Territorialhoheit zu unterwerfen trachteten, und gegen die ebenfalls wachſende 
Macht der Städte und gegen den Landfrieden des Reiches. Ausſdrücklich iſt dad frei⸗ 
li nirgend außgefprochen, Doch geht es ziemlich deutlich aud dem Zufammenhange 
der Gefchichte hervor, wie auch Das, daß fich dieſe Abelöverbindungen dabei balb ber 
offenen oder geheimen Unterflügung der Kaiſer zu erfreuen hatten, bald auch gegen den 
Kaifer felbft Front machen mußten. 

Eine ſolche Verbindung ſchloß der fraͤnkiſchhe Abel 1375 oder 78 (Sanct 
Georg, der Drachentoͤdter, war der Schutzpatron) zu gegenſeitigem Schutz, brüder⸗ 
licher Hülfe und gemeinſamem Kampf gegen die Unglaͤubigen. Ein Jahr ſpaͤter ſchloß 
der fchwäbifche Adel eine ähnliche Verbindung, die der Bund des Löwen genannt 
wurde, und die bayerifche Nitterfchaft trat in dem Bund des heiligen Wilhelm zu⸗ 
fanmen. Der gegenfeitige Schub war offenbar die Hauptjache, von dem Kampf gegen 
die Uingläubigen war gar nicht die Rede. 1382 traten dieſe drei Adelsverbindungen 
zufammen und fchloffen unter fich einen Bund. Zehn Jahre fpäter, 1392, entſtaud 
eine neue mächtige Berbindung, 457 Grafen, Freiherren und Ritter Schwabens bildeten 
den Bund zum Sanct Georgenfhild. Diefen traten 1422 Die drei fihon unter 
fi) vereinten Verbindungen vom heiligen Georg, vom Xöwen und vom heiligen Wil- 
beim bei, ein großer Theil des xheinifchen Adels fchleß ſich an, und dieſe gemaltige 
Mpelöverbindung nannte fih nun der Orben der vereinigten Georgenfdilde, 
ohne Daß dabei an einen wirklichen Ritter-Orden zu denken wäre. Die Georgenfchilbe 
waren bis gegen bad Ende des 15. Jahrhunderts eine bedeutende politiiche Macht im 
Meich. Ihren eigentlichen Charakter, den einer Adelöverbindung, verlosen die Georgen- 
fhilde 1488, als Die fchmäbischen Reichsſtaͤdte beitraten und vereint mit -ihnen ben 
Shwäbifhen Bund bildeten, der bald eine noch höhere politifche Bedeutung, freie 
lich audy eine wefentlich veränderte Richtung bekam. 

Die Berbindung, welche ein Theil des märkifchen Adels unter Anführung wer 
Quitzow's, der Rochow's und der edlen Gänfe zu Butlig zu Anfang des funfzehnten | 
Jahrhunderts gegen den eriten Hobenzoller ſchloß, war jenen fränfifchen, ſchwaͤbiſchen 
und bayperifchen Adelöverbindungen ganz analog, wenn fie auch nicht Zeit hatte, ſich 
in der Form weiter zu entwickeln. 

Noch ähnlicher jenen Borbildern waren aber die Berbindungen, welche ver 

öfterreichifche Adel im 16. Jahrhundert ſchloß, Die man gewöhnlich die ältere und bie 
jüngere proteftantifihe Adelskette nennt. Faſt der ganze öſterreichiſche Herren⸗ 
ftand, der damals proteflantifch war, gehörte Diefer mächtigen Verbindung an, deren 
Hauptzweck, wie bei jenen andern, Vertheidigung des Adels gegen bie Territorialhere⸗ 
Schaft der Fürſten war. An der Spitze der Adelsketten flanden die jegt erloſchenen 
Freiherren Joͤrger und Tonrabil, es gehörten unter Anderem dazu bie jeht Fatholifchen und 
gefürfteten Gefchlechter der Liechtenfteine, ver Aueröperge, der Windifchgräge, der Star» 
bemberge, Trauttmannsdorffe und viele andere Familten, die jegt eifrig Fatholtich find. 
Nur wenige von ven Gefchlechtern des äfterreichifchen Hereenflandes, die zur proteftan- 
tifchen Adelskette gehörten, find jegt noch Proteflanten; von den noch blübenden finb 
bie Laßberge und die Steine von Schwarkenau, die jängft preußifche Grafen wurden, 
wohl die befannteften. Nicht weniger als dreißig dieſer proteſtantiſchen Herrengeſchlechter 
von damals find erlofchen, Darunter auch dad der Zinzendorfe, dem ber Stifter der 
Herrnhuter angehörte. 

Die 1815 auf dem Wiener Congreß von mehreren mebiatifirten "Grafen und 
Herten geſtiftete Adelskette hatte den Zwei, für die fttlihe Erhebung des Adels 
ju wirken, Die edle Abficht der Stifter verdient den wohlfeilen Spott nicht, mit Dem 





fie noch Heute bei jeder Gelegenheit von ber liberalen Prefſe überſchüttet wer 
(Siehe d. Art. Adel des Mittelalters.) 

Adelung (Iohann Chriſtoph), einer der fleißigften ventfchen Kiteratoren, ſ 
Zeit berühmter Lerifograph und Grammatiker, war 1732 am 30. Auguft (feiner 
nen Angabe nach), wie andere wollen am 8. Auguft (Breimütbiger 1806. ©. | 
Neuer tentfcher Mercur 1806. October. S. 139) in dem Dorf Spantefow 
Anklam geboren, wofelbft fein Vater Prediger war. Er befuchte zuerft die © 
ſchule zu Anklam, dann das Gymmaflum zu Klofterbergen bei Magdeburg und 
dirte Darauf in Halle. 1759 ward er Profeſſor am evangelifhen Gymnaſiun 
Erfurt, legte aber viefe Stelle fchon 1765 nieder in Folge eines Streites zwi 
den Proteftanten und der churmainzifchen Regierung, in welchem er feine @ 
bensgenoſſen eifrig und männlich vertrat, und ſah ſich fogar gendthigt, die S 
um feiner Sicherheit willen, ſchleunigſt zu verlaffen. Außer Amt und Brod wa 
er fh nun nadı Leipzig und „friftete fich Durch Eorreeturen und Ueberſetzungen 
Buchhändler fein kaͤrgliches Dafein, bis er, zu gelehrten Arbeiten fortichreitend, 
und nach einen damals bedeutenden Namen erwarb und endlich nad 26jährigem ' 
enthalte daſelbſt den Lohn feiner unermüdlichen Thätigkeit erntete, indem er 1787 
churfurſtlich ſaͤchſiſcher Hofrat und Oberbibliotbefar nach Dresden berufen ward, 
er, fleißig nach wie vor, am 10. Sept. 1806 im 73. Jahre feines Alters fi 
Zahlreiche Schriften des alferverfchiedenften Inhalts, meift Meberfegungen, gefchicht 
diplomatiſche, mineralogifche, metallurgifche, chemifche, auch populäre Schriften, di 
zur Erhaltung feines‘ Lebens abfafien mußte, füllen Die erſte Periode feiner literarii 
Thaͤtigkeit aus; Fe find verzeichnet in Meuſel's gelehrtem Deutſchland J. 23 fig. 
gelehrte Bahn betrat er zuerft mit dem Glossarium manuale ad scriptores medi: 
infimze latinitatis, Hal. 1772— 834, 6 Bde., einem Auszug aus du Fresne und E 
pentier mit mannigfachen eigenen Zufägen. Gin änferer Anftoß machte ihn auch 
beutfchen Lericographen. Gottſched war lıber der Audarbeitung eines beutfchen Wi 
buches, das er längft verfprochen, 1766 geſtorben. Der Buchhändler Breittopf gen 
Melung für das Unternehmen, zu dem fich Gottſched's Borarbeiten bald als h 
ungenügend erwiefen. Mit ımermüblichem Fleiße machte es ſich an das fchwierige S 
und fo entſtand fein Beriuch eines vollſtaͤndigen gramm. Eritifchen Woͤrterbuchs 
hochdeutſchen Mundart; 1.— 4. Theil und 5. Thell 1. Hälfte Leipzig 1774 — 
weite verm. und verb. Ausg. Leipzig 1793 — 1805; Auszug Leipzig 1793 — 11 
Sein Blan dabei war: weder Gloſſarium noch ein allgemeines beutfches Wörter 
jelkte dad Werd fein, fondern ein Wörterbuch der hochdeutſchen Mundart, wie fie 
in Schriften üblich. Veraltete, provinziele, niedrige, bloß dem Volke gehörige 2 
ter follten wegfullen, nur Die aufgezeichnet werben, die in noch gelefenen älteren Sc 
ten (alfo bei Luther, den fchleilfchen Dichtern u. f. w.) vorkamen, eben fo Die, w 
für die niedere komiſche Schreibart verwendbar wären. Diefer Plan für Die erſte 
gabe warb auch bei der zweiten felgehalten, nur daß vie gangbaren Wörter um ei 
Tauſende vermehrt wurben. Fremde Wörter fanden zum Theil Aufnahme, wenn 
bäufig nur, um durch die beigefügten deutfchen Ausbrüde ihre Unnoͤthigkeit zu zei 
Die Bearbeitung ber einzelnen Artitel bezog ſich ſowohl aufs Brammatifche (* 
ſprache, Orthographie, Flerion, Syntar), als aufs Kritifhe (nach dem beſtiimten 
griffe Des Worte und feiner verfchiedenen Bebeutung) und endlich auf's Etymologi 
wiewohl letzteres in untergeourbnetem Maße. Es war dies Wörterbuch daB erfte ft 
durchgearbeitete und confoquent auögeführte Werk über die deutſche Sprache... Der 
aufgefpeicherte Wortvorrath ließ alle biäherigen Sammlungen weit zurück, die Be 
tungen waren ruhig und umfichtig entwickelt und mit guten Beiſpielen belegt, die alı 
betifche Folge blieb fiseng gehandhabt und gewährte die ihr eigenthümlichen Vorth 
Allein ein Deutfches Wörterbuch darf fich nit auf den Wortvorrath einer beftimı 
Deit und eines beflimmten Standes befchränfen, darf fich nicht anmaßen, den Gebr 
einer Gegend zum Maße der übrigen zu machen, es bat nicht bloß mit der Spi 
ber Gelehrfamteit zu then: fein oberfter Grundſatz muß die unparteiiſche Zulafı 
und liebende Pflege aller Ausdrücke fein, denn nur dann läßt ih eine wifjenfd 
liche Bewältigung bes ſprachlichen Waterinld denken, nur fo iſt wahre Erkenntniß 





Wörter nach alten Richtungen bin, nur fo Die Entwicklung ihrer Bedeutungen einzig möglich. 
Doc ift Adelung's Arbeit auch heute noch ſchaͤtzenswerth und beachte ihm damals 
einen nicht geringen Ruhm zu Wege. Nabe lag ed, daß er babei zu geammatifchen 
Studien geführt wurde: aber wer weiß, ob er auch bier von felbft vorgegangen wäre, 
wenn er nicht ebenfo einen Impuls‘ von außen erhalten hätte. Diefer kam im Jahre 
1779 durch den Eöniglich preußifchen Staatöminifter Freiherrn von Zedlitz, wer ihn zur 
Ausarbeituug einer deutichen Grammatik, zunächft für den Gebrauch der Schulen in Deu 
föniglich preußiſchen Landen auffordert. Dieje Schulgrammatil (deutſche Sprachlehre) 
erfchien im Mai 1781 in Berlin (ein Auszug daraus im Sept. deflelben Jahres) und 
eslebte mehrere Auflagen, im I. 1806 bereitö die fünfte. Mehr noch ale in ihr legte ex im 
feinem „Umflindlichen Lehrgebäude der Deutfchen Sprache zur Erläuterung der deutfchen 
Sprachlehre für Schulen", 2 ftarke Octavbaͤnde, Leipzig 1782, fein grammatifches 
Syſtem dar. Er wollte, den biöher gewöhnlichen Weg ganz verlaffend, nicht bloß eime 
Sammlung einzelner, unter gewifle Rubriken gebrachter Bemerkungen liefern, fonbern 
ein wohl verbundened und überall auf deutliche Begriffe gebauted Ganze. Er beumft 
ganz richtig, eine gründliche Sprachlehre fei gewiſſermaßen eine pragmatifche Gefchichte 
der Sprache; folle fie num eine wahre Gefchichte und fein Moman fein, fo müfle fe 
Die Sachen nicht fo voriragen, wie fie fein fönnten ober fein follten, ſondern wie fie 
wirklich feien. Er lehnt abflracte Betrachtungen, als ver Deufungdart des ſprachſchaffen⸗ 
den Volkes zumider, ab und will den wahren Grund des Veränderlichen in ber Sprache 
nur finden, indem er auf ihren Urſprung zurüdgeht. Das ift Alles ganz richtig und 
fon vie Auffindung diefer Grundfäge, wenn es nicht au ihre Bearbeitung thäte, 
würde ihn weit über alle feine Vorgänger flellen. Allein feinem unermüdlichen Fleiße 
fehlte Doch Die tiefere hiftorifche Unterlage, und er kann ſich daher von. der unglücklichen 
Auficht, Die Sprache zu zügeln, noch nicht loßreißen. Schon das, mas er gleich im 
Yafange über die innere Bildung ded Sprachkörpers, über die Sprachzuſtaͤude von ber 
früheſten Zeit an vorbringt, beruht auf Irrthümern. Ihm gilt die aͤlteſte beutfche 
Sprache arm und von aͤußerſter Roheit, das Gothiſche ungeſchlacht; er warnt ver 
Ueberſchaͤzung der mittelhochdeutſchen Dichter, die zu empfehlen, hieße, „wieder zu Dex 
Träbern zurückkehren, von welchen man gekommen fei." Die Benutzung der Mundarten 
für die Schriftfprache will er nur ganz eingefchränft verſtatten. Er begrenzte Das 
Schrifthochdeutſch in feiner höchiten Ausbildung Burch die Jahre 1740 und 1760, vemn 
das fallte, nach ibm, wie fchönfte Periode der deutſchen Literatur und bed Geſchmackes 
fein, wo die Sprache noch sine gewifle Einheit gehabt, Die man nachgehends ganz ver 
miſſe. Trotz folcher Grundirrthümer verdienen feine bedeutenden Sprachkenntnifſe vun 
die wiſſenſchaftliche Methode, mit der er fie darlegte, alle Anerkennung. Es war auch 
weder unser feinen Beitgenoflen, noch unter den unmittelbar folgenden einer, durch ven 
die vaterländifhe Sprachwiflenfchaft mehr gefördert worden wäse, bis mit dem Sabre 
1819, in welchem der erfle Band ven Jacob Grimm's Grammatik erſchien, eine neue 
Ara begann. Don andern auf die deutſche Sprache bezäglichen Schriften Melung's 
bemerkan wir noch: Magazin für die deutfche Sprache, 2 Bde., Leinzig 1783 una BA, 
enkbält meift Abhandlungen über Geſchichte, Nichtigkeit und Neinigkeit: ber deutſchen 
Sprache, Darunter als erfle die für feinen Standpunkt wichtige, „Was ift Hechbeutfch 9“ 
Ueber den deutfchen Stil, 3 Theile, Berlin 1785 unb 86, 4. Aufl. 1801, ſtellt sum 
erfien Wale die Theorie des Stils als ein Ganges auf, Vollſtaͤndige Amveiſung zur 
teutfchen Orthographie, 2 Theile, Leipzig 1788, 3. Aufl, 1812: Gefchichte ber Go⸗ 
tben und ihres Sprache, ald Boreinleitung in Ulfila's Bibelüberſetzung, grdruckt im 


Zahn's Ausgabe des Ulſfila's, Leipzig 1805. Aeltere Gefrhichte Der Deutächen, ihrer 


Sprache und Literatur, Leipzig 1806. Seine amtlicge Stellung als. Obenbibliotgeler 
in Dresden, in der er fi übrigens Dusch Anordnuug und Leitung des ihn. untergebo⸗ 
nen Inßituts bleibende Verdienſte erworben bat, und bie glüdliche Umgebung zeidher 
hiſtoriſchen Schäge, brachten ihn auf den Entfchluß, einen großen Theil feiner Studien 
der: Bandeögefchichte gu winmen. Doch reichten. Die ihm noch übrigen 20 Iabze nicht. 
aus, diefen Blan in feiner gangen Vohfändigkeit zur. Mollendang .gu.heingen. . Eine 
faſt ganz fertige Gaſchichte der Markgrafen von. Meißen, wozu über 40 Fascikel. Acten 
uud Diplome gehören, und eine Geſchichte van Kurſachſen und den. färhflichen Lauben. 





vom: Jahre 1300 bis 1505 in 12 eng gefehsiebenen und ſchon valkig gesshneten Foliob 
den, mit einer vollflänkigen Urkundenſammlung, hinterließ ex handſchriftlich und beſchraͤt 
ch darauf, fein Directorinm oder dyeonologifches Verzeichniß der Quellen der ſuͤdſächſiſe 
Geſchichte (Meißen 1802) herauszugeben, wem einige Jahre vorher fein Eritifches Verzeich 
der Landkarten der ſaͤchſiſchen Lande (Meißen 1796) voraudgegangen war. Ganz 
Ende jeined Lebens gab er noch Zeugniß von einer lange im Stillen gepflegten all 
meinen linguiftifchen Ihätigkeit in feinem „BWithridates oder allgemeine Sprachentunt 
Uber ver ehrwürdige Greis ſah blos den erfien Theil, nach deſſen Vollendung ihn 
sd von feinem langen und mühſamen Tagewerke abrief. Aus feinen binterbliebe 
Bayieren fepte der Halle'ſche Profeſſor Joh. Severin Bater das Werk fort: 1. Tb 
Berlin 1806. Theil 2—4 von Bater 1809-1857. Unermühliger Fleiß, Treue 
feinem Berufe, fchlichter biederer Sinn, befcheidenes, anfpruchslofed Weſen, glühen 
Eifer, wo es Recht und Wahrbeit galt, machten ihn feinen Zeitgenoſſen wertb ı 
erhalten fein Andenken in Ehren. Bon andern feiner Werke erwähnen wir n 
ven Berjuch einer Geſchichte der Eultur des menfchlichen Geſchlechts, Leipzig 17 
Iertfegung und Ergänzungen zu Jöcher's GelehrtensZerilon; 2 Be. A—%, Leis 
1784 — 87. Gefchichte der menfchlihen Narrheit, 7 Bde. Leipzig, 1785 — 
In Bezug auf vie übrigen und Die einfchlägige Literatur fehe man Hörde 
Lexieon Deutscher Dichter und Brofaiften, Br. 1, ©. 13—25, Br. 5, ©. 
bis 707, Bd. 6, 537—39. Meuſel's gelehrtes Deutfchland 1, 23—28; 9, 11; 

5 fg. Erſch u. Gruber Encycl. 1, 404—6. Leſſing, berög. v. Lachmann, 11, € 
bis 654. 12, 409. Jen. Lit.» Zeitg. 1804, Mr. 24—26. 39 ff. Jac. Grim 
Geanm., 1. Ausg. LAXIV. fg. Deutſches Wörterb., Bo. 1, XXIH. fg. Koberftei 
Grundriß 2, 1060 ff. 

Adelung (Friedrich von), Neffe des Sprachforfchers Joh. Chriſt. Adeln 
auch um Sprachforſchung und Gefchichte verbient, einer von den Männern, Die gerinani| 
Gultur nach Rußland getragen und die Ehre des deutſchen Namens dort verbre 
haben. Er war geberen am 25. Februar 1768 zu Stettin, flubirte Ausgang 
achtziger Jahre zu Leipzig Philofophie und Jurisprudenz, ging dann als WBegle 
einer kurluͤndiſchen Familie nach Italien und hatte Dafelbft einen mehrjährigen Aufenth 
befonderd in Rom, wo er fih den Zugang zur vaticanifchen Bibliothek und ih 
Schatzen zu verſchaffen wußte und befonverd mit den dort befindlichen beutfchen, « 

. Gelpelberg weggefhhrten Handſchriften fich bejchäftigte. Eine Frucht dieſer Unterfuch 
war feine Nachricht von altteuifchen Gedichten, welche aus ber beidelbergifchen Bibliot 
in bie vaticaniſche!gekommen find, nebft einem Berzeichnifie derfelben und Auszüg 
Königöberg 1796. Ferner: Altteutiche Gedichte in Rom oder fortgeſetzte Nachrich 
von heidelbergiſchen Handſchriften in der vatic. Bibl. nebſt einer VBorrede von dem 
Hofe. Adelung über Handſchr. von altteutfchen Gedichten in der churfürftl. Bibl. 
Desden, ebend. 1799. Nach feiner Rückkehr aus Italien 1793 ging Adelung n 
Riga und wurbe 1796 Secretair bei dem Collegium der allgemeinen Yürforge 
Mitau. Aus dieſer Zeit fchreiben fich folgende Auffäpe: Beitrag zu dem Berzeichn 
der ſchwaͤbiſchen Dichter, in Braga und Hermode Bo. 3. Abth. 2. ©. 88-99. Ue 
die norbifche Literatur, Gefchichte und Mythologie, in Bederd Exrholungen 1797 Bd. 
Ueber das Alter einiges der vorzäglichfien norbifchen Gedichte, ebendaf. Bd. 4. Nr. 
Broben der Dichtung ungebildeter Völker, erſtes Dutzend, ebendaſ. 1799. Bo. 1. Mr. 
©. 1M-—208. Später finden wir ihn beim Wechfel- Gefchäft de8 Hof⸗Banqui 
Barın von Krall in Petersburg, im April 1800 als Cenſor beim beutfchen Pete 
burger Theater, 1801 als Director deſſelben. Sein Werk, Entwurf einer flatiftifd 
Befchreibung bes Furländifchen Gouvernements, Peterob. 1801, wurde auf Befeht \ 
Kaiſers Paul I. gevrudt. Es erſchien damals ferner von ihm: Nachricht von I 
Werken des fpunifchen Er-Iefniten Don Lorenzo Hervas über die Sprachen (in Gaspa 
und Vertuchs allgem. gesgr. Ephemeriden 1601. Stud 12) Baufllippe, Peterab. 1 
Zeh des Gäfar, nach Calpurnius, Petersb. 1802. Statut der St. RPetersbur 
Nuſtkerklaffe, chend. 1803. Machrichten yon Gampi,; berahmten Wales in Wim (3 
f. d. leg. Welt, 1803: Nr. 103f.). Im Jahre 1803 machte ihn Kaiſer Alexander z 
Iafiructer: feiner beiden fürngexen Brüder, der Großfürſten Nikolaus und Michael, ernan 





ign zum Gollegien-Affefor und erhob ihn in den Adelſtand. Dieſes Amt bekleidete er 
bei erflerem bis 1816, bei dem legteren bis 1818. Er gab heraus: des Titus Gal« 
purnius ländliche Gedichte überſetzt und erläutert, Peteröb. 1804. Rachricht won einer 
Handſchr. des altteutfchen Gedichte von Schafzubelfpiel (d. i. Schacdhzabefp.), im 
Wielands neuem teutfchen Merkur 1804, Sept. ©. 30-74. Auffäge und Mecenflonen 
in den Mitauer wöchentl. Unterhaltungen 1805—1807. Denterfprüche, Petersb. 1808. 
Seit dem Jahre 1813 fland von Adelung im wiflenfchaftlicger Verbindung mit dem 
Heichb- Kanzler Grafen Rumjänzow zum Behufe der Aufſuchung und Zufanmenftellung 
alfer auf Rußlands ältere Gefchichte bezüglichen handſchriftlichen Schaͤtze. 1824 erhielt 
er dad Directoriat des bei dem auswärtigen Minifterium befindlichen orientalifchen Inſtituts, 
das ihm den Zugang zum Reichsarchiv eröffnete, eine Stelle, die er bis zu feinem Tode 
bekleidet bat. Im folgenden Jahre wurde er noch Praͤſident der Petersburger Alabemie 
der Wiflenfchaften. Bon feinen Hifterifcgen, untiquarifchen und linguiftiichen Arbeiten 
diefer Beriode nennen wir: Siegmund Freiherr von Herberftein, mit befonderer Rückſicht 
anf feine Reifen in Rußland (1. Hälfte des 16. Jahrhunderts), Peteröb. 1818. Auguft 

von Meyerberg und feine Reifen in Rußland (Bitte des 17. Jahrhunderts), 
Detersb. 1827. Die Korfunifchen Thüren in der Kathevrale zur heiligen Sophia in 
Nowgorod, befchrieben und erläutert, Berlin 1823; darin ein Aufjag über die ehemals 
in Nowgorodb befindlichen fllbernen Thüren, die aus dem alten fchwebifchen Königäflge 
Sigtuna als Siegsbeute nach Rupland geführt worden find. Katharina ver Großen 
Berdienfte um die vergleichende Sprachforfchung, PBetersb. 1816. Rapport entre la 
langue Sanserite et la langue Russe, Petersb. 1815. Ueberſicht aller befannten 
Sprachen und ihrer Dialecte, als Einleitung zu einer Bibliotheca glotlica, Peteröb. 1820. 
Verſuch einer Literatur der Sanskritſprache, ebendaf. 1830. 2. Aufl. 1837. Die 
legten Lebensjahre war er befchäftigt mit Auffuchung augläudifcher Nachrichten, Die den 
Altern Zuſtand und die Gejchichte Rußlands aufklären komten. Er beabſichtigte fie 
in drei bejonderen Werfen herauszugeben. Das erfte follte eine Sammlung von nod 
ungenrudten Original-Berichten der Ausländer über das ältere Rußland umfaften, ‚wozu 
ee fich Materialien aus Rom, Wien, Wolfenbüttel, London und Stodholm verfchaflt 
hatte; das zweite follte eine Fritifch-literarifche Ueberficht der gebrudten und ungedruckten 
Berichte aller biß zum Jahre 1700 nach RNußland unternommenen Reifen, etwa 260 
an. Zahl, geben; das dritte enwlich eine Nachweifung ber ausländifchen Nachrichten über 
das ältere Rußland von den frühelten Zeiten bi8 zum Ende des 17. Jahrhunderts. 
Bei diefer Arbeit ereilte ihn zu Petersburg am 30. Jannar 1843 in feinem 75. Lebens⸗ 
jahre der Tod. Nachmals erfchlen dieſes Werk mit dem Titel: Kritifefeliterarifche: Uober⸗ 
ficht der Heifenden in Rußland bis 1700, 2 Bde., Leipzig 1846. Er war zulegt 
Staatsrath und Nitter des St. Annen⸗Ordens 2. Klafie, fo wie bed preußifchen rothen 
Adler⸗Ordens. 

Aden, das Gibraltar des Dftens, liegt auf einer 2%, Meile von Oft nah Bell 
ſich erſtreckenden Halbinſel an der Sübküfte Arabiend, in dem Krater eines erloſchenen 
Vulkans, defien Thaͤtigkeit Alles, was wir von den Wirkungen neuer Bulkane wiſſen, 
weit überfliegen Haben. muß. Maſudi, der Begleiter Muhamed's umd einer ber frucht- 
barſten arabifchen Befchichtfchreiber und Geograph, geboren zu Bagdad und in Soſtat 

geſtorben, gedenkt feiner, nachdem er von den Feuerbergen Siciliens und in dem Reiche 
Waharadjch geſprochen, als in der Wüſte Barhet vorhanden, im Gau Naſafan und 
Habramat im Lande Schaher gelegen, und fagt: „Sein Getöfe, dem Mollen des 
Donners gleich, ließ fich damals viele Stunden weit "pernehmen , und aug feinen Ein⸗ 
geweiden wurden glährothe Steine mit einem Strome flüfjigen Feners audgefpieen. * 
Das Borgebirge Üben, der einzige bemerkenswerthere Zug auf der ganzen Küfle Süd⸗ 
Arabiens hängt gegen Nord⸗Oſten mit dem flachen Ufer des fehlen Landes burch einen 
[malen Streifen niederen, and zertsümmerten Korallen und Mufcheln gebildeten Sand⸗ 
bodens zufammen, der nicht nur die Berbindungsfiraße zum Handel mit dem. inneren 
Lande, fondern auch den Hintergrund einer prächtigen Bai bildet, die einen ſicheren, | 
bei Tag und Nacht leicht zugänglichen Hafen ſelbſt für eine große Flotte gewährt. Die 

gamze Halbinfel iR eine 1700 Fuß Hohe vulfanifche, aus Trachyte, Dolomit und Ba⸗ 

faltfelfen,, fo wie ans Trämmergefleinen und Tuffe beſtehende Maſſe, an dey nur gegen 











dauerndes Wachen, fo wie durch Schmutz außerordentlich Kitten, fo iſt pen jept doch, wo Die 
Krankheitsurſachen gehoben find, eine der gefimbeften britiſchen Stationen und die Zahl 

der Kranken im Spital überfteigt felb in den Monaten größefter Hitze felen ſechs | 
Beocent. Ein merkwürdiger Umſtand gejellt fh noch Hinzu, daß die Per, welche fo 
oft Das Inmere von Demen durchzieht, und gleich dem Marſche einer verheerenden 
Armee ihren Weg mit Leichen betreut, niemals nad) Aden gedrungen tft, obwohl Bier 
namentlich der Begräbnißplag mephitifche Dünfte ausftößt. 

Außer der Garnifon, den europäifchen und einigen armenifchen Kauflenten finb 
Die Einwohner Aden's Abyſſtnier (Somalt), Juden und hauptfächlich Araber, von denen 
jede Nation jedoch einen befondern Theil der Stadt bewohnt. Ueberall, wo ſich eine 
Deffnung in ven Helfen befand, wo nur die Möglichkeit eines Durchganges zu erbliden 
war, find Baftionen, Batterien und dicke Mauern errichtet. Letztere find oft auf den fteilften 
Wänden angebracht, als ob fie daran gelebt wären over fie erheben ſich auf den ſteil⸗ 
fien Berglänmen, gleich als ob die Natur fle dort gebaut hätte. In den Thalern um 
die Stadt find tkiefgegrabene Bifternen, welche fi überall in großer Zahl am Fuße 
ver Berge finden und von denen die meiften an der weſtlichen und ſadweſtlichen Seite 
Aden's, wo der centrale Hoͤhenzug feine größte Höhe erreicht, liegen. Sie find vor⸗ 
nehmlich in einer Mafle von Kied (Konglomeraten) und Tuff angelegt, nur ſehr wenige 
in dem compacten Felſen, haben gemeiniglich eine Tiefe von 30 bis 40 Fuß und gebt- 
ren unter das Vollendetſte und Hervortretendſte, was Die Vergangenheit Aden's hintere 
laffen bat. Jet gereinigt, liefern ſie das fehönfte Trinkwafler in Menge und ſchließen 
fig an die Waflerleitung, die zwei dentfche Meilen weit aus dem Innern Wafler an 
den Hafen brachte und die lange Zeit für eins der großartigften und coloffalften Werke 
aus der MNömerzeit gehalten wurbe, windig an. Die Waflerleitung, 16320 Ellen Taug, 
mit einem 19 Zoll tiefen und 16 Zoll weiten Canal, ift aus Steinen und Badfleinen 
gefertigt und nimmt in ihrem ganzen Bau eine Breite von 41, Fuß ein. 

Aden bietet in feiner Geſchichte ein Bild der Abwechfelung von Glück and Unglück 
— es blühte und ift gefallen, um mit neuem Glanz aus feinem Ruin bervorzugehen. 
Wie. «8 einft fland, war es die Hauptflabt des fogenannten glücklichen Arabiens. 
Schon der Prophet. Ezechiel erwähnt im 27. Gapitel feines Klagelieves über Tyrus 
auch Die Stadt Aden, meldhe damals Eden bieß; fpäter finden wir fie vom Ptolemaeus 
Arabiae Emporium, vom Philoftorgius Adane und darauf zum Unterfchiede von Aden 
Lanh Aden Abyan genannt. Zur Zeit Eonftantin’8 des Großen herrſchte bier der 
König der Hinjariten, eines mächtigen Araberftammes, welcher Chrift wurde und ein 
neftorianifche® Bisthum in Aden gründete, das die ſchoͤnſte Stadt Demend und berühmt 
war wegen feiner uneinnehmbaren Befeftigungen, wegen feines ausgedehnten Handels 
und feiner fchönen Häfen. Hier wurden die Stameele der Koreifchiten mit koſtbaren 
Ladungen an Gpezereien belaftet, bier tagte zuerft ein großartiges Handelsleben, von 
bier and wurde Indien mit Pferden verfehen oder indiſche Waaren und Gewürze auf 
feinen Fahrzeugen über das rothe Meer in zwanzig Tagen nach Suez verſchifft, um 
weiter zu Lande nach Alerandrien beförvert zu werden. 30,000 Reiter konnte Aden, das 
dom Islam unterworfen worden war, zur Zeit ber Kreuzzuge zum Entfag des belager- 
ten Joppe fenden, und wenig mehr als breifundert Iahre bis zu ihrer Beſetzung Sei⸗ 
tens der Briten find vetfloffen, feit die berabgefommene Stadt ımter den reichten 
Stapelorten des Morgenlandes ihre Stelle hatte. Ihr Sinken fchreibt fich erft vom 
Shlufie der hochberühmten Herrfchaft Suleimans des Prächtigen ber. 

In den Augen des wahren Gläubigen wird das Kap Aden durch Die Sage ge- 
heiligt, daß bier in Perfon „ver allerleute Prophet“ Muhnmeb gepredigt babe, der der 
Stifter eines Reiches wurde, das in weniger als einem Jahrhundert ſich vom Indus bis 
zu den Pyrenaͤen ausbreitete. Bin Heer von 80,000 Metern ergoß fih in's Feld, 
welches die Unterjochung von Demen vollbrachte; letzteres, von alteräher in hohem Rufe 
wegen ber Blüdfeligkeit feines Himmelsſtriches, wegen feiner Fruchtbatkeit und alles 
übertveffenden Reichthümer wurde zu ber Zeit, da Konftantinopel in die Hände Moha⸗ 
med's II. fiel, ein unabhängiges Königreih. Dsmanm und PBortugiefen, welche letz⸗ 
svere es chen 1513 unter Albuquerque mit einer Flotte von 20 Segeln belagert und 
den Statthalter wenigftens zu einem Tribut verpflichtet hatten, firitten ſich dann Heiß 








um den Beſig des Ortes, bis endlich ber nebenbuhleriſche Kampf der beiden Sing 
um Die Oberherrſchaft des Orients ermattete und die Stabt den Türken, in deren B 
fg fie zulegt geblieben, 1630 verloren ging und in die Gewalt arabifcher Imame fir 
Die große von der Natur verliehene Stärke, noch erhöht durch Die großartig: 
Befefigungen, welche Sultan Selim rund un die Stadt Hatte aufführen laſſen, macht 
Aden jeht zu dem paſſendſten Schlupfwinfel für die feeräuberifchen Horben der Wüſt 
und die gefehlofen Söhne Iſmaels, die nahliegenden Gewäfler nach Raub durchſtreifen 
beluden ihre fehle Burg mit schwerer Beute. Nach dem Berluft eigener Herrfchaft ab 
lieg ſich nicht erwarten, daß Aden feinen Flor behalten würde, fein Handel ging in dı 
nebenbuhleriichen Hafen von Moccha über, und die erbärmliche Verwaltung, die une 
täglich fchwere Bedrückung und die unausgefehten Fehden und Plünderungen verurjacht: 
den Wegzug ber vermöglichen Einwohner. Zur Zeit der Beflgnahme durch die Brit 
waren neunzig verfallene Käufer, die 600 Menſchen in großer Dürftigkeit beherbergte 
alles, was übrig geblieben war, um von der althergebrachten Herrlichkeit Adend Zeugn 
zu geben. Die Stadt lag in Trümmern und Veroͤdung bingebreitet, und Haufen vı 
Steinen, untermifcht mit Ziegeln und Schutt, wiefen mit düſterm Ernft auf das Gr: 
ber Mofcheen und ſchlanken Minaretd. Die prächtige Straße, die den einzigen Zugar 
Adend bildet, die großartige Waflerleitung, die Eifternen und die ausgedehnten Vewah 
ftätten für die Todten legten Zeugniß ab von dem hohen Stand der einft volfreich 
Landeshauptfladt und offenbarten die Großartigkeit, die Aden ehedem in Werfen zu 
öffentlichen Nugen mit Ruhm aufmeijen Eonnte. | 
Nah Beendigung der großen Kämpfe gegen das revolutionaire Frankreich ur 

den Störenfried, der ſich zum Machthaber diefes Landes aufgemworfen Hatte, richte 
England bei feiner Uebermacht, Die es zur See errungen, feine Blicke auf den, dur 
feine Lage fo trefflich geeignet, in der Nähe der Straße von Bab-el⸗Mandeb (d. 
Thor der Bekümmerniß) für das rothe Meer daflelbe zu werden, was Helgoland | 
der Nordſee, St. Helena im Atlantifchen Ocean, Gibraltar und Malta im Mittelmeer 
find. Der fhon damals oder vielmehr wieder auftauchende, freilich von einer ande 
Seite, wie fpäter im Jahre 1857, ausgehende Plan, die Landenge von Suez zu durd 
ſchneiden und: dem Verkehr auf dem rothen Meere durch Dampfichifffabrt einen neu 
Auffhwung zu geben, vermehrte die Wichtigkeit des Ortes beveutend. Die indo=britifd 
Geſellſchaft wollte ihre Poft über das rothe Meer geben laſſen und bedurfte ba; 
eints Poſtens, wo ihre Schiffe gegen die Seeräuber und den Oftmanfun- Schu finde: 
ftiſches Waſſer und Kohlen einnehmen Fonnten. Zu dieſem Allen eignete fih Abı 
trefflich und hatte außerdem die befte Lage, um den Handel mit Abyifinien zu begin 
Rigen; ſogar hoffte man, den Verkehr Moccha's nach Aden wiederum zu ziehen un! 
was eine geoße Hauptfache war, den beſonders im Jahre 1836 fich haͤufenden Klagen üb 
bie herrſchende Unficherheit an den arabifchen und abyſſiniſchen Küften ein Ende zu mache 
Eigenthüner der Stadt war Mohamed Huffein, ein despotiſcher Mann, der bei dı 
Seeräubsreien ſich nicht wenig beſſer als ein gemeiner Araber gezeigt hatte. Bal 
barauf ereignete ſich Der Fall, wo das Schiff eines Arabers, das unter britifcher Flagı 
fuhr, an Aden's Küfte firandete, oder, wie lärmfüchtige Perſonen meinten, geflrand 
wurde, und das Die Gingeborenen ald ein Gefchent Allah's betrachteten und ausplür 
derten — ein unglüdlicher, vefp. glücklicher Zufall, den die anglosinvifche Regierun 
zu benugen bejchloß, um fich Adens zu bemächtigen. Im November 1837 wurde Cd 
pitain Haines von Bombay abgefchict, um volle Genugthuung zu fordern, zuglei 
aber auch, um wegen Abtretung Aden's zu unterhandeln. Der Sultan von Lahadf 
mußte nachgeben, und ließ fich auch endlich bereven, Die ganze Halbinjel Aden gege 
eine jährliche Summe für ſich und feine Erben an die Engländer abzutreten. Als ab: 
| Saines im October folgenden Jahres mit neuen Inftructionen und einiger Mannſcha 
wieder vor Aden erfchien, hatte Muhamed Huffein feine Abſicht hinſichtlich der Abtr 
tung Adens gänzlich geändert und er erflärte, fein Verfprechen rücjichtlich der Entſche 
digung des geplünberten Schiffed nur dann erfüllen zu wollen, wenn son dem Anfau 
Adens ganz abgefehen werde. Inzwiſchen wurde dem Schiffe, worauf fi Capitai 
daines mit feinen Leuten befand, Holz und Waſſer abgefchnitten, und daſſelbe muß! 
ſich alle Bediufniſſe diefer Art von ber entgegengefegten Küfte zu verfchaffen fuchen 





Indeß nahmen Die Angelegenheiten ſchnell eine ernfte Wendung. Capitain Haines blolizte 
Aden auf das Strengfte, und erbat ſich durch das von Sue nad Bombay geheude 
Dampfboot VBerflärfung, die, Ende December, aus 700 Bann nebft einigen Kriegs- 
fohiffen beftehend, von Bombay anlangte. Am 19. Ianuar 1839 begann der Angriff; 
die Stadt wurde nach Furzem Widerftand genommen und Muhamed Huflein überzeugte 
fich durch dieſe Demonftration, daß Frieden angenehmer fei ald Streit, und er deshalb 
fehr vernünftig handeln würde einzufehen, daß England, vertreten durch bie oſtindiſche 
Eompagnie, nur der Humanität ein Opfer brächte, wenn es ihm Die Regierungsjorgen 
für die Stadt abnähme. In dem Bertrage vom 2. Februar 1839 überließ er demnach 
Aden der indosbritijchen Negierung, die die Entjchädigungsforderung für dad geplün⸗ 
derte Schiff fallen ließ. Im November veffelben Jahres verfuchten die Abd⸗Ali's und 
bie Fudhli's den Engländern die Stadt zu entreißen, fcheinen aber nach zwei blutig 
zurücgeworfenen Angriffen den Plan der Eroberung Aden's für immer aufgegeben 
zu haben. 

Wichtige Handelsvortheile find aus der VBeflgergreifung eined fo fichern Nieber- 
lagsorts, wie Aden iſt, erwachſen, in deſſen Hafen man zu jeder Zeit des Jahres gleich 
leicht ein» und ausfahren Tann. Der bequemfte Zugang ift den reichen Landichaften 
Hadramant und Demen gewährt, berühmt wegen ihres Kaffees, ihres Weihrauchs, ihrer 
mannigfachen Barze, ein gewinnbringender Markt für die Bewerböerzeugnifle Indiens 
und Großbritanniens breitet fich durch die gegebene Leichtigkeit des Verkehrs mit der 
afrikanifchen Küfte fünlih von Bab el Mandeb aus, mo die hohen, an das Meeres⸗ 
ufer grenzenden Gebirgözüge mit Myrrhen, Weihrauch und Eoftbare Harze hervorbrin- 
genden Bäumen befleidet find, mährend die Thäler im Binnenlande Schafe, Apotheler- 
woaren, getrocknete Häute, Goldſtaub, Moſchus, Elfenbein, Rhinoceroshörner x. im 
Ueberfluß geben. Unter dem Banner Alt-Englands genießt Aden Glück umd Sicherheit 
in einem Grabe, wie nie zuvor, felbft in den Tagen feiner höchften Herrlichkeit, als es 
in der vorberften Reihe der Handelsmaͤrkte des Morgenlandes ftand und als Yahrzeuge 
aus allen bekannten Theilen ver Erde auf feiner vielgerühmten Rhede ſich drängten. 
Auswanderer aus den Binnenländern ſowohl, ald aus den Außenländern Habramants 
und Demend und von beiden Ufern des Rothen Meeres lafſen fich täglich innerhalb 
feiner Mauern nieder, um Zuflucht vor unerträglich harter Bedrückung zu fuchen und 
fih von der drüdenden Laft unerfättlicher Defpoten loszumachen, unter ber fle lange 
gefeufzt haben. Unter dem Segen eines milden, aber feften Regiments bat innerhalb 
eines Zeitraumes von zwanzig Jahren der aus arabifcher harter Eigenmacht und Miß- 
berrichaft errettete Laͤndermarkt einen Höhenpunkt erreicht, der felbft feinen alten Reich⸗ 
thum und Auf unter fich Laßt; nahe an 50,000 Einwohner bewohnen jegt Aden, mehr 
als zweihundert Kameele Tommen täglich an und eben fo viel geben täglih ab, um, 
ſchwer beladen, ald Transportmittel des Binnenhandeld zu dienen, und als Breihafen 
ift Aden jegt Die Königin der nahen Meere, und als unbezwingbare Feſtung, in Folge 
der großartigen Vertheidigungöowerke, die Beherrfcherin des Rothen Meeres geworben, 
das man jetzt, nach Beſetzung der Infel Perim und da die englifche Regierung die 
Arrangirung eines unlöglichen Pachtverhältniffes mit der türkifchen Regierung in Bes 
treff diefer Infel, des Schlüffeld der arabifchen Meerenge, betreibt, als vollftändig unter 
der Herrfchaft Britanniens fiehend anſehen Tann. 

Adersbach. In der gebirgigen Einfenkung zwifchen dem Niefengebirge und den 
Sudeten, in dem Glatzer Becken, nahe bei dem Dorfe Adersbach in Böhmen, in dem 
Koͤnigsgraͤßzer Kreife und ganz nahe an der fchleflichen Gränze, unwelt der geraden 
Linie, welche die böhmifche Hauptſtadt mit der fehleftfchen verbindet, liegen die 1900 
Fuß über dem Meeresniveau hoben Adersbacher Felſen, das Ziel fo vieler Reiſenden 
und Der Gegenfland fo vieler fchreibeluftiger Touriften. Seit Langem hat man fldh 
daran gewohnt, dieſes Belfenlabyrinth als einzig in feiner Art darzuſtellen und es nur 
etwa mit dem bei Antequera in Spanien, fleben Leguas von Malaga, der felflgen 
Umgegend der pittoreöfen Rouifenburg bei Wunfledel mit ihren unzähligen wollfadförmi- 
gen Blöcken oder vielleicht mit derjenigen der 2830 Fuß hoben Heufchener verglichen, 
und die Felſen fir eine Merkwürbigfeit erften Ranges gehalten, die zu fehen, wie Fürſt 
Hermann PBüdler in feinen „Briefen eines Berflorbenen” meint, man wohl eine Meife 





‘ 








Br Bar JE EP 


welcher es bis zu dem verheißenen allgemeinen Koncilinm in Deutſchland mit ben 
Religionsſachen gehalten werben ſollte. Kurfürſt Noritz hatte mar gegen dieſes Interim 
förmlich peoteftirt; aber es fiel ihm doch ſchwer auf? Herz, vielleicht unmichtige Dinge 
zur Urfache einer bleibenden Kirchenfpaltung machen zu lafien. Darum veranlaßte ex 
eine nochmalige genaue Unterfuhung und berief eine Verſammlung von Theologen 
(22. Dec. 1548) nach Reipzig. Aber fchon ehe dieſe — Melanchthon, Paulus Eberns, 
Johann Bugenhagen, Georg Major und Johann Pfeffinger — ihre Meinungen aud- 
getaufcht und zun Schluß gebracht hatten, erließ die hamburgifche Geiftlichleit, gewiß 
unter dem Einfluß des damald noch in Wittenberg lebenden Flacius, ein Schreiben an 
bie fachfifchen Theologen, gab zu, daß manche Gebräuche im Cultus Adiaphora, um 
mefentlihe Stüde feien, und zählte dann alle Diejenigen: auf, mweldye wegen ihres Zu⸗ 
fammenbanged nit dem römifchen Uberglauben durchaus vermorfen werden mirßten. 
Das Interim erfchien und hatte wirflich gerade dieſe Stüde verworfen und andere, als 
unmwefentlich erfheinende, beibehalten. Diefe waren: lateiniſche Gejänge, Hord und 
Vespern, Privatbeichte, Firmung oder Gonfirmation, Oelung, SHochaltäre, Lichter, Bilder 
der Apoftel und Heiligen, Chorhemden, Meßgewänder, Tracht der G®eiftlichen. Flaeius 
aber Hatte Eeine Ruhe, verlieh ohne Abſchied Wittenberg, ging nach Magdeburg, ver⸗ 
einigte fich bier mit Nic. v. Amsdorf, Nic. Gallus und Weſtphal, welche wegen ihres 
Widerfpruchd gegen das Kaiferliche Interinn aus Naumburg, Regensburg und Hamburg 
vertrieben waren und gab nun die beftigften Streitfchriften gegen das leipziger Interim, 
gegen Melanchthon und gar gegen den Kurfürfien Herand. Ihnen gefellten füh noch 
andere Gegner zu, und der Streit wurde bald m allen Iutherifchen Laͤndern und mit 
einer Bitterfeit geführt, die wir heute kaum mehr begreifen, die aber daraus, daß Damals 
die religidfen Dinge das eigentliche dffentliche Lebenselement des deutſchen Volles 
waren, einigermaßen erklärt werden fünnen. Es fommt hinzu, daß in der Belampfung 
gewifler geheiligter Formen, die in ihrem erflen Urfprung undentfdy waren und wohl 
gar eine leife romanifch » vorchriftliche Färbung hatten, fich der wiederermachte deutſche 
Bolkögeift eine jehr beachtungswerthe Anerkennung zu verfchaffen wermochte. Ganz Unrecht 


hatten darum die Gegner des Unionsvertrages nicht; Denn wenn auch bei geböriger Belcb- 


zung Seitend der Geiftlichen der Aberglaube von dieſen Gebräuchen fern gehalten werben 
fonnte, fo waren fie doch einmal abgefchafft, und es lag der Berbacht zu nabe, daß ihre 
Wiedereinführung der erſte Schritt einer Rückkehr in den Schooß der römifchen Kirche fein 
follte. Ueberdies machten fie geltend, daß das ganze Interim aus Menfchengefälligfeit, aus 
Rückſicht auf den Kaifer, entftanden fei, und daß die Wahrheit mehr gelten müffe, ala ber 
Briede. Auf der andern Seite aber hat das, was Melaachthon und feine Freunde zu folcher 
äußerlihen Wieberannäherung an Rom trieb, auch feine gute und gerade in umfrer 
Zeit recht zug Erkenntniß gebrachte Berechtigung: fte wollten den dur die Reforma⸗ 
tion entflandenen Riß in der beutfchen Kirche nicht vergrößern, ſondern wo möglich 
nach und nach wieder heilen; fie liebten Bolf und Vaterland zu fehr, als daß fie nicht 
‚ einige Lieblingsmeinungen hätten daran geben fallen. Nur machten fie freilich eime 

Vermechslung: auf dem Gebiete des Mein und Dein flegt der mit Entfagung Vermit⸗ 
telnde, auf Dem Gebiete der Wahrheit giebt ed Tein Mittelving zwifchen Ia und Nein, 
und die folgerichtig Entfchiedenen behalten zulegt dad Feld. Die ganze Reformationb⸗ 
gefchichte und das heutige Verhältniß der römifchen und ber evangelifchen Kirche geben 
das Zeugnig. Die Folge dieſes Streites war die allmälige Trennung ber ſtrengen 
Lutheraner von Melanchthon, deſſen Anhänger von jet ab den Namen der PhHilippiften 
Fefamen. Der Augsburger Religionsfrieve (1555) machte zwar bem Streite ein Enbe; 
aber er wurde doch literarifch noch eine Weile fortgeführt, bis Die Gowcorbienformel 
(1577) feftfeßte, daß Die Adiaphora Eeremonien und Kirchengebräuche feien, welche in 
Gottes Wort weder geboten noch verboten, fondern allein um-ber Orbnung und des 
Anftandes willen oder zur Erhaltung guter Zucht ven der Kirche in guter Meinung 
eingeführt feien, daß in diefen Dingen jede Kirche Freiheit habe, zu ändern und gu 
mehren und um der Schwachen willen manchmal auch etwas nachlaffen dürfe, ohne fe 
aber jemals von den Gegnern der reinen Lehre zur Foörderung des Aberglaubens ſich 
aufbringen zu laſſen. Melanchthon's Meinung hatte ſomit eigentlich den Sieg gegen 
bie firengen Lutheraner erhalten. Merkwürdiger Weiſe drehte fich ſpaͤter Die Sadıe 


‘ 


— — — — — — 





IIWRULIN: zu, 


gerade um: in dem Streite gegen bie Galviniften, welche bei dem blieben, was fie von 
Anfang an in Uebeseinfiimmung mit ben Intherifgen Giferern gewollt hatten, nahmen 
ſich die Lutheraner des von ihren Vätern verworfenen Adiaphora auf's Lebhaftefte an, 
und heute noch ſind die firengen Lutheraner durch Das allmälige Wiebereinführen auch 
langſt vergeffener Adiaphora als Foͤrderer einer vielfach gemwünfchten und ebenfo viel- 
fach gefürchteten Union von Romiſchen und Evangelifchen angefehen. 

Der zweite abiaphoriftifche Streit wurde durch Spener gegen Ende des 17. Jahr⸗ 
bunderts veranlaßt. Es fland in jener Zeit fchlimm um Die evangelifche Kirche. Streit 
bee Orthodoxen gegen die Schriftglänbigen und Vernachläffigung der Gemeinden und ihrer 
Heiligung war der allgemeine Charakter. Spener drang auf Heiligung des Lebens und 
darum auf Befeitigung der damals im Schwange gehenden weltlichen Vergnügungen, als: 
Tanz, Spiel, Theaterbefuch, Scherz, VöHerei in Efien und Zrinten, Kleiverpracht. Man 
nannte das damals Mitteldinge, Miaphora. Spener war aber weife genug, nicht etwa z. B. 
gegen das Tanzen überhaupt zu Felde zu ziehen, fondern nur gegen die Art, wie e8 
damals „indgemein praktizirt“ wurde. Einige feiner Anhänger in Gotha hatten lediglich 
zum Privatgebrauch ein auf diefe Punkte bezügliches Glaubensbekenntniß aufgefeht. 
Died wurbe aber wider ihr Wiſſen veröffentlicht, und nun entbrannte ein fehr heftiger 
Streit. Wie gewöhnlich, verrannte man fich auf beiden Seiten in Ertreme: die Pie- 
tften hielten Feine Handlung des Chriften für gleichgültig, und fie hatten Mecht; aber 
fe verdammten Tanz, Spiel, Scherz, Theater, Gaftereien, ohne allen Unterfchied und 
lamen dadurch ins Unrecht; Die Otthodoxen führten Beifpiele an, wo der Genuß biefer 
Dinge ohne alten fittlichen Anftoß geduldet werben dürfe, und man Eonnte ihnen nichts 
anbaben, aber fie gingen fo weit, zu behaupten, daß darum diefe Dinge ohne allen 
Unterſchied für die Sittlichkeit gleichgültig wären, und fle offenbarten damit die Flach⸗ 
heit ihres Denkens. Wie weit aber auf beiden Seiten die Verirrung ging, zeigt bie 
bin umd wieder (1703 im Altenburgifchen u. a.) vorgefommene Außfchließung der 
Tänzer vom beil. Abendmahle, die Verpflichtung der Eonfirmanden, nie tanzen zu 
wollen, die Berorbnung des reufifchen Fürſten Heinreich II. (1717) an die Pfarrer, 
in ihren Gemeinden Tänzer und Spieles nicht gu dulden oder fle als Nicht-Chriften zu 
behandeln; anderer Seiis die Abfekung folcher Geiftlichen (wie im Altenburgifchen des 
Graffelius), welche wider das Tanzen eiferten. Der Streit dauerte lange fort; noch) 
ber Gegner Keffings, der Hamburgiſche Hauptpaftor Goͤze, war ein eifriger Verfechter 
der Adiaphora. Heutzutage, wo ein Unterfchien zwifchen Bietiften und Orthodoxen 
kaum noch befteht, vereinigen fich fo ziemlich Beide zu ber ſtrengeren Anficht, richten 
aber durch abſtrakte Auffaſſung und Beurtheilung mehr Schaden ald Nutzen an; denn 
die Aufgabe der geiftlichen Volkslehrer ift nicht, Die Werke eines unlauteren "Sinned 
poligetlich zu ſtrafen und zu verbüten, fonvern durch Beifpiel, Lehre und Gebet zu 
mindern und ſittlich unmöglich zu machen. 

Abindication, gerichtliche Zuerfennung des Eigenthums, wird derjenige Urtheild- 
ſpeuch genannt, durch welchen Jemandem das Eigenthum einer Sache zugewandt wird. 
Sie wird deshalb unter den Ermwerbögrfinden des Eigenthums aufgeführt und kommt 
in zwieſacher Anwendung vor. Erſtens in Anwendung auf die Theilungsflagen. Ge⸗ 
bört eine Suche (ober ein Inbegriff von Sachen) Mehreren gemeinfchaftlih, haben 
ko, wie man. jnriftifch Died ausdrückt, Mehrere das Eigenthum an einer und berfelben 
Sache zu ideellen Theilen (Duoten), fo darf Jeder die Auflöfung der Gemeinfchaft 
ordern und das Gericht bewirkt dieſelbe dadurch, daß ed entweder dad gemeinfchaft 
ihe Object, fofern Died (mie bei Duantitäten, meift auch bei Grundflüden) ohne Be⸗ 
tachtbeiligung überhaupt möglich iſt, in entfprechende reelle Theile zerlegt und jeder 
Bartei einen foldhen msſchließlich zuerkennt, oder Daß es einer ber Parteien Die ganze 
Sache gegen eine ben Anderen zu leiftende &eld - Entichäbigung überweiſt. Daß hier 
ine Beränderung des Eigenthums vorgeht, liegt auf der Hand. Bei dem erfien Modus 
wirbt jeder Theilnehmer das Eigentum an denjenigen Quoten des ihm abjudicirten 
eellen Stüdes, welche bisher ven Uebrigen gehörten, bei dem zweiten wird der Adju- 
icatar Gigenthümer der den Uebrigen biäher gehörigen Quoten der ganzen Sadıe. 
Zweitens bedient ſich die Praxis, und unter anderen PBarticular- Gefehgebungen auch 
ie preußiſche, jenes Ausdruckes, um den Zufchlag zu bezeichnen, welchen der Richter 

26 * 





aV3 


Hei gerichtlichen Verkäufen dem Be 
ein freimilfiger, fo ift er nur fer 
gerichtliche Verkauf aber ein nothw 
vor fich gebender, fo hat hier die U 
Eigenthum der zugefchlagenen Sadıı 
Tage der Uebergabe, fondern ſchon 
auf den Adfubicatar über. (S. Au 
Adler. Schon in frühefter 3 
und Erhabenen. Bei den Griechen ı 
Jupiters, doch giebt Die Mythe feine 
den gewaltthätigen Periphas in Atti 
der Vögel machen. Mero von Byz 
Befleger Typhous eingefperrten Jupı 
meiften Schriftfteller lajfen den Adler 
felöft in einen Adler verwandelt, ı 
den Ganymed geraubt, laßt die M 
gefeflelten Prometheus freflen mußte, 
Adler für den des Jupiter gehalten 
daß er ihn ald Sternbild an den £ 
Donnerfeile diente er zum Zeichen 
Gewalt und wurde als folcher auı 
angenommen, wie denn die Hetrurie 
Spige ein Adler jap. Als Diefer 
fam, nahm die Republik den Adler 
wahrte ihn auch unter den Kaifern. 
Städte Tyrus, Emefus, SHeliopoliä 
feine Bedeutung bei den Augurien. 
Ald Heerzeicdhen erjcheint t 
Berfern. Nach ihnen befeftigten au 
fannteften find diefe Feldzeichen mit 2 
in einem Tempel ded Saturn aufbew 
den ausziehenden Legionen mit gewi 
von Holz, dann von Silber mit gold 
Bligftrahlen. Die Stellung, mit au: 
anfegend. Im Lager wurden die Aı 
und wenn ed Mühe machte, fie beir 
für eine üble Borbebeutung gehali 
Verehrung für fie heraus. Dionys 
zu ihrer Aufbewahrung namentlich 
einigen Medaillen des Auguftus bri 
finden fih an den Ranzen, auf di 
Schilde, Infchriften, felbft die Kai 
geben ein treues Bild ihrer jehr 
Adler ald Heeredzeihen nur in ' 
Erft Napoleon erhob ihn wieder zuı 
befondern Adler: Wache Die 
dem Großen den jtlbernen Adler üb 
ihn bei feiner Tihronbefteigung wie: 
teen der Garde einen filbernen Ad! 
Adler im Auffifchen, Oefterreichifche 
mit dem Wahlfprudhe: Nec soli ce 
Heraldiſch. Doppelköpfig 
der‘ Trajansſaule, aber wahrſcheinlic 
ſammengezogen worden waren. Als : 
den Doppelfäpfigen angenommen ba 
bei der Theilung des Reiches in & 


uw WIUETTWD Km mL 


Stadt Gneſen ein Neſt mit jungen weißen Adlern gefunden haben fell, gab Beran- 
laffung zu der Wahl des Emblems. In frühefter Zeit befland das Ordengzeichen im 
einem ftlbernen gefrönten Adler, welcher an einer goldenen Kette auf der Bruſt ges 
tragen wurde. Bis 1705 find die Nachrichten über den Orden fehr bärftig und 
widerfprechend. Um diefe Zeit wollte der 1697 König von Polen gewordene Aurfürf 
Auguſt I. von Sachfen größeren Anhang unter den vornehmen Polen gewinnen, 
erneuerte deshalb den fat vergeflenen weißen Adler⸗Orden und verlieh ihm großes 
Anfehen. Das erneuerte Ordenszeichen befand in einem adhtfpigigen, goldenen, durch⸗ 
ſichtig roth emaillirten Kreuze mit einer erhabenen Einfafling von weißer Emaille. 
Die Spigen waren mit Brillanten pommelirt. Die Winkel mit goldenen brillantirten 
Feuerflammen ausgefüllt. Das breite von recht3 nach links getragene Band war him⸗ 
melblau. Auf dem Wittelfchilde der Rückſeite befanden fi die Buchſtaben A (ugustus) 
R (ex) und auf der Vorderfeite des goldenen Sterns die Devife: Pro Fide, Rege el 
Lege, während der Stern, den der König felbft als Großmeifter trug, da® Wort Hege 
in Grege abgeändert hatte. Mit der Theilung Polens hörte der Orden auf, da keine 
der drei Monarchen, welche daſſelbe getheilt, ihn verleiden wollte. Bis 1907 blieb. er 
erlofeyen, erwachte zwar zu einem kurzen Leben, als Konig Friedrich Auguft von 
Sachſen bei feiner llebernahme des Herzogthums Warfchau fich zum Großmeiſter aller 
polnifchen Orden erklärte, kam indefien nicht zur Entfaltung. As Großpolen an 
Rußland überging, verlieh ihn Kaifer Alerander I. von Rußland, aber nur als aus⸗ 
fchließlich polnifchen Orden, welche Befonderheit aufhörte, als Kaifer Nicolaus L im 
Folge der polnifchen Infurrection 1831 den weißen Adler unter die Eaiferlich Füntg- 
lichen Orden des ruflifchen Reiches aufnahm und ihm die dritte Stelle unter denfelben 
nach dem St. Andreas⸗Orden und St. Alesander-NewsfisOrben anwies. Aus biefer 
Zeit ſtammt auch Die gegenwärtige Form bes Ordenszeichens. Gin Ukas vom 29. 
März 1835 beitimmt, daß die Ritter des weißen Adler, welche zugleich Das Großes 
freuz anderer rufjifchen Orden beflten, den polnifchen am Halſe zu tragen heben. 
Ruſſiſche Untertanen haben bei der Verleihung 150 Rubel an die Ordenskanzlei gu 
zahlen. 

b. Der Föniglih preußifhe Schwarze Adler-DOrden Ein bin 
emaillirtes, dem Orden pour le merite ähnliches achtfpigiges Kreuz, in der Mitte mit 
einer goldenen Platte, auf welcher die Buchftaben F (ridericus) R (ex) fleben. Die 
Kreuzwinfel werden von 4 ſchwarzen Adlern mit audgebreiteten Flügeln, goldenen 
Schnäbeln, Krallen und Königsfronen ausgefüllt. Es wird an einem breiten orange 
farbigen Bande getragen. Der Stern ift fllbern, achtfpigig mit 56 Fültſpigen, Hat 
in der Mitte ein orangefarbiged rundes Schild mit einem weißen Rande umgeben. Im 
Schilde befindet fich der fchwarze Adler, welcher in der linfen Klaue einen Donnesteil, 
in der rechten einen Lorbeerkranz hält; auf dem weißen Mande die Orbeantbenlfe: Suum 
cuique! und zwei 2orbeerjweige mit goldenen Früchten. Die Kette beiteht aus 
fhwarzen Aolern mit goldenen Schnäbeln und goldenen Donnerfeilen, zwifchen welchen 
fih als Verbindungsglieder blaue Schilver befinden, Die auf 4 Seiten in Kreuzesform 
mit goldenen Kronen am Rande verzigt find. In dem Schilde wiederholen fi viermal 
in Kreuzesform die Buchftaben F und R. Der weiße Mittelraum des Schildes Inägt 
die Ordensbevife. Der erfte König von Preupen Zriebrich I. fliftete den Orden 2701 
bei feiner Thronbefteigung in Königsberg und umgab ihn mit den ganzen Glanz ba» | 
mals böchfter Orden. Bis 1712 hatte er Eapitel, Inveflitur, Geremoniell uns Be 
fehränfung der Ritterzahl. Die nachfolgenden Könige verliehen ven Orden ohne Gere⸗ 
moniell oder Verpflichtung an die böchften Staatödiener, vorzugsweiſe an Militärper⸗ 
fonen. Erſt Friedrich Wilhelm IV. flellte vie Capitel, Imveftituren, Ketten u. |. w. 
wieder ber. Die Prinzen des Eöniglichen Haufes find geborene Nitter des Ordens, Ber 
König immer Großmeifter. Dei der feltenen Verleihung des Schwarzen Adler⸗-Drdens 
ift fein Befig die höchfle Ehre, weiche einem Preußen widerfahren kann. Der Orden 
hat ein Capitel, einen Ordendfanzler, Geremonienmeifter, Servetär, Schagmeiftex und | 
Herolde. Seine Inveitituren find mit großen Feierlichkeiten verfuäpft. Der Stern beB 
Ordens und feine Devije finden fich nicht allein auf den preußifchen Fahnen unb als 
Beichen der Gardetruppen, ſondern auc an einzelnen Ausriftungs-Wegenflänben bebers 














gerifchen Ruhmes erreichte, ald er am 18. April des genannten Jahre die Rufſen bei 
Sykajocki ſchlug und flegreich die Gefechte bei Lappo und. Alavo gegen deren Ueber⸗ 
macht befand. Im Jahre 1809, als in Folge der falfchen Mafregeln, die ber König 
ergriffen, fi Schweden in der traurigften Lage befand, ſowohl nad Innen wie nach 
Augen, als Alles „Frieden und Reichstag!" jchrie, ließ fich Adlercreutzz Durch den 
Staatöfecretair Lagerbring, deflen Nichte er geheiratbet hatte, bewegen, an die Spige 
der Partei zu treten, welche den König zwingen wollte, Frieden zu fchließen und Den 
Reichstag zu berufen. Diefe Partei, deren Seele eigentlich Armfeldt war, hatte Anfangs 
nicht die Abficht, den König zu entthronen, am wenigften aber dad Haus Holftein- 
@sttorp um bie Krone zu bringen, im Gegentheil, fie beftand aus den eifrigften An⸗ 
bangern Guſtav's III., aber die Ereigniffe waren mächtiger als ſte und rifien le fort. _ 
Als Guſtav IV. Adolf taub gegen alle Vorftellungen blieb, ald andere Parteien ſich 
mächtig regten, ald namentlich Böran Adlerfparre mit der auffländifchen Weftarmee gegen 
Stockholm beranzog, von dem man wußte, daß er das regierende Haus verdrängen 
wollte, da ftellte fich Adlercreutz an die Spitze der Offiziere, die am 13. März 1809 
den König im Schloffe zu Stodholm verhafteten. Adlercreutz war e8, ber ed wagte, 
zuerft Hand an feinen König zu legen, Oberft Silverſtolpe entwand dem Monarchen ben 
Degen, Beldmarfchall Klingfpor war Zeuge. Adlercreutz ließ danach den Obeim des . 
Könige, Herzog Barl von Södermannland, die Negentfchaft übernehmen und wollte, daß 
derfelde Die vormundfchaftliche MNegierung für den unmändigen Kronprinzen Guſtav (jet 
Prinz Wafa) führen ſollte. Cr konnte aber Böran Adlerfparre nicht hindern, in Stods 
holm einzuziehen und von dem Augenblid an war er nicht mehr Herr der Ereigniſſe. 
Molerfparre gewann den eiteln, elenden Herzog von Söbermannland, vermochte ihn, fich 
als Earl XI. krönen zu Taflen, fegte die ewige Verbannung ber Föniglihen Familie 
durch und verbrängte Adlerereutz faft ganz. Diefer mühte fich ehrenhaft, aber vergeb⸗ 
Kb für den Kronprinzen Guftav, er Eonnte nicht hindern, daß Prinz Ghriflian vom 
Holftein, Adlerſparre's Freund, zum Kronprinzen gewählt und von Carl XIII. adoptirt 
wurde. 1809 wurde U. Generallieutenant, commandirender Generals Abjutant in Stock⸗ 
bolm, Großfreuz vom Schwert-Örben und Mitglied des Staatörathed, er empfing einen 
Dank ded Reichstags und eine Dotation, aber innere Unruhe ſchien ihn aufjureiben, . 
er konnte es ſich felbft nicht vergeben, daß er Hand an feinen König gelegt batte. 
Als der neue Kronprinz Carl Auguft — diefen Namen hatte Prinz Ehriftian angenom- 
men — ein Jahr nach feiner Ernennung ploͤtzlich jtarb, wirkte Adlerereutz, von der Köni« 
gin unterftügt, wiener nach Kräften für den Kronprinzen Guftav, aber er hatte, wie er 
felbft fagte, eine unglüdliche Hand feit dem 13. März 1809. Die Tele von dem Lieu- 
tenant Mörner angelegte Intrigue triumpbirte, der franzöftfche Marfchall Bernadotte 
wurde Adoptivfohn Carls XIII. und Kronprinz von Schweden. Adlercreutz machte nie 
ein Geheimniß aus feiner Abneigung gegen diefen Fremden, den er gleichwohl auf dem 
Feldzuge 1813 in Deutfchland begleiten mußte. Es kam zwifchen ihm und Bernadotte 
mehrfach zu den heftigſten Auftritten. Molercreug theilte Blüchers und Gneiſenaus 
Anflchten über die gänzliche Unmürbigfeit ded Kronprinzen. Im Januar 1815 wurde 
‚Adlerereug fein Commando genommen. 8 heißt nun, Wolerereug babe eine neue Bere 
fhwörung eingeleitet, um den Kronprinzen Guftav auf den Thron zu fegen, Andere 
behaupten, er babe nur die Abflcht gehabt, wie fein Freund Armfelst vor ihm, in 
ruſſiſche Dienfte zu geben, kurz der gefunde Fräftige Mann flarb 1815 ganz plößlich 
auf einer Meife nach Mebevi. Mit ihm verlor die fogenannte Guftavianifche Partei 
ihren legten Halt in Schweden, und Bernabotte beftieg einige Jahre fpAäter ungehindert 
den ſchwediſchen Thron. 

Adlerſparre. Graf Göran Adlerſparre war ein Evelmann aus Jämtland, 1760 
geboren, von nicht gewöhnlicher Bildung und bedeutenden Geiſtesgaben. Gr zeichnete 
fih in frübefler Jugend ſchon als Soldat auf dem Schlachtfelde, fo wie ald begabser 
Redner im Ritterhauſe aus. Im Iahre 1790 erhielt er, Rittmeiſter beim Leibregiment, 
den Schwertorden und wurde im folgenden Jahre mit einer geheimen Riſſton nad 
Norwegen betrant. Nach Guſtav II. Tode nahm er den Abfchien als Militatr, blieb 
aber immer in der engflen Verbindung mit andern Oppoſttionsmaͤnnern, namentlich 
auch durch Herausgabe einer Zeitfchrift, die fich angeblich nur mit Poefle und Literas 


x 














tur befhäftigte, eigentlich aber das wirkliche Organ der Hberalen Nitterhauß: 
von damals war. Ablerfparre galt für einem tiefen Politiker, obgleich wede 
Reichſstagsreden, noch in feinen Schriften ein beflimmtes Princip zu erkenn 
gegen tritt er überall in den Angelegenheiten des Tages ala ein jehr geſt 
kaltblütiger politifcher Faifeur auf. In der berühmten Nittergausfigung vo: 
1800, wo die Oppofition mit der Megierung, weil dieſe Die Neicköbanfze: 
des Nennwerthes berabfegte, völlig brach und den Landmarſchall Grafen Br 
fitwtioneller Umtriebe befchuldigte, erklärte Adlerſparre zwar auch, daß « 
Theilnahme an den Berathungen der Ritterfchaft und des Wels für die De 
Landtags begeben werde, aber entfagte nicht, wie Geverftiröm, Schwlgenheim ı 
den Titeln und Vorrechten des Adels. Don biefem Reichdtage an fol 
in geheimer Verbindung mit dem Herzoge von Södermannland, nachmallg 
Car! XIL, geftanden und mit ihm gegen Guſtav IV. Noolf intriguirt Habe 
far wird dad wohl nie werden, aber es wirb wahrſcheinlich dadurch, daß 
#3 Carl war, auf deſſen ſtetes Anbrängen Adlerſparre, ein feit 15 Jahren 
deter Rittmeiſter, ein Führer der Reichstag⸗Oppoſttion, ein Schriftfteller, deſſe 
verboten waren, ein Mißvergnügter, der zu Ahludden in halber Berbanı 
1808 plöglich als Obriftlieutenant und Oberabjutant wieder amgeftellt wurt 
fparre begab ſich zur fogenannten Weſtarmee, die damals unter Graf Arm 
Norwegen operiren follte. Bekanntlich wurde Armfeldt abberufen. Ablerſpe 
Berbindungen mit dem Prinzen: Chriſtian Auguſt von Holflein an und fü 
die Weſtarmee, Die ſich von ihm und feinen Freunden fortreißgen ließ, in v 
br gegen’ Stodholm in der mwenigftens nachher. offen einbefannten Apftcht, 
Guſtav IV. Adolf abzufegen und den Herzog Carl, ohne Rückſicht auf die 
Kronprinzen, zum König audrufen zu lafien. Nachdem die Entthronung ! 
geglückt, war Adlerſparre faſt  allmächtig in Schweben, er belegte den ( 
Generald Adlerereutz und er ift eigentlich als der Mann zu betrachten, der 
prinzen Guſtav Die Krone entzogen hat, denn er machte den Herzog Carl 
Reichsvorſtande zum König, fehte die Verbannung Buftav IV. Abolf und fei 
durch und ließ den Prinzen Chriſtian Auguft von Holftein von Carl. XIII. 
und zum Kronprinzen von Schweden wählen. Er führte auch fpäter Diej 
von der ſchwediſchen Grenze aus nach Stockholm. Oberſt und General 
Freiherr und Graf, beberrfchte Anlerfparre als Haupt feiner Partei, d. b. d 
die feiner Leitung folgten, denn von einem Princip war auch bier nicht Die 
Staatsrath, - Deffen Mitglien er gleich nach der Mevolution: geworben wear. 
plöglicden Tode des Kronprinzen Carl Auguft (alfo Hatte Prinz Chriſtian 
bes Adoption feinen Namen geändert) war aber Adlerſpatre's eigentlich 
Ihätigkeit gefihloffen. Da es ihm nicht gelang, den Herzog von Holſtein⸗Au 
den Bruder feines eben verewigten fürfllicden Freundes, zu deſſen Nachfolger 
kat er aus dem Staatsrath und z0g fh in das Privatleben zurüd. Zwa 
er fpäter noch einige Male hohe Stellen in der Bermwaltung, wurde auc 
einem ber Reichsherren ernannt, doch fpielte er niemals mehr eine eigentlic 
Rolle. Adlerſparre befchäftigte fich fpäter viel mit Fiterarifchen Arbeiten und 
Forſchungen, auch gab er unter dem Titel Historiske handlingar werthvol 
zur Gefchichte Schwedens heraus (Stodholm 1831 und 32, fimf Bände). 
1839; in den letzten Jahren war er wieder zur Oppoſition übergetreten und 
äußerft unzufrieden mit dem Gang, den die Revolution genommen, bie oh 
der Thronbefteigung des legitimen Erben, des Kronprinzen Guſtav, geembet be 

—— (Eli) f. Verwaltung. 

Abminiitration (Wald). Schwierig ift fletd der Kampf gegen „. 


weien, die fich dem menichlichen Geiſte durch das intenfive Licht, in bem | 
mit folcher Macht aufbrängen, daß er fle ‚bereitwillig für greifbare, berftelli 
täten annimmt, vergefiend, daß fle eben nur Ideale find; am ſchwieri 

gegen folche Speale, die zu Artikeln eines politifchen oder focialen Glaub 
niſſes geworben find, wo alje ‚neben Die Leichtigkeit der Selbſttaͤuſchung bei 
noch Der boͤſe Wille, fie fahren zu laflen, eintritt. @in folches Ideal ift 





Walb-Eigenthum. * Als mit dem Ebift vom 9. October 1807 bie preußiſche Gultımr 
Geſetzgebung in ein neues Stadium getreten war, befien Segnungen zugeſtauden wer⸗ 
den müflen, wenngleich auch dem Lichte die Schatten nicht erſpart waren, als in den 
an jenes Edikt ſich anreibenden Geſetzen auf alten Gebieten agrarifchen Kebens Freiheit 
und Unbeſchraänktheit Hergeftellt oder angebahnt wurde, da konnte es nicht außbleiben, 
daß, abgeſehen von ben Bedacht, den viefe Belege jelbft zum Theil auf dad Wald⸗ 
Eigentgum nahmen, Die Frage, in wie weit Die neuem PBrineipien auf daffelbe in An- 
wendung zu bringen feien, zu einer brennenden :murbe. Und der Umfand, daß biefe 
Stage gewillermaßen fchen von vorn herein in den Gonfequenzgen ber in ber Agrar⸗ 
Geſetzgebung berrichenden Principien ihre Löfung gefunden zu haben ſchien, daß feruer 
die Volkswirthſchafts⸗ und Staatäwijtenfchaftd-Lehrer ') fie theild in Unkenntniß, theila 
in Richtberückſichtigung der fingulären Verhaͤltniſſe dieſes Zweiges der Boden» Eultur, 
felten aus andern ald den allgemeinen Befichtäpunften ihrem Syſtem unterorbneten, 
daß endlich ven einer Seite, wo am erflen die Kämpfer gegen die herrſchende Strö⸗ 
mung fich hätten finden müſſen, wir meinen, von Seite der Forſtwirthe, nur wenige 
Stimmen laut wurden, um das et alteram partem audire zu ermöglichen, — alles. 
Diefes wirkte darauf bin, den Vorfechtern des freien Wald⸗Eigenthums immer mehr 
Boden zu gewinnen. Heute ſteht die Sache anverd. Nicht nur die Forſtwirthe haben 
ihren Beruf erkannt, ihren Wal» aud auf dem volkswirthſchaftlichen Gebiete gu ver» 
teten, auch die NationalsDekonomen und SorialBolititer haben fich bemüßigt gefun⸗ 
ben, die Eigentgümlichfeiten des Waldbefiged als bedeutſam gesug gelten zu laſſen, 
ums demfelben eine entipzechende befondere Behandlung zu fichern, fobaß auf Diejer Seite 
eine Literatur ?2) in's Feld getreten ift, Achtung gebietend genug, um dem „armen 
gefehundenen Walde“, wie Riehl ihn jo trefflich Eennzeichnet, Die beften Garantien zu 
Bieten. 





Zwei Fragen find es nun befonders, die bier erörtert werden müflen, naͤmlich 
1) foll der Staat Wald» Eigentum haben und, Died bejaht, wie folf er daſſelbe 
benugen? 2) Wie weit geht Die Befuguiß und Verpflichtung bed Staates, in den 
Wirthſchafts⸗Betrieb der Privat - Waldungen °) als Oberauffichts⸗ Behörbe einzugrei⸗ 
fen? — Wit der erſten Frage haben wir es zunächft zu thun, die andere einem weite⸗ 
von Artikel (ſ. Beförſterung.) üͤberlaſſend. 

In Bezug auf jene nun ſcheint es angemeſſen, zunächft ihren zweiten Theil, als 
Den bei Weitem einfachfien, zu erlebigen, mit der thatſächlichen Praͤmiſſe, daß Dem 
Staate Walb⸗Eigenthum zugeftanden if. Denn da die Frage na der Benupungsart 
feit dem Gefſetz vom 2. Mär; 1850 nur die Alternative findet: Apminiftration ober | 
Bapaktung? — fo wird die Praxis nicht lange mit der Antwort zurückhalten, daß | 
Der Staat ſich für Die erſtere enticheiden muß, alfo für die „Bewirtbichaftung auf eigene 
Rechnung durch befoldete Beamte," da Niemand Wald pachten wird, um ihn ald Walh 
zu benuhen. Der Grund liegt eben in der befondern Matur des Forſtwirthſchafts⸗ 
Betriebes gegenüber anderen Iandwirtbfchaftlichen Nugungen. Das fpäte Eingehen des 
Grtraged, Die niedrige Verzinſung der dem Betriebe zugewandten Mittel, das fo begrenzte 
Feld für fpeeulative Operation, das unläugbare Erforderniß vielfeitiger Vorkenntniſſe 
zum rationellen Walbbetriebe und ber doch für Die Anwendung berfelben nur befchränkte 


— 








1) So beſonders Adam Smith, der die Freiheit des Wald⸗GCigenthums ſchon in dem katego⸗ 
riſchen Verbot, mit dem er dem Staate jeden Gewerbebetrieb, al aud) das Waldeigenthum, ent: 
zieht, ale erlerigte 6 Brage doenmentirt. Außer ihm erwähnen wir hiet nur nod Krug, Betrachtum? 
gen über ben National» Reiithnm des preußiſchen Staates x., A 1803. und —— * 
Usdrigen auf einen Aufſatz ven Meuier: „Irrige Veurtheilung zu geringen Anſchlag bes 
aa der alhungen as und aatswwirthfhaftlichen —E m Behlius geitkäik 

et Baiern ! 

2) Wir erwähnen nur: Pfeil, Grundſaͤtze ber Ger wiethfiheft in —A auf die Rationals 
Delonente und die Staats « Finanz s Wirthfcaft it, ver uns jedod) A 
* em IR machen Ing v. Br ‚bie Gene on Mi af 
* 3 — irug 1854; ubi ln 
nelle En Dresden, 1858, 

Br ehren ir dieſen Auedruck vor der Hand nme —* im Gegenſaß zn. den 
—ER des Etaate 


a 








- 


&8. ift eine matte Defenfive, welche Die .Fürfprecher des Balnes ergreifen, wefern 
fle lediglich aus Öfonomifchen Gründen die Erhaltung des gegemmärtigen mäßigen 
Walbumfanges fordern. Die focial-politiihen Gründe wiegen. mindeſtens eben ſo 
ſchwer. Haut den Wald nieder und ihr zertrümmert die hiftoriiche bürgerliche Geſell⸗ 
ſchaft. In der Vernichtung Des Gegenfaßes von Feld und Wald nehmt ihr. dem deut⸗ 
ſchen Volksthum ein Lebenselement. Der Menfch Iebt nicht vom Brode allein.. Auch 
wenn wir. keines Holzes mehr bevürften, würben wir doch noch den Walt brauchen. 
Das deutsche Volk bedarf des Waldes, wie der Menſch des Weines bedarf, wbgleich 
es zur Nothdurft vollfommen genügen mag, wenn fich lediglich ber Apotheker ein 
Viertelohm in den Keller legte. Brauchen wir das dürre Holz nicht mehr, um umferu 
äußeren Menfchen zu erwärmen, dann wird dem Gefchlecht dad grime, in. Saft und 
zrieb fiehende zur Erwärmung jeined inmwendigen um fo nöthiger fein.” Sollten wir 
anftehen, mit dem Ueberſchuß über die Moreau'fche Forderung der dringenden Mahnung 
8 Socialpolitikers Rechnung zu tragen? | 

Alſo wir müffen unfern Wald behalten! Werben Ywir ihn aber behalten, vom 
der: Staat ſich feiner entäußert? Das Vorbild Frankreichs, wo in Folge der Revolu⸗ 
tion die Waldverfchleuderung im Großen betrieben wurde, ift eine ernſte Warnung. Durch 


mitliche Actenſtücke ijt nachgewiefen, daß von 1792-1805, alfo in 23 Jahren, die 


Waldungen Frankreichs um 1124 Duadratmeilen abgenommen baben. Können wir 
die Beforgniß ähnlicher Scidjale für unfere Wälder ganz von ber Hand weilen? 
Eine Veräußerung der Staatöforften im Großen dürfte, abgefehen davon, Daß der Acqui⸗ 
rent ſchwerlich in anderer Abficht, als um das Holz zu verfilbern, ihr zutreten würde, 
nicht .einmal viele Kaufluflige finden; eine Zerfchlagung in einzelne Feine Beſitzthümer 
beißt ſie unrettbar der Art überliefern. Noch hat tro des in Aller Munde befindlichen 
Geipenftes des Holgmangeld der Gedanke, daß Waldbeflg dereinſt bei wirklich eintre⸗ 
tendem Mangel einen enormen Werth gewinnen werde, wenig Enthuflasnus gewedt. N 

Alfo der Staat darf ih des Waldeigenthums nicht entjchlagen, er hat die Ber» 
pflichtung, wie. das Vermögen, die Nachtheile einer geringeren Capitalsverwerthung 
Durch das Geſammtwohl der Nation außzugleihen. Nicht nur für feine Bauten, wie 
Ganäle und Eifenbahnen — und wir fönnen jet doch auch unfere emtftehende Ma⸗ 
ine in den Kreis unferes Betrachtungen zieben — muß ihm der Holzbedarf hinreichend 
und dauernd garantirt fein,, ee muß auch zu Gunſten feiner ärmeren Mitglieder die 
Regulirung der Holzpreife ſtets in Haͤnden behalten. Und wenn es keinem Zweifel 
unterliegt, daß. der Wald ein fo gewichtiges Moment für das Klima eines Landes iſt, 
jo ift auch bier der Staat der Traͤger der ernfteften Berpflichtungen. Auf der andern 


Seite ift aber auch wiederum der Staat allein im Stande, großartige Anflalten zu 


toeffen, um. feinen Porften eine geregelte, wiſſenſchaftliche Bewirthſchaftung zu ficheen, 
ch ein Beamtenperfonal zu fchaffen, welches, wie das der preußifchen Korfiverwaltung, 
neben treuer Pflichterfüllung allen Anforderungen feiner umfangreichen Wiſſenſchaft in 
Iheorie und Praxis Genüge leiftet. 

Blauben wir unfere Stellung zu der Frage vom freien Waldeigenthum im Vor⸗ 
ſtehenden genugſam documentirt zu haben, fo können wir nun andererſeits nicht einen 
Angenblick zurückhalten mit der Ueberzeugung, daß die dermaligen Verhaͤltniſſe des 
Waldeigenthums noch bedeutender Entwickelungen und Verbeſſerungen faͤhig und be 
dürftig find, um mit den Fortſchritten auf andern Gebieten agrariſchen Lebens ſtets 
gleichen Schritt zu halten. Namentlich Tann das inhaltsvolle Problem bes richtigen 

„Bertbeilung von Feld und Wald“ nur in einer, auf dem langfamen, aber ficheren 
Wege abminifttativer .und legislatoriſcher Tätigkeit anzuftsebenden Annäherung an: das 
Ideal de8 freien Waldeigenthums feine Löfung finden. Wir wiflen, wir werben mit 
der Zeit dahin fommen, daß KRändereien, die man jest ded augenblidlichen Bortheils 
wesen von ihren volzbeſtanden entblößt, um: ſie dann in völlige Unergiebigkeit zurück⸗ 


1J ) Vorhanden aber Knd ſchon Thatſachen, bie für cine aufpammernde Getenatnif in ‚biefer 
Aichtung ſprechen. Wir hörten noch fürzlid, von einem reichen Grundbeftger, der ein ganzes Gut 
nad Hinwegnahme von 2 Ernten zur ausſchließlichen Holzeultur beftinmt hat. Und in den Rech: 
muigen unſerer Dart: Kuſtalten und Gerfigärten finden wir ſchon immer mehr Dauert mit nam: 
haften Beträgen verzeichnet. 











öX ⏑— Fr 


fallen zu ſehen, ihrer Beſtimmung als Holland zurüdgegeben werden, und, ald .einen 
Schritt auf dieſem Wege haben wir das Waleculturgefeß für den Kreis Wittgenftein 
vom 1. Juni 1854 (G.S. pag. 329) begrüßt Aber ebenfo werben wir bahin kom— 
men, viele Theile nnierer aktungen, deren ausgezeichnete Bobengüte fie unbeding! 
zum Ackerbau qualificht, und für deren doch immer nur geringe Leiſtungen auf bem 
Felde nationaler Production allein der paſſionirte Forſtmann mit Dem fchönen Wucht 
ihrer Holgbeftände fich zu tröften weiß, dem Feldbau zu übermeijen. ‚Hoffen wir. nur, 
daß die Entwickelung, die und dem Ideal näher bringen foll, eine ruhige, gleichmäßig 
fortſchreitende iR und eine folche, die in den drei Hamptabtheilungen des Waldareals 
dem Getreidelande, dem bedingten und dem unbeningten Holzboden, ihre temposellen 
Ruhepunkte, resp. ihre Begrenzung anerfennt. OB die Zukunft uns die völlige Rea⸗ 
liſtrung des Ideals bringen wird und darf?! Wir antworten mit „Nein" und begrin- 
den Died kurz aus der Anflcht, die wir überhanpt von dem Gewerbebetriebe des Staa⸗ 
tes — Es ſcheinen ung drei Geſichtspunkte zu fein, unter denen dad Adam 

Smith'ſche unbedingte Berbot des Gemerbebetriebes für den Staat feine Modifttationen 
erleiden muß. 

1) Der Staat muß ſtets ſolche Gewerbe in Händen Schalten, deren Befrebigung 
im Qualität und Quantität er vollkommen ficher fein muß. 

2) Der. Staat barf feine forialen Mächte auffommen laflen, die er nicht bes 
berrfchen fann. 

'3) Der Staat muß Der Garant der Harmonie der Jutereſſen ſein, inben er 
dadurch allein auch wieder in beſter Form das Einzelintereſſe garantirt. 

Bringen wir den Waldgewerbebetrieb des Staates unter dieſe Geſichtspunkte — 

md eine Verweiſung auf umfre obigen Ausführungen wird genügen, um ſie alle drei 
in ihrer Bedeutung für denſelben zu rechtfertigen — fo hat unſer Sag, daß der Staat 
ſtets Waldeigenthum behalten muß, feine Unterlage gefunden. Erwaͤhnen wir nun noch 
einen Einwand, den man uns mit einer Verweiſung auf England zu machen pflegt. 
Dort, beißt es, kümmert fih der Staat gar nicht unf den Waldbau. Uber wer ifi in 
England ver Staat? : Wer vertritt dort die Harmonie der Intereffien? Es iſt der 
große Grundbeſitz, die Ariftofratie, und vom. diefer Seite geishieht für den Holzanbau, 
fo weit verfefbe überhaupt bei den unerfchöpflichen Surogaten, die England in feinen 
Kohlenlagern beſttzt, bei der Leichtigkeit der. Einfuhr von ‚ganzen Wäldern aus Canada 
immerhin. noch genug, um eine muftergültige, parfmäßige Borfhwirtbichaft und. vorzu⸗ 
führen. Zugleich finden wir bier audy das Geſetz für die VBerftattung ber Entwidelung 
anferes Walveigenthums zu größerer Freiheit. Es ift dieſes, daß der Waldbau ſich 
in demfelben Maße freiwillig entwidele, ald der Landbau feleft ariſtokratiſch wird. 
Und je mehr fich der Waldban freiwillig entwickelt, um fo mehr ſchraͤnken fich die Ver⸗ 
pfltchtungen des Staates, für denjelben zu forgen, auf das enhliche Minimum ein, 
wie wir es durch unfre erwähnten drei Poſtulate begrenzt. finden. 
' Ausbleiben wird dieſe Entwickelung nicht, aber beruhigen mochten wir uns bei 
verfelben nicht eher, als bis wir die Sicherheit mitzufühlen vermögen, mit welcher ber 
franzdftfche Abgeordnete dafitte ſagt: „On tremblo pour la eonservation de teile 
masse de bois, parce qu'on suppose a tout le ınonde la volonte d’aballre ct de 
defricher. Cette crainte n'est guere fonder.“ Und died Gefühl geht uns var der 
Hand noch ab. 

Adminiftrativiuftiz ift Die Mechtöpflege, welche die Verwaltung in den ihr zuge» 
wiefenen adminiſtrativ⸗contentisſen Angelegenheiten übt. Daß eine Verwaltung überall, 
wd ſie mit Privatrecdhten der Untertbanen in Eonflict geraͤth, ihr Fahrzeug an Das 
Schlepptau des gerichtlichen Inftanzenzuges hängen folle, dergeſtalt, daß etwa jede 
Steuervertheilung, jede unliebfame Mafregel der Gewerbes oder Baupolizei zum Gegen⸗ 
ſtand richterlicher Anrufung und Entſcheidung gemacht werden koͤnnte, das verlangt, 
wenigſtens wie die Verhaͤltniffe auf dem Gontinente liegen, heute wohl Niemand mehr 
ernſtlich, wemn anders, würde er den heftigſten Widerſpruch unter den Michtern ſelber 
finden. 

Der Kampf: zwiſchen den Bertheibigern ber Aoeniniftratiofuftig und ihren Gegner 
iſt vielnehr heute nur noch ein Grenzſtreit, aben Kein folcher, in welchem eine endgül⸗ 





ige Grenzregulicung zu erwarten: flieht, weil, wenn aud die Juſtiz ſichtlich mehr an 
Xevratn verliert, Doch durch die Wellen des Verkehrs fletd neues Lund angefchwenmi 
werd, deſſen Vertheilung den Kampf von Neuem entbrennen läßt. 

Die Gefgichte der Adminiſtrativjuſtiz in Deutfchland entfprigt dem Gange ber 
deutſchen Rechtsentwicklung. Die Wiege in Rom, die Ansbilvung in ber beutichen 
Reichsverfaſſung, ver Teste Schliff nach franzöftfchem Mufter. Bei den Mömern warm 
die res jurisdiclionis (Juſtizſachen) keinesweges fo firenge von den res imperü (fe 
sterungsfachen) gefchieden; hing doch das öffentliche Mecht an tanfenb Yäben zujam- 
men mit dem Privatrecht (ulilitas singulorum), welches nach feiner innerften Natur 
einerfeitö auf dem öffentlichen Recht (utilitas omnium) beruhte, andrerfeit® einer Ein- 
engung und Beſchraͤnkung durch daſſelbe unterworfen war. Dazu dam, daß die Rechtb⸗ 
pflege an fich nicht bloß eine Verwaltungsthätigfeit in Der Geſetzgebung und Proceß⸗ 
leitung vorausſetzte, fondern’ auch zur Geltendmachung ihrer Sprüche einer Polizei⸗ und 
Executivgewalt bedurfte, fo daß Die jurisdictio des imperium nicht entrathen Eonnte. 

Weit fhärfer wie bei den Roͤmern zeigt ſich der Gegenfag von imperium und 
jurisdictio in der altgermanifchen Gerichtöverfaffung. Die von den Königen zur Abs 
haltung der Gerichte deputirten comites übten die anorbnende und vollzichende Gewalt 
aus. Die eigentliche MNechtfprechung gebührte ben Schöffen. Neben Abhaltung der 
Serichtöflgungen lagen den Grafen aber auch mancherlei rein adminiftrative Gefchäfte 
ob, 3. B. Anordnung der Staatöfrohndienfte, des Heerbanns ı. Entſtand in bieten 
Angelegenheiten eine Differenz zwijchen dieſer obrigkeitlichen Perfon und einem Unter 
than, jo entfchied auf Anrufen Der Landesherr. So bildeten ſich fon frich beftimmte 
Gruppen von Regierungsgeſchaͤften, welche mit der eigentlichen Hechtäpflege nichts ge 
mein hatten, und als fpäter nach ver Trennung der beiden Reiche die Landesherren 
felber die Leitung ber Gerichte übernahmen, unterzogen fie fich ebenmäßig ber Veſor⸗ 
gung jener Verwaltungshandlungen. Glaubte fich nunmehr durch dieſe Bermaltungt- 
maßregeln ein Untertban in feinem Recht gefräntt, fo folate er auch bier dem in Ge 
richtoſachen eingeführten Infkanzeriuge, ex befchwerte fi, beim Kaiſer. Das Terum für 
dieſe Beſchwerden wurden die Reichsgerichte, ebenfo, wie fle die Appellationtinftean 
für die Juſtizſachen der Territorialgerichte bildeten. 

Da die Beſchwerden beim Reichskammergericht jedoch in Form einer Klage gegen 
den betreffenden Territorialberen vorgebracht wurden, fo bildete ſich Halb der Sprach⸗ 
gebrauch, dieſe flreitigen. Anminifirativfachen, jobald fie an die Reichsgerichte Famen, 
ebenfalls als Juſtizſachen zu bezeichnen. 

Nach Aufldfung des beutfchen Meiches mußten alle Regierungsſachen im Lande 
erledigt werden, und nun wurde erft der Unterſchied zwifchen Iufliz und Adminiſtrativ⸗ 
Juſtiz ein praftifch wichtiger, weil in vielen deutfchen Ländern nach franzöflfcyem 
Muiter eigene Adminiftrativ-Iuftizs Behörden gefchaffen wurden. 

Die franzöflfche Revohution Hatte ſich dieſes Stoffes mit vielem Eifer bemaͤchtigt. 

Mach den von der Rational Berfammiung am 24. Auguft und 11. September 
1790 erlaffenen vorbereitenden Geſetzen, in deren erfterem es ausdrücklich Heike: „Laß 
die Richter durchaus in Feiner Weije die Ihätigfeit der Bermaltungd» Behörden fören 
dürfen,“ wurde der Schlußftein der neuen Schöpfung durch Dad Belek vom 28. Plu⸗ 
vofe a. VII. gelegt. Danach gehörte die Entſcheidung der Adminiſtrativ⸗Juſtigſachen 
(affaires contentieuses) in erfter Inftanz vor die Präfecturräthe, in zweiter Inſtanz 
ver den Staatsrath. 

Nach der franzöftichen Auffaffung foll die Adminiftrativ » Inftiz überall da ein⸗ 
treten, mo bei einem Privatverhältniß Das öffentlihe Intereffe con« 
currirt. Mit Recht erflärt Stahl (Rechts⸗ u. Stuatslehre. 3. Aufl. S. 661) aber ein 
Juſtitut, das ſolch eine „Juſtiz“ ausübt, für ein verwerfliches. „Des conmreiwende 
öffentliche Intereſſe,“ jagt er, „varf nie ein wirkliches Privatrechts verhaͤltniß dem ordent⸗ 
lichen Gang der Civilrechtopflege entziehen, und es find dieſem falſchen Begriffe zufelge 
in Frankreich wirklich eine Heide von Gegenftänven dieſem Berfahren zugewieſen wor⸗ 
den, welche nach den Forderungen der Gerechtigkeit und der ftaatöbürgerlichen Freiheit 
an die Gerichte gehören, als 3. B. Proceſſe über Domänen, über Accorde für öffent 
liche Arbetien. Das find rein fiscalifche, privatrechtliche Derhältmifie, bei denen der 


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zus Wicbergelinpmadung der: Perfönlichkeiten, ber einzelnen Rechtskreiſe gurüdffchet, 
in Wirklichfeit aber die innerlichfte Verfühnung zwifchen altdeutfchem und romaniſchem 
Staate in ſich trägt. 

Ein Stagt aber, der alſo von einer Willensbewegung und von einem wirklich 
yerfönliden Zuge getragen wird, mag faum die Scheidung dulden, welche Stahl in 
feiner freilich ſehr behutfamen Definition zwifchen feinem Gerechtigkeits⸗ und feinem 
Zweckmäßigkeitsſinn vollzieben will. 

Er wird unferer Meinung nach vielmehr von Der fteten Neigung bejeelt jein, 
folche eben felbft wiederum weniger aus Gerechtigkeit ald aus Zweckmäßigkeit hervor 
gegangene Trennungen des Ausdrucks jeined Willens ald mechanifche Hülfsmittel zu 
betrachten und ihre allmähliche Befeitigung zu betreiben. 

Eine Hoffnung des Gelingen und eine Analogie deſſen, was er als eine Fünf 
tige Geftaltung feiner innern Regierung berbeimünfcht, giebt ihm ohnedies England, 
ein Staat, der freilih in anderer Beziehung wiederum hinter der Entwidelung bei 
continentalen deutfchen Staates zurüdgeblieben ift, in feinem weniger logifchen, indeſſen 
des rafchen Erfolges viel mehr ficherem Portfchritte aber die Neichgeinheit und. Reichd⸗ 
feftigfeit mit der Erhaltung des gefchloflenften und unantaftbarften Rechtskreifes für 
jede eingelne freie PBerfönlichkeit zu vereinigen gewußt bat. 

Unfere urfprüngliche preußifche Verfaſſung ift dabei aber ver englifchen an ſich 
burchaus nicht fo unähnlih, als oft nach kurzem Bergleich angenommen wird, fon 
„unfer geheimer Stantöratb, Finanz» Directoriun, Ober Kriegd« Collegium, unfere 22 
Kriegd- und DomänensKammern, wie fie bis 1806 beflanden, find Courts, Berichts 
Behörden im vollften englifchen Sinne des Worted. Sie boten (in ihrer urfprüng- 
liegen, win in ihrer nach 1806 verbeflerten und nur erft neuerdings durch conſtitutionelle 
- Minifierregigung gefährbeten Form) durch dauernde Beſetzung, Cellegialität und Im 
ſtanzenzug jtärfere Garantieen dar für eine objective unpartelifche Behandlung ber 
öffentlichen Nechtöverbältniffe, als Die englifchen Courts fie Jahrhunderte lang boten.” 
(Sneift, Gefch. der heut. Geſtalt der Aemter in England p. 684.) 

Wenn aber anerkannt wird, Daß bis vor Kurzen, ehe fich Preußen in flarker 
Befangenheit in eine umüberfehbare, weil ziellofe ftantliche Bewegung bineinreißen ließ, 
in unſerm Baterlande eine GHeichartigkeit zwifchen Juſtiz und Verwaltung herrſchte, 
und legtere ihre Gerichtähöfe in den drei Inftanzen nach dem Mufter ver erſteren umd 
ihrer Ordnungen ‚gebildet Hatte, fo ift doch damit zugegeben, daß fte beide aus einem 
Bunkte, auf den ein Hüchfter Wille fletig gerichtet ift, hervorgegangen find und barum 
nach, wenn ihre weitere Entwidelung fie zu Differenzen führen ſolltk, nicht bei einem 
mechanifch erfchaffenen Dritten Ausgleichung fuchen follen, fondern — wie Stahl jelbk 
ausſpricht — in einem Höheren auch wieder zufammentreffen müflen, und es wire 
nach der Natur des Urſprungs der Berwaltung, welche nach der Aehnlichkeit der Juſti; 
entkanden if, dieſes Höhere ein höchfter öffentlicher Gerichtshof fein, gleichfam eben 
bürtig Dem Könige und in der Unmöglichkeit, einen andern Willen zu baben, als ber 
König. In England ift das Oberhaus diefer höchfte Gerichtshof und in ihm tft aller 
dinge Die ganze Reihe der monarchifchen Elemente des englifchen Volkes zufammen 
gefaßt, fa dag in ber That fein Interefie, d. 5. die Richtung feines Willens mit dem 
Intereſſe der Krone ſtets zufemmenfallen muß. 

In Preußen fehlt e3 zur Zeit noch an einem folchen oberſten Gerichtähofe, aber 
Diefer Mangel if nur der aͤußerſte und flärffte Ausdruck eined überhaupt mangelhaf 
ten Zuflandes. Mangelhaft ift ebenfowohl die Grundlage und Ordnung unferer Juſtiz 
wie unferer Berwaltung, und nur dann, wenn fie erft ganz bon dem monarchifchen 
Geſetze, das ſich im Laufe der neueflen Staatsentwidlung durch unfer Baterland ver 
breiten wird, getragen. werben, Tann ihre innere Einigung und damit zugleich ihre 
Gipfelung in einer höheren Körperfchaft gelingen. 

Damit aber dieſe monarchiiche Erhebung unferer Gerichtähöfe, derer für. das 
öffentliche (Verwaltung), wie derer für das Brivatrecht (Juſtiz) zu Stande komme, iſt 
ed nöchig, im Vande die Mechtskreiſe für die vollfreien Perjönlichkeiten neu zu fundi⸗ 
son and zu ſichern. Dieſe Perfönlichkeiten werben dann, feien es wirkliche ober mora⸗ 
Inge, eine willfommene Ergänzung für beide Arten ber Gerichtshöfe bilden und in 





berg für Expropsiationen die Entſchaͤdigungsfrage wie überall den Gerichten, Dagegen 
die Enteignungsfeage felbft, bei Widerſpruch der Betheiligten, der abminiftrativ - con- 
tentiöfen Entfcheidung übermwiefen. 

Der dritte Fall ift der, Daß der allgemeine Erfolg bon Leiftungen eine öffentliche 
Nothwendigkeit ifl, Dagegen die Vertheilung unter die Einzelnen bloß nach Gerechtig- 
keit zu gefchehen hat. So z. B. bei Vertheilung einer Mepartitionsfteuer, deren Ges 
fammtfumme alfo feftfteht, bei Streitigfeiten über Eintritt, Austritt, Beitragspflicht zur 
Brandverficherung, über Concurrenz zu Brücken⸗ und Straßenbau, über kirchliche Bau- 
laſt. Es laſſen fi zwar hier jene beiden beflimmenden Prineipien in zwei Bragen 
fondern, und die eine, dad was gefchehben muß, der Adminiſtration, die andere, wie 
der Einzelne beizutragen fchuldig, der Juſtiz überweifen, und wirb dieſe Sonderung in 
der Megel_ gewiß das Nichtige fein. Allein mitunter durchbringt ſich Beides fo, Daß 
die Sonderung ſchwer durchführbar ift, und könnte daher für mehrere Berhältnifie 
diefer Urt der apminiftrativ« contentiöfe Weg den Vorzug verdienen. 

In dem Falle, wo ed nicht ſowohl auf die Streitfache unter Den Parteien, als auf 
die Ausnittelung des öffentlichen Verfaſſungs⸗Verhaͤltniſſes abgefehen iſt, findet nad 
franzöflfcher Einrichtung ein Verfahren von Amtswegen flatt, bei dem die “Parteien 
Bloß fakultativ mit Ausführungen zugelafien werden, während bei den abminiftrativ- 
eontentiöfen Sachen eine nothwendige (und zwar als wefentlih eine fchriftliche, ale 
binzufommend aber auch noch eine mündliche) Verhandlung unter ihnen eröffnet wird. 
Man verfteht nun unter Adminiſtrativ⸗-Juſtiz im engeren technifchen Begriff nur 
die Fälle, bei welchen ein förmliches Procekverfahren unter den Parteien eröffnet wird, 
und zählt deshalb weder die Entſcheidung der Competenz- Gonflicte noch alle in ber 
zweiten Kategorie angeführten Fälle unter denſelben. Der Gedanke des Inſtituts if 
aber doch in allen dieſen Fällen derſelbe. Das bewährt ſich darin, daß fie alle durch 
dafielbe Organ, das Träger dieſes Gebankens ift, befchieben werden. Das ift nämlid 
in Srankreich der Staats rath: eine oberfle Behörde, von deren Rath und Bearbeis 
tung gerade alle Anordnung im Geifte öffentlicher Nothwendigkeit und Nützlichkeit ausgeht, 
und der für den beflimmten Fall eine rein judiciäre Stellung einnimmt. Der Staatd 
rath in dieſer Stellung ift die abfolute neutrale Macht zwifchen dem Staat ald Staat 
(Die Gerichte nehmen ihn nie ald Staat, fondern ald Partei) und den Privaten, zwi 
ſchen den Anforderungen des Gemeinwefend und denen der Gererhtigkeit gegen das 
Individuum. 

In Wahrheit aber ſoll das adminiſtrativ⸗contentiöſe Verfahren nicht für Privat 
rechtö-&egenftände wegen concurrirenden öffentlichen Interefies, fondern für öffent 
lich rechtliche Gegenſtaͤnde wegen concurrirender Privatberedhtigung 
eintreten. Es fol nicht Juſtizgegenſtaͤnden den Charakter der Adminiſtration, fon« 
dern es foll Verwaltungd-Gegenftänden den Charakter der Juſtiz beigefellen. Es if 
demnach weder die Vermerfung ber franzöftfchen Adminiſtrativ⸗Juſtiz, noch ihre unbe 
Dingte Annahme zu billigen. Die unbebingten Gegner derfelben fegen eine Ausdeh⸗ 
nung bed Nechtöweges voraus, wie fie in Staaten des neueren Charakters nicht befleht 
und nicht beftehen Fann, und unter dieſer Borausfegung wäre es allerdings durch und 
durch nichts Anderes, als eine Entziehung des Mechtöweged. Die ed unbedingt an 
preifen dagegen, fegen eine unzuläffige Einſchraͤnkung des Rechtsweges voraus, Die 
ausnahındlofe Zutheilung der ganzen Öffentlichen Sphäre an die Verwaltungs + Bes 
börden. Unterfucht man, wie die politiichen Parteien zu diefer Frage fteben, fo ift, 
nach Stahl's treffender Bemerkung, der entichiedene frangöfliche Liberalismus für bie 
Abminiflration — die Einfchränfung der Juſtiz 1790 ging ja gerade aus ber revo⸗ 
Intionären Bewegung hervor — , der beutjche Liberalimus Dagegen für den Nechts⸗ 
weg. Das ift fehr erflärlich. Der franzöflfche Liberalismus ruht auf der Volksſou⸗ 
veränetätdetehre (Mouffeau), auf dem ausfchließlichen Recht der Waffe, des Ge 
ſammtwillens, unter dem ber Einzelne ohne Vorbehalt aufgehen foll; ihm ift dedhalb 
ber Despotismus, den die Nation oder der Staat gegen das Individuum übt fir das 
Öffentliche Befte, nichts Verletzendes. Der deutſche Liberalismus dagegen ruht auf der 
naturrechtlichen Gefellfchaftötheorie (Rant), dem Rechte des Einzelnen, dem der Staat 
ſelbſt nur dient. Nach diefer Theorie ift ber ganze Staat nichts Anderes, als Juſtiz⸗ 


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NS nr 58 





ten Admiraͤlen der Abtheilungen ald Belohnung verlieben, wobei ſie in der Navy-List 
in ihrer Reihe und Abtheilung bleiben. on 

’ Die Anmiräle aller drei Rangſtufen werden auch, nach ihrem Rechte eine eigene 
Admirald-Klagge zu führen, Flaggen-Öffiziere genannt, eine Benennung, bie einem 
andern Offizier nur in dem alle ertheilt wird, wenn und fo lange er ein felbftfländi« 
ges Commando über mehrere Schiffe führt. Die Zlagge des Admirals wird am Top 
des großen Maftes gehiflt, die des Vice⸗Admirals oder Contre⸗Admirals am Top bed 
Fokmaſtes oder Vortop. 

Die öfterreichifche Central-Seebehörde zerfällt in drei Branchen: Flotten⸗ 
dienft, Arfenal» und Verwaltungsdienſt; 1853 betrugen die Flotten⸗Offiziere: 1 Vice⸗ 
Admiral (v. Dahleup, ein Düne), 1 Contre⸗Admiral (v. Bujakowich), 5 Linienſchiffs⸗ 
Gapitaine, 7 Fregatten⸗ Capitaine, 10 Corvetten⸗Capitaine, 27 Linienfchiffd-Lientenants 
(1851), 20 Fregatten⸗Lieutenants, 96 Faͤhnriche. Die ganze Marine ſteht unter einem 
Chef der oſterreichiſchen Marine, dem Erzherzog Ferdinand Marimilian. 

Die dänifche Kriegsflotte ftand 1840 unter einem Admiral, 4 Dice und Gegen⸗ 
Admiralen. 

Die ruſſiſche Seemacht wird. verwaltet von einem Admiralitätd-Mathe von 
10 Anmiralen. Die oberfte Leitung der ganzen Flotte und Seedienft- Behörden iſt 
dem Groffürften Eonftantin übertragen. 

Das Schiff einer Flotte, auf welchen der commandirende Admiral fich befindet, 
heißt das Admiralfchiff; es ift an der Admiralsflagge erkennbar. 

Als im 17. Jahrhundert der Churfürft Friedrich Wilhelm von Brandenburg bie 
Bildung einer eigenen Kriegsmarine unternahm und unter höchſt fchwierigen Berbält- 
niffen mit der feinem großen Charakter eigenthümlichen Bebarrlichkeit verfolgte, gelang 
ed ihm gleichwohl nicht, Diefe junge Schöpfung auf eine folche Stufe zu bringen, daß 
es der Einführung der Admiraldwürbe, die übrigens in dem 1682 von biefem Kürften 
edirten Seekriegsrecht eventuell in Ausſicht genommen war, beburft hätte; auch hatten 
die damaligen Expeditionen theilweife einen vorberrfchend mercantilifchen Zwed. Die 
jeßige preußifche Marine ſteht, rein kriegsmaͤßig organifirt, unter dem Oberbefehl St. 
fön. Soheit des Prinzen Adalbert ald Admiral, unter welchem die Rang 
liſte des Jahres 1856 folgende See-Öffiziere führt: einen Contre⸗Admiral, 2 Capi⸗ 
taind zur See, 4 Gorvetten- Bapitaind, 12 Lieutenants 1. Claſſe, 24 Lieutenants 
I. Glaffe und 1 Gapitain nebft 2 Lieutenants a la suite. Berner 11 Faͤhnriché 
zur See, 1 Bähnrich zur See a la suite, 8 See⸗Cadetten mit Fähnrichs » Charge, 
16 Bolontair» Cadetten und 13 Auriliar= Offiziere, welche nur für Kriegd- Oper» 
tionen einberufen werden. Die Mannfchaften deffelben Jahres werden folgendermaßen 
aufgeführt: 4 Matrofen» Bompagnien 357 Mann, 2 Schiffsjungen- Bompagnien 210 
Mann, 2 Werft» Matrofen » Compagnien 192 Mann, 1 Handwerks. Gompagnie 20 
Mann. 5 ed Offziere 22, Mafchiniften« Perfonal 26, Stabswachtmeifter 6, Lazareth⸗ 
gebülfen 9. ' ! 

Dad See» Bataillon zählte in demfelben Jahre 25 Offiziere und 445 Unter⸗ 
offiziere und Gemeine. Die Zahl der Marine-Aerzte betrug 13. (U. Iordan, Gefchichte 
der brandenb. =» preußifchen Kriegsmarine. 1856.) 

Der Ausdruck Admiralfchaft machen warb in früheren Zeiten, wenn die 
Meere in der näheren Umgebung Europa’ Durch Gaper und Piraten unficher gemacht 
waren, auch von Kauffartheifchiffen gebraucht, welche jich, in Ermangelung convopirender 
Kriegsfchiffe, durch schriftlichen Vertrag mit einander in größerer Anzahl verbanben 
um während einer Reife bei einander zu bleiben und ſich gegen feindlichen Angriff beis 
zuftehen. Der erfahrenfte und beberztefte Schiffer übernahm dann die Führung det 
Ganzen und galt den Uebrigen ald Admiral. 

AdmiralitätösInfeln. Dieſe auftralifchen Infeln bilden eine, aus einer großen und 
etwa 30 Fleineren Infeln, nebft verfchiedenen anderen Eilanden, beftehende Gruppe, 
welche burchfchnittlich unter 20 S. B., ſowie zwifchen 146 0 und 1500 O. von Greenwich, 
und ungefähr dem mittleren Theil der Norboftlüfte Neu⸗Guineas gegenüber liegt. Die 
Hauptinfel Basco (oder die Admiralitäts-Infel), unter 19 57° His 20 28° 
S. Br. und 146° 35° bis 1470 40° D. von Greenwidh, tft etwa 42 Q.⸗M. groß, 


. 














— — Din 


fehr gebirgig, dabei ſtark bewaldet und mit reicher Vegetation geſchmückt, und ihre, 
Papuarace angehörenden Bewohner zeichnen fich in mancher Hinficht vor den Paı 
der Nachbarinfeln aus. Andere Infeln der Abmiralitäts» Gruppen find name 

‚ Bandola, Ehiquier, Commefon, Jefus Maria, die 6 DM. große 9 
thido⸗Inſel, die Anachoreten, die Eremiten. Diefe alle find meift flach 
von Korallenriffen umgeben, und ihr Gefammiflächen-Inhalt wird zu 22 O.⸗M. ı 
nommen. Ihre Bewohner haben ſchoͤne Waffen und Kähne. Die Admiralitäts-T 
wurden ſchon 1616 von den Holländern Le Maire und Schouten entdeckt, jedoch 
1767 von dem Engländer Garteret benannt. — (Mit der oben genannten Haupt 
iſt natürlich nicht zu verwechfeln die zum Ruſſiſchen Amerifa gehörende, zwi 
der Infel Sitka und dem feften Rande liegende, 20 Meilen lange und 5 Meilen I 
AdmiralitätösImjel) 

Admiltiter (vom lat. admiltere) wörtlich: es wird zugelaflen, ift eine Formel, 
der man die Erlaubniß zu irgend einer Handlung ertbeilt. Die öfterreichifche Cenſur 
diente fich dieſes Ausdruckes befonders bei Ertheilung der Drude oder Debit-Erlaul 

Admodiation nennt man die Verpachtung eines Gutes mit allen in Bezug 
daffelbe von den bisherigen Inhabern erworbenen Gerechtigkeiten.. (S. Pacht.) 

Adolf Wilhelm Kal Auguft Friedrich, Hoheit, regierender Herzog von | 
fau, geb. 24. Juli 1817, fuccebirt feinem Bater, Herzog Wilhelm Georg Aı 
Heinrich Belgicus, am 20. Auguft 1839; Kön. preuß. General der Gavallerie 
Chef des Kön. preuß. 5. Ulanen » Regiments, vermählt 1) am 31. Januar 1844 
Siſabeth Michailomna (+ 28. Ianuar 1845), des erften Großfürften Michael 
Rußland Tochter, 2) am 23. April 1851 mit Herzogin Adelheid Marie, geb. 25. 
1833, des Prinzen Friedrich zu Anhalt» Defiau Tochter. Die zweite Gemahlin g 
dem Serzog am 22. April 1852 einen Erbprinzgen Wilhelm Alexander. 

Georg Adolf reſidirt zu Wiesbaden und Biebrich, dem elegant=- prächtigen Sch 
am Rhein. Ein Herr mit kunſtſinnigem Geſchmack begabt, zeigt er für die edlen ! 
gnügungen des chevaleredfen Lebens geläuterte Neigung, prächtige Wälder bieten ſ 
Jagbluft reiche Befriedigung. Am Volk ift er durch frifchen männlichen Sinn 
kannt und beliebt. Die fliegenden Blätter brachten einft ein ſchoͤnes Gefchichtchen 
welchem der Herzog in launigfter Weife die Rolle Harun al Raſchids fpielte. 
feinem edlen Gemüth giebt Die Kapelle, die aus den Wipfeln des Taunus über Ü 
baden emporleuchtet, ein redended Zeugniß. Er errichtete fie feiner erflen in z 
Blütbe ver Ingend heimgegangenen Gemahlin, deren Rarmorbild dort ruht, äh 
dem berühinten, in dem Rauch und der Königin Louiſe Züge erhielt. 

| In politifhen Dingen behauptete der Herzog, fo weit als und befannt, 
| Saltung, welche“ den Prineipien ber preußiſchen Politik emtgegengefeht war. V 
Daruber übrigens den Art. Naſſan. 

Adonat ift ein Hebräifches Wort. Die Bedeutung des Wortes ift Herr, 
wird aber in der beftimmten Form Adonai nur von Gott dem Herrn gebra 
Unter den Kennern morgenländifcher Sprachen iſt über die Fleriondform des Wi 
geritten worden. Unter Neueren bat es Profefſor Ewald überfeßt „mein H 
während Andere, auch der mehr bloß fprachlichen Gründen folgende Gefenius, eö 
einen fogenannten pluralis excellentiae hielten. Die Mehrzahl foll dann anzeigen, 
der mit dem Worte Bezeichnete die ganze Fülle des Begriffs in fich vereinige. 
würden alfo überfegen fönnen: Here aller Herren, oder Herr aller Knechte; wie 
dem Bater im Himmel alle Vaterfchaft flammt, derſelbe aber auch ein Bater iſt 

Aiuder. Die Meinung Ewald's in einer gelebrten Diatribe zurüdzumeifen, kann 
dieſes Ortes fein, obgleich es anziehend ift zu beobachten, wie einem fonft fehr ge 
ten Wanne feine theologifchen und politifchen Borausfegungen bi8 in die Auf 
Spige einer Bluralforn nachgeben, Alles zu Ehren vorausfegungslefer Wiffenfe 
lichkeit. Sucht Jemand aber Näheres über den Gebrauch foldyer plurales excellen 
‚ld findet ev eine ausführlichere Auseinanderjegung in des Profeffor Dr. Hengſten 

. Beiträgen zur Einleitung in das alte Teflament, Theil II. pag. 257. 

Was dad Berhältnig des Namens Adonai zu den übrigen Gottesnamen im 
Teſtament betrifft, fo tritt fein fo bewußt abfichtlicher Gebrauch deſſelben hervor, 





in dem Wechſel der Namen Elohim und Jaehovah nachgewieſen werden fann. , Daß 
der Name Adonai, vorzugsweiſe der Herr, nur von einem perſoͤnlichen Gotte debrauch 
werden kann, leuchtet ein, und die Pluralform iſt die ſtete Erinnerung, daß nicht eine 
einzelne Perſonification herrſchender Kraͤfte gemeint iſt, ſondern daß die letzte Urſache 
aller Macht, Gewalt und Herrſchaft als Perſon erkannt wird, Der Name erwedt 
Ehrfurcht, aber er reicht auch Troſt dar. Iſt Gott unſer Herr, ſo wird er zwar die 
Lehnspflicht von uns fordern, aber er wird uns auch ein treuer Patronus ſein. Die 
Juden bedienen ſich des Wortes Adonai ſehr häufig. Aus rabbiniſchem Aberglauben 
ſprechen fie den heiligen Namen Jehovah oder nach richtiger Vocaliſation Jahveh nie 
aus, ſondern leſen im Kanon für Jehovah ſtets Adonai, und für die ziemlich Häufige 
Zuſammenſetzung Jehovah Adonai ſprechen fie Elohim Adonai. Und ſie mächten wohl die 
Freiheit haben, alſo zu thun, wenn ſie nur das Schwerſte im Geſetze nicht zurückließen. 

Adoption, (Arrogation, Annahme au Kindes Statt, Wahlkindſchaft) iſt die 
vertragsmaͤßige und deshalb Fünftlide Begründung von Glteentechten. — Dad römie 
[he Recht, aus welchem das Inftitut auf und gediehen, unterjcheidet zwiſchen arro- 
gatio und adoplio (im engeren Sinne), je nachdem Die anzunehmende Perſon felbfl- 
ftändig — sui juris — oder noch in fremder Gewalt— alieni juris — iſt. Erſteren 
Falles war eine befonders feierliche Form, in älteren Zeiten fogar Volksſchluß in den 
Guriat-Comitien, erforderlich. Dem alten deutſchen Rechte war die Annahme an 
Kindes Statt unbekannt, es kanute die Sorgfalt für Erhaltung der Familie, welche 
bis zu einer Fiction führte, nicht, eben weil ihm die Familie zu heilig war und «8 
außerdem auch nicht zugeben wollte, daß ein Einzelner (durch Adoption) das alte Fa⸗ 
milienherfommen befeitigte. Die beutige gemeinvechtliche Geltung Der Adoption beruht 
weſentlich auf roͤmiſchen Principien, welche nur theild durch die Praxis, theils durch 
die Gefeßgebungen einzelner Staaten, inöbefondere das preußifche Allgemeine Landrecht 
und das öfterreichifche bürgerliche Geſetzbuch mehr oder minder modifisirt find. Auch 
der code civil hat die Adoption, wiewohl in befchränfter Weife, angenommen; in Enge 
land dagegen ift fie unbelannt. 

Haupt-Erforderniffe der Adoption find: 1) vermöge des Grundſatzes: 
adoptatio imitat naluram (welcher im Gemeinen und franzöflfchen Rechte ſtreng, im 
preußiichen Rechte minder fireng durchgeführt ift) ETönnen PBerfonen, die durch ihren 
Stand zur Ehelofigkeit verpflichtet find, nicht adoptiren; auch muß das Kind an Jahren 
jünger fein, wie der Annehmende. 2) Letzterer foll ein Alter von mindeſtens 50 Jah⸗ 
ven haben. Der Mangel eigener ehelicher Descendenz ift nur im preußifchen und frew 
zöftfihen, nicht im Gemeinen Rechte condilio sine yua non der Adoption? 3) Des 
Unnehmende braucht zwar nicht nothwendig männlichen Gefchlechts zu fein, doch ift im 
Gemeinen Rechte die Adoption durch rauen fehr erjchwert. 4) Der felbftftännige 
Conſens des Kindes ift erforderlich, fobald ſelbiges das 14. Kebensjahr überfchritten 
bat; der feiner leiblichen Eltern resp. feines Vormundes unter allen Umſtaͤnden. 5) Der 
Code civil gefattet die Adoption überhaupt nur unter Großjährigen und wenn Der zu 
Adoptirende während feiner Minderjährigkeit bei den Wahleltern bereits muinbeftend 6 
Jahre lang in Pflege (tutelle officieuge) geweſen ift ober fie aus Lebensgefahr ge 
rettet hat. !) 

Die Form des Bertrages ift in der Hegel die gerichtliche; einzelne Rechte (wir 
das Preußifche) erfordern außerdem obrigkeitliche, und bei der Adoption durch einem 
Adligen fogar landesherrliche Beſtaͤtgung. — Wirfungen der Anuahme an Kindes 
Statt find: 1) In Bezug auf die Berfonen die Begründung dar väterlichen Gewalt 
nebft allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Das Kind nimmt den Nomen 
bed Adoptiv⸗Vaters an, dem es in der Negel den feinigen Binzufügt und tritt nad 
gemeinen Mechte in ein agnatifches Bermandfchaftöverhältniß zu den Agnaten des An⸗ 
nehmenden, während es nach preußifchem Rechte mit dieſen überhaupt nicht verwandt 
wird. Auf die bisherigen Bamilienverbältniffe des Kindes bleibt die Adoption obme 
rinfluß; bat daſſelbe Descendenten, fo ftehen diefe zum Adoptiv» Bater, wie Enkel zu 
inem leiblichen Großvater. — 2) In Bezug auf das Vermögen wird gemeinrecht⸗ 








) Gode civil Art. 346, - 





der jüngften Vergangenheit Leiteten, billig: 
ihre Berfaffung nach dem englifchen Muftı 
ahmten auch die Adreſſe nach, aber es gel 
des Urtheild, welche die englifchen Adreſſe 
glänzenden Formen der Ergebenheit verbar 
schlecht ein Geift principlofer Oppofltion, 
Abfaffung der Adreſſe begleiteten, erreichte | 
punkt. Die Parteien erfchöpften fih in ı 
auch durch provocirende Säge der Throhr 
der Scheinconftitutionalismud in den Elein 
Form der Aorefie nah. Die erften preuß 
enthalten, auf das parlamentarifche Herkc 
weiteren Entwidelung zum Ruhm, die At 
wiederkehrende. Einrichtung befeitigt zu hab 
Anfangs der Adreſſe lebhaft annahmen, flı 
Formel Feine Bedeutung beizumefien wäre. 
Adreßverhandlungen in der erften Sigung 
1847 ftellte in der Sigung beider Kurien 
in den König eine Adreſſe zu richten, 
allgemeinen ſtaͤndiſchen Organs“, zugleid 
welche. fih vom Geſichtspunkte des Recht 
Patents und der Verordnung von 3. 
follte. Nach mehrtägigen Debatten wur 
9. Auers wald'ſchen Veraͤnderungs⸗Vorſ 
Schwerin'ſchen Antrage entſprach, mit 4 
genommen. Am 22. Defielben Monats er 
Die Bedenken der Stände zurückwies. 

Eine aͤhnlich bedeutfame Adreßdeba 
1854/55 vom Abg. Frhrn. v. Vindel-Hagı 
durch eine Adreſſe zu antworten, angeregt. 
rathungsbericht über denfelben einräumt, 
politifche Adreſſe vorauszufehen, doch wur 
Gentralausfchufle erklärt, e8 fei unmöglich, ! 
tifchen Angelegenheiten des Vaterlandes ( 
preußiſche Neutralität war damit auf eine f 
bezügliche Erdrterungen konnten aber Gel 
v. Vincke's verworfen werben. Nachdem 
er würde und koͤnne keine Aufklärung üf 
denn auch die zweite Rammer am 15. D 
den Antrag. 

- Adria — eine in fumpfiger Flaͤche 
Etſch) gelegene, einflige uralte Hafen-, ı 
Provinz Rovigo. Sie heißt il Poliſini u 
den Namen gegeben baben ſoll, von dem 
fernt if. Nach ihr führt auch eines der 
Namen. Sie zählte im Jahre 1851 11,: 
miflariats, deffen Hauptort fie ift, einer : 
Congregation und eines Privat⸗Gymnaſiur 
liche Lehrer angeftellt waren und das 7' 
Italiener und von der Entrihtung des S 
einigen Handel mit Maftvieb, Zifchen, Lebe 
einige Viehzucht. Nach diefer Stadt wirt 
malen die Provinz Rovigo getheilt wird, 
nit 2 Bezirkö-Präturen. Was die Gefd 
inem. anderen Itaria, Adria, im. Picim 
Bolk, die. Adriani, bewohnte einft Diefe © 


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eier (Thuscier oder Tusker, Etrusker), und die Gefchichte Tennt Ten Alteres in ‚alten 
biefen Gegenden. 

Ueber die dlteften Bewohner dieſer Gegenden laͤßt uns die GSeſchichte und faft 
nicht minder auch die Sprachforſchung ganz im Dunkeln. Die Wurzelworte mehrerer 
der älteften Fluß⸗,, Orts⸗ und Gebirgsnamen weiſen zwar auf keltiſche Völkerſchaften 
bin, welche in den allerfrüheſten Zeiten ganz Ober⸗Italien, ſelbſt den fpäter von ben 
Benetern beſetzten aͤußerſten norböftlichen Landeswinkel nicht ausgefchlofien, eingenum- 
men haben mochten. * An den Kuſten mag fihon frühzeitig der Phönicter erfchienen 
fein, auch fihon ſehr fräh eine und die andere Bactorei gegründet und dadurch ben 
erfien Grund zu fpäter bedeutender gewordenen Nieverlaffungen gelegt haben. 

Die Wichtigkeit diefer Gegend für den Handel ift fhon dadurch angedeutet, und 
die Küften, von denen territoriale Veränderungen Adria bimveggfüdt haben, erhalten 
in neuerer Beit eine neue Bedeutung. (Schon der alte Eellarius wirft Abrigend den 
Zweifel auf, ob diefe Stadt oder die Gegend, die nad) ihr Adrias, die Romer fpre- 
He Atrias] genannt wurde, dem Meere den Namen gegeben bat.) 

Adrianspel, turkifch Edrené, zweite Hauptſtadt des türkifchen Reichs und zweite 
Stadt der Provinz Rumelien, liegt an der Marigza, die bier die Tundfcha und Arda 
aufnimmt und Hat 120,000 Einwohner, davon Y, Griechen, mit einem Erzbifchof und 
zehn Kirchen. A. treibt mit bier probucirten Seiden⸗, Leder-, Rothgarnwaaren und 
mit Roſendl, dad in der nächften Umgebung aus befonders duftreichen Roſen gewonnen 
wird, ſtarken Land⸗ und Schiffähandel, Iegteren auf der Marizza, an deren Ausfluß 
der Flecken Enod, der eigentliche Hafen A., liegt. Katfer Hadrian gab der Stadt, 
nachdem er dieſelbe verfchönert hatte, feinen Namen. Sie war die erfte Reſidenz ber 
türkifchen Eroberer 1360 und blieb es bis zur Eroberung von Gonftantinopel. 

Adrianopel (Friede von), geſchloffen zwiſchen Ruſſen und ‚Tiefen am 14. 
Septbr. 1829. Sultan Mahmud Il. machte den Fühnen Verfuch, die alte Machtſtellung 
der Türkei dem chriftlichen Europa entgegen wieder in's Leben zu rufen, und zwar 
ſollten ihm die Mittel europätfcher Bildung und Kriegswifſenſchaft felbft gegen ſeine 
Beinde helfen. Er metzelte (1826) die Ianitfcharen, die Vertheidiger aflatifcher Wet, 
nieder, er organifitte feine Truppen nach europäifchem Ruſter, und nachdem er genug 
gerüftet zu haben meinte, führte er fahnell Die Gelegenheit zu einem Kriege mit Ruß⸗ 
land herbei. Rußland, von ihm beleidigt und gereizt, erflärte am 14. April 1828 den 
Krieg; in Europa beſetzte eine ruſſiſche Armee unter Fürft Wittgenſtein, in deren Haupt⸗ 
quartier auch Kaiſer Nicolaus refldirte, die DonaufürftentbHüämer, während Baskewitfch 
in Kleinaflen vordbrang. Während dieſer aber Erzerum nahm und immer welter vor- 
ging, war die europälfche Armee, nachdem fie nach Tängerer Belagerung am 11. Okt. 
die Feflung Barna genommen hatte, nicht glädlih, und erſt nachdem Diebitfch den 
Oberbefehl übernommen hatte, gelang es, den Großvezier am 11. Juni bei Kulertfcha 
zu fchlagen, Siliſtria (30. Juni) zu erobern, den Balkan (tm Juli) zu überfchreiten 
und die Feftungen am Buſen von Burgas und Adrianopel zu nehmen. Die Ueber 
flelgung des Balkan hatte den Muth der Türken gebrochen, welche bis dahin den 
tapfesften und geordnetften Widerſtand geleiftet hatten. Diebttſch erſchien am 19. Auguft 
vor Adrianopel, und fogleich erfchienen Abgeordnete des Seraskiers Halil Paſcha, welche 
eine Gapttulation antrugen. Diebitſch verlangte Auslieferung aller Kriegövorräthe und 
Staatsgäter, die Entwaffnung der Truppen und Einwohner, ſowie die Entlaffung der 
erfieren in ihre Heimath, fo weit letztere nicht in der Richtung auf Eonflantinopel Lüge. 
Die Türken ſchwankten, Diebitfch ftellte vierzehn Stunden Bedenkzeit, dann würde der 
Sturm begianen. Schon rüflete er zu ihm, da geſchah nach feinem Befehle; Gonftan- 
tinopel lag jeht in der Hand der Ruſſen, und im ganzen weftlichen Europa harrte man 
mit Spannung, aber mit Gewißhelt auf die Nachricht von der Belegung dieſer Stadt, 
welche den Mittelpunkt dreier Erdtheile bildet und gleich trefflich zur Feſtung, zum 
Sandelsemporium und zum politifchen Centrum eines gewaltigen Reichs ſich eignet. 
Aber Rußland ſchloß vor den Thoren Eonftantinopeld den Frieden, und es felerte 
dadurch, fo wenig ed auf den erften Bli fo erjcheint, einen der beften Triumphe feiner 
Geſchicklichkeit. Es wußte, Daß es Gonftantinopel vielleicht befegen, aber nicht würde 
halten fönnen. Seine Armee war durch die Strapazen und das Wüthen der Bet. 





—1— J 
zufanmengeſchmolzen, Die. Türken, auf den letzten Punkt ihrer europalſchen Wachtftellueg 
zurüdgebrängt, Tießen in ihrem Fanatismus alles von einer legten Aufraffung aller ihrer 
Kräfte fürchten, außerdem war im ruflifchen Eabinet wohl befannt, daß Metternich und 
Wellington, fo fehr legterer auch einen Bruch mit Rußland fcheute, entſchloſſen waren, 
in dem Augenblick, wo die Ruſſen in Eonftantinopel erfchienen, der Türkei beizuſtehen. 
Ja es wird gefagt, daß dem englifchen Admiral für folchen Fall aufgetragen war, 
die ruſſiſche Flotte anzugreifen und fie ald Pfand nach Malta zu führen. 

Müffling ') hat fpäter erfahren, die englifche Flotte habe in ſolchem Falle durch 
die Dardanellen geben und. fi ald Alliirte der Pforte erklären ſollen, eine Fregatte 
babe in Therapia gelegen, um den Sultan mit feinen Schägen nach Afien überzuführen. 
Müffling erklärt ferner, durch die natürlichen Verhaͤltniſſe feien alle Vortheile auf Seiten 
her türkifchen, alle Nachtbeile auf Seiten der rufflfchen Heere geweſen. Er fpricht ſich 
außerdem entfchieden dahin aus, felbft wenn bie Nuflen Konftantinopel nehmen kounten, 
fo fonnten fie es unmöglich behaupten. Auch bezeichnet Müffling es als einen Ir 
thum, daß die Türken den Ruſſen nicht hätten widerfiehen Tönnen. Zugleich gefteht 
er, er habe dad Heer des Feldmarſchalls Diebitjch für Rärker gehalten als es wirklid 
geroefen. Wan nimmt an, in Abrianopel, um die Mitte des September, babe Diebitih 
noch 15,000 Mann gehabt, und der Oberftlieutenaut Chesney Bat am 8. November 
nur noch 13,000 Mann aller Waffengattuugen bei der großen Heerſchau gejeben. 

Die Sendung Müffling's an den Sultan fecundirte den Wünfchen des Kaiferd 
Nikolaus, einen ehrenvollen Frieden, der äußerlich von der Großmuth Rußlands zeugie 
und doch den Nothwendigkeiten der ruſſiſchen Lage entfprach, herbeizuführen. 

Der Kaifer Nikolaus war zur Dermählung des Prinzen Wilhelm (jeßigen Prinz 
Megenten 8. 9., 11. Juni 1829) nach Berlin gefommen. Der König, der immer ber 
Meinung gewefen, „daß der Kaijer den Krieg hätte vermeiden koͤnnen, hätte vermeiden 
ſollen“, bot feine guten Dienfte an; von DVermittelung natürlich konnte Die Mede nicht 
fein. Die direete Sendung eine preußifchen Militär an den Sultan war dad Mittel, 
über welches man fich einigte. „Der Kaifer glaubte Alle, was er wünfchte, erreicht, 
. wenn bed Königs Abgeſandter es dahin bringe: daß der Sultan in ber Abſicht, Arie 
den zu Schließen, Bevollmächtigte ernenne und diefe mit den feinigen wirflich zufammen 
fämen, um Präliminarien zu verabreden, oder noch befler, fofort Den Frieden zu un 
terzeichnen.“ 

Müfflivg, der dem Sultan als militaͤriſche wie als diplomatiſche Capacitaͤt gelten 
mußte, war der rechte Mann, um ſolch ein Ziel herbeizuführen. 

Der General⸗Adjutant Bendendorff äußerte gegen Müffling: Rußland müſſe eine 
ſchnelle Beendigung eines Kampfes wünfchen, bei welchem Nichts zu gewinnen fei, ald 
höchftens eine Erftattung der baaren Auslagen, da der Kaiſer verſprochen babe, feine 
Eroberungen zu machen (er deutete übrigens an, baar Geld werde man von der Pforte 
niemals erhalten, eher die Abtretung ganzer Laͤnderſtriche); Diebitſch nehme Die Sache 
zu leicht; es fei unter den Umſtänden befler, aufzugeben, was man doch nicht erlangen 
fönne und — um den Orundfag zu retten — zwar auf Etwas zu beſtehen, aber mit 
Wenigem vorlieb zu nehmen. Benckendorff ließ errathen, daß Graf Nefielrepe die Sache 
eben fo anfehe und diefer Gedanke dem Kaifer nicht fremd fei. Fügen wir biejen 
Aeußerungen noch die folgenden binzu: „Ich ‚mußte aus meinen Unterredungen mil 
dem General v. Benckendorff, wie fehnlich man in Rußland den Frieden wünfchte, und 
wie die Eroberung von Konftantinopel eine Verlängerung des Krieges ohne alles Re⸗ 
fultat hervorbringen müßte, felbft wenn ganz Europa Nichts dagegen hätte.“ 

Am 4. Auguft fam General Rüffling in Pera an. Er fand ein aͤußerſt ungün- 
füge Terrain, aber er veritand es meifterhaft, ed feinen Zwecken dienſtbar zu machen. 
Dom Reis⸗Effendi mit Uebermuth zurückgewieſen, wußte er einen Kanal zu finden, um 








!) Aus meinem Leben. Friedrich Carl Ferdinand Freiherr von Mätfling, font Weiß ge 
nannt. Berlin 1851. G. ©. Mittler u. Sohn. (Müffling, ein ſcharfer politiſcher Kopf, war ſchon 
in den Befreiungskriegen, auf den Aachener Gongreß x. vielfach in officiele Beziehungen zu ben 

dr id ward mit Recht gerühnt, und was er bem 
and Frankreichs fagte, ver 





biplomati| en Dingen gekommen; fein fritifcher B 
Kaifer Alerander zu Aachen gegen Richelieu's Anſchauung über den Zu 
raͤch Heibegründetes Urtheil.) 





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auf den Sultan perfänlich einzwwirken und fi über den Meis'- Gffeubi zu "beflagen, 
und zwar mit ſolchem Erfolge, daß andern Tags der Sultan: ihm fein Bedauem über 
das unangenieflene Benehmen des Neid-Effendi und feine Bereitwilligkeit, dieſen abzu⸗ 
jegen, (wad Müffling natürlich verbat) ausbrüden ließ. Der Neis-Effendi fand nun 
mit einem Male, Müffling müfle ganz eminente militärische Kenntniffe haben, da fie 
jelbt den Sultan in Erflaunen ſetzten. Müffliug fährt fort, den Beleivigten zu fpielen, 
gegen Zwifchenträger zu äußern, er werde nie den Konak ded Neid - Effendi betreten, 
fondern nur am dritten Ort, mit Piftolen im Gürtel, mit ihm zufammeniveffen. Dar⸗ 
auf laßt der Reis⸗Effendi verlauten: Bekümmerniß beuge feine Seele, daß er anders 
gedeutet jei, als fein reines Herz es gewünſcht. Zu 

Am 10. Anguft gab WMüffling eine Note ein, in welcher er dringend zur Abfen- 
dung von Bevollmächtigten räth. Sollte (mad nicht zu denken erlaubt). der Kaiſer 
von Rußland feinem gegebenen Wort nicht treu bleiben, fo würden die andern Mächte 
fich beeifern, .ihn dazu zurüczuführen Nie würde der König von Preußen zum Frie⸗ 
den rathen, wenn er nicht die Ueberzeugung hätte, die Pforte fünne einen Brieden ar 
langen, der mit ihrer Ehre, Würde und Unabhängigkeit vereinbar fei. Unterſtützung 
fand er wider Erwarten beim engliichen und franzöfifchen Geſandten. Beide waren 
entfeglich bange, Konſtantinopel fünne in ruffifche Hande fallen und man müßte ents 
weder den Scandal ruhig anfehen oder eine Anftrengung machen, um ihn zu befeitigen. 
Da3 war nun allerdings eine Stimmung, wie Müffling fle brauchte. Alles, was er 
von beiden Geſandten verlangte, war, fie follten diefe drei Worte fprechen: Envoyez 
des plenipotentiaires. Wie die Gefandten fih aus der Sache gezogen, fagen ſie ſelbſt 
in dem Schreiben an Diebitfch vom 7. September: „Sie haben es für eine heilige 
Pflicht angefehen, dem Divan friedliche Gefinnungen einzuflößen und ihm ihre Ueber 
jeugung von. der Großmuth des Kaiferd mitzutheilen.” = 

Müffling bewog die Pforte nicht allein, Bevollmächtigte ind rufflfche Hauptquar⸗ 
tier, fonbern fpäter den alten Khosrew⸗Paſcha in eigener Perfon nad) Peterburg zu 
ſchicken. Dem Kaifer Nifolaus gegenüber motivirte er fein Zureden zu dieſer letzten 
Geſandtſchaft damit, bei den orientalifchen Völkern gelte die Abſendung einer Geſandt⸗ 
haft als ein öffentliches Zeichen der Unterwürfigkeit! 

Aber die Gefinnung der Türken ift veränberlih; die Unterhandlungen mit ben 
Bevollmaͤchtigten ſtockten, fie wollten nicht unterzeichnen, und der Paſcha von Scobra 
hieß Diebitfch fagen, am 10, September werde er mit einer türkifchen Armee in Adria⸗ 
nopel fein, die Ruſſen möchten zufehen, daß ſte bei Zeiten Adrianopel räumten. 

Viele glauben, wenn der Paſcha von Scodra einen Monat früher gefommen 
wäre, jo würden die Ruſſen eine Kalamität, wie der franzäfliche Ruckzug aus Moskau, 
erlebt haben. Aber der Bafcha von Scodra gehörte zur geflürzten Janitſcharen⸗Partei; 
ihm lag daran, den Sultan recht augenfcheinlich zu retten, um bie Beringungen — bie 
Wirderberftellung des Ianitfcharenmefens — dictiren zu können. Darum kam der Paſcha 
jo fpät und (mas er freilich nicht vorausfehen Eonnte) zu fpät. 

Der preußifche Nefivent, Herr v. Royer, warb von der Pforte gebeten, fich ins 
Mütel zu fchlagen. Er weigerte fih. Gr ließ ſich durch die anderen fremden Geſand⸗ 
ten, durch den Sultan felbft lange bitten, aber nicht erbittn. Endlich war er bereit 
unter der Bedingung, daß ihm ein Befehl des Sultans mitgegeben werde des Inhalts, 
am 13. Septeniber fpäteftens follten die Bevollmächtigten unterzeichnen. So ging ex 
nach Adrianopel. Er erhielt von Diebitfch einige Abänderungen des Vertrags; als 
die türfifchen Bevollmächtigten noch immer ſich weigerten, zog Herr v. Royer den Bes 
fehl des Sultans aus der Tafche und erklärte: wenn fle noch einen Augenblid ſich 
weigerten, müfle er fie als Mebellen gegen ihren Herrn betrachten und ihrer- Berfonen 
zur Vollziehung der gerechten Strafe ſich verfichern. 

Sp ward der Frieden von Adrianopel abgefchlofien, der an Rußland den Ref 
der Infeln und Mündungen der Donau, dad Land der Tſcherkeſſen, fofern ver Sultan 
darüber verfügen Tonnte, nämlich einen Theil des Paſchaliks Achalzik mit den Feſtun⸗ 
. gen Ahalzik, Affalkalali und Agkhawer und entjchienene DVorrechte für Handel und 
Schifffahrt feiner Untertbanen überlieferte, der ihm Das Interventiondrecht in den Donan- 

Bürftenthümern befraftigte und eine Entſchaͤdigungsſumme als Mittel zur Erwirkung 





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anderer Vortheile zuſicherte. Der Vertrag von Abrianopel if freilich jegt ganz ver 
altet und findet im biplomatifchen Verkehr feit dem Pariſer Frieden vom 31. März 
1856 feine Berüdfichtigung mehr, doch ift der Anhang des Friedens von Adrianopel 
in Bezug auf die Donaufürftenthümer immer noch von biftorifchem Interefie. Nach⸗ 
dem im 16 Artikeln das Friedendinftrument zu Ende geführt ift, folgt: Die Hospodare 
in Moldau und Walachei werden nidyt mehr wie früher auf fleben Jahre, fondern auf 
Lebensdauer gemählt. Sie haben bloß mit ihren Divans zu berathen, und der boben 
Bforte ſteht «8 nicht zu, In die Verwaltung der Hospodare einzugreifen. 

Gedruckt findet fi) das Anftrument, dad noch nad altmodifchem diplomatifchen 
Ufus eine Ratificationsfrift von einem halben Sabre feftfeßt, bei Martens, nouveau 
recaeil tom. VII p. 143, im Journal de Francfort 1829. Nr. 293, 205 und bei 
Ghillany B. 2 ©. 235. 

Bei der Friedensconferenz in Aorianopel waren zugegen: Graf Pahlen, Graf 
Orlow, der Defterdar Mehemed Zadik, Effendi, Abdul Kadir Bey. Das Protokoll 
führte Baron Brunnom, derfelbe, der Mitglied der Parifer Eonferenzen von 1856 war. 

In Europa machte dieſer Friedensſchluß einen tiefen Eindruck. Lord Aberdeen 
fanbte an den engliichen Gefandten in Peteröburg eine für Graf Nefielrode beftimmte 
Depefche, worin er eine Art von Proteft gegen den Frieden von Abrianopel ausfpriät, 
und Cobbet und Urguparbt veränderten die öffentliche Meinung Euglands gründlich, 
indem fle tiefes Miptrauen, ja Haß gegen Rußland verbreiteten. In einer Depeche, 
die Graf Neflelrode am 12. Februar 1830 an den Großfürften Eonflantin gerichtet, 
wird die Summe des Friedens von Adrianopel in folgender Art gezogen: 

„Der Friede von Adrianopel bat Rußlands Uebergewicht im Oſten befeftigt. 
Er bat Rußlands Grenzen verftärkt, feinen Handel entlaftet, feine Rechte gewährleiftet, 
feine Anliegen gefichert. Die Türkei, darauf befchränft, nur unter dem Schutze Ruß⸗ 
lands zu eriftiven, nur Rußlands Wünfchen binfort ihr Ohr zu leihen, war, nach des 
Kaifers Anficht, unferen politifchen und Handels⸗Intereſſen angemeffener, «als irgend 
eine neue Combination, die und gezwungen . hätte, entweder unfere Herrfchaft durch 
Eroberung auszudehnen oder an bie Stelle des osmaniſchen Reichs Staaten treten zu 
lafien, die bald genug mit und an Macht, Bildung, Kunftfleiß und Reichthum gewelt- 
eifert haben würden. Da wir den Umfturz der türfifchen Regierung nicht gewollt, fo 
füchen wir die Mittel, fle in ihrem jegigen Stand aufrecht zu erhalten. 

Die wichtige Sache der Durchfahrt des Bosporus iſt in einer Weife zu Ente 
gebracht, Die die anderen Mächte und ſelbſt England in Erflaunen feßen wird, dem 
die englifche Blagge wird wett nicht mit berfelben Rüdficht im Canal von Konftanti- 
nopel behandelt, wie bie unfrige.. Was Serbien anlangt, bat die Pforte mit Gefir 
gigfelt und Beeiferung allen Forderungen gehorcht. Die Moldau und Walachei find 
zurückgegeben; ihre Eroberung wäre und um fo weniger nüßlich gewefen, Da wir nun, 
abe Truppen dort zu unterhalten, nad) Wunſch und Willen in Kriegs⸗ und Friedens⸗ 
zeit über jene Provinzen verfügen. Die Entihädigung wird Sache der auögleichenden 
Usserbandlung fein, die dad osmaniſche Reich mit einer unerträglihen Bürbe nicht be- 
ſchweren, in unferen Händen aber die Schlüffel der Lage laflen wird, von mo aus wir 
das Heich leicht im Schach halten; fie wird ferner das Vorhandenſein einer Schul 
zur Anerkennung bringen, welche ber Pforte lange Jahre hindurch ihre wahre Lage 
Rußland gegenüber und Die Gewißheit ihres. Verderbens, falls fle ein zweites Mal zu 
trogen verfuchte, im Bewußtſein halten wird." 

Nach dieſem Ueberblid errungener Vortheile ſchließt Graf Neſſelrode mit der Ber 
merfung: „Unfere Beziehungen zu den Großmaͤchten Europas find nur zufriedenftel- 
Inden Art." Er hatte Hecht, aber nicht auf lange, denn fchon ftand die Julirevolution 
vor der Thür. Bis zum Eintritt diefer folgenfchweren Umwaͤlzung aber fanden bie 
Verhaͤltniſſe Curopas zu Rußland folgendermaßen: 

„Die aͤußerſten Plaͤtze nach beiden Seiten bin nahmen die deutſchen Großmaͤchte 
ein.) Niemals hat der Gegenſatz von Oeſterreich und Preußen ſich entſchiedener ver⸗ 


— — — 


1) Wir entnehmen dieſe Stizze dem Buhe Wurms: „Diplomatiſche Geſchichte der orienta⸗ 
lijſchen Frage. Leipzig. Brockhaus. 1866. 





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Eorpert. Rußland zaͤhlt auf Preußen, in Oeſterreich ſieht es feinen erflärten Fe 
Die in Warfchau aufgefundenen geheimen Depefchen find fo belehrend, Daß die gi 
Situation ſich Darm zeichnet, Ä 
„Preußen — fchreibt Pozzo di Borgo (28. Novbr. 1828) — verftärkt Die Be 
des Bluts durch die Politik. Es wünfcht den Frieden, wird aber fih wohl hü 
irgend einen Schritt anzugeben oder fich einem folchen anzufchließen, ber das ruſſli 
Eabinet flören koͤnnte. Es ift nüplich, dem berliner Kabinet die Ausficht zu eröffı 
daß, falld England und Oeſterreich durch einen Angriff auf Rußland den Gebietöbefl 
gefährden follten, Preußen, wenn es gemeinfchaftliche Sache mit Rußland macht, Vortl 
finden würde, Die es von anderer Seite her nicht zu hoffen hätte. Preußen bat feine fer 
Rolle und die Gegenflände feines Ehrgeizes unter feiner Hand; ed ift nicht Rußland, 
unter Preußens Vergrößerungsbeftrebungen (empietements) leiden wird, vielmehr ı 
es die Breiheit haben, feine eigenen, wenn fein Interefle es erheiſcht, audzuführen. 
Defterreich dagegen benimmt fich fo, wie Rußland es um diefe Macht nicht 
dient hat. Man kann fagen, der Kaifer Franz fei durch die Erfolge des Kai 
Alerander und Durch das ruffifche Heer auf feinem Throne wieder eingefeßt. Gern 
Defterreih Rußlands Einfluß zur Beihwörung des Sturmes in Italten fich gefa 
lafien. Als aber der griechifche Aufftand ausbrach, nahm Defterreih auf Aupl 
feine Rückſicht, begte den Sultan heimlich auf, alle Vorfchläge zu verwerfen. 8 
Metternich, und fein Anderer, war ber Urfacher des Kriegs, und ald Rußland 
Schwert z0g, war Fürft Metternich unmwillig, als wäre es eine Empörung gegen | 
Oberherrfchaft. Intriguen, um Frankreich im Innern zu fchwächen, England den Au 
zum Feinde zu machen, Preußen zu verführen, jeded Mittel ift dem Fürften Metter 
scht. Er fchmeichelt in Frankreich den Bonapartiften und bringt den jung 
Napoleon in Erinnerung; ja, ed giebt Leute, die ihm den Plan zufchrei 
(einen Plan, den doch felbft der ruſſiſche Gefandte in Wien — 29. Juni 1828 
für unwahrſcheinlich erklärt), einen Geift der Nationalität in Galizien zu-beleben, 
Rupland mit dem Gefpenft eined polnifchen Aufftandes zu fchreden. Bleibt dann 
Frage: mird Metternich angreifen? Wahrfcheinlich nicht, wenn er findet, daß 
unerbittlih find, alle Schrecken des Kriegs über Oeſterreich auszuſchütten und 
keines zu erfparen. | 
Fürſt Metternich leugnet dem ruſſiſchen Gefandten gegenüber (5. Febr. 18 
förmlich ab, Daß er Verſuche gemacht, die Höfe von London, Paris und Berlin 
einee Intervention zwifchen der Pforte und Rußland zu beflimmen.. Der Gejai 
glaubt dagegen im Beſitz von Beweisſtücken dafür zu fein, von denen er aber f 
Anwendung macht, was Graf Neſſelrode (24. Febr.) gutheißt, da die Verleugn 
genäge und man darin den erfien Schritt zum Aufgeben einer „bebauerlidhen Poli 
esfennen dürfe. Bei einem fpäteren Anlaß fagt Metternich auch (zu Kraſinsky 5. N 
1829), man irre, wenn man ihm zutraue, er leite den Kaifer Franz, wohin er wo 
- wenn. er von des Kaiferd vorgezeichnetem Pfad abweichen wolle, fo würde er E 
24 Stunden mehr Minifter fein. Berner: er wifle wohl, daß zur Dämpfung 
europäischen Vulkans innige Eintracht noththue zwifchen Defterreich und dem einzi 
Haren, großen Herrfcher, dem Kaifer Nikolaus; aber einftehben könne er nur. daf 
(mit einem Seitenblick auf Rußlands gelegentlicdy revolutionäre Politik), Oeſterr 
werde der lebte Staat fein, der ben Ideologen nachgeben werde. Metternich bef 
ih (8. Juni 1829), man gebe darauf aus, ihn förmlich zu ächten: „Wenn die 2 
rührer das wollten, fo wäre ed gänzlich in der Ordnung; aber daß ein Herrſcher 
| will, das, ich geftehe es, weiß ich nicht zu begreifen.“ 
| Bon Frankreich fagt der ruffifche Diplomat Pozzo in feinen Depefchen (28. N 
14. Dee. 28.): „Es wird nie einer Coalition gegen Rußland beitreten. Der Ki 
bat es dem öfterreichifchen Gefandten mit dürren Worten erklärt. In Wien und I 
don, jagte der König, fteht doch die Idee feft, in einem äufßeriten Ball würden R 
land und Frankreich zufammengeben. Der König hat zu Polignac gejagt, als di 
von Wellington aufgefordert war, in Paris den Puls zu fühlen: „Greift der Ke 


Nikolaus Die Defterreicher an, fo werde ich nach den Umfländen handeln; greift Orf 





teih ihn an, fo Laffe ich augenblicklich gegen Defterreich marfchiren. " 





E9V DLIILIIIIV WIE 


England endlich giebt dem König von Frankreich Anlaß, den Herzog von Wel- 
lington zu beloben, weil er den Strom fich entgegenflennme, dem Ganning, der «8 
anch mit Rußland zum Bruch getrieben haben würde, nachgegeben hätte. Wellington 
und Aberdeen zeigten ſich gegen Rußland im höchften Mafie verföhnlih. Wellington 
fagt (nah dem neuen Portfolio. Aug. 1843) zum Bürften Lieven im Juni 1829: 
„Sch babe Die Meberzeugung, daß eine innige Freundfchaft Englands mit Rußland un- 
endlich wünſchenswerth if. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Wir werden Vertrauen: 
mit Vertrauen erwiedern, und wenn es dem Kaiſer gefällt, uns von feinen Mbfichten 
für die Zukunft Etwas wiffen zu laſſen, fo glauben Sie, e8 werden Freunde fein, 
denen Sie Diefelben enthüllen, und wir werden forgen, daß Nichts Davon verlaute.“ 

Die ruffifchen Staatsmänner urtheilen, wie es uns fcheint, ungemein richtig: 
Meklington balte die Prüfung feiner eigenen Lage von ſich fern, ja, er fcheine dieſe 
Prüfung felbft zu feheuen. 

Graf Pozzo di Borgo verhehlt dabei nicht (28. Novbr. 1828), alle Mächte ohne 
Ausnahme, ſelbſt Frankreich, felbft Preußen, würden, nach den vorangegangenen Ber- 
fprechungen Rußlands, Die Beringungen, die Rußland ftellen müffe, zu bart finden. 
Sobald der Sultan den Statusquo vor dem Kriege berzuftellen und die Feſtungen an 
- der aftatifchen Küfte des Schwarzen Meered (welche die öffentliche Meinung den Auffen 
bereitö aufgeopfert) abzutreten bereit fei, würde man bon allen Seiten Rußland zum 
Frieden drängen. Deshalb müffe raſch vorwärts gegangen, alle Mittel ergriffen, aud 
. die Ehriften gegen ihre Draͤnger bewaffnet werden; wenn die Babiuete fehen, daß der 
Sultan nur durch jenen Vertrag koͤnne gerettet werden, fo werben fle den Sultan zum 
Frieden zwingen. Zu gleicher Zeit, wo möglich mit der Kunde vom Beginne ber 
Friedensverhandlungen, müffe Europa die Kunde von deren Abfchluß vernehmen. 

In ſelben Sinne fagt Fürft Lieven (13. Juni 1829): „Inmitten unſers Lagers 
muß der Friede gezeichnet, erft wenn er gefchloffen ift, muß Europa von den Bedin⸗ 
gungen in Kenntniß gefeßt werden. @inreden werden dann zu fpät fommen, man wird 
rubig dulden, was man nicht mehr verhindern kann.“ Aber diefe zunerfichtliche Politik 
Rußlands follte ſich Doch eines Tages ſchwer verrechnen! 

Adriatifhes Meer, ein Binnenmeer, eigentlich ein fehr langer Golf, ja der 
größte Bufen auf der Norbfeite des mittelländifchen Meeres, mit einem Flaͤchenraume 
von 1900 — 2000 geogr. [ Meilen, einer Breite von 30— 35 und einer Länge von 
nahezu 85 Meilen, deflen innerfter nördlicher Rand bei Monfalcone unter dem 450 48‘, 
der entgegengejeßte Eingangspunft Dagegen unter dem 45° 5°’ n. Br. liegt. Daſſelbe 
hängt mit dem fonifchen Meere oder dem unmittelbar an dieſen Golf floßenven Theile 
des Mittelmeeres durch den Canal von Dtranto zufammen, von mo er ſich (von dem 
Vorgebirge Leuca und der nörblichften Spite von Eorfu, einer der fleben jonifchen 
Infeln) in nordweſtlicher Richtung bis zum venezianifchen Strande bei Marano (nicht 
Murano) zwifchen der italifchen und türfifch » illyrifchen Halbinfel in einer Küften-Ent- 
widelung von 267 geogr. M. vertieft. Don diefer Küftenlinge fommen 120 M. auf 
Oeſterreich, 75 M. auf Neapel, 32 auf den Kirchenftaat und 34 auf das oamannifche 
Reich. Das adriat. Meer bildet an feinem Beftade mehrere Bufen und eine Menge 
von Buchten. Unter den erfteren find die von Manfrebonia an der neapolit., von 
Venedig, Trieft, Fiume oder des Quarnero, Ragufa und Cattaro an der öflerr., des 
Drino, Dirazzo und Ballona an der türfifch=albanefifchen Küfte die bedeutendſten. 
Laͤngs der Küfte von Dalmatien, der öfterr. » croaflfchen Militairgrenze und des croat. 
Littorales Tiegen eine Menge von Infeln, Hleinerer @ilande und Felfenriffe (Scoglier), 
und eine nicht geringere Anzahl von mehr oder weniger tiefen Einſchnitten und Buchten, 
welche gute natürliche Häfen abgeben. Unter den Infeln find Veglia, Cherfo, Arbe, 
Luffin, Tago, Unie, Saufego, Maon, Tremuda, Lunga oder Groffa, Liſſa, Leſſina, 
Brazza, Lagofta, Curzola und Meleda Tängs der croatifchen und dalmatiniſchen Küfte, 
und vor dem Geftabe von Iſtrien die Gruppe der Brioni, welche einft die Baufteine 
zu den Paläften von Venedig lieferten, die bedeutendſten; endlich Tiegt fühmweftlich von 
dem zulegt genannten Eilande, welches burch feine Detonationen zu Unfang des zweiten 
Viertheils des Taufenden Jahrhunderts berühmt geworben ift, faft mitten im abriatifchen 
Meere, die kleine dalmatinifche Infel Belagofa nebft einigen Klippen. Das weſtliche 


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Abriaiijhes ICE. 301 


italfhe Geſtade Hat faft gar Feine Infeln, wenn man nicht die Eilande der Lagunen 
babin rechnen will, und wenige natürliche Häfen. Nur im Tremitibufen des Neapoli⸗ 
tanifchen liegt die Fleine Gruppe der Tremiti- Infeln: San Domenico (die größte und 
füdlihfle), San Nicola, Carrara nebſt den beiden Klippen Cretaccio und la Vecchia. 
Die croatiſch⸗dalmatiniſche Infelfette enthält zwifchen ihren einzelnen, oft überaus Tang 
geſtreckten Gilanden eine Menge von Meeresarmen (Canali), welche der Schifffahrt 
dienen, Die Durch fle ihren Zug nimmt. Inter ihnen find der Canale del Quarnero, 
der Canale di Farafina, der Eanale della Morlana, der Ganale della Montagna, ber 
Banale di Maltempo, der Canale di Mezzo, der Eanale di Unie, der Canale di Salve 
d'ulſbo, der Canale di Scardizza e Maon u. m. a. die wichtigften. ') Unter den Vor⸗ 
gebirgen, welche ſich längs dieſer Meeresküften erheben, find im Neapolitanifchen das 
Capo Cavallo bei Brindift, der Monte di Sant’ Angelo oder Gargano, die Junca 
di Santa Matia della Ienna und das Capo Leuca an der italifchen oder Welt», fo 
wie da8 Capo Linguetta an der Oftfeite des Canales von Otranto in der Türkei; an 
der Öfterreichifchen Küfte endlich in Iftrien die Tunca di Tromontore und die Tunca 
Salvore mit einem Leuchtthurme Die hervorragendſten. Außerordentlich verfchleden ift 
ſowohl die Befchaffenheit der Küfte ald Diefenige des Meered- und Anfergrundes. In 
Albanien ift das Geftade fat durchaus fteil, recht einfam, dürr und unwirthbar; Das 
Gebirge erhebt fich fowohl bier ald auch laͤngs des Koͤnigreichs Dalmatien in hohen, 
nicht felten fenfrecht fteilen, pralligen Winden, an denen fich die Wellen mit Ungeftüm 
brechen und vor denen die vielen, größeren und Fleineren, meift ſchmalen und nidht 
felten mehrere Meilen langen Infeln liegen, zwifchen denen es dennoch die ficherfte 
Fahrt giebt, weil die Schiffe feewärts durch Die noch weiter weftlich vorliegenden Infeln, 
und landwärts durch die dinariſchen Alpen vor der Wuth der Stürme gefichert werben. 
Auf diefer Seite des Meeres berrfcht in den oberen Regionen der Berge, welche das 
Geftade bilden, an den meiften Orten, fogar in der Tiefe bis unter den Spiegel des⸗ 
felben hinab überall der graue oder weißliche Kalkftein vor, doch findet- ſich auch in 
vielen Gegenden, 3. B. in der Nähe von Trieft, anftatt des weiter oben allgemein 
verbreiteten Kalkes, zerbröckelter Mergel vor, der in fehr geneigten, beinabe fenfrecht 
aufgerichteten Schichten aus dem Meere auffteigt. Auf diefer ganzen Strede der adria⸗ 
tiichen Oftfüfte, von der ſüdlichſten Spige Albaniens bis nach) Duino, dem weißen 
weit in die See hinaus erglänzenden Felienfchloffe in der Nähe von Trieft, Hat auch 
der Meeresgrund denfelben Charakter; er ift tbeilmeife felſig, theilweiſe befteht er aus 
Felfentrimmern oder aus gröberem Sande mit Steinen untermifcht, und bietet übers 
baupt einen viel ficherern Anfergrund, als vie auf fle folgenden Küftengegenden. Unter 
den Häfen diefer Seite find Ballona und Durazzo im osmanifchen Reiche; Gattaro, 
Ragufa, Spalatro, Trau, Sebenico, Zara und Nona an der Dalmatinifchen; Carlo⸗ 
pago, Zengh, Porto⸗Ré und Bucari, endlich Fiume an der eroatifchen; Yianora, der 
Kriegshafen von Pola, Novigno, Eittanuova, Parenzo, Porto -Rofe bei Pirano, vor 
welchem an der Punca Salvore ein Reuchttburm, zur Bezeichnung der Einfahrt in den 
Bufen von Trieft, ſich erhebt, der Hafen von Capo d’Iflria, und der von Muggla an 
der iſtriſchen, und die Häfen von Trieft, deſſen Einfahrt auch durch einen Leuchthurm 
bezeichnet ift, und Cavana an der deutfchen Küfte die wichtigften. Bei Duino ändert 
fih aber der ganze biäherige Charakter des Geſtades. Das Gebirge, welches biäher 
meift zerrifien, felftg, oft jenfrecht fteil, längs der Küfte Albaniens in einer feltenen 
Raubheit,- meift einfam und büfter emporfleigend, fich faft immer dicht an dad Meer 
gehalten Hat, mendet ſich nun von Strande ab und ftreicht fortan in weiter Werne 
vom Meere dahin. Mon der biftorifch merfwürbigen Mündung ded Timavo bei Mons 
falcone an, laͤngs des ganzen venez. Königreiches, und über daſſelbe und die Mündun⸗ 
gen des Po, über Mavenna und Rimini hinaus, bis nach ©. Lorenzo und Riccione 
im Kirchenftaate, ift die Landfchaft Tängs der See durchaus flach, das Geſtade niedrig, 
feiht, und feewärts nit Sümpfen und Iintiefen, Sanbbänfen und fürmlichen Dünen, 
fo wie auch von einer großen Menge größerer und Eleinerer Infeln bedeckt, die theild 





y S. die Generalfarte bes öſterr. Raiferftantes mit einem großen Theile der angrenzenden 
Länder, im k. k. ra Ra He Inſtitute, durch Hauptmann Joſef Scheda bearbeitet und 
herausgegeben. Wien, 1856; die Blätter XIl, XVII und XVII. E 


a tun Sr Aue 0 


Dusch Sümpfe, und theild durch natürliche oder Tünftlich vertiefte Canale von einan⸗ 
der. getrennt und unter dem Namen der Lagunen befannt find, der Meeresgrund bes 
ſteht auf dieſer ganzen Strede aus Schlamm und feinem Sande. Eine Menge von 
Klüffen und Fleineren Gewällern ergießen ſich bier von den Alpen herab in das Meer, 
unterbrechen den Strand und dienen den Seefchiffen zu Ginfahrten in dad Labyrinth 
der die Küſte bedeckenden Moräfte. Diefe Einfahrten beißen Porti. Solcher Borti 
giebt es an dieſer Küfte über dreißig; die wichtigften für die Schifffahrt Venedigs find 
der Borto di tre Porti, der Porto S. Eradmo, der Porto di ©. Nicolo oder bel 
Lido, durch den die Dampfichiffe des öfter. Xloyp ihren Cours aus und nad den 
Lagunen nehmen, und der Porto di Malamocca, durch den allein Kriegd- und Kauf 
fahrteifchiffe von bedeutenderem Tiefgange aus⸗ und einfahren Fönnen. 

Zahlreich find die Häfen, die längs dieſer ganzen Küfte liegen, body find fe 
größtentheild feicht und ſtark verfandet. Die wichtigften darunter find Pie Häfen- von 
Venedig, von Malamocco, Chioggia und Brondolo. Auf dieſer Küfte ergießen ſich 
zahlreiche Alpenftröme in Die See, Der fie bei jedem Hochwaſſer eine Menge von 
Schlamm, Sand, Gries und Gerölle zuführen, und fie bilden darum jämmtlid ver 
ihren Mündungen mächtige Sandbänfe, deren einige vom eigentlichen. Feſtlande (de 
terra ferma) fehr weit, mitunter 1Y, Meile lang, in’8 Meer fich erſtrecken. Außer⸗ 
halb diefer Sandbaͤnke findet man auch noch zwei bis drei Meilen lange Schlamm 
baͤnke, parallel mit jenen laufend, welche ver Haupt Aufenthalt der Fiſche und Schaab- 
thierchen find. Unter diefen Sand» Aufichwenmungen ift bie mehrere deutfche Meilen 
lange, zum Theil gegen die Gewalt der Wogen durch die berühmten venezianijchen 
Murazzi befeftigte Dünenkette (die in dem Venedig zunäcft liegenden Theile den 
Namen Lido führt) die bedeutendſte. Auf ihr find Seebüder eingerichtet, weld« 
viele Fremde nach Venedig ziehen. Am weiteften bat der Po fein Delta gegen die 
Mitte des Buſens binaudgefchoben und gleich der ihm benachbart in das Meer ſich 
ergießenden Etſch, feit Iahrtaufenden die meiften, zum Theil auch hiſtoriſch nad. 
weisbaren Veränderungen dieſer Meeresfüfte bewerfftelligt. Ienfeit des Po buchtet 
fh das adriatifche Meer in den auch durchaus flachen und weit. geöffneten Bujen 
ein, in deſſen Nähe Eomachio und Ravenna, und an dem noch weiter füdlich 
Cervia und Rimini liegen; auch er ift überreih an Sümpfen, weldhe durch die 
Mündungen de8 Po di Goro, di Volano und di Trimaro gebildet werden. Zwiſchen 
den beiden legteren Flußmündungen bilden dieſelben flagnirende Sümpfe, welde die 
Volti oder Maremmen von Gomacchio genannt werden, und die durch ihren Neichthum 
an Fiſchen berühmt find; ſie follen der päpftlichen Kammer einen jährlichen Pacht⸗ 
fhilling von 30,000 Scudi einbringen. Auf den wenigen erhabeneren, infelartigen 
Stellen, auf denen Meierhöfe liegen, wirb Rindviehzucht getrieben. Erſt unterhalb 
Rimini, bei San Lorenzo und Friccione, fenden die Apenninen die erften Höhenzüge ar 
had Geſtade und ziehen fich abermald wiederholt wieder vom Ufer zurüd, an das fie jedoch 
bei Gattolica wieder berantreten und von da an über Befaro, Fano, Sinegaglia und 
Ancona (lauter wichtige Hafenorte) begleiten. Bei Torre del Tronto Spinofl beneft 
dad Meer zuerft die neapolitanifche Küfte, Die im Ganzen mehr gebirgig if. Weiter 
füdli bildet ed abermald den flachen und meit geöffneten Bufen von XTremiti und 
buchtet fi bierauf, von diefem Durch dad weit vorfpringende Vorgebirge des Monte 
Gargano gefchieden, in den engeren und tieferen Golf von Manfredonia. Im Tremitis 
Bogen liegen die ſchon erwähnten gleichnamigen Infeln. Zablreich find die fließenden 
Gewäſſer, die fich in dieſes Meer ergießen, aber fämmtlich, mit alleiniger Ausnahme 
bed Po, mehr vder weniger reißende und der Schifffahrt wenig nügende Küſten⸗ 
flüſſe. Etſch und Po, dieſe beiden beveutendften unter den biöher genannten Gemil- 
fern, flrömen aus dem lombardiſchen Tieflande (und aus Tirol die letztere) daher und 
fegen fortwährend Land an der Küfte an, jo daß die Drte biefer Gegend immer mebr 
von dem Küftenjaume entfernt werden, wie dieſes namentlich bei der uralten Stadt 
Adria (f. d. Art.) der Fall ifl. 

Diefed Meer ift viel falzreicher als das Mittelmeer und ald der Ocean, wodurch 
die ſehr flarfe Salz- Gewinnung, welche an der öftlichen Küfte fchon zu Kailer 
Theodorichs Zeiten und lange vor ihm fehr im Schwunge war, begründet wird. 











indo⸗britiſchen Reiches und zerfällt in zwei bicht neben einander liegende Theile, von 
denen Die größere Hälfte an die Öftfeite des Aravullis Gebirges grenzt. Die Haupt 
ſtadt gleichen Namens, in einem fchönen und wohl bewäflerten Thale, ift von bebeu- 
tendem Umfange, und die vielen Kuppeln und Minaretö geben ihr einem maleriſchen 
Anblid. ALS die Briten ſich diefer Stadt in dem erwähnten Jahre bemächtigten, war 
fie in einem fehr traurigen Zuftande; der Schuß, deffen die Perſon und das Eigen- 
tum der handeltreibenden Klaffen jetzt jich erfreuen, bat den Flor Adſchmirs um ein 
Bedeutendes gehoben und die Bevölkerung ift durch Einwanderung auf 23,000 Köpfe 
angewachfen. Die Nefte des Palaſtes des Kaiſers Schah- Dichihan, der bier veftbiste, 
ſtehen noch, und auf dem Gipfel des nahen Berges erhebt ſich die Citadelle Taraghar, 
deren tiefe Brunnen, Kafematten, ungeheure Magazine und flarfe Rage fie leicht zu einer 
der flärkiten Seftungen machen Fönnten. Das Grabmal des Scheih Moyn-ed»bin zieht 
jährlich eine große Anzahl muhamedanifcher Pilger herbei, ebenfo der norbweftlich, in 
unmittelbarer Nähe von Adſchmir liegende Wallfahrtdort Pokur. Süpäftlich der Haupt 
ſtadt liegt Nuflrabad, eine britifche Militär-Station, und ſüdlich Nadjgur, mit 12,340 
Einwohnern. Die beiden Eleinen Feſtungen Dihaf und Bunal enthält der größere, die 
beiden Orte Bhuggairie und Baikri der Fleinere Theil des Diſtrietes Adfchmir. 

Wenn auch in politifdem Sinne fi der Name Adſchmir auf den eben bejchrie 
benen Diftriet befchränkt, fo wird geographifch darunter jener ganze Landſtrich verſtau⸗ 
den, der fich weftlih und fübmwefllid von Delhi bis an die Provinzen Sinde umd 
Lahore erfiredt und, außer dem erwähnten unmittelbaren Gebiete, mehrere Radjputen⸗ 
Staaten begreift. Während der Mongolenherrfchaft war Adſchmir eine Provinz, bie 
in 7 Diftriete (Sſirkars) und 207 Bezirke (Mahald) zerfiel und ein Kriegscontingent 
von 75,700 Bann zu Pferde und 347,000 Mann zu Fuß geftellt haben fol, d. h. 
gegen Sold, da Adfchmird Bewohner dem WMongolenreiche nie dauernd unterworfen 
waren und fie den Kaifern mehr ald Hülfstruppen dienten. Der öſtliche Theil Adſchmirs 
enthält das Plateauland von Odajapur oder Mewar und Dijeipur, iſt größtentheils 
von ſchwer zugänglichen Gebirgen eingefchloffen und geſchüht, und reich an fruchtbaren 
Ebenen und Thälern. Das weftlich gelegene Land hingegen tft von einem ganz ver 
fehiedenen Charakter. Es wird von dem erfteren durch die lange Kette des: Aravull- 
Gebirges getrennt, erftredt fi bis in die Nähe des Indus ald ein Tiefland, das, 
60 bis 80 Meilen breit, in Vergleich mit dem fonft fo reichen Boden Hindoſtans 
am wentgften durch Naturgaben begünftigt if. Diefe Niederung zeigt das Bilb ber 
MWüfte, wenn auch nicht in dem großartigen Maße ber libyſchen Wüfte, da fich noch 
immer Culturſtrecken vorfinden, die an den Abftufungen des Aravullis®ebirges und ben 
fih weit verbreitenden Terraſſirungen der Mewarfetten breite Streden bewohnbaren, 
zum Theil feld ungemein fruchtbaren und bebauten Landes bilden, jedoch von D. 
nach WB. immer mehr fich verlieren und erft am Indusufer wieder erjcheinen; zwiſchen 
ihnen breitet fich die centrale Sandwüſte, die Thurr aus, Die ber libyfchen Sahara 
einigermaßen vergleichbar if. Das Aravullis Gebirge ift für Oſt⸗Adſchmir fo wie für 
ganz WitteleIndien von hohem Werthe, denn nur dieſe Kette verhindert, Daß nicht alled 
öftlich von ihr liegende Land ganz unter Sand begraben wird; und fa hoch und un⸗ 
unterbrochen diefe Berge fortlaufen, die fich faft von dem Meere bis Delhi ausdehnen, 
fo werden dennoch überall, wo das Gebirge fich öffnet oder niebriger wird, Wollen 
von Blugfand hindurch oder binein geweht, und bilden kleine Thull® oder unfruchtbare 
Streden, felbft mitten im Schooße der Fruchtbarkeit. — Weſt⸗ und Norbweft- Apfchwir 
find ganz flußlos, die wenigen Bäche, die der periodifche Regen entftehen läßt, ver⸗ 
fliegen bei der trodenen Jahreszeit gänzlich; den fünmeftlichen Theil durchſtroͤmt ber 
Luny oder Salzflug, dem mehrere Fleine Bäche zueilen und der feinen Abflug in das 
Runn bat. Dagegen ift Oft» Abichmir reich an Gemäffern, die entweder auf Dem 
Aravullis Gebirge ihre Quellen haben, oder von den Winbhya= Bergen herabfommen 
und dem Tfchumbal, einem Nebenflug des Djumna, zufließen, während den ſuͤdlichen 
Theil der fich in den Golf von Cambay ergießende Myhe nebft feinen Zuflüffen befpäls. 

Ohne bier auf Die weiteren geographifchen, fo wie auf bie nähern ethnogta⸗ 
phifchen, gefchichtlichen und politifchen DVerbältniffe einzugehen, indem ber Artikel 
Nadjput'ana, auf den biermit verwiefen wird, lediglich dies alles wiederholen müßte, 





mögen nur kurz die hervorragendſten Radjputen-Staaten erwähnt werben, bie man zı 
Landſchaft Adſchmir, in weiterem Sinne, rechnet. Die tributpflichtigen find: Banswar 
(69 D.-M. und 144,000 €.), Bifaner (842 D.-M. und 539,250 E.), Bun 
(109 Q.⸗M. und 229,100 €), Dungurbpur (48 QM. und 100,000 €), Djeip 
(726 Q.⸗M. und 1,891,000 E.), Ialawar (100 Q.⸗M. und 220,000 E.), Dijopp: 
(1700 Q.⸗M. und 1,783,600 €.), Kotab (207 Q.⸗M. und 433,900 E.), Odeypi 
(553 D.-M. und 1,161,400 €), Serobi (144 Q.⸗M. und 300,000 E.); die tribu 
freim find: Alwar (170 O.⸗M. und 280,000 €), Diefulmer (583 Q.⸗M. ui 
74,000 €.), Kerowly (90 DM. und 187,800 €) und Bertaubgur (70 Q.⸗M. un 
145,700 €.). 

Advent Heißt Ankunft d. i. Chriſti und bezeichnet die dem Weihnachtäfefte vo 
hergehende Eirchliche DVorbereitungszeit auf daſſelbe. Sichere Spuren von der Ei 
führung folcher Beier finden fich erft im Anfange des 6. Jahrhunderts. Das Eonı 
zu Serida (524) verorbnete, daß in der Adventszeit Feine Hochzeiten flattfinden dürfte 
die Synode von Tours (581), daß von den Mönchen täglich, die Synode zu Macı 
(581), daß von den Laien menigftend Montag, Mittwoch und Freitag vom Martini 
tage (11. Novbr.) an gefaftet werden follte. Um dieſe Zeit ließ man, den Ernſt d 
Seiler anzubeuten, in ber Mefie das Gloria in excelsis Deo meg und jeßte bafüı 
Benedicamus Domino; ebenfo mußte in derfelben das Orgelſpiel verftummen, d 
Bilder wurden verfchleiert, die Altäre und Wände der Kirche mit violetten Tücher 
bis zum legten Adventöfonntage, dann mit rofafarbenen befleivet und den Prieftei 
violette Gewaͤnder, die Farbe der Kirchentrauer, vorgefchrieben. Erft feit 1753 wuri 
das OÖrgelfpiel wieder allgemein in der römifchen Kirche geftatte. Die Dauer d 
Adventözeit ift verſchieden; die griechifche Kirche beginnt fie mit dem 14. Novbr., d 
römifche und die evangelifche bat nur vier Adventsſonntage, bie römifche aber noı 
einen fünften vor Weihnachten. Die griechifche und römifche Kirche feiern vor bei 
vierten Sonntage eine fehr volksthümliche (in erfterer durch bie tbeatralifche Ofer 
dandlung außgezeichnete) Sonnabendmefle zum Andenfen an die drei Männer im feurige 
Dfen. In der römifchen Kirche beginnen am 18. Decbr. die Moratemefien (ef. 45, 8 
zu Ehren der allerfeligften Jungfrau Mariaͤ früh Morgens gehalten. Am 18. Dech 
fällt Das Feſt der Erwartung der Entbindung Mariä. Die Adventözeit gehört ; 
einem der drei von der alten Kirche anerkannten Zeftchelen (den drei „Heart 
teten“). Die reformirte Kirche hat zwar fein eigentliches Kirchenjahr, hat aber i 
Deutſchland ziemlich früh ſchon in der Feier der Adventszeit an die Iutherifche ſich ar 
geichloffen. Beide haben nun zwar. Feine Firchlich gebotenen Faſttage, aber haben dod 
die Adventszeit richtig als ernfte Bußzelt anfehend, das von der alten Kirche ausg 
gangene Verbot der Luftbarkeiten, infonderheit der Hochzeiten, bis jet aufrecht erha 
ten, ebenfo die fchwarze Bekleidung des Altard und das Unterlaſſen der Kirchenmuſiker 
Die englifch = bifchöfliche Kirche hat die Faftendisciplin erhalten und läßt das Adven 
faften vom 13. Dechr. an beginnen. — Da der 1. Januar, der Anfang des römifche 
Kalenderjahres, für die Chriften kein rechter Iahresanfang fein konnte, da die Jude 
ihr Jahr mit dem Paſſah, die Heiden mit dem wiederfehrennen Frühlinge anfingen un 
bie Kirche mit biefen beiden nicht zufammenteeffen mochte, fo feßte man im 6. Jahr! 
(wahrfcheinlich zuerft in der gallifchen Kirche) den Anfang des Kirchenjahred auf be 
erften Adventsſonntag fe. Dieſe Zeitrechnung ift dann in allen chriftlichen Kirche 
eingeführt worden. 

-Adpofat (advocatus, Fürſprecher), ein ald Beifland in Nechtöangelegenheite 
Herbeigerufener, ift noch heute in vielen Rändern die Bezeichnung für die in Amt un 
Pfliht ſtehenden Vertreter der Parteien vor Gericht. Die franzöflfche Einrichtun 
trennt aber die Functionen des avocat von denen des avoud. Diefer ift der Man 
don Der Feder, jener vom Wort. Diefe engere Bebeutung bed Worte avocat bi 
bie ausführliche Behandlung des Gegenftandes bei dem umfaffenderen Wort „Anwalt 
jwedmäßig erfcheinen laſſen. S. deshalb Anwalt. 

Advocati ecelesiae oder Kirchenvögte. Im Mittelalter hatte nach der Gin 
richtung Karla d. Gr. der Kirchenvogt oder Kloftervogt eine Kirche oder ein Klofter i 
weltlichen Angelegenheiten bei den weltlichen Gerichten zu vertreten und zugleich inne 

28 * 


. 





halb eines Firchlichen Territoriums die bürgerliche Gerichtsbarkeit auszuüben. Faſt Dies 
felbe Aufgabe hatten fchon in früheren Zeiten die fog. defensores ecclesiae und zum 
Theil auch Die Oekonomen, nur mit dem Unterfchieve, daß diefe beiden in Der Regel 
Kleriker, jene Kirchenvögte oder advocati ecclesiae aber Laien waren. Karl der Große 
verordnete, daß in wichtigen Mechtöftreiten von EFirchlicher Seite an den Kaifer dad Er- 
fuhen um tüchtige Rechtsgelehrten geftellt werde, die dann den Proceß zu führen 
hätten; in der Hegel aber blieb Die Wahl des Kirchenvogts dem Bifchofe oder den 
Klöftern überlaffen. Derfelbe hatte fein beflimmtes Ginfommen, fo wie ein Drittel 
von den Strafgeldern oder Schuldforberungen. Bismweilen Fam es auch vor, daß bie 
Kaifer einem Klofter das Privilegium ertheilten, einen feiner Hofbeamten zum Kirchen- 
vogte zu wählen, oder daß fie deſſen Nechtöftreitigkeiten ausfchlieglich dem Hofgerichte 
zuwiefen. Wegen des ungeordneten und unflchern Nechtözuftandes ded Mittelalters ſah 
fih, die Kirche in der Lage, ihr Eigentbum und Hecht mit dem Schwerte gegen Die 
Eingriffe raub⸗ und babfüchtiger Nachbarn vertbeidigen zu müffen, und fo fam zu der 
obigen Aufgabe des Kirchenvogts eine weitere hinzu, nämlich die Vertheidigung der 
Kirchen und Klöfter gegen Anmafung und Gemalt. Zugleich hatte er im Namen 
feiner Kirche den Heerbann zu leiften und ihre Dienftleute (miinisteriales) im Kriege 
anzuführen: Daher denn auch die Unterſcheidung zwifchen .advocatus ecel. togatus 
(forensis, civilis) und advocatus eccl. armatus, die aber häufig eine und dieſelbe Per- 
fon waren. Der Kirchenvogt war demnach zugleich Schirmvogt, und da derſelbe im 
Deflge einer größern Macht fein mußte, war er faft immer ein weltlicher -Fürft oder 
der Kaifer ſelbſt. Durch dieſes Schußverhältntg erlangte denn auch der Kirchenvogt 
ein gewiffes Hoheitsrecht über die feinem Schuge anvertrauten Klöfter, weshalb z. 3. 
Bifchöfe oder auch weltliche Fürſten, wenn fle ein Klofter einem Abte fchenften, ſich 
und ihren Nachfolgern ausdrüdlich Die Ernennung des Kirchenvogtö vorbehielten. Dies 
ſes Schußverhältnip war oft auch ein mittelbares, indem 3. B. ein Klofter einem be- 
nachbarten Collegiatftifte fich anfchloß, und auf dieſe Weife in den Schuß des letztern 
trat, das felbft wieder unter einem Schirmberen fland. In ihrer Eigenfchaft als Ver⸗ 
treter der Kirche vor dem weltlichen Gerichte ftellten der Kaifer oder die Zürften, die 
als Schirnivögte irgend einer Kirche oder eines Kipfterd gewählt waren, oder fich als 
folche betrachteten, für die bürgerlihen Nechtsftreitigkeiten verfelben, und dann je nad 
Umfländen auch zum kriegeriſchen Schug, Stellvertreter auf, die man Untervögte (sub- 
advocati) nannte. Bisweilen geſchah es fogar, daß folche Untervögte wieder andere 
fubdelegirten, was jedoch von den KRaifern verboten wurde. Uebrigens war das In 
ftitut der Kirchenvögte für die Kirche gar oft dad Gegentheil von dem, was es fein 
jollte; die Schirmoögte wurden häufig für fie die härteflen Bedrücker, erlaubten fich 
die größten Erpreflungen und Unterfchleife. Schon das Concil von Mainz im Jahre 
813 (c. 50) machte e8 den Bifchöfen und Aebten zur Pflicht, ſolche Schirmvdgte zu 
wählen, welche einerfeit3 im Stande feien, die Kirche vor Gewalt zu ſchützen, und von 
denen andererfeitd Feine Gewalt gegen die Kirche zu befürchten fei. Da die Vogtei 
in der Regel durch Gewohnheit auf den jeweiligen Inhaber eined beftimmten Gutes 
oder Schloſſes überging, wurde dieſelbe nicht felten in den adeligen Familien als Lehen 
betrachtet und deshalb geradezu ald Leben weiter verkauft, jo daß fich die Klöfter 
diefer Laſt nur dadurch zu entledigen vermochten, daß fie das Lehen felbft Fäuflih an 
fih brachten, Im 12. Jahrhundert bedurfte es der firengften Genfuren von Seiten 
der Päpfte, fo wie der kraͤftigen Unterftügung der Kaifer, um die Eirchlichen Inftitute 
gegen die Gewaltthätigfeiten ihrer VBögte zu fehügen und fie von ihrem Drude zu 
efreien. ‘ 

Advocatus dei et diaboli. Bei dem Proceſſe, welcher dem Acte der Heilige 
ſprechung (Ganonifation) bei den Katholiken vorhergebt, und worin unterfucht wird, ob 
feit der Seligfprechung oder Bentiflcation des betreffenden Katholiken mindeftend zwei 
Wunder durch Mitwirkung des Seligen (oder durch feine Fürbitte bei Gott, wie bie 
fatholifche Kirche Died dogmatifch ausdrüdt) gefchehen feien, hat ein Promolor fidei 
von Amtöwegen Zweifel und Bedenfen gegen bie fraglichen Wunder zu erheben, wes⸗ 
halb er au advocatus diaboli genannt wird. Währenn nämlich Die Beatifica- 
tion die Verehrung und Anrufung eined verftorbenen Katholiken in einer beflimmten 





J 








UIUYHRURSE, ‘ e UEUTRELR TUE NIE WERT 23% 


Gegend und unter beftimmten Vorausſetzungen geftattet und benfelben dadurch zu einem 
Seligen erhebt, ift die Canonifation, weldye darum in der Regel auf die Beatification 
folgt, die feierliche Erklärung des Papſtes, daß ein verftorbener Katholif als ein 
mit Gott in der Herrlichkeit regierender Heiliger (Heilige) anzufehen und in der gan« 
zen Eatholifchen Kirche zu verehren fei. Nachdem der Proceß über die Wunder forge 
fältig geführt und die Einwendungen des advocatus diaboli befeitigt, damit die Wunder 
eonftatirt worden, erfolgt der päpftliche Befchluß, Daß gegen die fraglichen Wunder Fein 
Zweifel und gegen die Canonifation Fein Bedenken mehr obwalte, worüber der pro- 
motor fidei im DBerein mit dem Secretär der Gongregatio Rituum ein förmliched Decret 
aufnimmt. Alle dieſe Vorverhandlungen geſchehen üffentlih. Hierauf erſt erfolgt die 
eigentliche Kirchliche Banonifationgfeier. Gingeleitet oder vielmehr erwirkt wird das ganze 
Berfahren durch einen von dem Orden oder dem Staate, dem der Selige angehörte, 
aufgeftellten Procurator, welcher auch, weil er die vom fog. advocatus diaboli oder 
promotor fidei angeregten Bebenfen zu befeitigen hatte, advocatus dei genannt wird. 

Arodynamik ift der Theil der Mechanik, welcher von den Bewegungsgeſetzen 
luftförmiger Körper handelt, 3. B. über den Ausflug der comprimirten Luft oder 
Röhren Auskunft giebt. - 

Aeröe f. Arröe. 

Aeroftoten für Kriegszwecke. Faſt gleichzeitig mit Montgolfier's Erfindung 
überhaupt, begannen auch die Pläne und Vorfchläge für Anwendung des Luftballons 
im Kriege fomohl für Recognosciren, Signaliftren und Telegraphiren, als für das 
Herabfchleudern von Zerflörungsmitteln. Schon am 20. October 1783 enthält das 
„Journal de Paris” einen dafür agitirenden Auffa von Giraud de Vilette, welchen 
General Meurnier weiter ausführte und das Modell zu einem Auftfchiffe für 30 Mann 
mit Proviant auf 60 Tage baute. In Preußen fohrieb damals der Ingenieur-OÖffizier 
Hayne, dann Mauvillon und Monge darüber. Guyton de Morveau, Youreroy, Ber⸗ 
thollet, Carnot und Lavoiſter in der Theorie, Coutelle und Conte practifch und auf 
eigene audgedehnte Erfahrungen gegründet, fämmtlih aber nur für die Verwendung 
der Aeroftaten zum Recognosciren. In dem Nevolutiondkriege wurden unzweifelhafte 
Erfolge damit erreicht. Erſt 1796 fchlug ein gewifler Campenas dem General Bona- 
parte ein Luftfchiff für 200 Mann vor, aus welchem auf die feindlichen Flotten und 
auf die Stadt London unaudldfchliches Feuer berabgeworfen werden follte. Seitdem 
ift der Gedanfe, Zerftörungs = Apparate, namentlich in Feftungen, von oben herabzu⸗ 
Ichleudern, wiederholt aufgetaucht. Obgleich die franzöfifche Akademie den Vorfchlag 
von Campenas günftig beurtheilte, ließ Bonaparte ſich doch nicht darauf ein. 1812 
erbot ſich der deutſche Mechanicus Leppich in Moskau, einen Kuftballon für 50 Mann 
zu bauen, der lenkbar fein und zur Vernichtung Napoleon's beftimmt fein follte; Ge⸗ 
neral Roſtopſchin ging darauf ein, erließ auch bezügliche Proclamationen an die Ein- 
wohner Moskau's, gab 163,000 Rubel für den im Dorfe Woronzowo betriebenen 
Bau der Mafchine aus, Tieß aber den Projectenmacher gefangen nach Petersburg ab⸗ 
führen, als feine Verfuche mißlangen. 1832 wollte — wie die damals in London 
geführten Gerichtöverhandlungen aufflärten, — der vertriebene Herzog Carl von Braun 
jhmweig mit 4000 Mann in 15 Luftballons, jeder von 100 Buß Durchmefler, von 
Parts aus Preußen und Hannover überfliegen, auf dem Broden landen und von dort 
aus fein Herzogthum zurückerobern. Befanntlich- Fanı der vermunderlihe Plan nicht 
zur Ausführung. 1835 bot ein Oberft Jablonowski allen Regierungen ein von ihm 
erfundenes LuftsKriegsfhiff an, deflen Bewegung durch Einfaugen der Luft am Vorder- 
theile und Wtederausftoßen am Hintertheile des Schiffes von dem Willen des Asro⸗ 
nauten abhängen follte. 1848 Tießen die Infurgenten in Mailand Luftbälle fleigen, 
um aufrührerifche PBroclamationen in den von den Defterreichern befegten Landestheilen zu 
verbreiten. Zu artilleriftifchen Zwecken wurden endlich 1849 von den Deiterreichern Bom⸗ 
ben tragende Luftballons nad) den Vorfchlägen der Artillerie- Offiziere Gebrüder Uchatius 
gegen Venedig verwendet, weil Die Stadt auch mit dem fehwerften Gefchlige nicht zu er⸗ 

reihen war. Die damals im „Defterreichifchen Soldatenfreunde” und in der „Preußtfchen 
Wehrzeitung“ enthaltenen Berichte und Befprechungen geben das vollſtändige Material 
für die Beurtheilung diefer Teßteren Verſuche. Schwerlich ift die Reihe der Verfuche 








438 Adroſtatil. Acroſtiers. 


und Beſtrebungen damit geſchloſſen, namentlich dürfte die Bewerfung einer Feſtung 
vurch Luftballons, welche an Leitſeilen über dieſelbe dirigirt werden, durch Anwendung 
einer Zündung vermittelſt des galvaniſchen Drathes, fo wie als ſtetige Leuchtkugeln 
gegen Belagerungsarbeiten noch auf lange hin die Militaͤr⸗Techniker beſchaͤftigen. Bei 
jedem ſeit 1794 ausgebrochenen Kriege begegnet man erneuerten Verſuchen, das Pro⸗ 
blem zn loͤſen. Stellen ſich auch der Leitung eines Luftballons unüberſteiglich ſchei⸗ 
nende Hinderniſſe entgegen, welche in dem Mangel des Archimediſchen Punktes für 
Anbringung der Hebekraft begründet find, fo hat die Praxis der Nöroftiers (ſ. d. A.) doch 
für die Möglichkeit einer Anwendung zum Recognosciren, für Signalifiren und Tele 
graphiren entjchieden. Eben fo ift die Fixirung eines Ballond über einem Objecte an 
Haltejetlen möglich, und für die willkürliche Zündung bietet der galvanifche Drath 
die Mittel. Der Erfindung jede Zukunft abfprechen zu wollen, dazu fehlt nach den 
mannigfach gelungenen Verſuchen die Berechtigung, und es iſt nicht unmahrfcheinlich, 
daß die Fünftige Kriegführung auch mit diefem Bactor zu rechnen haben wird. 

Asroſtatik Heißt der Theil der Mechanik, welcher ſich mit den Gefegen des Gleid;- 
gewichts Iuftförmiger Flüſſigkeiten befhäftigt. Sie beftimmt 3.3. das Gewicht, womit 
eine Ventilklappe belaftet werden muß, damit fie erſt dann fich öffnen Tann, wenn bie 
durch jenes Ventil abgefperrte Luft eine gewiffe Spannung erreicht hat. 

Asroſtiers, Kuftichiffer, nannte die franzöſiſche Republik ein für die Füllung, 
Bedienung und Leitung von Luftballons zu militärifhen Zwecken 1794 gebilvetes, 
der Mrtillerie zugetbeilted Corps, welches indeifen nur bis 1804 befand. Die 
allgemeine Anfpannung der Geifter, welcher die nur noch durch Verbrechen Tebende 
Republik gegen die Invaflon der alfürten Heere zu außerordentlichen Anftrengungen 
veranlaßte, Ienfte die Aufmerkjankeit auch auf die. 1783 zuerft angewandten Aöroftaten 
und den gleichzeitigen Vorſchlag Giraud de Villette's, fle zu Recognoscirungen in Land⸗ 
und Seekriegen zu benugen. Den erften Verſuch machte Chanzet, der Commandant bed 
von den Alliirten eingefchloffenen Gonde, indem er durch einen Luftballon Depefchen in 
die Hände des General Dampierre bringen wollte. Gr mißglüdte und führte die wich | 
tigen Nachrichten in die Hände ded Prinzen von Coburg. Dagegen ift der Plan, den 
der Phyſiker Guyton de Morveau dem Wohlfahrts-Ausfchufie 1794 einreichte, als ber 
eigentliche Uxrfprung der Militär-Aeronautif zu betrachten. Im Garten der Beuillantd 
wurden die erften Verſuche gemacht und im Marfchallfanle der Tuilerien ber erfte 
Kriegd-Ballon von 27 Fuß Durchmefler genäht. Nur follte wegen des hohen Preiſes 
für Schwefel, deflen Einfuhr England binderte, Waflerftoffgas verwendet werben. Auf 
Guyton de Morveau's Empfehlung wurde der Phyſiker Coutelle mit ausgedehnteren 
Berfuchen beauftragt und dad Schloß Meudon mit feinem Garten dazu überwiefen. 
Eoutelle ging mit großem Eifer an’d Werk und brachte es in verhältnigmäßig kurzer 
Zeit dahin, bei Maubeuge für die Armee des Generald Jourdan in einem Aeroftaten 
auffteigen zu künnen. Schon nach den in Meubon wiederholt gelungenen Berfuchen 
und Erercitin war er zum Hauptmann im Generalftabe ernannt und mit Bildung 
einer Compagnie Aöroftierd von 30 Mann, welche in der Armeelifte als Artilleriften 
geführt werden follten, beauftragt worden. Anfangs mit Mißtrauen und Geringfchägung 
in der Armee betrachtet, erwarben fich die Nöroftierd bei einem Ausfalle, dem fte fi 
freiwillig anfchlofien, durch bewiefene Bravour Achtung und wurden bald als eine 
ElitensTruppe betrachtet. Sie wurden in Meudon mit der Füllung, dem Transport, 
den Manipulationen beim Auffleigen, Halten und Leiten des Neroftaten vertraut ges 
macht. Sie bebdienten die Ballond „l'Entreprenant“ und „Eelefte” bei der Maas» und 
SambresArmee, und eine fpäter unter dem Gapitain Delaunon gebildete 2. Com⸗ 
pagnie die Ballond „Hercule“ und „Intrepide" bei der Rhein⸗-Armee. Die Seele der 
verfchiedenen Unternehmungen blieb Indejlen Coutelle. Er recognoscirte fünfmal bei Mau⸗ 
beuge, am 19. Juni 1794 bei Charleroi; und namentlich in der Schlacht von Fleurus 
hinter dem Gentrum der franzöfifchen Stellung mit fehr günftigem Erfolge. Eben fo 
fpäter bei Mannheim, Coblenz und Mainz. Kanonen⸗ und Flintenfeuer erreichte den 
Ballon nicht. Wiederbolt fliegen die commandirenden Generale, Unterbefehlähaber und 
Generalftab8=- Offiziere mit in die Luft. Der Ballon wurde an zwei ober mehreren 
Seilen von den Aëroſtiers und Hülfsmannfchaften gehalten, einige Male au von 








*6B . 6 


Rferden; für raſches Rapportiren des Geſehenen, jo wie für dad Commando von oben 
zur Leitung ded Ballond waren Signale durch farbige Blaggen verabrebet. Die Steige- 
höhe wechſelte nach dem Terrain von 600 bis 2000 Fuß. Bonaparte nahm zwar 
Aöroftaten und Aeroflierd mit nach Aegppten, war aber fein Breund ber zeitraubenden 
BB orbereitungen, welche die Recognoscirungen mit dem Ballon erforderten. Das Schiff, 
welches jle trug, wurde von den Englindern gefapert; fo Famen fle weder in Aegyp⸗ 
ten noch in Syrien zu militärifcher Verwendung. Die Schule in Meudon, unter dem 
auch noch zum Brigade- General avancirenden Conté, beftand bis 1804. Coutelle 
brachte es bis zum Öberfien. Die zweite Aöroftier-Compagnie wurde bei Branffurt 
von Den Oeflerreichern kriegsgefangen gemacht, dann aber wieder neu errichtet. Als 
bei der Kailerfrönnng Napoleon's ein illuminirter Niefen-Ballon von Paris aus bie 
Nom flog, dort an dem Monument des Kaiferd Nero hängen blieb, dann aber im Sce 
Bracciano verfant und nun giftiger Spott ſich an diefe Yimftände heftete, bob Napoleon 
das ganze Inftitut auf und ließ die Aöroftierd wieder zur Artillerie zurücktreten. Sie 
baben während Ihres Beſtehens erwiefen gute Dienfte geleiftet, Die Sache felbft aber 
nicht über die ihr entgegenftehenden Schwierigkeiten binwegheben können. Als 1830 
auch nach Algier ein Aöroftat mitgenommen wurde, fand man nicht für nöthig, eine 
befondere Truppe dafür zu bilden. (Vergleiche: Zeitfchrift für Kunft, Wiffenfchaft und 
Geſchichte des Kriegd von DBlefion. 5. und 6. Heft 1857.) : 

Arfiliirte, an Kindes Statt Angenonmene, DBerbrüderte. In der Freimaurerei 
beißen U. bereit? von einer Loge aufgenommene Brüder, die von einer andern Loge 
zu Mitgliedern angenommen werben, jo beißt auch eine affiliirte Loge eine folche, die 
in einen gewiſſen Logenbund aufgenommen wird, obgleich fie bereitd Tochterloge einer 
andern Logenverbindung if. — Diefer Ausdruck wird auch uneigentlicher Weife auf 
das Möndyd- und Nonnenordens⸗Weſen in der Eatholifchen Kirche übertragen, um bier 
das DVerhältnig zu bezeichnen, in welchem Solche, die, ohne eigentliche Mitglieder zu 
fein, doch gewiſſe in einem Orden eingeführte Pflichten und Negeln beobachten, zu 
diefem Orden ſtehen. Die Bezeichnung ift aber, wie gejagt, nicht zutreffend. In ges 
wiffem Sinne ließe fi) nur von dem Franziskauer⸗Orden fagen, daß er Afftliirte Fennt 
und bat, nämli in den ſ. g. Tertiariern. Diefe nämlid, auch Mitglieder des 
dritten Ordens des 5. Franziscus genannt, find Perſonen beiderlei Geſchlechts, Die 
zwar in der Welt bleiben, aber fich durch ein befonderes Gelübde verpflichten, einfach 
und tugendhaft zu leben; auch halten fie beftimmte Gebete, hören täglich die Mefle, 

tragen ein Abzeichen und den Sranziötanerftrid, jedoch unter der bürgerlichen Kleidung. 
Die f. g. Laienbrüber und ⸗Schweſtern in ben verfchiedenen Orden find nicht als Affi- 
liiete oder Aggregirte zu betrachten, und im Jefuiten» Orden, der Feine Laienbrüder 
kennt, giebt es flatt deren ſ. g. weltlihe Goabjutoren zum untergeordneten Dienft in 
den Häufern x. Geheime Sefuiten aber, „Jesuites A courte robe*, die dem Orden 
affliirt find und feinen Zwecken dienen, ohne oftenfible Dazu zu gehören, kennt bie 
äußere Verfaſſung dieſes Ordens wenigftend nicht. — Auch Die CGonversi in 
den Klöftern, welche nicht die vollen Gelübde und Pflichten eines Mönche über- 
nahmen, doch aber Gehorfam und Keufchheit gelobten und ſich verpflichteten, ſich 
eigenmächtig nicht aus dem Klofter zu entfernen, auch eigene Kleidung und Tonſur 
trugen, find nicht hieber zu rechnen. Diefen Conversi lagen in der Regel die Ge 
fhäfte außerhalb des Klofterd und des Klofterzwingerd ob. Die Laienbrüber ftchen 
den Mönchen näher ald die Conversi, welche mehr zum Bereiche der für das Klofter 
befegäftigten Handwerker ac. gehörten. Einige Genofienfchaften hatten eine Zeit lang 
Familiares, die nicht Mönde und nicht Kaienbrüder waren, und die man eher 
ald dein Orden oder dem Klofter affiliirt bezeichnen Eönnte; deren Aufnahme warb ind- 
befondere den Gluniacenfern unterfagt. 

Affinität — Verfhwägerung — ift der Anfag, welchen die Familie (d. h. Die 
Blutsverwandtſchaft) eines Ehegatten durch ihre Beziehungen zu dem anderen Ehegatten 
erhält. Die Affinität in der geraden Linie ſcheidet fich in Schwiegerelternfchaft und 
Stiefverwandtfchaft, je nachdem es ſich um Afcendenten oder Defcendenten handelt, die 
Affinität in Der Seitenlinie, d. h. dad Verhaͤltniß des einen Gatten zu den Collateralen 
bed anderen if bie eigentliche Schwägerfchaft. Eben fo unrichtig wie die Aufftellung 





von Graben der Schwägerfchaft, ift die im gemeinen Leben bäuflg vorkommende Ueber⸗ 
tragung des Begriffs auf das Verhältniß der Verwandten des einen Ehegatten zu ben 
Berwandten des anderen. Das Geſetz knüpft beftimmte Folgen an das Affinitätsver⸗ 
bältniß zweier Berfonen. Namentlich bat das kanoniſche Eherecht Hinſichts der Ehe 
verbote die Affinität der Cognation faft gleichgeftellt. Freilich bleibt der gewichtigfle 
Unterfchied das Erlöfchen der Affinität durch Auflöfung der Ehe. Das englifche Geſet 
hegt indeß eine andere Anjchauung, welche ed auf eine Beflimmung des jüdifchen Ges 
feßes fügt, und verbietet auch Die Ehe mit der Schwefter der verftorbenen Frau. (©. 
Dagegen 3 Mof. 18, 18.) 

Affre, Denis Auguft, Erzbifchof von Paris. Geboren den 12. September 1793 
zu St. Rome de Tare (Dep. Rodez) war U. Canonikus an der Metropolitanfirche 
Notre Dame in Paris, dann Generalvicar daſelbſt, 1840 Biſchof von Pompejopolis 
in part. inf. und Coadjutor von Straßburg; in bdemfelben Jahre noch wurde er zum 
Erzbifhof von Paris erwählt, am 13. Juli präconifirt und am 6. Auguſt intbroniflrt. 
Obgleich, im MWiderfpruche mit feinem Vorgänger Quelen allen legitimiftifchen Be⸗ 

ftrebungen fremd, fehlte e8 doch nicht an vielfachen Gonflitten zwijchen ihm und Louis 
Philipp. Der Erzbifchof wahrte nämlich mit Entfchiedenheit die Freiheit der Kirche in 
dem Sinne, daß er Feine Eingriffe der Staatögewalt in rein Firchlide Angelegenheiten 
dulden wollte, obgleich ihm wiederholt die Auswirkung des Cardinalshutes ald Rohe 
der Fügſamkeit in Ausficht geftellt wurde. Die meiften und heftigiten Streitigkeiten 
mit dem Könige hatte er wegen des Kapiteld zu St. Denis zu beftehen, welches Louis 
Philipp der Gerichtsbarkeit ded Sprengel von Paris entzog, um es unmittelbar ber 
päpftlichen zu unterftellen. Die Julivynaftie hoffte nämlich durch dieſes Kapitel einen 
großen Einfluß auf den höhern Glerus des Landes ausüben zu Fünnen und wünfchte 
daher, an die Spige defjelben einen Cardinal zu ftellen, der zugleich dad Amt eines 
Großalmofeniers befleiden follte. A., der Diefe Abſicht durchichaute, hatte zur Aus⸗ 
gleichung der Angelegenheit verjchiedene Conferenzen mit dem Könige, die aber zu Feiner 
Verſtändigung führten. Die Freiheit des Unterrichts bildete einen zweiten Differenz- 
punft. Bei den Namendfefte des Königs im Jahre 1846 fpielte der Erzbiſchof auf 
diefen Streit in feiner öffentlih an den König gerichteten Rede an, in Folge deſſen 
diefelbe nicht zum Abdruck im „Moniteur” gelangen durfte. Kurz vor der gleichen 
Beierlichkeit im folgenden Jahre begab fi nun der Prälat zur Königin, um ihr zu 
erklären, er werde nicht unterlaffen, dem Könige feine Glückwünſche darzubringen, jedoch 
werde er Feine Anrede halten. Auf die Bitte der Königin, er möge zum Könige gehen, . 
der ihm Genugthuung geben werde, hatte der Erzbifchof mit diefem eine Unterrebung, 
welche jedoch nur dazu diente, die Kluft zwifchen beiden zu erweitern. Der König 
äußerte u: U: „Denken Sie daran, Daß man mehr ald eine Mitra gebrochen hat”, 
worauf der Prälat raſch, doch mit unerfchütterlicher Nuhe erwiderte: „Das ift wahr, 
aber möge Gott die Krone des Königs in feinem Schuß nehmen, denn man hat audy 
fon viele Kronen zertrümmert.“ Die Ungnade, in welche U. nad) diefer Untersedung 
fiel, dauerte beim Ausbruch der Kebruar-Revolution noch fort. Doch wohl nicht wegen 
feiner Zerwürfniffe mit Louis Philipp, fondern eher, weil ihm die Mevolution von 1848 
als eine der Freiheit der Firchlichen Bewegung günftige Wendung erjchien, ſchloß fich 
A. fofort dem neuen Zuftand der Dinge an und gebot feinem Klerus, an die Stelle 
des „Domine salvum ſac regem“ dad „Domine salvum fac populum“ zu fegen. Daß 
der Erzbifchof von der Revolution oder von den Demagogen größere Zugeftändniffe 
für Die katholiſche Kirche erwartete, ald dad Königthum gewährt hatte, war, wie 
die Folge gezeigt hat, ein Irrtum, aber immerhin war fein priefterliches Benehmen 
während der Schredendtage des Straßenfampfes in Paris ein über alles Lob erhabe- 
ned. Am 23. Juni 1848 hatte fich der Erzbifchof früh in das Quartier St. Etienne 
du Mont zur Firmung der Kinder begeben, wurde jedoch durch die auögebrochene Ar⸗ 
beiterempdrung verhindert, in feine Wohnung zurüczufehren. Erft am folgenden Abende 
elang ihm dies, und er befchloß, in voller Erfenntmiß der Gefahren, welche er dadurch 
uf fich heranziehe, die kaͤmpfenden Infurgenten zum Nieberlegen der Waffen zu beveden. 
Mein Leben,” ſagte er, „ift fehr wenig.“ Unruhe verurfachte ihm nur die Furcht, 
sicht bis zu Den Barrifaden vordringen zu können und, um freien Weg zu biefen zu 











1784 518 zum Marchechalsde-Gamp, d. i. General⸗Major, Yorgerädt, in welcher Eigen- 
fehaft er, nachdem Ludwig XVI. gezwungen worden war, dem beutfchen Reiche am 
20. April 1792 den Krieg zu erklären, ein Commando am Oberrhein führte, was 
aber nur bis zum 20. Auguft deflelbigen Jahres dauerte, an welhem Tage bie 
Schweizertruppen in Ihre Heimath entlafien wurden. Nah Freiburg zurüdgefehrt, 
wurde er Mitglied der dortigen Rathöverfammlung, und 1798, ald die Schweiz einen 
Einfall der Franzoſen vor Augen ſah, zum Oberbefehlöhaber der bewaffneten Madıt 
der Eidgenoffen ernannt. Die Ummälzungen, von denen die. Schweiz der Schauplag 
wurde, ſeitdem der Ehrgeiz einiger ihrer Bewohner und die Habſucht der Gewalthaber 
Frankreichs die Fackel der Zwietracht in diefe fo frienfamen und glüdlichen Alpenthäler 
geworfen, regten alle uneblen Leidenfchaften auf und erwecken alle Intereffen; große 
Gharaftere find dadurch aber nicht entwidelt worden. Andererſeits tft es freilich wahr, 
daß, wenn die Urheber diefer Begebenheiten ihre Umwälzung nicht über die Stufe eines 
gewöhnlichen. Intrigue zu erheben gewußt haben, ſie mindeftens fich nicht mit jenen 
Verbrechen befubelt haben, deretwegen die Gefchichte der franzöfijchen Nevolution fo 
widerlich und efelhaft geworden ift. Einzelheiten über jene Aufeinanderfolge ephemere 
Regierungen, welche fich in der Schweiz im Verlauf von vier Jahren gegenfeitig ver⸗ 
drängt haben, koͤnnen neben den gewaltigen Kataftropben, die zur jelbigen Zeit bie 
Geſtalt Europa’3 veränderten, jett, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts, kaum unfere 
Theilnahme in Anfpruch nehmen. Als die Franzoſen Sreiburg befegt hatten, nahm 
Louis d'Affry eine Stelle in der provijorifchen Regierung an, betheiligte ſich aber nicht 
an dem Aufftande, der, von den Heinen Cantonen angeregt, zum Ausbruch fam, als 
die franzöflfchen Kriegsvolker fich im Juli 1802 zum Abzug anfchidten. Buonaparte, 
erfter Gonful der franzöftfchen Republik, warf fich zum Vermittler der Schweizer Wirren 
auf und erließ am 30. September 1802 von St. Louis aus eine Proclamation an 
die „Bewohner Helvetiens“, worin er in den hochtrabendſten Medeweifen, die dem Ges 
walthaber ſchon damals eigen waren, feine guten Dienfte anbot und ſie aufforberte, 
Bevollmächtigte an ihn abzufenden, mit denen er ihre Angelegenheiten zu ordnen bereit 
ſei. „Schweizer, rief er aus, faßt Hoffnung! Euer Baterland flieht am Rande des 
Abgrundes, unwiderbringlich flürzt Ihr hinab, wenn Ihr nicht auf meine Worte hört, 
and wollt Ihr nicht hören, wellt Ihr entartete Söhne Eurer Väter fein, nun fo fend’ 








Und fo fam es; am 23. October 1802, dem legten Termin, den Buonaparte 
den Eidgenoſſen zur Erklärung geftellt hatte, rudten die Soldaten ber glorreichen Re⸗ 
publik unter Ney's Anführung in Bajel ein, und rüdten von da über Solothurn auf 
Bern los. Kaum war die Nachricht davon nach Schwyz gelangt, ald vie dort verſam⸗ 
melte Tagfagung fich auflöfte, nachdem fie Angefichtd der Welt einen feierlichen Ein- 
ſpruch gegen die Gewalt verkündet, der allein fie nur nachgebe, und der Nation Das 
Hecht wehrte, fich felbſt ein Grundgefeh zu geben. Die Unitarier ſchickten nun fofort 
ihre Abgeorbneten an den Großmächtigen in Paris, die ariflofratifchen Stäbte und bie 
demokratiſchen Bantone Eonnten fich zu einem, für ein freies, unabhängiges Volk fo 
Demüthigenden Schritt nur ſchwer entfchließen. Unter den Abgeorbneten war Lonid 
d'Affry, der dann auch zu der Yünfer- Commifiton gehörte, mit der Buonaparte in ' 
Berfon verhandelt. Am 19. Februar 1803 erließ dieſer jeine |. g. Vermittlungs⸗ 
Acte, welche der Schweiz eine neue Geflaltung gab. Buonaparte ernannte zugleich Den 
Eanton Freiburg zum Vorort für dad Jahr 1803, und den Abgeordneten dieſes Can⸗ 
tond, Louis d'Affry, zum Landamman der Schweiz für denfelben Zeitraum und beklei—⸗ 
dete ihm mit anferorventlicher Macht, die beim Zuſammentritt der Tagfakung ihr Ende 
haben folle. Freiburg fcheint Diefe Auszeichnung dadurch ermorben zu haben, weil 
es der einzige der ariftofratifchen Gantone gewefen war, ber feinen Abgeordneten zus 
Zagfagung in Schwyz geſchickt Hatte. Graf Louis d'Affry aber, der vormalige General 
in Frankreichs Dienften hatte dem Buonaparte Achtung eingeflößt durch die Maͤßigung 
feiner Grundſätze. Er war das Haupt einer dritten Partei, die fich zwifchen den Uni⸗ 
tariern und den Föderaliſten gebildet hatte, und die von dem Principe ausging, Daß 
ber Schweiz weder eine Einheits » Negierung gut thue, noch "die unbebingte Umkehr 
zum alten Regiment ihre Wohlfahrt fördern koͤnne. Louis D’Affen, der erſte Lands 











Da: dr Aue ee 


amman der Schweiz nach der neuen Verfaffung, fland an ver Spike der Commiſſton 
der Eldgenofien, melche zu Freiburg am 27. September 1803 einen Allianz » Vertrag 
mit der franzöfifchen Republik, vertreten durch den General Ney, abſchloß. Diefi 
Allianz war von defenfiver Art. Mit dem Bertrag ſtand eine Militär« Kapitulation in 
Berbindung, vermöge deren Frankreich das Hecht erwarb, 16,000 Mann frei gewor: 
dener Schweizer in Dienft zu nehmen, die in A Negimenter vertheilt und von einem 
franzöſiſchen General angeführt werden follten. Die Dauer der Gapitulation wurde 
auf 25 Jahre verabredet. Die Reflauration bat diefen Vertrag übernommen. Louis 
d'Affry farb als hochgeachteter Eidgenoß, der durch wahrhaft flaatSmännifche Einfich- 
-ten feinem Baterlande in den fihwierigften Zeitläufen große Dienfte geleiftet, am 
16. Juni 1810. 

Afghaniftan, das Land der Afghanen, in Aflen, grenzt im N. an das Gebirge 
Hindukuſch und Paroyanıifus, öftlich an den Indus bis 32920’ n. B., von da an dad 
dem Indus parallel Taufende Salomonggebirge, ſüdlich an Balutjchiftan, weſtlich an die 
große Wüfle. Es ift gebirgig, doch mit weiten Bergebenen verfehen und fchließt nad 
allen Seiten, außer nah NO., fehr fchroff ab. Drei große Gebirgsfetten mit Ihren 
Augläufern durchziehen dad Land: der Hindukuſch (eine Spike bis 20,493’ Hoch), 
welcher drei Bergreihen rechhuinklig nad) Süben fendet und mehrere Thäler bildet; der 
Paropamifus, von DO. nad W. 350, von N. nah S. 200 engl. Meilen lang, weniger 
hoch, doch Kalt und raub; das Salomondgebirge, welchem Im DO. zwei niedrige Gebirgs— 
ketten parallel laufen (die wieder durch drei andere nach Oſten ausfchießende nebartig 
durchfchnitten werden) und welches außerdem vier Hauptfetten nach Wellen bin entfendet. 
Der Hauptfirom ift der Indus, melcher von da, wo er den Hindufufch durchbricht, bis 
320 20° die öftliche Grenze bildet. Auf dem Paropamifus entfpringen der Hilmend, 
welcher nach einem Laufe von 360 engl. Meilen in den See von Siftan, der Kafchrud, 
welcher nach 150 Meilen in den Hilmend, der Farraud, welcher auch in den See von 
Siftan fließt, und der Herat, deſſen Ende nicht befannt if. Das Land zerfällt in 
Berge und Thäler, welche meift nady den fie bewohnenden Stimmen benannt find. 
Die Höhen find kalt und 3— 4 Monate mit Schnee bevedt, Die Ebenen warm, dei 
Süden heiß. Die Thäler find waflerreich und tragen zwei Ernten. Die Bergebenen 
und WVüften dienen bloß zur Weide. Das Klima ift troden und gefund. Die Product 
find die des mittleren und füblichen Europa, dazu Zuderrohr und Baumwolle; im Randı 
finden fich Tiger, Leoparden, Wölfe, Bären, Hyaͤnen, Antilopen. Die Zahl der Einwohne 
wird auf 14 Millionen gefhäht, von Denen 4,300,000 Afgbanen, 1,500,000 Tadſchiks 
5,700,000 Hindus, 1,200,000 Tataren und 1,000,000 Ballutfchen find. Die Tadſchiksé 
leben in den Ebenen, treiben Gewerbe oder beforgen ald Pächter, Knechte und Tage: 
löhner der Afghanen den Landbau; fie find friebfertig und gehorſam, zahlen ihre Ab: 
gaben und ftellen ihre Truppen willig, fle fprechen perfifch und gelten für die untermorfe: 
nen Nachkommen der alten Perfer. Die Hindus, über ganz Afghaniftan befonderd in 
den Städten zerflreut, reden indifch und find meift Kaufleute, Wechsler, Makler, Mechen: 
meifter, Goldſchmiede. Die Tataren find Hefte der früheren Eroberer. Die Ballutichen 
bewohnen den Süden. Städte find nicht zahlreich: Kabul iſt die Nefldenz, Furra, 
Kandabar, Dfeyellalabad, Peichawer, Badſchaur, Kallabaah, Sima u. A.; Ball, Herat, 
Schikarpur, Kaſchmir find Grenzftädte unter eigenen Herren. — Das wrfprünglich 
Heimathland der Afghanen erſtreckt fih im W. bis zum Hilmend unfern Herat, im N. 
bis nach Kaſchgar, im S. bis Ballutfchiftan und im DO. bis Kafchmir, war aber durch 
Sroberungen bald weiter ausgedehnt, bald durch Niederlagen enger. Ste haben ein 
eigenthüntliche Sage über ihren Urfprung. König Saul fol David feine Krone ab: 
getreten haben, zur Sühnung feiner Schuld, auf das Gehe des Schattend Samuels, 
mit feinen zehn Söhnen gegen die Ungläubigen gezogen, umgefommen fein, aber von 
zwei Frauen zwei nachgeborene Söhne Aſif und Afghan hinterlaffen haben. Jener 
wurde Salomon's Orofvezier, diefer Oberfter des Heeres. Als Nebuladnezar nachher 
die Kinder Iſraels gefangen fortgeführt, wurden fle, namentlich wie Nachkommen Afif'e 
und Afghan’s, in dieſen mittelaflatifchen Ländern angeſiedelt, mehrten fi wie Sant 
am Meere und Fämpften ohne lnterlaß gegen die Ungläubigen. Ein Theil des Volke 
fuchte in Arabien Wohnfige und verehrte den von Abraham erbauten Tempel, wo nach 





SE LEE = zur 2 


der Verheißung der letzte der Propheten geboren werben follte. Nah 1500 Jahren, 
fo fährt die Sage fort, erglänzte Die Sonne Mohammeds. Der Yfraelit Ehaled, aus 
dem Stamme der Afghanen, befehrte ſich und nachher feine Brüder zu ihm. Kaid, ein 
anderer Edler, befehrte auch viele jeiner Genoffen und zeugte drei Söhne, deren Nach⸗ 
fommen zu 395 Stämmen heranwuchſen und fich Afghan und Tufchtaneh nannten. 
So weit die Sage. Allein es ift unzweifelhaft, daß der Buddhismus, jene rationa- 
Iftifche Verdünnung des Brahmaismus, einft in dem weftlichen und mittleren Aften, 
namentlich aber in Afghaniftan, geherrjcht bat: eine Menge verflümmelter Denkmäler 
und Grabhügel bemeifen dad. Es fcheint auch, daß gerade bier ein großer Theil der 
Kämpfe zwifchen Buddhaiſten und Brahmanen ausgefochten if. Die Stämme nun 
der medoperfifchen Völkerfantilie, welche den Namen Afghanen führen, bewahrten inner: 
halb ihres Gebirgslandes die väterlichen Nechte, Sitten und Gebräuche, fo daß bie 
Pufchtu etwa ebenfo gebildet find und regiert wurden, wie e8 zur Zeit der erften 
Kämpfe mit. den Römern unfere eigenen VBäter waren, wie ed noch heute die Tſcher⸗ 
feffen und die Araber find. Jeder Stamm zerfällt in eine Anzahl Chail oder Clane, 
bieje in Saugenofjenfchaften, diefe in Gemeinden und Diefe wieder in Zehnten. Die 
Marfgenofienfchaft, welche ihren Urfprung bis zum Urahn des ganzen Stammes nad) 
weiſen Fann, wird hoch geehrt und für heilig gehalten; aus ihr wurden bie Her⸗ 
zoge der Landwehr im Kriege, aus ihr die lebenslänglichen Fürften der Stämme 
erwählt. Mehrere Stämme regieren ſich indeß noch ohne Oberhaupt felbft, bera- 
then und befchließen auf Landtagen, ein Ausſchuß forgt für die Vollziehung der Be 
fchlüffe. In Gefahren wählen fie einen Dſchehelmendſchi mit unbefchränfter Gewalt, in 
gewöhnlichen Zeiten einen Freien von dälteflaveliger Herkunft als Häuptling. Den 
Marken, Dörfern und Zehnten ftehen Grafen (Mali), Rathsherrn (Mufchir) und 
Aeltermänner oder Weißbärte (Spihn⸗Seras), Iebenslänglich ermwählt, vor. Die Vor: 
fteber der Glane werden durch Stimmenmehrheit gewählt und bedürfen Feiner Beftäti- 
gung; die Khane der Stämme merden vom Könige eingefegt. Abgaben zahlen nidt 
alle Stämme, viele nur Gefchenfe; aber zum Heerbanne gehört jeder Waffenfähige. 
Der Koran ift religiöfes und bürgerliche Geſetzbuch; daneben gilt ein altes Gewohn⸗ 
beitörecht, welches namentlich Beftimmungen über das Wehrgeld enthält. Urtheile fällt 
bei Streitigkeiten das Schöppengericht ber Volksverſammlung, unbedeutende Friedens⸗ 
flörungen werden von den Landgemeinden felbit gefchlichfet. Gelingt e8 nicht, Frieden 
zu fliften, fo beginnt die rechtmäßige Wehde. Jeder Bollbürger darf das Schöppen⸗ 
gericht zufammenrufen; doch gilt e8 im Durchfchnitt"für ſchwach und ebrenrührig, die 
zu thun. Noch vor wenigen Jahrhunderten waren alle Afgbanen Nomaden, und noch 
jegt zieht der 30,000 Familien ſtarke Stamm der Naſſtr ohne eigene Weidepläge durch 
bie Gebiete der anderen Stämme und wiberflrebt dem bürgerlichen Leben. Laͤßt ſich 
ein Stamm irgendwo nieder, fo wird der Grund und Boden ald Gefammteigenthum 
bed Stammes unter alle Familien gleichmäßig vertheilt und von Zeit zu Zelt eine 
neue Theilung vorgenommen. Dad Land wird theild von den Herren felbft beftelt, 
theil8 von den Fakir oder Bauern, unterdrücdten früheren Bewohnern, welche unter 
harter Zucht ſtehen. Am bärteften verfährt in diefer Beziehung der Stamm der Juſoffi. 
— Im 16. Jahrhundert trat Bafefid, während des legten Jahrzehends der afgba- 
nifchen Herrſchaft in Hindoftan, zu Tfchalinder im Fünfflußgeblet geboren, als Stifter 
einer neuen, die äußeren Geremonien verachtenden, ratienaliftifchen Religionsſecte in 
ver Abfiht auf, Durch feine Kehren das Durch Fehden zerriffene Afghanenvolf zu 
einer einigen Nation zufammenzubringen. Er fchrieb feine Lehren nieder und ver 
breitete fie fo in vier Sprachen, Arabifch, Perſiſch, Hindi und Puſchtu. Er warb fo 
der Lehrer und der erfte Schriftfteller der Afghanen. Seine Lehre ift pantheiftifche 
Naturvergoͤtterung. Acht Weihen follen dem Menfchen nöthig fein, daß er zum voll 
fommenen Leben erwache; wären dieſe überfchritten, dann fei ihm gegen die anderen 
Alles ‚erlaubt, Plündern, Rauben, Worven; nur dem Grleuchteten, dem Ruſchammer, 
gebühre die Herrfchaft der Welt. Eine folche die Genußfucht und das Raͤuberhand⸗ 
werk predigende Lehre geftel, und bald Hatte Bajeſid das ganze Volk unter feinen 
Willen gebracht. Uber als er feine Herrſchaft auch über Indien ausbehnen wollte 
und, in feinen Bergfchluchten bisher unüberwindlich, eine offene Felbfchlacht in der 














Ebene wagte, ward er belegt und ftarb bald vor Scham und Verzweiflung. Abe 
feine Lehre war doc fchon fo feit gewurzelt, daß zwei feiner Söhne nach einander da 
Volk beberrfchen und es zu vielen Schlachten führen fonnten. Endlich aber erlage 
die Mufcheiner den vereinten Angriffen der mongolifchen und inbifchen Truppen; de 
legte Sproß von Bajaſid's Familie flarb in der Mitte des 17. Jahrhunderts ir 
Dekkan. Die Secte felbft aber eriftirt noch heute und hält zu Pefchawer ihre‘ gebei 
men BZufammenfünfte. — Der Padiſchah von Delhi, Orangſib, wollte die räuberifche 
und in den geheimen Schlupfwinfeln ihrer Alpenlandfchaften vor jedem Angriffe ge 
fiherten Afghanen und Balutfchen zu gehorfamen Unterthanen umbilden. Dagege 
fuchte Chaſch⸗Chal, d. i. Fürft Chal, Häuptling des über 20,000 Familien zählende 
Clans der Chattaf, deren Gebiet vom Indus 18 deutfche Meilen nach Welten und | 
yon Nord nah Süd fich erſtreckte, alle afghanifchen Stämme zum Widerſtande zu ver 
einigen (1675). Eine Weile berrichte Einheit; dann aber wurben ſie eined regel 
mäßigen Krieged überdrüſſig, zerftreuten fich, Liegen ſich durch Die heuchlerifche Freund 
lichkeit des Padiſchah ficher machen, liegen ihre Häuptlinge zu einem Feſtmahle nac 
Peſchawer ziehen und mußten erleben, daß diefe alle nach dem Mahle wehrlos nie 
dergemacht wurden. Nur Chaſch⸗Chal Fam mit dem Leben davon, brachte cd abe 
einfgm in der Feſte Gwalior zu und fuhr fort, Lieder zu dichten in Ton un 
Weife der Offlan’fchen. Eine Zeit lang gehorchten die Afghanen den Siegern. Al 
aber in deren Lande durch die Schwäche und Ueppigfeit der Könige Unorbnun 
und Empörung einriß, da erhob ſich Ahmed aus dem Stamme der Abballi und er 
Härte (1747), er wolle fich die Krone Afghaniſtans auf dad Haupt fegen. Alle ande 
ven Stämme jauchzten ihm Beifall zu und fandten ihre Abgeorbneten zur Hulbigung 
Er legte nad alter Sitte feinem Haufe einen Titel bei, nämlich Dor Doran, Berl 
der Zeit, und danach hieß fortan Stamm und Neich Dorani oder Durani. Er ſucht 
feinen Ihron zu befefligen, ſteckte felten das Schwert in die Scheide, belehnte di 
vornehmen Familien mit Erbftellen des Hofes und des Reiches, förderte die Kriege 
funft, fhonte die Stammverfaffungen und erregte ded Volkes Begierde nach den Reid 
thümern der fchwachen und durch innerlihe Kämpfe zerrifienen Hindu und der m 
Ihronftreitigkeiten befchäftigten Berjer: er warb gleichſam der Chlodwig feines Volke 
Seine unermübliche Thätigfeit, fein perfönlicher Muth, feine Eluge Beharrlichkeit un 
fein Eifer für den Islam ließen es ihm gelingen. Er regierte mit Milde und Weid 
beit bis 1773. Sein Nachfolger aber, Schah Timur, in perfifcher Umgebung erzoger 
bei den Durant nicht beliebt, üppig und fchwelgerifch, verbrieplich über das felbititän 
dige Wefen der Durani, fuchte eine ähnliche fehrankenlofe Macht zu erwerben, wie Di 
Bürften Perfiend und Hindoſtans. Er hielt ed deshalb mit den Perſern im Afghanen 
lande, falfchen, babfüchtigen und graufamen Menfchen; holte Armenier ind Land un 
erfor aus diefen feine Leibwache. Bon Kandahar verlegte er feine Reſidenz nac 
Kabal. Allein die Durani fahen mit Ingrimm auf diefe Fremden und Keger, weld; 
um hoben Sold die Freiheit des Volkes verrietfen. Da aber Timur aud) das Her 
vernachläfitgte, in der Meinung, deflelben nicht zu bebürfen, regten fich unter jeine 
Statthaltern Belüfte des Abfall und unter den Nachbaren Abſichten der Eroberung 
Zwar erreichten die Aufftändifchen ihr Ziel nicht; aber fle wurden auch nicht voll 
Rändig zu Boden gejchlagen. Nicht fo glüllih war Timur gegen die Sid: « 
fonnte nicht hindern, daß fih am unteren Laufe des Indus eine Balutfchendynafti 
erhob, welche nur zumwellen an die Durani Tribut zahlte Nachdem Timur noch man 
ches Stüd feines Gebiet3 an feine Nachbarn verloren hatte, ftarb er (1793). Nu 
gewann der Stamm der Barakſi, im Süden von Kandahar wohnend, entſcheidende 
Hebergewicht über das afghanifche, durch feinen legten König ziemlich zerrüttete, Staatt 
weſen. Siman-Schah ward König; er machte leider die Wiederherftellung ber afgha 
niſchen Macht in Hindoſtan und die Befreiung jeiner Glaubendgenoffen von dem Drud 
der Sikh und anderer Ungläubigen zur Aufgabe feiner Regierung, flatt die inne 
Schwäche in Stärfe zu verwandeln. Unglück im Kriege, Schwäche im Siege, Unflug 
beit in der Wahl der oberfien Beamten machten feine Stellung unſicher. Ein Au 
Rand wurde niebergefchlagen (1799), feine Urfachen nicht befeitigt. Das benugte de 
ältere Brudex Siman's, Mahmud, ſchloß fich mit unzufriedenen Afghanenhäuptlinge 


— 





einen Thurm geſteckt. Aber Mahmud war mehr NRäuberhauptmann ald König. E 
fchwelgte und überließ den Häuptlingen dad Land. Bald befämpfte ihn fein jüngerer 
Bruder Schubfchah, flegte nach mehreren Kämpfen (1803) und nahm den Thron ein. 
Aber da er den Häuptling Batah- Khan nicht nach Wunſch belohute, jo fuchte dieſer 
gegen ihn Beinde über Feinde aufzuregen. Die Berfer, die Balutfchen, die Sikhs: 
Alles fiel über Schubfchah her. Er wehrte ſich lange; aber endlich gelang ed Mah⸗ 
mud, zum zweiten Male den Thron zu befleigen und an feine 21 Brüber die Statt 
halterſchaften und die anderen oberiten Aemter zu vertheilen. Die Duranimonardie 
batte fo gut wie aufgehört; die Barakſit traten an ihre Stelle (1809). — lim biefe Zeit 
fchiekte die englifche Regierung zu Kalkutta Gefandtichaften nach Kabal und Sind, 
um mit diefen Ländern Tractate gegen. den Durchzug irgend einer europäifchen Macht 
nach Indien abzufchliegen. Der Schah und die Großen Afghaniſtan's waren Anfangs 
mißtrauifch; allein es Fam doch ein Vertrag zu Stande, durch welchen Schah Schudſchah 
ſich verpflichtete, die vereinigten Franzoſen und Perfer, wenn ſie über Afghaniſtan nad 
Indien ziehen wollten, zurüdzufchlagen, wogegen die Engländer fich verpflichteten, alle 
Koften diefer Kriegsrüftung zu tragen. : Damit wurde der Grund gelegt zu ber fpäteren 
Einmifchung der anglosindifchen Regierung in die Verhältniffe Afghaniftans. Allein Ruß⸗ 
land, welches fich für berufen glaubt, feine Herrfchaft über ganz Aſien auszudehnen, beeilte 
ſich, durch politifche Agenten, großentheild unter dem Vorwande, Handelöverbindungen 
‚anzufnüpfen, überall Einfluß zu gewinnen, unzufriedenen Parteien Berfprechungen zu ma- 
chen, auch Hülfe zu gewähren und fo einen heimlichen Krieg gegen den wachfenden Einfluß 
der Engländer zu organifiren. Während in Afghaniftan feine einheitliche Regierung zu 
Stande kam, fondern Jahrzehente hindurch bald diefer, bald jener Stamm eine Art Bor 
macht auf kurze Weile fid errang, arbeiteten die beiden großen europäifchen Mächte 
daran, ihren Einfluß bei der wichtigften Grenzmacht, am Hofe von Teheran, zum allein 
gültigen zu machen und eine die andere zurüdzudrängen. Es wurde ihnen beutlid, 
Da bier in den mittelaflatifchen Staaten der Angelpunkt ihrer Weltbedeutung läge, 
und daß namentlich bie oflindifchen Beflgungen mit den Geſchicke Afghaniſtans auf 
Engfte verknüpft wären. Lange Zeit hindurch fuchte Rußland den Schab von Per 
fien zu einer Eroberung Afghaniftand anzureizen, wohl wiflend, daß es dann, als 
Kerr biefer Megierung, den Engländern vor der eigenen Thür fiehen würde. Die 
Engländer hingegen beriefen fi am perfifchen Hofe auf ihre Bündniſſe und droheten 
mit dem Schlimmften, wenn Perſien den Ruſſen zu Willen wäre. Es ift unerquid- 
lich, die politifchen Schachzüge Diefer beiden Mächte zu verfolgen. Genug, es gelang 
den Engländern, den überwiegenden ruffifchen Einfluß in Perften zu brechen und nicht 
bloß in Perſien, wo fie ſich Aden's und der Infel Charek (1839) bemächtigten, fon 
dern auch in Arabien, China und in Afghaniſtan feften Fuß zu faflen.- Ganz Europa 
erfiaunte über die Klugbeit und Rückſichtsloſigkeit dieſer kraftvollen Unternehmun- 
gen. Afghaniftan trat Durch den Baraffi- Häuptling Doft- Muhamen eine Zeit lang 
in den Vordergrund ber Begebenheiten. Diefer war ein überaus einfichtövoller, thätt« 
ger und gerechter Emir. Er brachte zuerft wieder einige Ordnung in die verwilberten 
Stämme. Das Land wurde ruhig, ficher; Kabal erhob ſich zu einer reichen Hat 
delsſtadt von 60,000 Einwohnern. Doſt⸗Muhamed faßte den Plan, die ganze Durani- 
Monarchie unter feinem Scepter zu vereinigen. Zunaͤchſt fanatifirte er durch jeine 
firenge Anhänglikeit an den Islam die Mullah und wendete ſich zur Ausführung 
feiner Plane, von der anglosinvifchen Regierung zurücdgewiefen, an Rußland und Per⸗ 
fen. Rußland ſchickte einen polnischen Diplomaten ald Unterhaͤndler, und dieſer ſchürte 
mit euer den Eifer Doſt-Muhammeds gegen die Sikhs. Die englifche Megierung zu 
Kalkutta erfannte die Gefahr, rüftete und befchloß, den BarakhirHäuptling unſchaͤdlich 
gu machen und in der Perſon des ſchwachen Schah Schudſchah el Mulk einen König 
des wiederaufzurichtenden Durani⸗Reichs einzufegen. Sie verband fih mit dem Wa 
baradfchah Romadfchit, dem Fürften der Sikhs, und wußte deſſen perfünlidge Feind⸗ 
fchaft gegen Doſt⸗Muhammed, troß des Widerſtrebens feiner Minifler, wohl zu benugen. 
Ein Vertrag mit dem Schah Schudſchah wurde abgefchlofien, der im Voraus alle 














fertig. Die Kriegderklärung gegen Doſt⸗Muhammed erfolgte. Gefagt wurde, ed gelte 
der Wohlfahrt Afghaniſtans, beabfichtigt aber wurde die Befeitigung eines Fürften, der 
diefe im Sinne des Islam allein dauerhaft begründen Eonnte. 9000 Mann der anglos 
indifchen Truppen blieben in Sindh, um die Verbindung mit dem Bolanpafje zu ers 
halten. Die übrigen Truppen drangen mit beträchtlichen Verluſten durch jenen Paß 
unter fortwährenden Kämpfen mit den Balutfchen nach Kandahar. Hier nahm Schub- 
ſchah formell Beſitz von feinem Reiche; aber das Puſchtuvolk hielt fich von dieſem 
Schaufpiele fern. Die Childſchi erklärten, mit einem von den Ungläubigen eingefeßten 
Bürften Teine Gemeinfchaft haben zu wollen. Alexander Burnes, der englifche Agent, 
abnte in unbegreiflicher Verblendung nichts von den Gefahren, denen das englifche 
Heer in dieſem Lande entgegen ging. Man ließ in der 80,000 €. zählenden Stadt 
Kandahar und in einigen andern Plägen nur geringe Befatungen zurüd und zog mit 
den noch übrigen 12,000 Mann gegen Ghaſnah und Kabal. Ürftere Stadt, welde 
biöher für unginnehmbar gegolten hatte, und welche eine Beſatzung von 3000 Mann 
unter Haider, einem Sohne Dofl-Muhammen’s, hatte, fiel bald und nahm eine englifche 
Befapung ein. Man z0g weiter gegen Kabal. Doſt⸗Muhammed verfuchte Feinen Wir 
derſtand, fondern floh mit Zurüdlafiung aller Kanonen und vielen Zugsviehs gen 
Bhamian. Schah Schudſchah hielt feinen Einzug (7. Auguft 1839). Die Bevölfe- 
sung blieb theilnahmlos; aber die Engländer ließen ſich nicht warnen; fle betrachteten 
dad Land der Afghanen ald eine ruhige und fichere Eroberung, und’ beeilten ſich, den 
größten Theil des Heeres vor dem Winter.nach Hindoſtan zu entlaffen (1840). Bald 
aber zeigten fich deutliche Spuren der Unzufriedenheit; die afhganifchen Häuptlinge 
fingen an, fich von dem eriten Schreden der Ueberrumpelung zu erholen. Doſt⸗Mu⸗ 
bammed war in dem Gebirgslande von Kabal nnd fuchte von hier aus bie Häuptlinge 
‚gegen die Frengi's aufzuftacheln. Bald bier, bald dort brach ein Aufſtandsverſuch 
aus, wurde aber durch europäifche Waffenkunft immer fchnell wieder befeitigt. Und 
e8 gelang in der That, auf eine kurze Zeit dad Land in Ruhe und Ordnung zu halten. 
Dof-Muhammen mochte einfehen, daß jet feine Ausficht für die Barakſi wäre, eilte 
nach Kabal, wo die meiften Glieder feiner Familie lebten, und ergab ſich der Großmuth 
des englifchen Gefandten. Sein Sohn Akber mißbilligte die That feined Vaters und 
floh über den Hindukuh zum Fürften der Gläubigen in Bochara. Macnaghten, der 
englifche Gefandte, betrog das Vertrauen Muhammed's und fandte ihn mit feiner Fa⸗ 
milie jenſeit des Indus, um ald Gefangener der oftindifchen Compagnie dort zu leben. 
Nun begann man, das afghanifche Volk nach europäifchen Begriffen zu regieren, ver 
Allem der Zügellofigkeit und den Fehden der Häuptlinge Schranken zu ſetzen. Alle 
Borrechte follten verfehwinden. Das aber verlehte die theuerften Intereſſen der Priefter 
und der Häuptlinge. Daneben regierte Schudſchah mit feinem Beier, Mullah Schikar, 
in ber allerfchlechteften Weile eines niorgenländifchen Despoten. Nur ein neued Heer 
aus Indien hätte helfen fünnen. Uber Sir Alerander Burned wollte fi dem Lord 
Yudland in Kalkutta, dem indifchen Statthalter, als den Nachfolger des eben zum Prär 
fipenten von Bombay ernannten Macnaghten's empfehlen und erflärte geradezu, es ſei 
fein neuer Zuzug englifcher Aruppen nothwendig. Schon int Herbſt 1841 zeigten ſich 
bie Anzeichen einer das ganze Volk umfaflenden Verſchwörung. General Sale wurde 
gegen diefe von Akber⸗Khan angeftifteten Aufftände ausgefandt. Er ſchlug die Haͤupt⸗ 
linge, zog nach Dfchelalaban und verfchanzte ſich nad) Möglichkeit. Noch immer ahnte 
Burnes nicht von dem herannahenden Sturme. Endlich (2. Nov. 1841) brady der 
Aufftand 108. Burnes fiel gleich zuerſt. Uber da Die Engländer ein befefligtes Lager inne 
hatten, ein Heer von 6000 Wann und unter den 12,000 Menfchen des Ragergefolges 
noch viele mwaffenfähige Männer; fo wäre ed ein Leichte8 gemeien, bie ungeorbneten 
Haufen, die feine ſchweren Gefchüße hatten, in bie Flucht zu fehlagen oder wenigftens 
ſich ſelbſt nach Dichelalabad zu retten. Macnaghten wollte in unbegreiflicher Verblendung 
nichts von Beidem willen. Man hoffte Hülfe von Kandahar. Seht erfchien Aber 
ſelbſt und hielt an der Spike feiner fanatifchen Schaaren feinen Einzug in Kabal 
(22. Nov.). Schon am folgenden Tage kam es zu einer Schlacht, die Engländer 





Familie follten audgeliefert werden, Die Engländer fich auf Gnade und Ungnade ergeben, 
aber fih im Voraus verpflichten, aldbald dad Land zu verlaffen und nie wiewer zuräd- 
zufehren. Der Geſandte Macnaghten verfammelte die Fürſten der Afghanen zu einer 
Unterrevung und fihlug ihnen Billigeres vor. Diefe flinmten ein. Nur Akber wider 
fprach und wollte Feinen Frieden. Er ward überflimmt. Dafür rächte ex fih durch 
gif. Er trug heimlich dem englijchen Geſandten einen vortheilbafteren Vertrag an; 
diefer ging, troß der Warnung des Generald Lord Elpbinftone, darauf ein und unter 
zeichnete damit fein und all der Seinen Tobesurtheil. Denn ald er (23. Dec.) mit drei 
Begleitern außerhalb der englifchen Gantonnirungen auf einer Anhöhe mit Akber bie 
Unterbandlung zum Abfchluß bringen wollte, wurben fle alle vier feftgenommen und, da 
fie ſich verzweifelnd wehrten, Angefichtd ihres eigenen Heeres niedergemacht. Indeſſen 
verficherten die Häuptlinge, Daß die verabrebeten Bedingungen ihr Beſtehen haben follten, 
und Akber, daß er ſogleich Anftalten treffen werde, die Truppen ſicher nach Dichelalabah 
zu geleiten. Er entfernte ſich und bereitete alles zum Untergange des englifchen Heered 
vor. Erft als diefe Vorbereitungen getroffen, als die mörberifchen Rotten des Puſchtu⸗ 
volkes in allen Schluchten und Bergrigen aufgeftellt waren, wurde den Engländern, bie 
noch immer 4500 Bewaffnete und 12,000 an Ragergefolge zählten, der Tag des Abzuges 
(6. Ian. 1842) angezeigt. Kaum aber hatten ſich die Unglüdlichen in Bewegung ge 
fest, fo wurbe ihr Lager von den Afghanen überfallen, audgeraubt und in Brand ge 
ſteckt. Von afghanifchem Geleite" aber war nichtö zu fehen. Im Gegentheile, von allen 
Seiten erfihienen Verfolger, und unter fortwährender ſchwerer Vertheidigung konnte der 
Zug nur langfam vorwärts kommen. Afber erfchien wieder und täufchte fle auf's Neue. 
Kurz, nach vier Tagen war das ganze britifche Heer, alle 16 bis 17,000 Menfchen, bid 
auf einen einzigen ſchwer vermundeten Arzt, der fich nach Dfchellalabad rettete, ein 
Opfer der Beigheit der Befehlshaber und des Verraths der Feinde geworben. Es war 
die größte Niederlage, welche feit der Entflttlihung des Hannibal’fchen Heeres in Gapua 
vorgefommen war! Man war in Hinvoftan lange in Ungewißheit über die Schidjale 
des Heered. Das legte Schreiben Macnaghten’8 hatte jchon das Aeußerſte fürchten laffen. 
Sept erfuhr man das Nähere. Und nun betrachtete man ed als die Hauptaufgabe, den 
Tapferen in Dichellalabad zu helfen und die bevrängten Garnifonen unter dem Puſchtu⸗ 
volfe zu retten. Man verfuchte, die Ehaiberpäffe zu durchbrechen. Es mißlang. Und 
das Feine Häuflein in Dſchellalabad, etwa 2500 Mann ſtark, ungeachtet die Waälle der 
Feſtung durch Erdbeben ftarf befchädigt wurden, behielt den Muth und jagte fogar 
mehrmals die Schaaren des Akber⸗Khans in die Flucht und trieb alle Afgbanen, gegen 
6000 an der Zahl, aus der Stadt. Biel fchlimmer erging ed der Befagung von 
Ghasnah. Sie vertraueten den Frienenöverfiherungen Akbber's, bofften dem Vertrage 
nach ungefährbet nach Peſchawer entfendet zu werden und wurden bis auf Wenige, bie 
Monate lang in einer furchtbaren Gefangenfchaft fchmachten mußten, niedergemadt. — 
Sept galt e8, Mache zu nehmen. Aber die Sipahis erfchrafen ſchon vor dem Namen 
Der Afgbanen, Geld war ebenfalld Enapp, Die Hindu weigekten fih. Endlich trafen 
bie englifchen Verflärkungen ein (April 1842). General Pollak flürmte die Ehaiber- 
päflfe, erreichte nach 10 Tagen Dfehellalabad und brannte vor Begierde an den vers 
rätherifchen Mördern feiner Landsleute Nache zu nehmen. Aber unterdefien war an 
der Stelle des verbienftvollen Lord Auckhand fein Nachfolger, der Tory, Lord Ellen 
Borough, Statthalter von Indien geworben, und biefer flrchtete, daß an dem Widerftande 
der Afgbanen Die ganze indiſche Herrfihaft zu Grunde gehen Eönne und befahl ben 
Generalen Nott und Pollak umzukehren. Diefe zögerten zu geborchen und baten um 
andere Befehle. Der Lord blieb unerbittlich. Unterdeſſen aber kamen die Debatten 
über den Afghanenfrieg im Barlamente vor, und alle Mitglieder verlangten wie Ein 
Mann, daß die Schmach der englifchen Waffen im Afghanenblut abgewafchen werden 
folle. Das wirkte auf Lord Ellenhorough, und er befahl den Generalen, über Ghas⸗ 
nah, Kabal und Dichellalabad zurückzukehren, aber von dem Grabmale Mahmuds, bed 
Ghafnaviden, die über dem Grabe hängende Keule und bie Thore von Somnath als 
die gerechten Siegezeichen des Zuges mitzubringen. Genug, man lad aus disfen In» 








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WERRETNET WERTE 5” sRETRESE BEN DU IHR Buinuriu 5" guiiutigeu. ES᷑Iös 2 
zog mit 6--7000 Mann nach Ghasnah, eroberte, zerſtörte und verbrannte die Stk 
Pollak flug mit 16,000 Mann den Aber und richtete 3 Tage fpäter auf dem höch 
Punkte von Kabal, gerade als Nott mit den Seinen ebenfalls dort eintraf, Die engli 
Flagge auf. Jetzt galt es, die britifchen Gefangenen, die auf dem Wege nach Bhan 
waren, um als Sflaven verkauft zu werben, zu befreien. Es waren Männer, Bra! 
und Kinder, 64 an der Zahl. Vorher aber noch wurde ein Verwandter ves D 
Schah Siman, durch allgemeine Wahl der Häuptlinge auf den Thron erhoben, Sc 
dſchah aber und feine ganze nächfte Begleitung von feinen eigenen Volksgenoſſen erm 
Det. Nun wurden die Gefangenen durch ein bedeutendes Löfegeld an Saleh Muhr 
med, dem fie Akber zur Weiterbefürderung übergeben hatte, gerade noch einen 2 
vorher, ehe fie in die Hände eines andern, dem Akber getreuen Häuptlings komp 
follten, befreiet. Die Engländer gingen darauf auf die fhöne Stadt Iftalif (mit 15,0 
Einw.) 108, weil ſich dort alle ihre Feinde verfammelt hatten. In wenigen Stun! 
ward fle genommen, geplündert und in Brand geftet. In gleicher Weiſe behand 
man die Hauptfladbt und mehrere andere Orte Afghaniſtans, ja man verfchonte fe 
Selder und Fruchtbäume nicht. So gelangte das Heer nach Peſchawer und beg' 
unterwegs die Reſte des Elphinftone’fchen Heeres. Jetzt aber meinte Lord EI 
borough, großmüthig fein zu Dürfen: er ſchenkte allen gefangenen Afghanen, felbft D: 
Muhammed die Freiheit. Letzterer benutzte fie bald dazu, mit feinen Afghanen ſich! 
Engländern auf8 Neue entgegen zu ftellen. Es Fam zur Schlacht bei Gudſche 
(21. Febr. 1849); die Engländer flegten, und die Afghanen dachten, treulos wie imn 
nur an ihre eigene Rettung und überließen die mit ihnen verbündeten Sikh ihrem Schick 
Doſt⸗Muhammed, deſſen Sohn Akber 1848 geftorben war, flob über den Inbuß ı 
entkam glüdlich, durch die Chaiberpäjfe, da die bier haufenden Gildſchi auch gegen gr 
Summen nicht zu bewegen waren, ihm den Durchzug zu verfperren. Seitdem E 
eigentlich gegen die urfprüngliche Abſicht der Engländer, welche ihre Eroberungen ü 
Hindoftan hinaus nicht ausdehnen wollten, die Unterwerfung der Afgbanen jenfeit : 
ſchawer begonnen; ein Stamnı nach dem andern hat die Waffen ftreden müſſen, ı 
e8 Tann ihnen die Arbeit nicht erfpart werben, auch das Afghanenreich unter ihre vı 
Botmäßigkeit zu bringen und e8 darin zu erhalten, zumal feit der Einverleibung | 
Pendſchab (1850) die Afghanen die nächften Grenznachbaren der Engländer gewor! 
find. Indeſſen ift man englifcher Seits jet zu der Einficht gelangt, daß ein Afghan 
reich unter der flarken Negierung Doſt-Muhammed's ihnen weit weniger gefährlich 
ald ein Land in fortwährendem Kampfe Der einzelnen Stammbäupter unter einant 
Sie Hätten viel Gut und Blut fparen können, wenn fie diefe Einficht früher gewom 
hätten. Es ift aber Dadurch fo viel wenigftend gewonnen, daß England einen Zwifch 
ſtaat mehr gewonnen hat zwifchen Rußland und feinen indifchen Beſitzungen. Ri 
land hat es verftanden, feinen Einflug in Teheran (Perſien) zu befefligen. Aber wı 
e8 auch bier alles vermöchte, fo würde es ihm doch nicht gelingen, durch Afghaniſt 
wie einft Alerander der Große und nach ihm Eeiner wieder, nach Hindoftan vorzudring 
denn jetzt kennt England Land und Leute und kann jedem Reſt von einem Heere, welch 
bis an feine indiſche Grenze ſich mühſam durchgeſchlagen hätte, mit großer Leichtigl 
begegnen. Englands Achillesferſe ſind allein die Eingeborenen von Hindoſtan ſelber 
Afrika. Unter dem Namen Afrika verſtanden die Erdbeſchreiber des Alt 
thums das Gebiet, welches ehemals die Republik der Karthager ausgemacht hatte, 
Jahre 608 nach Roms Erbauung zur römtfchen Provinz wurde, und unter ein 
Proconful und fünf Rectoren fland, Cicero züblte dieſe Provinz mit zu denjenig 
welche die Kornkammern der Weltſtadt waren. Die arabifchen Geographen find dief 
Gebrauch des Namens Afrika treu geblieben; noch heute nennen fle denfenigen Ti 
des Nordrandes von Afrika, der und unter der Zroillings-Benennung Tunis und T 
polig geläufiger ift, Afrigiah. Oeſtlich von dieſem eigentlichen Afrika, Africa prop 
der Alten, Iag Libya und weiterhin Aegyptus, weftlih Numidia und Mauritan 
Mogbrib » auſoth, das mittlere, und Moghrib⸗ul-Akſa, das äußerſte Abenbland 
Araber im moghribiniſchen Dialect ihrer Sprache. 
Wagener, Staats u. GEeſellſch.⸗Lex. 1. 29 





INSTIYSETIDIE Vie HIV IRNNSSDN UriyıUH 42} PIVEAS. wiss WURG LE ν 
danifchen Ländern wäre die Abfchaffung der Sclaverei ungeſetzlich — denn es ift nicht 
eine pofttive Einführung, die der gefeßgebenden Gewalt der weltlichen Macht unterliegt, 
und die fie alſo modificiren kann, fondern es ift ein Glaubensdogma, das Die weltliche 
Macht nicht nach Belieben auslegen Tann, und dad der politifchen Machtbefugniß ent 
rückt ift, und diefed um fo mehr, als der Inhaber der weltlichen Gewalt weder die 
Eigenschaften eined Propheten, noch eines islamitifchen Papſtes befigt, er hat fchlechter- 
dings nicht das Necht, diefe religiöfen Dogmen zu ändern, denn er if nur der Ans 
leger der Koransgeſetze. Im Gegentheil wird das Sclaventbum nad, mohammebani- 
fchen Begriffen ausprüdlih durch einen Glaubendartikel der im Koran enthaltenen 
Dffenbarung geboten; und da ein Religionsſyſtem, wenn es wirklich befteht, auch das 
unbeftreitbare Recht beſitzt, jo fortzubeftehen, wie feine Dogmen erbeifhen, fo fann 
auch Die thatfächliche Aufhebung der Sclaverei mindeftend in den mohammedanifchen 
Ländern von Afrika in jo lange nicht Statt finden, als nicht das Glaubensbelenntnis 
des Propheten gänzlich reformirt ift. 

Boden und Klima und die durch Beide bebingte Lebend- und Beſchaͤftigungs⸗ 
weile der Menſchen bedingen auch die Bevölferung der Länder nach Volksmenge und 
Volksdichtigkeit. Ein großer Theil des afrikanischen Bodens befteht aber aus Sand⸗ und 
Steinwüfteneien und aus wafler- und flußlofen Steppenländereten, auf denen der Menſch 
nur von Ertrage der Jagd oder feiner Viehheerben leben Tann, alfo ein nomadiſtrendes 
Jäger» oder Hirtenleben führen muß; nur ein verhältnigmäßig Kleiner Theil des Bodens 
von Afrika ift zum Aderbau, alfo zu einer feßhaften Lebensweife des Menfchen ger 
eignet; auch liegt der bei weitem allergrößte Theil des Erdtheils zwifchen den Wende 
freifen, alfo im heißeften Klima, oder in einem Klima, welches, ift e8 nicht durch Er⸗ 
habenheit des Bodens und fomit durch fühlere Luft gemildert, der Natur des Menſchen 
wenig zufagt. Wir kennen jene Bopdenbefchaffenheiten theils fchon aus den Zeugniflen 
der alten Schriftfteller, theild aus den Berichten neuerer Neifender, denen es, vornehm⸗ 
lich feit dem Ausgange des 18. Jahrhunderts, gelungen ift; auf einzelnen Wegelinien 
ind Innere des geheinnißvollen Erdtheils einzubringen. Aber nur das feßhafte, ade 
bautreibende Leben des Menfchen läßt eine verhaͤltnißmaͤßig ˖ große Volksdichtigkeit zu, 
dad nomadifirende Jäger» und Hirtenleben dagegen bebingt eine geringe. Berückſichtigt 
man alle dieſe Umftände, fo wird man geneigt fein müffen, von Den großen Schaͤtzungs⸗ 
zahlen der Menfchenmenge in Afrika als übertrieben abzuſtehen und ſich einer der klei⸗ 
neren zuzuwenden: vielleicht der Zahl von 60 Millionen, die eine gemifle Glaubwürbig- 
feit in Anfpruch zu nehmen berechtigt zu fein fcheint. 

Ueber die Bodenformation Afrika's find viele irrige Vorſtellungen verbreitet, 
wohin infonderheit zu rechnen ift die Vorftellung, die große Wüfte des nörblichen 
Afrika, Die Sahara, fei ein Tiefland von Anfang bis zu Ende, nur wenig über bie 
Meereöfläche emporgehoben, eine Sanbwüftenei glatt und flach, weit und breit, unbe 
wohnt und unbemwohnbar, ein Grab für Jeden, der ſich hineinzumagen die Kühnheit 
habe. Diefe Vorftellung, auf's große Ganze dieſes ungeheuern Bodenraums von ehva 
Y, der Größe Afrika's angewandt, hat man aufgeben müffen, veranlaßt Durch die Mil 
theilungen Oudney's, Dreham's und Clapperton’s, der erſten Europder, welche von den 
Geftaden des Mittellindifchen Meeres ber die Wüſte durchfchritten, un zu den Cultur⸗ 
lindern im Innern zu gelangen. Und was jene brei Engländer vor dreißig Jahren 
und länger ausfagten, das ift gegenwärtig, 1857—1858, von beutfchen Meifenden ber 
flätigt worden, von Heinrich Barth, dem glüdlic Heimgefehrten, und von Eduard 
Bogel, der leider ein Opfer feines Wiſſensdrangs geworden ift. Die Sahara if, 
mindeftend auf der Linie zwifchen Tripolis und dem Zad= See, feine platte Tief 
ebene, fondern eine erbabene fandige und fteinige Wüftenei, ein Africa petraen, mit 
Bergfetten, Die jo hoch find, wie Das Miefengebirge in Deutjchland, und in dern 
Thalmeitungen fruchtbare Streden, auf ibren Abhängen Weideplähe ben bald nomar 
bifivenden, bald ſeßhaften Fuaren, einem Zweige des großen Berbernolfs, zum Bohn 
platz Dienen. Die felfige Oberfläche jcheint bei weitem mebr Raum einzunehmen, als 
die fanbige. 











FIF ⏑⏑ VJeno, BUS Win VEREBET WEST USER, IWTEUG YvL WU WELL ZU 
gritien biegen, von den Arabern aber Biled⸗es⸗Sudan, dad Land der Schwarzen, ge 
nannt werden. Wozu jene drei Engländer ben Grund gelegt, dad hat Barth mit eincı 
Ausführlichfeit weiter ausgebaut, die die Bewunderung eines jeden Sachkenners und 
Sachgenofien erregt. Der deutfche Reiſende ift aber auch ein wirklicher Entdecker ge: 
wefen; nicht allein, daß er, nachdem er Tumbuktu von Öften ber erreicht, der erfte. ift, 
welcher den Duorra, Kuara, Iſſa⸗Strom, den Niger der Alten, auf einer Stredi 
feines Laufs berabgegangen, die, wenn man Mungo Park ausnimmt, der bei feinem 
Unternehmen um's Leben Fam, noch Fein Europäer mit eigenen Augen geſehen, fo ba: 
ee den DBenne, einen Fluß im Innern entvedt, von dem es nachgewiefen worden ift, 
daß er denjenigen Nebenfluß des Quorra bildet, welcher zeither unter dem Namen bet 
Tſchadda befannt war. Diefer Benus, der fih von der linken Seite ber zum Quorra 
ergiept, bietet eine ſchiffbare Fahrbahn in Die innerften Gegenden des dftlihen Sudan 
und ift fchon, feit die Nachricht von Barth's Entvedung nad Gipopa gelangt, vor 
einem englifchen Dampfboote mit Erfolg befchifft worden. Ueber den @ulturzuftant 
der Ränder und Voͤlker des Sudan, die allefamnıt dem Aderbau fich widmen, die, fei: 
Iahrhunderien für den Islam gewonnen, den aufgeklärten Völkern der Chriftenhei 
gegenüber zu den balbaufgeflärten zu rechnen find, über Die Pulo- oder Hellata⸗Reiche 
deren Führer und Völker die Friegerifchen Träger de Koran find, über Soerhay, Gando 
Sokoto, Bornu, Adomaua, Bagirmt, Kanem, Wabny, Darfur ꝛc., über Ihre gewerb: 
lichen Zuftände in Aderbau, Viehzucht, Induftrie und Handel, über die forialen und poli: 
tifchen Verhaͤltniſſe dieſer Meiche und Staaten, über die Gefchichte ihrer Völker, derer 
Sprachen und Mundarten u. f. w., über alled das und fo vieles Andere noch giebt Bartt 
in feinem, in anfpruchslofer Sprache abgefaßten Berichte fo viel Neues, fo viel Gründ: 
liches, daß man ftaunen muß, wie ed Einem Manne gelingen fonnte, binnen der ver: 
haͤltnißmaͤßig jo kurzen Zeit von wenig Jahren Derartige zu leiften, noch dazu unter 
Eimatifchen, auch moralifchen Eindrüden, die wahrlich nicht zu den leichten gehören. 

Ungefähr mit dem Barallelfreis von HN. Breite fchließt für jest die Herrichaf 
des Islam in Afrika ab; darüber hinaus wohnen unabhängige Heidenvölfer, wie et 
fheint, in Fleinen Gemeinden oder Gefellichaften, denen die Kraft abgeht, den mädh: 
tigen nördlichen Nachbarn Widerſtand zu leiften, daher dieſe unaufhörlih Einfälle üı 
diefe jüblichen Landfchaften machen, um — WMenfchen zu rauben, die den werthvollſter 
Handelsartikel für die mohammedanifchen Volker des Sudan auf den Sclavenmärfter 
in Aegypten und in den Küftengebieten des mittelländifchen Meeres ausmachen. 

Die Wohnfige dieſer heidnifchen Negervölfer Tiegen da, wohin man, auf dai 
Zeugniß der Alten geftügt, das Mondgebirge zu feßen pflegte, von dem geglaubt wurde 
daß es einen, durch Das, ganze Feſtland, von Habbeffinien bis zum Meerbufen vor 
Guinea, flreihenden Querriegel, und fo den nördlichen Rand von Hochafrifa bilde 
Diefe Anfiht wird man aufgeben müſſen. Es ift zwar eine alte Vorftellung, abe 
durch neuere Berichte fehr wahrfcheinlich gemacht worden, daß gerade in entgegengejeßte 
Nichtung, nämlich von Habeffinien aus gegen Süden, ein zufammenhängendes Hochlan! 
längs, oder in der Nähe der Oftküfte flreihe Bid zum Gaplande bin. Auf diefen 
Hochlande wollen deutfche Mifflonare, Krapff und NRebmann, die von Mombas he 
gegen das Innere vorzudringen beftrebt geweſen find, Schneeberge gefeben haben, wenig 
Grade ſüdlich vom Aequator. Einen diefer Berge nennen ſie Kilima Dſcha ro, d. h 
Berg der Größe. Ragt fein Gipfel in die Megion des Schneed empor, jo muß e 
mindeftens eine Höhe von 40,000 über dem Meere erreichen. Er liegt unter 30 40 
S. Preite, im Lande Dſchagga, Hinter dem fich im Innern des großen Platenurüden: 
Unia mefl, d. 5. dad Mond» Land, ausdehnt. Die ptolemälfche Benennung Zeryv: 
ift weiter nichts, als die griechifche Ueberfegung des Wortes Moczi, Mefl, u. f. w. üi 
Des verichiedenen Mundarten der großen fübafrifanifchen Sprachfamilie Hier habe: 
wir alfo das Mondgebirge des Ptolemäus. Man flaunt über die Nichtigkeit der Nach 
richten, die von den alten Autoren bei ihren geographifchen Befchreibungen benut 
wurden. Und doch wird an dem Vorhandenfein des Mondgebirged von einer Seit 
ganz und gar gezweifelt! 





V⏑ VJ⏑ iin inte Fe ni Bd 9 Dina Fe Ze EEE En DEE 5 2 EEE En © Bash ar nn 2 
drien thun mußte. Bis jetzt hat noch Fein Menfch den Urfprung des claffifchen Stro- 
mes von Afrika gefehen, d. b. noch Fein Menfch, der einer der aufgeflärten Nationen, 
fei e8 des Altertbums, fei e8 der Neuzeit, angehört. Die älteften portugiefifchen Nach⸗ 
richten haben von einem großen See gefprochen, der hinter den Bergzügen der Oftküfte 
angegeben wurde. Die neueften Berichte, die freilih auch erft auf Erzählungen der 
Eingeborenen beruhen, Haben die Angabe der Portugiefen beftätigt. Sie nennen ben 
See NDafit, und Krapff und Rebmann hörten ihn den See von Unia meft und noch 
anderweitig nennen. Die genannten Riffionaive geben ihm eine außerorbentliche Größe 
nicht bloß in der Känge, fondern auch in der Breite. Seitens des Berichterftatter if 
1850 die Vermuthung gewagt worden, daß in dem gegen Norden firömenden Abfluß 
diefed Seed der Urſprung des Bahr el Abiad der Araber, d. i. des eigentlichen Nil 
firomeß, zu erkennen fein möchte. 

Was Heinricy Barth im Norden des Aequators fir die Erforfhung Afrika’ 
gethan, Das ift gleichzeitig in der füblichen Hemifphäre durch David Livingftone geleiftet 
worden, der von 1849 bis 1856 die umfaſſendſten Helfen in Süpafrifa unternommen, 
und der erfte gebilvete Europäer ift, welcher den Erbtheil quer durchſetzt bat, von 
Loanda an der Weftküfte bis zur Mündung des Zambezi an der Oftküfte Das ifl 
eine ächte Entvedungsreife gewefen. Sie hat die Vermuthungen, die man aus den 
fragmentarifchen Nachrichten der Portugiefen des 15. und 16. Jahrhunderts über bie 
Bodengeſtaltung der Süphälfte des Erbtheild geichöpft hatte, beftätigt und auf's Schärffte 
feftgeftellt. Südafrika bildet in der Mitte ein großes Plateau, dad zu beiden Seiten, 
links und rechts, zu noch höheren Bergebenen emporfteigt, die alsdann gegen Well 
und gegen Oft in fteilen Wänden Hinabfleigen zu den Küftenebenen am Atkantifchen 
wie am Indiſchen Dcean, den auf der Hochebene entfpringenden Flüſſen, beim Ueber⸗ 
tritt In Die Küftenebene nur Engſchluchten übrig laffend, durch fie in Waflerflürzen und 
Stromſchnellen tobend und fchäumend in die Tiefe eilen. Livingflone nennt die Hoch⸗ 
ebene zwifchen den beiden Hochrändern der Küfte eine Einfenfung, eine Bezeichnung, 
welche nicht im abfoluten, fondern im relativen Sinn, na Maaßgabe jener Randerhe⸗ 
dungen zu nehmen ift; denn er hat Die Höhe des Plateaus zwiſchen 3000’ und 4000’ 
über dem Meere gefunden. In diefer Einfenfung möchte denn auch jener N’Daffl ober 
See von linia müfl liegen, deſſen oben gedacht wurbe '). 

In Nordafrika ſchließt Barth's Unterfuchungsfeld mit dem 109 nörbl. Breite ab, 
in Südafrifa fällt Livingſtone's Neifeweg quer über das Hochland mit der mittlern 
Barallele von ungefähr 159 fühl, Breite zufammen. Was dazmifchen liegt ift für und 
völlig unbekanntes Land, in das noch nie ein Europäer gedrungen. Es erſtreckt fi 
über 25 Breitengrade oder 375 Längenmeilen und umfaßt einen Flächenraum von der 
Größe Europa's. 


1) In England lebt ein Dann, Namens William Desborough Govley, der im Belg iR der 
ründlichſten Gelehrfamfeit Alles deſſen, was jemals über die Geographie Afrika's gejagt, geſchrie⸗ 
en und geben worben ift von den älteften griechiſchen und den fpätern arabifdyen Autoren an 

bis auf die Gegenwart, und der, geflügt auf diefe Gelehrfamfeit, die Kritik afrifanifcher Geographie 
mit einem gewillen Ucbermuthe gleichſam in Erbpacht genonmen bat. Inſonderheit if dies in 
neuefter Zeit der Fall mit den Gegenden von Afrika, durch die Livingſtone's Reiſezug gegangen iR, 
für die er die älteften wie neuern Nachrichten der Bortugiefen zu einem eigenen Studium gemacht 
hat. Weil nun diefe Nachrichten nicht überall mit dem übereinftimmen, was Livingftone nady ſelbſt⸗ 
eigener Anſchauung erzählt, fo nimmt Covley feinen verbienftvollen Landsmann unter fein —5 
kritiſches Meſſer, wie er es 1832 mit dem Franzoſen Douville und dann auch mit dem Bericht⸗ 
erſtatter 1852 gemacht, ber, weil er ſich nach dem Borgange Gumprechts bed Franzoſen und feiner 
Wahrhaftigkeit angenonmen, feine Gnade vor den Augen des geographiſchen Erbpächters gefunden 
> Hat. Weil der Berichterftatter dies gethan, nennt Govley fein Heines Kärtchen von 1850 the worst 
map of Africa produced for a century and a half. Und nicht beffer ergeht es unſerm Lande: 
manne, dem Sendboten Krapf; auch über den gießt der Erbpächter feinen Zorn aus in einer Schr, 
die den anmaßlihen Titel führt: Inner Africa laid open!! Dieſe Bemerfungen finden hier Plat 
nicht des perfönlidyen Interefjes wegen, fondern der Sache halber, da Covley's in vielen Källen 
beadhtenswerthe Kritik den Beweis giebt, wie viel in der Erforſchung Suͤd-Afrika's noch zu thun 
if, um zu richtigen Vorſtellungen über Natur und Art feiner Landichaften zu ae „ 

erg haus. 











lichen Mangel an Bäumen und an Anhöhen in der Umgegend zuzujchreiben ifl. Vogel's 
Angabe, die Linie tropifcher Regen beginne erft ſüdlich von Kufaua, iſt mit einigem 
Vorbehalt zu verftehen; denn wenn er den Regen in der bewaldeten Landſchaft in 
einiger Entfernung nördlih von der Hauptftadt gemeflen hätte, fo würde er wahrjchein« 
lih ſchon ein verfchienenes Reſultat gefunden haben, und grunpfalfch würbe es jein, 
eine Linie füblih von Kufaua durch den Sudan, ober felbft nur durch Bornu, ald 
nörbliche Grenze des tropifchen Regens zu ziehen, die demnach mit 129% n. Breite zu- 
fammenfallen würde, während fie am Nil nah dem Zeugniffe alter und neuer Reiſen⸗ 
der 60 bis 79 nördlicher zu liegen pflegt. Diefen Negengüffen im tropifchen Hochafrika 
verdanft der Nil feine während der Sommerszeit regelmäßig wiederfehrenden An⸗ 
fhwellungen und das Thal dieſes berühmteften Stromes dee Erde feine Alluvionen, 
Die die Örundurfache der ausnehmenden Bruchtbarkeit find, welche wegen unaufhörlichen 
Zuſchuſſes an Stoff nie und nimmer verfiegen kann. Die Nilfchwellen im Sommer 
£onnten die alten Griechen nicht recht begreifen; regnet e8 doch in’ Diefer Jahreszeit in 
den Küftenländern des Mitteländifchen Meeres fo überaus wenig, daß es kaum wahr- 
genonmen wird. Hier ift der Herbft und noch entfchiedener der Winter die Regenzeit; 
aber die Höhe des gefallenen Waffers ift, felbft an der afrifanifchen Küfte, fchon ganz 
europäifch; fle beträgt in Algier beinahe 35, in Oran nur 16° und in Moflaganem 
fogar nur 14” Barifer Maaßes, wad gegen den Negenfall in Norddeutſchland weit 
zurücbleibt. Die Zahl der Regentage im Verlauf eined ganzen Jahres ift Dort in der 
Küftenlandfchaft des Moghrik⸗Auſath nur 53 bis 54, Davon auf die Sommernonate 
faft gar Fein Tag fällt. . > 

Die Flora Afrika's entfpricht diefer Temperatur. 

Ungemein reich ift dieſer Erdtheil an Farrnkräutern; ihre Artenzahl macht ein 
Drittel aller bekannten Pflanzen des Erdtheils aus, ein Verhaͤltniß, dad in Amerika 
nur auf den Anbesfetten gefunden wird. Die große Pflanzenfamilie ber Gräfer 
machen ",, aller Phanerogame aus, in Amerika nur Y5; der hülfentragenden Pflan- 
zen giebt e& Vrr, der Mubiaceen Y,,, der Compoſeen Yr,, der Euphorbiaceen Ya, ber 
Malvaceen Y, aller fichtbar blühenden Pflanzenagten u. f. w. Drei Pflanzenformen 
von vorzüglicher Schönheit find den Tropenländern aller Weltgegenden eigenthümlich: 
Palmen, Pifanggewächfe und baumartige Barrnkräuter. Wo Wärme und Feuchtigkeit 
gleichzeitig wirken, da ift, fagt U. v. Humboldt, die Vegetation am üppigften, bie 
Beftaltverfchiedenheit am größten. Bon den afrifanifchen Palmen zwifchen der Bucht 
von Benin bis zum Vorgebirge Dicharbafun wiſſen wir nichts. Ueberhaupt Fennen 
wir bisher nur eine fehr geringe Zahl afrifanifcher Palmenarten. Die gefellig lebende 
Dattelpalme, Phoenix dactylifera, überzieht ganz Nordafrika und Liefert feinen Bewoh⸗ 
nern reichliche, fchmadhafte und nährende Früchte; eine andere Art, Ph. reclinata, kam 
in Sübafrifa vor bis gegen das Kapland. Aus. Elais guineensis, alfo genannt, weil 
diefe Palme vorzugöweife an der Küfte Guinea ihre Heimath bat, wird vorzügliched 
Del bereitet, auch ein Getränk, das man Palmenmwein genannt bat. Außer den Pifang- 
arten find Damsmurzel, Manioc, Hirfe u. f. w. Nahrungspflanzen, mit deren Anbau 
fi die Bewohner des tropifchen Amerifa lebhaft befchäftigen. In den Ländern außer 
halb der Wendekreife werden unfere europäifchen Getreivearten gebaut: fo in dem hoch⸗ 
fruchtbaren Aegypten, an der ganzen Nordküſte und im Kaplande, wohin auch bie 
Rebe verpflanzt worden ift, die den berühmten Gap Conſtantia liefert. Ans Afrika 
kam auch die Erica, diefe fchöne, zarte Mobepflanze, in ihren zahlreichen Arten zu uns. 
Sie überzieht die Ebenen und Berghänge ded Kaplandes mit einen weißen, vöthlichen, 

gelben, oranges und purpurfarbigen Teppich. 
| Der Meppigkeit und dem Geftaltenreichthume der Flora entfpricht die Fauna 
Afrikas. Gefchwänzte und ungefchwänzte Affen finden ſich durch den ganzen Erbtheil, 
mit Ausnahme des Nilthals; das Iangfchwänzige Schuppenthier und der Ameifenbär 
yaben im weſtlichen Afrika ihre Heimath. 

Ganz Afrika, von feinem Nordrande beinahe bis zum Südende ift von plumpen 
Diefhäutern bewohnt. Dahin gehört der Elephant, das zweihörnige Nashorn und dab 





| 











— — —— 


| ee T , ec + De Beide dee Asse ——⏑ 
Eigenschaft, die den Tam'zirgh't und dem Koptifchen gemeinfchaftlich ift, im 
Grade auch der Sprache der Biſcharihn. Die Demonflrativen in der Hauſſa⸗ 
find Denen im Berberiſchen fehr ähnlich und darauf. gründet man bie verwandte 
Anlehnung an die HSauffaner. Das feßhafte, Aderbau treibende Volk im X 
Sudan, welches Leo der Afrikaner Gubert nannte, wohnhaft im Stromgel 
Quorra in dejien Mittellauf und an allen feinen Zuflüffen, ift als gewerbfleißi 
deisnation von Iddah am Quorra aufwärts längs des ganzen Stromlaufs über 
und Allr bis nach Murfuf, wo das Hauffanifche als Mutter- ober als 
Sprache überall verftanden und geſprochen wird, verbreitet. Diefe Sprache, 
die vollkommenſte der afrifanifchen Sprachen ausgegeben wird, ift demnach fi 
großen Theil von Nord⸗ und Inner-Afrifa ungefähr das, was die franzöfliche 
für Europa geworben ift, ein jebr allgemeined Verftändigungsmittel. Darin al 
das Hauſſaniſche noch übertroffen von der Sprache der Araber, die, ohne f 
diefer Stelle ihrer Wanderungen in der Vorzeit zu gedenken, in gefchlofienen 
aus ihren Urfigen aufgebrochen find, um die Religionslehren und die Damit ve 
bürgerliche Befeßgebung Mohammed's, ihres Propheten, aller Welt zu verkünd 
And ſie denn auch unter der Führung Traftvoller und thatendurftiger Chalifen 
Nachfolger Mohammed's, nach Afrifa gezogen und haben bier unter Statthalte 
NH frühzeitig vom Ghalifat zu Bagdad losriſſen, mit neuen Dynaften neue, 
ſtaͤndige Neiche gegründet, die einen großen Einflug auf die Gefittung der vo 
betroffenen Völker ausgeübt haben. Die Araber haben, unter Anır Iba el A 
Sabre 640 n. Chr. nicht allein Aegypten und die ganze mittellaͤndiſche Kü 
Afrita erobert, fo wie einen Theil der atlantifchen bejegt, jondern find auch! 
Innere des Erdtheils eingedrungen, wo fie die eingeborenen Benödlferungen theil 
jocht haben, theild, den Sitten ihrer Urahnen getreu, ald Bebuinen, ald we 
Hirten friedlich in eigenthümlicher Bildung unter ihnen Ichen. Als äußerfte 
der Verbreitung der Araber in ganzen Stämmen und großen Maſſen im 
von Afrika laßt fich etwa der Parallelkreis des 100 N.-Breite annehmen, mı 
Kordofan, in Darfur, in Wabai, in Begharmi und im Bornu⸗Reiche auf ı 
Theil üppigen Triften diefer Tropenländer ihre Heerden weiden ober anch Ac 
geworden find. Der Islam bat die arabiihe Sprache der gefanımten mohammed 
Erde ald Sprache des religiöfen und politifchen Geſetzes, als gelehrte Sprach 
tragen, und fo ift fie denn auch in ganz Norb-Afrifa, mit Einſchluß des Bi 
Sudun, Die Sprache des Geſetzes geworden; durch jene Eimwanderungen aber 
al’ den Gegenden, die von ihnen betroffen worden, die Umgangsſprache oder 
ſtens dasjenige Idiom, welches als allgemeines Verſtaͤndigungsmittel dient. 
Berghaus (der Verfaſſer diefes Artikels) hat die Verbreitung der Ar 
oͤſtlichen Theil von Inner⸗Afrika unmittelbar vom nubifchen Nilthale und 
unmittelbar von Aegypten und den Bedninen⸗Staͤmmen bergeleitet, welche, in dı 
des 7. Jahrhunderts Anır Iba el Aas nad) diefem Lande begleiteten und den vorzü 
Antheil am der Eroberung beffelben hatten. Ihre Nachlommen, die heutigen 
in Nubien und auch in Kordofan, — woſelbſt jle, foweit fle Beduinen geblieb 
Bakara heißen, weil fle Rindviehzucht treiben und alfo Kühe, Balar, anfziel 
erfennen es ausdrücklich an, daß ihre Voreltern über Aegypten aus dem Hedſch 
gewandert find; und Die Namen vieler Stämme, die im Innern des Sudan bie 
ale Nomaden, zum Theil aber auch als fephafte Landbauer verbreitet find, 
aufs Lebhafteſte an Die noch jeßt im Hedſchas lebenden Beduinen. Died gebt u 
leglich aus den übereinſtimmenden Nachweifungen hervor, die wir über die Ara 
afrtkanifchen Binnenlandes von mehr als einen Berichterftatter erhalten haben 
einer andern Seite tft behauptet worden, daß alfe Araber in dem ganzen, 
Nubien und den Negervölkern liegenden Ländergebiete ſich AI Arab Abu Sett 
denn nach einer bei ihnen allgemein angenommenen Ueberlieferung foll ein Hel 
Namens zu derſelben Beit, ald Amr Iba el Aas Alerandrien eroberte, von Ien 
das Rothe Meer überſchritten haben, und an einer Stelle, die noch heut zu 3 





Sudan, und alle Araber in. Dar Zur, in Wabdai, Bornu u. f. w. follen ihren Urfprung 
in diefem zweiten Auswanderungd-Strom haben, der zu derfelben Zeit, als die nörd⸗ 
lichen Geſtade Afrika's überfluthet wurden, fich längs des Fußes der Gebirge Mittel- 
Afrika’ verlief. Sie follen echte, unverfälfchte Araber fein, auf welche, fo wird 
behauptet, nicht einmal der Islam einen befonderd tiefen Eindrud gemacht babe. 

Alle Bewohner der Ränder am Nil, auch von Dongola aufmwärtd über Chartum 
Hi8 Sennar, und alle übrigen echt arabifchen Volkäftänmme bi nach Bornu bin, 
fprechen, mit fehr feltener Ausnahme, Feine andere Sprache, als die arabifche, jedoch 
giebt es unter ihnen eben fo viele Mundarten. Gewiffe Stämme legen indeß einen 
großen Werth auf die Reinheit der Sprache. Beſonders find die in Scheedy, im 
nubijchen Nilthal lebenden Dichaalein ftolz darauf, daß fie ihre arabifche Mutterſprache 
zein und unverfälfcht fprechen. 

. Alle Araber, auch die afrifanifchen, fehen mit Verachtung auf ihre Nachbarn 
herab, denen fie dafjelbe Beiwort „Adfchem“ beilegen, dad der Koran allen Nationen 
giebt, welchen die arabifche Sprache fremd ifl. Diefes Wort wird von den Arabern 
einerfeitd auf Perflen und andrerfeits auf die Linder der afrifanifchen Küfte, die Ara- 
bien gegenüber liegen, angewendet, wo verfchiedene Sprachen gejprochen werben. Diele 
Ränder find den Bemohnern von Jemen und des Hedfchad noch heute unter dem Namen 
Barr el Adſchem bekannt, unter welchem man die ganze Küfte von Suakin bis Bars 
bara, ohne die abyſſiniſche auszufchließen, begreift. Und bier ift eigentlich das Regnum 
Adjamiae der älteren europäijchen Geograpben zu fuchen. Hierdurch erklärt fich ein 
großes Mißverſtaͤndniß eines neuern Neifeberichtd von Anno 1851, menn darin von 
den Volksſtaͤmmen zwifchen dem Nil und der Küfte gejagt wird, daß fle nicht Arabifch, 
fondern „Aggem“ fprechen, und daß dieſes Aggem die größte Aehnlichkeit mit der 
Sprache der Bilchariche habe! ! 

Seit den Kindertagen ift einem Jeden von und Deutfchen das Wort Mohr, oder 
richtiger Maure, geläufig, indem damit ein fchwarzhäutiger Menſch, homo niger, bes 
zeichnet wird, infonderheit aber das arabifche Volk, das einft die pyremäijche Halbinsel 
eroberte und fle im früheften Mittelalter zum blühendſten Kulturlande Europa's ſchuf. 
Der Name der Mauren ift durch Auswechslung entflanden, indem ſich die Araber auf 
dem Boden des alten Mauritaniens mit den berberifchen Ureinwohnern nach und nad 
vermifchten, denen fle den Koran brachten; der Name Mauritania aber fcheint in eimer 
der jemitifchen Sprachen feine Wurzel zu haben, fo namentlich im hebraifchen Worte 
Mahur, d. i. Abend. Auch bat man ihn auf das griecdhifche Apaupoc, d. i. dunkel, 
dunkelfarbig zurückführen wollen. Gewiß fcheint ed zu fein, daß die heutigen 
Mauren, die im Meiche Marokko Städte und Dörfer bewohnen, ein Gemijch verichie 
dener aflatifcher und afrikaniſcher Völkerfchaften find, deſſen Hauptbeſtandtheil Verbern 
und diefenigen Mauren bilden, die nach der Eroberung Granada's, 1492, aus Spa 
nien vertrieben wurden, und im dußerften Abendlande Afrika's eine Zufluchtftätte fanden, 
wo das heutige Gefchlecht der Mauren alle Lafter, aber kaum eine der Tugenden feiner 
Borfahren zeigt. Uber außer dieſem Mifchvolke giebt es im Meiche Maroffo auch echte 
Araber, die theils ſeßhaft ſind, theils als Beduinen ein Wanderleben führen; und von 
diefen Beduinen ſtammen die Horven reiner Araber ab, die fich laͤngs der Küfte des At⸗ 
Iantifchen Oceans bis über das Weiße Vorgebirge hinaus verbreitet haben, und ihrer 
fhönen WMutterfprache, der reichften der femitifchen Sprachen, überhaupt eine Der reichfien 
Sprachen der Welt, treu geblieben find. Andere Araber-Stämme diefer Gegenden aber 


haben fich mit Amazirgben und Tuaregs gemengt, woraus abermals ein Baftard- Boll, 


mit einer Baftard- Sprache, entflanden ift, welches in den fühlichen Strichen der Sa- 
hara vom Atlantifchen Ocean bis zu den Grenzen von Hauſſa und Kafıhna, Kaſſena, 
ald wildes Haubgefindel umberfchwärmt und eine Zone füllt, die die zerftreuten Haufen 
der reinen Araber und die Bollsmaflen des Terga von den Senegambifchen und Sudan- 
Nationen trennt. 

Der mobhanmebanifchen Zeit, und zwar dem graueften Altertyum gehören die 
Wanderungen der Araber nah Habeſch ober Abyffinien, Wbefllnien, an, wo'fie 

















SERFARUUG UN) DER GELTEN Vorſtenungen DER OLEWER aue SOME DELBURDER TURM 
den, die den füdlichen Rand der bekannten Erde bewohnten. Daß die Abeſſtnier nicht 
von einer. altägpptifchen Colonie hergeleitet werden fönnen, wie man es wohl verfudht 
bat, fondern daß fie aus Arabien flanımen, ergiebt ſich aus vielen Ueberlieferungen des 
Landes, ganz befonderd aber aus der Innigen Verwandtſchaft der Sprachen. Schon 
im der berühmten Volker⸗Genealogie des Mofes (I. 10, 7.) werben von Kufch, welches 
man gewöhnlich Durch Aethiopien überfegt, Voͤlkerſtaͤmme abgeleitet, die theils im ſud⸗ 
lichen Arabien, theild im gegenüberliegenden Afrika, dem heutigen Habeſch, zu fuchen 
find. Auf die Annahme einer von Arabien ausgewanderten Eolonie, die, auß mehreren 
Stämmen zufammen gelaufen, ſich jenſeits der Meerenge freie Wohnflge fuchte, leiten 
und aber die Namen, welche das Volk theild bei den Arabern führt, teils fich ſelbſt 
beilegt. Bei den eriteren beißen die Abyſſinier Habafch, pas Land Habaſcha, d. i. eim 
aus mehreren Stämmen zufammen gelaufener Haufe, weshalb fie auch felbft biefen 
Namen fich nicht gern beilegen, in der Schriftſprache auch nicht gebrauchen, obgleich 
im gemeinen Leben Habeſch vorfommt. Dagegen nennen fie felbft ihr Reich Gees ober 
Medra⸗Agasgam, d. i. Land der Ausgewanberten, ober auch Meich der Breiten. Wahr» 
fcheinlich, aber ohne hiſtoriſches Zeugniß, Doch weſentlich geflübt durch die neuen Ent 
dedungen über die bimjaritifche Schrift und Sprache, ift die Vermuthung von Eich» 
born, daß diefe Eolonie unter Abd-Schams oder Saba, dem Vater des Hamjar, um 
den Bebrüdungen diefed Tyrannen zu entfliehen und im Beſi ihrer Freiheit zu bleiben, 
das jenſeitige Ufer geſucht habe. Spaͤterhin bat das Volk auch dem griechiſchen Na⸗ 
men der Aethiopier, Aibiorec, dad Bürgerrecht ertheilt, und nennt ſich demgemaͤß 
Itjopjamfan, fein Reich Mangheſta⸗Itjopija. Die ätbiopifche Sprache führte bei dem 
Volke felbft den Namen Geez⸗Sprache, Refana Gerz, und nach ihrem Berflingen im 
. Munde des Volkes Lefana Mazchef, Bücher» Sprache, im Volksdialekt Mez- Hafenja. 
Sie wird gar nicht mehr vom Volk gefprochen, wohl aber ift fie noch die Sprache 
des chriftlichen Gottesdienſtes, der fich auf dem Hochlande von Habeich erhalten hat, 
und der Literatur des Landes, und wird von allen f. g. Gebilveten, dem Könige, ſei⸗ 
nen Räthen, den Geiftlihen und Mönchen verftanden. Dagegen ift fie faft ausſchließ⸗ 
lich Schriftfprache, felbft für den Privatbriefmechfel. Als Umgangssprache ift die Geez⸗ 
Sprache von der ambarifchen, Lefana Amhara, verbrängt worden. Obgleich ein Dia- 
left des Aethiopiſchen, und alfo femitifchen Charakters, hat das Amharifche doch mehr 
Fremdartiges, als feine Mutter- und als feine Schwefterfprache, das Tigre’fche, welches 
die größte Aehnlichkeit mit dem Aethiopiſchen behalten hat; denn in ber -Provinz 
Tigrö hatte dad Geez feinen Mittelpunkt. Die Sehe, die ihre Lagerpläpe an Den 
öftlichen Abhängen des abyffinifchen Hochlandes haben, bildeten vielleicht Die Nachhut 
jened vormohammebanifchen Völferzuged aus Arabien, ver auf einheimifche Bevöllkerun⸗ 
gen traf, die er zwar zu unterwerfen, nicht aber auszurotten vermocht bat; denn das 
Ague, die Sprache einer diefer Urbevölferungen, ift in einigen Provinzen faft aus⸗ 
fchließlih, in anderen aber, wo fle von der Sprache der femitifchen Eroberung ver⸗ 
drangt wurde, noch bei den niebrigften Klafien in Gebrauch geblieben, von denen einige 
als audgefloßene, vechtlofe Kaften betrachtet werden müflen. Mit ihren damaligen - 
Drangern erbulden fie daſſelbe Schickſal der Zerfprengung und Bernichtung auch in 
unferen Tagen noch durch dad mächtige Volt — 

Der Gallas, das mit den ihnen fprachverwandten Somalis und Danagil den 
ganzen Oſten von Afrifa befegt hält, vom 49 ©. bis zum 140 N. Breite, einer Seitd 
längs der Küfle von Mombas bis über die Straße Bab⸗el⸗Mandeb hinaus, anderer 
Seits bid zu einer noch unbekannten Ferne tief im Innern des Hochlanded. Tulu 
Walal beißtgfn den Sagen der Gallas ihre Urbeimath, von der fie es wohl ſelbſt 
nicht wiflen, fie zu fuchen ift, fonft würde Die Sage fie nicht alfo, d. h. unbekann⸗ 
ter Berg, nennen. Bon da find fie ausgezogen gegen Norden und gegen Oſten, und 
fett Anfang des 17. Jahrhunderts zuerft als Fuß⸗, dann als Reitervolk in den füd⸗ 
lichen Provinzen des damald mäßigen Abyifinifchen Reichs erfchtenen, deſſen Bevölke⸗ 
rung fie in feilfürmigen Colonnen auseinander gedrängt ober umzingelt haben. Das 
Galla⸗Volk rüdt noch immer vorwärts, allein feine Anddehnung fällt nicht in bie 








MEBSLHEI OVEyDgi ver im Zuſammenhang JIEHENDEI Wohnſiße DIL gioßen YOWarsı- 
kaniſchen Voͤlkerfamilie. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß auf 
dieſem Vorpoſten der Volksſtamm ftebt, den wir feit den fräheflen Schifffahrten ver 
Bortugiefen unter dem Namen Ambofer oder M'Bozes kennen, Er ift 5° eines größ⸗ 
ten Kreifes nördlich vom Gabun und den M’pongorias, von denen wir, wie oben be⸗ 
merkt, wifien, daß fie im Umfange des bochafrifanifchen Völkerkreiſes liegen und fchiebt 
dieſe Peripherie auf der Abendſeite bis zum Parallel von 69 oder 79 N. Breite vor. 
Auch von dem mächtigen Bolf 

Der Fulaher, Bulbe, Wellatas ıc., dad füch feit einem Jahrhundert und im 
Lichte Der Gegenwart durch feine nach Oſten gerichteten Eroberungszüge und feinen 
Fanatismus in der Verbreitung des Islam und deſſen Eivilifation chen jo hervorthut, 
ald die Araber in den erften Jahrhunderten nach der Hedſchra es thaten, wird behaup⸗ 
tet, daß ed mit den Völkern des Tafellandes von Hoch⸗Afrika ſprachverwandt fei. Er⸗ 
weißt fich Diefe Anficht ald begründet, fo befigt Afrika einen Sprache und Voölkerſtamm, 
der nach feiner Verbreitung auf gegebenen Raume der indogermanifchen Volker⸗Familie 
in Alten und Europa nahe: gleich ſteht. Denn die Fulaher haben ihre Stamm⸗ und 
auch jegt noch ihre Hauptfige in demjenigen Theile von Nord Afrika, den man Hoch⸗ 
Sudan nennt, in den Quellbezirken der Gambia, des Senegal, des DicholibasQnvsra; 
aber. fie find Anfangs als friedſame Handeldleute, in der Folge ald fanatifirte Anhänger 
des Bropheten berabgeftiegen gen Morgen, der Kanba entgegen, in die Länder des 
flachen Sudan, dad Schwert und den Koran in der Hand, Alles vor fich überwälti- 
gend und neue Gleiche ſtiftend, bis nach Bornu bin, wo ihre Züge einflmeilen eine 
Schranke gefunden haben. Als ethnographifches Curioſum möge noch angemerkt wer- 
den, daß man die Fulaher in ein Berwandtfchaftsband mit dem Malayen-Bolf gebracht 
bat, eine wilde Behauptung, die mit einen Aufwand von Gelehrfamkeit und philolo- 
gifhem Scharfiinn zu begründen verfucht worden iſt, der eincd befleren Thema würdig 
geweien wäre! Nachbarn der Fulaher in ihren Heimathlande des hohen Sudan [Ind 

Die Mandingo'g, neben jener die zahlreichfte und mächtigfte Nation im weil 
lichen Theil von Mittel- Afrika, zugleich das gemerbfleißigfte Volk, dad den ganzen Han⸗ 
bel diefer Gegenden von Afrika in Händen hat. Die Manbinge’s fpalten ſich in eine 
Menge größerer und Eleinerer Völkerfchaften, veren jede ihre eigene Sprache fpricht. 
3a es werben einige Dialekte ald Schweitern oder Töchter anzufehen fein von Der 


‚ Rutterfpradye, welche von den eigentlichen Mandingo's geiprochen wird, deren Urheimath 


am Dieholiba, den Oberlauf des Quorra, zwijchen 109 und 110 M. Br. zu liegen 
fheint, Ganz befonderd audgezeichnet ift dieſer Sprachflanm dadurch, daß er unter 
allen Völkern reinfter afrikanischer, d. i. äthiopifcher over Neger⸗Race, das erfle Bei- 
ſpiel einer Schriftiprache mit eigenthümlichen ſyllabiſchen Schriftzeichen barbietet, die 
acht Eingeborne wor 20 oder 30 Jahren erfunden haben, — eine Entdeckung der neuc⸗ 
fen Zeit, 1849, die zu den wichtigften Ergebnifien gehört, welche jemals im Felde 
afrifanischer Bölfer- und Sprachforfhung gewonnen worden find; abgefeben davon, 
daß die Erfindung ſelbſt, deren fich viele Volkerſchaften gleiches Sprachſtammes rajch 
bemächtigt haben, ein großes Mittel zur Foͤrderung und Berbreitung ber Geflttung 
werben muß.. Diefe gefchriebene Sprache wird von den Veis, Feys, Weiß geiprochen, 
einem Kleinen, kaum 15,000 Köpfe zählenden Voͤlkchen, aber unternehmender, flolzer und 
friegerifcher, ald die meiften feiner Nachbarn, das jetzt das Küflenland von den Galle: 
nad bis zum Kap Mount in einer Ausdehnung von 30 Meilm nad) dem Innern bes 
wohnt und feinen Ueberlieferungen zufolge in unvordenklichen Zeiten als Kriegsſchaar 
dad Mandingo- Land verlaffen, auf feinem Zuge nach und nach verfchievene Laͤnder bes 
rührt und ſich zulegt in Wakoro, dem jebigen Vei-Lande, niebergelafien bat, wo es 
fon dem Skiavenhandel fehr ergeben war. Diefe hiſtoriſche Nachricht findet in philo= 
logiſchen Unterfuchungen ihre Beftätigung; denn diefe haben erwiefen, daß das Bei und 
dus Mandingo Schweiterfprachen find. Mit der BeisSprache verwandt ift die ber 
Dey8, eines noch Eleineren Völkchens, das die Küftengegend vom Kap Mount bis sum 
Kap Montferado inne at, und wilder, zugleich aber auch träger und harmloſer ift, ald 
Dat Vei⸗Volk. 





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kurz gedacht werben. Die Eingebornen von Mobba oder Wabai haben eine Sprache, 
die verfchieden ift von den Zungen aller Nachbarvölfer, wiewohl Spuren von Affinität 
nicht zu verkennen find. Aber außer biefer eigentlichen Landesſprache ſpricht man in 
Wadal eine große Menge andrer Zungen, deren Zahl bald auf 20, bald fogar auf 
40 angegeben wird. Aehnlich verhält ed fi in Bornu, mo außer der eigentlichen 
Kandeöfprache der Bornuefen 30 verfchiedene Sprachen gang und gäbe fein follen, 
Diefe merkwürbige Erfcheinung des Vorkommens fo vieler Idiome auf verhältnipmäßig 
kleinem Raume läßt fich vielleicht Dadurch erklären, daß Wabai und Bornu Paſſage⸗ 
länder find gwifchen der Zone der Araber und Berbern, ben Völkern des Islams, 
und der Zone der eigentlich ſ. g. Neger, die noch nicht zur Fahne ded Propheten ge 
fhworen haben, und die nicht allein für jene nörblichen Bölker, fondern auch für die 
mohanımedanifchen Beherrfcher ded Sudan, von jeher das Ziel von Menfchen » Jagben 
gewefen find, wie ſchon oben gefagt wurde. Vom Sultan von Wadal im Befondern, 
wird verfichert, daß er häufig Streifzüge in die ſüdlichen Känder unternehme und von 
den bort eingefangenen Leuten, Männern, Weibern und Kindern, in feinem Lande neue 
Dörfer anlegen laffe, indem er died für nüßlicher halte, ald fie an Sclavenhändler aus 
Aegypten, von der Nordfüfte, zu verlaufen. Man nennt diefe Neger in Wadal allge 
mein Dſchungurih, was fo viel ald Kafin, Uingläubige, heißt. Diefe Colonifationen 
dürften als Die Urſache der vielen verfchiedenen. Sprachen in Wabaı anzujehen fein, 
unter denen aber die von Tama und Rungu Eingebornen anzugehören fcheinen. 
Aehnlich find die Verhaͤltniſſe in Bornu, das zwar ein großer Meßplatz für den, burd 
Mauren betriebenen Sclavenhanvdel ift, defien Bewohner aber ben größten Theil der auf 
den Menſchen⸗Jagden in den fühlichen Kändern Eingefangenen im Lande behalten, und 
zu häuslichen Dienften verwenden. Das Sangai, die Sprache der Kiffurd oder N'kizars 
im weftliden Sudan am Oberlauf des Quorra, ift rabical verfihieden von der Haufla- 
und der Bornu= Sprache und kann, örtlich in der Mitte ftehend zwifchen dieſen Zun- 
gen und denen der Fulahs und Mandingos, nur al8 eine felbftftändige Mutterſprache 
betrachtet werden, mindeſtens in Bezug auf ven Wörterfchab, obwohl im grammatifchen 
Sinn eine entfernte Verwandſchaft mit den Idiomen des öſtlichen Sudan aufgefunden 
werden mag. 

Das Niederland von Senegambien, fo wie der größte Theil von Gui⸗ 
wea, oder der Küftenftrich, welcher fi von der Mündung des Senegal bid zum Alt 
Galabar und dem Cameruns⸗Fluſſe erſtreckt, ift unter eine Menge Fleiner Völker ver 
theilt, die, von den Mandingos unterbrochen, räumlich in zwei Wbtheilungen Einer 
Kette zerfallen, ſprachlich aber als einzelne, ſelbſtändige Glieder verfelben aufzutreten 
ſcheinen. 

Wir nennen von dieſen Völkerſchaften die Woloffer, die ſchwaͤrzeſten von 
allen Negern, doch ohne die ganz platte Naſe und die dicken Lippen, die ſonſt ihren 
Menſchenſchlag kennzeichnen; — ſodann die Strawillis oder Serakoleten ıc., bie 
mit den Mandingos als Handelsleute wetteifern, und deren Sprache, die von den 
Nachbarzungen radical verſchieden ſein ſoll, in einem großen Theil des nördlichen 
Mandingo- und Fulahlandes als Handelsſprache erlernt wird; — ferner die Baſſos, 
füdlih vom Gap des Montferabo, die als ein mildes, frienfertiged und in gewiſſem 
Betracht ald ein gewerbthätiged Völkchen gefchilbert werden; und weiter gegen Süden — 
das Volk von Mena oder Kru, gemeiniglih Krumänner genannt, das ausgezeich⸗ 
netfle, geiftbegabtefte und merkwürdigſte auf der ganzen Küfte von Weſt⸗Afrika. Man 
faßt unter diefem Namen der Krumen (englifch) die |. g. Fifchmänner und dad Wolf 
von Sektra Kru und von Mifu zufammen. Sie fprechen cine bis zu gegenfeitiger 
Mittheilfamkeit verwandte Sprache und haben manche Denk- und Handlungsweiſe, auch 
fo manchen Aberglauben gemein, find aber durch Fein politifches Band mit einander 
verbunden, fondern ftehen nicht felten in offener Beinpfeligkeit einander gegenüber. Die 
Krumen find vorzügliche Seeleute; welcher Gapitain einen gelehrigen und anftelligen, 
einen willigen und folgfamen Matrofen ſucht, — und welches Schifföhaupt bat den 
nicht gern? — der fegelt nach Sektra Kru, wo er jeboch nicht immer gewiß fein kann, 














gemacht. 

In der größeren Oſt⸗ oder Guinea⸗Abtheilung der weſt⸗ afrilanifchen Völkerkett 
kennen wir an der Zahn oder Effenbeinküuſte vom PBalmen-Borgebirge bis zum Sent 
flufie die Odſchins, die Ghiomas und die Guaguas, ein Name, der an bei 
einheimifchen Namen des füblichften der afrifanifchen Völker erinnert, was zu der feb 
gewagten Muthmaßung Anlaß gegeben hat: die KHottentotten könnten in Guinea ibr, 
Urheimath haben und möchten durch irgend einen Völkerfirom in die Wohnſitze gedraͤng! 
worden fein, wo die Europäer fie vor viertehbalb Jahrhunderten kennen gelernt haben 
Die Aland, bekannter unter dem Namen der Afchantis, bilden an der Goldküſt 
das mächtigſte Voll. Es fpricht die N'ta⸗Sprache, jo genannt nach einer im Innere 
liegenden Stadt Inta, die in den Meberlieferungen der Aland für ihre Urheimath gilt 
Die Sprache fpaltet fich in die Fanti-Mundart an der Küfte und die Amina⸗Mundar 
im Binnenlande. Nicht überall treten die Wohnfige der Aland unmittelbar an di 
Küfte. Bor ihnen wohnen auf einem fchmalen Striche des Geftabelandes die Akraer 
N'kraer oder Ghas, die ſich von den Aſchantis durch Körperbildung, fo wie in Sprache 
Megierungsweife und religidfe Vorſtellungen durchaus unterfcheiden. Weiterhin folgen 
die Dahomaner oder Jover, wie fie ſich felbft nennen, und deren Wohnflge fich wel: 
in’® Land hinein erftredlen. Ihre Sprache, die Andra, auch Aofchire genannt, ift ein 
felbftfländige, doch eine der aͤrmſten, Die es in Afrika giebt, und, wie e8 foheint, die 
Mutter mehreter Töchterfprachen, die fich bei näherer Bekanntſchaft vielleicht im eben 
fo viele Mundarten auflöfen. Oeſtlich von den Foyern treffen wir die Ejaoſen und Jebus, 
Die zufammen nur Ein Volk mit Einer Sprache bilden. Diefe beißt bei den Ejeofern, 
den Bewohnern des Binnenlandes, Zarriba Ako, von dem das Nuſt eine Schweſter⸗ 
fprache oder gar nus ein Dialect if. Jebus iſt der Name der Küftenbewohner dieſer 
Ration, deren Urfprung man aus Bornu hergeleitet bat, was noch näherer Unterſu⸗ 
hung bedarf. Die räumliche und linguiſtiſche Stellung und Trennung der Benind 
und ber Ibuer im Delta des Quorra läßt auch viele Zweifel offen. Und fo verhält 
e8 fich mit einer Menge anderer. Sondernamen von Volksſtaͤmmen, "deren Zungen 
Wörter Berzeichniffe geliefert haben; man weiß nicht recht, in welchen Raum ber afri⸗ 
kaniſchen Erde ſie geftellt werben follen. 

Was die Infeln und Archipelage betrifft, die man im geographifchen Sinne 
zu Afrika zu rechnen pflegt, fo ift auf Madeira, ven Eanarifchen und ben Infeln 
vor dem grünen Vorgebirge die Urbevölferung, feitvem fie mit. Europäern in 
Berührung gekommen, gänzlich ausgerotiet. Weiß man Doc nicht einmal mehr, was 
für ein Volk den zulegt genannten Archipelagus bewohnte, ala im 15. Jahrhundert 
die Portugiefen unter Schug und Schirm ihres Prinzen Heinrich, ded Seefahrers, da⸗ 
hin gelangten; auf den canarifhen Infeln aber waren es Berbern, vielfeicht auch auf 
Madeira. Auf den Infeln im Meerbufen von Guinea hat fich die einheimifche Bevöl- 
terung erhalten, denn dieſe Infeln find von den europäifchen Maͤchten, die auf ihren 
Beſitz Anfpruch machen, ungenugt geblieben. Die Sprache, die dad Voll von Fernas 
do Bo, vielleicht auch auf den andern Infeln fpricht, wird in den Wörterverzeichnifien 
Aedeijah genannt. Auf der andern Seite des Feſtlandes von Afrika bilden die Co⸗ 
morosInfeln, wofelbft ein durch arabifchen und andern fremden Einfluß ſtark ver- 
änderter Dialekt der Moſſambik⸗ over Zanzibar- Zungen gefprochen wird, für und bie 
Brüde zum Uecberfchreiten nah Madagaskar, jenem großen Infellande von 10,000 
Dudr.» Meilen Fläche, dad die merkwürdige Erſcheinung darbietet, geographiſch wie 
anthropologiſch ein Beftanbiheil von Afrika zu fein, fprachlich aber einem ganz andern 
Voͤlkerkreiſe anzugehören. 

Madagaskar ft von drei fehr verfchiedenen Menjchenklaffen bewohnt. Die 
Eingeborenen der Weftfeite Haben mit den Bewohnern Der gegenüher liegenden Küfte 
von Afrika viele Aehnlichkeit in der ganzen Körperbilhung, kurzes, Fraufes Saar ıc. 
Der zweite Menfchenfchlag ift derjenige, deſſen Vorhandenſein auf Madagaskar noch ein 
zu Töfendes Problem if. Er lebt in den nörblichen Gegenden der Infel und hat weder 
mit den Bewohnern der Weſtkuſte, noch mit denen ver Oſtküſte Nehnlichkeit. Alles 

Wagener, Strats- u. Sefellfch.-Ler. 1. 30 





von Arabern, aber auch von Hebräern, halten. Sie find das jchönfte, wohlgebilbetite 
Geſchlecht unter den Mabafaffen, große, ebenmäßig gebaute Menfchen mit uffenem Ge 
ficht, enlen Zügen u. f. w. Erwaͤgt man biefe Verſthiedenheit des Urſprungs, ſo iſt die 
Einheit der Sprache des madakaſſiſchen Volks ein anderes Problem; dieſe Sprache iſt 
nicht eine afrikaniſche, ſondern gehört zum Kreiſe der mala yiſchen Sprachen, die, als 
wirkliche Handelsſprache, hier auf Madagaskar den äußerſten Weſten ihres Verbreitungs⸗ 
bezirks erreichen. Die Madakaſſen ſpalten ſich in eine große Menge von Staͤmmen, 
Darunter die Sakalawen der Weſtküſte, die Vetanimenen der Oſtküſte, die ſich oft feind⸗ 
Tich gegenüber geftanden haben, jetzt aber unter der Herrfchaft des im Inneru der JInſel 
feßhaften Stammed der Howas vereinigt find; nicht deſto weniger werden auf dr 
Inſel nur zwei Hauptmundarten gefprochen, die nördliche und die fübliche. Kine an- 
dere Merfmürbigfeit ift Die, daß die malayiſche Sprache auf Madagaskar dem tagalijchen 
auf den Philippinen unter allen malayifchen Idiomen am nächften ſteht. Wan ermäge 
den ungeheuern Raum, der Madagaskar am Oſtrande von Afrika von dem Phillppl- 
nen-Archipelagus, auf der Außerften Morgenwocht von Alten, trennt; man ermäge bie 
vielen anderen Malayen-Länder, die vor den Philippinen liegen! Waren e8 tagaliſche 
Seeleute, die, den NO. Monfur benugend, in den Indifchen Ocean hinausſchifften und, 
vom Paffat getragen, an Madagaskar's Küfte Iandeten? Die Sprache auf Madagaskar 
enthält aber auch viele arabifche Wurzeln; ja man fpricht fogar von phönizifchen Wur- 
zeln, die fle enthalten ſoll, was der Zerſtreuung der Flotten zugefchrieben wird, bie 
König Salomon in Ezeongeber ausrüften ließ, um Gold von Ophir zu Holen, dad 
man an die Küfte von Zanzibar zu ſetzen pflegt; denn der gröfite Theil der Seeleute 
auf den falomonifchen Flotten befland aus Phöniziern. 

Man bat viel von einem Zwergvolke auf Madagaskar gefabelt; Dagegen leben in 
den unzugänglichen Gebirgen des Innern die f. g. Vinzimbern, die, weil fle nicht dad 
wollige Haar des afritantfchen Negerd, fondern langes und glatte8 Saar haben, zum 
Menfchenfchlage der Alforas zu gehören feinen. (©. d. Art. Madagaskar.) — 

Menfchenfreunde in England und in den Vereinigten Staaten von Morbamerifa 
Haben, jene im legten Jahrzehnt des 18., dieſe im zweiten des 19. Jahrhunderts an 
der Weftfüfte des tropifchen Afrika Eolonieen zu dem Endzweck geftiftet, viejenigen 
Sclaven der Neuen Welt, welche durch Loskauf oder Durch Schenkung ihrer Herren 
die Freiheit erlangt Haben, in ihrem heimatblichen Erbtheile anzufleveln, und dieſe 
Breigeworbenen zu vernünftiger Selbſtbeſtimmung fähig zu machen, zugleich aber auch, 
um durch fle, melde drüben in Amerika mit der chriftlichen Lehre, mindeftend mit 
den Formen der Kirche, einen gewiffen Anftrich europäifcher Gefittung erlangt haben, 
auf ihre, in allen Banden des craffeften Heidenthums ſchmachtenden Landsleute wohl⸗ 
thätig einzumirfen. Die englifche Colonie ift die von Sierra Leone; die ameri⸗ 
Fanifihe die von Liberia, welche das Land Dorukoro, der Eingebornen, enthält und 
fih von Manna im NW., wo das Land die Gallenad zu Grängnachbaren hat, bis zu 
Grand⸗Seſters im D. gegen 87 d. Min. längs der Küfte erſtreckt, bei 10 Min. Durd- 
Fipnittößreite nach dem Innern, alfo beiläufig 870 Q.⸗Min. groß if. Maryland— 
Eolonie ift eine fpätere Anſiedlung der Amerikaner. Sie beginnt bei den Grand-Gr 
fter8 und enbigt am Petersfluffe, eine Strede, die zu Lande 30 d. Min. beträgt. Dieft 
zweite Colonie bildet einen Beſtandtheil von Liberia. Man hat diefem Fleinen chrift 
lichen Negerftaate, nach dem Vorbilde des Heimathlandes feiner Stifter, eine republie 
Tanifche Verfaſſung gegeben, unter der bie angefledelten ehemaligen Sclaven ein mate 
riell ſowohl als moralifch geordnetes Leben führen und im Beſitz all’ der Wohlthaten 
ſich befinden, welche hriftliche Geflttung gewährt. Doch hat man nicht gehört, daß fl 
einen wefentlichen Einfluß auf ihre heibnifchen Nachbarn ausgeübt hätten. Die Colonie 
von Sierta Leon dagegen muß als geſcheitert angeſehen werden. 

(Religion) Mit Ausnahme der Kopten in Aegypten und ber Abeffinier, die 
beide, was von den letzteren bereits geſagt wurde, der Heilslehre durch Jeſum Chriſtumn 
zugethan find, (freilich unter dem Einfluß verrotteter Kirchengebraͤuche, mehr dem Namen, 
ale dem Weſen nach), iſt der Islam in ganz Nordafrita die hertfchende Rellgion. 


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Abendland, von dort hat er die Sahara durchmeſſen nach dem hoben Sudan, wo er 
den rößten Theil des Mandingo » Volkes für fi gewonnen Hat, und infonderheit bie 

—* dieſe muthigen Streiter für den Glauben an alla ‚ den einzigen und alleinis 
gen Gott, den fie mit euer und Schwert bis in's Innerfte des Sudan getragen und 
fomit eine neue Saat unter ganz wilden Völkern ausgeflreut haben. Es ift noch nicht 
ermittelt, was die Urfache geweien, daß es dem Islam nicht gelungen, den Fetifchdienft 
in Den Küftenländern anı Meerbufen von Guinea zu vertilgen; denn von der Mündung 
des Senegal bis zur Mündung der Duorra herrfiht dad Heidenthum in den ſchmach⸗ 
sollften,, den menfchlichen Geift entwürbigendften Formen und mit einer Zählgkeit, vie 
das Evangeliuni vergeblich zu übermwältigen gefucht bat. Glücklicher find die chriftlichen 
Sendboten unter den Völkern der bochafrifanifchen Familie gewefen, wo es Ihnen ge⸗ 
lungen iſt ganze Gemeinden um ſich zu verſammeln und den Glauben an den Erlöfer 
der Welt zu verbreiten. Hochafrika ift in der That ein eben fo großes, ald dankbares 
Feld für die Thätigkeit der Mifften. Das Heidenthum, das fie bier zu befämpfen bat, 
ift nicht fo tief in Nacht verfunfen, wie das der Guineaküſte. Die Völker Hochafrika’s 
find bilbfaner und empfänglither für bie Wahrheit, als die Völker der Guineaküſte; 
und darnm Hat die Mifiton bier große Fortfchritte gemacht. Mit großem Erfolg haben 
auch die Jeſuiten im weftlichen Theil von Hochafrika gewirkt, als fe, im vorigen Jahr⸗ 
hundert aus Portugal vertrieben, nach Angola und Benzuela fich wandten, um ben 
dortigen Negervölfern dad Evangelium zu predigen. Die Gefellfehaft Jeſu forgt für 
beftändige Ergänzung ihrer Mifftonäre. 

(Gefellfhaftd- und Staatdverfaffung.) Da die gefellfchaftlichen Ein» 
richtungen einer Summe von Einzelmefen ein Ausfluß find des Bodens, auf dem 
und von dem die menfchliche Gefellfhaft Iebt, fo müflen dieſe in einem Erdtheile 
wie Afrika, wo die Bodenbefchaffenheit bald zum umherirrenden Jagd⸗, bald zum 


nomadiſtrenden Hirtenleben zwingt und verhältnigmäßig nur felten ein jeßhaftes Ader- 


Bauleben geftattet, ſehr mannichfaltig fein, daher man denn auch in Bezug auf Me- 
gierungsmeife der Geſellſchaften alle Formen findet, vom Patriarchalismus des Stam- 
med bis zur abfoluteften, bis zur conftitutionellen Monarchie, bis zur Republik als 
Ariftofratie und Demokratie, die auch unter afrikaniſchen Völkern in Oligarchie ausarten 
kann. In den mohamedanifchen Ländern iſt natürlich der Koran das Geſetzbuch, das 
alle vorber beftandenen, auf Herkommen begründeten Gebräuche vernichtete, und wer kann 
&# lãugnen, ein geregeltes, wohlgeorbnetes 'Staatsleben geftiftet hat. So-im Innern 
des: Sudan. Der Osmanen Macht gebietet, freilich durch Vicekdnige, deren Treue 
gegen Stambul ſtets zweifelhaft bleiben wird, in ganz Nord⸗Afrika langs der Küfte 
des Mittellaͤndiſchen Meeres und weit in die Sahara hinein bis Murſuk und bis da⸗ 
Hin, wo Tunis endet. Don da weſtwaͤrts kommt man nach Algier, einſt einer tür- 
FRſchen Beſitzung, febt der Domäne deffelben Kaiſers, der für die Integritat des türs 


kiſchen Reichs ven Degen sejogen hat. 


Ein rein afrikaniſches Reich von Bedeutung, mit dem überbies Europa in Bes 
rährlmg ftebt, ft nur allein das Marokkaniſche Moghrib-el- Ara. (S. Maroffo.) 

Im‘ Innern des Sudan haben die mohamedanifihen Staaten der Fellatas, der 
Staat. Bornu, Waddi und Dorfur- (f. diefe Artikel) große Bedeutung, bishet 
jedoch nur fir den Bölkerkreis des Islam; den Chriften find fie noch verfchloflen. 
Gier iſt der Sig der aftifanifchen Gultur, die nicht gering anzufchlagen iſt, da Ader- 
bern und Viehzucht auf einer verhältnigmäßig hoben Stufe der Entwidlung ftehen 
und: Die mechanifchen Künfte in vielen Zweigen. der technifchen Gewerbthätigfeit Vor⸗ 
zügliches leiſten. Dieſe Zuftände flammen aus der vormohamedanifchen Zeit, erleiden 
aber- vielfache Einbuße durch Die haͤufigen Ummälzungen, welche durch gewaltſamen 
Wechſel der Perfonen ar bet Spitze ber Gefchäfte hervorgebracht werben. An der 
Buinenküfte Bat nur das Meich der Aſchantis einige flantliche Bedeutung; alle 
übrigen Volkerfchaften daſelbſt Hilden Fleine Gefellfchaften.. Und eben fo- ift es bei 
ven Hirtenvöffeen Hoch⸗Afrika's; unter ihren giebt es, fo weit man weiß, feine 
Nation, welche als leitende für einen großen Bezirk anzufehen wäre: alle dieſe Völker 
mit unzaͤhligen Namen Bilden Eleine Gefellfchaften, deren Weideplaͤtze oder auch 

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Des EIER DOSE MANDEL DUYHDYUUTTND zu deinoſelgltellen Und dungen AURURNEER 
Anlaß geben. 

(Eolonieen) Was die Niederlafjungen europälfcher Völker in Afrike 
betrifft, fo ift nur eine einzige derfelben von Bebeutung geworden: diejenige Colonie, 
welche Deutfche nieberdeutfcher Zunge, Auswanderer aus der Republik der fieben ver 
einigten Provinzen, am Vorgebirge der guten Hoffnung gegründet haben, und die feit 
1814 großbritannifcher Hoheit verfallen ik. Das Kapland, mie man diefe Golonie 
der Kürze wegen feit Ianger Zeit nennt, ift für die Gefchichte der Golonifationen, je 
man darf fagen für die Gultur eines großen Theild des afrikaniſchen Menfchheit um 
fo wichtiger, als es der Urfprung ift neuer europäifcher Staatögefellfchaften, die von 
Biehbauern der Eolonie außerhalb deren Grenzen geftiftet worden find; es find dies bie 
unter unferen Augen entitandenen zwei MNepublifen des Oranien⸗Stroms und jenfeitd bei 
gelben Fuſſes. Der Verf. diefes Artikels wird darüber befonderd handeln (I. Kapland). 
ALS ein römifcher Bifchof es ſich herausnahm, die „ultramarine“ Erde zu Gunften Spaniens 
und Portugals durch einen Meridian in zwei Hälften zu theilen, fielen alle Länder auf 
der Oftfeite den Portugiefen zu, die von da an Nieberlaffungen in Afrika zu gründen 
begannen, welche aber niemals, felbft nicht in den glänzendften Zeiten der portugieſiſchen 
Seeberrfchaft, e8 zu etwas Mechtem haben bringen Tonnen. Wie pomphaft es Tlingt, 
wenn ein portugieflfcher Hof⸗ und Staatskalender Gobernadoren in den „Eolonied ultra⸗ 
mar” in großer Menge aufzählt, die der Gothaiſche Hoffalender denn auch verkündet, inbem 
er einen geographifch - ftatiftifchen Schematismus von fo und fo viel taufend Quadrat 
Legoas Land und fo umd fo viel bunderttaufenden von Einwohnern binzufügt, — es 
it Doch Alles eitel Schein. Von Golonieen im eigentlichen Sinne, d. b. von An- 
flevelungen europäifcher Aderbauer, vie den Boden beftellen und ihm vie Früchte abe 
gewinnen follen, welche dem Kling entfprechen, ift weber im Gouvernement Moſ⸗ 
fambif noch im Gouvernement Angola⸗Benguala, noch in einem britten in 
Senegambien und den dortigen Infeln, die Rebe. Die portugieflfche Herrſchaft in 
diefen Gegenden von Afrifa beſchraͤnkt fich auf den Beſitz einiger fefter Punkte an ‚ver 
Küfte oder auf vorliegenden Eilanden, (mie z. B. Moffambif nicht auf dem Feſtlande 
liegt,) die militärifch befegt find, und auf einzelne Handels⸗Factoreien gegen dad Innere 
bin, wohin die Eingebornen ihre Grundzinſen, Lehnsgefaͤlle ac, abzuführen haben. Died 
Verhaͤltniß ſtammt aus jenen Blüthezeiten der portugleftfchen Herrſchaft, als ‚die Frie⸗ 
denslehre des Heilandes mit dem Schwert in Der Kauft und der Runtenflinte an ber 
Bade den Eingebornen von Kapuzinern, Dominilanern und anderen Kutienirägern 
aufgebrängt, und Dafür Ihre Häuptlinge mit den Titeln von Baronm, Bice= Grafen, 
Grafen, Markgrafen, Herzogen u. dgl. m. begnadigt wurden. Diefe Tächerlichen Zitel- 
Herrlichkeiten find längft untergegangen, mit ihnen verſchwand auch dad feurig einge 
impfte Kapuziner⸗Chriſtenthum. Beflere, nachbaltigere Pflanzungen für das Kreuj 
haben, wie fchon oben gefagt wurde, die von Pombal vertriebenen Väter ber Geſell⸗ 
faft Iefu in Angola anzulegen verflanven; freilich nach ihrer, nach römifches Welle; 
aber diefe Weife, mit all ihrem "äußern Prunk, der drei Sinne auf. einmal beeinflußt, 
wirft auf den finnlid, erregbaren Tropenmenfchen und hinterlaͤßt Eindrücke, bie da 
proteſtantiſche Mifftonär in feinem ſchwarzen Talar, und hätte er fogar ein weißed 
Chorhemd darüber gezogen, niemals hervorzubringen vermag. Auch bie Niederlaffungen, 
welche England, Nieverland und Frankreich an der Küfte von Guinea und von Se⸗ 
negambien bejlgen, find Eeine Eolenieen im engern Sinne, fondern einfache Handel 
poften, woſelbſti die Kaufleute Diefer Nationen mit den Eingebornen in Verkehr treten. 
Die wichtigften Poſten der Engländer find: Kap Evaft Eaftle an der Goldküſte 
und Bathurft an der Gambia. Sierra Leone dagegen gehört in die Klaffe da 
Eolonieen; der Nieverländer Hauptpoften tft Elmina an der Golvküfte; dazu gehörm 
die Poften, welche einft Kurfürft Friedrich Wilhelm zu Brandenburg bier anlegen lieh, 
die aber fein Sohn, Kurfürft Friedrich III, erfter König in Preußen, an die Genmal 
fiaaten verkaufte, weil fle nicht allein nichts eintrugen, ſondern im Gegentheil beträchte 
lihe Summen verfchlangen. Frankreichs vornehmfter Handelspoſten iſt das Fort Gt. 
Louis an der Mündung des Senegal. (Außerdem f. d. Art. Wigier.) E 














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35nRpuns entſerni AND werden von ungeſahl 12, 0VV Menſchen pewohnt. UNE DEE groß 
find Favignana (Aeguſa oder Capraria), Lebanzo (Phorbantia) und Marittimo (Hier 
zwiſchen Lebanzo und dem ſteilianiſchen Geſtade liegen 3 kleine unbewohnte Eilande, Le 3 
miche (Ameisen, PBaconia) genannt. Favignana, deren Benennung im griechifchen Alterth 
ber ganzen Infelgruppe den Namen gab, zeichnet ſich durch feine Ziegenzucht aus; 
4000 Bewohner des Eilandes treiben Wein- und Beigenbau, und wie bie Bevölfer 
der beiden anderen Injeln, ftarfe Thun= und Korallenfifcherei. Die Stadt Yavign 
Begt unweit ber Fleinen, nach Norden geöffneten Bucht Gala Granda; außerdem « 
halt Die Infel das Fort San Caterino. Lebanzo, das nörblichfte Eiland, ift ftarf 
waldet und feine 500 Einwohner find tüchtige Viehzüchter. Marittimo, am weftlich! 
legend, ift felſig und hat ein Gaftell, das als Staatsgefängniß dient. Die griechi 
Mythologie läßt die aegatifchen Infeln jene Belöftüde fein, die der Cyklop Polnpt 
dem Odyffeus nachſchleuderte. Denkwirbig find noch die Infeln durch ben Seeſl 


welchen bier der Conſul C. Lutatius Catulus im Jahre 243 v. Chr. über die K 


thager und ihren Heerführer Hanno davontrug, ein Sieg, der den erften punifd 
Krieg auf das Slüdlichfte für die Mömer beendigte. 

Aegäiſches Meer, griechifcher Archipel oder auch nur Archipel, von den Tür 
Adalar⸗Denghiſi, d. i. Infelmeer oder Al-Denghifl, d. i. Weißes Meer, genannt, 
ein zwifchen Griechenland, die Türkei und Kleinaflen ſich eindrängender, viele Inj 
entbaltender, 90 Meilen langer und 40 Meilen im Durchfchnitt breiter Bufen 
Mittellänvpifchen Meeres, der durch die an feiner Norboftfeite befindliche fchmale Mi 
enge des Darbanellen (Bahr Sefid Boghaſt) mit dem 25 Min. langen und 10 D 
breiten Marmora⸗Meer in Verbindung ſteht. Durch feine eigenthümliche verinittel 
Lage zwifchen zwei Welttheilen und die leichte Communication, welche es ſchon 
hohen Alterthume fogar der Schifffahrt nicht fehr kundigen Völkern geboten bat, n 
weniger aber durch die Beftaltung feiner mannichfachen Berg⸗Gegenden und der haf 
seichen Ufer, durch die Beſchaffenheit des zerfireuten und von jeher durch Natur⸗V 
wihungen hart mitgenommenen Infelbodens ift das Aegäifche Meer für die Erdku 
fa von dem nämlichen Interefie, als für die Gefchichte. Den Infeln dieſes Mecı 
ſo wie den außgezadten, unregelmäßigen Geftaden mit den fo hohen und ſchro 
Klippen, Geſtaden, in deren Geftaltung auf das Deutlichfte die Infelform ausgefproc 
iſt, muß man einen großen Einfluß auf Die Bildung des griechifchen Volkes zuerl 
nen; Die Menge von Halbinfeln und Buchten,, die Anaboli und die griechifche Ha 
infel darbieten, ift nicht bloß ein wichtiges phyſiſches Bhanomen, fondern zeugt a 
dan der Beſtimmung der beiden Länder und ihrer Bewohner zur Entwidelung eines | 
haften und thätigen Culturlebens, das für Griechenland fegt, nad, Abwerfung ver He 
haft des Halbmondes, wieder Blüthen zu treiben anfängt, für den übrigen Theil 
griechiſchen Halbinfel noch lange und für Anadoli wohl für immer ſchlummern wir 

Die Ufer und die Infeln des Aegäiſchen Meeres ftellen .fih dar in Form 
verſchiedenartigſten Berge, bald hoch, fteil, felflg und. größtentheild unfruchtbar, b 
niedrig, flah und mit Gruͤn geſchmückt. Diele find auf ihren Gipfeln ganz unfru 
bar, in der Mitte mit Meinem Buſchwerk und Blumen, unten aber mit Bäumen 
deckt. Schluchten, Thäler und Uferftziche find aͤußerſt mannichfalffg, und obwohl 
Bäumen, Strauchwerk u. f. w. reichlich beftanden, erfcheinen fle Doch wegen der fy 
lichen Bevölkerung öde, Im Allgemeinen find die Infeln des Archipeld Berge, de 
Fuß im Meereögrunde, deren Spigen über dem Wafler find, und an den Abhän 
entſtehen noch jet Wafternieverfchläge mit den Ueberreften organifcher Stoffe aus t 
fe umgebenden Meere. Was würde fich zeigen, wenn der Meeresgrund vom Wa 
miblößt würde? Wahrfcheinlich daſſelbe, was febt das trodene, ausgedörrte Land 
Kleinafken darbietet. Die plätfchernden Wellen der ruhigen See fpiegeln fih an ih 
Ufern und die heißen Sonnenftrahlen des ſüdlichen Klimas prallen ungebrochen ' 
den unter ihnen glühenvden Steinplatten ab. Betritt man indeſſen die Infeln, fo 
Meint faſt jede als eine Welt für fich; eine jede bewegt ſich in einem anderen Kr 
des Lebens, der Sitten, der Gebräuche, ja nicht felten der Sprachen. Der Boden 
einen if reich, ippig una blühend, ver Boden der ander, oft nur wenige Stum 





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fo ausgeftorben und tobt ifl, als wenn die Peſt chen auf ihr gewüthet hätte. 

Das Aegaiſche Meer beherbergt Inſeln, vie einzigen Curopa's, welche man 
mit einigem Mechte als Reihenvulkane anfehen kann, wenn es biöher au nur Ver⸗ 
fuche der Natur geweien, Vulkane zu bilden, ohne daß diefe zu Dauernden und wirf- 
lichen gediehen find. Die griechifchen Infeln find nicht fporabifch zerſtreut, oder kykla⸗ 
difch verfammelt, fondern fie haben ganz die Natur der normegiichen und ſchwediſchen 
Scheeren, und durch fie werben bie Gebirgsreihen des feſten Landes in gleicher Reihe 
und mit gleichen Gebirgsarten fortgeſetzt, bis in weiter Entfernung die einzelnen Er⸗ 
bebungen nicht mehr als Infeln aus dem Meere auffteigen koͤnnen. Sie find daher 
notbwendige und wefentliche Beftandtheile von. Griechenland felbft: und fo fehr, daß 
man mit vollem Nechte und allein nur von der Natur geleitet, auf ben ‚äußesften 

Felſen von Aftropaläa (Stampalia) fegen Fönnte: „Hier. ift Europa und nicht Aſien“ 
und auf den von Standio (Eo, Kos) und Galmino (Ralamine, Kalyınnos): „Bier if 
Allen und nicht Europa". 

Zwei von den Epirus und ‚Griechenland von NW. nad So. durchſchneidenden, 
ſtets ſich erneuernden, gleichlaufenden Gebirgsketten, der Pindos, aus Urgebirgsarten 
beſtehend, die ſich durch die Aetos⸗Berge und durch Attika bis zum Kap Kolonnaes 
(Sunion) fortſetzen, und eine ähnliche Bergkette, die von Thefſalien ber. Evvia (Evripo, 
Negroponte, Euboea) der Laͤnge nach als ein ziemlich hohes und waldiges Gebirge 
durchzieht, treten als Fortſetzungen auf den Inſeln auf: die Kette von Evvia auf 
Andro, Tino (Tenos), Mykono, Dhilaes (Delos), die von Attila auf Tzia (3es, 
Keos), Syra, Paro, Aria (Maris, Naros), Amurge, Aſtropalaea. Nicht eine von 
diefen Inſeln ſteht einzeln oder abgefondert. ihrer Natur nach von den übrigen ba, 
und deswegen kann feine von ihnen, ſelbſt Delos nicht, einzeln aus dem Grunde des 
Meeres emporgeſtiegen ſein. 

Die ſüdlich der Pinduskette vurch Epirus laufende, hohe, gang getcennte Reihe 
von Kalkbergen der Flotzgebirgsformation, die in ihrer Fortſegung und in. Rumielia 
den Parnafios und Helikon bildet, fich aber bei Megara ſenkt, verliest ſich in den 
wenig erbabenen Injeln Koluri (Salamid) und Aegina. Nach Aufbören diefer Kalk 
kette treten bie vulkaniſchen Infeln auf, deren Neihe den Iſthmus yon Korinthos berührt 
und zu denen noch der größte. Theil von Aegina, die Halbinfel, Methana, ‚die Imjeln 
Poros (Kalaureia), Milo (Melos), Andimilo, Kimolo (Argentiera, von den früher hier 
im Betriebe geweienen Silbergruben fo genannt), Polino (Lakufa, Bolyaegos),. Poly 
fandro (Pholegandros) und Thira (Thera, Santorin) gehören. Bon Iegterer, daB mit 
Theraſia und Afproniji einft ein zufammenbängended Ganzed gebilvet hat, find allein 
- beinahe 12 wohlbefchriebene Erdbeben ‚während der biftorifchen Zeit: befannt. Alle 
diefe Inſeln haben wahrfcheinlih Thonfchiefer durchbrechen müflen, und Thira, eiue der 
lehrreichhten und merkwürdigſten Infeln nicht.nur unter denen des Aegäiſchen Meeres, 
fondern jogar der Erdoberfläche, bat den Thonfchiefer fogar mit zur Höhe. gebracht. 
237 Jahre v. Chr. ſcheinen vulfanifche Eruptionen auf Thira und in. feinen Umger 
bungen flattgefunden .zu haben, und das Meer .verfchlang einen. bepeutenden ‚Theil von 
Santorin, und an Stelle diefed in früheren Zeiten mit Oelbaͤumen bepflanzten Theiles 
ber Infel finden fich ‚nun die jogenannten verbrannten Infeln, Kaimeni (Kaumene) ge⸗ 
nanııt, yon denen die größere die alte, die Kleinere die neue, und die weſtlich von 
diejee liegende bedeutend Fleinere die Fleine genannt wird, und deren Entſtehung und 
Vergrößerung durch vulkaniſche Eruptionen man der chronologiſchen Folge. nach. geman 
feftgeftellt bat. Einer ähnlichen Bildung verdankt Milo fein. Dafein; auch Diefe. Infel 
it, wie Thira, ein Erhebungdfrater und das vulfanifche Feuer „giebt ſich auf vielen 
heilen dieſes Eilanded durch verfchiedene Produete zu erfennen, Ueberdies findet ſich 
auf der Südfeite der Infel, eine Meile etwa von der Hauptſtadt gleichen Namens, nur 
wenige Scitte von Meere entfernt, eine Grotte, in deren Iunerem die intereſſanteſten 
Phänomene eines in voller Thätigfeit begriffenen Vulkans ſich darbieten. Diefe Grotte 
und einige fi daneben findende Fleinere Höhlen werben von den Einwohnern ber 
Infel wegen des fi daſelbſt vorfindenden Schweield Solfasıria genannt. Zus der 





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water, Dad an mehreren Stellen bier zu Tage Kommt, erfüllt Die Höhle mit jenen 
von Schmefelmafferftoff gefchwängerten Waflerbänpfen. 

. Wenn nım zur Bildung der Infeln fo wie zur Zerflüftung der Geftabe des 
Aegäiſchen Meeres vulkanifche Erberfchütterungen beigetragen haben und noch beitragen, 
wie dad Erdbeben im Jahre 1837 auf der Infel Hydra, morunter Poros, Aegina 
und Thira vielfach. litten und deſſen Mittelpunkt ver vulfanifche Bergkegel der Halbe 
infel Methana war, fo find ohne Zweifel auch die Waflerflutben des Schwarzen Mee- 
red mit die Urjache geweien, ven Infeln fowie den Gefladen der beiden Feſtlaͤnder bie 
jegige Seftaltung zu. geben. Ob der Pontus Eurinus einft ald eine Fluth in Daß 
Mittelländifche Meer hineingebrocdhen, oder ob er fich durch Miniren des Ioderen Ges 
birgspaſſes die Verbindung mit dem größten Binnenmeere der alten Welt erziwungen, 
und ob dadurch das Trockenwerden der Meerenge zwifchen ihm und dem Kaspifchen Meere, . 
fowie das Zurüdziehen und die fortdauernde Verdunſtung des, aller Zuflafie des 
Schwarzen Meered beraubten, Kaspifchen Meeres herbeigeführt, ift nicht bier näher zu 
erörtern; ſoviel ift aber gewiß, daß jegt noch eine flarfe Strömung aus dem Helleſpont 
in den Archipel hinein flattfindet, eine Strömung, die ſich durch die vielen Infeln, Die 
vorfpringenden Kaps und die tiefen Buchten in unzaͤhlig viele Fleinere verzweigt, fietö 
aber, ihrer Hauptrichtung nach, den Lauf nach Süden beibehält. 

° Der Miftral, d. 5. der Norbweflwind, ift auf dem Wegäifchen Meere ber herr⸗ 
ſchende Wind, wie ſchon fein Name fagt; der Scirocco, d. h. Süd» und Südoſtwind, 
bringt eine umerträgliche Schwüle, deren drüdende Wirkungen fich jeder Befchreibung 
entziehen, ja als geradezu unbegreiflih wird bie Trägheit bezeichnet, bie ſelbſt den 
thätigften Geiſt befchleicht, und der Einfluß des Windes ift fo groß, daß felbft 

Berfonen von der flärkiten Bonftitution ſich plöglich abgemattet fühlen, als wären 

fie von der ſchwerſten Krankheit befallen. Selten weht ber Scirocco mit einiger Ges 
walt; er ift mehr ein Hauch oder Ruftzug ald Wind und bewegt Faum die Blätter 
dee Bäume. Der Boirad oder Tramontane hingegen bringt Kühlung und neues Reben 
in die durch Die Hige und den Scirocco erfchlaffte Natur; er weht abwechſelnd waͤh⸗ 
rend der drei Sommermonate. Der Jubal ift ein gefährlicher Landwind, der, wie jeber 
arfvere. Landwind, zu der bekannten Tagesſtunde entfleht, darch bie vielen hoben In« 
feln, Gays und tiefen — aber an vielen Stellen des Archipels gefahrvolle Kreuz⸗ 
winde erzeugt. 
Natürlich mußten ſowohl die ausgezackte Geſtaltung der beiden Feſtlandsokuſten 
dieſes Meeres, als auch die mannichfachen tiefen Einſchnitte der. Inſeln, bei ven 
Orfahren, die Klippen und Sandbänke in ihren Umgebungen für ben weniger mit 
vem Fahrwafſſer Bekannten darbieten, die Seeräuberei innerhalb des Archipeld unge 
mein begünftigen, infonderheit während der letzten Jahrhunderte, bei einem Volke, das 
Äh auf dee Ser die: Mittel zu feiner Befreiung zu verfchaffen ſuchte. Daß Die Marine 
ausartet in Kriegszeiten, zur bloßen Piraterie Herabfinkt und ſchwer auf einen ehren⸗ 
baften Stand. zurudzufichren ift, beweiſen nicht die Griechen allein; man erinnere ſich 
an die Unorbnungen der befanaten Meergeufen in Holland zur Zeit des Abfalld der 
Niederlande und an die zügellofen Banden der Zlibuflier oder Budanier und anderer 
Freibeuter; die ſich aus. englifchen und  franzöftfchen Seeleuten bildeten, und die ihr 
Weſen in faft allen Meeren Amerifas trieben, balb nachdem ber breißtgjährige Krieg: in 
Deutſchland ausgetobt hatte. 

Agapen, d. h. Liebesmahle, heißen jene gemeinſchaftlichen Mahlzeiten, welche die 
Chrifien der erſten Jahrhunderte als Kundgebungen der brüderlichen Geſinnung meiſt 
in Verbindung mit ihren Gottesdienſten zu halten pflegten. Im Anfange der Kirche 
ergaben ſich ſolthe Mahlzeiten wie au dem Drange der Herzen ganz von ſelbſt. Wir 
befen von den .erften Chriften, daß fie beftänbig bei einander waren und alle Dinge 
gemeinfchaftlich hielten (Apoſtelgeſ. 2, 44). Ein nnabläjjtger brüderlicher Verkehr, gepflogen 
ohne Nüdficht .auf die Unterſchiede des Standes und Beſitzes, müßte Diejenigen ver⸗ 
einigen,. welche von dem flärkfften Bemußtfein ihrer Zufammengehörigfeit als Glieder der 
Einen Familie Gottes noch friſch durchdrungen waren; und eine gewiffe Gütergemein- 
haft ift der natürliche Ausbrud der Freude an einem gemeinfchaftlichen Beſitzthum 





YDysscz All TDBYUYWOERDELE SIUERDISUEN ſich DIE DERIENDER DDigE um DIE BOIRUE 
Dinge und verzehrten den Ertrag ihrer Habe in der befeligenden Bemeinfchaft mit Yen 
Genofien des Glaubend. Der Drang der Liebe, gerade die Aermeren mit zu verforgen, 
gab ein weiteres edles Motiv für dieſe Weihe der Lebendgemeinfchaft: Gemeinſame 
Mahlzeiten waren nur ein Theil des beftändigen, gleichjam famtlienartigen Zufammenlebens 
der erften, aller Liebe vollen Chriftenfchaar, umd fie ſcheinen unter ihnen täglich und 
in fehr ausgedehntem Naße flattgefunden zu haben (a. a. O. 2, 46 47; 4, 32 ff.; 
6, 1 ff.). Inzwiſchen empfingen auch diefe Dinge ihre gebührliche Orbnung durch die 
Apoftel. Die chriftliche Gemeinde war Eeine ſocialiſtiſche Verbindung und jeder unter 
geordnete Trieb nach gemeinfchaftlichem Leben und Efien mußte ohnehin vor der Nea⸗ 
tät des täglichen Lebens und feinen Pflichten bald verfchwinden, während dad erha⸗ 
. bene Intereffe der brüberlichen Xiebe unter dem Schuße einer gewiffen Orbnung um 
defto Fräftiger Platz greifen mußte. Daber die aus den Darbringungen der Wohlbaben- 
deren veranftalteten gemeinfchaftlichen Mahlzeiten eines Theil in Speifevertheilungen 
an die Aermeren durch die eben dazu beftlimmten Diakonen verwandelt, andern Theile 
auf ein mit Hefonderer Feierlichkelt und in Verbindung mit dem Gottesbienft gehal⸗ 
tened Mahl aller oder doch möglichft vieler Gemeindeglieder befchränkt wurden. Dies 
war die eigentliche Agape. Das Achte Chriſtenthum, weit entfernt, eine äußerlihe Auf 
bebung der weltlich focialen Unterfchiede in dem Dieſſeits bed gewöhnlichen Lebens ber 
fördern oder gar durchführen zu wollen, eignete ſich dieſelbe nur ald eine gelegentliche 
Andeutung der viel böhern Ordnung der zufünftigen Welt an, indem es ihr in bem 
gebeiligten Cultus und den damit zufammenhängenden Uebungen einen Ausdrud vers 
fchaffte, aber ſie auch auf diefe ausfchließliche Firchlicde Sphäre befchränfte. 

Die Darbringung der Gläubigen zur euchariflifchen Beier war überaus reichlid 
fowoh! in Gold, ald in Naturalien (f. d. Art. Abendmahl). Die legteren waren vor 
zugsmeife zum gemeinfchaftlihen Gebrauche beftimmt. Nach Beendigung ded Gottes⸗ 
dienfled und dem gemeinfamen Genuß des heiligen Abendmahls wurden fie, gewiffer 
maßen auch eine geweibte Speife, von ben Diafonen hervorgebracht, andere Speifen, bie 
für die Belegenheit mitgebracht waren, Brod, Fleiſch, Früchte, wurden binzugefkgt, 
bann auf Tifche gefeßt und allen Dafigenden auögetheilt. Gebet, Geſang, geiftliche® 
ober boch ernſtes Gefpräch waren bie beften Würzen des einfachen Mahles; perfönliche 
Bekanntſchaft und herzliche Verbrüberung in einem Maße, wie ed der in firengerer 
Form einberfchreitende gemeinfame Gottesdienſt nicht bieten Fonnte und follte, ber er⸗ 
wirnſchteſte Genuß. Ed. war eine beilige Geſelligkeit, die Heiligung gefelligen Berkehrs 
durch eine ſelbſt der Firchlichen Berfammlung winrdige Ausübung deſſelben. Infofern 
waren Die Agapen ver Ghriften, die inmitten einer ven Grund aus verdorbenen Geſell⸗ 
ſchaft lebten, eine höchft wichtige Ergänzung ihrer rellgidſen Einrichtungen. Sie boten 
ihnen einen Erſatz für die Breuden der heibnifchen Gefelligkeit, die nad) Inhalt ums 
Ton den ernfter gefinnten Chriſten meiftend geradezu ungenießbar waren. Ban braucht 
nur Die Schilderungen 3. V. Tertullianus’ von den chriſtlichen Agapen zu leſen, ums 
den beabfichtigten Gegenſatz mit den heidniſchen Sitten zu bemerken: „Unfere Mahlzeit 
Laßt ihren Charakter ſchon durch ihren Namen errathen; fte heißt Agape, was im Grie⸗ 
chiſchen Liebe bedeutet. :. Was für Aufwand fie erforbern möchte, fo wäre es inmmer 
Gewinn, etwad aufzuwenden zum Zwecke frommer Wohlthätigfei. Denn für unfere 
Armen ift Died Mahl zugleich eine Erquidung, nicht wie bei euch die Schmaroper es 
"vorgeben, die, der Verpflichtung ihres Berufes nachfommend, unter Fußtritten fich ſatt⸗ 
efien, fondern wie Gott für die Dürftigen am meiften forgt. Sat aber dad Mahl eine 
fo würbige Urfache, fo mögt ihr die dortige Ordnung bdiefer Sitte aus dem Geſichts⸗ 
punkte einer religlöfen Pflicht würdigen: da wird feinerlei Gemeinheit, Keinerlei 
Unmäßigkeit zugelafien. Mm fett ſich nicht eher nieder, ald bis man ein Gebet 
zu Gott voran geſchickt bat. Dann wird fo viel aufgetragen, als ben Hungrigen 
nothig und fo viel getrunken, ald den Maͤßigen nüplich If. Man genießt, Indem men 
der Pflicht, auch bei Nacht nicht aus der Anbetung Gottes zu fallen, eingedenk BI 
man unterhält fi in dem. Benußtfein, daß der Herr Alles hört. Nachdem dann % 
Waſſer zur Handwaſchung und die Lichter Hereingebracht find, fo mirb das Eine o 
Andere befprochen, immerdar ans ber heiligen Schrift oder aus eigenes Erfindung 














J 


Welle wird die Mahlzeit mit Gebet beſchloſſen und man geht nah Haufe, nicht wie 
eine Bande Raufbolde, oder eine Rotte Umhertreiber, neh mit Außerm Unfug, fonbern 
mit derfelben Sorge um Anjtand und Zucht, wie Leute, die nicht ſowohl einem Gaſt⸗ 
mahl als einer frommen Sitte beigemohnt haben.” (Tertull, Apoleget. 39.) Wohl 
mochten die Ehriften bei diefen Gemeindemahlgeiten eine um fo firengere Zucht halten, 
als gerade an fle jene fcheußlichen Nachreven der Heiden fich hefteten, welche der Fana⸗ 


tismus des Unglaubens mit einer faft geheimnißvollen Uebereinftimmung zu allen Zeiten 


und in allen Ländern gegen die Zufammenkfünfte religtöfer Separatiften aufgebracht hat 
— da8 Gerücht von blutigen und wolläfligen Greueln — die nach Ausldfchung der Lichter 
bei denfelben flattfinden follten. Allerdings war die Abhaltung der Agapen nicht Immer 
von unfchuldigeren Unordnungen frei geblieben. Schon der Apoftel Baulus beklagt der⸗ 
gleichen, die in der Korinthifchen Gemeinde vorgefommen waren. Dort hatte die Mafle Der 
noch nicht. fehr gezügelten Neophyten ihrer alten Luft an Belagen dermaßen nachgegeben, 
daß man in der Tirchlichen Verfammlung öfter gar nicht dazu Fam, des Kern Abende 
mahl zu halten, fondern gleich über bie dargebraghten Naturalien herſtel, und ſtatt zu 
dem feierlichen Gottesdienſte, fofort zu einer ziemlich biffoluten Agape ſchritt (1. Kor. 
11, 20. 21.). Möglih, daß man fogar die. geheiligten Formen der Abenbmahlsfeler 
in dieſes loſe Gelage miteinflodht. ) Es ift wahrfcheinlich, daß in Folge ſolcher Vor⸗ 
gänge die Agapen von dem euchariftifchen Dienfle ganz getrennt wurden. Schon zu 
Pliniud Secundus Zeiten famen die Ehriften, nachdem fte ihren Gottesdienſt beendigt, 
zu ihren Mahlzeiten aufs neue befonderd zufammen. Man bielt jenen Vormittags, ja 
in den Zeiten ver Verfolgung fogar vor Tagesanbruch, dieſe in ber Hegel Abends, 
obwohl immer mit den in der euchariftifchen Feier dargebrachten Gaben und gleichjam 
ald eine organifche Nachfeier der lezteren. Zwar find die Klagen über mancherlei 
Ausfchreitungen bei den Agapen vom Briefe Pauli an (B. 12) bis auf Auguftinus 
(eontra Fauſt. XX, 21) nie ganz verflummt, aber immerhin bildeten fie doch nur Aus⸗ 
nahmen, und die würdige Haltung der Ehriften much bei diefen Gelegenheiten bie ge⸗ 
wöhnliche Regel. Nur fo war ed möglih, daß ſich die Einrichtung durch Die bei 
erften Jahrhunderte allgemein und Iebensfräftig hielt. Nicht fowohl wegen der im In⸗ 
kitut liegenden Gefahren, fondern wegen ber veränderten gefammten Verhaͤltnifſe der 
Kirche und ihrer Glieder mußten die Agapen enblich aufhören. Sie wurden hoͤchſt be» 
denklich, ja zulegt unmöglich von dem Augenblide an, als die Gemeinde innig nerbrü« 
bertee Heiligen in eine wirklich jehr gemiſchte Geſellſchaft von Menfchen,. wie eben nur 
die Taufe empfangen batten, fi verwandelte. Nach dem Charakter der Gemeinde 
mußte auch der ihrer Zirchlichen Gaflmähler fich geftalten. Um der je Länger fe mehr 
vorfommenden Exceſſe willen begannen die Synoden ſeit der Mitte des 4. Jahrhunderts 
die Abhaltung der Lebesmahle In den Kirchenräumen zu verbieten, doch dauerte es 
noch einmal drei Jahrhunderte, bis die tief gewurzelte Sitte überall verſchwun⸗ 
den war. Hier und da verwandelte man fie in regelmäßige Armenjpelfungen und 
zettete fo den einen Theil ihrer Bedeutung, während ber andere mit ber Chriſtiani⸗ 
frung der Geſellſchaft überhaupt feinen Boden verlor. Die Erneuerung der Liebes⸗ 
mahle in den Herrenhuters und Baptiftengemeinden, da man von Zeit zu Zeit zufamn 
menkommt und auf Gemeindefoften eine Taſſe Thee oder ein anderes harmloſes Mahl 
einnimmt, ift nicht einmal eine getreue Copie des altchriftlichen Picknicko, im beften 
Salle eine froftige Nachahmung, die fich weder tu religidfer noch forialer Bedeutung mit 
den urchriftlichen Agapen mefien Tann. 

Agar if der Name — 1) eines Franzoſen, welder Joachim Murat nach 
Düffeldorf begleitete, als biefer von feined Schwagerd Buonaparte Gnaden zu einer 





Sonderbarer Weiſe ift gerade aus 1. Cor. 14 der Nachweis verſucht worben, ae in 
der apoßelifcen Zeit die Agape immer vor dem Abendmahle, und letzteres (ähnlich wie dem 


Ginfetungsmahle Chriſti) immer zum Schluffe der gemeinfamen Mahlzeit gehalten. Aus dieſer 
Pa a aus den übereinflimmenden Berichten alter Kirchenväter, die die oe noch aus Er⸗ 
fahrung kannten, folgt gerade das Gegentheil, was übrigens ſchon aus der Natur der Sache 
fh ergiebt. Man ' 

J — 


fe ielt die Agape ordnungsmäßig nur nad) der Gucharifiie und mit den 
eibjeln. ur 





nige von Neapel gemacht worden war, wohin Agar ebenfallß folgte, un in beiden 
Ländern die franzdfliche Verwaltungs⸗, namentlich die Finanz⸗Wirthſchaft einzuführen; 
und — 2) eined Spaniers, der mit Blake -und Ciscar die Negentfchaft vom König« 
reich Spanten bildete, die zu ‘Ende des Jahres 1810 auf der Infel Leon zufammens 
trat, als die ganze Halbinfel von Buonapartefchen Kriegsvölkern überſchwemmt war 
und man den Gedanken gefaßt hatte, den Herzog Ludwig Philipp von Orleans, ber 
ſich bei feinem Schwiegeronter In Palermo aufhielt, zum Oberbefehlshaber der treu 
gebliebenen fpanifchen Kriegsvölker zu machen, was aber von den Gngländern hinter⸗ 
teteben wurde. — Der Yranzoje Agar führte den Intel: Graf von Moodburg, wahr: 
ſchrinlich mach dem hanndverfchen Amte dieſes Namens im Finſtenthum Lüneburg, das, 
fo wie alle Domänen des Kurfürften von Braunfchmeig-Lüneburg, von Buonaparte für 
gute Beute erflärt worden war, und bie er unter feine Getreuen vom Schwerte und 
wen ber Geber zur. Belohnung für ihre Dienfte und — Berdienfle! zur. Vertheilung 
brachte. 

Ageſtiz, ZSouis, Dr. med., nach gemachten Studien in Zürich, Heidelberg und 

Miinchen, Profeſſor der Naturgeſchichte am Collègo in Neufchatel, dann (1845) nach 
Amerika überfledeind, Brofefior der Zoologie und Geologie an der Lawrence Scientifie 
Sheol zu Cambridge bei Bofton (Jameſon's Journ. Vol. 46). Er ift geboren am 
28. Mai 1807 zu Mottier im Kanton Breiburg. Bon feinen Schriften nennt Poggen- 
dorff's Hundwörterbuch: „Interfuchungen über die Gletfeher, 1 Bd. 8., mit Atlas, 
Solothurn 4841 (auch franzöſiſch erfchienen); viele Auffäge über die Gletſcher im’ Der 
Biblioth. universelle, N'institut aꝛc. (f. Leonhard u. Bronn's Jahrb. 1838: 1844); 
wiele und ausgedehnte Arbeiten, über die foſſilen Fiſche.“ 

Agde, Stadt in Branfreich, und zwar im Kangueboes' und im Hötault⸗Departe⸗ 
ment, hieß im Alterthum Agatha, liegt am Herault, ver fich eine halbe Stunde von 
hler ins. mittelländifche Meer ergießt, und ſüdweſtlich und 4 Meilen von Gette. Nur 
eine Vlertelſtunde nördlich geht Der berühmte Suüdkanal oder Kanal von Languebor 
vorbei, der dad ‚mitteländifche mit den atlantifchen: Meere verbindet. Daher bildet auch 
Agde einen Misderlageplag für den Handelsverkehr zwiſchen dem weſtlichen und ſüdlichen 
Frankreich; außerdem treibt es lebhaften Küſtenhandel; es hat einen Seehafen mit 
Leuchtthurm, und die Bevölkerung, welche bei der Zaͤhlung von 1846 auf 9321 Ein- 
wohner ſich belief, bettägt gegenwärtig 0000 Einwohner. 

Agenden, zunaͤchſt Kirchenagenden, find Bücher, in welchen bie Form des öffent» 
üchen Gottesdienſtes vorgezeichnet iſt. Ste koͤnnen Bezug nehmen auf die gottesdienſt⸗ 
lichen Perſonen, auf die Zeiten, auf die Oerilichkeit; ſie ſchreiben die Aufeinanderfolge 
der einzelnen Theile des Cultus vorz geben die Worte ſelbſt fir die formulirte Gebets⸗ 
feier und für die Verwaltung der Myſterien; otdnen die aͤnßerlichen Ceremonien, unter 
welchen das Geiftige dem ſinnlichen Menſchen dargeſtellt und vermittelt werben Lann. 
Im Gebrauche find: ſte entweder durch traditionelles Anſehen oder durch beſondere Eins 
führung der. ‚betreffenden Autoritäten und. ſollen ein adaͤquater Ausdruck des Gei⸗ 
ſtes und: Glaubens der Gemeinfchaft fein ‚in beffen: Botteßbienfen fle Anwendung 


ſinden .· 

Die alteſten, auch wohl die ausfuhelichſten Agenden beſthen wir in den Bäichern 
Moſis, in dem rituellen Theile derſelben, in dem Ceremonialgeſetze. Ihr Tomplement 
fand daeſe Agende ſpaͤter in Den. Pialuien. . Indie jüdische Synagoge ging biefelbe 
über, verändert nach dem Canon: „Wie Rauchwerf gilt. vor dem Herrn die Anru⸗ 
faug und wie Abenbopfeb. dad Aufheben der. Hände" Die. Agenden der Syhagoge 
wollen. den Gultus im Tempel nachahmen, an die Stelle des inhibirten Opfers ſetzen 
ſie Gebetsvorſchriften und durch die Vorleſungen aus dem Geſetz und Propheten bringen ſie 
ein neues Element in den. Gottesdienſt. Den Mittelpunkt derſelben bildet Da&- Gebet 
—R welches auf die Erlöfung und Ankunft des Meſſias gehet. 

Fur die chriſtliche Kliche ſinden fich die erſten agendariſchen Vorſchriften 1. Cor. 
14, —* „Denn ihr zuſammenkomint, ſo hat je einer Pſalmen, bringt einen RPſalmen 


— |. — e rtt 





Vergleiche Nitzſch practiſche Theologie. Theil 2. p. 268. Zr — 











h EEE 74 Ay, I EB JJURBTRIEWEN, sin BEEBTETE u 
gung. LZafle 


RITEDRSERG, TORE RUE RER 

t .alled zur Erbauung. geichaffen fein und bemgemäß: dad Ganze ſich ge⸗ 
alten. HSöchfiens zwei oder drei mögen mit Zungen reben nach einander, einer lege 
ns. Iſt kein Ausleger da, fällt dad Zungenreden fort, dann bönnen zwei ober. brei 


zropheten reden und bie übrigen, welche eine Beiftesgabe befigen, mögen richten, wei 
me fagen; doch jo, Daß immer einer. auf den andern wartet. Dean ob ihr wohl 
nrzügliche. Eiferer um Die geiftlichen Redegaben feld, foll doch Gott eben fo bei euch 
pie bei andern. Gemeinen fi ald Gott der Ordnung und des Friedens: bemeifen. * 
Sicher nur leiſe Andeutung des Mahmens, in welchen der chräftliche Gottesdienft: ein⸗ 
gefügt werden ſoll, fo daß jedoch die. Stelle und der Verlauf des Sacramentes nicht 
angegeben ift und aus dieſem Grunde eine: van reformirter Seite hrrvorgehobene Ach 
lichfeit mit Dem. ſynagogiſchen Gottesdienfte hexvortritt. ' 

Je mehr die auferordentlichen Gaben des Geiſtes zurüdtraten, deſto mehr mußte 
Wh Das ‚ganze chriſtliche Leben. nadı fohtem Geſetz und Vorfchrift regeln; ſubjeetive Zer⸗ 
Hoffenbeit wäre dem Kampfe nicht gewachſen geweſen. Auch die Gotiesdienſtotdnun⸗- 
gen wurden. immer beſtimmter. Nicht. mit akumenifcher Gleichförmigkeit, ſondern auch 
provinzielle, ia örtlihe Gebräuche fixirten fich durch Schrift oder Travitim, So 
lange Die: Kämpfe gegen das Heidenthum den äußerlichen Sieg noch. nicht. ernungen 
hatten, ließen die Agenden der Predigt des Wortes Gottes ihren gebührenden Platz 
Als aber die Kirche eine in biejee Welt triumpbirennde wurde, verſtel man der Rufe 
ded Befiged. 


Daß .freie, felbfithätige, durch Ben. Geift Gottes geheiligte Wort ver⸗ 
fhwindet gegen bie Vorlefungen aus der Heiligen Schrift, die felber zu einer: bloßen 


loß 

Morbereitung auf dad Sacrificielle und das Sacramentale im Cultus herabſinken. Die 
Agenden nehmen immer mehr die Form der Miſſalien, eines Meſſe⸗Canone an, im 
welchen aber dem liturgiſchen Geſauge zur Verherrlichung des Meßopfets eine unver⸗ 
kammexte Stelle verblieb. Das wachſende Anſehen des rämifchen. Papftes und. dei 
byzantiniſchen Patriarchen hatten daneben zur Folge, daß die agendariſchen Fomuute 
Roms und. Konſtantinopels in den gehorfemen Kirchenprovinzen die ortlichen genden 

en: In dem Abendlande .warb damit Die Inteinifche Sprache Die Sprache der 
” ruben. { 


De . , ... . f l 4 ' 
Die Reformation legte nicht bloß ‚erneuten Nachdruck auf bie: Predigt, :. ſondern 
die Lehre vom Sacramente, ſowohl nach Iutherifchen als nach ſchweizeriſchem Thpus, 
fand in fo Elarem Gegenfage gegen die Sühnopferibeorie. der. römifthen. Kirche, daß 
de Andarbeitungen neuer Agenden. eine Mothwendigkeit. wurden. Sownk:;and ber 
FO Sand Luthers als aus der: Hand Calbins find Entwärfe hervorgegangen. Mon Biniher 
* eiſchienen: Ordn. de Gottesd. und ſorm. Missae cnmunionis 15835 das. Taufbüch⸗ 
lein 1823; deutſche Meſſe und Ordnung des Gostesbienfes .1526. Calvin ſcheleb eine 
formula prec. .publ. und formes des priores 'ecciösiastiques .aveo la’ manisre: d’ad« 
winistrer les saeremens ete. Gen..lädi. Die Iutherifche Kirche haste eine. Votliebe 
für dad aus dem Alterthume Ueberkommene, jo weit:-fie. nicht Irrthum im. demſelben 
erlannte,..vahen. duldete ſie ſogar die lateiniſche Sprache in: dem Gotteöbienfte der Staͤdte 
Pr BA zum alimäligen , Verſchwinden derſelben. Die reformirte Kirche ſuchte Dagegen 
unmittelbar aus der Schrift zu conſtruiren, und da ihr des Objettive im: Sacramente 


zu ungewiß iſt, geftaltet ſich bei ige alles zu einer Vorbereitung oder ‚zu: ‚einem Nach⸗ 
— tn 
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:. Die Zexrifienheit de8 Regiments der. ans der Mefoemation hervorgegangenen 
g eben les auf dem Gebiete «derfelben viele Agenden entflchen. "Die dftenen athmen 
* daer alle ben Geift und ben. Glauben ihrer Kicche, und. befonders. bie: Intherifchen. Gehe 
" daB Beſtreben, die Kunſt im Dienfte des Gottlichen zu heiligen. Aber der Natienaltönus 
* iſt auch hier .verwüßlend. einhengefchritten, ex -befsitigte . bie. Agenden und feigte: an ihre 
n Mr. 

Stelle die Willkir. : Ein Jeder: trieb es, wie ex es verſtand ober wie er ed:micht ver 
ſtand, Der chriſtliche Gotteadlenſt feprumpfte zuſammen in ‚die Mbfingeg " sineh * 

in MM-anerbaulihen und jahr undichteriſchen Liedes/ in den Vortrag einer ‚oft ſeht W 
1" tem Echriftworte abirrenden ‚Previgt, eines Baterumfer and . warb  befchlöffen * 
inen meh ober minder geänberteh. Maronitifchen Segensſpruch un. einen. Schlaht 

| Da..nard. durch die Yuomfiiche. Agenbe von 1824, welche LEI in; enmweiterben. 
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nige von Neapel gemacht worden war, wohin Agar ebenfalld folgte, um In. beiden 
Bändern die franzdfliche Verwaltungs-, namentlih die Finanz⸗Wirthſchaft einzuführen; 
und — 2) eined Spaniers, der mit Blake und Eiscar die Megentfchaft vom König« 
veich Spanien bildete, die zu Ende des Jahres 1810 auf der Infel Leon zufammen- 
trat, al8 die ganze Halbinfel von Buonaparteſchen Kriegsvölkern überfchwenmt war 
und man den ‚Gedanken gefaßt: hatte, den Herzog Ludwig Philipp von Orleans, ber 
ſich bei ſeinem Schhwiegeronter in Palermo aufbielt, zum Oberbefehlſshaber ver treu 
gebliebenen fpanifchen Kriegövölfer zu machen, was aber von den Engländern hinter 
teteben wurde. — Der Franzoſe Agar führte den Titel: Graf von Moosburg, wahr 
ſchrinlich nach dem hannoͤverſchen Amte diefes Namens int Finſtenthum Lüneburg, das, 
ſo wie alle Domänen des Kurfürften von Brannfchweig-Lüneburg, von Buonaparte für 
gute Beute erflärt worden war, und bie er unter feine Getreuen vom Schwerte und 
von der Feder zur Belohnung für ihre Dienfte und — Berdienfte! zür Bertheilung 
brachte. Ä 
' Agaſſiz, Zouis, Dr. med., nad gemachten Studien in Zürich, Heidelberg und 
München, . Profeffor der Naturgeichichte am Collöge in Neufchatel, dann (1845) nad 
Amerika aberfedend, Profeffor der Zoologie und Geologie an der Lawrence Scientifie 
Shovl zu Cambridge bei Bofton (Jameſon's Journ. Vol. 46). Er ift geboren am 
28. Mai 1807 zu Mottier im Canton Freiburg. Bon feinen Schriften nennt Poggen⸗ 
dorff's Handwoͤrterbuch: „Unterfuchungen über die Gletfcher, 1 Bd. 8., mit Atlas, 
Solothurn 4841 (auch Freanzdflfch erfchienen); viele Aufſaͤtze über die Gletſcher in ber 
Biblioth. universelle, Ninstitut sc. (f. Leonhard u. Bromm's Jahrb. 1838 :— 1844); 
viele und ausgedehnte Arbeiten über bie foſſilen Flſche.“ 

Agde, Stadt in Frankreich, und zwar im Languedoe⸗ nud im Hoͤrault⸗Departe⸗ 
ment, hieß im Alterthum Agatha, liegt am Hörault, der ſich eine halbe Stunde von 
bier ins mittellaͤndiſche Meer ergießt, und führwelliih und 4 Meilen von Gette. Nur 
eine Biertelftunde nördlich geht der. berühmte Süd fanal oder Kanal von Langaebor 
vorbei, den das ‚mitteländijche mit dem atlantiſchen Meere verbindet. Daher bildet aud 
Agde einen Nederlageplatz für den. Handelsverkehr zwiſchen dem weftlichen und ſüdlichen 
Frankreich; außerdem treibt es lebhaften Küſtenhandel; es bat einen Srehafen mit 
Leuchtthurm, und die Bevölkerung, "welche bei der Zählung von 1846 auf 8321 Ein 
wohner fich. belief, beträgt‘ gegenwärtig 0000 Einwohner. 
= genden, zunächkt Kirchenagenden, find Bücher, in welchen bie Form des öffent“ 
lichen Gottesvienſtes vorgezeichnet iſt. Ste Tünmer Bezug nehmen auf die ‚gottesbienfl- 
lichen Perſonen, auf die Zeiten, auf die Dertlichlelt; ſie ſchreiben die Aufeinanderfolge 
der einzelnen Theile des Cultus vorz geben Die Worte ſelbſt für die formulirte Gebets⸗ 
feier und für die Verwaltung der Myſterien; ordnen bie aͤußerlichen Ceremonien, unter 
welchen das Geiſtige dem ſinnlichen Menfchen: dargeſtellt und vermittelt werben Tann. 
Im Gebrauche find: fle entweder durch traditionelles Anſehen oder durch befondere Ein 

führung der betreffenden Autoritäten und. follen ein udäquuter Ausdruck des Gei⸗ 
ſtes wa: Slaubens der Gemeinfehaft fein, im: beſſen · Botteöbleniien ſie Anwendung 


Die alteſten, auch wohl die nusfüßrlichften Agenden beſthen wir im: dem. Büchern 
Mofis, in dem rituellen Theile derſelben, in dem Erremonialgefege. Ihr Complement 
fand dieſe Agende fpäter in den. Palmen. Indie ſüdiſche Synagoge ging dieſelbe 
- über, verändert nad dem Canon: „Wie Nauchwerf gilt vor dem Herrn die Anru⸗ 
faug und wie Wendopfer das Aufheben der Hände.” Die Agenden ver :Syhagoge 
wollen: den -Gultns im Tempel nachahmen, an bie Stelle des inhibteten Opfers ſetzen 
fie Gebetsvorfchriften und durch die VBorlefungen aus dem Geſetz und Propheten bringen fle 
ein ‚neues Element in den. Gottesdienſt. Den Mittelpunkt verfelben bildet dag Gebet 
Kaddiſch, welches auf die Erlöfung und Ankunfı des Meſſias gehet. | 

: ir die chriftliche Kche ſtnden ſich die erften agendariſchen Vorſchriften 1. Cor, 
14, 26: 1) „Wenn ihr zuſammenkommt, ſo hat je einet Pſalmen, bringt einen Pſalmen 


— — — — — 





1) Vergleiche Nibſch practifche Theologie. Theil ?. p. 268. wen 











legung. Xaßſet alles zur Erbauung geſchaffen :jein und demgemäß Dad Ganze Ne) ge 
falten. Höchßens zwei oder drei mögen mit Zungen reden nach einander, einer leg 
aus. Iſt Fein Ausleger da, fallt das Zungenreden fort, dann können zwei ‚oder bre 
Propheten reden und bie, übrigen, welche eine Geiſtesgabe befigen, mögen richten, wai 
jene jagen; doch fo, Daß immer einer. auf den andern. wartet. Dean ob ihr woh 
vorzügliche, Eifexer um Die geiftlichen Redegaben feid, ſoll doch Gott eben. fo "bei eud 
wie..bei andern Gemeinen fich ald Gott der Drbnung und des Friedens beweifen.: 
Sicher nur leife Andeutung bed Rahmens, in welchen der chriftliche Gotteddienſt ein 
gefügt werben. foll, fo daß jedoch die Stelle und der Berlauf des Sacramentes nich 
angegeben ift und aus dieſem Grunde \eine: von reformirter Seite hervorgehobene Aehn 
lichkeit mit dem ſynagogiſchen Gottesdienſte hervortrit. 

Je mehr die außerordentlichen Gaben des Geiſtes zuruͤcktraten, deſto mehr mußt 
ſich das ganze. chriftliche Leben. nach feſtem Geſetz und Vorſchrift regeln; ſubjective Zer 
floſſenheit waͤre dem Kampfe nicht: gewachſen geweſen. Auch vie Gotieddienſtordnun 
gen wurdan immer beſtimmter. Micht mit 5fumeniſcher Gleichförmigkeit, ſondern aud 
provinzielle, ja. oͤrtliche Gebräuche firirten ſich durch Schrift oder Tradition. S 
lange Die, Kämpfe gegen das Heidenthum den äußerlichen Sieg noch nicht errunge 
hatten, ließen die Agenden der Predigt des Wortes Gottes ihren gebührenden RPlatz 
Als aber die Kirche eine in dieſer Welt tviumphirende wurde, verfiel man der Ruh 
des Befiped. Das freie, ſelbſtthaͤtige, durch den Geiſt Gottes geheiligte Wort ver 
ſchwindet gegen hie Vorleſungen aus der Heiligen Schrift, die: ſelber zu, einer. bloße 
Vorbereitung auf das Sarrifisielle. und Dad Sarramentale im Cultus herabſinken. Di 
Agenden nehmen immer mehr die Form der Wiflalien, eines Mefle« Canons an, ii 
weichen aber Dem liturgischen Gejauge. zur. Berberrlihung des Meßopfets eine unver 
kümmerte Stelle verblieb. ‚Das wachſende Anſehen des zömifchen: Papftes und. dei 
byzantiniſchen Patriarchen hatten daneben zur Folge, daß die agendarijchen: Eeusınlar 
Roms und Konjtantinopeld in den geborfamen Kirchenprovinzen. bie. örtlichen gende 
verbräugten. In dem Abendlande ward damit die lareiniſche Sprache die Sprache de 
Ygenden. 

Die Reformation legie nicht bloß erneuten Rachbrua auf die: Predigt, fonder 
die Lehre vom Sacramente, ſowohl nach lutheriſchem als nach ſchweizeriſchem Typue 
fand in fo klarem Gegenſatze gegen die Sühnopferiheorie. der. roͤmiſthen Kirche, da 
die Ausarbeitungen neuen, Agenden. eine Nothwendigkeit wurden. Sowcht ans de 
Hand Luthers als aus der; Sand Calvin: find Entwürfe hervorgegangen. Bon Luthe 
erſchienen: Ordn. d. Oatiegd, und ferm. Missae oammmmieonis 1523; dad. Taufbüch 
lein.. 4523 ; Deutfche Meſſe und Ordnung des Gottesdienſtes 1326. Malerin ſeheleb ein 
formula prec. publ. und formes des priöres ecclòsiastiques :aveo la: maniére d'ad 
ministrer les sactemens ete. Gien. 1544. - Die Iutherifche Kirche hatte einer. Votlieb 
für dad aus dem Alteriiume Ueberkommene, jo weit:.jie nicht Irrthum im. .beanfelbe: 
ertlannte, daher duldete fle .fogav: die Inteinifche Sprache in: dem Gottaskienfte der Stabi 
bia zum allmaͤligen, Verſchwinden derſelben. Die reformirie Kirche: ſuchte dagege 
unmitseldar aus ‚der. Schrift zu conſtruiren, und da ihr dad Objettive im: Sacrament 
zu ungewiß iſt, geſtaltet ſich bei ihr ales au einer Vow ereitung ddr gu amem Nach 
llauge der Predigt. 

Die Zerriſſenheit des Regiments der. and. der. Reformation Setvorgegangene 
Kirchen ließ. auf. dem Gebiete aderfelben viele Agenden entflehen. "Die ältenen .athme 
aber alle den Geiſt und ven. Glauben. ihrer Kirche, und befonderd. bie: Iutherifchen: habe 
das DBeftreben, die. Kunft im Dienfte des. Böftlichen zu heiligen. Aber der Ratisnaliomu 
iſt augh:.bier..verwüßtend. einhengefchritten, ex befeitigte . die. Agenden und fegte an ihr 
Stelle die. Willfür. : Ein Jeden; trieb es, wie er es verftand oder wie er es imicht von 
ſtand. Der chriſtliche Gotteüdienſt ſchrumpfte zuſammen in ‚Die Wbfingeng eines o 
fehr. anerbaulichen und führ undichteriſchen Liedes, in den. Vortrag einer ‚oft ſehr wei 
vom. Schriftworte. . abisrenden Prebigt,: eines Baterunfer und ward - beichlöffen .burd 
einen: mehr eder minder. geänderten Aaronitifchen Segensſpruch and. einen. Schlaßveri 
"Da .ward: durch Die. preußiſche Agende von 18241, welche 7830 ‚in: erweiterter. Zara 





RU DUO DEWUYSE WEL wieder in DER ERS DEI WDERWINDEN geſtenn WERDEN. und 
Bätte die Agende bloß dieſe Tendenz gehabt, ihr Erfolg wäre lauter Segen gewejen. 
Allein fie follte auch die unansgetragenen Differenzen der Iutberifchen und der tefor- 
mirten Gonfeffien befeitigen, follte die Agende einer doch erſt poflulirten Unton fein. Die 
Indifferenteren acceptirten dankend eine Ausgleichung, aber den in der Differenz Stehen 
den konnte mit einem Machtfpruche nicht geholfen werden. Der faſt zum Stillſtande ge 
kommene Kampf belebte ſich gerade an der Agende wieder. Allein auch das Erwachen 
des Geiſtes muß ald eine fegensreiche Folge der von dem fremmen Könige Friedrich 
Wilhelm IH. beforgten Agenden angefehen werben. Hoffentlich werden die Geiſter nicht 
eber wieder in Schlummer und Schlaf finten, ehe nit aud auf dem Gebiete der 
Agende einem Jeden wieder fein Mecht geworben iſt. Durch Geduld und Treue wird 
man ſtark werden. 

Außer den angeführten find bie wichtigften Agenden für die römifche Kirche bie 
alten Ordines Romani. Das Concil von Trivent übertrug zum Zwecke noch gedßerer 
Gleichförmigkeit den Paͤpſten die Abfaffung neuer Ritualbäche. So erſchien 159% 
das Pontificale remanum, 1600. das Caeremoniale Episcoporum und für die Ber: 
sicgiungen der Seelforger das Rituale Romanum 1614. Diefelden wurden mit. Zuf 
1725 als eine Sammlung berausgegeben. Bür die griechifche Kirche haben Wichtigkeit 
’Apyrspatıxöc liber pontificalis ecclesise Graecae Paris 41676; Allgemeines Ritwal- 
Huch der griechiſch⸗ruſſiſchen Kirche Moskau 1834. Die englifche Kirche bat das book 
ef common prayer, in feiner jegigen Geftalt 1673 erſchienen. Die daͤniſche Kirde 
bat das Altarbuch von 1638, und die jegige ſchwediſche Liturgie iſt 1811 von Carl XIII. 
wach Genehmigung ber Reichöftände, eingeführt. 

Es bleiben zu vergleichen die Wörter Cultus und Liturgie, umter welchen uud 
bie * en vorhandenen Analogieen angeführt find. e. auch Meile um 

Agent. Mit diefem Namen bezeichnet man eine Perſan, die mit einer anderen 
im Auftrage einer dritten ein Geſchaͤft vermittelt oder abſchließt. So ſpricht man von 
diplomatiſchen Agenten (f. Geſandte), von kaufmaͤnniſchen Agenten 
(f. Senfale, Makler, Gommiffiondre) und endlich am häufigften von Ber 
fherungs- und Auswanderungs-Ügenten (f. Agenturwefen) 

et (1. Agenturwefen). 

Agenturweien. Wir reden bier zunaͤchſt vom Agenturweſen bei Verſicherungi⸗ 
—* und begreifen darunter alle Die Obliegenheiten, welche die von ſolchen 
Geſellſchaften beſtallten Agenten nach Maßgabe der Landeögefege, fo wie der überkom⸗ 
nıenen Bollmachten zu erfüllen baten. Dad wichtigſte genezelle preußiſche Geſetz in 
Betreff deb. Gefihäftöverkubre der Berficherungs-Anfalten if Das vom 17. Mai 1853. 





In Bezug auf die Agenten enthält es die Beſtimmungen, daß dieſe der Comsefflonisung 


der Regierungen unterliegen (6. 3); Daß die Gameefilon ohne Angabe der Gründe jeder 
zeit zurüdgenommen werben fann ($ 3); daß die Gonceſſton der Unteragenten erliſcht, 
wenn ihre Machtgeber (Genewal- ober Hauptagenten) bie Goncefllon verlosen ha 
ben, n. f.w. In 67T ſind die Strafbeſtimmungen für nichts conceſſionirte Vermitiler 


von Verſicherungs⸗Geſchaͤften enthalten, und Heißt es darin: „Wer für nicht ⸗ conceſſi⸗⸗ 


nirte Unternehmer oder Verficherungs » Anftalten, oder concefitonirte, aber ohme eigen 
Concefſton, felbſt oder Durch Andere gewerbbweiſe ober doch gegen irgend einen Bor: 


theil Verſicherungs⸗Geſchaͤfte abſchlleßt oder vermittelt, oder feine Vermittelung zur Abe 
Schließung folcher Gefchäfte, oder die Ertheilung von Auskunft über diefelben anbietet, 


bat Geldbuße bis zu 200 Thalern oder Gefängniß bis zu 3 Monaten verwirft*. Cine 
fpindfe Anslegumg dieſes Sefeged- Paragraphen könnte möglicher Weile zu dem Meſul⸗ 


tate führen, Daß die Auskunft, die ein Beamter im Büreau einer Agentur Verfücherung® 


Inftigen über die von feinem Primzipal vertretene Geſellſchaft ertheilt, wofern ed wieder⸗ 
holt (alfo im geſetzlichen Sinne gewerbömeiie) geſchaähe, ala ſtrafbar angsfehen werben 
müßte. Wäre diefe Auslegung richtig, fo würben ſich täglich Tauſende firafbar machen, 
unb man müßte confequester Weife jogar zu. Dem Mefuliste kommen, daß kein Agent 
aberhaupt einen Duremmichislfen halten Diufie, weil Diefen. mes ober weniger bei allen 


a 








HR AUBETLPIEUBUIWEN Dragien ſinden in Bezug Auf. DAS Agenturweſen meyt DON 
weniger abweichende Beflimmungen ftatt, doch Tann man im Allgemeinen behaupten, 
baf:ed in Diefen in geringerem Grade durch Gefetze geregelt tft, ald in Preußen. In 
einigen Staaten nimmt die Aufitchts Behörde vom Verficherungsiwefen gar feine Notiz 
und #6 bedürfen weder die Gefellfchaften noch deren Agenten irgend welcher Conceſſion. 
Was nun fchließlich die Obliegenheit der Agenten in gefchäftlicher Beziehung 
anlangt, fo find Die daranf abzielenden Vorſchriften in den von jeder Geſellſchaft aud- 
gegeberien Inſtructionen enthalten, die freilich nicht ins Publicum kommen. Das ein 
zige Werk, welches in dieſer Beziehung in die Oeffentlichkeit gefommen tft, und alle 
Verſicherungsbranchen umfaßt, if: Maſius, Handbuch für Verſicherungs— 
Agenten oder folche, welde e8 werden wollen, nebft einer Anleitung zu 
einer zweckmäßigen vereinfachten doppelten Buchhaltung. Leipzig, 1847. AS Sperial- 
war über das Lebeno⸗Verſicherungsweſen allein, ift noch anzuführen: Wiegand, 
vie Lebensverſicherungs⸗Praxis. 1. Thl. Wefen und Bereutfamfamfeit ber 
Bebensverficherung. 1. Theil. Anleltung zur planmäfiigen Betteibung der‘ Agentur 
Geſchaͤfte. 2. Aufl. Halle, 1858. Als Hülfsmtittel beim Lebensverſicherungs⸗Geſchäft 
noch zu erwähnen: Wiegand, Rebensverfiherungs-@ategiämusd. Ge 
Sprüche 'aus dem Leben. 2. Aufl. Halle, 1857. | 
2. Zn Bezug auf die Agenten von Auswanderungs⸗Unternehmern enthält das Geſeh 
som 7. Mai 1853, betreffend: die Veförberung von Audwanderern, die gefeßlichen Be⸗ 
ſtimmungen in Preußen. Wir heben hieraus als das Wichtigfte Folgendes hervor: Die 
Agenten bedürfen der Goncefflon der Bezirfs-Regierung ($ 1), dieſe wird nur an ganz 
zuverläffige und unbefcholtene Inländer ertbeilt, und auch nur dann, wenn von ihmen 
Der Nachweis gebracht witd, Daß ihre Vollmachtgeber in Preußen cöncefflonirt find ($ 2). 
Dir Conceſſion wird nur auf Das laufende Kalenderjahr ertheilt; und muß alljährlih 
wieder hakhgefucht werben ($ 3). Gründe der Conceſſions-Verweigerung anzugeben, 
iſt die Megkerung mar. den vorgefegten Behödrven gegenüber verpflichtet ($ 4). Die 
Conceſſions⸗ Ertheilung oder Verlängerung Tann an Hinterlegung einer Baution ge 
Danpft werden ($ 5). Die Conceffion erlifcht, wenn fie vom Vollmachtgeber zurüd- 
genommen iſt, oder legterer Die Concefiton verloren bat ($ 9). Strafbeltimmungen bei 
Bunwiderbandlungen (F 10). ' n 
„regt ift die Summe aller Theile, welche ein Ganzes conftituiten, oft mit 
dem enbegriff, daß jene Theile nur äußerlich an einander geheftet, nicht aber fo 
wuf:das Innigfte und untrennbar mit einander verbunden find, wie dies bei chemifchen 
DMifcyungen eintritt. So wird namentlich dieſer Ausdruck in der "Mineralogie von 
Foſſilien gebraucht, deren einzelne Veſtundtheile Fünftlich mit einander verbunden find, 
zu B. beim Granit. Ze 0 
Nach ihrer Aggregationsform oder ihrem Aggregatzuftande, db. h. 
nach der befondern Art des Zuſammenhanges ihrer Feinften Theile gerfallen’ alle Natur 
Aeper in fefte, tropfbar-flüffiige und Iuftfürmige Körper. Mancher Körber 
zeigt ſich uns unter verſchiedenen Bedingungen in allen brei, over doch in mehr alt 
zinem Aggregatzuftande.. Su wird z. B. das flirfige Wafler durch den Zutritt won 
Wärme in luftförmigen Dampf, durch Entziehung von Wärme in feſtes Eis vermanbelt. 
Aggregirt (von aggregare, zutheilen) heißen in der preußiſchen Armee Diejenigen 
Offſtziere welche, ohne in dem auf beftimmte Stelfenanzahl normirten Etät der Regi- 
menter zu fein; deten Uniform tragen, allen Dienft ihrer Charge nach dem Datum 
chtes Patents: thin und das Gehalt ertraordinär beziehen. Ihre durch Fixirung dee 
Mt Budgets auf ein Rinimum reducitte Zahl war früher ſehr bedeutend, da nach 
ven ‚Kriegen von 181315 alle Lanbwehr-Öffiziere, die zum ftehenden Heere übertreten 
wollten, den Negimentern aggregirt und alfmälig in die Etats eingefchoben murben. 
Die früher ebenfall8 aggregirten Offiziere, die nur die Uniform der betreffenden 
Regimenter tragen, aber zu Dienftleiftungen außerhalb derfelben als Adjutanten, Feſtungs⸗ 
Commanbanteu, Brigade⸗Commandeure ꝛc. vermendet werden und aud die Emolumente 
diefer Poſten beziehen oder auf ‚längere Zeit ohne Gehalt beurlaubt. find, werben ſeit 
4849.8..4a.:suite, geführt. . Diefem Iegteren. Ausdruck entſpricht die bei Dex öſterreichi⸗ 
ſchen . und ruſſifchen Armee eingeführte Bezeichnung Supernumerär. .. 














RUNIUHITWGTTUN, BIS. DIN Ve —— EIOV u TOTUNUUAID, wWiuroe Us NE govien 
erzogen. Als aber fein Oheim in der Schlacht bei Dettingen gefallen war, beſtimmte 
ihn Ludwig XV. zum Vormunde der von jenem zurüdgelaffenen ſieben Kinder nnd ſo⸗ 
mit zum Haupte der Familie. Er gab die militärifche Laufbahn auf, übernahm eine 
Staatöpacht und widmete fi) dem Studium der Kunft: und der Naturiwiffenfchaften. 
Liebling der höheren Gefelljchaft in Paris und Freund der damals gerühmteſten Gelehrten, 
eines Juſſieu, I. 3. Rouffeau, Buffon u. A., in glücklichen äußeren Verhaͤltniſſen, 
hatte er, als feine Kunftfludien ernfter wurden, feinen fehnlicheren Wunſch, als durch 
Reifen feine Anjchauungen zu bereichern. Als er durch den Tod Ludwigs XV. alle 
Hinderniffe befeitigt und feine finanzielle Unabhängigkeit gefichert ſah, reifte ee 1777 
durh England, Belgien, Holland und das weftliche und fübliche Deutfchland, Fehrte 
noh einmal nach Paris zurüf und verließ es, ohne eine Ahnung davon zu haben, -im 
folgenden Jahre für inımer. Er begab fich nach Italien, verweilte lange in Modena, 
ließ ältere Kunftwerke abzeichnen und faßte auf einer Reife von Venedig nah Rom 
am Ufer des Sees von Bolfena den Plan, die Kunftgefchichte-nach beglaubigten Dent- 
mälern vom vierten (wo Windelmann ſtehen geblieben war) bis zum fechzehnten Jahr⸗ 
hundert darzuftellen. Bon nun an widmete er diefem Werke Zeit, Fleiß und Vermögen. 
Schon war e8 bis zum Drude fertig, da brach die franzöflfche Nevolution aus, beraubte 
ihn feines Vermogens und hinderte ihn, fein Wert zu vollenden. Er erirug Dielen 
berben Berluft mit rubigem Gleichmutbe, blieb der Liebling feiner hohen Freunde und 
jeßte feine Studien mit allem Fleiße fort. 1831 erſchien in Paris fein „Recusil de 
fragmens de seulpture anlique en lerre cuite* — die Originale derfelben vermachte 
er dem Batican; — 1812. erfchienen die erften Hefte feiner (fpäter in's Italienijche 
überfegten und in 24 Lieferungen oder 6 Bänden in Fol. mit 325 Kupfern, 1820 zu 
Straßburg volfendeten) „Histoire de lart depuis la decadence du IV. sieche--par es 
mönumens“; und in demfelben Jahre, wo er, allgemein verehrt, ftarb. (24. Sept. 1814), 
erlebte er noch die hohe Freude, die Bourbond wieder in ihre alten Rechte eingefegt 
zu fehen. Seine Kımftgefchichte ift in einem claffifchen Stile abgefaßt und gehört zu 
den gründlichften Arbeiten ‚uber die Kunftwerke des Mittelalters. 

Agio; Agiotage. uUnter Agiv verficht man ben Unterfchied zwifchen bem Nenn» 
werthb und dem Marktpreis (Cours) einer Münze, eines Kandeldeffeftes, eines Börfen- 
papiers, wenn diefer Unterfchied zu Gunften derartiger Werthe bei ihrem Umfag gegen 
Iandesübliched Geld (Courantgeld) flattfindet. Im entgegengefepten alle Heißt bie 
Differenz Didagio. Der Bezeichnung Agio entfpricht nach dem Ufus der Londoner 
Börfe das Wort praemium, welches neueftens auch in der Börfenfprache des Eontinents 
Bürgerrecht erlangt bat. Hier wird: es jedoch meiftentheil® nur für bad Agio von 
Actien, Promeffen, Loofen u. f. w. gebraucht, während die Coursdifferenz zwiſchen Gold 
oder Goldmünzen und Eourantgeld unter die alte Bezeichnung Agio fallt. Wie aus 
dent Gefagten hervorgeht, tft alfo das Agio nichts Anderes ald: cin Plus, ein Auf⸗ 
geld, "welches nebft dem Mennwerth einer BR: oder eines Sanbeleyanires für Er- 
langung derfelben gezahlt werden muß. 

Agiotage ift die Speculation auf. den Cours: von Handelswerthen, wie er wurch 
das Verhaͤltniß zwiſchen Angebot und Nachfrage beſtimmt wird und in Folge der leiſe⸗ 
ſten Veränderung dieſes Verhaͤltniſſes jeden Augenblick afficirt werden; kann. Ber. ſich 
ſolcher Speculation ergiebt, heißt Agioteur. 

Nicht immer jedoch hatten: die drei Worte: Agio, Aglotage, Agioteur die eben 
mitgefbeilte Bedeutung. Urfprünglich galt dad Wort Agio von der Differenz, welche dem 
Bankgelde (der Münze, in welcher große Banken rechneten und. ihre Gefchäfte abwickelten) 
gegen: dad gewöhnliche Courantgeld zukam !). Dieſe Differenz bildete für- Bankgeld bie 
Megel, voeil es Münzverfchlechterungen, mie fle von den übel berathenen Ugenten jener 
Zeit: über Bautanißeib verhängt und ausgeſett war. Der — Agioteut 


) Bol. Scherer, Allg. Geſchichte de Welthandels, Leipz. 1853 Bo. 1. p. 48; dann audı 
Law's Mem. a das ſchott. Parlam. im I. Bde. der Collection des princip. $conoın. Paris 
Guillaumin (c. 3. p. 4%) und M&lon, Essai polit.:sur Je cemm. c. 21, ibid. p. 791. 





yiy Mr ER y.,. IUYTE L AZ 7 WIUHITSREN RENIBHN AR Ve OTTO WITT WO 
unzähligen, ftetd unter dem Nennwerthe ſtehenden Schulppapiere dieſes verſchwenderi⸗ 
fchen Herrſchers befaßten; erft fpäter dehnte man die Namen Agiotage und Agioten 
auf Börfenfpiel und Börfenfpieler überhaupt aus, wobei es feit den Tagen des Law- 
Schwindels in Frankreich (1719) geblieben ift. 

Die Agiotage ift eine Form der faufmännifchen Speculattion und hätte als ſolche 
ihre volle Berechtigung, wenn fle nicht unglädlicher Weife zum rohen Spiele ausge⸗ 
artet wäre. Die Wirfungen des. Spiels, und zwar eines Spield von ungeheurer Dis 
menſton, verfehen mit in’3 Maßloſe gehenden Chancen, fönnen nur verberbliche fein, 
und die öffentliche Sittlichkeit wie der Volkswohlſtand haben unter Diefen verheerenden 
Wirkungen in gleich fchredlicher Weife zu leiden. Nehmen wir 3. B. Die einfache 
Spielart der Agiotage, ‚bei der fich in der Negel nur angejehene Handelshauſer betheis 
ligen, ver gewiß jeder Börſenmatador das Prädicat Außerfter Solivität nicht vorent- 
halten wird: 

Eine neue Actien-Uinternehmung wird begründet, und man fängt an, die Papier 
derjelben in den Handel zu bringen. Diejenigen, welche die Unternehmung ind Leben 
gerufen haben, beflgen die Mehrzahl der Actien und müflen nun nach Käufern fuchen. 
Es gilt, den Cours ihres Effectd in die Höhe zu treiben; durch Verheißung glängen- 
der Bortheile auf die Einbildungskraft der Kaufluftigen zu wirken; durch Anpreifungen, 
wahr oder falſch, die Stimme der Widerftrebenden zu übertäuben; durch künfſtlich 
geuppirte Zifferreiden dem Laien zu imponiren; durch zuverfichtlich gegebene Berechnun⸗ 
gen des künftigen Gewinns der Unternehmung, durch Complottirung mit anderen Bel 
leuten (Eonjortien), durch Beſtechung der Preffe, durch Anwendung aller guten und 
ſchlechten Mittel, aller großen und Fleinen Künfte der Speculation und Concufflon dem 
einen großen Ziele nachzufagen, das mit dem Vorbandenjein eines namhaften Agio 
auf die betreffenden Actien gegeben ift und mit der @infädelung deſſelben zu Händen 
der wohlnerdienten Begründer der Unternehmung fich abſchließt. Das einfache Factum 
der Eoncefliond » Ertheilung zur Bildung eined Actienvereins kommt auf dieſe Weile 
der Eröffnung einer Goldgrube zum Beften der Eoncefflonäre gleich, vorausgeſetzt, daß 
diefe die Kunft der finanziellen Plusmacherei weg haben und die Beſchwindelung des 
Publicumd ind Große treiben können. Kein Wunder daher, wenn die Erfchleigun 
und Ausbeutung bebörblicher Goncefflonen bei uns diejelbe Rolle zu fpielen beginnen, 
welche der Ablapfrämerei zu Anfang des 16. Jahrhunderts zugefallen war. Wenig: 
ſtens find die Mittel und Kunflftüdchen beider Betrugsarten gleich marktſchreieriſch, 
gleich ermiebrigend, gleich vermerflich ! 

Die Agiotage hat mit allen übrigen Machinationen der Unflttlichfeit das Gemein 
fame, daß fie felbft Denjenigen, die fle betreiben, zum Schaben und Nachtheil geräth. 
Ein täglich vorkommender Fall ift 3. B. folgender. Der Agioteur X. giebt feinem 
Agenten — denn der Bermittelung folcher bebient fich eine große Zahl Börfenfpieler ') 
— den Auftrag, ein gewifles Papier, dad fich dem Eourfe von 150 pEt. nähert, zu 
dieſem Preife auf feine (bed Auftraggeberd) Rechnung zu verfaufen. Wenn ji ein 
Effect dieſem runden Gourfe (150 pEt.) nähert, fo pflegen mehrere Speculanten ber- 
gleichen Berkaufs-Aufträge zu geben, indem ſie den fichern Durch Verkauf erzielten Ge 
winn den Ghancen einer weiteren Betheiligung am Spiele vorzuziehen geneigt find; die 
Agenten diefer verfchiedenen Speculanten verftändigen fih num untereinander, und bat 
nicht immer auf vorbergebende VBerabrebung, fondern gleihjam wie auf einen Winf dei 
Schickſals oder, beffer gefagt, in richtiger Würdigung des Gefchäftsganged. Die naͤchſte 
Frucht der Verfländigung unter den Herren ift, daß fie bereitö zu dem Gourfe von 
149%, 3. B. maffenhaft zu verkaufen beginnen. Durch foldhe Verkäufe hemmen fie 
natürlich den Aufichwung des Papiers auf 150 und gewöhnlich gelingt es ihnen, daß 
fie den Cours um °/, oder Y, Procent unter 149%, herabbrüden. Iſt Died ge 
ſchehen, fo Kaufen fle in aller Ruhe dad vor wenig Minuten Verkaufte zurüd und 
fönnen e8 eben um das Viertel oder halbe Procent, um das durch ihr Vorgehen bie 


mr 71 





’) ©. weiter unten den Art. Börſe. 














eine Ultimoliquidation. Ver geittauf Tann nun wieder ſeſt oder bedingt geſchloſſen 
werben. Ä 

Feſt ift derjenige Lieferungsfauf, welcher den Käufer zu Uebernahme bes Papiers 
und den Verkäufer zu deſſen Ablieferung an dem beftinnmten Tage und zu den im 
Boraus bedingten Courfen verpflichtet. 3.8: U. fauft von B. 50 Stüd oͤſterreichiſch⸗ 
franzöfifche Staatsbahn - Actien zum Courfe 185 und vierzehn Tage nad) Schluß zu 
übernehmen. \ Ift der Termin abgelaufen und der Cours inzwifchen um 2 Thlr. z. 2. 
gefallen, fo Fönnte B. die Papiere, die er zu 185 zu liefern hat, a 183 Taufen, fo 
daß er an 50 Stud 100 Thlr. gewänne. M. hingegen verliert diefe Differenz zwiſchen 
dem allgemeinen Courfe und dem böhern, von ihm zu bezahlenden Kaufpreis. In ber 
Regel aber hat weder U. dad Geld, um die Papiere von B. zu übernehmen, noch 
befigt B. die Papiere, die er zu liefern hätte; es verſteht ſich alfo von felbft, daß N. 
dem B. nur die Differenz zwifchen dem ausgemachten Kaufpreid und Dem Börjencoure 
des Kieferungstages, mithin 100 Thlr. auszablt, und cbenfo hätte der Verkäufer (B.), 
wenn die Bapiere etwa um 2 Ihlr. über 185 geftiegen wären, Dem U. dieſe Differen; 
erfegen müffen. Das Ganze geftaltet fich fo ald eine pure Wette auf die Courſe, obne 
daß von einen. reellen Kaufgefhäft die Hede wäre. — Es kann übrigens auch vor: 
fommen, daß U. (der Käufer), ftatt Die Papiere von den Verkäufer am beftimmten 
Tage zu übernehmen, alias die Differenz zu zahlen, dem B. die Actien noch überläkt, 
jo daß der Termin zur Abwidelung des Gefchäftes verlängert (prolongirt) wird, era 
um weitere 14 Tage. Für diefe Prolongation, durch welche B. der fichere Vorthtil 
entgebt, muß ihm eine Entjchädigung gezahlt werden, der fogenannte Report, wa 
nach dem Pariſer Gebraudy Durch Verabredung eined höhern Courſes gefchiebt, zu 
welchem U. die Bapiere nach Ablauf des neuen Termins zu übernehmen verfpriht. 
Bei dergleichen Prolongationen kann ſich A., wenn der Berfäufer auf fofortige Ligui 
dation dringt, an einen Dritten wenden, welcher mit dem Drängenden abwidelt, unt 
dafür den Report von dem prolongations-bedürftigen Käufer einfordert. Sole de: | 
'mittler nennt man Neporteurs; fle bilden eine eigene Klaffe von Speculanten, die ſich ver 
ben übrigen, wie es die Natur des Gejchäftes erheifcht, Durch Beſitz größerer Kon? 
audzeichnet und demgemäß öfter die Courfe zu bictiren vermag. Der Gegenjag von 
Report beißt Deport und tritt dann ein, wenn viele Verkäufer a decouvert (f. weitet 
oben den gleichnamigen Artikel) fich plöglich deden und die Papiere einkaufen müſſen. 
die fle zu liefern haben. Dadurch treiben fle die Preife in Die Höhe, ohne daß bie 
fo hervorgerufene Steigerung (Hauffe) von Dauer wäre. Mit dem Aufhören ber for 
eirten Käufe ift auch die Hauſſe zu Ende, die Courfe finfen; und deshalb wird Jever 
mann, der diefen Verlauf aus Erfahrung fennt, nicht anftehen, zur Zeit einer der 
artigen Hauſſe billiger à lerme zu verfaufen, als fich die plötzlich hinaufgetriebenen 
Gomptanteourfe ftellen. Ginen ſolchen Unterfchied zu Gunften der Gomptanteour 
nennt man Deport. a 

Bon dem feften Zeit oder Lieferungsfauf unterfcheidet fich Der bedingte burd 
den Vorbehalt des Rücktritts vom Gejchäfte, oder der freien Wahl der Erfüllungsatı, 
die einen der Contrahenten freigeftellt if. Es find Dies Die fogenannten Prämien: 
gefhäfte und die Stellagen. Als Beifpiel des Prümienkaufes wollen wir das 
erfte Gefchäft, Das von ber Art in Frankreich gemacht wurde, bier _aufführen. Da 
Berdienft, den Kauf auf Prämie bei unferen Nachbaren jenfeits des Mheind eingebür- 
gert zu haben, muß dem Napoleon des Börfenfpield, dem Schotten Law, zuerkannt 
werden. Unter feinen Aufpicien war (Auguft 1717) die fogenannte Occident⸗Compagnit 
gegründet worden, und die Actien berfelben wollten trog aller flaatlicyen Protection 
nicht in die Höhe gehen. Ende April 1719 fanden fie noch immer 30 oder u 
Procent unter dem Nennwerth. Da kaufte Lam 200 Stück folder Actien, nad d 
Monaten zu übernehmen, zum vollen Nennwertb (500 Livres) und erlegte fogleich ein 
Angabe von 40,000 Livres, die verfallen’ fein follten, wenn er nach Ablauf des halt: 
jährigen Termind vom Gefchäfte zurüdtreten und die gefauften Actien nicht übernehmen 
würde. in folches Angelo, mit deſſen Erlegung die Befugnig zum Rücktritt verbun⸗ 
den ift, heißt Praͤmie. Gegenwärtig find Prämiengefchäfte beſonders beliebt, nament⸗ 











u wn [73 - 
. _ 72 


or... ee WELWYTTERTD ., 222 4 cr Au A pPrtrgrss WU 8Le 

Meiter gehören zu den bedingten Lieferungdfäufen die Stellagen. Es ift ein 
Stellage, wenn der eine Eontrabent ſich dem andern gegenüber. verpflichtet, nach dei 
Lesteren an einem beflimmten Tage zu erflärender Wahl, entweder eine gewiſſe Anzah 
Papiere zu dem im Voraus feſtgeſetzten Courſe zu liefern, oder aber dieſelben zu einen 
etwas höheren Gourfe von dem Erften zu übernehmen. Der zur Wahl Berechtigt 
heißt der Wähler, der Andere der Stelle. 3. B.: A ſchließt mit B über 50 Stüc 
Leipziger Gredit-Actien ab, binnen 14 Tagen zum Courſe von 74 zu liefern oder zı 
78 zu übernehmen, damit hat ſich A verpflichtet, nach Ablauf des Termins, je nad 
des Andern freier Wahl die Uctien zum Gourje 74 an B zu verkaufen, oder aber die 
felbe Partie Stüde zu dem höheren Courſe (78) von B zu übernehmen. Der Mittel 
Eourd zwifchen 74 und 78 ift 76; ftellen fi die Actien binnen 14 Tagen über da 
Mittel-&ourd, fo liegt e8 in B's Vortheil, fich Ddiefelben von A zu 74 liefern zı 
lafien, denn er gewinnt in dieſem Falle mehr, ald wenn er fie zu 78 an A verkaufte 
ift aber der Mittel-Courd am Erflärungstage nicht erreicht worden, fo wird B natür: 
li an A verkaufen, weil er die ganze Differenz zwifchen dem Verkaufspreiſe (78) uni 
dem unter 76 ſtehenden Börfencourfe profitirt. " 

‚ In dem BVorhergehenden haben wir die hauptfächlichften Formen, unter welche 
die Agiotage betrieben wird, kurz charakterifirt. Dieje Formen felbft geben Anlaß zı 
mannichfachen Combinationen, deren gefchictte Ausführung und rafche Eonception der 
Börfenfpieler von Beruf ausmachen. Weiter in die Sache einzugehen, ift hier nicht dei 
Drt, denn ed fällt außerhalb der Grenzen unfrer Unternehmung, die Kunft zu lehren 
wie Börjenverlufte abgewendet und Gewinnfte erzielt werden können. Es genügt, zı 
zeigen, wie überhaupt Agiotagegefchäfte gefchloffen werden und welche die lanpläufigfter 
Uſancen bei denfelben find. Wer ſich des Näheren über den Gegenftand belehren will 
Ichlage die unten verzeichneten Werke nach ); er möge fich jedoch überzeugt halten 
dag man das Börfenfpiel jo wenig aus Büchern erlernen könne, wie das Schwimmen 
oder Meiten. Hier macht Prarid den Meifter, nur daß das Lehrgeld, welches Börſtane 
im Anfang ihrer Laufbahn zahlen müſſen, gewöhnlich ein fehr hohes ift und nich 
jelten Die weitere Verfolgung des Handwerks unmöglich macht. — Schließlich haber 
wir noch zu erwähnen, dag die Agivtage, ald Speculation auf das Fallen oder Stei 
gen der Preife, fich auch auf Waaren erfiredt. Die Preis⸗Notirungen von Spiritus 
Golonialmaaren, Getreide bieten der Speculation à la hausse und A la baisse heut 
zutage eben fo viel Spielraum, wie die Gourdveränderungen an Geld- uni 
Effectenbörfen. Ä 

Agitator hieß bei den alten Römern ein Antreiber, nämlich der Wagenpferbe 
alfo ein Kutfcher, vorzugäweife aber derjenige, welcher bei den Schaufpielen auf den 
Circus maximus in Rom Pferde und Wagen Ienkte und mit andern um den Preit 
rang. Da aber dad Zeitwort, von welchen das Wort herfonmt, auch ein paarma 
aufwiegeln heißt, fo befam auch das Hauptwort, namentlich im frangöftfchen feit de 
Revolution, den Sinn „Aufwiegler” und zwar U. des Volks für politifche Zwede 
In diefem Sinne wurde ed Durch einen auf die ähnliche Ausfprache gegründeten Wit 
von den Soldaten gebraucht, die in dem englifchen independentifchen Heere gleichjan 
als foldatijches Unterhaus abgeordnet wurden. Nämlich ald das Heer unter Bairfa: 
1647 immer independentifcher wurde und Cromwell heftig über das Parlament Elagte 
daß es die Independenten bevrüde, ungeachtet man deren Tapferkeit alle verdanfe 
fuchten die Presbpterianer im Parlament, welche dort das Lebergewicht hatten, das 
Heer aufzulöfen, die Offiziere über den Rang eines Obriften hinaus zu entlaffen uni 
alle Beamten, die ſich dem presbpterianifchen KircheneMegimente nicht fügen wollten 
von ihren Aemtern zu entfernen. Sobald das Heer von diefen Beſchlüſſen erfuhr 
näherte es fich der Hauptſtadt. Parlaments» Commifjäre wollten mit den Offizieren 


) P.J. Proudhon Manuel du Speculateur A la bourse, Paris 1857; deutſch in 
Auszuge erfhienen Zürich 1857 bei Meyer und Seller. J. G. Courcelle-Seneuil Traitk 
theorique et pratiquo des Operations de Banque, Paris 1857, 1. Il. ch. 16; Giniges aud 
bei Bleibtreu polit. Arithmetit, Heidelberg, 1853. 88 93—106, 


31* 





7 


verfprach für das bereits Gefchehene Verzeihung, wollte aber die bei diefer Gejlnnung 
Beharrenden ald Feinde des Staats anfehen. Da bildete dad Heer ein Oberhaus aus 
Offizieren und ein Unterhaus aus zwei Deputirten jeder Compagnie (Gorporalen und 
Sergeanten) welche Iegtere Adjutators (Sprecher, Tribunen, Amwalte) genannt wurben. 
Einer diefer Adjutators, ein gewifler Spice, entführte nachher (3. Juni 1647) den 
König Karl mit Gewalt von Holmby und lieferte ihn Der Armee in die Hände. Aut 
dem Namen Adjutator machte der Wig Agitator, und dieſes Wort ift, beſonders ſeit 
das franzöfifche Agitateur auch in diefer Bedeutung gebraucht wurde, die Bezeichnung 
derer geworden, welche durch gleißende und Tügnerifche Neben das Volk zur Empörung 
reizen, die Bezeichnung für die Advokaten der Revolution, für die Aufiwiegler. 

Agnaten. Der Begriff der Agnation ſtammt aus dem römifchen Rechte und be» 
zeichnet dort im Allgemeinen ein durch väterliche Gewalt begründetes verwandtſchaftliches 
Berbältnig. — Der natürlichen oder Bluts⸗Verwandtſchaft, cognatio (naturalis), ſtell⸗ 
ten die Römer nämlich die agnatio, auch cognatio civilis genannt, gegenüber und be 
trachteten als agnatifch verwandt Perſonen, von denen die eine in der patria poteslas 
der anderen fleht, oder welche zufanımen in der palria potestas einer britten fteben, 
geftanden haben oder ſtehen würden, wenn diefe dritte — das gemeinfchaftliche Familien⸗ 
Oberhaupt — noch am Leben wäre. Wurde die väterlidhe Gewalt nicht durch Tod, 
fondern durch eine juriftifche Handlung (Gmancipation oder Adoption) aufgelöft, jo 
hörte audy die AUgnation auf. — Hiernach Fonnte alfo ſchon im römifchen Rechte die 
Agnation zwar nur durch Männer fortgepflanzt werden, aber es Fonnten Doch jehr wohl 
Weiber (3. B. zwei Schmeftern) oder Männer und Weiber (Brüder und Schwellen) 
agnatifch unter einander verwandt fein. Nicht fo im gemeinen Nechte, welches den 
Begriff der Agnation auf Berwandtfchaft unter Männern, durh Männer ver: 
mittelt, befchränft. Die gemeinrechtliche Agnation entfpricht hiernach im Ganzen der 
Schwerbtmagenfchaft des alten deutſchen Rechts, infofern letztere alle entfernteren männ- 
lichen Seitenverwandten umfaßt. ) — Am engften formulirt das Preußifche Allgemeine 
Landrecht den Begriff, denn es verfteht unter Agnaten nur „Seitenverwanbte männ 
lichen Gefchlechts, welche durch eine ununterbrochene Reihe männlicher ebelicher Nach⸗ 
fommen, von eben dem erften Erwerber des Lehns, wie der nußbare Eigenthümer felbft, 
abftammen.* 2) Die Agnation ift bier alfo Tevigli auf Das Gebiet des Lehnrechts 
befchränft und dieſes, jo wie das ihm verwandte Privatfürftenrecht find in der That 
die einzigen Materien, in welchen der Begriff noch heute praftifche Bedeutung bat. — 
Im Lehnrecht namentlich kommen die Agnaten in Frage bei allen Dispoflitionen über 
die Subjtanz des Lehnd und fie Fönnen derartige, ohne ihre Zuſtimmung getroffen, 
ihnen nachtheilige Verfügungen nach erlangter Succeflton anfechten, fofern nicht pofltive 
gefeglihe Ausnahmen entgegenfteben. Auch zur Aufnahme von Lehnsſchulden bebari 
e8 in der Regel des Confenfes der Agnaten. - 

Endlich ift der Begriff der Agnation noch von Wichtigkeit bei der Thronfolge⸗ 
"Ordnung, denn diefe ift in allen deutjchen und in ben meiften anderen europäifchen 
Staaten eine agnatifche, nad dem Mechte der Erfigeburt und der Rinealfolge. Go 
in&befondere auch in Preußen. 9) 

Agned, Gräfin von Orlamünde. Die Gräfin Agnes von Orlamünde ift eine 
von jenen gefpenfterbaften Gejtalten der Vorzeit, Die Furcht, Abfchen und Mitleid 
erregen Jahrhunderte hindurch, dann aber bei näherer Forſchung in Nichts zerfließen. 
Darum war feine Perfönlichkeit paffender ald gerade Agnes von Orlamünde, zum Ur 
bilde der gefpenftifchen weißen Frau, die umgeht auf den Schlöflern der Hohenzollern 
und Brandenburger, und Durch ihr Erfcheinen den nahen Tod eined Gliedes von Die 
fen erlaudyten Gefchlecht anfündigt. Nach der Sage, und wig viele Scribenten haben 
fle nicht nachgefchrieben? verliebte ſich die verwittwete Gräfin Agnes von Orlamünde 
in den Burggrafen von Nürnberg, Albrecht den Schönen von Zolleen. Der fprad) 
zweideutig, die Liebe der Gräfin zu ihm fei ohne Hoffnung, fo Lange vier Augen ſich 

RN Sachfenfpiege I 19. $ 1; 1. 23; 1. 45; 11. 16. 8 1; 111. 15. 5 4. 


R. Th. J. Tit. 18, 8 16. 
3) Verfaſſungs⸗ Urkunde vom 31. Sanuar 1850, Art. 53, 








—4 DU A n& yet UNE V. mungve Jrrstve sv. grmirasts ey end — DIV MUVY 
Stolz nicht in eine ſolche VBerbinduug gewilligt haben würden. Die verliebte Graͤfin 
aber glaubte, ihre beiden jungen Kinder ſeien das Hinderniß, ſie ermordete deshalb in 
Liebeswahnſtnn beide Kinder. Der Burggraf wandte ſich vor Entſetzen über ſolche That 
fhaudernd von ihr. Die Mörberin pilgerte nach Rom, fiftete dann zur Sühne daß 
Klofter Himmelskron und rutichte auf ihren Knieen, Buße übend, bis nach dem Ber⸗ 
neder Thal. Ruhe aber fand fie nicht und erfcheint feitvem ald „weiße Frau“ in den 
Zollerifch - Brandenburgifchen Schlöffern, Tod verfündend, weil Burggraf Albrechts 
zweideutige Rede fie zum Mord ihrer Kinder verleitet. Im Klofter Himmelskron zeigt 
man das Grab Burggraf Albrecht, der Mörberin und ihrer Kinder. So die Sage, 
die freilich yor Der hiſtoriſchen Kritif völlig unhaltbar if. Es gab zunächft gar Feine 
Gräfin Agnes von Orlamünde. Zu Burggraf Albrechts Lebzeiten Fann man drei Grä- 
finnen von Orlamünde nachweifen; Beatrix, Prinzefiin von Meran, Gemahlin des Gra⸗ 
fen Otto von Orlamünde, fie war aber Burggraf Albrecht des Schönen Groftante, 
Schweiter feiner Großmutter, auf fle ift alfo die Sage nicht anwendbar; Gunigunde, 
Landgräfin von Leuchtenberg, Gemahlin Otto V., Grafen von Orlamünde auf der 
Pleffenburg. Diefe Dame war aber Finderlo8, fie nahm noch bei Lebzeiten ihres Ge- 
mahls eine Verwandte, Podica von Schaumburg, als Tochter an, die Burggraf Johann, 
der durch Verträge in Beſitz dieſes Theild der Orlamünde’fchen Beilgungen fam, aus⸗ 
Rattete, ald fie fich 1341 mit dem Ritter Poste Schwerik verheirathete. Diefe Gräfin 
bat allerdings im Klofter Himmelskron 1343 eine Stiftung gemacht [nicht das Klofter 
ſelbſt geftiftet, dad beftand Damals fchon über 60 Jahre] zu Seelmeſſen für ihre Eltern, 
ihren Gemahl und fich felbft, Auch in diefer Urkunde ift nicht von Kindern die Mebe, 
und ſehr natürlich, fie hatte Eeine, Eonnte alſo auch Feine ermorden. Die dritte Gräfin 
von Orlamünde ift die Wittwe des Grafen Orlamünde zu Berned, fie war eine Tochter 
ded Herrn Poske von Schaumburg, und verfaufte 1342 ihren Antheil an dem Orla⸗ 
münde’fschen Erbe an Burggraf Iohann. Diefe Gräfin hatte Kinder, aber die Sage 
kann auf fie feine Anwendung finden, denn als ſich Burggraf Albrecht der Schöne 1342 
mit der Gräfin von Henneberg vermäblte, als mithin fir eine Liebe gar Eeine Augficht 
mehr war, lebten diefe Kinder noch, der Nitter Poste Schwerig tritt in den Verhand⸗ 
lungen über die Abtretung von Berne immer ald Bevollmächtigter für die Gräfin und 
ihre Kinder auf. 

Urkundlich aljo ſteht feft, daß die Sage auf Feine der Graͤfinnen von Orlamünde 
paßt, die zu Lebzeiten Burggraf Albrecht des Schönen lebten. Die Annahme, nad 
welcher die Sage nur eine Allegorie fein joll, man habe diefe legte Graͤfin eine Mör- 
derin ihrer Kinder genannt, weil fie ihr Erbe verkauft, ift willfürli und gezwungen; 
auch Hatte Burggraf Albrecht nichts zu thun mit diefem Verkauf. Noch willfürlicher 
und durch nichts unterftüßt ift die Annahme, Graf Otto V. und Gunigunda von 
Leuchtenberg hätten eine Tochter Namens Agnes gehabt nnd diefe fei die Hauptperfon 
der Sage. Diefe Agnes wurde erft erfunden, um die Sage zu flügen. Auch die drei 
Leichenfteine im Klofter Himmelskron, auf die fich die Vertheidiger der Sage berufen, 
baben bei näherer Uinterfuchung mehr Dagegen ald dafür ergeben. Der Leichenftein, 
den man für den der Gräfin bielt, zeigt nicht die Geftalt einer Frau, fondern die eines 
Ritterd im Ordendmantel, dad große Schwert, das die Figur in der Hand hielt, zum 
Zeichen, daß fie verdient hätte, hingerichtet zu werben, .wie man fagte, iſt nur dad her⸗ 
fümmliche signum jurisdictionis, und aus ber Umfchrift laßt fich ohne Mühe entziffern, 
daß es der LKeichenftein des Grafen Dtto I. von Orlamünde ift, der das Klofter 
Himmelskron ftiftete. Der zweite Leichenftein, unter welchen Burggraf Albrecht der 
Schöne liegen foll, zeigt ein ganz andered Wappen ald das zollerifch - neuenburgifche, 
auch Tiegt Albertus Pulcher ohne Zweifel im Klofter Heildbronn bei Ansbach begraben. 
Das dritte Grab, in welchen die ermordeten Kinder liegen follen, ift 1701 aufgegraben 
worden. Man fand die Mefte einer braunen Mönchskutte darin. Das was man für 
die Bilder der Kinder gehalten hat, find geflügelte Genien oder Engel, die als Schild. 
halter gedient haben mögen. 

Es hat Feine Gräfin Agnes von Orlamünde gegeben, es gab überhaupt feine 
Gräfin von Orlamünde zu Lebzeiten des Burggrafen Albrecht des Schönen, an beren 


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nderd fuchen. 

Agnus Dei. Nach Joh. 1, 29 nannte Iohannes der Täufer Ehriftum das 
Lamm Gotted, welches die Sünden der Welt hinwegnimmt. Diefe Worte werden feit 
Papft Sergius aus dem 7. Jahrh. auch in der Meſſe gefprochen und vom Chore ge 
fungen, und gewöhnlich nennt man diefe Oration oder diefen Gefang felbft das Agnus 
Dei. — Unter diefem Ausdrucke verfteht man aber auch die Lammbilder, welche ſym⸗ 
bolifche Abbildungen Ebhrifti find. Insbeſondere heißen fo die wächſernen Lammbilde, 
weldhe (feit dem 14. Jahrhundert) der Papft im erften und fiebenten Jahre feiner 
Regierung am Oftervienftage feierlich weiht und an vornehme Perſonen vertheilt. . Sie 
find_aug dem übrig gebliebenen Wachfe der Ofterkerzen gefertigt. — Chriſtus, der gute 
Hirt, ein Lamm tragend, findet fich häufig in den Bildern der römifchen Katafomben, 
das Lamm allein, mit einem Kreuz in den DVorverfüßen, (dad eigentliche agnus Dei) 
findet fih in Fresken, Kelchbildern u. vergl. von 6. Jahrh. an. — In der griechijchen 
Kirche heißt Agnus das Tuch, welches über den Kelch (in der Mefie) gededt wir, 
weil Häufig ein Lammbild darin geftickt if. — Auch franzöftfche Goldmünzen aus dem 
Mittelalter nannte man Agnus oder moutones von dem Lammbilde, dad fie im Gr 
präge trugen. 

Agonie, Todesfampf, dad Ringen mit dem Tode, nennt man diejenigen Eſſchei⸗ 
nungen, welche den wirklichen Eintritte des Todes vorangehen, fobald der Menfch nidt 
plößlich 3. B. auf eine jo gewaltſame Weife vom LXeben zum Tode gebracht wird, da 
Die das Leben zunächft unterhaltenden organifchen Thätigkeiten, Blutumlauf, Athmen 
und Hirnfraft wie mit einem Schlage aufgehoben werden. Diejenigen Erjcheinungen, 
welche dem Tode in Folge von Krankheiten, oder bei dem im höchften Alter eintreten: 
den Abſterben vorangehen, können fehr verfchieden fein, fo wie auch die Dauer der 
Agonie felbft fich bald langer bald Fürzer zeigt. Bei lebenskraͤftigen Perſonen, jugend 
lichen Subjecten, währt der Todeskampf oft länger, wie bei ſchwaͤchlicheren, durch lange 
voraydgegangene Leiden aufgeriebenen Individuen: eben fo iſt die Natur der Kranl- 
beit für die längere ober kürzere Dauer der Agonie entjcheidend und dabei Die Art de} 
Todes, ob derfelbe vom Gebirne, von den Athmungswerkzeugen oder vom Herzen au 
geht, maßgebend. Am leichteften und rafcheften ift die Agonie bei den Todesarten 
welche vom Herzen ausgeben, am längften und fehmerften diejenige, welche den von 
den Athmungöwerkzeugen bewirkten Tod begleitet. — Die Erfcheinungen felbft, welde 
auf dieſer Grenzfcheide zwifchen Leben und Tod auftreten, und gleichfam das lepte 
Ringen der Lebenöfräfte gegen den einbrechenden Feind außsdrüden, find: Beklemmung, 
Angſt, erfchwertes röchelndes Athmen, Krämpfe, Ealte Schweiße, Berluft der Sinne 
thätigfeiten, Aufhebung ‘des Bewußtſeins, Irrereden, DVerfallen der Gefichtözüge (facies 
hippocratica) oft bis zur Unfenntlichfeit, Kälte des Körpers, beſonders des Kopfed 
und der Gliedmaßen, Veränderung im Pulſe, fo daß derfelbe ſchnell, klein, ausfegend 
wird, und zulegt Faum oder gar nicht mehr gefühlt werden Fann. Unter diefen Er 
ſcheinungen wird das Athmen immer fürzer, endlich ausſetzend, in längeren PBaufen er 
folgend, bis mit dem letzten Athemzuge und Herzfchlage der Kampf zu Ende und ber 
Tod wirklich eingetreten ift. \ 

Agoult, Grafen d'. Alter Adel der Provence, ſchon in den Kreuzzügen genannt: 
das Amt des Großfenefchals von Provence war, nach Guy Allard, erblich in der Fa⸗ 
milie. Nach der Gallin Chriftiana war Johann von Agoult 1379 Erzbiſchof von Ai. 
Für Isnard IM. von Agoult wurde Stadt und Thal von Sault zu einer Grafjchaft 
erhoben 1561. Der Generallieutenant Anton Johann, Vicomte von Agoult, erfta 
Stallmeifter der Dauphine und Gouverneur von Saint Eloud, wurde am 23. Decem⸗ 
ber 1823 zum Pair von Frankreich ernannt, er flarb 1828. Graf Hector d'Agoult, 
ber die Bairfchaft erbte, fungirte ala Gefchäftäträger an dem fihwebifchen und bollan- 
diſchen Hofe. Das Wappen zeigt einen blauen Wolf im goldenen Feld, ift mit einer 
Bürftenfrone bevedt: Schilvhalter zwei Engel. Die ritterliche Devife lautet: avidus 
committere pugnanı. Ein d'Agoult, wahrfcheinlich einer Seitenlinie des Hauſes ent- 
fproffen, denn er flammte aus der Dauphine, mo d'Agoult's ſeßhaft waren, Fam als 
Refugi6 nach Berlin. Er fchrieb ſich Francois d'Agoult de Bonneval und flarb 16%, 


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IM N, | 
u) Here Hinterlaffend, die 1769 noch als Wittwe des Generale Lieutenants 
Nemba in Berlin lebte. 

In neuefter Zeit hat fi eine Gräfin d'Agoult unter dem Schriftfteller - Namen 
Daniel Stern durch mehrere Schriften befannt gemacht. Sie war mit dem befannten 
Glavier-PVirtuofen Franz Lißzt vermählt, ift aber wieder von ihm geſchieden. 

Agra. Während der Regierungszeit Wilhelm's IV., oder in den dreißiger Jahren 
Laufenden Jahrhunderts, war es im Plan, die Praͤſidentſchaft Bengalen zu theilen und 
aus den norbweftlihen Provinzen eine Präſidentſchaft Agra zu bilden. Allein 
Die Ausführung dieſes Planes unterblieb und ftatt beffen wurde Das Gouvernement 
Der Norbweftprovinzen errichtet. Der Governor einer Präftdentjchaft hätte zum General- 
Governor eine unabhängigere Stellung eingenommen, als der Lieutenant» Governor 

eines Gouvernementd hat. Dad Gouvernement der Norbweftprovinzen liegt an der 
MNordweſt-⸗ und Weitjeite des Gouvernementd Bengalen, wird im Norden von Nepal 
und dem Himalaya begrenzt, durch die Cis-Sutlej⸗Staaten von Pendjab getrennt und 
begreift in fich die fieben Provinzen Agra, Allahabad, Benares, Delhi, Mirut, Oude 
und Rohileund mit einem Flächeninhalte von 4521 deutfchen Geviert-Meilen und einer 
Bevölkerung von 33,241,900 Seelen, und die nicht regulirten Provinzen Saugor und 
Merbudda, Bhuttiana mit Wuttoo, Kote Kaſim, Jaunſar mit Bawur, Dehra Doon, 
Kumaon mit Britifch Ghurwal, Adſchmir, Britifch Nemaur und Ihanſi mit’ einem Areal 
von 1705 Quadrat⸗Meilen und 2,768,180 Bewohnern. 

Agra. Die Provinz diefes Namend nimmt den mittleren Theil des Doab, d. h. 
des Landes zwiſchen dem Jumna hnd dem Ganges ein, die auf eine geraume Zeit faft 
parallel laufen, und zerfällt in die fünf Diftriete AUgra, Mutra, Zurufabad, Minpuri 
und Etawah, zuſammen mit einem Flächeninhalte von 428 Gevierts-Meilen und 3, 505,740 
Bewohnern Die Hauptitadt dieſer Provinz it — 

Agra, am Jumna gelegen, eine der älteften und berühmteften Stätte Indiens, 
die einft die Reſidenz mehrerer Herrſcher, befonderd Akbar's ded Großen, gewefen ift. 
Der erfte Refident in Agra war Sekander aus der Lodi-Dynaftie, der ſich in feines 
Vaters Befigungen mit Muth und Standhaftigfeit behauptete, indem er die inneren 
Ungelegenbeiten des Meiched mit großer Milde zwar, dennoch aber mit firenger Recht⸗ 
lichkeit handhabte. Seines Sohnes und Nachfolgers Grauſamkeiten und Unterdrüdungen 
trieben endlich den Adel zum vffentlichen Aufitand; man rief einen Mann zu Hülfe, 
der die Gelegenheit ergriff, fich der ehemaligen Eroberungen Tainerlan's zu bemeiftern. 
Zihirsed-din oder, wie er allgemeiner genannt wird, Baber der Tiger, ein Abkömmling 
Tamerlan’8, nahm die Einladung des Statthalterd von Labore an und überfchritt Den 
Indus mit einem Eleinen, aber in gutem Zuftande fich befindenden Heere. Nach einigen 
Scharmügeln in den oberen Provinzen rüdte Baber vor, und Ibrahim, Sekander's 
Sohn, ftellte jich ihm mit einem großen Heere, das dem feines Gegners an Zahl weit 
überlegen war, entgegen, fand aber mit dem Ueberrefte von 16,000 feiner treugeblie= 
benen Anhänger in einem furchtbaren Blutbade in den Ebenen von Paniput feinen 
od. Der tüchtigfle und glürflichfte Herrfcher de muhamedanifchen Kaiſerthums in 
Indien war Akbar, dem Agra feinen Ruhm und feine Größe zu verbanfen hat; 1665 
hatte ed an 800 öffentliche Bäder, 80 Karavanfereien, 15 Marftpläge, und dem Raum 
nach zu fchließen, welchen feine Ruinen einnehmen, muß e8 nicht viel Eleiner geweſen 
fein, als London; in der Epoche feined höchften Glanzes zählte es mehr wie 800,000 
Ginwohner, die ſich jetzt auf 125,000 verringert haben. Bon bier aus theilte Akbar 
ganz Hinduftan in Suhbas, Zirkars und Pergunnahs (Provinzen, Kreife und Diftricte) 
ein und gründete darauf eine angemeflene VBerzweigung der Staatögewalt. Den Euro- 
päern, und infonderheit den Briten, wurde Agra tim Jahre 1615 genauer bekannt, als 
Sir Thomas Roe, im Auftrage der englifchen Regierung, ein Sreundfchaftd- und Han- 
delöbündnig mit dem Kaifer Selim, dem Sohne Akbar's, Dſchehan Ghir, d. b. Eroberer 
der Welt geheißen, oder wie die Herrfcher des Mongolenreiches in Hindoftan damals 
ſchon fabelhafter Weile genannt wurden, dem Großmogol ſchließen follte. Sir Thomas 
blieb drei Jahre am Eaiferlichen Hofe und bat in einem felbftverfaßten Bericht über 
feine Gejandtichaft eine ausführliche Befchreibung dieſes Hofes und über den Zuftand des 
Landes zur damaligen Periode hinterlaffen. Bald nach ven Aufenthalte dieſes Gefandten 





Agra Tann man die reinlichfle der indiſchen Städte nennen; es bat eine gerade 
durchlaufende Hauptftraße, von der mehrere Eleine Saflen rechtwinklig abgeben. Es 
ift ein bedeutender Handelsplatz, wo befländig eine Menge Kameele bin» und herzieht, 
und enthält viele Seiden- und Baummollenwirkereien. Unter den Gebäuden, welde 
noch Zeugnig von Agra's Glanze abgeben, ift das Fort bemerfendwerth, das in den 
Jahren 1563 bis 1567 in einem fehr großen Maßftabe am Ufer des Iumna erbaut 
wurde; ed liegt im Often der Stabt und an- jeinen beiden Enden beginnt die Mauer, 
welche in Geftalt eined beinahe vollftändigen Halbkreiſes Agra umgiebt. Diefe Mauer, fo 
wie die Feſtung felbft, wird von mehreren runden, gleich weit von einander abftehenven 
Thürmen flanfirt. Das Fort felbft hat eine doppelte Mauer und da, wo ed nicht 
durch den Fluß geſchützt ift, einen tiefen Graben, um den ſich Außenwerke erheben. 
Neuerdings find die fehr vernachläfligten Feſtungswerke einigermaßen wieder bergeftclt. 
In der Mitte des Forts ſteht der von Schach Dfehehan erbaute Palaft, in deſſen, bes 
fonderd in den zum Badegebrauch für den „Stern der Gerechtigkeit, der Sonne der 
Macht, dem König der Könige, dem Kaifer der Kaifer”, eingerichteten Sälen der Boden 
mit weißen Marmor» Duadern gepflaftert, Die Winde abwechſelnd bald mit Plättchen 
von braunem Schmelzwerf nebſt Porzellanblumen in Relief, bald mit kleinen Spiegelr 
beFleidet find. Höchſt gefehmadvolle Malereien in Azur und Gold ſchmücken die Pla 
fonds und taufend Marmor- Nifchen find in der Wand angebracht, um den Kerzen 
Schuß zu gewähren. Das Wafler füllt in breiten Strahlen in eine herrlich cifelite 
Marmor⸗Muſchel. Die anderen Gemächer geben diefen prächtigen Badeſaͤlen nichts nad. 
Ueberall Marmor, überall die köſtlichſten Verzierungen, überall Säulen mit Juwelen 
befleivet; der Luxus dieſes Iuftigen, einft fo belebten und jegt jo oden Schloſſes iſt 
ein wahrhaft unerhörter. Der Audienzfaal des Monarchen, ver nad) allen vier Him- 
melögegenden bin offen und von einer vergoldeten Kuppel übermölbt ift, welche von 
zierlichen, mit Karneolen, Türkiſen, Smaragden, Rubinen audgelegten Säulen getragen 
wird, verwirklicht die Wunder arabifcher Märchen. Auf der einen Seite ein hängender 
Garten, würdig der Seniramid, mit fprudelnden Fontainen in Marmorbeden, Hofer 
und Jasmingebüfchen, auf der anderen Seite eine ungeheure grünende Ebene, in deren 
Mitte fich Die wunderbaren Gebäude des Tardſche und des Grabmald Akbar's erheben 
und welche die Silberfluthen des Jumna mit ihren phantaflifhen Windungen durch⸗ 
ziehen. An diefen Palaft aus „Taufend und Eine Nacht” anftoßend, im Umkreiſe der 
MWälle, befindet fich eine andere Fönigliche Wohnung von älteren Bau. Der rotde 
Stein, ift zu diefem Gebäude allein angewendet worden, in dem einige Säle elegante 
Skulpturen und anmuthige Umriffe darbieten. Leider verfallen alle dieſe Gebäude immer 
mehr, und orbentlich erhalten ift nur der Theil des Palaftes, der für die Staatögefan 
genen beflimmt war, eine Reihe von Fleinen dunklen Zellen, die auf einer langen 
Corridor öffnen, in deffen Mitte fich ein Abgrund wahrer Oublietten befindet, die den 
Sultaninnen, die einen Behltritt begangen, zum legten Aufenthaltsort dienten. Unweit diejer 
beiden Paläfte erhebt fich Die unter dem Namen Molic-Mufpfchid bekannte und von Schah 
Dſchehan 1656 erbaute Mofchee. Diefes Gebäude, Das durchweg an Boden, Wänden 
und Kuppeln aus weißem Marmor beftebt, enthält feinen andern Schmud als Baöreliefs, 
welche Blumen von vorzügficher Arbeit darftellen, und die feufche und majeftätijche 
Einfachheit ded Ganzen wird nur in dem Wunder der indifchen Kunſt, dem gleich zu 
erwähnenden Tardſche, noch übertroffen. 

Zu bedauern ift, Daß dergleichen großartige Bauten, wie die beiden Paläfte, nicht 
beffer erhalten worden find und daß unter der englifchen Herrfchaft dad Innere der 
beiden Eaiferlichen Wohnungen gerade von denen geplündert iſt, denen es am meiften 
oblag, folhem Vandalismus entgegenzuarbeiten. Wenn ſchon auf Befehl des General- 
Gouverneurs, Marquis von Haflingd, die fehönfte Badewanne eines der Faiferlichen 
Bäder weggenonmen, um nach England gebracht und dem Prinz⸗Regenten zum Geſchenk 
gemacht zu werben, fo vollendete ein anderer. General= Gouverneur, der Lord Willlam 
Bentind diefe Zerftörung, indem er die Mofaifen und Marmorplatten des Bades unter 
den Hammer des Auctionatord bringen ließ. Glüdflicherweife war dieſe Sperulation 





dem KHuuptgebäude felbft find in hohem Grade bewunderungsmwürdig. 

Bon den übrigen Orten der Provinz Agra ift in dem Diftriete Mutra die 
Stadt gleichen Namend mit 65,749 Einwohnern zu erwähnen. Obgleich dieſe alte 
Stadt des gleichnamigen Reiches von ihrem ehemaligen Glanze ſehr herabgefomnen 
ift, jo ift Doch, was von den öffentlichen Denkmälern noch übrig, ganz dazu geeignet, 
einen hohen Begriff von den großen Neichthünern und den Geifte ihrer Gründer zu 
geben. Im Innern der Feſtung find die Ruinen einer Pagode, welche urfprünglic 
dem @ultus des HaupteFdold geweiht war. Um den Tempel, welcher eine Pyramiden 
form bat, an der Bafi8 41 und von oben nach unten 66 Fuß mißt, ziehen fi in 
einiger Entfernung ntebrere Mauern bin, die fo hoch find, daß jie den Tempel verber- 
gen. Das obere Stockwerk ift von Kupfer und forgfältig, vergoldet. Der Cingang, 
wo der pyramidale Thurm auf der Mauer fteht, bat 160 Fuß Höhe, 118 Fuß Breite 
und 64 Fuß Tiefe und ijt mit Pilaftern und blinden Fenſtern verziert. Die prächtige 
Mofchee, die Abdul-Nubbi-Kham, ein Fudſchar (d. h. ein Beamter, der mit der Ab- 
richtung und Leitung eined Truppe Elephanten beauftragt if) Aureng = Zeyb'd, erbaut 
haben foll, ift ein fchönes, vierediged Gebäude mit vier prachtvollen Minarets von 
112 Fuß Höhe und ſteht an der Stelle eines indifchen Tempels. Nordöſtlich und 
ganz in. der Nähe von Mutra liegt Bindrabund (verberbt aus dent altindifchen 
Namen Bindravana), eine ziemlich große Stadt mit 19776 Einwohnern, in der Hindu- 
Mythologie berühmt und merfwürdig wegen ihrer den Kriſchna geweibhten fchönen 
Tempel von fechSfeitiger und pyramidaler Korn; einige find nur Haufen von Ruinen, 
andere einfach aus Quaderſteinen aufgebaut ohne alle Berzierungen, aber einer derſel⸗ 
ben ift vollfommen erhalten, der megen feiner Größe, der Schönheit der Arbeit und 
feiner Großartigfeit für eins der fchönften brahmanifchen Denkmäler gehalten werben 
muß. Bindrabund ift einer der befuchteften indifchen Wallfahrts »Orte Außer den 
Städten Juleyfur mit 15,613, Mubabun mit 6968 und Kurſundah mil 
6325 Einwohnern ift noch die Fleine Stadt Noh mit 6000 E. wegen ihrer voichtigen 
Salzgruben, und Coel mit 36,180 €. wegen der Nähe von Alighur zu erwähnen, 
deſſen furghtbare Feſtungswerke von den Engländern noch vermehrt und verftärft wor— 
den find. In den übrigen Diftricten der Provinz find Turufabad ummweit dei 
Ganges mit 56,300 €. und großem Handel, die wichtige Militärftation Futtigur, 
die Stadt Alligunge mit 5383 E. Rinpuri am fun mit 20,920 E., wichtig 
als Militärftation, und Etawah, unweit des Jumna, mit 23,300 E., ebenfalls eine 
Militaͤrſtation, bemerkenswerth. 

Agram iſt eine Geſpanſchaft des Koͤnigreichs Kroatien und 108,36 deutſche Ger 
viertmeilen groß und in 5 Bezirke eingetheilt, grenzt im Norden und Oſten an die 
Marasdiner, Kraizer und Pofegaer Gefpanichaften und an die Militairgrenze, im 
Süden an lebtere und im Welten an die Fiumer Gefpanfchaft und die Steiermarl. 
Die bemgrfenswertheften Orte des Agramer Landes find die Stadt gleichen Namens, 
ferner Karlftadt, am Zufammenfluffe der Kulpa, Korana und Dubra, Scztubicza, Oro 
ſzlavee, Szamobar, St. Helena, Szent Ivany, Planina, Alt-Sziözel, Jaszka und Kraſſic. 
Bon der nördlichen Grenze der Geſpanſchaft bis Karlitant ift das Terrain derſelben 
meiftend eben, nur bier und da zu fanften Hügeln anfchwellend; von Karlftadt hin- 
gegen bi8 in das Fiumer Comitat hinein und bier bis an die Meeresküſte erblickt man 
faft nichts als hohes, waldiges Gebirge und ungeheure, mit zabllofen Felſenhöhlen und 
Grotten durchlöcherte Kalkſteinmaſſen, die in kahlen, zerriffenen Gipfeln am Horizonte 
fich aufthürmen und von fehauerlich fchönen, aber nur zum Theil fruchtbaren Thälern 
Durchfurcht werden. Außer diefen Thälern ift hier dad Klima ziemlich rauh, fo daß 
auf den Höhen die Nebe nicht fortfommt, denn faft den größeren Theil des Jahres 
hindurch weht der Falte, trodene, elaftifche und flürmifche Bora und der feuchte, regen⸗ 
bringende Zugo oder Suͤdweſt. Ienen Landflrih von Karlitabt bis an die Geflade 
des Meeres umfaßte vormald das 1776 von Maria Therefta errichtete, 1786 aber von 
Joſeph II. wieder mit Agram verbundene Szeveriner Comitat, welchen Namen ed yon einem 
Dorfe und Bergjchloffe erhielt, deſſen Ruinen fit 1326 Buß über das Meer erheben. 








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eurem Kofenaufpvande erbaute Poſt- und Bommerztaljirape, welche, nach ihren 
Koarolinerftraße genannt, von Karlftadt bis Fiume fich erftredkt, die Louifenftraße, 
zwijchen Karlſtadt und Fiume, und die Joſephinenſtraße zwifchen Karlftadt und £ 
der ſüdliche Theil der Geſpanſchaft mit den Eoftbarften Eichen- und Buchenwal 
einen unermeßlichen Ueberfluffe beftanden und enthält er nur wenig Aecker un 
fo ift der Boden der nördlichen Hälfte, welche die Save und die Krapina 
ungleich fruchtbarer, namentlich in den längs des Saveftromes ſich hinzieher 
nen. Die fruchtbarfte Strede ift Das Tyropolger Feld, welches 2", Meilen 
beinahe eben fo. breit, Agram gegenüber jenfeits der Save liegt. Die Bewe 
jelben find größtentheild Evdelleute, die vormals unter einem Landgrafen (C 
restris) ihre Provinzial» Zufanmenkünfte hielten, ihren eigenen Magiftrat, i 
Siegel und die peinliche Gerichtsbarkeit befaßen, den ungarifchen Neichätag 
Deputirten befchickten und in zweiter Inftanz unter dem Agramer Comitatsg 
in der Appellation unter der Banaltafel fanden. Diefe Verhältniffe haben 
im Laufe Ddiefes Jahrhunderts geändert und der ganze Turopolger Berk 
33 Ortfchaften ift dem Bezirke Karlftabt zugetheilt worden, iſt aber ein fı 
privilegirter Bezirk geblieben, der aus 24 Gemeinden jetzt befteht und immer 
eigene Gerichtöbarkeit befist. In der Nähe Ngranıs liegt noch eine der fchi 
fruchtsarften Gegenden, Unter-Sagorien, d. b. Land hinter den Bergen gen« 
Hauptſchmuck verleiht dieſer Landfchaft unftreitig die Stieleiche, welche in den 
Sruppirungen Wiefen und Auen befchattet und jich gaftlich den Eleinen S 
zugejeltt. Weinbau, Aderbau, Vichzucht, Holzverfehr und Pottafchen-Sieberei 
die vorzüglichftien Nahrungszweige des Agramer Landes aus; auch die Schi 
der Save, welche nicht unbeträchtlich ift, belebt den Verkehr und ernährt ı 
ſchen. Die Bewohner find Kroaten und Serben, und neben diefen übe 
Stämmen finden ſich auch Deutfche, Ungarn, neuerdings eingewanderte Bosn 
und Zigeuner. 

Agram (Zagreb, Zagrabia), Hauptſtadt des Kronlandes Kroatiens 
gleichnamigen Gefpanfchaft, Sit des Ban und der Banalregierung, des Ob 
gerichtö und eines Landesgerichts erſter Klaffe, der k. k. kroatiſch⸗ſlavoniſcher 
Landes⸗ und SteuersDirection, ferner der kroatiſch⸗ſlavoniſchen (fatholifchen) I 
einer Handelö- und Gewerbes Kammer, einer k. k. Steuer-Commiffton, einer 
wechfelungs - Anftalt, liegt unmeit der Save auf den legten. bewaldeten Abh 
bergigen Zagoriabezirtd, am Hügel Grec und am Bache Mebvescak, zählte 
1851 (ohne Militär) 14,852 Einwohner, die in 1420 Häufern wohnten, un! 
Rechtsakademie mit Bibliothek, ein Ober-Gymnaflum, eine Primar⸗ und Maͤd 
ein Eatholifches und ein griechiſch⸗ unirtes Seminar, ein adliges Convict, ei! 
werthe alte Kathedrale mit 20 Altären und reichhultiger Bibliothek, einen aı 
bifchöflihen Palaft, ein Klofter der barmherzigen Brüder, ein National» Mu 
froatifcheflavonifche Landwirthichaftö-Gefellfchaft, eine ſüdflawiſche hiftorifche C 
einen f£roatifch = flavonifchen Forſtverein, ein National= Theater feit dem Jal 
Seidens und Porzellan⸗Fabriken und ziemlich lebhaften Handel mit Getreide, 
Taback ı., auch Commiſſions⸗ und Speditionshandel. Die Stadt zerfäll 
wefentlich verfchtedene Theile: Die obere, die untere (Harmicza) und die 
Stadt (Opatovina). In der eriteren befindet fi das Gouvernementöhaui 
Naropne Domo, das National» Eafino. Ste bildet das fafhionable Duaı 
wohlgebauten Straßen werden von der Artflofratie Kroatiens bewohnt, unt 
tafien., welche Die obere Stadt umgeben und die hoch über allen Dächern ! 
Stadt zu angenehmen Spaziergängen hergerichtet find, gewähren eine Au: 
immer anziehend ift, aber je nach dem Standpunkte wechfelt. Auf der einen 
von ihnen der Bli des Spaziergängers auf die ganze Breite des Savetha 
welhe der Fluß bald gligernd, bald ungefehen durchwindet; eine reiche 
fruchtbaren Feldern und Dörfern, mit Parks und mannichfachen Tändlichen ' 
Großen. Auf der andern Seite der Terraffe wird das Auge des Spazierg 
einer Fühnen Neihe von Hügeln emporgezogen, deren Kuppen mit breiten € 








Agrargeſehgedung, DIE eiwwa DOM Monige DDEL DEN hoſ⸗- UND VWIEIWOTANEN ware vorge—⸗ 
ſchrieben geweſen, gab e3 nicht. Die Stelle einer foldyen ftaatöpolizeilichen Agrarge⸗ 
jeggebung vertrat dad Gewohnheitärecht, dad hin und wieder in den Weisthümern und 
Urkunden feinen Ausprud fand. 

Um eine richtige Einſicht in die mittelalterliche Agrarverfaflung, fowie in Die 
römifche zu gewinnen, muß man feftbalten, daß das Phyſiokratiſche Syſtem, 
lange bevor Francois Quesnay ed 1758 ausfprady, allen Agrarvorfchriften zu Grunde 
lag. Der erfte Grundſatz des Nationaldölonomen Quesnay (ſiehe Diefen Artikel und 
Phyfiofratifhes Syitem) war: die Natur allein producirt die Güter, alfo find 
die Grundeigenthümer und Landwirthe die einzigen Güterproducenten. Bis zu einem 
gewiffen Grade haben alle Völker dieſen Sag ihrer Agrargefeßgebung zu Grunde ge 
legt, auch die Eonfequenzen defjelben zum Theil fo, wie Quesnay und feine Anhänger gezo⸗ 
gen, Daß Der Grundeigenthümer deshalb der alleinige Bürger fei u. f. w. audgefprochen. 
Die Befreiung des Bodens von allen feubalen Laſten, zu der man feit Ende des vorigen 
Jahrhunderts fchritt, war eben die Folge von Queſsnay's Ideen. 

Allen unferen Agrargefeßgebungen von 1758 an liegt das Phyſtokratiſche Syſtem 
zu Grunde. Es ift befannt, daß Turgot, Karl Friedrich von Baden, Joſeph II., Ifelin, 
Schmalz Anhänger diefes Syſtemes waren. (Wir möchten befonders für eine Fünftige 
Gefrhichte Der Agrarverfafiungen auf Schmalz's Schriften aufmerkffam machen.) 

Indem wir die weiteren Eonfequenzen aus Quesſsnay's Syſtem bier außer 
Acht laſſen, halten wir nur das eine feft, daß fein Hauptfag immer und ganz bejon- 
derd für die mittelalterliche und vorzüglich deutſch zu nennende Hufen» 
verfaffung d. i. AUgrarverfaffung maßgebend war. An einem Werke über die 
Agrarverfaffung im Mittelalter fehlt es freilich unjeres Willens noch, Doch giebt das 
Bud von Landau „Die Territorien in Bezug auf ihre Bildung und ihre Entwidlung, 
1854* über die Hufenverfafiung ein großes Material. Für die Agrarverfaflung in 
Süddeutfchland zur Zeit der Römer und im Mittelalter findet man Material in Mo⸗ 
ne's badifcher Urgefchichte und deſſen Zeitfchrift für die Gefchichte des Oberrhein. 
Der wefentliche Grundfag der deutſchen Agrarverfaffung im Mittelalter, der von beveu- 
tender Tragweite für die Gefchichte des deutſchen Volkes war, heißt: Wer nicht der 
deutihen Nationalität angehört, Tann nur die Hälfte einer Hufe upd 
einen geringeren Antheil anı Gemeindegut erhalten. Darnady erhielten die 
Slaven nur die flavifchen Hufen, Lan, von 15 Morgen, die Kelten und romanifchen Colonen 
nur die Schupofe von ebenfalld 15 Morgen. Dieſes hatte eine geringere Vermehrung 
der Bevölkerung diefer Volkdelemente zur Folge, welche fich deshalb auch nicht in derſel⸗ 
ben unabhängigen und mohlhabenden Stellung fühlten wie die deutfchen. Landau. 
bemerft außerden in feinem angeführten trefflihen Buche, er fei überall auf die That- 7 
ſache geftoßen, daß dad Ehemald und das Jegt ziemlich übereinftimme, und daß der Um⸗ 
wandlung der Agrarverfaffung ein Gefeg (Entwicklungsgeſetz); zu Grunde liege. Wie 
der wahre Hiftorifer immer thun wird, ift Landau bei feiner Forſchung von der Ges 
genwart ausgegangen, und da er diefe in Bezug auf die Agrarverfaflung recht vers 
fand, fo war es ihm auch möglich, die Vergangenheit erflären zu Fönnen. 

Bon der Hufe d. h. einem Stück Land mit Wohnhaus für eine Familie hängt 
die Flurverfaffung ab. Die Hufe ift ein Territorium, das der Arkeitöfraft einer 
Familie entfpriht und deſſen Production der Confumtion einer Familie gleichfomntt. 
Mit Berädfichtigung der Arbeit eines Pfluges war die Hufe gemöhnlih auf 30 Mor- 
gen berechnet. Die Größe der Hufe mwechielte nach der Güte des Bodens. Wenn es 
auch der Größe nach ſehr verfchiedene Hufen in den einzelnen Ländern gab — Weſt⸗ 
phalen und Kranken find Die Gegenfäge —, fo hatte fih doch auch in Beziehung 
darauf eine Gemwohnheitöverfaffung ausgebildet. Landau unterfcheidet vier Hufengat- 
tungen, welche ſich indeß als zwei ausmweifen, da die beiden andern nur als lieber» 
gänge zu betrachten find: die weftphälifchen und die fränkfifchen oder die ſüd⸗ 
und mitteldeutfhen Gewendehufen. (Siehe Hufen.) In Bezug auf die Theis 
lung folcher Hufen gab ed im Mittelalter keine bindenden Vorfchriften, das Ge» 
wohnheitsrecht allein entſchied. Man tbeilte die Hufen bisweilen in drei, ſechs 





By I a tr Aue 1IVMALVVC I A 5. NW DV Dazz2 u Ar ass... vo " ee; LA as, SS 
Bodens. Dagegen entflanden auch durch Zufammenlegen von zwei Hufen Latifundien, 
wie die zweifältigen Hufen oder großen, auch „fuldifche” genannten Hufen von 60 Ror- 
gen. Im fpäteren Mittelalter, nachdem durch Die Einwanderung in die Städte, bie 
Söldnerei der Lanzknechte und durch Die Bauernfriege die bäuerliche Bevölkerung gelichtet 
wurde, finden fi, wie Landau (©. 40) fagt, viele Dörfer, in welchen Die meiſten 
Bauern 2—4 Hufen, alſo 60—120 und mehr Morgen befaßen. Daneben Fam aber 
auch im Mittelalter am Obershein eine Eleine Grundfläche häufig vor, die Schupofe, 
ein Grundftüd von einer halben Hufe, alfo 15 Morgen und weniger. Diefes Scheint 
nach dem agrargefeglichen Gewohnheitsrechte des Mittelalterd der Fleinite Grundbeſiz 
geweien zu fein. Die Beſitzer der Schupofe hatten nur die halbe Berechtigung und 
Benugung am Gemeingut, uljo durften fie z. B. nur ein Schwein zur Eichelmaf 
Schicken, der Hubbefiger dagegen zwei u. j. w. Der Befißer eined noch geringeren 
Gutes ald die Schupofe hatte gewöhnlidy gar feine Gemeinderechte. Sie hießen die 
Einläuftigen, im Miederfächftichen Koffäten, Köther, Käthner (im Baieri- 
fen Seldner. Die Hufe war ein für ſich gefchloffener erblicher Brivatwirtb 
ſchaftskreis. Es gehörte zu demfelben Uderland, Wiefe, Weide, Wald, Beunte 
(Garten), ferner war Antheil anı Gemeindegut damit verbunden. Die politifchen Rechte 
ded Bauern hingen von der rechtlichen Natur der Hufe und der perfünlichen Stellung 
ihres Bebauers ab. Daher felbft die Namen des Hufenbefigerd davon gewählt wurden. 
Die Eigenthümlichkeit der Hufenverfaffung bat fich noch beut jo erhalten, daß Landau 
(S. 18) eine Karte entwerfen Eonnte, auf welcher die Grenzen der Hufe und Dorfver: 
faflung gezeichnet werden. Die Hufenverfaffung ift eine deutſche Eigenthümlichkeit, welde 
felbft noch den romanifirten Deutishen und den Engländern geblieben ift, und fie bildet 
den ftärkiten Gegenſatz zur flavifchen und gallifchsceltiichen Agrarverfaflung. 

Die flawifche Agrarverfaffung ift ſchon im Mittelalter wie noch jet zweifacher 
Urt. Entweder wurden die Slawen germaniftxt oder fie blieben ihrer ‚urfprünglicen 
gemeinfchaftlichen Flurverfaſſung, einem gewillen Communismus, treu. Die germani- 
firten Slawen in Medlenburg, Bonmern, der Lauſitz, Schleflen bis nach Polen um 
bis nah Rußland Haben auch Hufenverfaffung. Ihre Hufe beißt Yan (polniid 
Radlo). Sie find aber nur halb jo groß, ald die deutfchen Qufen, haben nur 15 Ror- 
gen und ihre Abgaben verhalten fich zu Denen der deutfchen Hufen wie 3 : 2. Wan 
ſieht fchpn aus dieſer flawifchen Agrarverfaflung, dag fich hier Fein politifch berechtigter 
Bauernfland entwideln konnte, daß Adelsherrſchaft, d. h. Serrfchaft des Capitals im 
Srundbefite, unvermeiblich war. 

Anders ift ed in Rußland. Die Feldflur ift bie gemeinſchaftlich um 
wird in gewiſſen Zwifchenräumen von Neuem vertheilt. Das Beld ift zwar in Ge 
wanne eingetheilt und diefe in Ackerſtücke zerlegt, doch alles nur tranjitorifch. Diele 
communiftifche Gebrauch des Aderlandes -erinnert an den primitiven Zuftand des jühl- 
fhen Staated, wo ebenfalld nach einer Reihe von Jahren neue Gütertheilungen vor 
genommen wurden. Diefe rufilfche Gefammtflurverfaffung fcheint übrigens auf Die große 
Vermehrung der aderbautreibenden Klaffe fehr günftig einzuwirken und die Verſchul⸗ 
dung diefer Klaffe zu hindern. 

Einer ähnlichen Neigung zu gemeinſamem Eigenthum begegnen wir bei dem fran 
zöſiſchen Bauer des Mittelalterd. „Bis zum flebzehnten Jahrhundert“, fagt Doniol 
in feinem an biftorifchen Entdeckungen überaus reichen Buche, „befchäftigen ſich bie 
Acten häufig mit lünblichen Gemeinfchaften und erwähnen eine große Zahl von „con- 
sorts et communs en bien.“ Der größte Theil der franzöfifchen Dörfer, Weiler ı., 
deren Namen heut noch mit einem Les anfängt, erinnern nody an dieſe verſchwundenen 
Affociationen." Doniol fuchte in ihnen eine urfprüngliche Nationalanlage und findet 
ihre lange Aufrechterhaltung in einer Zeit, wo die einzelne Perfönlichkeit des Serf ober 
des Billain fo wenig Ausficht auf Anerkennung batte, ſehr erklaͤrlich.“,) Näheres |. 
"unter Gemeinde u. Communismns.) 


!) Histoire des classes rurales en Franee et de leurs progres dans l’6galite eivile 
et la propriöts par H. Doniol. Paris, Guilomin, 1857. Robert v. Mohl (Geſchichte und Li⸗ 














IIULUVIDULLSLDE GEigent yumo auein TOURS zu mahhtl, DV NILDHUETD UI OR 
und des Adels wurde jet der unendliche Kleinbefig der Einzelnen, die Parcellenwirth⸗ 
fchaft die Atomiftsung des Eigenthums. Der Feudalſtaat hatte ſich in feiner focialen 
Machtausbildung von dem Naturgefeße des Lebend entfernt; in der Nevolution that 
das Individuum daſſelbe, und fo ſchlug die Nemefld zu beider DVerberben aus. Der 
Feudalftaat wie die Revolution enthält einen Eingriff in das Gefeh des Lebens; jener 
fchloß fich erftarrend dem Geſetze des Lebens ab, diefe brach die natürliche Ordnung des 
Lebens, alle organifche Bildung überfluthend. Was Epitadeus um 390—370 v. Chr. noch 
in legaler Korm, wenn auch innerlich Gefeß verachtend, für Sparta herbeiführte, die Mobi⸗ 
lifirung de8 Eigenthums, das wollte die Revolution im Wege der Gewalt; dort aber ents 
ftand die Concentration des Beſitzes in Weniger Hand, bier erfolgte feine Zerfplitterung in 
ungeheurem Maaße. Die Revolution Fam zu Feinem anderen Refultat, als daß fle in 
das Gegentheil des Feudalſtaates umfchlug und da die maaßloße Freiheit walten, wo 
jener die corporative Macht maaßlos ſchalten ließ. Diefer Gegenſatz offenbart ſich auf 
dem agrarifchen Gebiete in dem Principe der willfürlichen Theilbarfeit der Güter auf 
ber einen, und der gefeglichen (nicht bloß gewohnheitsrechtlichen) Gebundenheit und 
Untheilbarfeit de8 Grund und Bodens auf der anderen Seite. 

Staaten, welche dem franzöfifchen Principe huldigten, verwirklichten das erſtere, 
die, welche der alten Ordnung, den germanifchen Principe anhängen, das ander. 
Preußen folgte dem erſten durch feine 1807 ausgefprochene Breigebung des Eigen 
thums; demfelben Princip Huldigte das linke Nheinufer, das ehemalige Königreid 
Meftphalen, Baden, Naffau, Baiern, die beiden Heflen, die Niederlande. Das Syſtem 
der Untheilbarkeit aber herrſcht noch in Defterreich, Hannover, Medlenburg, Holftein, 
Großbritannien, Irland, Portugal, Spanien, Italitn, Rußland, Polen, Schweden, 
Norwegen und Dänemark. Wir fönnen ein ſicheres Bild der Gegenwart nicht ent 
‚werfen, weil das Xeben nicht abgefchloffen ift, weil die Zeit in ewig neuen Bewegun⸗ 
gen kreiſt; weil bier das Alte noch in ftolger Höhe prangt, dort das Neue durch den 
Lebenskern des alten über Bord geworfen, weil die Gegenwart noch in Geburtämehen 
befangen, mit dem einen Auge rückwärts, mit dem anderen borwärtd ſchaut. Pie 
Denker unferer Zeit find, wie diefe felbft; die Wenigften haben fich zu einer objectiven 
Weltanfhauung erhoben, die Wenigften haben aus der Vergangenheit das Weltgefet 
unferer @ulturftufe zu erkennen fich bemüht. Sie find entweder Lobredner des Alten 
oder Eiferer ded Neuen, und von dieſem Geflchtöpunfte aus betrachten fie auch das 
Weltleben ihrer. Zeit.“ _ 

Wir wenden uns jebt zur Darftellung des aftuellen Zuftandes ber 
Agrargefeggebung und Agrarverfaffung in Europa. 

Es mag auf den erften Anblick fcheinen, als feien die zwei Ausdrücke nur ver 
ſchiedene Bezeichnungen einer und derſelben Sache; bei näherer Betrachtung wird ſich 
jedoch Dad Gegentheil hiervon und zugleich die Unrichtigfeit derjenigen Definitionen 
ergeben, welche als die jest gebräuchlichen gelten. Unter Agrarverfaffung fol 
das Berhältnig der DVertbeilung des Grund und Bodens unter die Staatögenofien 
und zugleich der Complex derjenigen Nechtöbegriffe und Inftitutionen, welche den Bell 
und Die Benukung wie dad Eigenthum des Grund und Bodens und die Verfügung 
darüber betreffen, endlich auch der Nechtözuftand der Eigenthümer, Beſitzer und Bebauer der 
Grundſtücke verftanden werden ). Die Agrargefeggebung aber foll derjenige Theil 
der allgemeinen Geſetzgebung fein, welcher die eben definirte Agrarverfaſſung zum Gegen 
ftande 5 Es liegt auf der Hand, daß die als ein Beftandtheil der Agrarverfaffung 
bezeichneten Nechtöbegriffe und Inftitutionen, welche den Beſitz, die Benugung und bat 
Eigentum des Grund und Bodens, fo wie die Verfügung darüber betreffen, eben 
nichts anders ald Nechtsfagungen find, welche der Agrargefeggebung angehören, 
und daß fomit nach obiger Definition die Agrarverfaffung und Agrargefeßgebung theil- 
weife in Eins zufammenfallen. Es leuchtet ferner ein, daß unter denjenigen Recſts⸗ 
begriffen und Inſtitutionen, welche den Beſitz, die Benutzung und das Eigenthum des 


— — — —— 


1) Lette im Staatslexicon von Rotteck und Welcker, 3. Aufl., Bd. 1, p. 322, 323. 





q 














— zu Vftjithen eV, weichte zaa MUT Denveryntinijjt OU ydoen, 
jedoch keineswegs im öffentlichen Intereſſe wurzeln, vielmehr als Interpretation oder 
Ergänzung des Privatwillens zu betrachten find. Dadurch wird aber dem Gebiete der 
Agrarverfaffung und Agrargefeßgebung eine unüberfehbare Ausdehnung gegeben, feine 
Grenze völlig verdunkelt und verwifcht. Um dieſen beiden Uebelftänden, welche jene 
Definitionen im Gefolge haben, zu begegnen, wird man bei einer neuen Begriffäbeftim- 
mung die Agrarverfaffung als etwas rein Ihatfüchliches bezeichnen und von der Agrar⸗ 
gefeßgebung Diejenigen Beflimmungen ausfcheiden müffen, weldye lediglich dem Pri- 
vatrehte angehören... Hiernach, erjcheint die Agrarverfaffung eines Landes als 
derjenige thatjächliche — natürlich auch rechtlich qualificirte — Zuftand, in welchem ſich 
die Bodens Figenthümer und Bebauer als folche befinden, und die Agrargeſetz— 
gebung als der Inbegriff derjenigen im öffentlichen Intereffe wurzelnden und daher 
durh Privatwillkür nicht abzuändernden Vorfchriften, welche die Vertheilung des Grund 
und Bodens unter die Staatögenoffen, die Benugung deſſelben, fo wie die perfönlichen 
Ab hängigkeitsverhältniffe feiner Bebauer als folcher regeln. 

.Auch nach diefer Definition der Agrargefeßgebung ift das Gebiet Derfelben immer- 
in jehr groß. Es gehören hierher namentlich die Vorfchriften a) über Die perfön- 
liche Fähigkeit, Grundſtücke überhaupt ober von gewiſſer Art zu erwerben, b) über Par⸗ 
tellirungen und neue Anflebelungen, c) über die wirthfchaftliche Zufammenlegung ver⸗ 
mengter Grundſtücke, d) über die Aufhebung, beziehungsweiſe Theilung der auf Privat: 
rehtöverhältniffen beruhenden Gemeinheiten oder gemeinfchaftlichen Benugungsrechte von 
Grund und Boden, e) über bie Theilung von Gemeindeland, f) über die Errichtung 
und Aufhebung von Gutslehnen, Yamilien-Fideiconmiffen, Erbpachts- und Erbzins- 
verhälmiffen,, g) über die Errichtung, Aufhebung und Ablöfung von Grundgerechtig- 
keiten und Meallaften, h) über Ent» und Bewäſſerungs-, Deich- und Siel- Anlagen, 
i) über die Erbunterthänigfeit ſowie über die gutsherrlichen Rechte überhaupt. 

Die meiſten der von der Agrargefeßgebung betroffenen Mechtöverhältniffe find Ge⸗ 
genftand der Leidenfchaftlichften Debatten geworden. Die Gründe, welche man fir und 
wider dieſe Mechtöverhältniffe ‚geltend machte, waren entweber der Politik oder der 
National-Defonomie entnommen. 

Aus politifchen Gründen befämpfte man die Einfchränkungen der Barcellirungs- 
befugniß, das Fortbeftehen der Lehne und Familien-Fideicommiſſe, der bäuerlichen Erb⸗ 
gäter, der Erbpacht und der gutäherrlichen Mechte, weil dieſe Inftttutionen die Grund⸗ 
pfeiler des Feudalſtaates und mit dem Wefen des modernen Staates, der auf geſetz⸗ 
licher buͤrgerlicher Unabhängigkeit und gleicher politifcher Berechtigung‘ aller Staats- 
genoffen berube, unverträglich feien. Aus politifchen Gründen vertheidigte man fle, 
indem man in ihnen ein Mittel zur Kräftigung der vorhandenen conferbativen Ele⸗ 
mente, ſowie zur Belebung der Gefühle für Heimath und Familie, eine Schutzwehr gegen 
moderne Nivellirungsjucht und das Holz erblidte, aus dem allein fi ein wahrhaft 
organiſches Staatögebäude zimmern laffe. 

Nicht weniger gewichtig ald die politifchen find unzweifelhaft die national- 
öfonomifchen Gründe, welche man für und wider vorgebracht hat. Gegen die Ge- 
bundenbeit des Grundeigenthums hat man von nationalsdfonomifchen Standpunkte 
dornämlich eingewendet, daß die Möglichkeit für Jedermann Grundeigenihbum im freien 
Verkehre zu erwerben, dem Nationalwohlftande ebenfo fürberlich fei, als die Befreiung 
des Handels von befchränkenden Monopolen. Der freie Verkehr foll vorzugsweife 
angethan fein, das Grundeigenthum in entfprechenden Maße an folche Befiker zu brin- 
gen, welche durch den Stand ihres DVermögend und durch ihre perfönliche Befähigung 
zur vortbeilhaften @ultivirung deſſelben befonderd geeignet find. Der ungebunvene 
Eigenthümer, behauptet man ferner, findet in dem Intereffe an der Vermehrung. feines 
Vermögens den Grund zur Berbeflerung der Subftanz feiner Tanbwirthfchaftlichen 
Liegenfchaften, da hierdurch bei der freien Goncurrenz und gefteigerten Nachfrage ihm 
das Mittel der Verwerthung zu vortbeilhaften Preifen geboten ift; nicht fo derjenige, 
defien Verfügungsrechte über Das von ihm befeffene Grundeigenthum durch die Nechte 
‚ don Anwärtern und Erben oder auf andere Weije befchränkt find. Die Geſichtspunkte 


N Bagener, Staats. n. Gefelli.Ler. I. 32 





als einen Theil feines Vermögens betrachten Tann. Endlich wird hervorgehoben, daß 
der Befiger gebundenen Grundeigenthums, wenn er das zu einer tüchtigen DBewirth- 
fhaftung notbwendige Betriebscapital nicht felbft befige — und Died werde fehr oft 
der Fall fein — durch jene -Eigenfchaft feined Grund und Bodend an der Beichaffung 
des erforderlichen Gapitald in der Regel verhindert werde. Bon der andern Seite 
hat man ſich namentlich auf die Erfahrung berufen, das größere Gütercomplere pto- 
ductiver feien, als Kleine, und als Grund hierfür angeführt, daß von den täglich mehr 
bervortretenden Fortichritten der Oekonomie nur bei einem größeren Areal nugbare 
Anwendung zu machen fei und daß nur Letzteres fich Für eine rationelle, nach einem 
feften Plane geordnete Landwirthſchaft eigne.. Es Hat auch nicht an einer Mittels 
meinung gefehlt. „Die Parcelle — fagt diefe — Hat ihr Recht wie der Groß— 
befig; die Krankheit liegt nur in dem unorganifchen Uebergewicht des Einen oder 
ded Andern.” Nur dieſem Uebergewicht vorzubeugen oder zu fleuern, foll bie 
Aufgabe der Agrargefeßgebung fein. Wie fehr man zwijchen jenen für und wide 
angeführten Gründen felbft in den Kreifen, welchen dad Amt der. Gefeßgebung 
zugetheilt ift, bin und ber gefchwanft hat, dafür liefert die Preußifche Gefehge 
bung über das Parcellirungswefen ein intereffantes Beifpiel. Das Edict vom 9. October 
1807 (Geſ.“S. ©. 171) trat zunächft Der Gebundenheit der Güter feindlich entgegen, 
indem es die PBarcellirungsfreiheit fanctionirte. Ihm folgte unter ausführlicher Darle⸗ 
gung der dafür fprechenden national= dfonomifchen Erwägungen das Edict vom 
14. September 1811 (Gef.-S. S. 300) auf der beiretenen Bahn. Das Geſetz vom 
3. Ianuar 1845 (Geſ.⸗S. ©. 25) Ienfte jedoch ab und unterwarf die Parcellirungen 
‚einigen erfchwerenden Formen. So follte die Aufnahme von Parcellirungsdverträgen 
nur von dem Hypothekenrichter des zu zertbeilenden Grundſtücks vorgenommen werden 
fünnen. Diefe Beftimmung hob jedoch ſchon die Verordnung von 2. Januar 1849 
(Gef.-S. ©. 1.) wieder auf, und die VBerfaflungs » Urkunde vom 31. Ianuar 1850 
„gewährleiftete” (was auch die Verfaffungs - Urkunde vom 5. December 1848 gethan) 
ausdrüdlich „die Theilbarfeit ded Grundeigenthums.“ Die Geſetze vom 24. Februar 
1850 (Gef..S, ©. 68) und vom 3. März 1850 (Gefeg-S. ©. 145) fuchten die Vor 
nahme von Parcellirungen noch mehr, als bisher gefchehen, zu erleichtern; das Gelek 
vom 24. Mai 1853 (Gef.-S; ©. 241) aber ging wieder auf eine Verminderung det 
Grundftüdözertheilungen aus. — Für die meiften agrarifchen Fragen werben fich übri- 
gend nach unferer Anſicht keine allgemein und fehlechthin gültigen, national - öfonomi- 
ſchen Grundfäge aufftellen laſſen. Klimatiſche Verhältniffe und Bodenbefchaffenheit, 
nicht minder der individuelle Volkscharakter fowie der jedesmalige gefanmte wirt 
fhaftlihe Zuftand eines Volkes müſſen bei der Beantwortung der meiften jener Fragen 
maßgebend fein. Es ergiebt fich Hieraus, daß verfchiedene Zeiten und Länder verſchie⸗ 
' dene -agrarifche Inftitutionen erfordern Eönnen. Was uns jeßt verwerflich erfcheint, it 
‚ früher. vielleicht fegensreich gewefen. So war, einit in Rußland die Cinführung 


der Scholfenpflichtigeit (glebae adscriptio) unter dem Gzar Boris Godunow (1601) | 


injofern eine wohlthätige, nationalsöfonomlfche Mapregel, ald fie dem Wandertriebe 
der ländlichen Bevölkerung und dem unftäten Sinne derſelben entgegenwirkte. 
Neuerdings hat man auch eine Menge agrarifcher Inftitutionen aus vet? 
pbilofophifchen Gründen zu vertheidigen wie anzugreifen gefucht. Es iſt dies in 
jo geiftvoller Weife gefchehen, daß jener Verſuch nicht bloß wegen feiner Neuheit eine 
ausführlichere Befprechung verdient. Man bat gegen die Beichränfungen der Parcelli- 
rungsbefugniß eingewendet, daß aus der Natur des Eigentbums als eines abfoluten 
Nechted ein unumfchränktes Dispofktionsrecht des Eigenthümers über die Subftanz folge, 
welches nur in den Fällen dringendſter Noth von dem Geſetzgeber nicht reſpectirt zu 
werden brauche; gegen die Reallaften: daß das Eigenthunt feinem Begriffe nad ein 
reines Recht fei, das für den Eigenthümer eine Pflicht irgend einer Art nicht in 
volvire, und daß daher durch dingliche Rechte, welche eben nur Beſchraͤnkungen des 


Eigenthums jeien, nur eine Minderung der im Eigenthum liegenden Rechte, nicht aber \ 


eine Pflicht des Eigenthümers zu pofltiven Leiftungen begründet werden koͤnne; gegen 





2* 
[4 


wiſſe Vermogenstheile auf die geſammte Dauer dieſer Familie zu ordnen; indem ſon 
der Wille einer einzelnen Privatperſon über die möglichen natürlichen Grenzen fein 
Wirkfamkeit hinaus ausgedehnt, fo zu fagen verewigt und bie Willendfreiheit noch nid 
exiftirender Individuen nicht bloß‘ zeitweife, fondern dauernd befchränft werben würde 
gegen Die fog. gutöherrlichen Rechte: daß dieſelben — menigftens zum Theil — m 
den Begriffe Der „Perfönlichkeit" der Berpflichteten unverträglich feien. Von der ander 
Seite bat man jene Inftitutionen gerade um deshalb in Schuß genommen, weil fi 
ein Ausfluß Des germanifchen Rechtsprincips feien, welches ein ungleich höheres je 
ald da8 zur Duelle der Angriffömomente dienende römifche Rechtöprincip., Letzteres wir 
nämlich ald das Princip der Subjectivität (richtiger ausgebrüdt: ald dad Princip d« 
Spuverainetät der abftracten Berfönlichkeit), Erſteres ald das der Objectivität bezeichn. 
und zur Erläuterung diefer Begriffe Folgendes ausgeführt:) Bei den Römern ſei di 
Subjectivität, das eigene Ih, der Ausgangspunkt der rechtöbildenden Thätigkeit g« 
weien. Mache aber der Menfh jein Ich zum Audgangspunfte feine Denkens, | 
erblide er in fih ein mit Vernunft und Willen begabted Wefen, welches vermög 
diefer Eigenfchaften befähigt und folglid, — da der Begriff des Subjects Fei 
Moment enthalte, welches ihm in Betreff des Gebrauches dieſer feiner Fähigkeit Bi 
ihränfungen auferlegte, — auch berechtigt fei, felbft zu erkennen, wad ihm fronm 
und nach eigenem Ermeflen und freiem Entſchluſſe zu handeln. Diefe Freiheit müfl 
— was dad Verhaͤltniß der verſchiedenen Menſchen zu einander betrifft — nothmwendi 
gerweife als eine unbefchränkte gedacht werben, weil die Coexiſtenz mehrerer mit Bei 
nunft und Willen begabter Individuen etwas rein Thatfächliches fei und daher wol 
tbatfächliche Befchränfungen der Willensfreiheit ded Einzelnen zur Folge haben, die 
Willensfreiheit ihrem Weſen nach aber weder aufheben noch mindern könne. So ec 
gebe ſich für das Denken ein Zuftand natürlicher Freiheit, in welchem die Menfche 
einander fremd und pflichtlo8 gegenüber flünnen. Nur um die thatfächlichen Störun 
gen, welche jener Zuftand durch die Eoeriftenz verfchiedener abjolut freier Individue 
erleiden ⸗könne, möglichft zu verbüten, fei die Bereinigung der Einzelnen zu eine 
Staate nothwendig. Der Staat erfcheine daher ald ein durch Vertrag entftandene 
Inſtitut, melches lediglich den Zweck habe, nach außen die Herrfchaft der den Sta 
bildenden Perfonen auszudehnen und nach innen durch eine feharfe und ftrenge At 
grenzung der Nechtsfphären der einzelnen Staatsbürger den einzelnen Rechtsſub 
jette innerhalb feiner Mechtöfphäre feine urfprüngliche Souverainetät ungefchmälen 
zu erhalten. Auf diefen Gedanken berube das römifche Recht, wenngleich fi 
von den Alten nirgend ald zufammenhängendes Syſtem ausgefprochen feiern. Di 
germanifche Rechtslehre gehe dagegen von dem objectiven Gittengefeße aus 
welches der Einzelne vorfinde, wenn er die Gefammtheit der ihn umgebende 
Dinge, die Welt, zum Ausgangspunkte feiner Neflerion mache. Da aber dem in di 
Objectivität fich vertiefenden Denken dad Gittengefeg ald ein ewiges und feine Erfül 
lung ald eine innere fittlihe Nothwendigkeit erfcheine, jo ftelle fich ihm der menfchlid; 
Wille ald von vorn herein durch die Pflicht, das Sittengefeß zu erfüllen, bejchrin! 
dar. Diefe Pflicht erplicire, da das GSittengejeß eben ein Allgemeines, von Allen 3 
Beobachtendes fei, fich felbft dahin, daß der Einzelne nicht nur fein eigened Verhalte 
den Vorſchriften des Sittengefeßes gemäß einzurichten, jondern auch auf eim flttliche 
Verhalten aller Andern nach Kräften hinzuwirken babe. Das Mittel zu Legterem fi 
der Staat und das Recht. Das fo durch das GSittengefeß erzeugte Necht habe abe 
nicht den Zweck, die Souveränetät der abitrasten Perfönlichkeit möglichft ungeſchmaͤler 
zu wahren, ſondern vielmehr den: das Sittengeſetz zu realiſiren und jene Souveräneti 
nur fo weit beftehen zu laflen, ald erforberlic, fei, damit dem Einzelnen Doch noch ein 
Sphäre bleibe, innerhalb deren er frei nach feinem individuellen fittlichen Ermeſſe 
zu handeln berechtigt fei. Die einer folchen Anfchauung entfprungene germanifch 
Rechtslehre ftelle hiernach an Jedermann die Forderung: „dad Recht zu flärfen un 





') Schmidt, der princlpielle Unterſchled zwiſchen dem römtdyen und germaäniſchen Medıt 


Roſtod 1853. 





Die Dispofttionsbefugniffe ded Eigenthümers über die Subſtanz würden narh 
germanifchem Princip nicht lediglich Durch Den Begriff der abflracten Perfönlichkeit und 
bed Eigenthums, fondern zugleich dur die Natur und den höhern ftttlichen Zweck ber 
einzelnen Sachen beflimmt. Daher feien auch Einfchränfungen der Parcellirungebefug- 
niß der Rechtsidee an fich nicht zumwiber. ' | 

Das Eigenthbum fei nach germanifchen Prineip nicht reines Recht (Recht ohne 
Pflicht), fondern ein Recht, auf dem auch Pflichten ruhen. Daher fei es weder unnatür⸗ 
lich, noch juriftifch unmöglich, dingliche Rechtöverhältniffe zu fehaffen, welche den Eigen- 
thümer zu pofltiven Leiftungen (Handlungen) verpflichten — Reallaſten ꝛc. 

Aus der nach germanifchem Principe vorhandenen allgemeinen Pflicht, das Recht 

zu flärfen und das Unrecht zu Fränfen, und aus dem Orundfage, daß diefe allgemeine 
Pflicht allemal da zur befondern Pflicht werde, wo befondere Verhältniffe in einem con- 
ereten Falle eine beftinnmte Berfon als die zunächft dazu bewufene erfcheinen Laffen, folge 
von felbft, daß jeder in Dem Kreife feiner ausſchließlichen Herrſchaft bie 
höhere Rechtsordnung zu realiftren den nächiten Beruf habe, und Daß er beredytigt und 
verpflichtet fei, darüber zu wachen, daß Sitte und Recht da walten, wo er zu gebieten 
und ihre Herrfchaft zu verwalten habe. Der Eigenthümer erfcheint daher als die 
natürliche Obrigfeit in feinem Haufe und auf feinem Grundeigentbum; d. 5. er 
hat dad Recht und die Pflicht, den Frieden feines SHerrfchaftögebiete zu wahren und 
darüber zu wachen, daß Zucht und Sitte darin herrſchen. Diefe obrigfeitliche Gewalt 
des Grundeigenthünters äußert fich namentlich in den gutsherrlichen Nechten einer 
feits und in der Pflicht der Gutsherrfchaften zur Berforgung der Gutdarmen, zur 
Unterhaltung von Schulanftalten ꝛc. andrerfeits. ine ſolche Auffaffung des Grund» 
eigentbumsd als eines mit mannigfachen Pflichten verbundenen Amtes legt ferner ben 
Miterben die fittliche Pflicht auf, demjenigen unter ihnen, der dad Gut erhält, auch bie 
Möglichkeit zu gewähren, die damit verfnüpften Pflichten zu erfüllen. So wird dad 
adlige Gut zum Fideicommiß, dad Bauerngut zum Erbgute Als die edelſte 
und vollfommenfte Form des Eigenthums erfcheint aber dad Lehn, weil mit dieſen 
die Pflicht zur Realifirung der höhern Rechtsordnung in ganz befonderer Weife innerlih 
verknüpft iſt. j , 

Die Einwürfe, welche man gegen dieſe ganze Theorie gemacht hat, follen bier 
gleichfalls eine Stelle finden. Wenn der Einzelne, hat man gefagt, die Gefamttheit 
der ihn umgebenden Dinge, die Welt, zum Ausgangspunfte feined Denkens mache, ſo 
finde er allerdings das Sittengeſetz als ein Objectives vor. Dieſes Sittengefeg ftelle 
fofort an ‘ihn die Forderung, gedanfenmäßig erfaßt, d. i. conftruirt zu werben. Bei 
der Gonftruirung des Sittengefeged aber könne das Denken doch nicht wieder von dem 
Sittengefet jelbft ausgehen (denn dann würde es Feinen Schritt vorwärts und niemald 
zu den einzelnen Sittengefegen, welche das Sittengefeß erft zu einemiinhalt- 
erfüllten machen, gelangen), fondern nur von dem eigenen Ich, d. i. von dei 
abſtracten Perfönlichkeit. Leptere bilde alfo den allein möglichen Ausgangspunft 
für alle und jede rechtsbildende Thätigkeit, dieſelbe möge eine mehr oder weniger br 
mußte fein. Es fei daher unrichtig, den Unterfchied zwifchen dem rönifchen und germas 
nifchen Rechte in den Ausgangspunkt der rechtsbildenden Thätigkeit zu ſetzen. Aud 
bürfe man nicht vergeffen, daß jene Inftitutionen, in denen fich dad höhere germaniſche 
Rechtsprincip abfpiegeln folle, Doch immer nur Entwidelungsphafen der Rechts— 
idee, nicht Nechtsfategorieen feien, und daß es nichts Verkehrteres geben koͤnne— 
als den fterblichen Leib um deshalb, weil er von einer unfterblichen Seele bewohnt 
werde, felbft für etwas Unfterbliches zu erflären. Ueberdies feien jene einer noch nie 
drigen Gulturftufe angehörigen Inftitutionen ſelbſt noch niedrige Entwickelungsphaſen 
der Rechtsidee, deren Verwirklichungsproceß eben barin- beftehe, daß fle flets, um ſich 
in neuen böhern Formationen einen abäquateren Ausdruck zu geben, ihre früheren | 
Gebilde Außerer Vernichtung weihe. 

Auf welcher Seite des im Obigen getreu bargeftellten Gegenfages wir ſtehen, wird 
kaum einer näheren Auseinanderſetzung bedürfen. Nicht, daß auch wir unfererfeitd den 








Eicero eintreten; er lehnte dies jedoch ab. 

Menden wir und nunmehr einer Schilderung der: Agrarverfaflung und Agrar: 
gefeggebung Der einzelnen Länder zu. 

Wir beginnen füglih nit Deutichland. 

Es ift vielfach darüber geftritten worden, ob die Deutfchen in den älteften Zeiten 
ein SondersEigenthum einer einzelnen Perſon an Grund und Boden gekannt haben. 
Es darf indeß jet wohl als ausgemacht gelten, daß die Frage zu bejaben iſt. Alle: 
dings kam die altveutiche Agrarverfaflung der römifchen, welche dem Einzelnen die 
volle und ausfchließliche Individual Herrfchaft ficherte, nicht gleich; fie war aba 
auch nicht mit der flavifchen iventifch, welche Fein fichered Sonder» Eigenthum ver: 
ftattete und nur den Genuß der gemeinen Güter wechfelnd vertheilte; vielmehr hielt fe 
zwifchen beiden die Mitte. In dem Hofe foriverte die altveutfche Agrarverfaflung 
die Herrfchaft des einzelnen Mannes forgfältig von den Nachbarn ab und fteigerte bier 
das Sonder-Eigenthum beinahe bis zu der Ausjchließlichkeit des römifchen dominium. 
Schon der Umftand, daß jedes Haus für fi befland, von einem freien Raume um 
geben mar, und daß jeder Hof von dem eigenen Zaune umfchloffen wurde, deutete auf 
jene Selbftftändigfeit, auf die ausfchließliche Herrfchaft des Beſitzers hin. „Vicos le 
cant non in nostrum morem, connexis et cohaerenlibus aedificiis; suam quisque 
domum spatio circumdat.“ (Tac. Germ. 16.) Auf dem offenen Zelde aber bewahrt 
die gedachte Agrarverfaffung auf der einen Seite daß fefle Sonderrecht des Hofbauern 
für ihn und feine Erben (die auf Caesar de bell. Gall. VI., 22. gegründete Annahme 
jährlicher Adervertheilungen verträgt ſich ſchon nicht mit der feit den älteften Zeiten 
gebräuchlichen Dreifelderwirthfchaft), und bielt auf der anderen Seite eine gewiſſe, da! 
Sonder-Eigenthum modificirende Feldgemeinſchaft feſt.) Letztere zeigte fich vornämlich 
datin, daß jede einzelne Feldflur mit all ihren (im Sonder-Eigenthum be 
findlichen) Hubeftüden in jedem Jahre derfelben Wirtbfchaft unterlag, dar 
das Brachfeld der gemeinen Weide offen war, daß den Mehrheits-Beſchlüſſen 
der Seldgenofienfchaft und den Verfügungen ihrer Vorſteher über den Feldbau jede 
einzelne Genoffe fich unterwerfen mußte, und daß die eigentliche Feldgenoſſenſchaft von 
dent weiteren Kreife der Dorf und Markgenofienfchaft umſchloſſen wurde. Auf de 
Almende, d. i. auf der eigentlichen Gemeinweide und in dem Gemeinwalde, endlich zog 
die germanifche Agrarverfaffung Feine Grenzen mehr zwifchen den Gebiete des Einen 
und des Andern, fondern überließ, der flavifchen Gemeinfhaft fih nähernd, „Wum 
und Weide" des unvertheilten Bodens dem geneinfamen Genuſſe der Dorfgenoffen.. 

In Beziehung auf Zuftandsrechte zerfiel die Bevölkerung zwar von jeher in Freie 
und Unfreie; unrichtig jedoch ift die Annahme einer urfprünglichen Unfreiheit der Bauern 
‚vielmehr waren die Aderhöfe gerade im Eigenthum der freien und wehrhaften Mänmr. 
Die Unfreiheit, welche eine Abflufung hatte, entftand vornämlich durch Kriegögefan 
genfchaft. - - 

Alle dieſe Verhaͤltniſſe änderten fih allmählih, und die Agrarverfafiung dei 
Mittelalters, welche zum Theil bis auf die Neuzeit fortbeftanden bat, läßt kaum Spuren 
der alten wieder erfennen. Die anfängliche Gemeinfteibeit ift zum größten Theil unter 
-gegangen; an ihrer Stelle find die Meier» und Golonatöverhältniffe, fo wie bie Erb 
unterthänigfeit aufgejchoflen. Die gutöberrlichen Rechte, zu denen bie Gut3polizei um 
Patrimontalgerichtöbarfeit gehört, haben ſich auch den freien Hinterfaffen gegenüber 
entwidelt; überall hat das Lehnsweſen Wurzeln gefchlagen. Zu den verbreitetften 
Srundbelaftungen gehört die Abgabe des Zehnten aller Art. Natürlich find auch die 
jeden Bauerhofe urfprünglich zugetheilten Aderloofe vielfach zerfplittert und unwirth— 
Ichaftlich vermengt. , 

Die Reform diefer Agrarverhältniffe hat in den verſchiedenen Theilen Deutſch⸗ 
lands zu fehr verfchienenen Zeiten begonnen. In Preußen fann man als ihren 
Anfangspunft vielleicht fhon das Jahr 1702 bezeichnen, wo Friedrich I. in der Fleden-, 
Dorf- und Ackerordnung vom 16. December (C. C. M. Tom. V. p. 227) für feine 


1) Bir laſſen es unentfchieben, ob ſich diefe Stellen auf deutſche Volfer beziehen. D.Reb. 








F Dondwen zuerft ausſprach: „daß die Unterthanen in ben’ Domänen der Bürde ber, 
Teibeigenichaft, wo fie noch hergebracht, enthoben fein follten.” Uebrigens Hatte ſchon 
jr Der Ehurfürft Johann Georg e8 dem Adel unterfagt, Bauernhöfe auszufaufen und da- 
Durch das adlige Gut zu vergrößern; Friedrich der Große verbot wiederum durch das 
Edict vom 12. Auguft 1749 bei hundert Ducaten Strafe, „die Bauern niederzu- 
legen" (die Bauerngüter einzuziehen). Wirklich umfaffende und tief einfchneidende 
Abanderıngen erfuhr die Agrarverfaffung der jebt den Preußiſchen Staat bilden- 
Den Landestheile erft in dem gegenwärtigen Jahrhundert, und zwar a) die Agrar⸗ 
verfaflung derjenigen Landestheile, welche 1814 und 1815 mit Preußen verbunden 
resp. wieder vereinigt worden und vorher der Fremdherrfhaft unterworfen 
wwaren, durch die franzöflfche Agrargefeßgebung. Nach der preußifchen Ermwerbung resp. 
Wiedererwerbung wurden die fremdherrlichen Gefeße unverändert nur in’ der Nhein- 
proövinz beibehalten, im Uebrigen größtentheild aufgehoben; ihre Principien jedoch 
im Wefentlichen confervirt und namentlich in die drei Gefege vom 21. April 1825, 
betreffend Die auf den Grundbeſitz bezüglichen Nechtöverhältniffe und Die Nealberechti- 
gungen aa) in den Lanbeötheilen, welche vormald eine Zeit Tang zum Köntgreich Weft- 
pbalen gehört haben; bb) in den zum ehemaligen Großherzogthum Berg; cc) in den 
zu den franzöfljch= hanfeatifchen Departements, fo wie dem Lippe-Departement gehörig 
geweſenen Lanveötheilen (Geſetzſ. 1825 ©. 74, 94, 112 ff.) aufgenommen. b) In 
denjenigen Randeötheilen, welche fchon während der Napoleonifchen Kriege ununterbrochen 
zum preufifchen Staate gehörten, begann die totale Umgeftaltung der agrarifchen Ver: 
Hältniffe mit dem Edict vom 9. October 1807, den erleichterten Befiß und den freien 
Gebrauch des Grundeigenthums, fo wie die perfönlichen Verhältniffe der Landbewohner 
betreffend (Gefegf.-S. 251). Durch daffelbe ward die Erwerbung adliger Güter auch 
Bürgerlichen geftattet, die Zahl ver gefeglichen Näher- und Vorkaufsrechte befchräntt, - 
Die Gebundenbeit der an ſich veräußerlichen Grundſtücke aufgehoben, die Umwandelung 
der Lehne und Bideicommiffe in freie Eigenthum erleichtert, endlich alle Gutsunter⸗ 
tbänigfeit mit dem Martini-Tage 1810 für aufgehoben erklärt.) (©. den Art. Baner.) 
u Das Edict vom 14. September 1811, die Regulirung der gutöherrlichen und 
J bäuerlichen Verhaͤltniſſe betreffend (Gef.-S. ©. 281), bahnte demnaͤchſt die Umwande⸗ 
lung der bisher nicht eigenthümlich verliehenen bäuerlichen Beſitzungen in freies Eigen⸗ 
* thum an; Doch erfuhr der Begriff „bäuerliche Beſitzungen“ durch die Declaration vom 
29. Mai 1816 (Geſ.⸗S. S. 154) eine ziemlich einfchränfende Deflnition. Durch die 
Aslöfungs-Örbnung vom 7. Juni 1821 (Gef.-S. S. 77) wurden die Dienfte, Natural- 
und Geldleiftungen (darunter die Raudemien und Zehnten), die auf Grundftücden vom 
»Unmfange einer felbitftändigen Ackernahrung bafteten, faft ohne Ausnahme für ablösbar 
rerklaͤrt und durch die Gemeinheitstheilungsordnung (f. Gemeinheitätheilung) 
% von demfelben Tage (Geſ.⸗S. S. 53) die Aufhebung der Gemeinheit bei Weideberechtigungen 
auf Nedern, Wiefen, Angern, Forften und fonftigen Meivdepläßen, bei Korftberechtigungen 
Fi zur Maft, zum Mitgenuffe des Holzes und zum Streueholen, fo wie bei Berechtigungen 
zum Plaggen-, Haide- und Bültenhieb, ohne Unterſchied, ob diefe Gerechtfame auf einem 
gemeinfchaftlihen Eigentbum, einem Gefammteigentfum oder einem einjeitigen oder wechjel- 
feitigen Dienftbarfeitsrechte beruhten, ferner bei Gemeindegründen und mit Dienftbarfeiten 
belafteten Grundftüden die Feftfegung der Theilnehmungsrechte der Mit- und Dienftbarz 
feitö- Berechtigten auf ein beftimmtes Maaß ermöglicht und erleichtert. " Das Gefeg vom 
2. März 1850, betreffend die Ergänzung der Gemeinheitstheilungs-Ordnung (Geſ.“S. 
S. 139), erklärte endlich noch gewiſſe andere auf einer Dienftbarkeit beruhende Berech⸗ 
tigungen (z. B. zur Gräferei, zum Nachrechen auf abgeernteten Feldern, zum Harz» 
ſcharren a.) für felbftftändig ablösbar. c) In den ehemals Föniglich fächftfchen 
Provinzen ward die Erbunterthänigkeit durch VBerorbnung vom 18. Januar 1819 (Geſ.⸗ 
S. ©. 21) aufgehoben. d) Für den ganzen damaligen Umfang der Monarchie mit 
alleiniger Ausnahme der auf dem linfen Rheinufer belegenen Landestheile erging das 
Geſetz vom 2. März 1850, betreffend die Ablöfung ber Reallaften und die Regulirung 
1 der gutöherrlichen und bäuerlichen Verhaͤltniſſe (Gef... ©. 77). Daffelbe bob das 


N „Nach dem Martini-Tage 1810 giebt es nur freie Leute.“ 





- 


bern, desgleichen das Eigenthumsrecht des Erbverpächterd, das gutöherrliche ober 
grundherrliche Heimfallsrecht an inländifchen Grundftüden und Gerechtfamen, die Be: 
rechtigung des Erbverpächterd oder des Zindberechtigten, den ihm zuftehenden Canon 
oder Zind willkürlich zu erhöhen, die meiften Vorkaufs⸗, Näher- und Retractrechte an 
Immobilien, fo wie eine große Anzahl anderer Berechtigungen ohne Entfchäbigung auf 
und erklärte alle befländigen Abgaben und Keiftungen, welche auf eigenthümlich oder 
Bisher erbpachts⸗ oder erbzinsweiſe befeflenen Grundſtücken oder Gerechtigkeiten baften, 
mit wenigen Audnahmen für ablösbar. Auch traf es über die Regulirung der gut 
herrlichen und bäuerlichen Verhältniffe behufs der Eigenthumsverleihung neue Beftim- 


mungen. e) Für die Rhein- Provinz mit Ausnahme der. Kreife Duisburg und Rees, 


jo wie für Neuvorpommern und Rügen ward die Gemeinheitötheilungs-Ordnung vom 
19. Mai 1851 (Geſ.⸗S. ©. 371) erlaffen, welche die Ablöfung gewiſſer als Dienf- 
barkeit (Servitut) auf dem Grundeigenthum laftenden Nutungsberechtigungen, fo wie 
die Theilung von Grundflüden, die von mehreren Miteigenthünern ungetheilt beſeſſen 
und durch gemeinfame Ausübung der Weide, Waldmaſt, Holz⸗, Streu» oder Torf: 
nugung, des Plaggen=, Haide- oder Bültenhiebes benugt werben, zum Gegenftande bat. 

Der Schwankungen der preußifchen Geſetzgebung in Anfehung der Parcelli- 
rungsfrage ift bereitö oben gedacht worden. 

Was Kamilienfideicommiffe anlangt, fo verorbnete Die Verfafſungs⸗Ur⸗ 
kunde vom 31. Januar 1850 im Urt. 40, daß die beftehenden in freied Cigenthum 
umgeftaltet werden follten, und unterjagte die Errichtung von neuen Fideicommiſſen. 
Doch fihon das Gejeg vom 5. Juni 1852 (Gef.-S. &. 319) hob diefe Beftinmung 
wieder auf (f. d. Art. Fideicommig und Lehn). 

Die gutsherrlihe Polizei (f. d. Art.) ward durch Art. 42 der Berfal- 
ſungs-Urkunde vom 31. Januar 1850 für abgefchafft erflärt; für die ſechs äftlichen 
Provinzen der Monarchie jedoch dutch Geſetz vom 14. April 1856 (Gef.-S. ©. 354) 
wiederhergeftellt. \ 

Die Patrimonialgerihtäbarfeit (f. d. Art.) ift feit der Verorbnung vom 
2. Januar 1949 (Geſ.⸗S. ©. 1) überall aufgehoben. 

Wir haben hier natürlich die Entwidelung der Agrarverhältniffe in Preußen nur 
in ihren Hauptzügen gefchilvert, da ein näheres Eingehen auf dad Detail der vor 
Allem zu erftrebenden Ueberfichtlichkeit den .erheblichften Eintrag thun würde. Maͤheres 
über die in Preußen herrſchenden Agrarverfaflungen f. unter Preußen, Adler.) . 

In Defterreich bob Kaifer Joſeph II. ſchon im Jahre 1781 die Leibeigenſchaft 
auf und verband damit auch die Abfchaffung verfchiedener Keibeigenfchaftsabgaben, ſowie 
die Verwandlung der ungemefjenen Frohndienſte in gemeflene und die Firation unge 
meflener Leiftungen. Doch geichah diefe Neform mehr auf dem Papier als in der 
Wirklichkeit. Der im Jahre 1848 in Wien zufammentretenne Reichstag bewirkte 
eine radicale Aenderung des alten Agrarſyſtems und auf fein Drängen bob der 
dinand I. dur Verordnung vom 7. September 1848 die Unterthänigfeit und dat 
fchugobrigfeitlihe Verhaͤltniß nebft allen dieſe Verhältniffe normirenden Geſetzen, den 
Unterfchied zwifchen Dominial- und Aufticalgründen, alle aus dem Unterthänigfeitd- 
verhältniffe entfpringenden Laften und Dienflleiftungen, alle aus dem grundherrlicen 
Obereigentbum, der Zehnt-, Schutz⸗, Boigt- und Weinbergherrlichkeit wie aus der 


“ Dorfobrigkeit berrührenden, von den Grundbefigungen oder von Perfonen bisher zu 


entrichten gewefenen Natural⸗, Arbeits- und Gelvleiftungen, das dorfobrigkeitliche Blu⸗ 
menfuche und Weiderecht nebft Brachhütung und Stoppelmeide, den Bier⸗ und Brant- 
weinzwang, endlich die gutäherrliche Patrimonialgerichtöbarkeit und politifche Amts⸗ 
verwaltung auf. Zu dieſem Gefeß erging eine declaratorifche Beftimmung, die Ber 
ordnung vom 4. März 1849. Nach den Beitimmungen dieſes Patente haben alle aud 
den Patrimonial- Verhältniffe (in der weiteſten Bedeutung) herrührenden Natural, 
Arbeitd- und Gelbleiftungen, ſowie die denfelben gegenüberftehenden Rechte wegzufallen; 
jene Leiftungen, welche aus der perfönlichen Verpflichtung des Unterthanen als ſolchen 
entfpringen, find unentgeltlich, jene, die auf dem Beflge eines Dem Guts⸗, Zehent- 











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den. Berechtigte aber ward für bie aufgelaffenen Mrbarial - - Reiftungen (mit Ausnahme 
der ohne Entgelt aufgehobenen) und für die entfallenden Nechte der grundherrlichen 
Gerichtöbarkeit eine angemefjene Entfehädigung zuerkannt, welche vollftändig vom Lande 
und nur aus Landesmitteln zu leiften ift. (Näheres darüber |. in den Art. Sieben: 
bürgen und Ungarn. ") 

In Baiern begann die agrariſche Reform 1808 und zwar gleichfalls mit der 


Aufhebung der Leibeigenſchaft (Verfaſſung von 1. Mai 1808 Tit. 1 $ 3. Edict vom 


31. Auguft 1808). In ihrem weitern Verlauf bis zum Jahre 1848 befchränfte fie ih 
auf geringe WModificationen der beftehenden Agrarverfaffung, in welcher Gebunvenbeit 
der bäuerlichen Güter nnd gutäherrliched Obereigenthum nebft vielen grumbherrlichen 
Laften und Abgaben die vorherrfchenden Elemente waren. Dad Gefeb vom 4. Juni 
1848 bob jedoch die ſtandes- und gutsherrliche Gerichtöbarkeit, die ungemeffenen Na 
turalfeobndienfte, den Heimfall, das Mortuarium, den Blut- und Neubruchzehnt, fowie 
alle rein perfönlichen Abgaben auf, erflärte andere für ablösbar und verbot Verleibun: 
gen von Grundftüden unter Vorbehalt des Obereigentbums. Gin anderes Gejeg vom 


nämlichen Datum traf über die Ablöfung des Kehnsverbandes Beftimmung. In der zu 
Baiern gehörigen Rheinpfalz batte übrigens bereit die franzöflfche Gefegebung die 


f. g. Unfrelbeit der Agrarverfaflung auf die Dauer befeitigt. 





In Württemberg warb bie perfünliche Keibeigenfchaft mit ihren Wirkungen | 


vom 1. San. 1818 an aufgehoben. (Ep. v. 18. Nov. 1817; declar. Verordn. v. | 


18. Nov. 1817.) Um diefelbe Zeit ward in Betreff der Ichnbaren Bauergüter, ind 
befondere der Falllehen, verordnet, daß dieſelben Dem Beflger und feiner Familie, d. i. 
der männlichen Nachkommenſchaft, nicht entzogen, die Abgaben derſelben nicht erbößt, 
und die Beſitzrechte gegen Entichädigung in Die eines reinen Zindgutes umgemanbelt 
werden follten; bei Erblehen aber warb dad lehnsherrliche Obereigenthum wie auch 
das Loſungsrecht ganz aufgehoben. Zugleich ergingen Beſtimmungen über die Ablöos⸗ 





lichkeit der Laudemien, der ſ. g. radicirten Frohndienſte und Frohngelder ſowie der 


Blutzehnten, über Rentification der ſ. g. Küchengefälle und Fixation der ungemeſſenen 
Frohnen. (Ed. v. 18. Nov. 1817; Verordn. v. 13. Sept. 1818; Gef. v. 23. Juni 
1821.) Ein neues Entwidelungemoment für das agrarifche Ablöfungswefen bildeten 
die Geſetze v. 28. und 29. October 1836; v. 14. April 1848; v. 17. Juni, 27. 
Juli und 24. Auguft 1849. Den bei der Zerftüdelung von Bauergütern vorkommen: 
den Mißbräuchen trat ein Geſetz v. 23. Juni 1853 entgegen. 

Im Königreih Hannover, wo die frembberrlicdye Gefeßgebung zwar die Agrar 
Verfaſſung wefentlich verändert hatte, jedoch nach der Nevecupation wieder befeitigt 
worden war, begann von Neuem eine umfaſſende agrarijche Reform erft mit dent Jahre 
1831 durch eine Verordnung (v. 10. Nov.) über die bei Ablöfung der grund- und 
gutöherrlichen Kaften und Regulivung der bäuerlichen Verhältniffe zu befolgenden Grund 
ſaͤtze. Im Jahre .1833 erſchien eine vollftändige Ablöfungs » Ordnung (v. 23. Juli), 


welche namentlich über die Ablösbarkeit der Erbzind- und Erbpachtöverhältniffe, der 


Zehnten und Weidegemeinfchaften Beftimmung traf. Durch das Gefeß von 13. April 
1836 wurde die Allodification der Lehne (jedoch mit vielfachen Ausnahmen) geftattet, 


beziehungsweiſe erleichtert. Die Declaration vom 19. Juli 1848 dehnte Die Ablösbar- 
feit des Lehnsverbandes auf alle Lehne mit Ausnahme der zum Heimfall ftehenden 


aud. Die Zufammenlegung der Grundftüde betraf ein Gefet vom 30. Juni 1842, 


22. Auguft 1847 nnd 12. October 1853. Was die Gefchlofferheit der bäuerlichen 


Güter betrifft, jo iſt dieſelbe bis auf Die neuefte Zeit feftgehalten worden. 

Im Königreih Sachſen erfolgte für diejenigen Diſtriete, wo nicht von Alters 
her perfönliche Preiheit und Eigenthum der Bauern an ihren Gütern galt, die Auf 
bebung der Erbunterthänigkeit erft durch das Gefeh v. 17. März 1832. Daffelbe 
hatte zugleich die Ablöfung der Reallaſten (einjchlieflich der Zehnten und Laubentien), 


1 Alles dahin einjchlagende Material findet man gufammengefellt in dem Buche: Oeſtreiche 
Meugeftaltung 18481858, von E. Fr. v. Gzörnig. Cotta 1858, ©. 486 ff. 








tigungen, 10 wie die Gemeinbeitötheilungen der im Eigentbum von Stadt oder Dorf: 
gemeinden befindlichen ländlichen Grundftüde, deren Nugungen den einzelnen Gemeinde: 
gliedern eigenthümlich zufteheh, zum Gegenflande. Die Patrimonialgerichtsbarkeit und 
gutöherrliche Polizei ward durch das Geſetz v. 15. Mai 1851 aufgehoben, welches zu: 
gleich Die früheren Ablöfungsgefege ergänzte. 

In Baden, Sahfjen- Koburg, Sasfen- Gotha, Sachſen⸗Alten— 
burg, Reuß— Lobenſtein— Ebersdorf, Anhalt-Bernburg, Waldeck un 
Lippe⸗Detmold ergingen gleichfalls erft in den Jahren 1830-1839 theils mehr, 
theild meniger umfaflende agrarifche Reformgefege, welche feit 1848 mannichfache Er: 
weiterungen erfuhren. 

Im-Kurfürftentbum Heffen, in Braunfhweig und Oldenburg wart 
die fremdherrliche Agrargefeßgebung, jedoch nur vorübergehend, eingeführt. Die ein: 
heimifche Reform begann in Heffen und Braunfchweig zu Anfang der dreißiger Jahre, 
in Oldenburg 1849. 

In den meiften übrigen deutjchen Staaten trat eine Umgeftaltung dei 
Agrarverbältniffe im Sinne einer |. g. freien Agrarverfaffung erft nach dem Jahrı 
1848 ein. In Hefjen- Darmftadt wurde jedoch ſchon während der Napoleonifcher 
Kriege nicht nur die Leibeigenfchaft aufgehoben, jondern auch die Theilbarfeit der grö: 
Bern Bauergüter, fo wie Die Ablößbarkeit der Reallaſten eingeführt und die Aufhebung 
von Servituten und Gemeinbeiten gefeglich gefördert. Auch in Naffau trat fehon 
damald eine fehr erhebliche Neform der Agrargefeggebung ein. Hier ift noch befon: 
derd zu erwähnen die Verordnung über Güterconfolidation v. 12. Sept. 1829, durd 
welche im Landescultur »Intereffe der Grundſtückszerſtückelung gewiſſe Schranken gejeß: 
wurden. 

In Medlenburg- Schwerin und Strelig dauert die f. g. unfreie Agrar: 
verfaflung unverändert fort. 

Anlangend jodann Die wichtigften nicht-deutſchen Staaten in Europa, fo zer: 
fallen in Groß⸗Rußland die Bauerngemeinden zunächſt in perfünlich freie unt 
leibeigene. Die legte Klaſſe ift die bei weiten zahlreichſte. Die perfönlid 
freien Bauergemeinden theilen N wieder a. in ſolche, denen die Feldmark eigen: 
tbirmlich gehört; hierher find 3. B. alle Kofakengemeinden zu rechnen; b. in ſolche 
die im Kronbauer-Verhältniſſe ſtehen. Die Keibeigenfchaft der Kronbauern if 
nämlich durch ganz Rußland aufgehoben; die Kronbauern find jedoch dadurch weder 
Srundeigenthümer noch frei von den Reibeigenfchaftöpflichten geworben, welche letztere nu 
in einen Obrok (Geldabgabe) verwandelt werden können. c. in ſolche, welche ſich au! 
Polownikgrund angefledelt haben. Mit diefen hat ed folgende Bewandtniß. Ei 
giebt im ganzen nördlichen Rußland fat Feinen einheimifchen angefeffenen Adel; dei 
dort lebende Beamten Adel kommt und gebt, und von den wenigen dort gebürtigen 
Adelsfamilien hat nur der Heinfte Theil adeligen Grund mil Leibeigenen. Dageger 
befigt diefer Adel, die Städte und eine Anzahl Bürger ausgedehnte Landſtrecken ohn 
ruſſiſche Adelsvorrechte, d. h. nicht mit dem Mechte, das Rand durch Leibeigene bebauen 
zu laffen. Sie befigen diefen Boden nur nah Polownikrecht, d. 5. mit dem Rechte, 
denjelben gegen die Hälfte oder einen fonftigen Theil der Ernte, alfo gegen Natural: 
pacht, an rufflfche Bauern audzuthun. Dies gefchteht entweder an die Bewohner eines 
benachbarten Krondorfes oder an die Bewohner von Dorfichaften, welche auff. g. 
Polomnifgrund eigens zu diefem Zwed erbaut find. Die Häufer gehörer 
häufig dem Pächter, das Inventar immer; die Verträge werden auf 6 bis 20 Jahrı 
abgefchlofien. 

Die leibeigenen Bauergemeinden find entweder Obrofs Bauern, d. h. derer 
Leibpflicht in Bezahlung einer Geldabgabe beftehbt, oder Krohbn- Bauern. Die erftı 
Klaſſe ift die zahfreichfte. 

Die Agrarverfaffung der perfönlich freien Bauergemeinden, denen bie Feld. 
mark eigenthümlich gehört, beruht auf einem Gefammteigenthbum der ald Er— 
weiterung ber Familie gedachten Gemeinde an der Feldmark; bie einzelnen Gemeinde: 
glieder haben am Grund und Boden nur Nugungsrechte, und zwar gilt als leitende 


3 





Antheil an allen Nutungen des Grund und Bodens hat. Diefer Antheil ift daher 


dem Principe nach ftetö wechjelnd; denn jeder in einer Familie der Gemeinde- 


genofjen neugeborene Knabe tritt mit einem neuen echte binzu und fordert feinen 


‚Antheil; dagegen füllt aber auch der Antheil eines jeden Verftorbenen an Die Gemeinde 


zurüd. Die Waldungen und Weiden, Iagd und Fifcherei bleiben ungetbeilt und 
Jeder participirt mit gleichem Rechte an ihren Nutzungen. Weder und Wiefen aber 
werden wirklidy von. Zeit zu Zeit unter alle männlichen Köpfe nach ibrem 
Werthe gleihmäßig vertheilt. Bei diefen Vertheilungen erhalten wohl häufig die 
Söhne den Antheil des verftorbenen Vaters; ein Erbrecht auf diefen Antheil aber eri- 
flirt, wie gefagt, nicht. In jeder Gemeinde diebt es gewandte Feldmeſſer, die, tradis 
tionell ausgebildet, dad Theilungsgeſchäft mit Einficht und zur Zufriedenheit Aller aus: 
führen: Zuerft wird die Feldmark nach der entfernten und nahen Tage, nach der ge 
tingeren oder größern Güte des Bodens, alſo nach vorhergegangener pollftändiger Bo⸗ 
nitirung, in Wannen abgetheilt, fo daß jede Wanne einen einigermaßen in jenen Bes 
ziehungen gleichartigen Beſtandtheil bildet. Dann wird jede Wanne in jo viele Antheile 
langer Streifen abgetheilt, als Antheilnehmer in.der Gemeinde vorhanden find, und 
demnaͤchſt werden dieſe Antheile verlooft. 
Der ſlaviſche Grundſatz der gleichen Theilung der Feldmark nach Köpfen gilt 
auch bei den Kronbauergemeinden und ſelbſt bei den leibeigenen Bauer: 
gemeinden, bei letzteren jedoch da, wo die Frohndenwirthſchaft ſtattfindet, 
nur in modificirter Weiſe. Die haͤufigſte Form der Frohndenwirthſchaft beſteht nänı- 
lich darin, Daß der Grundherr einen Theil der Feldmark, in der Regel Y, ober 
Y, des Ackerbodens, ald gutsherrliche Wirtbfchaft, deren vollftändige Beftellung "der 
Gemeinde obliegt, ausgefchieden bat. Wo dies geicheben, erfolgt die Vertheilung der 
übrigen Feldmark nicht nach Köpfen (männlichen Seelen), fondern nad „Taiglo's“. 
Der genau nicht zu bezeichnende Begriff „Taiglo“ fteht aber zwifchen Ehepaar und 
Familie in der Mitte. 

Die adeligen Güter find in der Pegel frei veräußerlich und ' frei vererblic, 
ebenjo frei theilbar. Nur wenige adelige Güter haben die Fideicommißeigenſchaft. 

Die Schritte, welche in neuefter Zeit Seitens der rufflfchen Regierung zur all 
mäblichen gänzlichen Aufhebung der Leibeigenſchaft gefchehen find, find binlängli 
befannt und bedürfen daher bier Feiner weiteren Befprechung. In den Oſtſee⸗Provinzen 
ift auf den Antrag der Stände die Leibeigenfchaft bereits durch die Ufafe vom 6. Juni 
1816 und 6. Januar 1820 aufgehoben. Natürlich ift in denfelben nicht die flavifche, 
fondern die germanifche Agrarverfafiung vorherrichend. 
Man bat in neuefter Zeit der Agrarverfaffung Bolen’s, Rußland's, Ga— 
lizien's und Poſen's eine verdiente Aufmerkſamkeit zugewendet. Wir nennen von 
den Schriften hierüber: La question agraire en Pologne et en Russie 1851; La 
Gialicie sous le regime autrichien 1853; Kleb8, die LandescultursGefehgebung im 
Großherzogtum Pofen 1856; Mieroslawski, histoire de la commune Polonaise 
du Jdixieme au dix-huitieme siecle 1856. In diefer Schrift wird die Entwidlung 
der Volkswirthſchaft und Gefellfchaft in Polen von der älteften Zeit bis jept in fünf 
Perioden eingetheilt (S. 5 ff.). Die letzte derfelben, welche von 1772 datirt wird, 
definirt der Verfaſſer dahin: „Sie zeigt zwei ‚Bewegungen im entgegengefegten Sinne. 
Politiſch quält feh Polen in den fucceffiven Zerflüdelungen ab, gegen welche Die uns 
fierblihe Natur feiner Nationalität proteftirt;. während es foctal zu feiner urfprüng- 
lihen Demokratie (der Geſellſchaft) zurückkehrt, die Gleichheit des Unglücks bat Die 
Gleichheit der jocialen Rechte wieder gebracht." Wir wollen das Uebergewicht ber 
Phrafe in’ diefen Worten nicht Fritifiren, es laͤßt fich erklären. Wichtiger ift und die 
Definition von einer „Slavifchen Gemeinde" S. 6—9. Die polnifche Gemeinde 
gmina oder gromada („organifirte Truppe“, „Aſſociation“) hatte in frühefter Zeit 
nicht einmal einen feften Wohnftg, jondern war auf einer ewigen Wanderung begriffen, 


bis ein ergiebiger Ort fie feffelte. So entfland ein Mittelding zwifchen Nomadenleben und 


Grundbefigverfaffung, aus welchem dann folgende Agrarverhältniffe fich ergaben. Dad 
Semeindegut blieb untheilbar und unveräußerlih. Bei der Verloofung des Aderlanded 











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wortlih. Ein Communismus in Anfehung des Ertrages fand nicht Durchgehendß jta 
fonbern nur in Bezug auf die Naturgüter. Der Grundbeflg der Gemeinde war getbe 
1) in untheilbare Güter ohne Bewirtbfchaftung: Wald, Weide, Waller; 2) in Güt 
deren Bewirtbfchaftung den Magiftraten, Wittwen, Waifen und den Vorrathshaͤuſe 
zu Gute fam; 3) in Güter, welche auf ein FJahr oder zwei bis ſechs Jahre den ei 
zelnen Familien zut Bewirthſchaftung überlaſſen waren. Und kann nun bier nur I 
[cpte Art des verliehenen Grundbeflgers zur 1— jährigen Wirthſchaft näher interefir« 
Diefer Grundbeflg war zwar zur freien Benirthfchaftung dem Individuum anbeiı 
geftellt, doch war er natürlich nicht erblich. Die Größe wird auf etwa einen Manf 
teirca 40 Morgen) angegeben. . 

Den Urfprung der ruffifchen Gemeindeordnung und Gemeindewirtbich: 
müffen wir bei einem fich eben anfievelnden Nomadenvolk fuchen, während man 
der deutfchen Hufenverfaffung die Spuren einer planmäßigen Eroberung eined ganz 
Volkes findet. Die flavifche Gemeinde ift die Fortbildung einer nothgedrungenen N 
derlaffung einiger Nomadenfamilien auf fremden Boden, der ifmen, fo zu jagen, vı 
tragamäßig überlaffen war. Die beutfche Hufenverfaffung iſt bie Vertheilung d 
Bodens nach der gelungenen Eroberung in ber Abſicht, womoͤglich jede Familie einze 
an die Scholle zu feffeln und zur Verteidigung des Bodens zu beſtimmen. 

Diefe Grundlage der feſtgeſchloſſenen, mit Traditionen verwachſenen Famil 
fehlt der ruſſiſchen Gemeinde jo gut als ganz. (Näheres darüber ſiehe unter © 
meinde, wo auch die gründlichen Arbeiten des weftfälifchen Sreiheren v. Harthaufe 
„Studien über die inneren Zuftände u. f. w. Rußlands“ gewürdigt werben). 

Im eigentlichen Rußland hat man ſchon im 12—13. Jahrhundert die Gemein 
durch Agrargefeße vor dem Eindringen des großen Familienbeſitzes gefhüst. Es— 
ſchah Dies ſehr einfach dadurch, daß jeder Käufer eines bäuerlichen Hofe& und Grun 
befiged in die Klajfe der Bauern gezählt werden mußte, alfo feinen Adel oder Bürgı 
thum, wenn er Stäbter war, verlor. Dem Bauern, ald Mitglied der Gemeinde, fta 
das Recht zu, von einer Gemeinde in die andere zu wandern, eine Freizügigkeit, v 
fie in Deutfchland damals nur der Adelige hatte. Aehnlich der Stellung der ung 
rifhen Krone zu den abdeligen Grundbeſitzern (fiehe S. 366) war in Rußland ! 
der Czaaren zu den freien bäuerlichen Orundbefigern. Starb ein folcher ohne ebelü 
Nachkommen, fo erbte die Krone. Um den Beftand der Gemeinde zu fchügen, wur 
die Polizei und felbft die niedere Griminaljuftiz der Gemeinde anheim gegeben. Di 
geſchah Alles fehon im Mittelalter und kann ald eine ächt national=flawifche Entwi 
lung betrachtet werden, Die von dem germanifchen Princip — der Familienwirthich 
— noch unberührt war. Zu den Elementen, welche mit dem Eindringen des Germ 
nismus und der Adelsherrſchaft, d. h. der Samilienwirthichaft, im Gegenſatze 3 
flawifchen Gemeindewirthfchaft, vom 16. Jahrhundert an auffamen, gehört bie Xı 
bebung der Freizügigkeit der Gemeinde-Mitglieder durch dad Gefeg vom 21. Novent 
1601. In Folge deffen verlor Die bisher jouveräne Gemeinde ihre Autonomie, u 
damit ging die Agrargefeggebug der Gemeinde in eine Staatsagrargejfe: 
bung über. 

Die Vereinigung Polens und- der Oftfeeprovinzen mit Rußland, noch mehr al 
die deutfchen Coloniften (ſiehe Coloniſation) brachten jedoch auch nach Rußland | 
germanifche Agrarverfaflung. (Die wichtigften deutfchen Ginwanderungen in Rußla 
fanden 1763, 1783, 1803, 1817 bis 1826 flatt.) Die agrarifchen Verhältniffe die 
Anfiedler, welche in die Stattbalterfchaften Saratow, Tfchernigow, Petersburg, Tauriı 
Jefaterinoslam, Georgien gefchieft wurden, bat man fo geordnet, Daß jede Fami 
270 Preufifche Morgen erhielt, Dazu Freiheit von Abgaben, Vorſchüſſe in Geld u. |. 
Die Eoloniften durften ihre Orundftüde weder tbeilen, noch abtreten, noch veräuße 
fie mußten ihre Aeder felbft bebauen. Die Auffichtsbehörve „uber biefe Goloniften ıı 
deutfcher Agrarverfaflung waren die Comites der Colonien und das Colonialdepar 
ment, deren Thätigfeit bauptfächlich darin beftand, die deutſchen Bauern auf ihr 
Grund und Boden feflzuhalten; Doch das erreichte man nicht. Die Deutfchen verna 


v 





rufitfchen Bauern und wollten ſich auf leichtere Weife, als durch Aderarbeit bereichern. 
Unverkennbar ift darin der Zug, daß bei der Agrargefehgebung auch Die volfäwirth- 
fchaftlichen Gefege berüdfichtigt fein müffen, welche wir an die Spige dieſes Aufſatzes 
geftellt haben. Niemals Tann eine Golonifation gelingen, welche Die fremde Agrar: 
Verfaſſung nur äußerlich, wie eine Treibbauspflanze auf fremden Boden verpflanzt. 
In Rußland bat man bei der Einwanderung der deutfchen Familienwirthſchaft und des 
Familienbeſitzes zu berüdjichtigen verfäumt, daß der Grund und Boden diefer Goloniften 
durch ihre Arbeit einen immer höheren Werth bekommen müßte, und daß in Folge 
defien ihr Eigenthumsrecht immer flärker bervorträte, damit aber auch dad Recht über 
den Beſitz ganz frei zu verfügen, und daß endlich aus dem gefteigerten Werthe des 
Beflped und aus dem Bewußtfein wohlangelegter Arbeit ein Anſpruch der Eoloniften 
auf eine ſtaatsrechtliche Stellung auf Grund ihres Beſitzes hervorgehen müßte. Aehn⸗ 
ih mißlang übrigens die deutſche Agrarcolonifation in Griechenland und Ungam. Der 
Grund ift aber nicht in der Familienwirthſchaft, fondern in der Disharmonie des agra 
rifchen Lebens jener Länder mit dem Erbrecht, der Mobilifirung des Beſitzes, der polis 
tifchen Stellung des Grundbeſitzers und Der Abfagquellen zu fuchen. 

In der Türkei liegt, den Vorfchriften des Koran gemäß, das wirkliche unbe: 
dingte Eigenthum des Bodens in der Hand des Schöpfers, welcher den Menfchen nad 
Verdienft und Bedarf Theile davon zur Benupung einräumt. Im Namen Gottes be 
bauptet der Miri (öffentlihe Schag, Staat) das Eigenthum alles Bodens, und feltf 
der Imam (Sultan) ift nur deflen Verwalter. Wenn der Imam ein and erobert, 
fo macht er aus deſſen Boden drei Theile; der erfte Theil verbleibt in den Händen 
des Staates, der jedoch auf verfchiedene Weife über deſſen zeitliche Benutzung verfügt; 
den zweiten Theil empfangen die Mofcheen zur Beftreitung der Bedürfniſſe des Gotted- 
dienſtes, ded Unterrichtd, der Armenverforgung u. f. w.; der dritte Theil wird der 
Privatbenugung überlafien. Diefe im zeitweifen Brivatbefit befindlichen Grund: 
ſtücke find entweder im Befige von Mohamedanern, und in dieſem Falle entrichten fe 
dem Miri nur den zehnten Theil der Erzeugniffe (Aſchr), oder fie find in der de 
nugung von Ungläubigen (bei der Eroberung belaffen oder fpäter gegeben), und dann 
muß davon dem Miri ein Tribut (Kharadj) bezahlt‘ werden. Diejer Kharadj wird 
theil8 nady dem Umfange des Bodens feflgefegt (Mumafef), theild nach deſſen Ertrage 
beſtimmt (Mufaffeme), und zwar vom achten Theile bis zur Hälfte Die zur Zeit 
der Eroberung unangebaut gewefenen Grundftüde oder die feitbem öde gemorbenen 
Flaͤchen find gleichfalls Eigentum des Miri; jedoch geftattet er deren neuen Anbau 
gegen obige Abgaben, und darauf bat derjenige den erften Anfpruch, welcher „dem 
Grundftüde das Leben giebt“. Diefe Grundzüge der Bodenverhältniffe haben im 
Verlaufe der Jahrhunderte Hinfichtlich einzelner Landſtriche oder Volksklaſſen Veraͤnde⸗ 
rungen erfahren, die zwar den Grundfag der Eigentbumslofigfeit aller Beſizer 
nicht beeinträchtigen, jedoch einzelne Klaſſen derfelben in eine nachtheiligere oder gün- 
ftigere Rage gebracht haben. Zu jenen gehören beijpieldweife die zahlreichen Grund: 
ſtücke im Rajah⸗Beſitze, welche freiwillig einer Abgabe an die Mofcheen ſich unterworfen 
baben, um deren Schuß zu genießen; dann die in ein ähnliches Schugverhältniß zu 
dem mufelmännijchen Adel Bosniend getretenen dortigen Rajah. 

Zur Regelung der Verhältniffe zwifchen den bosniſchen Grundherren und ben 
auf ihren Beſitzungen anjälligen Bauern ſowie ald Norm für die Schlichtung der aus 
diefen Verhältniſſen entſtehenden Streitfälle ift unterm 16. Shaban 1267 (16. Juni 
1851) ein Decret der bosnifchen Statthalterei erlaffen worden, deſſen Beflimmungen 
zufolge der Bauer weder vor beenvigter Ernte aus feinem Dienftverbande freiwillig 
jcheiden, noch wegen DBernachläffigung der feiner Arbeit anvertrauten Grundflüde vom 
Grundheren entfernt werden kann. Im erfleen Kalle muß ein richterliches Erkenntniß 
vorliegen und die Ernte abgemwartet werden. 

In England erbliden wir dasjenige Land, welches am früheften mit der Beſei⸗ 
tigung des fogenannten Keudal-Zuftandes begonnen‘ hat. Hier jehen wir die Patri- 
monials Gerihtöbarkeit und Guts⸗Polizei ſchon während des vierzehnten Jahrhunderte 











a 


und wirthfchaftlichen Gründen in 1 Geldabgaben verwandelt. Ebenfo erfolgte nad) und nad) 
die Umwandlung der Natural-Zehnten in Geld-Renten. Diefelbe war (nadı Beel) bis 
zum Jahre 1835 jchon in 2000 Gemeinden gelungen, wegen der jeded Mal erforder- 
lihen Parlamentd » Acte jedoch ſehr Foftfpielig. Sie warb deshalb im Jahre 1836 
erleichtert Durch Einfeßung einer aus drei Mitgliedern beſtehenden Zehnt- Commiffien, 
welhe das Ummandlungsgefchäft zu leiten bat. Auf den Lapgütern, welche größten- 
theils vererblich find, haften zwar noch mancherlei gutöberrliche Laften, ſo z. B. die 
Abgabe des Beſthauptes; die Ablöfung derſelben ift jedoch unter der Megierung 
der Königin Victoria geordnet worden. Freilich darf dabei nicht verfchwiegen wer⸗ 
den, daß mit Ddiefer Gntwidelung die allmälige Abforbirung des Kleinen freien 
Grundbeſitzes (des Bauernſtandes) durch den großen ariftofratifchen Grundbefig Hand 
in Hand gegangen ift: ein Zuſtand, der gegenwärtig in dem Ankauf und der Anſied⸗ 
lung Eleiner ländlicher Wähler eine Neaction zu finden jcheint. 

Das Recht der Fideicommiffe ift in England ſcheinbar befchränkter ald in den meiften 
andern Ländern. Gin Grundbefiter kann zwar fein Gigenthum einer beliebig großen 
Reihenfolge von Berfonen, die zur Zeit der Errichtung bereitd am Leben find, und 
außerdem einer ungebornen Perjon fiveicommiffarijch vermachen; fobald aber dDiefe Letz⸗ 
tere majorenn wird, hört das Recht des Fideicommiſſes auf, und das Gut wird ihr 
freies Eigenthum. Dieſe Beſchraͤnkung beruht auf einer Parlaments⸗ ⸗Acte vom Jahre 
1833. Ausnahmen biervon finden nur zu Gunften weniger Stammgüter vermöge 
befonderer Parlaments-Beſchlüſſe ftatt. Ferner darf die Anhäufung der Nugungen von 
Grundftüden auf eine längere Zeit, als 21 Jahre nach dem Tode ded Verfügenden, 
nicht verordnet werden. Troß der gedachten Beftimmungen erlöfchen Fideicommiſſe 
jehr jelten, da derjenige, in deſſen Händen dad Fideicomißgut freied Eigenthum wird, 
demjelben wiederum die Fideicommiß-Eigenſchaft beizulegen pflegt. 

Roßbach (Gefch. der polit. Defonom., S. 247) fagt darüber: „Das Latifudium 
und damit auch die Gebundenheit der Güter repräfentiren den Charakter der englifchen 
Agrarverhältniffe. Diefe Concentration der Güter findet ihren Schlußpunft im Grb- 
recht, wo als Regel gilt, daß aller Grundbeſitz auf den älteften Sohn übergeht. Selbft 
die Veraͤußerung bei Lebzeiten mußte bier flrengen Orundfägen unterworfen werden, es 
giebt daher bier freie Güter, über welche der Eigenthüner verfügen fann. Ihnen ge> 
genüber aber fiehen die „entailes“, welche nach Art der Fideicommißgüter vererbt wur 
den. Sie wurden jedoch im Jahre 1831 abgefchafft und an ihre Stelle traten die f. g. 
setllements, durch welche man die ſtrenge Form und Feſſelung des fideicommiſſariſchen 
Grundbeſitzes aufhob, es aber den Intereſſenten überließ, das Princip' des im Fidei⸗ 
commiß liegenden Motivs zu retten und ſo das conſervative Intereſſe der Familie mit 
den Anforderungen des Verkehrs in ein natürliches Gleichgewicht zu ſetzen. 

Derjenige, der das Gut übernimmt, erſcheint hiernach als bloßer Uſufructuar. 
Das Eigenthum wird ſofort dem aͤlteſten Sohn, der der Ehe entſpringt, dem „tenant 
in tail“ oder wenn er obne Leibeserben oder vor erreichter Großjährigkeit ftirbt, dem 
zweiten oder dritten Sohn des Ufufructuars, oder wenn feine männlichen Nachfommen 
vorhanden find, der weiblichen Nachkommenſchaft zuerfannt. Iſt nun der altefte Sohn 
großjährig und der Vater geftorben, fo confolidiren ſich Nutznießung und Gigenthum 
in feiner Hand; er iſt freier Herr ‚geworden und kann frei über Das Gut gebieten, er 
fann der Macht der Verhältniffe Rechnung tragen. Drängen diefe nicht, fo wird ihn 
die Sitte, d. i. das Bamilien » Intereffe beſtimmen, das Gut bei jeiner DVerbeiratbung _ 
jofort wieder feinem Erftgeborenen zuzuerfennen, oder wenn er ohne Nachkommen flirbt, 
wird er die Erhaltung ded Gutes in der Familie aus demelben Motiven erftreben. 

Lebt aber der Bater bei der Großjährigkfeit des älteften Sohnes noch, fo 
wird ihn dieſer beflimmen, die Stiftung zu erneuern. Es ſteht übrigens auch Beiden 
frei fie aufzuheben. Auf diefe Weije gebt dad Gut in Verkehr, wenn höhere NRüds 
ſichten e8 gebieten; es bleibt in der Familie und vererbt ſich von Geſchlecht zu Ges 
fhledyt, wenn äußere Verhältniſſe nicht ein Anderes gebieten. Vater und Sohn Fönnen 
fi) über theihveife Veraͤußerungen verfländigen, wenn die Abtragung der Schulben es 





IV DZ I Ra GE — BE Le 8 ”w ee Er 
der Erneuerung der Familienftiftung ein Zeitpunkt eintritt, wo ein freied Walten mög- 
lich wird. Dieſes Syſtem, welches dem Großbeflg das einfeitige Uebergewicht allein 
zuweift, hat nur das Eine für fih, daß bei ihm mehr producirt wird, als bei dem 
Kleinbeflger, der ohne Gapital wirthſchaften muß; daß die Ertragsfähigfeit des Bodens 
auf dad Hoͤchſte gefteigert wird. Uber es drängt eine übergroße Mehrzahl der Land- 
baubevölferung in eine gedrückte Lage, es verfchließt ihnen alles Eigenthum, madıt 
ihnen eine menfchliche Erhebung unmöglich. Noch im Jahre 1786 fchägte man die 
Zahl der ſelbſtſtaͤndigen Grundbefiger in Großbritannien auf 250,000; darunter bil« 
deten die Eleinen Grundbeftger die Eleinfte Zahl. Eine naturgemäße Entwidelung bätte 
den Stand der Bauern, ald einer Wittelklaffe zwifchen Groß» und Kleinbefig zu für: 
dern, zu erhalten gefucht; aber die Macht ded Kapitals hatte hier nicht bloß auf 
dem Gebiete der Induftrie, fondern auch des Grunpbeflges nach der Oberberrfchaft ge 
rungen und fie auch erhalten. Der Grundbefiß ift zwar eine jelbfiftändige Macht neben 
der Inbuftrie, aber er ſelbſt ift bier Durch das Capital beherrfcht; je intenflver und 
rationeller die Bodencultur wird, um fo mehr bedarf fie des Capitals, der Grundbeilg 
beftebt und erhält fich dann nur durch dad Capital. Die Gefchichte bat durch das 
Capital daher den Stand der Fleinen Grundeigenthümer, der Wreifaffen „yeomen“, 
die ihr eigenes Feld bebauten und ein mäßiges Einkommen genoffen, untermwählt. 

Die Güter der Erſteren — yeomen — gingen an die Eapitaliften, den reichen 


4 *38*1159 | Bu 


- Mittelftand, die gentry, über, die der Letzten an bie Landlords. Beide Ereigniffe haben 


fomit den kleinen Gruͤndbeſttz zerftört, er ift in den Beſitz des hoben Adels ober bed 
großen Gapitalheren übergegangen. So hat denn die Bewegung der Gefchichte dahin 
geführt, daß England einen felbftftändigen Bauernftand mehr hat, das Latifundium ift 
zur übermächtigen Herrfchaft gelangt und aus den Bauern find Pächter (Barmer) oder 
Tagelöhner geworden. Der hohe Adel wie der apitalift, die fih in den Beſitz des 
Grund und Bodens getheilt, zerfchlagen die großen Güter in große, mittlere oder 
Fleine Bacht-Complere, und übergeben ihre Bewirthichaftung dem Farmer.  Zumeift findet 
die Zerfchlagung in Bachtgüter mittlerer Größe ftatt; die meiften Farms haben einen 


‚Umfang zwifchen 150 und 800 Acres (ein Acre zu‘ 1,58 preußifche Morgen). Da 


durch wird Der Untergang fo vieler freier Grundbeflger doch theilmeife gefühnt, weil 
der Untergang der freien Leute, wie in den gracchifehen Zeiten, nicht durch Sklaven 
wirthfchaft herbeigeführt wırde und eine mittlere Farm ihren Mann beffer näbrt, als 
der Fleine capitalarme Grundbeſttz. Doch ift der. leßte noch nicht ganz verdrängt. 
Nach einer Schäbung im Jahre 1831 waren fünf Siebentel der Agriculturbevölferung 
TZagelöhner, ein Siebentel felbftftändige, Arbeiter befchäftigende Gutsbeſttzer und ein 
Siebentel folche Landwirthe, die nur mit eigener Hand das Land bebauen. Fünf und 
zwanzig Procent der Bevölkerung gehören im Ganzen dem Aderbau, fünf und vierzig 
Procent dem Handel und der Manufactur, dreißig Procent den übrigen Gefellfchaftd: 
FHaffen an; die Landbevölferung mit Einſchluß der Grundbeftger, Pächter und Tage 
löbner (lahourer’s) umfaßt etwa 5Y, Millionen, fomit ein Drittheil der Gefammt- 
bevölferung, während zwei Drittheile der Stabtbevölferung angehören. In Preußen 


beträgt die ländliche Bevölkerung fünf und flebenzig Procent, die fläptifche fünf nnd 


zwanzig Procent; in England verforgt fomit ein Drittheil (Viertheil) zwei Drit- 
theile (drei Biertbeile) durch die Bodencultur; die überwiegend größere Zahl ge 


hört daher der Induſtrie an. Im Jahre 1841 theilten fich die männlichen 


Individuen in 1,207,989 Agriculturiften und 2,027,635 Induſtrielle. Die Boden 
fläche Englands felbft umfaßt 78,094,433 Acres Land, davon find vierundzwan- 


. zig Procent Ader- und Oartenland, ſechsunddreißig Procent Wiefen und Weiden, 


neunzehn Procent culturfähiges, noch nicht cultivirtes Rand, einundzwanzig Procent aber 
alfer Eultur unfähig. Die großen Grunpbeflter haben neun Zehntheile des Bodens 
inne, diejenigen, welche ‘die Gefammtzahl der Grundbefiger in England, Schottland 
und Irland auf 250,000 annehmen, heben zwei taufend unter ihnen als folche heraus, 


“die für fi allein ein Drittheil des Landes und der Einkünfte befäßen; 60,000 kom⸗ 


men von jener Anzahl auf England als Grundbeſitzer und neben ihnen zählen bie 


f 














vr. BIIBV AUNULEUD IYIE JZaAhltveittunſie MAD WEISE NOLUNU URN SOUUVE UNE e⸗s 
hufe der Einfommenfteuer an; unter ihnen batte der Herzog von Nortbumberland die 
höchfte, der Graf von Leiceſter die niederſte Einnahme. Die des Erſteren betrug 
125,000, die des Zweiten 52,000 Pfund Sterling. In Mitte beider ſtehen die jähr- 
lIihen Bodeneinfünfte von 115», 107-, I5=, 90=, 84=, 80=, 772, 76=, T4=, 70, 66«, 
65°, 58⸗tauſend Pfund Sterling. Die Gefanmtjahreörente diefes 19 Grundberren. ums 
faßte 1,634,000 Pfund Sterling aus Grund und Boden. Dies ift nur durch Die 
böchfte Bodencultur möglih. Denn auch der engliiche Pächter muß ein Gapital be= 
igen, auch er bat die beften Adermwerkzeuge und die vortrefflichften landwirthſchaftlichen 
Maſchinen. Das Capital giebt überall den Ausichlag, es verbrangt den ärmeren Paͤch⸗ 
ter durch Den reicheren, weil nur dieſer eine höhere Pachtrente entrichten und ſich in 
den Befiß beſſerer Adergeräthe ſetzen Tann. 

Das Kapital läßt nur den reichen Pächter aufflommen. Im Jahre 1841 jchäpte 
man die Zahl jämmtlicher in Großbritannien Ichenden Pächter auf 236,343, und 
darunter hatten 94,883 fo Eleine Pachtgüter, daß fie Feine Tagelöhner beftellen, fondern 
mit ihrer Familie ihre Dekonomie treiben mußten. Das Loos eines folchen Pächters 
ift oft ein rein precäres, namentlich in den Grafichaften, wo die Pachtverträge ſehr 
häufig nur auf ein Jahr abgefchloflen werden. \ 

Durch die Aufhebung der Korngefege find die Getreidepreiſe gefunfen, aber ber 
Pachtzind ift auf feiner alten Höhe geblieben. Beſonders wenn Pächter nicht im Bes 
fige des erforderlichen Kapitals find, um die nothwendigen Verbefferungen einzuführen, 
können fle einen günftigen Stand der Getreivepreife nicht abwarten. Sie müflen zu 
niedrigen Preifen verkaufen, bei wirtbfchaftlichen Unfällen Schulden machen und fie 
gehen dann zu Grunde. Ihr Einkommen ſteht hinter dem der übrigen gewerbetreis 
benden Klaſſen ſehr zurüd; bei allem Wirtbfchaftfleiß und aller Sparfamfeit erübrigen 
die engliſchen Pächter nichts mehr, als was fie abjolut bevürfen, um den Unterhalt 
ihrer Familie zu beftreiten und ihre Schuldzinfen zu entrichten. Denn der englifche 
Pächter Hat neben feinem Pachtgelde auch Armentaren und Zehnten zu entrichten und 
die Localtaren zu tragen. -Neben dem Barmer ftehen dann die Tagelöhner, deren Lage 
eine noch gedrüdtere iſt. Seitden die Gemeindetriften verfchwunden find, auf welche 
auch der Dürftige noch fein Vieh treiben Tonnte, kann man in feinem Kirchipiel im 
Haufe eined Landmanned die nährende Kuh mehr finden. 

Trüber noch geftalteten ji die Verhältniſſe in Irland. Hier ift in noch hö⸗ 
berem Maße dad Grundeigenthum das Erbtheil weniger vornehmen Bamilien. Unter 
Cromwell wurden den alten Grundherren ihre Beflgungen entriffen und an proteftanti- 

»ſche Engländer vertheilt. Diefe befigen große Laͤndermaſſen, die fle an einen General- 
;, Pächter verpachten, der fie parcellirt und an einzelne Unterpächter ablaßt, von denen 
jeder feinen Afterpächter wieder hat, welcher der Bewirthichafter des Bodens ifl. Es ift 
far, daß der, welcher hier der unterfte ift, der Afterpächter, kaum fo viel aus Grund 
. und Boden erzielt, daß er die nothdürftigſte Subſiſtenz fih erwirbt. Nur 1, der 
geſammten Aderbaubevölferung find ſelbſtſtaͤndige Gutsbeſitzer, welche Arbeiter befchäf- 
tigen, 12/,, gehören fomit zu den bloßen Landbautagelöhnern oder Landwirthen, die 
nicht einmal Arbeiter befchäftigen fönnen. Das Grundeigenthum, von deſſen Erwer- 
bung die Katholiken ausgefchloffen waren, ift untheilbar, die Pacht ind Unendliche 
parcellirt, faft in Splittern bewirthichaftet. Unter 685,309 Pächtern bewirtbfchaften 
nur 48,312 mehr als 30 Acres. Dadurch aber ift das irifche Elend erflärlih. Kar- 
toffeln find fait ihre einzige Nahrung, Brod haben fie felten, Fleiſch faft gar nicht. 
Sie find in Lumpen gekleidet, wohnen in Strobhütten, fchlafen auf verfaultem Stroh, 
auf dem der Humger und nadte Kinder mit. ihnen das Lager theilen. Das ift das 
iriſche Elend, yon dem Sismondi fagt, „Daß es durch den Diebftahl und Raub der 
; Reichen gegen die Armen herbeigeführt worden jei.“ 
\ In Sranfreich berrfchte. bis zur Mevolution von 1789 ver f. g. Feudalzu- 
‚ fand in feiner ungemilvertften Form. Ein fehr großer Theil der Tändlichen Bevölfe- 
\ tung befand ſich in LXeibeigenichaft; der andere war dur Frohnden, Nealabgaben, 
Baufrohndienſte (corvces) 30. in die drüdendfte Lage verfeßt. Da Eanı die flürmifche 
Wagener, Staats m. Gefellfcy.-Lexr. I. _ - 33 





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März, 18.—29. Dechr. 1790, durch Die namentlich die Lehns⸗-, Guts- und Gerichtd- 
herrlichkeit, Die Unfreiheit, Hörigkeit, Leibeigenfchaft und perfönliche Dienftbarfeit mit 
den daraus abgeleiteten Befugniffen Des Todfalles und Befthauptes, das gutöherr- 
liche Befteuerungsrecht, fo wie die Zehnten aufgehoben wurden und zwar ımentgeltlic, 
fofern fie rein feudalen Urfprungs (resultant du regime feodal) und richt durch Ab— 
tretung von Grund und Boden entftanden („le prix et la condition d'une concession 
primilive de fonds“) waren. Alle anderen Raften und Abgaben, insbeſondere die Real 
laſten, wurden für ablösbar (rachetables) erklärt. Uebrigens ſtellte man geſetzliche Ver⸗ 
muthungen dafür auf, daß eine Abgabe oder Laſt durch concession primitive de fonds 
entfianden fei oder nicht. Noch weiter als die assemblée nalionale ging die assernblee 
lögislative, welche Durch Decret vom 25.— 28. Aug. 1792 die bisher nur ablößharen Laften 
und Abgaben für unentgeltlich aufgehoben („abolis sans indemnite*) erflärte, fofern 
nicht ihre Entflehung durch „Concession primitive de fonds* im Infeodationdtitel 
(„dans l'acte primordial d’inf&odation“) deutlich ausgefprochen war („se trounera clai- 
rement enonce*). Der Convent endlich bob durch Decret vom 17., 18. Auguft 179 
alle f. g. Feudalrecht ohne Ausnahme unentgeltlich auf. („Toutes redevances 
oi-devant seigneuriales, droits f&odals, censuels, fixes et casuels, m&me ceux 
conserves par le decret du ‚25. aoüt dernier, sont supprimes sans in- 
demnite.* Urt. 1.) Alle Inhaber von Urfunden, woburd die aufgehobenen Rechte 
begründet oder verbrieft waren, mußten diefe Lirfunden ‚binnen drei Monaten zur Ber: 
meidung einer Strafe von 5 Jahren Eifen an die Gemeindes Behörden behufs der 
Verbrennung abliefern. (Art. 6—8.) — 

So ſchritt Frankreichs agrariſche Revolution bis zum Aeußerſten fort, 
aber ſie hat einen Zuſtand erzeugt, der eben ſo hülflos als unerträglich iſt. Grund und 
Boden werden immer mehr zerftüdelt, immer creditloſer, immer verwahrloſter, und die laͤnd⸗ 
liche Bevölkerung nimmt ab, die früheren Aderbauer ziehen als Arbeiter in die Städte 
und vergrößern ein ſchon an fich bedenklich großes Proletariat. In den Ießten Jabren 
der Theuerung litt vorzugämweife die ländliche Bevölkerung in Frankreich, während man 
in derfelben Zeit in Deutfchland im Allgemeinen fagen Eonnte, daß die Städte ge 
drüdt feien und das Land gewinne. Diefer Nothſtand ift in Frankreich bereits fo 
Dringend geworben, daß er anfängt, die Aufmerkfamfeit der Staatdmänner aufs Em: 
ftefte auf fich zu ziehen, ja er beunruhigt jelbft die Männer der Börfe ein wenig. 
Er hat eine Menge Rathſchlaͤge zur Abhülfe hervorgerufen; aber ehe man ben Grund: 
fhaden, die immer noch fortichreitende Parcellirung des Bodens, nicht anzugreifen 
wagt, fo lange jener Artikel S26 des Code in Kraft bleibt, der jedem Erben erlaußt, 
fein Erbtheil in natura zu empfangen, werden alle aufgewandten Mittel höchſtens nur 
momentan belfen und alle Phraſen pikanter Leit» Artikel oder fentimentaler Brofehiren | 
nicht8 gegen die fchreiende Macht der Thatfachen auszurichten vermögen. 

Daß der Alerbau in Franfreich ) (obgleich nach den Zeiten des eiſten 
Napoleon ein langſamer Fortſchritt ſich zeigt, der mit ber langſamen Zunahme br? 
Volkes etwa fich ausgleicht) mit dem anderer Ränder keineswegs, am mwenigften mit.dem 
Englands und Deutfchlands, gleichen Schritt gehalten hat, fondern im entfchiebenen 
Rückſtande geblieben ift, ja daß diefer Nüdftand in dem gegenwärtigen Jahrzehend ſich 
zum Rückſchritt geftaltet hat, ergiebt fich aus den officiellen Zahlen, die in dem comle 
moral et financier de la caisse de service de la boulangerie (publicirt im Januat 
1857 von der Präfectur der Seine) binfichtlich der Ein» und Ausfuhr fich aufgeflellt 
finden. In den vierzig Jahren von 1816—1855 bat Franfreih an Weizen 

eingeführt 97,275,918 Hectolitres 

. u . ausgeführt 25,203,399 „ 

alfo mehr eingeführt als ausgeführt 32,072,519 Hectolitres, J 











) Wir halten uns im Folgenden an die treffliche Arbeit Raudots, welche ver „Corre⸗ 
ipondent”, eine Pariſer Monatsichrift, in feinen Nummern vom. 25. Mai und 25. Juni 1857 ver: 
öffentlicht Hat. 


N 
R * 





nd oh nz * * *7 


—— und für die Einfuhr verausgabt 1,216,613,232 Fres. 


=. „ " u Ausfuhr eingenommen 276,789,137 „ 
* alſo mehr verausgabt als einge⸗ 


nommen... 989,824,095 Fres. 


In dieſer Rechnung ſind nicht mit einbegriffen die anderen Getreideſorten, Roggen, 
Mais, Gerfte, Hafer, deren Einfuhr z. B. im Jahre 1855 die Ausfuhr um 427,000 
Dectolitred überftieg, die einem Preiſe von 6,385,000 Frs. entfprachen. Man darf 
Dabei nicht glauben, daß der Bauer vermöge ſeines Gapitald in den Zeiten der Miß⸗ 
ernte von den Producten der Nachbarländer gezehrt babe. Man kann feſt verfichert 
fein, Vaß, fo wenig fih auf den Pariſer Tafeln unfer Schwarzbrob zeigt, eben fo wenig 
in Den meiflen Gegenden Frankreichs bei dem Fleinen Grunbbefiger das beliebte und 
ſchöne franzöfifhe Weizenbrod auf den Tiſch kommt, man ißt Roggen⸗, Gerften-, ja 
Bucdhweizenbrod von der gröbften Art und jchwärzeften Farbe. Dabei fchnallt man in 
Der Theuerung den Schmachttiemen feſter, wie der kleine Mann mit Bitterfeit fagt. 
Hätte man Brod nad Luft und gut gegeflen, fo würde die Einfuhr vielleicht das 
Doppelte beitragen baben. 
Diejelbe Erfcheinung, daß der Import den Export überfleigt, zeigt fih auch beim 
ich. Seit 1853 ift der Eingangszoll auf fremves Vieh faft auf ein Minimum redus 
cirt; feitdem haben fi) die Summen, die für Ankauf deflelden aus dem Lande gingen, 
ſtets vermehrt. In den legten fünf Jahren vor 1853 Hatte man (Pferde "abgerechnet) 
für 5,300,000 Fres. eingeführt; dieſe Summe flieg 1853 auf 16 Mill., 1854 auf 
„39 Mill, 1855 auf 75 Mill., und wenn fie 1856 fich wieder etwas vermindert hat, 
ſo liegt e8 daran, daß, die Höhe der Preife in Frankreich fich mit denen der Nachbar- 
. länder ausgeglichen bat. Hierbei .ift wieder zu bemerken, daß die Einführung des 
Bleifhed am menigften der Kandbevölferung zu ftatten fommt; ed wandert den Städten 
y; zu, wo der Arbeiter im Ganzen beſſer und kraͤftiger lebt, als der Bauer auf dem 
vande. Das bekannte une poule au pot Heinrichs IV. wird, gegenüber dem faſt 
— feuerloſen Heerde manches Landmannes, zur bitteren Ironie. Die Maires mögen 
immerhin bei jährlichen Berichterſtattungen über den Reichthum und Conſum ihrer 
nn Dörfer einen prächtigen Küchenzettel von Tauben, Hühnern und Truthähnen, die in 
-— , ihrer Gemeinde verzehrt find, auffegen —, ſie wiſſen, was von oben beliebt wird, was 
, man fehen will und was nicht. 
„ Die Regifter der Douane ergeben ferner, daß Frankreich beim Auslande Fauft: 
Te für 5—6 Mill. Fred. Seife, Talg, Horn ıc., für 8—-I Mill. Fred. Pferde, für 24—25 
ea? Mill. Fres. Olivenöl, für 30—40 Mill. Fred. Thierhäute, für 40—50 Mill. Fres. 
na” geinwand, für 4050 Mill. Fres Holz, für 80-140 Mill. Fres. Seide. In Summa: 
Frankreich kauft beim Auslande jährlih für ungefähr 300 Mill. Fres. Agricultur⸗ 
Producte, die auch auf feinem Boden gedeihen. Dabei zählen nur die Douane⸗Regiſter, 
de die Gontrebande Fommt nicht in Anfchlag. Freilich find Ddiefe Importe zum Theil 
, Robproducte, die die Franzöſiſche Manufactur verarbeitet und fie fo zum Theil wieder 
ni ® ausführt. Uber dieſe Thatfachen bemeifen zunächft doch ein Vorwiegen der Manufactur 
fe über die Agricultur, fonft würde ber gefegnete Boden Frankreichs felbft dieſe Rohpro⸗ 


7, ducte, menigftens ihrem größten Theile nach, erzeugen. 
2 Stände diefe Zunahme fremder Einfuhr im Verhältniß mit einer gleihen Zus 


"= nahme der Bevölkerung, fo wäre dieſe Erſcheinung freilich für die Eigenliebe Frank⸗ 
reichs immer noch nicht fehr fehmeichelhaft — denn fie bewiefe, daß der Aderbau Feine 
"gleichen Bortfchritte mit der Bevölkerung gemacht babe —, aber fle wäre Doch weniger 
* troſtlos. Nun aber ſteht nach den officiellen Angaben feſt, daß in Frankreich die Zu⸗ 
nahme der Bevölkerung überhaupt eine geringe geblieben, und daß, was die laͤndliche 
Bevdlferung betrifft, in letzterer Zeit ſogar eine Abnahme ſtattgefunden hat.!), Am 
Schluß der großen napoleonifchen Kriege, 1816, flanden etwa Deutfchland und Frank⸗ 


N) Bon 1851 bis Enbe 1866 hat fid die Ginwohnerzahl in 53 Departements, bie wejent: 

„seh lich auf den Aderbau angewiefen find, um mehr als 430,000 Ginwohner vermindert, in einem eine 

ge igen Departement (Haut: Sadne) allein um 53,000 Seelen. Dagegen wädft die Seelengahl der 
größeren Städte in ſtarken Proportionen. 


33 * 





u ed | Ad Ad Zn 2 2 2 200 02,25 2 zu 220 wynNYyr nu EX HEN. D’YWavil, a And yrqg> ια— — 


Frankreich kaum 36 Mill. erreichte. In Frankreich beträgt alſo die Steigerung der Bevöl- 
ferung feit 1816 20 p&t., während fte in Rußland und Defterreich 34, in England 41 und 
in Preußen 70 pCt. beträgt. Selbft Fleineren und politifch unbedeutenderen Staaten, wie 
der Schweiz, Neapel und felbft dem Kirchenflaate, fteht Frankreich in der Zunahme der 
Bevölkerung nad. J[Genaueres Darüber fiehbe unter Frankreich (Bevölferung)]. 
Darin alfo Tann nicht der Grund für den gefteigerten Import liegen. Worin abe 
dann? — Man hat in den Jahren der Teuerung fich in Sranfreich, wig bei ung, oft 
wohl bemüht, Gründe für diefelbe aufzufinden. Laien wollten fie theild aus der Weg: 
nahme des Bodens durch die vielen neuen Straßen, Eifenbahnen und Canäle, theilt 
aus der Anpflanzung der Aunfelrübe, Rübeſaat u. ſ. w. erflären, durch die dem Kom 
der ihm zufommende Boden entzogen würde. Dagegen läßt ſich mit Recht fagen, daf 
die erleichterte Communication ftetS Den Aderbau fördern muß; daß der Anbau der 
Runkelrübe nicht bloß Zuder giebt, fondern zugleich eine treffliche Maſtung für das 
Vieh; daß überhaupt Die Größe ded bebauten Aderftüded und die Größe der Ausſaat 
nicht der einzige, ja nicht einmal der bedeutendfte Mafftab ift, nach dem ſich die Er— 
giebigfeit der Ernten beflimmt. Man Eann ferner nicht geltend machen, um den großen 
Fortſchritt anderer Länder vor Frankreich zu erklären, daß in jenen noch bebeutente 
Streden Landes urbar gemacht wären, was in Frankreich Tängft nnmöglich fei; es Tann 
diefe Behauptung höchſtens von Rußland und Defterreich gelten, auf Deutfchland unt 
namentlich auf England, wo der Fortſchritt am deutlichften Hervortritt, leidet ſie Feine 
Anwendung, und außerdem bat Branfreich felbft noch große Strecken ganz verwahrloften 
Bodens; wir erinnern 3. B. an die Sologne. Am wenigften aber darf man fagen, 
daß der Aderbau in Frankreich ſchon eine Höhe erftiegen habe, auf dem eine weitere 
Entwidelung unmöglich fei: gerade die Provinzen, die die beflbebauten find — es fint 
dies die nörblicheren, Elfaß, Flandern, Normandie, Isle de Brance, in denen der alt« 
Grundftod der Bevölkerung vorwiegend altdeutichen Urſprungs if, — find Die einzigen, 
in denen ſich noch am meiflen vom Kortfchritt reden laͤßt und die einen auffallenden 
Gegenfag zu den von der Natur doch fo reich begabten fühlichen Provinzen bilden. 
Wir werden alfo nicht irren, wenn wir den Grund des Uebels tiefer fuchen 
und ihn, wie fehon angedeutet, in der noch ſtets fortfchreitenden Barcellirung be: 
Bodens erfennen. Der Katafter, der 1854 von der Regierung veröffentlicht wurde 
weift in Frankreich 126 Mill. Parcellen nach. Parcelle beißt in Frankreich jeder Bo: 
dentheil, der in der Hand eined befondern Beſitzers iſt oder bejonderd bebaut wird 
Der Begriff der Parcelle ift alfo ein ziemlich weiter; fie Tann bald größer, bald” Fleine: 
fein, und es verſteht jih, daß Ein Beſitzer mehrere Barcellen haben kann; Parcell 
z. 2. ift auch in einer Stadt jeder Platz, der von einem Kaufe beitanden iſt, aud 
wenn fein Zubehör von Garten oder Ader noch binzufommt. Da jener Katafter ſeb 
langſam entftand (man bat von 1808 bi8 1847 daran gearbeitet) und unterdeflen vi 
Zahl der Parcellen nachweisbar geftiegen iſt, ſo erreicht diefe Zahl noch nicht die wirk 
liche Höhe, man kann fle heute auf 141 Mill. berechnen. Diefe Parcellen waren i 
dem mittleren jener Jahre (1808—1847), alfo 1827, in den Händen von 11 Rillione 
fteuernder @igenthümer, die als folche ihre Steuerrollen hatten (cotes foncieres' 
Aber jchon 1842 belief fich die Zahl diefer cotes foncieres auf 11%, Millionen, aı 
1. December 1854 überjchritt fle bereit8 13 Millionen. Zu den cotes foncicres zähle 
nun freilich auch die Gebäudebeflger, und ein Theil des Zumachfes derſelben komm 
alfo auf Rechnung von Neubauten, Aber fte bilden doch nur den geringeren Theil. 
Nach Cafabianca’8 Bericht an den Senat hatten von 1850—54 die cotes for 
cieres um 428,372 gugenommen; darunter waren 164,479 durch Neubauten, die übr 
gen 263,893 aber durch Theilung von Grundbeſitz entftanden: alfo über %, der Zı 
nahme kommt auf den Landbeſitz. Hechnet man die Parcellen ab, die von Gebäude 
eingenommen werden und deren etwa 16 Mill. find, fo bleiben, Diefe von der Gefanm 
zahl (jenen 141 Mill.) abgezogen, 125 Mill. Nun enthält dad ganze Frankrei« 
49,255,000 Seftaren !) an laͤndlichem Beflß, den von Gebäuden beftandenen Rau ı 
Bektare = 100 Aren. Der Heltare beträgt 3,u10o Preuß. Morgen. 


X 





lich das Kapital, das ſich je länger je mehr dem Landbau entzieht, den Ruin einer 
Menge Eleiner Befiger berbeiführt, um den großen finanziellen und induftriellen Unter: 
nehmungen zuzuftrömen. Der Reichtum hat fich nicht vergrößert, er ift nur aus einem 
Lager in das andere binübergemandert. Diefer berrfchenden Strömung folgt in Franl: 
reich Alles, Kapital und Menfchen; an die große Speculation hängt ſich die Fleine, 
der Eine Wirbel hat Alle erfaßt. Man will gewinnen und gewinnen, um zu genichen. 
Und welche Schäge und welcher Genuß laͤßt fich gewingen auf fo Fümmerlichen- und 
ärnlichen Grundftüden, wie fle in drei Vierteln der belle France fi finden? 

Dieſem allgemeinen Zuge der Zeit, der dem Lande nicht nur Die Fräftigften Arm, 
jondern auch die fähigften Köpfe entzieht, gefellt fich ein anderer, der in Frankreich 
fhon lange heimiſch iſt. Frankreich ift ein Beamtenftaat, und es galt feit lange, un) 
wo der finanzielle Schwindel nicht die Mugen biendet, gilt es auch wohl heute noch 
für ein Einlaufen in den Hafen der Ruhe und des Glücks, wenn man eine Anftellung 
erjagt. Auch dieſes Streben trägt dad Seinige dazu bei, den Aderbau in feiner Achtung 
und in feinem Werth berabzudrüden. u 

Wenn der Aderbau auf der einen Seite finkt, fo haben dagegen die Abgaben 
auf ländlihen Befit den hödftmöglichften Grab erreicht. Außer den laufenden 
Abgaben kommen bier noch die ſchon erwähnten droits, die Abgaben, Die dem Staat 
“beim Uebergeben vom unbeweglichen Gut aus einer Hand in Die andere zufließen, in Be 
tracht. Diefe Abgaben treten fchon bei Schenkungen und Erbfchaften ein, wo ſie je nad 
Nähe oder Kerne der Verwandtfchaft zwifchen 25 Cent. und 10 Fre. 80 Eent. für je 
hundert Francs wechſeln. Iſt das Gut verfchuldet, fo laſtet dieſe Abgabe, die nady dem 
‚ vollen Werth deſſelben beftimmt wird; jchwer genug. Beim Kauf betragen bie dreils 
wie gefagt, 6 Fre. 60 ent. auf je 100 Francs. Auch in diefer Hinficht bat dad 
bewegliche Kapital, das ohne irgend eine Belaftung den Eigenthümer wechſelt, einen 
Vorzug vor dem Grundeigenthum. Bedenkt man ferne, daß die ungünftigen Chancen, 
die das laͤndliche Grundſtück treffen Fünnen — Yeuersbrunft, Hagelſchlag, Ueberſchwen⸗ 
mung, Mißernte, Viebfterben u. j. w. — kaum geringer find als Die, welche dad. br 
wegliche Kapital bedrohen; bedenkt man endlich die Möglichkeit eines lang andauernden 
Krieges, den fchließlich Doch der Grund und Boden, welcher weder ausweichen noch 
revoltiren Fann, zu ernäbren bat: fo hat man Urſache genug, den Landbeflger nicht zu 
beneiden. Und in der That, der befigende und genießende Kapitalift in Frankreich de 
trachtet oft genug den Bauern als eine Art Sclaven, den Mangel an geiftiger Befähi- 
gung zu mühfamen, fruchtlofen Arbeiten verdammt; denn ein Mann von Kopf ge! 
glänzenderen Ausfichten nach. | 

Der kleine Capitalift in den Mittelftädten, der noch vor etwa 20 Jahren fen 
Erſpartes und Erworbenes in ländlicher Hypothek anlegte, fängt an ähnlich zu denken; 
er wirft das Seine in die Speculation, ober, ift er vorfichtig, wenigftend in die Spar 
fafien, die vom Staate garantirt und in einem Mittelpunfte concentrirt, beflere Zinjen 
geben, deren Gelder aber ganz anderen Unternehmungen zufließen, als dem Aderbau. 
Was Wunder, wenn diefer zerfällt! - 

Sp ſtrömen alfo die materiellen wie die intellectuellen Kräfte des Landes ben 
-Städten zu, namentlih nach Paris. Bemüht fich der Staat, das ſchwankende Gleid- 
gewicht auszugleihen? Es gab in Pranfreih im Jahre 1853 22 Departemenid, 
auf deren Verwaltung der Staat mehr verwandte, als fle ihm einbrachten. Es fin 
dies theils Die Gebirgd-Departements, theild Grenz» Departements, und die Mehraud 
gaben des Staates Iaffen fi aus der Armuth der Gegend, der Bodenbeſchaffen— 
heit, welche Anlegung von Straßen, Canälen ıc verlangt, theild aus der Nothwendig: 
feit des Grenzſchutzes erflären. 

Sp geht der franzöftfche Aderbau feinem Ruine entgegen. Schon ſind laͤndliche 
Subhaftationen vorgekommen, bei denen jeder Käufer fehlte, und der Betrieb des Ader: 
baued wird in einem Lande, wo ed vielen Bauern fogar an einem eigenen Pfluge 
fehlt und fle denfelben erft zur Beftellung ihres Ackers entleihen müffen, immer aͤrm⸗ 
licher und Eleinliher. Das find die Folgen agrarifcher Revolutionen, 











der ſüdlichen Hälfte Italiens”, fagt Roßbach a. a. O., „namentlih in Sicilien und 
Sardinien finden wir nod) die Vorherrſchaft mittelalterlicher Buftänbe. Der Adel, der 
in Städten wohnt, bat die ausgedehnteften Güter, während im größten Theile 
von Ober⸗ und Mittel-Jtalien der Bauer, von den gutöherrlichen Laſten befreit, ein 
felbfiftändiger Grundbeflger geworden if. Aber man ift auch bier alsbald wieder im 
das andere Extrem verfallen. Uebervölferung, Ueberfchuldung, allzu große Güter- 
zerftüdfelung haben dem Kleinbejiger die Concurrenz mit dem Großbeflger unmöglich 
gemacht. Das Capital hat ganze Dörfer audgefauft; kaum daß der verarmte Bauer 
auf väterlichen Gute noch feine Exiſtenz als Zeitpächter oder Tagelühner retten Eonnte. 
Da das römifche Recht bier allein zur Geltung Fam, fo Eonnte bei der gleichen Erb- 
teilung aller Kinder ein Familienbeſitz ſich kaum bilden, ver gefchloffen ſich im Erb- 
gange erhalten hätte. Der größte Theil der Landbaubevölkerung enthält Zeitpächter 
gegen eine Geldrente oder noch mehr Halbpächter, welche die Hälfte des Rohertrages 
an den Gutsherrn abgeben müflen. Der Adel fchämt fich der Agricultur und lebt in 
den Städten. Hier bat fich, ganz dem Geifte des römifchen Rechts gemäß, die ganze 
Macht flaatlichen Lebens auf die Städte, dad Bürgerthum, bingezogen, und fo kommt 
ed, daß, „wer das Land befigt, es nicht bebaut, wer ed bebaut, dafjelbe nicht befigt". 
Drei Viertheile des Bodens gehören den Städten. Kleine Grundeigenthümer haben 
fh zumeift nur noch in Unter-Italien erhalten. Darum fpricht Niebuhr über Italien 
das harte Urtheil: „In den Städten Pfufcher und Krämer, auf dem Lande zeitpadh- 
tendes und tagelühnernded Lumpengeſindel.“ 

Hier kann es und wieder klar werden, daß das römifche Necht, ausſchließlich 
allein auf. dem agrarifchen Gebiete zur Herrichaft gefommen, einen freien Bauernftand 
gar nicht auffonmen oder auf die Dauer befteben läßt, daher auch eine Regeneration 
Italiens auf dieſem Gebiete nur durch den Uebergang der Zeit- und Halbpacht in 
Erbpacht, nur durch die Oründung des bäuerlichen Erbrecht auf anderen Grundlagen, 
ald den des römiſchen Rechts, möglich if. Auf feinen Orundlagen erlag Alt-Italien 
den Kolgen der agrarijchen Revolution, auf diefen geht auch jetzt dad herrliche Italien 
der VeröDung entgegen. 

Agundo. Die Aguado follen urfprünglich portugiefliche Iuden fein, Doch waren 
Ve ſchon feit drei Jahrhunderten in Spanien Ghriften; ob Juan Aguado, den die ka⸗ 
tholifche Ifabella nach Hispaniola fchidte, um die Befchwerden zu unterfuchen, die gegen 
Columbus angebracht worden waren, zu der gegenwärtig noch blühenden Familie 
Aguado gehörte, ift zweifelhaft, obwohl +8 behauptet wird. Alerander Maria 
Aguado, der in neuefter Zeit feine Familie zur Anfehen brachte, war 1784 zu Se 
villa geboren und frühzeitig ald Cadet bei dem Regimente Jaen eingetreten; fein Avance⸗ 
ment war glänzend, er war fchon 1808-Stab8offizier; vielleicht war fein fchnelles 
Steigen die Folge der großen Gewandtheit, mit der er ſich an den Treiben der poli- 
tiihen Parteien feiner Zeit betheiligte. U. gehörte zu den Häuptern der franzöflich 
gefinnten Partei (Afrancefados, Joſephinos). 1809 wurde er Obrift eined Gavallerie- 
Regimentd und Soult's Adjutant; nach dem Tage von Baylen trat er in franzöftfche 
Dienfte. Im Jahre 1815 nahm er den Abfchied und errichtete zu Paris ein eigened Handels⸗ 
„haus, Das große Summen durch den Commiffionshandel mit den Colonien verdiente. 
Seine eigenen Mittel und fein perfönlicher Credit fegten ihn in Stand, nach einander 
für Spanien die Staatdanleihen von’1823, 1828, 1830 und 1831 zufammen zu 
bringen. Ulle viefe Papiere heißen nach ihm Nyuabos, und lange Zeit vermochte 
er es, fie in Cours zu halten. Einige vermutben, es feien immer neue Aguados gemacht 
worden, um die Zinfen der alten zu bezahlen. Die zerrütteten Verhältniſſe Spaniens 
haben endlich Die Aguados in hohem Grave Discrebitirt. Aguado ſelbſt hatte bei 
dieſen Anleihen ein ungeheures Vermögen gewonnen, er wurde 1828 in Frankreich 
naturaliſirt und führte ein glänzendes Haus zu Paris. Ferdinand VII. erhob, ihn zur 
Grandezza mit dem Titel eines Marquis de lad Marismas del Guadalquivir. Später 
erwarb Aguado unter andern die berühmten Weingelände von Chateau Margaur an 
der Garonne, 1834 erhielt er den griechifchen Erlöferorven für feine Bemühungen 





nungen, die fein DBater in feiner Jugend wenigftend hegte, zurückgekehrt zu ſein ſcheint. 
Seine Gemahlin, die Marquiſe de las Marismas, iſt eine der Palaſtdamen der gegen⸗ 
waͤrtigen Kaiſerin der Franzoſen. 

Aegypten. (Geographie) Der Name Aegypten iſt feit Homer's Zeiten (welcher 
dieſen Namen ſchon für das Land und den Fluß gebraucht) unter den civilifirten 
Nationen für das Land am Nil von der Stadt Afiuan (im Alterthum Syene) md 
den NilsInfeln Phil und Elephantine, dicht oberhalb und unterhalb diefer Stadt, an 
bis zur Spitze des Delta der gebräuchliche geblieben. Der Name fcheint aber nidt 
griechiſchen Urfprungs zu fein, fondern auf die alte Form des Namens der Kopten — 
Gypti, Kypti — womit ſich diefe noch da Lebenden Ureinwohner des Landes felbk 
nannten, zurüdgeführt werden zu müſſen. Der biblifhe Name des Landes Mizraim, 
im Singular Mazor, ift noch der arabifche Name im Munde der Cingebornen, nur in 
„Miſa und Mahr verkürzt. Mizraim ift befanntlih auf der Völkertafel ein Sohn 
Chams, und auch diefer Name feheint in dem Munde der Kopten, wie vor Alters bei 
ihren DBätern, unter dem Worte Chami, womit fle felbft ihr Land benennen, fortu: 
‚leben. Die Ableitung des Worted Chemi von Käme, welches auf ägpptifch ſchwarz 
bedeutet, womit dann der dunkele Nilfchlammboden bezeichnet wäre, fcheint jedoch bei 
den Forſchern die beliebtere zu ſein. Die aͤlteſte Geſchichte Aegyptens, feine Kunft: 
werke, ſo wie die mittelalterliche und neuere Geſchichte dieſes Landes möge man bei den 
betreffenden Artikeln nachſehen. 

(GPhyſikaliſche Verhaältniſſe des Bodend.) Aegyypten erſtreckt ſich zu 
beiden Seiten des Nils vom 240 bis 310 30° N. Breite und vom 460 bis 52° 
30° dfll. Länge. Sein Zlächeninhalt Fan, weil nur die Norb- und Oftgrenze eigent 
lich beftimmt find (indem nörblih das mittelländifche Meer, öftlich die Landenge 
Suez und das rothe Meer die feſten von der Natur gebildeten Grenzen find), die 
Süd- und befonderd Weftgrenze aber in die vegetationd- und berrenlofe Wüſte hin 
einreichen, nicht genau beftimnmt werden. Die Angaben ſchwanken daher zwifchen un 
gefähr 6000, 7000 und 8000 Quadratmeilen. Obwohl nun fo der Flächenindalt 
Aegyptens mehr als 3, des heutigen Frankreichs ausmacht und viel größer erſcheint 
als Großbritannien ober Preußen, fo ift doch nur dad Nilthal und das Delta culti⸗ 
virbared Land. Alles übrige ift Wüſte. Diefes cultivirbare Land aber bildet nad 
neueren Berechnungen einen Flächeninhalt von nur 600 Q.⸗Meilen. Aber auch dieſe, 
faum den zehnten bis dreizehnten Theil des Ganzen bildende, überhaupt cultivirbare 
Flaͤche ift bi8 vor wenigen Jahren nur etwas über die Hälfte (342 Q.⸗M.) angebaut 
gewefen. Es liegen alfo noch fehr große Streden in dem im Altertbum unglaublid 
bevölferten Niltbale brach. Im Laufe der Jahrhunderte hat auch bier, wie in anbem 
Ländern des Orients, befonderd in Palaͤſtina und dem untern Stufenlande des Euphrat 
und Tigrid, der um fich greifende Wüftenfand große Streden ehemaligen Culturlandes 
überfchüttet und zur Wüfte gemacht. Beſonders hat die Wüfte zu beiden Seiten dee 
Delta um fich gegriffen. Da, wo früher Eulturboden und eine Reihe blühender Städte 
lag (fchreibt ein neuerer ägpptifcher Reifender und Alterthumdforfcher, Brugſch), wie 
auf der ganzen öftlichen Seite des Delta, ftarren heutzutage wafferlofe Wüften, Krank 
beit erzeugende Moräfte, in Trümmer und Schutt liegende Städte dem Auge entgegen. 
Nur der Araber der Wüſte durchftreift dieſe Streden. Ein anderer 12 Jahre lang 
in Aegypten lebender Naturforfcher und Arzt (Pruner) fagt: Aegypten hat nur an 
Salzfeen und Sanddünen (d. 5. Wüftenfüune), nicht aber an Culturboden gewonnen. 

Aegypten nun ift, wie ein neuerer Geograph fagt, mit Ausnahme einiger ver 
bältnigmäßig Fleiner Eulturftellen am Rande der libyſchen Wüfte, eigentlich nur eine 
einzige durch dad Nilthal repräfentirte Dafe in einer unermeßlichen Wüfte. Nachdem 
der Nil in der zehnten und lebten Katarafte den großen Oranitgürtel zwifchen der 
Infel Phila und Aſſuan durchbrauſt hat, tritt er Anfangs in einer Breite von 9000 
Fuß in. Aegypten ein und durchftrömt das Land in gleichmäßig ruhigem, die Schiff 
fahrt nirgends binderndem Laufe. Zwei lange Gebirgsketten begleiten ‚feine Ufer in 
ununterbrochener Folge und bilden die ſchützenden Wähle gegen den einbringenden | 











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ab, die weſtliche, die libyſche, ſteigt ſanft auf und vereinigt ſich mit dem großen 
Wüftenplateau der Sahara. Bon Aſſuan bis Geneh (gegenüber dem alten Dendera 
Tentyris) ift e8 ein Sanpfteinplateau, welches den Fluß begleitet, und dad zumeilen 
fo nahe an die Ufer des Nils tritt, daß derſelbe wie sifihen zwei Wänden ſich hin- 
durchdrängt. Bei Geneh mündet ein waflerlofes Querthal von Hamamät aus in daß 
Nilthal. Durch diefes ging ehemals die große Sandelöftraße von Tentyrid und Koptos 
nad Leukos portos am rothen Meere, und noch heutzutage pflegen die Karavanen und 
Pilger dieſe Straße. zu ziehen. Bon Geneh an tritt Die Kalkfteinregion ein, welche 
dad Ufer des Stromes bis Cairo begleitet, dad am Fuße des nörblichften Berges 
der arabifchen Kette, des Gebel- Mogattanı (500° Hoch) gelegen if. Hier wendet ſich 
diefelbe faſt rechtwinkelig oflwärtd nad dem rothen Meere bin und bildet das Thal 
der Berwirrung (Wadi⸗e⸗Tih), durch dad einft die Ifraeliten nach dem Schilfmeere 
zogen. Auf dieſem das Wadi⸗e⸗Tih begleitenden Gebirge finden fi an zwei Stellen 
verfteinerte Palmen, Mimofen und bambusartige Stämme, und auf dem höchſten 
Punkte eine Mufchelbanf. Die Tibyjche Kette auf dem linken Ufer wendet fi von 
der Breite von Cairo nordweftlich nach der Küfte des mittelländifchen Meeres zu und 
bildet fo mit der arabifchen Kette einen Winfel von 140°, in welchem das Delta liegt. 
Mit dieſer nörblichften Richtung der libyfchen Kette parallel Taufen zwei Querthäler, 
"von Denen Daß innere den Namen El-bahrselsbelasma (der Fluß ohne Wafler) führt, 
da8 Äußere die Neihe der Natronfeen und die Eoptifchen Klöfter enthält. Der hinter 
ber arabifchen Kette liegende Theil Aegyptens ift ein wildes, höchſt oödes Gebirgsland 
mit chaotiſchen Anhäufungen von kahlen Bergen und Felsmaſſen, welche durch tiefe, 
meift mit Sand gefüllte und vegetationdleere Thäler und Schluchten von einander ge⸗ 
trennt werden. Nur in den Thälern zwifchen den, aus Erpftallinifchen Gefteinen be⸗ 
ſtehenden Bergen des ſüdlichen Theils dieſer Wüfte giebt es flellenmeife Wafferanfamm- 
- lungen und eine Vegetation. Eigentliche Dafen aber finden fih nirgendd. Kaum fieht 
man bie und da perennirende Süßwafferquellen; Die wenigen vorhandenen verlieren fich 
nach kurzem Laufe im Wüftenfande. Dieje Landfchaft ift deshalb auch höchſt menfchenleer 
und wird nur von Fleinen nomadiftrenden Stämmen der Araber und der Barden (Nubier) 
durchzogen. Größere Ebenen giebt e8 auf diefer Seite des Nil nur auf der Landenge 
von Suez, die fo niedrig find, daß dic darin liegenden Bitterfeen tiefer als der Meeres- 
fpiegel liegen, und dann im füdmeftlicheren Theile gegen die oben erwähnte Karavanen- 
ſtraße von Hamamät zu. Die beveutendften Bergmaffen liegen mehr nach dem rothen 
Meere zu in einer dem Meeredufer meift parallelen, vielfach zerriffenen Kette, die im 
Babel Ghärib, dem höchſten Punfte, 5800 Fuß erreicht, und im Gabel Dochän und 
Runfinh gewaltige Maffen bilden. Die Küfte des rothen Meered bietet, obwohl bier 
ftellenweife das Gebirge terraffenförmig abfällt, auch wohl flundenbreite Niederungen 
vorliegen, eine troftlofe Dede und Ginförmigkeit dar. Zudem ift dieſe Küfte durch Die 
geringe Tiefe des Waflerd und zahlreiche fubmarine Gorallenfelfen (neben ebenfalls: 
ſehr zahlreichen Gorallen-Infeln) den Schiffern immer fehr gefährlich geweſen. Die 
ehemaligen durch fchluchtenartige Querthäler gebildeten berühmten Handelsſtraßen zwi⸗ 
Ihen dem Nilthal und den Küftenftädten des rothen Meeres find jetzt meift veröbet. 
Die beiden oben genannten Querthäler von Hamanät und das Thal der Verirrungen 
werden noch am meiften befucht; durch Iegteres zieht fich bekanntlich die Straße von 
Cairo nah Suez. 

Ganz abweichend von der öftlihen ägyptifchen Wüfte erfcheint die weftliche zwiſchen 
dem Nile und dem langen von Süden nad Norden laufenden Dafenzuge als ein 
3—7 Tagereifen breited wafferlofes, fandiged Plateau. Der Dafenzug felbft, wovon . 
Die große und Heine Dafe und die Dafe ded Jupiter Ammon die befannteften find, 

‚ trennt durch feine bedeutende Senkung, die in der Oaſe des Jupiter Ammon bid 100 
Fuß und an einer anderen Stelle bis 156 Fuß unter den Meeresfpiegel geht, das 
Plateau der ägpptifchen fcharf von der Tibyfchen Wüfte In dem Plateau felbft liegt 
das Thalbecken oder die Dafe von Faium, der Garten Aegyptend (wo der Ser Möris 
und die Ruinen des Labyrinths) ebenfalls tiefer als der Meeresfpiegel. Prof. Lepſius 





L 
ed 


auch Das melllihe Plateau durch mehrere frodene Querſchluchten durchzogen, melde 
das Nilthal mit den Dafen in Verbindung feßen. - 

Der einzige culturfähige Boden Aegyptens ift die Thalfole Des Nild und die 
Eultur reicht auch nur ſoweit als die Ueberfchwenmung des Nils und die durd, Fünf: 
liche Scöpfräder auch auf die etwas höheren Striche geleiteten Waffer reichen. Bei 


Aſſuan iſt das Niltbal 12 — 16,000 Fuß breit. Am Gebel Seljeleh verengert jid 


dad Thal zu einem 3000 Fuß breiten Engpaß. Dann wird ed wieder breiter und 
bildet auf dem ungeheuren Ruinenfelde des hundertthorigen Theben (mo die Dörfer 
Karnak und Nugfor auf dem rechten und -Durna und Medinet Habu auf dem linken 
Ufer des Nil liegen) eine 2 Deilen breite Ebene. In feinem von Siut nörblich lie 
genden Striche gewinnt das Nilthal eine continuirliche, ziemlich anfehnliche Breite, deren 
Marimum zwiſchen Minieh und Beni Süef liegt und 4 Stunden beträgt. Hier zweigt 
fih auch der 38 Stunden lange Joſephs-Canal (Bahr Juſſuf) links vom Fluſſe bei 
Darütsel-Scherif ab und mündet erft bei Alkam in den Nofettearm. Zwiſchen dieſem 
Canal und dem Nil ift das Land fehr fruchtbar und anfänglich an 2",, nörblicer 
aber nur 1—1Y, Stunden breit. Cine Abzweigung des Canals bewäffert die Provin; 
Faium und mündet in den falzigen Sce Birgetsel-Dorn, der fich dort keineswegs zum 
Vortheil des Landes anftatt des chemaligen fegensreichen Mörisfeed 70 Yuß tiefer ald 
diefer gebildet Hat, indem er dad Land gar nicht bewäflern kann und in und um ſich 
faft alles organifchen Lebens entbehrt. Während der Nil bei Theben nur 1300 Fuß 
breit war, wird er, bevor noch der Joſephs-Canal die Wafler theilt, bei Siut bis 
2600 Fuß breit. Die größte Breite aber gewinnt der Nil unterhalb Cairo, wo die 
legten Ausläufer der den Strom begleitenden Bergfetten zurüdgetreten find. Seine 
Breite beträgt hier ziemlich dreiviertel Stunden. Hier bei Batn=el-Bafara (Kuhbauch) 
tbeilt fi auch der Strom in feine Mündungsarne. Während im Alterthume bie 
Gabelung etwas füdlicher bei Matariah (dem alten Heliopolis) eintrat und von den 
fieben Armen des Nil der öftlichjte (der peluftfche) und der weftlichfte (der Fanopijce) 
die bedeutendften waren, ift heutzutage die peluflfche Mündung ganz verfchwunden,, und 
find nur noch die Arme von Roſette (Fanopifche Mündung) und von Damiette (phat 
nifche Mündung) von Bedeutung. Aber auch der Arm von Damiette verfandet inner 
mehr und vor der Rofettemündung liegt die den Schiffern gefährliche Sandbank Bogia;- 
Alerandria, welches im Altertfum der Sit des Welthandel gewejen, war in feiner 
ganzen Umgegend verödet und fein Wohlitand fehr gejunken. Sein Wiederaufblüben 
und feine erneute Bodencultur verdanft es dem 1816 von Mehemed Ali angelegten 
Mahnudich- Canal, der bei Fuͤah (Atſeh) am Roſettearm beginnt und in einer durch⸗ 
fhnittlichen Breite von 90 Buß und in einer Tiefe von 15—18 Fuß 12 Meilen lang 
ift und bei Alerandria in dad Meer mündet. Durch den Bau dieſes Canals bleibt 
der Verkehr Aegyptens mit dem Auslande faft das ganze Jahr ununterbrochen, wäh: 
rend früher durch dad Wachſen der Sandbanf an der Rofettemündung die Schifffahrt 
oft während ded ganzen Winterd gehemmt war. Durch Die von Mehemed Ali begon- 
nenen und von Abbas Pafıha fortgefegten großartigen Wajferbauten ſoll der Canal 
das ganze Jahr hindurch fchiffbar werben. 

Die Befürchtung, daß durch Die Neigung der Gewäffer des Nils nach Welten, 


welche in einer Erhöhung des öſtlichen Theils des Delta ihren Urſprung zu haben 
fcheint, der Arm von Damiette am Ende ganz verfande und damit auch der ganze 


Sulturboden an feinen Ufern, war die Hauptveranlaffung, Die beiden großartigen 
Schleufen (barrages), nicht weit unterhalb der Gabelungöftelle des Nils anzulegen. 
Dadurch follten die beiden Hauptarme des Nils nach. Willffür und Bedürfniß geöffnet 
oder gefchloffen und die Ueberſchwemmung durch das Aufhalten der Waſſer möglichit 
unabhängig von einem zu niedrigen Anjchwellen des Fluſſes gemacht werden. Dieje von 
Mehemed Ali begonnenen großartigen Dammarbeiten find aber wegen ihrer ungeheuren Koften 
von feinen Nachfolgern eingeftellt worden. In ihrer jetzigen unvollendeten Geftalt find 
fie dem Schiffer eben fo gefahrbringend, als nutzlos für den beabfichtigten Ziel. 
Zahlreiche andere Eanäle wurden ebenfalls von Mehemed Ali nicht nur in Unter⸗, fon 











u Win Ober⸗Aegypten gebaut und Damme, To wie große Baflins ir 
Argypten zur Regulirung der Ril⸗-Ueberſchwemmungen, damit die Schöpfräder ı 
gemacht würden, angelegt. Obwohl eine Menge Canäle, von den beiden Hau 
audgehend, das. 400 O,⸗M. große Deltaland durchkreuzen, fo vermögen fie bo 
bis in Die öftlichen Theile deſſelben zu dringen und der umfichgreifenden W 
Boden wieder abzugewinnen oder die alte Culturfähigkeit der Gegend wieder zu 
Gebt bezeichnet auf der Oftjeite des Delta eine Linie von Gairo über Matariel 
Tah, Tele el-Wadi, Belbeid und Salieh die Grenze zwifchen eigentlicher Wi 
@ulturland. 

Die Ueberfehwenmmungen des Nil haben ſich jeit der Zeit der Pharanı 
Nachtheil ded ganzen, befonderd des obern Nilthals bedeutend verändert. $ 
Höhe der Ueberfchwemmungen hängt die Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit Ae 
ganz und gar ab. Bleibt diefelbe unter 20 Fuß oder. fteigt fie über 24 Fuß, 
in beiden Fällen die Ernte fchleht. Die Haupturfache dieſer im Laufe. der Jahr 
eingetretenen DBeränderung der Ueberſchwemmungen liegt in der allmälich eingı 
Erhöhung des Bodens und des Strombetted. Diefe bat aber im "geraden Be 
nach Norden zugenommen,- im Delta dagegen wegen der bebeutenden Flaͤch 
welche der Nilfchlamm fich ergießen muß, von der Spite nach der Balls des 
abgenommen. Der Nilmefjer (Marias) auf der Infel Rodah, gegenüber Cairo, 
im 9. Jahrh. n. Chr. erbaut wurde, enthält 16 cubitus (jeder zu 1", Buß). Jetzten 
DaB Wafler um 31, Fuß höher als jene 16 cubitus fteigen, um dad Land zu übe: 
DBergleichen wir noch ferner liegende geiten mit der Gegenwart, fo war zur , 
PBtolomäer nah dem Nilmeffer auf der Infel Elephantine der höchſte Wa 
24 cubitus, während gegenwärtig berfelbe faft 7%, Buß darüber gebt. 2 
Herodots trat der Nil erft bei einer Anfchwellung von 15—16 ägpptifchen 
Ca 231,447 par. Lin.), alfo etwa 22 yar. Fuß aus feinen Ufern. Unter den 
Mörid (c. 2200 9. Ehr.) wurde das Land unterhalb Memphis ſchon bei 8 
oder 11 par: Fuß binreichend überfchwenmt, mithin um 10 Fuß niedriger, 
Die gewöhnliche Höhe der Wafler reiht. Und doch vermochte zur Pharaoner 
Erguß der Waffermaffe das ganze Delta in einen See zu: verwandeln, wor 
zu Tage nicht zu denken ifl. Dagegen beweifen die Entdeckungen des Prof. 
bei Semne in Nubien, daß dort unter Demfelben König Mörid die mittlere £ 
Ueberfchwenmungen 24 Fuß mehr ald gegenwärtig betrug. Auch die fenfrecht 
wände, welche bei Theben beim tiefften Waflerftande 36 Fuß, bei Cairo 18— 
Höhe haben, gegen das Meer zu auf 3, Fuß und weniger berabfinfen, zeig 
der Boden in geraden Verhältnig von Süden nach Norden zu fich erhöht hat. 
fo auch die Fluth bei Affuan bis 36 Fuß zu fleigen pflegt und an der Rofı 
Dung nur 3%, , fo wird doch das Land bier mehr überſchwemmt ald dort. J 
daß das Steombett in Nubten und Obers Aegypten ſich im Laufe der Jahr! 
immer tiefer in das umgebende Zlußufer einfchnitt, wurde dad ganze Thal imı 
niger als früher mit dem befruchtenden Nilwaffer überfchwenmt. Uber auch di 
Waſſermaſſe muß feit der Pharaonenzeit fich fehr vermindert Haben, was durch 
deutende Höhe der Fluth zu Semen vor 4000 Jahren und die Verwandlung di 
in einen See zur Pharaonenzeit bewiefen wird. Daraus erklärt fich einerfi 
Glanz und die Macht des Atbyopifchen Reiches im Altertbum, andererfeits di 


. gänzliche Veratmung der nubifhen Landfchaft und die geringere Fruchtbark 


mühfamere Beftellung des Landes ſchon in der Thebais. Auch im Delta erf 
daraus die zunehmende Berfandung aller Flußarme, die Verwüſtung der öftlid 
weftlichen Seite des Delta durch Sand, die Verfandung von großen Suüͤßwa 
wie bed Mareotiöfeed, an der Küfte in Meereöhaffe, die Ueberfluthungen des 
Küftenfaumes mit Meereöwafler, die Bildungen von großen Meereöhaffen, ı 
Menzalabjees; Ericheinungen, die alle im Alterthum unbekannt waren. Es 
‚ alle dem eine illuforijche Hoffnung, wenn man wähnt, Aegypten Eünne unter d 
tigen, politiſch und merkantilifch ſich immer günftiger geftaltenden Verhältnifien 
eine ähnliche Stellung einnehmen, wie im Altertbun, wo dad 20,000 Städte 
tende, von Alters ber durch ſeine Fruchtbarkeit und feine materielle Cultur 6 


l 





bung des Aderbaues find aus Noth und Habfucht hervorgegangen und fle Fünnen 
nie auch nur entfernt Die ehemalige Fruchtbarkeit und den ehemaligen Umfang des 
‚@ulturbodens wieberberftellen. 

Nach dem verfchiedenen Stande des Stromes bietet nun das Niltbal nebft dem 
Delta jeded Jahr ein dreifache Bild dar. „Vom März bis Juni ift ed eine duͤrre 
MWüfte voll Staub, der glühende Boden Flafft überall, die Begetation erflirbt und bie 
Bäume entlauben fih, wie bei und im Winter. Vom Juli bis October breitet fid 
flatt der dürren Wüfle ein einziger Süßwafferfee aus, durch welchen lange und fchmale 
Dämme von einem zum andern Orte, welche alle auf Erhöhungen gelegen find, ziehen; 
überall rudern die Barken, Alles ift in gefchäftiger Bewegung und in Freude. Gegen 
Ende Juni beginnt bei Afiuan, Anfangs Juli bei Cairo das Anfchmwellen des Stromes, 
das zwifchen den 20. und 30. September feinen höchften Stand erreicht. Verlaͤßt der 
Nil Ende October die durchmweichten Fluren, fo bietet fich wieder ein ganz anderer 
Anblick dar. Grüne Getreideflächen treten bald nach mühelos vollbradyter Saat an 
die Stelle des Süßwaſſerſees, Alles feimt und fprießt üppig empor, fo daß in wenig 
Wochen dad Land ein einziger fruchtbarer Garten iſt.“ Nach Pruner ift jedoch dieſe 
Schilderung für heut zu Tage weit übertrieben, und die lakoniſche Depeſche des ara 
bifchen Feldherrn an den_erobernden Kalifen Omar: „Aegypten ift bald ein Meer, bald. 
ein Garten, bald eine Wüſte,“ ift wenigftens für da8 heutige Aegypten zutreffend. 
Bleibt der Strom ſich felbft überlaflen, oder fteigt er übermäßig, oder fehlt ed an 
Dämmen, jo überflutbet er freilich ganze Provinzen, allein das ift eine Ausnahme. 
Wird das Land gehörig gepflegt und befäet, fo iſt ed immer grün und fruchtbar in 
hohem Grad, wird ed aber umgekehrt verwahrloft, fo verwandelt es fich in eine Wüſte. 
Heut zu Tage verwandelt ſich das Nilthal und Das Delta nicht mehr wie im Alterthum 
in ein großes Meer, aus dem, wie die alten Schriftfteller im Alterthum berichten, die 
Städte wie Infeln Hervorragten. Zur Regelung der Ueberſchwemmung dienten feit 
älteften Zeiten zahlreiche Kanäle, Schleufen und Damme. Die Höhe der Ueberſchwem⸗ 
mung (21 Zuß reichen hin, um ein fruchtbared Jahr zu geben) wird in Cairo in offi⸗ 
cieller, feftlicher Weife, oft aber mit unrichtiger Angabe der wahren Höhe verkündigt, 
denn die Höhe der Steuern richtet. fi) nad) der Höhe der Lieberfchmemmung. Ganz 
allmälich fließt das Waſſer wieder in das alte Bett zurüd und binterläßt eine ſchwarze, 
feuchte Schlamnmaffe, die vorzüglich Düngende Thonerde, Eohlenfauren Kalk und Magnelia 
enthält. In den erften Monaten des Jahres ift der Fluß in fein urfprüngliches Bett 
wieder ganz zurückgekehrt. Die alljährlich abgefegte Schlammdede nun ift e8, welde 
im Laufe der Jahrhunderte ſowohl das Flußbett ald die Thaljohle erhöht hat. He—⸗ 
rodot recynete in Unterägnpten 10 Fuß Bodenerhöhung auf 9 Jahrhunderte oder 13 
Zoll auf 1 Jahrhundert. Nach neuern Unterfuchungen kommen 4—4, Zoll im 
Durchſchnitt auf das Jahrhundert. Auch hieraus ſieht man, wie im Altertbum un 
gleich mächtiger der Nilfchlamm aufgelagert und fomit der Boden weit mehr befrudhtel 
wurde, als beut zu Tage. 

Wenn der Strom nicht angefchmwollen ift, fo ift fein Waſſer fehr hell und fo 
vortrefflich zum Trinken geeignet, daß ed von jeher von Schriftftellern, Reiſenden und 
Einheimifchen hoch gepriefen worden. Diefe wunderbare Eigenfchaft des Nilwaſſers iſt 
für Aegypten nicht bloß eine fehr fegensreiche, fondern auch höchſt nothwendige Gabe 
Gottes. Denn der größte Theil des Nilthales entbehrt wie die ungebende Wüfte ber 
perennirenden Quellen gänzlih. Nur die Dafen der Wüfte find verhaͤltnißmaͤßig reich 
daran, und diefe find alle mineralifch und meiftentheild auch thermal. Während feined 
ganzen langen Laufes dur Nubien und Aegypten nimmt der Nil, mit Ausnahme 
einiger temporärer Megenbäche von kurzer Dauer in Nubien und Oberägypten, nicht 
das -nıindefte fließende Wafler auf. Die Anfchwellungen des Nils entftehen durch die 
tropifchen Regen, welche in den Duelllanden des Stromes (fein Gebiet foll nach neuern 
Heifenden bis zum erften ſüdlichen VBreitengrade reichen) vom Mai bis zum September 
fih ergießen und alle Flüfle jener Länder, deren einziger Ableiter der Nil ift, an 
ſchwellen (fiehe den Artikel Afrika). 











(Krankfheiten.) Aegypten ift bekanntlich die Heimathb der Pet und der 
Cholera. Sie treten gewöhnlich mit dem Khamafin auf. Ihre Wirkungen find fchredlic. 
Die Beft des Jahres 1835 raffte allein in Cairo nicht weniger ald 80,000 Menſchen 
weg. Indeß ift das Klima Ober⸗Aegyptens gefünder als das des Delta und Unter 
Aegyptens; ſelten ſteigt die Peſt das Land hinauf. Für Bruſtleidende hat Aegypten 
ein ebenſo heilſames Klima, als für Leberleidende ein ſchaͤdliches, ja toͤdtliches. Außer⸗ 
dem herrſchen Wechſelfieber, Ausſatz, Diſſenterien, Nilbeulen (vielleicht die Drüfen 
Aegyptens der heil. Schrift) und die ſogenannten aegyptiſchen Augenentzündungen als 
endemiſche Krankheiten vor. Letztere iſt eine eigenthümliche anſteckende, oft ſchnell das 
Auge zerftörende, mit reichlicher Eiterung verbundene Entzündung. Sie iſt bekanntlich 
jetzt auch über Europa verbreitet. Sie wurde zuerſt von den franzoͤſiſchen Truppen 
aus der Expedition von 1798 nach Europa gebracht” und ift ſeitdem eine Die curo- 
päifchen Heere, befonderd während der Kriege von 1813-—15, heimjuchende Epidemie 
geblieben. Unter den Jahreszeiten ift die Periode vom März bis Mat die ungefun- 
defte, und bejonderd den Fremden ſchädlich. Ueber die Krankheiten in Aegypten hat 
Dr. Pruner gefchrieben; ferner vermeifen wir auf die Karte für die Krankheiten: 
Beographie in Berghaus’ phyſikalem Atlas. 

(Naturproducte) 1) Flora, Aegyyptens Begetation, welche 1250 Arten 
umfaßt, ift dürftig und hat wenig eigenthümliche Pflanzen; wild wachfende fehlen in 
dem vom Nil überſchwemmten Lande ganzlih. Das Land, welches nicht- von der 
Ueberſchwemmung in natürlicher oder Fünftlicher Meife erreicht wird, bietet nur eine 
armfelige Steppenflora dar, wie fle den Wüſten Nord⸗-Afrika's eigenthümlich if. De 
Agricultur iſt dieſer Theil des aegpptifchen Landes gänzlich unzugänglid. Wirklich 
bebaut find, wie wir oben gejehben haben, von den 600 D.-M. culturfähigen Landes 
nur 342 D.-M., oder, nach Pruner'd Berechnung, von den 1600 D.=Lieueß (== 576 
geogr. Q.⸗M.), welche von der Nil-Ueberſchwemmung bededt werden, gegen 1000 O.⸗vL. 
(= 360 O.⸗M.). Rechnet man 385 O.⸗Lieues auf Sand, Dünen, Ruinen, Seen, 
Moräfte, Flußbett, Kanäle und Infeln, fo bleiben immer noch 215 O.⸗Lieues eigentlic 
brachliegenden Landes übrig. Mehemed Ali's (wir verweifen, was die neuere Gefchichte 
Aegyptens betrifft, auf dieſen Artifel) Energie ift e8 zu danken, daß noch fo viel Land 
gegenwärtig für den Aderbau nußbar gemacht wird. Um das Jahr 1840 waren von 
7,014000 Ferdan (= 1 englifchen acre) cufturfähigen Areald in Aegypten über 3 Mil⸗ 
Ikonen gar nicht, und Davon in Ober-Aegypten von 3,214000 Ferdan nur 167,000 8. 
in Gultur. 

Die Bulturpflanzen am Strande des Meeres find, analog dem Klima dieſes Küften- 
flricheö, denen vom füdlichen Europa äbnlih. Dies ift das Neich der Küften - Klora. 
Die Flora des‘ Nilthales kann in zwei Gebiete getheilt werden, in dad des obern Nil 
thales von Afiuan bis Monfalut oder Siut, und in das ded unteren von Monfalut 
bi8 Damanhur, einige Meilen von der Küfte entfernt. Diefe Grenzlinie findet ibre 
Begründung eben ſowohl in der Verſchiedenheit des Klimas, der Ueberſchwemmung, 
Bewaͤſſerung, als ſelbſt in den Formen des Thierreiches. So geht z. B. das Crocodil 
heutzutage nicht weiter den Nil herab als Siut. Die — der aegyptiſchen 
Flora haͤngt auch mit dem gaͤnzlichen Mangel an Wald und Alpenpflanzen zuſammen. 
Selbſt Wieſengründe fehlen. Geſchmack und Wohlgeruch mangeln den Erzeugniſſen 
des aegyptiſchen Bodens. Der Ackerbau iſt abhaͤngig nicht vom Regen, welcher faſt 
nie faͤllt, ſondern von der Ueberſchwemmung und fünftlicher Bewäflerung. Dedmegen 
pries Herodot die Aegypter glüdlich, daß fie nicht, mie die Griechen und andere Völker, 
von den Raunen der regenfpendenden Götter abhängig fein. In der heil. Schrift 
wird aber, gerade umgekehrt, Kanaan im Gegenfage zu Aegypten gepriefen, meil Gott 
über Kanaan regnen laffe, welches Segens das Land Aegypten entbehre. Da der Nil- 
ihlamm die nöthigen Salze und den hinlaͤnglichen Stickſtoff mit fich führt, fo wird 
Dünger entbehrlich. Bon Getreivearten wird vorzugswelfe Weizen und Gerfte gebaut, 
Hafer nur zum eignen Bedarf, nicht zur Ausfuhr, und Noggen gar nicht. Da bet 
Weizen Aeghriene länger im Freien ſteht, fo iſt ex nicht nur gehörig gereift, ſondern 


% - 








ven auch gut audgetrocdnet, und die Körner haben ein Fleineres Ausſehen. Das böchfte 
Ergebniß eines Ferdan oder englifchen acre Landes fteigert fih auf 7 Ardeb (1 Ardeb 
„er — 5 Berl. Scheffel) Getreide, im Mittel 4 Ardeb bei Y, Ardeb Nusfaat. Bei den 
Bohnen liefert der Ferdan 7 und bei der Gerfte 10 Ardeb. In Ober-Aegypten iſt 
der Ertrag beffer, weil die Waſſer fich fchneller zurücdziehen. Cine 8-—-14fältige Weizen- 
Ernte ift für dad im Alterthum wegen einer Bruchtbarfeit berühmte Aegypten, das 
nach Plinius einen 100fältigen Ertrag gab und die Kornfammer Roms und- fpäter 
Konftantinopeld genannt wurde, gewiß ein geringer Ertrag zu nennen und nicht befier 
als ‚er in vielen fruchtbaren WBegenden Deutfchlands gefunden wird. Der Reiſende 
Miebuhr, der jich.auch in Babylonien vergeblich nach der von den Alten ala flaunend« 
würdig geſchilderten Sruchtbarfeit Babyloniens (Herodot fagt, daß der Weizen daſelbſt 
gewöhnlich 200fältig, wenn aber auf's befte bis 300fältig wiedergebe) erfundigte und 
börte, daß in den beften Gegenden um Bagdad, Hille und Bahra, eine 20fältige Ernte 
für eine ungewöhnlidy reiche gälte, fagt, daß nur in den glüdlichiten Begenden von 
Semen und um Alerandria der Weizen fich 50fältig vermehre. Um Alerandria Fäme 
jedoch auch, wiewohl äuferft felten, eine 100fältige Ernte vor. Die gewöhnlichen 
Ernten feien viel geringer. Wenn man alfo in Geographieen von Aegypten Tieft, daß 
der Weizen dajelbft 25—30fältig und in: guten Jahren fogar 5Ofältig gebe, fo iſt 
Dies nur auf die fruchtbarften Diftricte des Delta zu beziehen, welches ald eind der 
ergiebigften Rarfchländer der Welt gilt. In der That giebt Mayen in feiner Pflangen- 
Geographie eine 24fältige Ernte für die allerfruchtbarften Länder der neuen Welt an. 
Für Deutihland nennt derfelbe ald durchfchnittlichen Ertrag eine 5—dfältige Weizen- 
Ernte. Daß übrigens die Nachrichten der Alten über die außerordentliche 100- nud 
mebrfältige Fruchtbarkeit mancher Gegenden Aflens, Afrikas und felbft Europas nicht 
in Das Bereich der Kabeln gehören, Davon hat der wahrhaft fubelhafte Ertrag des 
Mumienweizend (d. 5. Weizenförner, die man in den Mumicnfärgen gefunden hat und 
Die mehrere 1000 Jahre alt find) den Beweis geliefert. 

Wir führen unter den vielen Berichten, die man bin und wieder in den Zeitun- 
gen leſen fonnte, einen wiffenfchaftli und amtlich feftgeftellten an. In der Akademie 
der Wiffenfchaften in Paris legte Herr Guerin-Minneville eine Anzahl Weizen- 
halme von mehr ald 7 Fuß Höhe vor, von denen jeder mehrere prächtige Aehren 
trug. (Nach Art der 7 fetten und 7 magern Aehren, welche Iofeph in Aegypten im 
Traume auf einem Halme ſah.) Diefe fchöne Weizenart flanımte von 5 Körnern ber, 
die in einem ägpptifchen Grabe gefunden und YJahrtaufende lang den äußeren Einflüffen 
entzogen waren. Im J. 1849 geſäet, wuchſen fie Eräftig empor und gaben einen 
1200fachen Ertrag, in Folge defign eine Menge vergleichender Berfuche im Süden, im 
Centrum Frankreichs und in der Bretagne angeftellt wurden. Die Ergebniffe find 
amtlich. feftgeftellt. Die eine Hälfte eines Feldes wurde mit diefem. ägyptifchen Weizen, 

" die andere mit gewöhnlichen befäet. Der erjtere gab einen 60fachen Ertrag, der ges 
7 wöhnliche nur einen 5fachen. Korn für Korn und in Reihen gefäet, gab der Mumien- 
ats weizen 556fältig wieder. Bei einem andern Verfuche, den ein Profeffor der Agricnltur 
= in’ Eompiegne nit 9 Mumienweizenförnern machte, hatte jeder Halm minveftens 20 
axn. Aehren, wovon jede Durchfchnittlich 100 Körner von auffallender Diele enthielt, fo daß 
ee fich die Körner an 2000fach vermehrt hatten. Die Verfuche werben jetzt in Frankreich 
und in Deutfchland im Großen gemacht. ine intereffante Mitteilung über einen 
== folchen Verfuch im Großen findet fih z. B. in der landwirthſchaftlichen Zeitfchrift für 
in das Großherz. Heſſen Nr. 43. 1856. Leider artet der Mumienweizen bald aus und 
verliert allmaͤhlich ſeine ftaunenerregende Fruchtbarkeit mit jeder neuen Ausſaat. Doch 
z9 Hatte auf den Gütern des Grafen von Solms-Laubach, wovon in jener Zeitſchrift die 
fe MRede ifl, der Mumienweizen, nachden er 5 Jahre hintereinander gefäet war, noch immer 
* einen 20: bis 21fältigen Ertrag. Dabei beſaß er auch noch andere bedeutende Vorzüge vor 
gewöhnlichen Weizen. Es waren da in dem letzten Jahre 220 heififche Morgen damit 
F beftellt, welche 1500 Walter prachtvollen Weizens Jieferten. Im alten Aegypten wurde 
2 freilich der Mumienweizen auf viel Eleineren Nittergütern gebaut, denn Herodot erzählt 
und, daß jeder Ritter oder Mitglied der Kriegerfafte 12 Aruren oder ziemlich ebenfovicl 
preußifche Morgen fleuerfreien Landes zu feinem und feiner Familie Unterhalt bekam. 


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nid dr Diner 9 Dr ride Fans dd Fed ee di rt ind Ed 
phyſikaliſchen Verhältniffe von Aegypten während eined 12jährigen Aufenthalte mit 
nüchternen und umbefangenen Augen beobachtet hat, ift das Verhaͤltniß folgendes: 
Es giebt nur eine Getreive-Ernte. Kulturepochen, die nach unferem Sprachgebraude 
Herbie, Winter und Sonmerfaat heißen Fönnten, fleigen in der ſüdlichſten Gegend, 
nicht nördlicher ald Edfu, auf 3 Ernten, wovon jede in 4 Monaten ihren Chyklus 
abläuft. Etwas nördlicher in Obers und Unter-Aegypten beginnt allgemein ein zwei⸗ 
facher Saat und Erntefreid. Ä 

Am beften gedeihen Maid und Gerfte in Aegypten; Neid kommt an der Küfle 
bei Damiette und Rofette vortrefflih fort. Aegypten hat 6 Hirfenarten (Durrab), 
verfchiedene Arten von Bohnen, ferner Erbfen, Linfen, Lupinen, Sefam, Saflor, 
Lein, Hanf, Colza, Eicinus, Lattih, Mohn, Klee, Kürbiffe, Gurken, Melonen, 
Zwiebeln, Krapp, Indigo, Zuckerrohr, Arbufen, Arhennah. Seit 30 Jahren 
wird die Baummolle in Maſſe gebaut und bildet einen KHauptausfuhrartifel. Der 
aͤgyptiſche Tabak iſt fchlecht, eine Art Bauerntabaf. In dem Aderbau Liegen bie 
Bedingungen des Wohlftanded Aegyptens, nicht in der Induſtrie. Die großartigen 
induftriellen Unternehmungen Mehemed Ali's find noch bei feinen Lebzeiten vollftänvig 
geicheitert. Dagegen ift der Aderbau bedeutend gehoben worden. Der Weinftod jedoch, 
welcher im Alterthum in ganz Aegypten und, wie man aus den Abbildungen lebt, 
zur MWeinbereitung gebaut wurde, gedeiht jegt nur noch im Faium. Die zweijährigen 
europäifchen Gemüſearten reifen zwar ſchon in den 6 Monaten des erften Jahres, aber 
mit dem zweiten Jahre beginnt bereitd ihre Entartung. Europätfche Obftbäume gedeiben 
gar nicht. Ihre Statur bleibt niedrig, fie treiben zwar viele Zweige, die Früchte aber 
find von vornherein fohleht. Dies gilt befonders von Birnen, Quittens, Zwetſchgen⸗ 
und Upfelbäumen, die fich hie und da in den Gärten finden. Kirſchbäume Fonnten 
nur in Alexandria und Roſetta fortlouımen. Die Ananas gedeihen noch weniger. 
Bon Bäumen find vor allen die Dattelpalme zu nennen, in mehr als 20 Arten, derm 
Frucht wie bei und daß tiglihe Brod gegeflen wird und das aͤgyptiſche Leibgeriät 
ausmacht. Don der Dattelpalme wird im eigentlichen Sinne nichts unbenugt gelaflen. 
Deswegen ift fie auch von der Megierung hoch befteuert. Ihre forgfältige Cultur if 
exit feit den Eroberungen der Araber im Orient allgemein geworden. Die Dompaln 
findet ſich aufwärts von Geneh an; fie liefert eine fade Frucht. Andere ägpptide 
Bäume find die blätterreiche Sycomore (Ficus sycomorus), deren Frucht wohlfchmeden 
ift und die dornige Acacia Nicotica, von der dad Gummi gewonnen wird, zu nennen. 
Die Bäume, weldhe die Süpdfrüchte Tiefern, kommen auch bier fort, befonders ift dad 
Falum, der Garten Aegygtens, reich daran. Neuerdings ift auch der Maulbeerbaum 
zur Seidenzucht im Großen angebaut worden. Bon erotifchen Gewächfen gedeihen and 
Indien namentlih Palmen, wie die Arefa und Sagho bei Cairo, jedoch nicht die Borol. 
Bon ehemals weitverbreiteten und vielbenugten Gemwächfen ift der Papyrusſchilf nod 
ferner ganz verſchwunden. Der indifche Rofenlotus, einft fo bezeichnend für Land und 
Leute in Aegygten, ift ebenfalld ganz, der weiße fait ganz verſchwunden. 

Noch aͤrmer ald die Flora ift 2) die Fauna in Aegypten, unb wenn man von 
den unermeßlicyen Schaaren von Waffervögeln (beſonders Flamingos, weißen Ibie, 
Belifane, Weiber) abfieht, bietet fie nichts von anderen afrikanifchen Ländern Abweichen⸗ 
des dar. Auch wenn man die Fauna Altägyptend mit der jegigen vergleicht, fo findet 
ih, daß fie bedeutend ärmer geworden if. Das Flußpferd ift aus Aegypten gan 
verfchwunden und findet ſich nur noch in Nubien und den füdlicher gelegenen Ländern. 
Das Crocodil findet ſich nur noch jelten oberhalb Siut (nach Anderen Girge). Der 
Löwe. brüllt nicht mehr und die Giraffe zeigt ſich nicht mehr in den umgebenden Wü 
fen; der heilige Ibis hat fih auch nach Süden zurüdgezogen. Anſtatt der lang 
hörnigen. Ochjen, welche ganz verfchwunden find, ift von den Arabern der Büffel 

’ eingeführt. 

Bon den Hausthieren fteht das Dromedar, deſſen Mild man trinkt und deſſen 
Fleifh man ißt, oben an. Sein Nugen als Reit- und Lafttbier befchränft ſich auf 
die Wüſte. Kameele giebt e8 nicht. Neben dem Pferd, das früher von ausgezeichnet 








Ir UBER durch Mehemed Ali's Kriegszüge jetzt Tall ganz ausgegangener Race war, 
iR der ſchnellfußige Gel, von einer ganz anderen eblern Race ald der unfrige, zu 


7. u 
- u. 


=  ohrige Ziege, Hunde, Katzen und Ichneumons. Die Hühner können bier ihre Eier in 
natürlicyer Weife nicht mehr ausbrüten. Es ift dad großentheild die Folge davon, daß 
man die Hühner und welfchen Hühner Eier millionenweife künſtlich ausbrüten läßt. 
Die Tauben, weldhe nur in Ober⸗Aegypten vorkommen, erfreuen ſich dort einer befonderen 
Pflege. Die Taubenpoft war ſchon im frühelten Altertbum in Aegypten bekannt. 
SGänfe und Enten werden in Menge gehalten. 

Von vielen Thieren in den Wüften kommen Antilopen in mehreren Gattungen 
und Arten vor, zahlreiche Schafale, die Hyaͤne, der Leopard, in den Gebirgen am 
rotben Meere der Steinbod, in dem Delta auch das wilde Schwein, das, wie man 
glaubt, vor Kurzem aus Rhodos eingeführt if. igenthümliche wilde Säugethiere 
bat das Nilthal fehr wenige. Die überall verbreiteten Arten finden fih auch in 

Aegyypten. 

Die- Klaffe der Amphibien iſt in dem heißen alljaͤhrlich Monate lang unter 
Waſſer fiehenden Aegypten, wie natürlich, reichlich vertreten. Außer dem ſchon er- 
weähnten,. nur in dem oberen Drittel des Landes, und auch da nur noch felten vor⸗ 
kommenden Erocodile finden fich zwei Miefen- Eidechien. Die Nil« Eidvechfe (Lacerla 
Nilotica L.), welde in Aegypten an 3 Buß, in Congo aber noch größer wird, und 
die Wüſten⸗Eidechſe, welche eine ähnliche Länge erreicht. Schlangen find in den Häu⸗ 
fern nichts Seltenes, doch ift ihr Biß nicht fo gefährlich ald der Biß der in Wüften 
Hausfenden. Zu den befannteften gehören die Mräusfchlange und die gehörnte Ceraftes. 
Die Fleineren Arten Amphibien find reichlich da vertreten. 

Unter der Klafie der Vögel fehlt es gänzlich wegen Mangeld an Waldung an 
den lieblihen Singvögeln. Dagegen find die Gattungen der Raubvögel ſehr zahl: 

reich, beſonders die Aasgeier, welche haufenweife über das Aas herfallen. Strauße 
.. finden ji nod in der Wüfte, doch nicht mehr fo zahlreich wie ehedem. Defter er⸗ 
. ſcheinen große Sthaaren von Wachteln. An Sumpfe und Zugvögeln fcheint Aegypten 
°-  eind der reichflen Ränder zu fein, letzteres befonderd deswegen, weil das Nilthal die 
— einzige Verbindungsſtraße zwiſchen der Nordküſte Afrika's und ſeinem Innern iſt. 
* Auch den Fiſchen bietet das geſunde Nilwaſſer ein paradieſiſches Lebens⸗-Element. 
uUnter den vielen Gattungen und Arten find die ſonderbar geſtalteten Kugelfiſche, Schmelz⸗ 
ſchuppen⸗ und elektrifchen Zifche, welche legtere neuerdings die Aufmerkſamkeit der Na⸗ 
” turforfcher durch ihre. wunderbaren eleftrifchen Schläge auf jich gezogen haben. 
3 Mosquito's, Welpen, Fliegen und anderes Geſchmeiß bilden die ſtehende aͤgypti⸗ 
=". ſche Landplage, zu der ſich als tranſitoriſche Die gefürchteten Heuſchreckenzüge gefellen. 
ba® Neuerdings bat man die Seidenraupe fehr gebegt, aber ihr Gefpinnft foll nicht erfter 
® Dualität fein. | 
“ (Rineralien) Am ärmfteen noch ift das Land an Mineralien. 8 if, 
A als 0b e8 ſich durch die coloffalen Steinbrüche vom Härteften und feinften Granit, 
Sand- und Kalkitein, von dem befannten rotbförnigen Synnit (von Synna), grünen 
Breccien und Porphyr erſchoͤpft hätte. Mit Ausnahme von Kalke und Alabafterbrüchen 
J werdem jet wenig Steinbrüche betrieben. Am wichtigften ift unter den Mineralien 
F heut zu Tage Natron, das-der Boden Aegyptens allgemein erzeugt. An Edelfteinen 
u und Schwefel, auch Gold gefunden zu haben, aber die Verſuche, fie zu fehürfen, find 
mißglückt. 
5 (Bevolkerung.) Die Zahl der Einwohner Aegyptens iſt in früheren ſtatiſti⸗ 
— schen Berichten zu hoch angegeben. Noch im vorigen Jahrhundert wurde die Bevölke⸗ 
= zung Aegyptend auf 4 Millionen Seelen, mit Ausnahme der in der Wüſte herumies 
" Henden Nemadenftämme, gefihägt. Die neueften geographifchen Bücher geben gewöhnlich 
24 Rilltonee an. Nach Pruner (1844) beträgt fie kaum 2 Millionen; man mag 
, Die Mortalität in Anfchlag bringen, oder ein annäherndes Verhältniß zwifchen Käufers 
| vw zahl und Bevölkerung in den Städten und auf dem Lande zu Grunde legen. Die 
* Wagener, Staats⸗ u. Geſellſqq. Lex. 1. 34 





nennen. Dann das Maulthier und das gemeine Rindvieh, das hier von einer ausge⸗ 
ꝛ* Zeichneten Race ifl, der fchon erwähnte Büffel, das Iangfchwänzige Schaf, die lang⸗ 


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⸗ 


und Metallen iſt das Land heut zu Tage ſehr arm. Man glaubte, Steinkohlen, Eiſen 


ee ce der ER" BEE > Den Bde re ee JE er ed ee dee e tar Ad 
Schätungen bebelfen, da bier von einer genauen Bevölkerungs - Aufnahme nicht die 
Rede fein kann. Rechnet man 600 D.-Meilen culturfähigen Bodens, To ergiebt fi 
in dem gefegneten Nilthal nur eine Bevölkerung von 3,333 anf die Q.⸗Meile. Rechner 
man die Beduinen und Bewohner der Wüften ab, fo dürfte diefe Zahl noch zu groß 
ericheinen. Zur Zeit der Ptolemäer, wo fehon in den befannten Rändern des Drimts 
und Griechenlands eine „allgemeine Entvölferung eingetreten war, hatte Aegypten noch 
7 Millionen Einwohner. Zur blühendften Zeit der Pharaonen ftellte die Kriegerfaft 
allein 700,000 Mann in’d Feld. Ermägt man, daß ein jeder Familienvater aus bien 
unferm Adel entjprechenden Kafte nur 12 Morgen Landed zu feinem ganzen Lebene: 
unterhalt angewiefen befam, fo darf man nicht annehmen, daß von den ägnptifchen 
Kaften die der Krieger die zablreichfte gemwefen fei. Aber ein Schluß auf die unglaub: 
lich große Population des Nilthald, das damals in nicht größerer Ausdehnung zu 
Aegypten gehörte, als jebt, laͤßt fich Daraus ziehen, wie auch aus der Angabe Herodot', 
daß zur Zeit der größten Blüthe Aegypten (d. h. das zu Aegypten gehörige Nilthal) 
20,000 Städte (RöAıc) gehabt habe. 

Die jeßt nur 150,000 Köpfe zählennen Nachfommen jenes alten Culturvolket 
find die Kopten. Ihre Zahl nimmt immer mehr ab. Das Koptifche, welches bekannt 
lih den Schlüffel zur Erklärung der HierogInphen enthält, wird ſchon lange nicht mehr 
gefprochen. Faſt Die einzigen Bücher, welche Eoptifch gefchrieben find, find die Vibel 
und die liturgifchen Schriften. Nur beim Titurgifchen Gottesdienſt (denn die Koptn 
find jakobitiſche Chriſten) werden Abfchnitte aus der jakobitifchen Bibel intonirt um 
wird die Foptifche Sprache gebraucht. Die Eoptifchen Chriften haben einen Patriar 
chen in Alerandria, der aber in Cairo refldirt. Ste werden gebuldet. Sie leben, mit 
die Araber, durch dad ganze Land zerftreut, jind furchtfam und feige, binterliftig und 
verfchlagen, luxuriös und gewinnfüchtig. In den Büreau’8 der Megierung haben jt 
als tüchtige Nechner und Schreiber oft gute Stellen. 

Die Hauptmaffe der Bevölkerung bilden die Araber, welche nach Wohnort un 
Beichäftigung in drei große Durch Sitten und Gewohnheit verfchiedene Klaffen zerfallen. 
Die Araber der. Städte leben von Handel und Induftrie, find aber auf eine ziemlit 
tiefe Gulturftufe herabgefunfen. Das’ arabifche Landvolk, die Fellah, welche emtjeglid 
bebrüdt und befteuert find, bebauen dad Land als Pächter, oder eher Tagelöhner dr 
Regierung, an die fle faft allen Ertrag gegen eine geringe ‚Vergütung abzuliefern be 
ben. Sie ftehen auf der niebrigften Culturftufe. Ohne eignen Beſitz, führen fie em 
arnıfeliged Leben in ihren jämmerlichen, “ mit Nilfchlamm aufgeführten Hütten. Die 
Araber der Wüfte, die Beduinen, führen ein freied, ungebundenes Leben, verachten ih 
Stammgenoffen in den Städten und auf dem Lande, und kommen jelten in das Ril 
thal herab. 

Die Osmanli oder Türken, etwa 10,000 an der Zahl, nehmen den höcfen 
Rang in der Gefellfehaft ein. Sie bekleiden die hohen Givil- und Militairſtellen; und 
während die arabifche Sprache die des Volkes und ber niedern Verwaltung if, wi 
die türfifche in den Kanzleien gebraucht. 

Die Juden, deren Mehrzahl in Cairo wohnt, find ungemein von allen Klafın 
der Gefellfchaft gebaßt und verachtet: Jude! ift eins der beleidigendften Schimpfwoͤt⸗ 
ter. Sonft bilden noch Syrer, Griechen, Armenier, Franken (Europäer), deren Je 
in neuerer Zeit fehr, zugenommen hat, fo daß man allein auf Alerandria deren 12,00 
rechnet, Nubier, Negerfclaven den Reſt ver fehr gemifchten, aus den beterogenften Br 
ftandtbeilen zufammengefegten ägyptifchen Gefellfchaft. 

(Berfaffung.) Aegypten ift bis jeßt noch formell ein türfifches Pafdhali 
deſſen Verwaltung feit dem von England, Rußland, Preußen und Defterreich af 
15. Iuli 1840 zu London abgefchloffenen Vertrage und dem Hattifcherif des Sroß— 
heren vom 13. Februar 1841 flets einem vom Grofheren gewählten Gliede der Ir 
milie Mehemed Ali's auf Lebenszeit gegen einen jährlichen Tribut von 1,183,000 fpan. 
Thalern garantirt iſt. Der jetzige Paſcha feit 1854 iſt Sajid⸗-⸗Paſcha, ein Sohn Pr 
hemed Aui's; fein Vorgänger war fein Neffe Abbas⸗Paſcha. Tier deſtgnirte Thronfolget 


n 














IN = Barkya, der Sohn Ibrahim⸗Paſcha's, des erſten Nachfolgers Mehemed Ali's, 


ft im Mai 1858 im Nil ertrunfen. Die Nachfolge wird auf Jsmael-Paſcha, geb. 
1830 ,' den zweiten Sohn Ibrahims, übergehen. Mehemed Ali farb bekanntlich nach 
einer ſehr langen Herrfchaft, nachdem er die Regierung an Ibrahim-Pafcha abgegeben 
Batte, im 3. 1849, kurz nachdem Ibrahim nad) Dreimonatlicher Regierung geftorben 
war. Die ägyptifche Succeſſionsordnung beruht auf dem Seniorat, wonach der Aeltefte 
der Familie, ohne Nüdficht auf Linie oder Grad, folgt. - 

Mit Aegypten ift dem Paſcha auch die Verwaltung der von Mehemed Ali er« 
oberten Länder Nubien und Kordefan von der Pforte übertragen. 

Schon Mehenen Ali hat zur oberften Leitung der Stantögefchäfte ein nad 
europäifchen Grundfägen ‚eingerichteted Minifterium eingeführt. Es beftehbt aus Dem 
Minifterium des Innern und Aeußern, des Kriegd, der Finanzen und des Handels. 
Der höchſte Gerichtöhof ift der Diwan⸗el⸗Khidiwi, worin der Stellvertreter des Paſcha, 
der Kikhja⸗Paſcha heißt, praͤſidirt. Die Eivil- und Griminalgefeße beruhen auf den 
Koran oder der Sunneh (den gefammelten traditionellen Ausfprüchen des Propheten) 
oder in unzureichenden Fällen auf den Auslegungen der Imans, welche an der Spige 
Der vier orthodoxen Secten des Islam ftehen. Gemifchte Handelötribunale in den 
Hauptſtaͤdten, gebildet aus ſechs europäifchen und ſechs muhamntedanifihen Kaufleuten, 
bei welchen ein vom Bicefönig ernannter muhammedanijcher Praͤſident den Vorjig führt, 
entfcheiden über Anfprüche von Europäern an Eingeborne in Handelögefchäften. Ein 
geborne bringen dagegen ihre Klage gegen Europäer bei dem betreffenden Conſulate 
an. Ein aus Sachverftänvigen beftehendes Tribunal hat unter dem Vorſitze ded Con 


ſuls die Entſcheidung. Nechtöftreitigkeiten von Europäern unter fich entfcheiden bie 


Gonjuln mit einigen Beiftgern. \ 

Das Land ift in 7 Provinzen ober Departements eingetheilt, an deren Spitze ein 
Bei als Mudir ſteht. Diefe Provinzen find von ©. nah N. 1. im Paſchalik Ober- 
Aegypten (Said): 1. Provinz Edne von Wadi Halfa bis zur Stadt Deneh;, 2. Pro- 
vinz Deneh bi8 zur Stadt Minieh. U. In Mittel- Aegypten (Wuftani, welches politifch 
nicht mehr exiftirt): 3. Provinz von Minieh bis Gizeh. IM. Im Pafchalif Unter: 
Aegypten (Bahireb): 4. die Provinzen von Gizeh, Daljubiich, Bahireh mit cinem 
Mudir; 5. Die Provinzen Menufijeh und Gharbijeh mit einem Mubir; 6. Provinz 
Manfurijeb und 7. die Provinz Schargifeh und Atfihjeh. Cairo, Damiette und 
Mojette haben ihre eigne Verwaltung. Die Provinzen oder Mudyrliks zerfallen wieder 
in 64 Bezirke unter je einem Mamur; von den Bezirken zerfällt jeder in Kreife unter 
Naſirs. Unter dem Naſtr ftehen endlich die Ortsſchulzen Scheikh-el-Beleds. Mit Aus: 
nahme letzterer, welche Araber oder, auch Chriften find, find alle Beamten Türfen. 
Wenn nicht die verlangten Steuern einfommen, oder nicht die genügende Anzahl Refru- 
ten geftellt wird, fo verfährt Die NRegieruug ſolidariſch. Für das Alles muß der 
Scheikh⸗el⸗Beled und mittelbar der ganze Ort einftehen, für einzelne Dörfer des Kreifes 
halt fich die Regierung an den Naſir und mittelbar an alle Dörfer des Kreifed. Bei 
einer nicht vollzähligen Nefrutenftellung machen die Arnauten auf das betreffende Dorf 
Jagd, bis die gehörige Zahl geftellt if. Der Pafcha ift, wie einft die Pharaonen, 
Srundeigentbümer des ganzen Bodens, und Niemand darf ohne feinen Willen erblich 
2and befigen. Diefe Einrichtung flammt von Mehemed Ali her. Die monopoliftrten 
Producte find Baummolle, Indigo, Mohn, Lein und Zuckerrohr. Diefe werden von 
den Fellah, als pachtenden Tagelöhnern, auf den ihnen angewiefenen Feldern gebaut 
und in die Regierungdmagazine abgeliefert. Bei der Ablieferung erhalten fie eine 
beflinmte Vergütung auf die verfchiedenen Erträge ihrer Ernte und außerdem gegen 
Verrechnung die zur Beftelung der Aecker nöthigen Tbiere und Werkzeuge. Außerdem 
haftet eine Grundftewer, Miry, von 2 Thlr. 20 Sgr. pro Ferdan (4083,3 D.-Meter) 
auf dem Lande, wo die Fellah ihre eigenen Bebürfniffe an Getreide und Hülfenfrüchten 
bebauen dürfen. Nach einer Verordnung Sajid - Pafcha’3 dürfen fie jeßt auch Baum: 
wolle darauf bauen, indem das Monopol der Baumwolle für Anbau und Handel auf- 
gehoben if. Die .früher fehr hohe Berfonalfteuer ift feit Abba's Megierung fehr 
ermäßigt und für die Bewohner der Städte faft ganz aufgehoben... Die frühere Kopf- 
fleuer der Rajahs (Chriſten) betrug 15—20 Sgr. pro Kopf. In Folge des. Hat-hus 

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1 


— 


drüdende Steuer von 9 — / Sur. auf jede der 5 Millionen Dattelpalmen im Lande, 
und eine Steuer von 20--25 Thlr. auf jedes Schöpfrad zur Bewäflerung des Landes. 
Außerdem giebt e8 zahlreiche andere Einkünfte, wozu auch die Zölle zu rechnen find, 
fo daß ſich die Einkünfte des Paſcha auf 20 und mehr Millionen Thaler belaufen. 
Der gedrüdtefte Stand iſt Der der Landbauern, Fellah, welche, ohne eigenen Befig, der 
Negierung als felbfländige Tagelühner zur Beftellung des Feldes dienend, mit drüden: 
den Steuern und Frohnden belaftet find. Sie find faft fehlunmer daran als die Neger: 
felaven in Weftindien. Ihr Elend ift grenzenlos. Don der milden Gefinnung des 
jegigen Paſcha hofft man eine Erleichterung ihrer traurigen Lage. So hat er bie 
Einführung von Sclaven fireng unterjagt. 

Die ägyptifche Armee, welche vor Abbas Paſcha aus 30,000 Wann beftand, 
ift von dieſem vermindert ‚worden, Sie ift unter Leitung europäifcher, beſonders fran- 
zoöͤſiſcher Offiziere, ganz auf europäifchem Fuße organifirt worden. Die Gemeinen find 
Bewohner ded Landes, die Offiziere Türken. Der agyptiſche Soldat ift zwar tapfer, 
aber auch roh un brutal. Safid Paſcha hat in den letzten Jahren das Heer reorge 
niftrt und namentlich die Artillerie von preußifchen Offizieren verbeſſern laſſen. Im 
legten orientalifchen Kriege fchickte der Pafcha neue Truppen mit beträchtlicher Gel: 
unterflügung dem Sultan zu Hülfe. Die ägyptifche Kriegsflotte, eine Schöpfung Re 
hemed Ali’8, beftehend aus 38 größeren und fleineren Kriegsfchiffen, liegt nuglos m 
Hafen von Alerandria. Von den Militärfchulen, welche Mehemed Ali eingericte 
hatte, und die faft alle eingegangen find, eriftirt nur noch die polgtechnijche und bir 
mebicinifche Schule zu Cairo. Für die Muhamedaner beftehen feit alten Zeiten theole: 
gifche Schulen bei den großen Mofcheen, die zahlreich und felbft aus dem Innern des 
Eontinentd von Wißbegierigen befucht werben. 

Die Sprache des Volkes wie auch der niedern Verwaltung ift die arabiſche. 
Die Europäer (Franken) bevienen fich der Lingua franca, d. h. der italienifchen. Gei⸗ 
flige und wiffenfchaftliche Ausbildung fteht auf einer jehr niedrigen Stufe. Aberglaube 
berrfcht bier mehr als fonft im Orient. Don dem Dafein ver Gims und Welis 
(Geifter) ift Ieder feft überzeugt. Bon den ägpptifchen Zauberern, Die auch auf unjern 
Meſſen einen Ruf haben, erzählen die Reifenden die unglaublichften Dinge. So +. ?. 
laffen fie einen beliebig aufgegriffenen Knaben durch einen Spiegel Blicke in die Kerne 
thun und Perfonen und Dinge befchreiben, von denen weder der Zauberer noch de 
Knabe die entferntefte Idee haben. Die magifche Wirkung, welche die Schlangen 
beſchwoͤrer auf die giftigften Schlangen ausüben, ift befannt. (S. Aegypten, Geſchichte. 

(Handel, Induſtrie und Verkehrsmittel.) Die Bedingungen zum 
Wohlſtand Aegyptens liegen nicht in der Induſtrie, für deren Hebung die Regierung 
Mehemed Ali's nutzlos ungeheure Summen verſchwendet bat. Aber auch zur Hebung 
der Bodencultur hat Mehemed Ali ſehr viel gethan, freilich nicht zum Beſten des Vob⸗ 
kes, ſondern der Regierung. So führte er vor 30 Jahren den Bau der Baumwolle 
ein, die bald Die Hauptprobuction und den Haupterport des Landes ausmachte. Da 
Monopol der Regierung ift von Sajid Paſcha aufgehoben. Die großen Baumwollen⸗ 
ESpinnereien und Zeugfabriken, welche Mehemed Ali gegründet hatte, ließ Abbas wir 
der eingehen. Zuckerrohr wird bis jetzt nur zum eigenen Bedarf gebaut, geſotten und 
raffinirt. Die Zuckerinduſtrie hebt ſich aber immer mehr, ſo daß der Zucker bald ein 
Exportartikel werden wird. Die Seidenraupencultur iſt ebenfalls von Mehemed Ali in 
großartigem Maßſtab, mit Anpflanzung von 3 Millionen Maulbeerbaͤumen eingeführt. 
Auch viele Oelbaͤume ließ er pflanzen. Bon andern Bodenproducten wird Lein rad 
Frankreich, Seſam nah England ausgeführt; ferner Wolle, Indigo, Opium, Seide, 
Salpeter, Soda, doch in geringer Menge. Bon größeren Fabriken befteben nur nod 
Indigo>, Rum⸗, Alaun- und Salpeterfabrifen. 

Der directe Handel mit Europa wird von den großen Handeldhiufern in Alexan⸗ 
dria betrieben. Damiette vermittelt den Verkehr mit Syrien, Suez mit Indien, Koßnit 
mit Arabien, Cairo und Siut mit dem Innern. Gingeführt werben europäiſche Dar 
brifate, namentlich baumwollene und wollene Stoffe, Antimon, Spiegel, Papier, lad 











Steinkohlen, Eifen und Steingut aud England, Bauholz, Wein, Kaffee, Tabak ıc. 
aud verjchiedenen Ländern des Orients. Der Handel mit Sudan und Abyſſinien be⸗ 
ftebt in Gummi, Goldſtaub, Elfenbein, Straußfevern, Bellen, Wachs, Weihrauch, 
Safran, Opium, Senned. Die Kopten find bier die Unterhündler. Der Sflavenhan- 
del ift jegt im ganzen Lande verboten. Der Handel mit dem Innern Afrika's iſt ges 
funten, Hauptfählih weil ihn die Negierung meift monopoliſirte. Dagegen ift der 
Handel mit Europa in bedeutenden Aufſchwung begriffen. Die ägpptifche Polizei 
bietet Dem Handel hinreichende Sicherheit. Eine neue englifchrägpptifche Bank, Die noch 
im Sabre 1856 ihre Operationen beginnen follte, wird wenigftend der Wucherpflanze 
der neufranzöftjchen Greditanftalten den orientalifchen Boden verfperren. Die ägyptifche 
Münze wird nad dem Piaſter (— 2 Ngr.) zu 40 Para berechnet. Der türfijche Mes 
giddi Hat 18 Piafter, 1 Pfd. Sterl. 1001, Piaſter. 

(Xiteratur.) a den Heifeberichten von Belzoni, Caillaud, Minutoli, Lep⸗ 
us, Brugſch, Schubert, Püdler - Muskau, Cadalvcan, St. John, Parthey u. U. die 
ausführlichen Werfe von Russel, View of ancient and modern Egypt. Edinb., 1831; 
Lane, An account of the manners and customs of the modern Egyptians. London, 
1836. 2 vol.; Waghorn, Egypt. as it is in 1837. Lond., 1837; Clot Bey, Apergu 
general sur lEgypte. Par, 1840. 2 vol. mit Ch. u. 8.; Yates- the :modern 
history and condilion of Egypt, its climate, diseases and capabilities. London, 


1843. 2 vol.; Schoelcher, T’Egypte en 1845. Par. 1846; Pruner, Aegyptens 
Naturgefchichte und Anthropologie. Erlangen, 1847; E. Combes, Voyage en Egypte, 
en Nubie etc. 2 vol. Paris, 1846. - 


Aegypten. (Neuere Gefchichte.) Diefer ältefte Culturſtaat der Melt, nach bib- 
Uüſcher Tradition gegründet von einem Sohne Hams, Mizraim, hat feit Alters von den 
Stürmen der Weltgeicyichte viel zu leiden gehabt, und es naht die Zeit, wo die 
tentrale Lage, die er lange in der alten Welt einnahm, auch in der neuen ihm wieder 
wird. Ein Land, das an jeder der Entwidlungsphafen der vorchriftlichen und chrifte 
- Tihen Welt näheren Antheil gehabt bat und endlich von den Perſern den Griechen, von 
}° dieſen wieder den Römern überliefert ward, — bildete e8 auch eine der denfwürbigften 
‘7 Stätten der erften Gefchichte des Chriftentbums. Don Bedeutung für -die Kirche 
Aberhaupt wurde die alerandrinifche Katechetenfchule mit ihren großen Lehrern: Pantä- 
nnd, Clemens, Drigenes, Herafled u. a. Das Characteriftifche der ägyptifchen Lehrer 
Wdes Evangeliumd war das Beftreben, die chriftlichen Grundgedanken mit den verwandten 

zcz: oder ähnlichen in den Religionen des orientalifchen Heidenthums zu vergleichen und zu 
zit; verquiden. Dadurch vertiefte fich wohl die philofophifche Erfenntnig und Begründung 
der Lehre, aber die Lehre felbft wurde auch ihrer Durchfichtigen Klarheit und Einfach⸗ 


Ye heit beraubt, wurde vielfach verfälfcht. Man kann daher zwei Richtungen unterfcheiden : 
‚& eine Ächte und wahre mit den Drigenes, Clemens, Dionyfius, Athanafius (dem 
ch 


Verfaffer des nicänifchen Glaubensbekenntniſſes) an der Spike; und eine bäretijche 
we mit ihren Opbiten, Dofeten, Sabellianern und Arlanern. Auch auf practifchem Ge⸗ 

biete erzeugte das phantaftifche, Düftere Wefen Ber Aegypter durch die verkehrte Asfefe 
(Bahomius, Antonius) und durch den mannichfachften Aberglauben örtliche und durch 
die literarifche Bedeutung Alerandriens weithin wirkende Berirrungen. Die für ketzeriſch 
erklärte Partei der Monophnfiten wurde die zahlreichere, wählte fich ihren eigenen Pas 
triarchen, nannte ſich Die coptifche d. i. ägyptifche Kirche und legte der orthodoxen 
a: Rinderzahl, welche ihren Patriarchen don Byzanz ber befam, den Spottnanen der 
u? Kaiferchriften (Melchiten) bei. In diefem dogmatifchen Streite, der, wie gewöhnlich, 
> mit möglichfter Gehäfftgkeit von beiden Seiten geführt wurde, erſtickte das Streben nach 
„® Geiftliher Heiligung. Ja, jo weit ging die Erbitterung, daß die Kopten, um nur die 
sr Herrſchaft der Orthodoren los zu werben, im Jahre 641 den andrängennen Muham- 
medanern die Eroberung des Landes möglichft erleichterten. Amru ben Claas, der 
F 


\ 


‚ 


- Eroberer, verſchonte auch anfangs die Iafobiten oder Monophyſiten mit der Kopffteuer. 
* Darm aber wurde unter den Kalifen der fatimidifchen Linie der Drud gegen die armen 
— Chriſten immer aͤrger, und es giebt keine Schandthat, die nicht an ihnen mit ſchaͤnd⸗ 
u Meder der Handel Venedigs, welcher ſich auch auf Aegypten 


licher Luſt verübt wäre. 





romiſche Airche hiell ſit ſur Aeyer UND TEWiieruigie damit ihre PHartherzigteill. Daldpin 
eroberte das Land 1187 und führte das Syſtem der militärifchen Lehne ein, d. h. er 
wies feinen circaſſiſchen Kriegern, um fich ihrer Treue zu verfichern, große Büter, ja 
ganze Dörfer gegen dauernde DBerpflichtung zum Kriegddienfte an, und die Fellahs, 
welche dad Feld beftellten, flanden zu ihnen in dem Verhaͤltniß von Xeibeigenen, ohne 
aber verkauft oder - freigelaffen werden zu bürfen, und - entrichteten eine Abgabe 
in Geld und Felvfrüchten. Als die Dynaſtie des Sultans Saladin verdrängt 
war, brachten die Mameluden von 1250 bi8 1517 dad Land in den erbärmlichften 
Zuftand. Endlich befiegte der Sultan Selim von Conftantinopel den legten mame⸗ 
Iudifchen Sultan Tumanbai und machte Aegypten zur türkifchen Provinz unter einem 
Paſcha. Seitdem war e8 der beftändige Schauplag innerer Kämpfe zwifchen den 
Mameluden-Beys und den türkifchen Statthaltern, bis endlich der franzöflfche General 
Bonaparte ih am 19. Mai 1798 in Toulon einfchiffte, um das in Europa faft ver- 
geflene Land zu erobern und dadurch den Engländern in Oftindien beizufommen. Er 
fuchte damit den fchon ein Jahrhundert früher von dem deutfchen Staatömanne und 
Philoſophen Keibnig der franzöfifchen Regierung empfohlenen Plan ins Werk zu fegen. Bo⸗ 
naparte führte auf 194 Schiffen ein Heer von 40,000 Mann und einige Taufend Gelehrte, 
Künftler, Aerzte und Werkleute aller Art unter dem Schuge von elf Linienfchiffen und acht 
Fregatten gegen Malta, eroberte e8, ließ eine Befagung zurück, Iandete vor Alerandrien und 
nahm es dur Sturm. General Marnont nahm Rofette und Abulir. Nun ging das 
noch 30,000 Dann flarfe Heer auf Cairo 108. Bei den Pyramiden von Gizeh 
empfing fie der Mameludenhäuptling Murad Bey mit einem wüthenden Angriffe, wurde 
aber gefchlagen und mußte Cairo, welches fchnell von Ibrahim Bey verlaffen war, in 


franzöſtſche Gewalt fallen laffen (22. Juli). Aber Nelfon flug (1. Auguft) die franzöftfche 


&lotte bei Abufir (f. d. Art), die Pforte, welche Aegypten nicht franzöftjche Provinz 
werden laffen wollte, erklärte (12. Septbr.) den Krieg an Frankreich, die Einwohner 
von Gairo empörten fih (23 — 25. Septbr.) gegen die Franzoſen und ermordeten 
namentlich viele franzöflfche Gelehrte und Künftler, Bonaparte ftellte nur durch ein 
großes Blutbad die Ruhe wieder ber, zog (27. Febr. 1799) mit 18,000 Mann nad 
Syrien, erfocht mehrere‘ Siege, belagerte Das unterdeffen durch die Engländer verftärkte 
St. Iean d'Acre (f. Here) ‚vergebli und eilte, von der Peft furchtbar verfolgt, mit dem 


Reſte feined Heeres nach Gairo zurüd. Siegreich gegen die Türken zwifchen Alerandrien und 


Abulir, befeftigte er aufs Newe die franzöflfche Herrichaft in Aegypten. Zufällig er⸗ 
baltene alte Zeitungsblätter aud Europa beftimmten ibn, Aegypten zu verlafien und 
den Qberbefehl an Kleber zu übergeben. Die Lage des Heeres war bedenklich, der 
Großvezier war von Syrien mit einer großen Armee im Anzuge, Kleber ſchloß einen 
dreimonatlichen Waffenſtillſftand. Sein Brief mit der ergreifenden Schilderung von 
feiner elenden Lage an: das franzöfliche Direetorium fiel den Engländern in die Hände, 
fle forderten, daß fich Die ganze franzöfljche Armee ergeben jollte. Da wagte Kleber 
das Aeußerfte, fchlug den Großvezier, bildete neue Regimenter aus Kopten und Griechen, 
legte‘ fichere Magazine an — ward ®ber (14. Juni) von einem Türfen ermordet. 


. Abdallah Menou bekam den Ohberbefehl. England befchloß, Alles daran: zu feßen, um 


Aegypten den Branzofen wieder zu entreißen. Am 1. März 1801 erfchien die englifche Flotte 
vor Nlerandrien, nahm (18. März) Abukir (f. d. Art.), ſchlug die Franzoſen (21. März), 
bekam durch die türkiſche Flotte Verſtaͤrkung, eroberte Roſette und beſchraͤnkte mit 
Hülfe einiger glücklichen Treffen zu Lande die Franzoſen auf den Beſitz von Cairo 
und Alerandrien. Erftered ward (20. Juni) belagert und vom General Belliard unter 
der Bedingung freien Abzuges nad Frankreich (27. Juni) übergeben. Menou in 
Alerandrien, dem Admiral Gantheaume vergebend einige Tauſend Mann Verftärfung 
hatte zuführen wollen, capitulirte auch, übergab alle Kriegs- und Kauffahrteifchiffe, 
alle Karten und Sammlungen von Wegypten an die Engländer und war mit feiner 
Befagung von 8000 M. und 1307 Matrojen Ende November 1801 in Hranfreich. 
Ungeachtet von dieſer viertehalbjährigen Expedition reellen Gewinn eigentlid nur Bo⸗ 
naparte für feine Perſon davongetragen hatte, indem der Nimbus des Eroberer von 


- Uegppten weitere Erfolge in Paris ficherte; fo ift fie doch weder für Europa, noch 

















nicht hierher (j. d. Art. Mehemed Ali), auszuführen, wie e8 endlich zu den orientalifchen 
Berwidelungen in Jahre 1840 fam, wie England der Politik Frankreichs und des ihm 
völlig ergebenen Pafchad von Aegypten entgegentrat und mit den beiden deutjchen Groß⸗ 
mächten und mit Rußland fich zu dem bedenklichen Zwecke verband, dem Umflure 
der Türkei auf jede Weiſe, namentlich von Aegypten aus, zu wehren, wie durch dies 
alles aber die Dort nothmwendige Krifis nur mühjam binausgefchoben wurde. Das Er- 
gebnig für Aegypten war die Zuerfennung der direkten Erbfolge an die Familie Mehe—⸗ 
med Ali's, Die ihm ertheilte Ermächtigung, die Offizierftellen im Heere bis zum Range 
eines Oberften zu vergeben, die Erlaubniß, die Negierung des Landes nach feinem Wil- 
Ien einzurichten, und die Verpflichtung zu einem jährlichen Tribut von 60,000 Beuteln 
(10. Juli 1841). Jetzt aber entſtand ein Umfchwung, deffen vorzüglichfter Urheber 
Ibrahim Paſcha war: das alttürfifche Wejen wurde begünftigt, die europäifche Kivi- 
liſation verdrängt, der Handel mit dem Auslande erfchwert, dad Land fat ganz unter 
Mehemed Ali, feine Söhne und einige Günftlinge vertbeilt. Die Bedrüdungen dei 
Volkes fleigerten ih, wenn moͤglich, dabei noch. Dazu kamen mancherlei Pla 
gen, 1842 raffte eine allgemeine .Viehfeuche 160,000 Rinder weg, 1843 kamen zu 
Peſt und Ninderfeuche noch maſſenhafte Züge von Heufchreden und richteten ungeheure 
Verwüſtungen an, der Sclavenhandel und Negerfang, eine Weile unterbrochen, wurde 
auf's Neue begonnen und großartig betrieben, das Volk feufzte, und ganze Dörfer 
und Städte, namentlich in Ober⸗Aegypten, wanderten nach Syrien oder in die Wüſte 
aus. 1848 wurde Mehemed Ali für irrſinnig erflärt (er flarb den 2. Auguft 1849) 
und fein Sohn Ibrahim zum Paſcha von Aegypten und zum Vezier ded Sultans 
ernannt. Seine alte Kriegsluft flammte wieder auf, Behufs einer: ftarken Rekruten⸗ 
Aushebung wurde eine Volkszaͤhlung veranftaltet (fie ergab 4,500,000 Seelen), die Küften 
in Vertheidigungszuftand geſetzt und das Volk noch härter bedruͤckt. Glüdlicher Weile 
ftarb "Ibrahim ſchon nach drei Monaten, und fein Neffe Abbas Paſcha (j. d. Art) 
folgte ihm in der Regierung. Diefer machte fogleich die Rekruten⸗-Aushebung rüdgan 
gig, beichränfte die Staatdausgaben, ſchloß die Staatöfabriken, hob Die Kopffteuer, die 
Pinnenzölfe und die Handelsmonopole für die Producte aus Central-Afrifa auf und 
ſchien endlich wieder eine glüdlichere Zeit für das aͤgyptiſche Volk heraufzuführen. 
Allein da. eine ſchwaͤchliche Gutmüthigfeit der Hauptzug in dem Charakter des neum . 
Paſcha war, fo fuchten ihm die mit- folgen Maßregeln unzufriedenen Großen das 
Negieren bald fo fehr zu verleiden, daß er fich faft gänzlich in feine Schlöffer zurüdzeg 
und feine -Zeit in feinem Snabenharem. mit Tauben und Hunden zubradhte- und nur 
noch für Gelderprefjungen einigen Sinn zeigte. Ihm gegenüber bildete fich bald eim 
türfifche Partei, und Diefe brachte e8 dahin, daß die Pforte 1851 ihm befahl, den 
Zanfimat in Aegypten einzuführen, d. h. das Leben und Eigenthum eines jeden Unter: 
tbanen der Pforte nicht ohne gerichtlichen Urtheilsfpruch anzutaften, das Steuerweſen 
‚ und die Soldatenaushebung nach vorgefchriebenen Grundfägen zu orbnen, die Diet 
zeit des Militärs auf wenige Iahre zu befchränfen, jede Mißhandlung zu unterlafen, 
das Heer auf 20,000 Mann berabzufegen u. |. w., furz, die Souveränetätsrechte ab» 
zugeben. Er erlangte für eine Erhöhung des jährlichen Tributs bis zu 150,000 Bew 
teln zwar einige Erleichterungen, wie das jus gladii auf mehrere Jahre und das Recht, 
über feine Unterthanen in Frohn- und Militärdienften zu verfügen; aber er mußte fid 
dem übrigen Inhalt des Tanſimats fügen. Da traten im Sabre 1852 neue Verwicke⸗ 
lungen für die Pforte ein. Der ägyptifche Vicefönig benutzte fle ſchlau, ſchoß einen 
jährlichen Tribut vor, wurde dafür zum Erften unter den Statthaltern ernannt, em⸗ 
pfing das jus gladii auf Lebenszeit zurüd und ward zum Haupte der Familie Mehemed 
Ali's ernannt. Der „heilige Krieg" zwifchen der Pforte und Rußland forderte auch 
die Theilnahme Aegypten. Es fandte 15,000 zerlumpte und halb verhungerte Truppen 
und eine elende Flotte von 11 Schiffen. Am 12/13. Juli 1854 ward Abbas auf 
feinem Divan todt gefunden. Sein Palaft war geplündert und zwei feiner Mameluken 
entfloben. Ihm folgte fein Obeim Sajid Paſcha, im J. 1822 geboren. und in 
europäifcher Bildung erzogen. Cr bat bald nach dem Antritt feiner Regierung mehrere - 








allmählich verfandet und dadurch unbrauchbar geworben iſt, feheint fo ziemlich außer allem 
Zweifel. Kotſchy hatte im Jahre 1855 Gelegenheit, dad Terrain des projectirten Sug- 
canald zu durchziehen und die Bonenverhältniffe dort aus eigner Anfchauung kennen zu 
lernen, und er fpricht in feiner Schrift Die Meberzeugung aus, Daß die Gefahr der 
Berfandung für jenen Canal hauptſächlich von Oſten komme, wo die bei weitem grö- 
Bere Hälfte der Wüſte liegt, und diefelbe nur durch Anbau und Vervielfältigung ber 
ſchon vorhandenen Vegetation abgewendet, werden Eönne. Nachdem Kotfchy den von 
ihm zurüdgelegten Weg feizzirt und ein Bild der Vegetation der Wüfte und ihres 
Saumed gegeben, wo Nil-Schlanm und Wüftenfand fich frheiden und vermengen, fagt 
derfelbe: „— — Id muß bemerken, daß während unjerer Reiſe der NO.⸗Wind wie 
derholt die, oberfte Schicht ded Sandes langfam, fie etwa einen Kup über die Oberfläde 
ded Bodens erhbebend, nah SW. zu bewegte, was den Anfang der fpäter im Som: 
mer während der Nil» Ueberfhwenmung vorherrfchenden Sturmwinde aus jener Hin« 
melögegend angedeutet haben dürfte. Schr nothwendig wäre es daher, vor allen 
anderen Arbeiten den Iſthmus in meteorologifcher Bezichung ſtudiren zu laſſen, um zu 
fehen, wie flarf die Winde find, welche Sandwolfen bilden, in welchen Maſſen und wie 
hoch diefelben gehoben, dann, in was für eine Entfernung fie fortgetragen werden. Waͤh⸗ 
rend der heißen Ehamafin-Winde, fo wie während der Nil⸗Ueberſchwemmung, wo Nord: 
winde jo anhaltend und beftig find, müßten Beobachtungen angeftellt werden. Bei einem 
Bau von diefer riefigen Größe, mie der Canal, darf man ſich nicht Damit begnügen, 
die Sanddüunen der Weltfeite des Canals allein zu bebauen, ehen fo nothwendig, ja weit 
gewichtiger muß und der Anbau von Vegetation auf deſſen Oftfeite erfcheinen, denn 
dort liegt die eigentliche Sandwüfte, dorther droht früher oder fpäter die Vereitelung 
ded. ganzen Werkes, gegen die der Menjch nur allmählich und höchſt unvollftändig wird 
anfämpfen können. Der Regelmäpigkeit der Winde jener Gegend können wir fein zu 
großes Bertrauen fchenfen, denn wie veränderlich ihre Richtung iſt, zeigen binlänglid 
verfchieden daftehende abgerundete Sandfegel. Das einzige Mittel, ſpodurch Verwehun⸗ 
gen abgehalten werden können und welches dem Menſchen hier zu Gebote ſteht, giebt 
ihm die Natur ſelbſt, er muß ihr aber durch die Kunſt hülfreich an die Hand gehen 
‚und durch Vermehrung der Vegetation auf erweiterte Strecken ed dahin zu bringen 
fuchen, daß Feine Sandwolfen entftehen, und wenn fte aus weiter Ferne anftürmen, fie 
doch, bevor fie den Kanal erreichen, unfchäblich werben, d. h. niederfallen, indem fie 
fi an den Hindernifien aufldjen.” — — Zu diejer gänzlihen „Ummandlung der 
Vhyſtognomie der Landenge von Suez hält Kotſchy allerdings die Weftfeite für gün 
iger als die Oſtſeite des Fünftigen Kanald; namentlich dürfe man bei dem rein jan 
digen, Eiefeligen Boden, dem Mangel an Regen während der heißen Jahreszeit und ber 
bedeutenden Teniperatur biefes Sanded nicht an den Anbau von Nußpflanzen denen, 
fondern zuvörberft müfle man auf die Vermehrung der bereitd dort vorkommenden 
Pflanzen und dann auf Einführung folcher denken, welche ähnliche Boͤden- und Klin« 
bedingungen ertragen Eönnen. Ein vollftändiger Erfolg fei freilich erft zu erwarten, 
wenn in der angebeuteten Weile durch mehrere Menjchenalter hindurch die Vegetation 
ausgebreitet worden fei; nur dann erft fei an eine wirkliche Bewaldung des Iſthmus 
zu denken. Dem gegenwärtigen Unternehmen des Suezkanals jcheint —amitgper Stab 
gebrochen zu fein. (©. Sue.) Bon Fr. v. Szarvady, einem in Paris lebenden Ungarn, 
erfhien bei Brodhaus eine Schrift über den Kanal, die Eeinen Zweifel an feine Zus 
funft aufkommen laffen will; ähnlich E. Desplaces in feinem oben citirten Buche. 
Aham. Die Aham's find, nach Bucelini, eines Stammes mit den Bannerherren 
von Hagenau; für den Ahnherrn des Gefchlehts gilt Siboto Aheimer, der um 
849 genannt wird. Rüdiger Aham, Domherr zu Paſſau, der mit Kaifer Friedrich 
ind gelobte Kand zog und für einen von deſſen vornehmften Feldherrn galt, eroberte 
1189 Cogni und ftarb an der Peſt. Mit Rüdiger's Bruder Edard beginnt bed 
Haufes ununterbrochene Geſchlechtsreihe. Sein Geſchlecht blühete in drei Linien, die 
Neuhaufer, die Wildenauer und die Hagenauer. Veit Aham befaß ſchon 1383 bie 
Veſte Neuhaus am Inn, die heute noch Sie des Geſchlechtes if, Wilhelm war 








deutſchen, Ach, Acha ım Vberdeutſchen = ſließendes Waſſer, befand eigentlich aus 
‚zwei Aemtern, dem Amte Ahaus und dem Amte zum Homborn auf dem Bram (ſprich 
Braam), davon erftered 1406 an's Hochſtift Münfter gefommen war, letzteres aber, 
ſammt den Städten Borken und Vreden, feit undenflichen Zeiten einen Veſtandtheil 
deſſelben gebildet hatte. ” 

In jedem der beiden Aemter Ahaus und Bocholt ftand ein Amtsdroſte den Ge⸗ 
ſchäften vor, welche die geſammte Polizei- und Finanzverwaltung umfaßten. Er hatte 
einen Apjunften neben fich, welcher, fo wie der Amtödrofte felbft, au3 den alten Ges 
fchlechtern der Nitterfchaft des Hochftiftö beftellt wurde. Zu jeder Amtöproftei gehörte 
ein Amts⸗Rentmeiſter, der gewöhnlich den Titel eines fürftbifchöflichen Hof- Kammer 
Raths führte, und zuweilen auch einen Adjunkten hatte; ſodann der Amtöfchreiber, der 
Amtsmedicus oder Phyſicus, und das erforderliche Unterperfonal. In jedem Kirch: 
fpiele gab e8 einen Receptor für die Hebung der Steuern, Renten und Gefälle, einen 
Vogt, auch Obervogt, Haudvogt in manchen Kirchfpielen genannt, für die Polizeiver- 
waltung, und einen Führer, auch Oberführer, und einen Amtsjäger für die Forftaufſicht 
in denjenigen Kirchipielen, wo ſich Iandesfürftlihe Waldung befand. Als Poligei- 
Beamte ftanden dieſe Amtsjäger unter den Amtsdroften, als Forſt⸗Techniker aber un 
mittelbar unter dem fürftbifchöflichen Ober-Iügermeifter- Amt zu Münfter. | 

- gu Ahaus befand fich ein Iandesfürftliches Luſtſchloß mit Hofgarten und 3% 

anerie. 
Fire die Pflege des Nechts und der Gerechtigkeit beftanden im Amtsbezirk Ahaus 
mehrere Gerichte, und zwar: 

Das Gericht Ahaus, zum fteinernen Kreuz und Ottenſtein über die Kirchfpiele 
Ahaus, Alftätte, DOttenftein, Weſſum und Wüllen. 

Das Gogericht Borken, deſſen Richter Gograf zum Homborn des Amts aufm 
Bram hieß, und das Kirchfpiel Borken zum Gerichtöfprengel hatte. Unter dad 
Gogericht gehörten: das Gericht Gejcher über dieſes und dad Kirchfpiel Heyden; dad 
Gericht des Kirchfpield Stadtlohn; das des Kirchſpiels Südlohn mit den kirchſpil 
Ramsdorf, Groß⸗ und Klein⸗-Recken, Velen. 

Das Stadtgericht Borken, aus einem Richter und zwei Aſſeſſoren beſtehend. 

Die Gerichte der Wigbolde Ramsdorf und Stadtlohn, zu dem die Bauerſchaft 
. Weſſendorf gehörte; das Gericht der Stadt Vreden nebft dem Kirchfpiele; das Gericht 
Weſeke, Das ſich auch über die Bauerfchaft Wierte des Kirchjpield Borken erftrerfte. 
| Alle diefe GerichtSbehörden waren unmittelbare Tandesfürftliche; mittelbare dage⸗ 
gen: Die Graf Merveldifche Gerichtöbarkeit Lembeck über Die Kirchfpiele Erle, Herveſt, 
Holfterhaufen, Lembeck, Rade, Schermbed und Wulfen; — das Gericht Lippramsdorf 
in der Herrlichkeit Diftendorf; — die freiherrliche Landsbergiſche Gerichtöbarfeit zu 
Belen, den Stammorte der 1733 erlofchenen Grafen von Velen, die zu Raesfeld ihren 
gewöhnlichen Sitz gehabt hatten, das aber von da an — die gräflich Liniburg- St 
rum'ſche Gerichtöbarkeit der Herrlichkeit Raesfeld bildete. 

Im Amte Bocholt beftand dad Stadt» und Landgericht zu Bodpolt und bad 
Gericht zu Dingden. 

In allen diefen Gerichten, mit Ausnahme der zu Borken, zu Ramsborf und zu 
Bocholt, welche collegialifche Einrichtung hatten, fo zwar, daß das Bodholter, wenn 
es als Landgericht ſaß, 5 Schöffen zu Beifigern hatte, waren Einzeleichter nebft Ge⸗ 
richtöfchreiber, und bei jedem Procuratoren; bei den meiften befand fich ein Advoca- 
tus fisci. 

Der Regierungd > und Hofrath zu Münfter bildete die höchfte Inſtanz; eine 
Zwifchenftufe das weltliche Hofgericht ebendafelbfl. Wer fich aber nicht bei den Sprüchen 
des Regierungs⸗ und Hofraths beruhigen wollte, der ging an die höchften Reichdge 
richte, den Reichshofrath zu Wien, oder an's Faiferliche Reichskammergericht zu Weglar, 
bei welchem letzteren nicht alfein der Fürftbifchof feinen beftändigen Procurator bielt, 
fondern auch das Domcapitel und mehrere Stifter, die gefammte Ritterfchaft, die Stadt 
WRünfter, verfchiedene Familien die ihrigen; denn der Fürſtbiſchof zu Miünfter batte 
nicht, wie Feiner feiner geiftlichen Mitftände, das jus de non appellando erlangt. 











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farben. Eine Erbtochter dieſes Hauſes brachte Die Herrfchaft Anholt ihrem Gemahle, 
Johann von Bronkhorft, zu. Des Grafen Iakob von Bronkhorft Söhne, Dietrich II. 
und Johann Jakob, theilten die mütterliche und väterliche Verlaſſenſchaft, da denn Graf 
Dietrich zu feinem Theil die Herrfchaft Anholt mit’ ihrem Zubehör, als den anfehn- 
lichften Theil der Erbſchaft, Johann Jakob aber die anderen Güter befam. Jeder bin- 
terließ eine Tochter. Als fich Dietrich's Tochter, Maria Anna, mit dem Fürften Leo: 
pold Bhilipp Karl zu Salm vermählte, fchenkte ihr der Vater bei feinen Lebzeiten 
1641 alle feine Güter und unter diefen auch die Herrfchaft Anholt, welche Schenfung 
Kaifer Ferdinand III. beftätigtee So ift dieſe Herrſchaft, Die bereits feit 1571 durch 
Kuifer Marimilian Il. das Müngrecht befaß, an das fürftlide Haus Salm gekommen, 
deswegen dafjelbe Sig und Stimme int weitfälifchen Reichsgrafen⸗Collegio und auf 
den weftfälifchen Kreistagen hatte. Doc fland Anholt weder in der HMeichd- noch 
in der Kammer » Matrifel. Auch maßten ſich die Staaten derniederländifchen Provinz 
Belderland noch im 18. Jahrhundert die Oberbotmäßigkeit über die Herrfchaft an, die 
allerdingd in früheren Zeiten ein gelvernfches Lehn geweſen war, aber ſchon von Kal 
fer Kaͤrl V., als er Geldern befam, aus deffen Lehnſchaft entlaffen worden fein foll. 
Zu einer Neichd- und Kreisflandfchaft - wegen ihrer neuen Beflgungen im vor 
maligen Hochftift Münfter haben es die beiden Fürften Salm nicht gebradt. Nm 
Gegentheil gehörten beide mit zu vbenjenigen, Die, indem fle fich dem gewaltigen 
Führer des weftlichen Erbfeindes der Deutfchen, bem Häuptlinge Frankreichs, mit dem 
angemaßten Kaijertitel, unterwarfen, durch Unterzeichnung des Parifer Machwerks, der 
Nheinbund » Ucte vom 12. Juli 1806 dem Heil. Römifchen Reiche Deutfcher Nation 
den Todesftoß verfeßten. Bon Buonaparte’3 Gnaden mit der vollftändigen Souveraͤ⸗ 
netät befleidet, brachen, mit Genehmbaltung ihres Schuß» und Schirmherrn, die Ahein- 
bündler den Stab über eine große Menge ihrer fonftigen Mitftände und Genoffen, de 
ren Ränder fie den ihrigen mir nichts Dir nichts einverleibten. So auch der Fürſt zu 
Salm-Kyrburg, der die vom Amte Ahaus ringsumfchloffene, unmittelbare freie Reihe 
berrfchaft Gehmen mit feinem Gebiete vereinigte. Diefe Herefchaft, deren Bellger Sit 
und Stimme im weftfälifhen Neichögrafen-Gollegio und auf den meftfälifchen Kreis⸗ 
tagen hatten, gehörte feit 1640 dem reichsgräflichen Haufe Limburg⸗Styrum, befand ſich 
aber 1806, als Fürft Salm-Kyrburg fie politijch todtfchlug, in den Beſitze des reichäftei- 
herrlichen Haufes Bömelberg, an das fie durch Heirath mit Ifabellen, Erbtochter bed 
1800 erlofchenen Haufes Limburg-Styrum, gelangt war, ebenfo die Herrlichkeit Raesfeld. 

In der Mitte des Jahres 1809, als der Mheinbund, berüchtigten Angedenkens, 
den Scheitelpunft feiner Größe erreicht hatte und in der höchften Blüthe ſtand, da hat 
ten die beiden Fürſten Salm ein Gebiet, deſſen Bodenflaͤche man mit Einfchluß von 
Anholt auf 31 D.-Meilen ſchaͤtzte, und es hatte ber 

Fürſt Salm-Salmı 39,390 Untertbanen, 150,000 Fl. Einkünfte, 
Fürft Salm-RKyrburg 19,695 ; 80,000 „ : 

Beide zufammen mußten 323 ihrer Untertbanen bewaffnen und fie dem Schup 
und Schirmherrn ftellen, der die münfterfche Jugend, echt deutfches Blut, in den Ge 
filden und den Einöden der fpanifchen Halbinfel, im unfinnigften aller von ihm geführ⸗ 
ten Kriege, verbluten ließ und ftet& Erſatz forderte. 

Mögen die Salm’fchen Fürften ob dieſes immer wiederkehrenden DBerlangend um 
willig geworden fein und dadurch den Zorn des Branzofen-Häuptlings auf fid) geladen 
baben, wer weiß das heut zu Tage noch? Aber zornig, fehr zornig war der Gewalt 
haber, denn er löfchte amı 26. December 1810 den Fürften von Salm-Salm und den Fürſten 
von Salm - Kyrburg auf der Lifte der Aheinbundfürften mit einem einzigen Federſtrich, 
und erflärte nad) gewohnter Weife: das Haus hat aufgehört zu regieren! Die Lande 
deflelben wurden mit einen Departement des vormaligen Königreichs Holland vereinigt, 
das er feinem Bruder Ludwig genommen hatte, weil der nicht unbedingt nach ber kai— 
jerlichen Pfeife tanzen wollte, fondern die — Frechheit hatte, ſich als fouverainer Het 
zu fühlen! Holland ward durch eben daſſelbe Decret, welches die Salme zertuat, dem 
glorreichen Meiche der grande nation einverleibt; jenes Departement aber, dem Die 
Salm'fchen Lande nebft anderen Theilen des alten Münfterlandes fammt ber Hauptſtadt 


zöſiſch 188e1l superieur nannte, wel man ın Paris glaubte, Das niederdeutſche Wort 
„Over“ fei gleichbedeutend mit dem hochdeutſchen „Ober“, Yssel ullerieur hätte es 
beißen müflen. 

In Münfter aber, der Stabt, erhob man ein Zetergefchrei, daß die alte Bifchofs- 
ſtadt nicht die Ehre Haben follte, einen Vräferten innerhalb ihrer Mauern zu begen. 
Deputationen über Deputationen wurden entfendet nad Paris, um DBuonaparte anf 
andere Gedanken zu bringen; man ließ ed nicht an fogenannten Artigfeits » Beweifen 
und an Flingenben Beweiſen der Huldigung fehlen, deren Klang man in der — Haupt» 
ſtadt der Welt immer ſehr gern gehört hat! Sie hatten Erfolg, denn Buonaparte ſchuf 
am 28. April 1811 ein Departement der Lippe, dem die vormals fouveränen Lande 
des Haufes Salnı zugelegt wurden. Uber wie wurden fle in abminiftrativer Hinficht 
zerlegt, zerfchnitten! Drei Unterpräfecten hatten daran ihren Theil; der zu Münfter 
(der Präfeet felbft), der zu Mees und der zu Steinfurt. Alle war, wie ſich von felbit 
verfteht, nach franzöfifchen Zufchnitt, Gefeßgebung, Verwaltung, Rechtspflege, Steuern, 
— geheime Polizei und öffentliche, gehandhabt durch übermüthige Marechaufjee'd, nun 
mehro Waffenlente, Gensd'armes genannt. Bon den Salm’fchen Landen gehörten zum 
Arrondiffement Münfter: die Mairien Lembeck und Reden im Ganton Haltern; zum 
Arrondiffement Need: die Mairien: Anholt, Bocholt, Dingden, Lindern (Kirchfpiel 
Bocholt), Rhede im Banton Bocholt; die Mairien Borken, Gehmen, Heyden, Marbed 
(Kirchſpiel Borken), Raesfeld, Ramsdorf, Velen, Wefefe im Banton Borken; zum 
Arrondiffement, Steinfurt: die Mairien Ahaus, Amelo, Ottenftein, Vreden und Weſſum, 
welche den Canton Ahaus bildeten. 

Diefer Zuftand dauerte bis zu Anfang des Nobember- Monats 1813, nachdem 
auf den klutgetränkten Feldern von Leipzig der heilloſen Franzoſen-Wirthſchaft in Deutj- 
land mit Schimpf und Schande ein Ende gemacht worden war. 

Die Beſchlüſſe des Wiener Eongreffes gaben den Bürften Salm die ihnen von 
Buonaparte verliehene und dann nad) wenigen Jahren, geraubte‘ Souveränetät nicht 
zurüd. Die GongreßsActe vom 9. Juni 1815 ftellte im Art. 43 „die Herrfchaften 
Ahaus, Bocholt und Anholt, die den beiden Zweigen des Hauſes Salm gehören, “ 
unter die Botmäßigfeit ded Königs von Preußen, der auch die Herrfchaft Sehnen des 
Freiherrn von Bömelberg unterworfen wurde, als welche in dem Art. 43 ausdrücklich 
genannt ift, wodurch deren Mediatifirung durch den FZürften Salm⸗Kyrburg vom Wiener 
Gongreß nicht anerfannt wurde. Obwohl den mebiatifirten Fürften durch Art. 14 der 
Wiener Congreß-Acte manche Norrechte gewährleiftet worden waren, infonderheit Die 
Nechtöpflege im erften Nechtögange für bürgerliche Streitfachen wie für peinliche Fälle, 
jo bielt e8 die preußifche Regierung doch nicht für angemeifen, dem fürftlichen Haufe 
Salm weder dieſes Necht, noch das Recht der örtlichen Polizei- Verwaltung einzuräus 
men; man Fam mwegen Ablöfung Diefer durch den feierlichften Staatsact verbrieften Ge⸗ 
rechtiame überein. 

Die ſalmſchen Beflgungen wurden der Regierung zu Münfter untergeben, eben fo 
die Herrfchaft Gehmen. Den preußifchen Verwaltungsſyſteme getreu, theilte man ben 
Bezirk diefer Regierung in Kreife und feßte einem jeden Kreife einen Yanbrath ober 
einen Kreis⸗-Commiſſar vor, wie diefer Beamte Anfangs hieß. Hatte aber ſchon Die 
feanzöftfche Verwaltung Landestheile auseinander geriffen, die feit Jahrhunderten 
zufammen gehört hatten, fo folgte auch die preußifche Regierung diefem Beijpitle 
nach und fügte zufammen, was nie beieinander gewefen war, jo weit die Erinnerung 
an die fürftbifchöfliche Negierung zurüdreiht. Die franzöſiſche Verwaltungs » Marime 
der Mairien, die vorgefunden wurde, fand man ganz bequem; man bebielt fie bei und 
nannte Diefe Fleinen Berwaltungdbezirfe DBürgermeiftereien, ihre Vorſteher Bürgermeir 
fter, mogten diefe nun über Bürger, d. h. Stadtbemohner, oder über Bauern, d. 5. 
Bewohner ded platten Landes, das Megiment führen. Die falmfchen Lande wur 
den unter vier Kreife, vertheilt. Es gehören zum Kreife Borfen, der ganz ſalmſch 
ift: die Bürgermeiftereien Anbolt (die beiden Städte Anholt und Werth enthaltend), 
Bockholt (die Stadt, man fchreibt jetzt Bocholt), Rhede, Lindern (Kirchfpiel Bockholt 
außerhalt der Stadt), Dingden, Velen, Ramsdorf, Wejede, Reden (beide Kirchſpiele 


Pr 





DEsusi), WIYHUEN, ODER, KIIAVL), IRUEDER pieti Votten MUBTEYURED DIL NORD), 
Raesfeld und Gehmen die Herrlichkeit; zum Kreife Aha use die Bürgermeiftereien Ahaus 
(Stadt Ahaus, Kirchfpiel Wüllen und das nicht falmfche Kirchfpiel Legden), Wellum, . 
Ottenſtein (mit Alftätte), Vreden (vie Stadt), Amelo (Kirchfpiel Vreden außerhalb der 
Stadt), Stadtlohn (Stadt uud Kirchfpiel), Süpdlohn (mit Oeding); zum Kreife Coesfeld 
(fprich Koosfeld): Die Bürgermeiſterei Gefcher und das Kirchfpiel Lippramsdorf' zur 
Bürgermeifterei Haltern; zum Kreife Recklinghauſen: die Bürgermeiftereien Lembeck 
(die Kirchfpiele Lembeck, Wulfen und Herveft), und Altſcherubeck (die Kirchfpiele Alt 
fchermbed, Rade, Erle, Holfterhaufen) enthaltend. 

Das Franzöflfche Geſetzbuch, Napoleons Eoder genannt, wurde außer Kraft geſetzt 
und das Preußiſche Landrecht mit den damit zuſammenhangenden Gerichts⸗ ac. Ord⸗ 
nungen auch in den Salmſchen Beſitzungen eingeführt, vorbehaltlich der Nechtäbeftän- 
digfeit altmünfterfcher Hochſtifts-Ordnungen, Ortöftatuten u. f. w. Es wurden Land» 
und Stadtgerichte organifirt, und auch hierbei durch Trennen und Binden hiſtoriſch 
nicht zufammengehörig gewejener Gerichtö-Eingefeifenen ganz willfürlich verfahren, man 
nahm eine Zandfarte zur Hand, und trug darauf die Umgrenzungen der Gerichtöfprengel 
ein, um die nach Bodenfläche und nach Kopfzahl der Bevölkerung fo gleichförmig als 
möglich zu machen. So entftanden die Land» und Stadtgerichte zu Bocholt, deſſen 
Bereich die Städte Anholt, Werth und Bocholt, und die Kirchfpiele Bocholt, Rhede 
und Dingden umfaßte; Borken: die Stadt und das Kirchſpiel Borken, die Kird- 
jpiele Ramddorf, Velen, Wefeke, Reden, Raesfeld und Heyden, aud) Gehmen; Stadt: 
lobn: die Stadt und Das KHirchfpiel Vreden, die Kirchipiele Stadtlohn, Südlohn und 
Gefcher, mit dem Sitze in Vreden. . Diefe drei Gerichtöfprengel enthielten ausfchlieplid 
ſalmſche Eingefellenen; dagegen das Land- und Stadtgericht zu Ahaus nur die Kird- 
jpiele Ahaus, Wüllen, Weſſum und Alftätte; Haltern: die Kicchfpiele Lipprameborf, 
Lembeck, Wulfen, Herveſt, Altſchermbeck, Rade, Erle, Holſterhauſen. 

Jedes dieſer Gerichte hatte einen Land⸗ und Stadtrichter und zwei Beiflger mit 
dem gehörigen lLinterperforfal. 

Die Juſtiz-Organiſation von 1849 bat Hierin eine wejentliche Aenderung vorge⸗ 
nommen. Es wurden collegialiſch eingerichtete Kreisgerichte zu Borken und Ahaus 
beſtellt, mit einem Director und mehreren Raͤthen, und in den anderen bisherigen Land⸗ 
und Stadtgerichts⸗Orten Deputationen oder Commiſſionen, beſtehend aus einem Kreid 
richter und einen oder zwei Hülfsarbeitern. Wider die Sprüche dieſer Gerichte wird 
beim Appellationdgericht zu Münfter, früher Ober⸗Landesgericht genannt, Berufung ein 
gelegt. Peinliche Faͤlle fehwererer Art werden durch das Schwurgericht erledigt, wel 
ches für Die Salm'ſchen Lande beim Kreiögericht zu Borken abgehalten wird. 

Die Linie Salm-Salm des Hauſes Ober-Salın, 1857 vertreten durch den Für⸗ 
ften Alfeed Gonftantin Alerander, geb. 26. December 1814, der feinem Vater, Florentin, 
am 2. Auguft 1846 folgte, ift feit längerer Zeit im alleinigen Befig der Aemter Ahaus 
und Bocholt, nachden ſie fich mit der Linie Salmsstyrburg abgefunden bat. Bei Er 
richtung der Vrovinzialftände - für die Provinz Weftphalen wurde dem Fürften Salm- 
Salm eine Birilftimme im erften Stande verlieben, kraft des Gefebes von 27. Mär 
1824, und er wegen des Fürftentbumsd Ahaus-Bockholt und der Herrfchaft Anholt. 
1847 zum erblichen Mitglieve der Herren-Eurie des vereinigten Landtages, und ebenſo 
nach dem neuen Grundgefeh für Die preußijche Monarchie zum erblichen Mitgliede des 
Herrenhauſes berufen. Der zwar nicht de jure, aber doch de facto in die Klaffe der 
preußifchen Standesherren getretene, ehemalige Neichöftand hat indeſſen dieſem Rufe 
bis anhero, 1858, nicht Bolge geleiftet; vielmehr haben ich von feiner und von Gei- 
ten der vormaligen Reichöfürften, die ſich in derſelben Lage befinden, über die Rechts⸗ 
gültigfeit der preußifchen Staatöverfafiung in Beziehung auf fie und auf die ihnen 
durch die Wiener Beichlüffe von 1815 gewährleifteten Vorrechte und Prärogative Be: 
denken erhoben, deren Erledigung annoch in der Schmebe ift. 

Dem Fürſtenthum N legt man in neuerer Zeit einen 
Slächen-Inhalt bei von . . nen: 27% O.⸗Mln. 

Und der Herrſchaft Ynholt einen von. Ba ; Y_ 


are 28 D.-Rin, 














Kurprinzen von Hannover, Georg Ludwig von Braunfchweig-lüneburg, vermählt. Leb⸗ 
haft, fcharflinnig, ungewöhnlich fchön, kam Sophie Dorothea, ein verzogenes Kind, an 
den Hannover'jchen Hof, mo die fteiffte Etikette herrfchte, wo ſie keinen Freund fand, 
fondern einen verfchloffenen, wortfargen Gemahl, ‘ver fie nur aus Politik zur Ehe ge 
nommen, feine Liebe aber längft einer andern Frau gefchenft hatte. Bald Batte die 
Kurprinzeffin eine mächtige Partei gegen fich, an deren Spitze die Gräfin Clara Elifabeth 
Platen, des Kurfürften Ernft Auguft Favoritin, ftand. Sophie Dorothea wurde Die Mutter 
von zwei Kindern, eine& Prinzen und einer Prinzeffin, aber ihre Stellung wurde im 
mer fchwieriger, ihr Spott fehonte die Gräfin Platen nicht, und dieſe fann auf Radı. 
Vergebend hatte Sophie Dorothea ihren Vater um Schub gebeten, er Tiebte feinen 
Bruder, den Kurfürften Ernft Auguft und glaubte nicht, daß die Schuld allein auf 
feiner Seite fei. Allerdings hatte er Recht in diefem Punkt, denn Sophie Dorothea 
ließ ich durch ihre Heftigfeit und ihre Unbefonnenbeit oft zu Schritten binreißen, in 
denen Böswillige leicht mehr und Schlimmered ſehen fonnten. Von ihrem Vater ab» 
gewiefen, beredete fie mit ihrer Freundin, Bräulein von dem Kneſebeck, und ihrem Jugend: 
freunde, dem Grafen Chriftopb Philipp Königsmard, den man ohne außreichenden 
Grund als ihren Geliebten bezeichnete, einen Sluchtplan. Am Abend vor der Flucht, 
Sonntag, den 1. Juli 1694, ging Graf Königemard in's Schloß zu Hannover, a 
verließ die Kurprinzeffin erft" kurz vor Mitternacht, und ift feitbem nicht wieder gefehen 
worden. Wahrſcheinlich wollte man ihn nur verhaften, aber der folge ritterliche Graf 
jegte fich unerfchroden zur Wehre und fiel, ein Opfer für die Nache der Gräfin Platen. 
Seine Leiche ift an einer noch heute nicht bekannten Stätte im Schloffe vermauert. 
Die Kurprinzefiin und Sräulein von dem Knefeberf wurden in felbiger Nacht noch verbafte 
und fireng bewacht. Sophie Dorothea wurde nun zunächft zu ihren Water zurüd: 
gefchickt, dieſer ließ fle nach dem Schloffe zu Ahlden an der Aller bringen. Wäre 
Sophie Dorothea fchuldig gewefen, man würde ihr hanndverſcherſeits nicht mehrfach eine 
VBerföhnung angetragen haben. Selbft ihr Gemahl glaubte nicht an eine Untreue; bie 
genauefte Unterfuchung Fonnte keine Schuld in diefer Beziehung finden, und endlih 
nahm fle feierlich Das Abendmahl darauf, daß ihr Verhaͤltniß zu dem Grafen Chriſtoph 
Philipp Königsmard unfträflich gewefen. Dieſen Thatfachen gegenüber find die Ve— 
hauptungen eined Vehſe und ähnlicher Scribenten völlig nichtig und zeigen ſich, mie 
faft immer, nur auf den Scandal berechnet. Nicht der Kutprinz, fondern Sophie De 
rothea ſelbſt fchlug jede Ausfühnung aus, denn man hatte fie zu tief gekraͤnkt, ſie Eonnte 
nicht mehr mit ihm leben. Auf ihr Verlangen wurde fie am 28. December 1694 ge 
fchieden. In Ahlden hat Sophie Dorothea über 32 Jahre lang gelebt, von diefem Schloſſe 
führte fle den Titel einer Herzogin von Ahlden. Sie hielt einen fürftlichen Hof 
ftaat und befchäftigte fich viel mit Literatur, auch unterhielt fle einen lebhaften Brid- 
wechfel, befonders mit ihrem Sohne, dem Könige Georg II. von England, und ira 
Tochter, der Königin von Preußen (Mutter Friedrichs des Großen); ihre Mutter theilt 
oft ihre Einfamkeit in Ahlden. 1706 beerbte fie ihren Vater Georg Wilhelm un 
verwaltete Durch eigend Dazu von ihr beflallte Näthe die Aemter, aus denen fie ihr Ein 
kommen bezog. 1722 verlor fe ihre Mutter und beerbte fle, aber auch Die reiche Erb: 
fchaft änderte nichts in ihren ftillen Leben, fle wurde mehr und mehr eine Wohl 
thäterin der Armuth. Sophie Dorothea flarb am 13. November 1726-— von ihren 
Sohn ftammen das Füniglich großbritannifche und das koniglich hannoverſche Haus: 
von ihrer Tochter das Föniglich preußifche. Die Herzogin von Ahlden Tiegt zu Cell 
begraben. | 

Ahlefeld, (neuerdings auch A— dt).- Die ältefte Heimath dieſes vornehmen Ge 
fchlechtes ift wahrfcheinlich Schwaben, der Name aber kommt von dem Stadtchen Alfeld 
oder Ahlefeld im Hildesheimifchen, dad Hunold aus dem Stamme der ſchon im Anfang 
des 13. Iahrhunderts erloichenen fchwäbifchen Dynaften von Schwabe und Baltshauftr 
nach Mitte des 11. Rabrbunderts erwarb. Diefen Hunold, der fich nach feinem Beil 
einen Grafen von Ablefeld genannt baben foll, betrachten alle Ahlefeld als Ihren ge 
meinfamen Stammpvater, Gin Enkel diefes Kunold, Gonrad, begab ſich wegen Ser 
ichievener Händel mit dem Biſchof Yon Hildesheim aus dem Lande iind nahm Dienjle 














gezeichnet, die beruhmte Sertbeidigung von Kolberg mitgemacht unD fur ſeine Tüchtig— 
feit mit dem Hauptmannsrange und dem Orden pour le merite belohnt worden war, 
Die Heilung der Kolberger Wunden batte ibn nach Nenndorf geführt. Seine Brab- 
heit, fein offenes foldatifches munteres Weſen gewannen ihm bald Dad Herz Elifens 
und es bildete ſich ein Ginverftänpnif, deſſen Fortſetzung Die zärtlicdhe Mutter nicht ent: 
gegen fein Fonnte, als Lützow wieder nach Berlin, ſie mit der Tochter wieder nad 
Ludwigsburg zurüdgefehrt waren. Doc der Water widerfegte ſich einer Verbindung, 
die ihm weder hinſichtlich des Ranges noch des Vermögens den Anfprüchen gemäf 
fchien, Die er an feinen Fünftigen Schwiegerfobn madyen zu müjlen glaubte, bis ent» 
lich die Standbaftigfeit der Tochter feinen Sinn beflegte, und er nur die Bebingung 
ftellte, daß Lützow den preußifchen Dienft verlaffen jollte, um bei Gelegenbeit in einen 
paffenden dänifchen einzutreten. Dies gefchab auch und die Hochzeit fand am 20. 
März 1810 ſtatt. Das junge Ehepaar begab fich einjtweilen nach Berlin. Inzwiſchen 
batte die Ungunft der Zeit und der ungebörige Aufwand ihren Vater in immer gr 
Bere Verwirrungen gebracht, jo daß der Tochter die ihr beftimmten Ginfünfte entgingen, 
Der Kummer bierüber und die Trennung von ihrer geliebten Tochter hatten Die Mut: 
ter fo niedergebrüdt, daß fie am 30. März 1812 zu Kopenhagen farb. So mahte 
dem jungen Paare unter eigenen Bebrängniffen, Die jedoch gegen Die allgemeinen bei 
Baterlandes nicht aufkommen fonnten, das Jahr 1813 beran, als der Ruf des Königs 
ericholl, der die Jugend feines Volkes zum Schutze des Baterlandes ſich waffnen hieß. 
Wie ein Blig traf ed Lützow und feine edle Gemahlin, deren Begeijterung Die feinige 
noch böber entflammte.. Als Major trat er wieder in preußifche Dienfte ein und er: 
bielt Die Erlaubniß zur Bildung jener Freifchaar, Die nachmald fo berübmt und von 
Dichtern jo boch gefeiert worden if. Sie eilten nach Breslau, wo die Patrioten ba: 
mals zufammen ftrömten, und bier war es in einer gewöhnlichen Schenfe, denn einen 
andern Raum Fonnten fle zwerjt nicht finden, wo Eliſa, ihren Mann vertretend, Den 
jeine Gefchäfte außerhalb des Haufes feffelten, die flürmifche Jugend anwarb und ind 
Corps aufnabm, die fich zum Befreiungäfampfe vom Joche des fremden Zwingberm 
berandrängte. Unter diefen vielen Braven war auch der Brapften einer, Theodot 
Körner, der auf ded Königs Auf eben von Wien berbeigeeilt war. Die edle, in de 
Fülle der Schönheit prangende, für Vaterland und Freibeit begeifterte Frau erſchien 
biefer Jugend wie ein Bild aus einer andern Welt; in ihr fchien das Vaterland fel: 
ber fich verkörpert zu baben, um feine Söhne zum Kampfe zu fpornen. Ihr waren 
fie in leidenfchaftlicher Verehrung, in Anbetung ergeben. Ihre begeifternde milde Weib: 
lichkeit begleitete Die tapfere Schaar, die Verwundeten pflegend und tröftenn, die Or 
fallenen betrauernd. Wielen war le eine treue Freundin, am innigften verbunden mit 
riefen, von allen Zeitgenoffen als der befte der beiten Jugend gerühmt, deſſen, Tod 
(15. März 1814) fie tief erfchütterte. Mach Beendigung des Befreiungäfrieges ging 
Elifa mit ihrem Gatten, Anfang des Jahres 1816, nach Berlin und von da nad 
Königäberg, wo dem Lützow'ſchen Regiment Garnifon angewielen war, bald baraıf 
nach, Pofen und im Sommer 1817 nach Münfter, wo Lützow in eine höhere Stellung 
eintrat und 1822 zum General avancirte. Hier begann fich nach und nad em 
Mißverhaͤltniß zu ihrem Gatten zu zeigen, Das in den begeilterten Kriegsjahren, wo— 
die Hingabe an eine große Idee alled Perfönliche vergeflen gemacht, nicht zu Tage oda 
wenigſtens nicht ftörend zu Tage getreten war, ein Mifverbältnif, das zur Yoderung 
und endlich zur Trennung des ehelichen Bandes führte. Lützow, brav und ver 
fändig, war gleichwohl weder an Bildung, noch an Geift und Feinbeit des Gemüt! 
ibr ebenbürtig; eine Soldaten» Natur, für's Kriegögetümmel gemacht, den bie Werft 
des Friedens langweilten, ein tüchtiger Haudegen, tapfer und umnerfchroden im Felde, 
wo feine Leidenſchaft eine günftige Richtung befam, die in rubiger Zeit ber Weibe 
höberer Charakterſtärke entbehrte. An dem gebildeten Kreife von Freunden und Freun— 
binnen ber Literatur und Kunft, Die Elifa um fich verfammelte, nabm Lützow jo ‚gut 
wie feinen Antbeil. In diefen Kreis trat auch Karl Immermann. 1796 zu Magde 
burg geboren, batte er den Befreiungdfrieg mitgemacht, war 1817 in den Staatsdienſt 
getreten und, nachdem er bis 1819 ald Referendar in Magdeburg und Groß—-Aſchers— 


- 











einer Freundin begleitet, Düffeldorf und Immermann, den fle nie wieder jehen wollte. Sie 
ging über Straßburg nach der Schweiz und Italien, wo fie Genua, Florenz, Bologna, 
Ferrara, Padua und Venedig befuchte. Den Nüdweg nahm fle über Tirol, den Schauplag 
der Heldenthaten Andreas Hofer's, die Immermann einft in ihrer Nähe fo fehön gefeiert. 
Ueber München ging fie nach Potsdam, darauf (Anfang 1840) nach Berlin, wo fie 
ihren bleibenden Aufenthalt nahm. Uber die traurigfte Nachricht follte fle noch in 
demfelben Jahre erfchüttern: Immermann’d8.Tod. Am 2. October 1839 Hatte er ſich 
verheirathet und war von Halle über Weimar zurüd nad) Düffeldorf gegangen. Hier 
erkrankte er_an einem heftigen Fieber und flarb am 25. Auguft 1940 plögli an 
einem Rungenfchlage, nachdem ihm einige Tage zuvor eine Tochter geboren worden war. 
Am 28. Auguft wurde er beflattet. Von einem Lonbeerbaum, den ihm Elife in früheren 
Tagen verehrt, ward der Kranz genommen, mit dem man des Dichters Falte Stirn ſchmückte. 
Die Gräfin bot Mariannen ihr Haus an und fegte ihrem Kinde eine jährliche Rente aus, 
ihr freundfchaftlicher Zufpruch begleitete fle fortwährend. Nicht lange nach des Freundes 
Tode ward ihr auch ihre befte Freundin, Johanne Dieffenbach, entriffen. Aber «8 
follte ihr auch an theuren erhebenden Crinnerungen nicht fehlen. Am 15. März 1849, 
dreißig Jahre nach des jugendlichen Helden Tode, beftattete man Frieſen's Leiche auf 
dem Invaliden= Kicchhofe in Berlin, wozu fich die alten Freunde aus der Freiſchaat 
zufammenfanden. Und vier Jahre fpäter, im März 1847, feßten auf Eliſen's An 
regung die noch lebenden Lützower ihrem tapfern Führer ein granitned Denkmal an 
derjelben Stelle. Den Reſt ihres Lebens brachte fie, wie ſchon erwähnt, in Berlin zu. 
Im Verkehr mit Männern wie Wilhelm v. Humboldt, Ludwig Tier, Steffens, Gore 
lius, von alten und neuen Freunden umgeben und verehrt, bildete fle den Wittelpunft, 
die Seele eines für Literatur und Kunft ebenfo empfänglichen als zum Theil darin 
tüchtig wirkenden Kreiſes. Maßvollen Geiftes, mußte fle ihre Umgebung zu einer felte 
nen Höbe der Unterhaltung zu erheben. Den Zauber ihrer Perfönlichkeit, die wunder 
bare Anmuth ihres Weſens behielt fie bis zum Schluffe ihrer Tage. Sie fchwand 
langfam an Schwäche dahin. Am, 20, März 1855 (ihrem Hochzeitätage) verfchieb fe 
fanft und ſchmerzlos in einem Alter von 65 Jahren. — Bergl. weiter Gräfin Elia 
von Ahlefeldt von Ludmilla Affing. Berlin 1857. 

AhlimbsSaldern-Ringenwalde, Grafen von. Die von Ahlimb, Ahlim, Alem find 
eine altmärfifche Sippe; ihr Stammhaus ift Ahlum bei Salzwedel; die altmaͤrkiſche 
und die Nuppinifche Linie des Gefchlechtd find im 15. Jahrhundert, die uckermaͤrkiſche 
Linie, die 1447, Sonntag vor Sanct Gallustag, mit dem Erbhegemeifteramt in der 
Werbellin’fchen Heide belehnt wurde, erft 1830 mit Guftav von Ahlimb aufRingenwalde 
ausgegangen. Des letzten von Ahlimb Etbtochter vermählte fich 1827 mit dem Königl. 
Kammerherrn Herrmann Breiheren von Saldern, der 1840 die preußifche Grafenmwürd 
nach dem Recht der ‚Erftgeburt erwarb und ald Herr der Ahlimb’fchen Erbgüter den 
Titel eined Grafen von Saldern= Ahlimb führte. Seit feinem Tode führt, zufolge 
einer Allerhöchften Cabinets-Ordre, der jevesmalige Inhaber des Fidelcommiffes Rin⸗ 
genwalde den Titel eines Grafen von Ablimb-Saldern-Ringenwalde Graf 
Herrmann Guftav Albrecht, ältefter Sohn des oben genannten Grafen von Sal 
dern⸗Ahlimb bat laut Königl. Genehmigung von 1856 ſchon bei Xebzeiten feiner Frau 
Mutter, welche Iebenslängliche Bideicommiß-Inhaberin von Ringenwalde tft, den Titel 
eined Grafen von Ahlimb-Saldern-Ringenwalde angenommen. Derfelbe ijt 1828 gr 
boren, Königl. Regierungs-Neferendar und Lieutenant im 3. Landwehr⸗Huſaren⸗Regi⸗ 
ment, Kerr der väterlichen Güter Liebeflde und Altmühl. Seine jüngern Geſchwiſter 
behalten den Namen von Saldern - Ahlimb. Wappen: Quadrirter Schild mit Mittels 
child. _ Der Mittelfchild zeigt dad von Saldern’fche Wappen, eine rothe Nofe im gol- 
denen Feld. Daß erfte und vierte Feld des Hauptſchildes zeigen in Schwarz drei gol 
dene Hifthörner, Die über einander, mit dem Mundflüc nach rechts gelegt (wegen des 
Erbhegemeifter-Amtes im Werbellin), das zweite Feld zeigt in Blau ein rechtölaufendes 
braunes Einhorn, das dritte Feld in Silber zwei braune Einbörner, die aus den Gei- 
tenrändern des Feldes gegen einander halb hervorfpringen (das zweite und dritte Feld 
bildeten, über einander gefeht, das alte Ablimb’fche Stammwappen). Drei Helme 














Marienthal, und ein Felſenhorn von 200 Buß Höhe, die bunte Kuh genannt, jenfelts 
befien fich, über Walporzheim hinaus, die bisherige Engſchlucht der Ahr zu dem freund- 
lichen, breiten Thal erweitert, welches die Geburköftätte des Ahrbleicherts if. Schon 
von Laach an find die Felſenwaͤnde mit Weinrebeh bepflanzt, Die einen guten weißen 
Wein liefern; der rothe Bleichert aber, der eben fo theuer bezahlt wird, wie der Rhein⸗ 
wein, wählt vorzugsweife um Ahrweiler, einem freundlichen Städtchen, das, ein 
Beftandtheil der Grafichaft Hochſtaden, in der Mitte des 13. Jahrhunderts mit dieſer 
an Kurköln fam. Auf der andern Seite des Thals erhebt fich der Kalvaripnberg, In 
deſſen Klofter Urfulinerinnen eine gut geleitete weibliche Erziehungs⸗Anſtalt eingerichtet 
haben. Unweit der Mündung der Ahr liegt, wie fchon erwähnt, Sinzig, daß alte 
Sentiacum, das eine hervorragende Stelle in der Befchichte des Chriſtenthums ein- 
nimmt; denn bier war e8, wo Konftantin feinen Mitfaifer Marentius beflegte, nachdem 
ihm am Himmel ein Kreuz mit der Infchrift: „In hoc signo vinces“ erfchienen war, 
wodurch er bewogen ward, Chrift zu werben. Diefe Begebenheit ift auch auf dem 
Altarblatte der Sinziger Pfarrkirche dargeftellt, Die in dem Uebergangsftil des byzan⸗ 
tinifchen zum gothifchen erbaut und ald deren Gründerin die Raiferin Helene, Gemahlin 
Konftantin’d, genannt wird, | 

Ahrens, Heinrich Ludolph ausgezeichneter Philolog und Schulmann, if 
am 6. Juni 1809 in der alten Univerfitätsftapt Helmflädt geboren, wo fein Vater das 
Amt ald Eantor an der Hauptkirche und Lehrer an der Stabffchule, aus der fpäter 
das. Gynmaflum hervorging, bekleidete. Seine Schulbildung erhielt A. auf dem Gym⸗ 
naſtum jeiner Vaterſtadt, welches feit 1822 unter der geſchickten Leitung des aus Bern 
burg berufenen Directors Günther aufblühte Nächft diefem Manne machten ſich 
um Ahrens die Lehrer Schädel, Francke (jegt Director in Bernburg) und Steg: 


mann fehr verdient. Oftern 1826 bezog X. die Univerfitit Göttingen, um Bhilofopbie 


und Mathematik zu ftudiren, bald jedoch widmete er fich ausfchließlich dem Studium 
der Altertbumswifienfchaft unter Leitung von Mitfcherlich, Diſten und KO. 
Müller. Auf die Richtung feiner Studien hatten beſonders die beiden letztern ben 
größten Einfluß, fehr anregend wirkte auf ihn auch die Theilnahme an der socielas 
philologica, die unter Müller's Protectorat befonderd 1828—31 im frifchen willen 
fehuftlihen Streben blühtee Im Sommer 1829 gewann U. den von der phil« 
fophifchen Facultät ausgefegten Preis durch eine auch jet noch gefuchte Schrift de 
Athenarum statu politico et literario inde a Gorintho deleta usque ad Antoniorum 
tempora. Veranlaßt von Diften und Müller habilitirte ſich A. in demfelben Jahre 
auf der Univerfität Göttingen, gab aber 1830, ald ibm an dem Gymnaſium zu Göt 
tingen eine ordentliche Collaboratur angetragen war, feine Docentenlaufbahn wieder 
auf. 1831 ging er als Collaborator an dad Kloſter⸗Paͤdagogium zu Ilfeld, an dem 
er (jeit Michaelis 1833 ald Subeonreetor) 14 Jahre thätig war. Oſtern 1845 wurde 
A. ald Director an das Gymnaſium zu Lingen berufen, aber ſchon nad 4 Jahren 
folgte er einer ehrenvollen Aufforderung .ald Director des Lyceums nach Hannover. 
Kurz vor diefer Verfeßung war U. als Deputirter für das höhere Schulmwefen in bie 
von dem damaligen Minifter Stüve organifirte erfte Kammer durch die Wahl des 
Lehrſtandes eingetreten, reſignirte aber bald auf dieſe Stellung, weil er ſie mit ben 
Pflichten des neuen Amtes für unvereinbar hielt. Die literarifche Thätigfeit dieſes 
ausgezeichneten Philologen hat fich vorzugsweiſe der griechifchen Literatur und Sprache 
zugewandt. Größere Werke ſind: 1) de graccae linguae dialectis, a, liber primus: 
de dialectis Aeolicis et Pseudoaeolicis. Goltingae apud Vandenhoeck et Ruprecht. 
1839, b, liber secundus: de dialecto Dorica ibid. 1843. 2) Griechiſches Elementat- 
buch aus Homer. 1. Curfus. Göttingen bei Vandenhoeck und Ruprecht 1850. 3) 
Griechifche Formenlehre des homeriſchen und attifchen Dialectes zum Gebrauche bei dem 
Elementarunterrichte, aber auch ala Grundlage für eine biftorifchewiflenfchaftliche Br 
handlung der griechifchen Grammatif. Göttingen 1852. 4) Bucolicorum Giraecorum 
Theocriti Bionis Moschi reliquiae accedenlibus incertorum idyllis. Tom. 1. textum 


‚cum apparalu eritico conlinens. Lipsiae sumtibus el typis B. G. Teubneri 1855; 


Tom. I. die Spolien enthaltend 1858. Außerdem Hat A. in verfchiedenen philolo⸗ 














WINZER EEBEST YIIYELUSE. [0414 YRUUSDYITWT — AT 2227 — AUIIIIESV, VE u— 
des Griechiſchen mit Homer zu beginnen, wird vielfach bekaͤmpft, wenn auch zugegeben 
werden muß, daß ein Mann wie Ahrens in ſeiner Wirkſamkeit als Lehrer damit ſicher⸗ 
lich gute Reſultate erzielt. 

Ahrens, Heinrich, Profeſſor des philoſophiſchen Rechts und der Staatswiſſen⸗ 
ſchaften zu Graͤtz, geb. 1808 zu Knieſtadt bei Salzgitter in Hannover, ſtudirte zu Goͤt⸗ 
tingen, wo er die Krauſe'ſche Philoſophie (ſiehe den Artikel Krauſe) ſich aneignete, 
machte mit demagogiſchen Kreiſen Bekanntſchaft und mußte in Folge ſeiner Betheiligung 
an den göttinger Unruhen in's Ausland flüchten. Er ſetzte ſeitdem feine Studien in 
Brüffel und Paris fort und Fonnte fihon 1836 in Paris Vorleſungen in franzöftfcher 
Sprache über neuere vdeutfche Philofophie und demnach einen cours de psychologie 
(legterer in 2 Bd. zu Paris 1837—39 gebrudt erfchienen) eröffnen. Cr lenkte dadurch 
bie. Aufmerkfamkeit des Minifterd auf ſich und erhielt eine Anftellung, die er 1839 mit 
einer Profeffur der Philofophie an der Brüffeler Univerjität vertaufchte, nachdem er 
1838 zu Paris jeinen Cours du droit naturel herausgegeben hatte (zweite Ausgabe 
Paris 1844, dritte Paris 1848, in viele Sprachen überfeßt und felbft in füdameri- 
kaniſchen Staaten als Lehrbuch in die Rechts-Akademieen eingeführt, übrigens vom Ver⸗ 
faffer in deutfcher Sprache umgearbeitet und 1851 zu Wien unter dem Titel: „Das 
Naturrecht“ erfchienen). Im Jahre 1848 wurde er, obgleich Brüffeler Profeflor, 
als Abgeordneter von Salzgitter in das Frankfurter Parlament gefandt. Er gehörte . 
der großdeutfchen (antisgagern’schen) Partei an, trat auch mit den übrigen hannover- 
ſchen Abgeordneten aus. der Verſammlung aus, kehrte indeß nicht nach Brüffel zurüd, 
fondern nahm 1850 einen Ruf ald Profeflor ber philofophifchen Rechts⸗ und Staats⸗ 
wifienfchaft zu Grätz an. Zugleich erfchien der erfte Band feines bedeutenden Werkes: 

„Die organifche Staatslehre auf philofophifch-anthropologifcher Grundlage. Bo. I. Die 
philofophifche Grundlage und die allgemeine Staatölehre. Wien 1850." 

H. Ahrens nimmt unter den heutigen Lehrern des philofophifchen Rechts eine 
bervorragende Stelle ein; er hat die große Aufgabe, welche die neuefte Entwickelung 
der Nechtöwifjenfchaft geftellt hat, erkannt, und feine Forfchung hat ſich alf das Weſen 
der Gefellfchaft und ihre Beziehungen zum Staate mit feltenem' Erfolge gewandt. Selbſt 
Mohl (eich. u. Lit. der Staatswiſſ. I. 86) geftebt ihm zu, daß er und der Italiener 
Ricci der Wahrheit am nächflen kommen. Schon in feiner Schrift über das Natur- 
recht Hatte Ahrens. den freiwilligen Gefellfchaften und dem Vereinigungsrechte eine ganz 
eigenthümliche und hochwichtige Stellung im Staate eingeräumt ), und in dem neuen 
Werke, defien erfter Band vorliegt, ift er einen großen Schritt weiter gegangen. Mohl 
fagt über dies Buch: 

„Hier aber ift denn unbedingt anzuerkennen, daß er den vollen freien Begriff der 
verfchiebenen organifchen Lebenskreiſe und ihr wahres Verhältnig zum Staate gefaßt 
hat. Allein unglüdlicherweife ift man dennoch auch jegt noch mit ihm noch weit vom 
Ziele. Wenn man nämlich auch über Minderwichtiges oder zunächſt Hierher nicht 
Gehöriged nicht flreiten will, fo iſt doch das fchließliche Ergebniß ein fchiefes und 
dadurch verwirrendes. Ahrens giebt näimlih, nachdem er mit großem Scharfjinn Die 
menfchlichen Lebenszwecke als nothwendige Bildungsfräfte der Gefellihaft nachgewieſen 
bat, eine Aufzählung der verfchiedenen Organifationen des Zufanmenlebend; dabei läßt 
er nun aber gerade die Gefellfchaft aus, und flellt vielmehr die Kerne der verfchiede- 
nen gefellfchaftlichen Glienerungen, als eine Reihe von Zweden für alle jene Organi⸗ 
fationen hin 2). Er zerfchlägt alfo in dem Augenblide der Gewinnung feines Werkes 
daffelbe felbit in Stüdd, und wirft dieſe flörend in andere Gebilde hinein. * 

Doch abgefehen Hiervon iſt an dem neueflen Werk Diefed Gelehrten der freie und 
große Blick, mit dem er den Staat würdigt und Ihn als einen Theil des Gefammt- 
lebens der Menſchheit darſtellt und darnach ſeinen Organismus auseinanderlegt, an⸗ 


97 Die Staatslehre Kraufe's und feiner Schüler jaßt den Staat freilich rationaliftifd) auf 
und erklärt feine Gründung durch Bertrag, allein fie nimmt gefellihaftlihe Organismen 
ale „höl ere Rechtöperfonen ſchon unter bie erſten Bertragfchließer und Begründer be un auf.” 

86 erhellt dieß am deutlichſten ans feinen eigenen Worten (a. a. O. ©. 77): 





w--nwöiw 9” Tr by ee 0 Dad TI ann DA Tr *1 | Ds a w».nw 177 w — 1 -.rng nn 


der es ihr "unmöglich fein wird wieder u der fahlen Auffafiung des  Kantifchen Rechts⸗ 
ſtaates, oder zu der Begrimdung des Staates aus dem Einzelwillen der Individuen 
zurückzukehren. 

Ein bedeutender Einfluß der Krauſe'ſchen Schule und ihres hervorragendſten 
Schülers Ahrens auf die moderne Wiſſenſchaft iſt nicht zu verkennen, und ſo vieles 
auch gegen das Ganze ihres Syſtems mit Recht eingewandt wird, ſo iſt doch hervor⸗ 
zuheben, daß damit auf die Nothwendigkeit der Grundlage eines Rechtsverhaͤltniſſes der 
Geſellſchaft zum Staate hingewiefen ift, und biefer Hinweis wirb feine Früchte tragen. 
(Unter den Gegnern von Ahrens nennen wir Giorgi, A. di, e Bigoni, P. Aug. Essamıe 
del Corso di diritto naturale del Prof. H. Ahrens’ 1854.) 

Ahriman. Angramainjus im Zend, d. h. der Böfesfinnende, dicißooc ober 
Teufel. Es tft eine hoͤchſt merkwürdige und einzig baftehende Erfcheinung, daß das 
alte Zendvolk fo Elare und richtige Begriffe von der Geifterwelt und inäbefondere ben 
böfen Geiſtern hatte. Für Chriſten aber, die ihre unfichtbaren Feinde, mit denen fie 
noch zu Fämpfen haben, befier kennen follten, als man es allgemein findet, ift es auch 
eine befehämende und zu ernftem Nachdenken auffordernde Gricheinung. 

Durch ein glüdliches Zufammentreffen von Umſtaͤnden gefchah ed, daß von den 
21 Büchern des Zendavefta, die nach dem Griechen Hermippus 2 Millionen Zeilen 
enthielten und im Laufe der Zeit verloren gegangen waren, zur Zeit der Wiederbelebung 
der alten Zenvreligion, welche mit der Gründung der Herrichaft der Daflaniden 226 
n. Chr. anhob, gerade das Buch, weldyes Die Lehre von den Daeva, den Teufeln, und 
die Vorfchriften zu ihrer Abwehr ausführlicher enthält, allein wieder aufgefunden und, 
jo wie e8 im 6., 7. oder 8. Jahrhundert v. Chr. (denn die Zeit der Abfaffung des 
Zendavefta kann mit Sicherheit nicht näher beflimmt werden) abgefaßt war, bie auf 
unfere Zeit erhalten worden iſt. Es ift Died der Vendidad. Außer diefem Buch find aus 
andern nur noch einige Hymnen, liturgifche und Cultus⸗ Vorſchriften damals wiederge⸗ 
ſammelt worden. Die ächte Lehre des alten Perſismus, wie ſie jetzt aus dem Vendidad, 
dem Bundeheſch, und den griechifchen Berichten ermittelt ift, Darf übrigens nicht mit 
der hualiftifchen Lehre des Mani, dem fogenannten Manichäismus, vermwechfelt werden. 
Mani gründete feine „Iiniverfalliche" auf Bruchſtücke chriftlicher, parfifcher und bud⸗ 
dhaiftifcher Lehre, die er willkürlich ungeftaltete und zufammenfegte. Diefe manichäifchen 
Irrthümer haben zu allen Zeiten in ber Kirche geſpukt. Heut zu Tage find es 
vornämlich die Mormonen, welche folgen Irrtbümern huldigen. Die üchte alte Lehre 
der Zendreligion über das Reich der Finſterniß war viel reiner und wahrer, als bie 
Lehre der manichätfehen Härefleen; und verlangt felbit in ihren Irrthümern ein weit 
milderes Urtheil, als von chriftlichen Härefieen, da die Zendreligion feine Ausartung 
des Chriſtenthums ift, fondern die Lehren der Urreligion des Menfchengefchledhts am 
reinften unter allen heibnifchen Religionen erhalten hat. Eigentlich ift die Zendreligion 
gar nicht als eine heidnifche zu betrachten, da das Zendvolk die Götter ver Heiden, 
fowohl der Inder als der Babylonier und der Griechen ald Daeva, d. h. der Teufel,: 
anfah und überall die Tempel und Södtterbilder dieſer Völker zerftörte, felbft aber, nach 
dem übereimflimmenden Zeugniß der Alten, Feine Götterbilder unter ſich duldeie, noch 
fie verehrte. Diefe Anſchauung flimmt ganz mit der Lehre der heiligen Schrift über 
die Natur des Götzendienſtes überein; und insbefondere fpricht der Apoſtel Baulus | 
gerade zu (1. Eor. 10, 20): Was die Heiden opfern, das opfern fie ven Teufeln; fo 
will ich denn nicht, daß ihr mit der Teufel Tiſch Gemeinfchaft habe. | 


„— — Jo erhalten wir folgende zwei mit einander Fi neroinbenbe Meiben: 
Religion, 

1) Beninheits: Derein, 2 Sittli — 

2) Boͤller⸗-Verein, von denen jedes Glied 1 3) Wiſſenſ 

3) Bolt und Alle im organifhen / 4) — 

Gemeinde, Vereine fich ausbilden | 5) Kunſt (jchöne), 
amilie, müflen für 6) Induſtrie (agricole und 
inzelner, gewerbli 


lie), 
2) Dede“ ‚(Bam Wohle ) 





x 


TTS Iy„%% 5 ESEL —— ERII LLM WV CLVMVVII IVMV wi AAI VVl EVA 
ſchen huldigen dieſem neuen Aberglauben und Götzendienſt. Man möchte faſt ſagen, 
die Leute von Iran werden auftreten im Gericht wider dieſes Geſchlecht und werden 
ed verdammen; denn fie thaten Alles, um die Macht und den Einfluß der böfen Geiſter 
über die. Natur und die Menfchen zu brechen. Wenn die Vorfchriften der Handbücher 
auch meift äußerlich find, fo muß man bedenken, daß felbft die DVorfchriften des Ge— 
feged Mofe nur eine äußerliche, leibliche Reinheit und Heiligkeit Ichrten zum Vorbilde 
des wahren Weſens in Chriſto. Wenn auch nach der Lehre Zoroafter'8 ein großes 
Verdienſt darin beftand, die Thiere des Angramainjus zu töbten, die Durch die Sünde 
und die Daevas verderbte und unfruchtbar gemachte Natur auf alle Weife fegen- und 
fruchtbringend zu machen, fo joll man den Einfluß Angramainjus und feiner Engel 
doch befonders durch gute Thaten, durch; dad Gefeg Ahuramasda's, durch das heilige 
Feuer oder Opfer, durch Gebet zerftören. Angramainjud und feine Engel, die Daeva 
(im Pehlvi Deos, Sandfrit Devas, Griech. deoc, Latein. Deus), die Drudſcha und 
andere Dämonen haben ihren Wohnſitz im finftern Grunde Inter der Erde, erfüllen aber 
auch wie alle Geifter die Luft und halten ſich meift in wüſten, unheimlichen, finftern 
und ververblichen Orten auf. Ihnen gehört das Dunkel, die Krankheiten, der Tod, 
die Wüfte, die Steppe, die Kälte, Die Dürre, der Schmuß, die den Menfchen fchädlichen 
Thiere, die Lüge und die Sünde. Insbeſondere aber herrfchen fie in den Ländern des 
Goͤtzendienſtes und der politiihen und focialen Verwirrung. Es find bier die Analo= 
gieen der Zendlehre von dem Neiche der Finſterniß mit der Offenbarung zuſammenge⸗ 
ftellt. Eine gegenfeitige Ableitung der Lehren der Offenbarung und des Zendavefta 
hat jehwerlich flattgefunden. Die in das Eril geführten Ifraeliten und Juden ſind nicht 
nah Iran und Baktrin, fondern nach Affyrien und Babylonien verfegt worden, wo Die 
Zendreligion erft durch die Eroberung der Perſer befanut und allmählich herrſchend wurde. 
Die Juden wurden aber im zweiten Jahre des Cyrus aus dem babylonifchen Eril ent: 
laflen, die Iſraeliten find aus dem afiyrifchen nie wieder heimgefehrt. Erft ald Der erfchien, 
welcher das Meich der Finſterniß zerftören follte, wurde den Menſchen die Offenbarung 
darüber zu Theil, die ihnen nöthig ift, um ihre Feinde zu Fennen und fie zu befämpfen. 

Neben dieſen Analogieen mit den betreffenden Kehren der beil. Schrift Tommert- 
indeß, wie natürlich in einer Religion, die außerhalb der fpecififchen göttlichen Offen- 
barung fteht, auch mehr oder weniger entjchieden faljche Lehren vor, wie 3. B., Daß 
dem-Angramainjus eine Art fchöpferifcher Thätigfeit zugefchrieben wird, und die Lehre 
von der Wiederbringung aller Dinge, auch der Gottlofen, des Angramainjus und der 
böjen Geifter. Eine ausführliche, auf Quellen gegründete Darftelung der Zenplebre 
findet man in Mar Dunker's Gefchichte des Alterthums, Band l., und in Röth, Die 
ägyptifche und zoroaftrifhe Glaubendlehre, 1846. Die auffallende Uebereinflimmung 
der Kehren des Zendaveſta mit denen der heiligen Schrift hat mandje proteftantifche 


Forſcher veranlaßt, anzunehmen, daß ein jüdifch= chriftlicher Einfluß auf die erft im 


8. Jahrhundert n. Ehr. gefammelten Zendſchriften ftattgefunden babe. Diejer Anſicht 
find unter Andern Stuhr, die Religionsſyſteme des heidnifchen Orients; Krüger, Ge— 
ichichte der Affyrier und Iranier, 1856; Spiegel, Einleitung zum Zendavefta. Die 
katholiſchen Forſcher und unter den Proteſtanten Delitſch u. A. erblicken darin Reſte 
einer urfprünglichen Tradition. (leder den ganzen Ideenkreis ‚biefer Lehren vergl. auch 
Döllinger, Heibenthum und Judenthum S. 351—382.) 

Aichelberg, ein Fegelfürmiger Berg im württembergifchen Oberamt Kirchheim, 
auf defien Höhe noch einige! Trümmer der Stammburg ded danach benannten Grafen⸗ 
geſchlechts fichtbar find. Die Grafen von Aichelberg, mwahrfcheinlich ein Neben- 
zweig einer noch nicht näher nachmweisbaren Dynaftenfanilie, treten erft mit dem 13. 
Jahrhundert auf den Schaupla der Gejchichte und zwar in der erſten Generation 
unter dem gräflihen Namen von Kerfch (einer verſchwundenen Burg bei Denfendorf 
im Oberamt Eßlingen). Der Urenfel des erften Grafen Diepold, der wiederum Diepold 
biepß, nannte ſich ſeit der zweiten Sülfte Des 13. Sabrbundert3 auch abmwechjelnd nach 
feiner Burg Merlenberg (jet Grfenberg im Oberamt Kircbbeim) und vererbte Durch 
feine, mit der Herzogin Unna von Teck erzeugte Tochter Udilbild (7 um 1302) 














man dei MUhlenadnldagen DER BDILDLDTAHL, an welchem DIE Hohe DER DAWDAUMDO 
der Mühle amtlich markirt wird, den Aichpfahl (Heegpfabl, Hainftod; modern: 
Marqueur), doc ift diefer Sprachgebrauch nicht allgemein und bier mir über die Aiche 
der Faͤſſer und der Schiffe Einiges zu bemerken. 

Das Aichen der Faͤſſer, auch die Bifirfunft genannt, würbe fich auf we 
nige, einfache Rechnungsregeln zurüdführen laflen, wenn die Fäffer cylindriſche Körper 
wären, Die in ihrer ganzen Länge einerlei Größe des Durchmeflerd haben. Bekannt⸗ 
li ift dies hur bei ſehr wenigen Arten von Gebinden, z. B. bei Theertonnen, der 
Kal. Die allgemeine Faßform ift in der Mitte weiter: ald an beiden Enden, wodurch 
ein von der cplindrifchen Form fehr abweichender Körper entfleht. Man würde indep 
auch hierfür leichter zu einfachen Regeln gelangen, wenn alle Fäffer in gleichem 
Verhältniß bauchigt wären, aber man- findet darin die größefte Mannichfaltigeit, 
und bei Zäffern, für welche die angewendete Formel oder das benugte Maaß⸗Inſtru⸗ 
ment, der Vifirftab, nicht eingerichtet ift, muß man ab= oder zufchäßen. 

Noch complicirter wird die Sache Dadurch, daß auch Fäfler mit ovalen Böden 
vorfommen, und endlich durch den Umſtand, daß der Handelöverfehr von.den Aid: 
meiftern (Biflrmeiftern, Rojern) auch Die Fähigkeit verlangt, die in einem nicht ganz 
gefüllten Zafle befindliche Flüffigkeitsmenge mit Sicherheit auszumeſſen, obne das 
Faß abzuzapfen. Gerade die Fälle der letzteren Art find meiftens Die ftreitigen. 

Allen diefen ziemlich complicirten Anfprüchen gegenüber, bat ſich ſchon früh eine 
Reihe von Regeln und Hülfsmitteln für dieſe Art von Meflungen audgebilvet, die man 
in fogenannten Viſirbüchern zufammengeftellt findet, von denen bie älteften ſich in 
einen, ihnen eigenthümlichen Nimbus mathematifcher Phrafen hüllen und als Inbegriff 
hoher Gelehrſamkeit betrachtet wurden. So 3. B. das im Jahre 1531 zu Straßburg 
erfchienene: „Ein new kunſtlichs wohlgegründts Viſierbuch, gar gewiss vnd behend 
auss rechter Art der geomelria Rechnung vnd Eirdelmeffen, Darinnen mancherley Die 
fler ruten oder Stäb angezengt zu machen, nach Heglicher Landart Eichen und Mast, 
dergleichen noch nie getrudt oder audgangen. “ 

Die drei Maaße, deren man fich zur Ausmeffung eines Faſſes bedient, find fol 
gende: Die Länge, der Durchmefler des Bodens und der Durchmeffet in der Ritt 
des Faſſes durch das Spundloch; fämmtlih im Innern des Faſſes gepackt. m 
hieraus den inneren Raum zu berechnen, quabrirt man den aus den beiden Durd- 
meſſern unter der Annahme, daß die Krümmung der Faßdauben paraboliſch fei, abge: 
leiteten mittleren Durchmeffer, multiplicirt dies Quadrat mit der Länge und bivibirt 
das Product durch eine für jede beftimmte Maaßeinheit und für jede Gattung von 
Gebinden conftante Zahl. Diefe Iegtere ift empirifch, durch wirkliches Auszapfen 
von Fäflern gefunden, und man hat für die am bäufigften vorfommenden Gebinde 
durchgerechnete Tabellen, in denen das Facit nach den gemeſſenen Daten direct aufge: 
ſchlagen werben kann. Die bei dieſen Meflungen benugten Stäbe, Vifirftäbe gr 
nannt, find jeßt in der Regel fo eingerichtet, daß man auf ihnen das Facit ſogleich 
ablefen fann, indem man biezu die Nebenfeiten des Stabed anwendet. in anderes 
Berfahren berubet auf Meflung der Diagonale vom Spundloch fehräg gegen den 
tiefften Punkt eines jeden der Böden des —5 daſſelbe wird für weniger ſicher ge 
halten als das erſtere. | 

Für nicht ganz volle Fäfler Fommt noch ein vierted Man, die ſogenannte 
„Weintiefe", hinzu, welche man durch Eintauchen des Stabes findet. Die wirkliche 
Rechnung wird im Gefchäftöverkehr auch hierbei durch Tabellen oder eingetheilte Stäbe 
vermieden. 

Ad Maafeinheit oder Aichmaaß gelten in verfchievenen Ländern verſchie— 
dene Gemäße; auch ift in Deutjchland nicht für jede Art von Flüffigkeit diefelbe Einheit 
gebräuchlih. In Deutfchland gelten Viertel, Ouartier, Maaß, Stühchen und Kannen; 
in Zranfreich gilt das auf Metermaaß begründete Litre; in England und Amerika dad 
Sallon, welche jedoch nicht beide von gleichem Inhalte find; in Dänemark und Nor- 
wegen dad Pott, in Schweden die Kanne u. f. w. 

Folgende Tabelle kann zur Vergleichung der im Wein, Biere, Oel⸗ und Spi 
ritwofenhandel vorkommenden vorzüglichftien Aichmaaße dienen: 














jhem Wege gefundenen, durch die Bauart des Schiffes hebingten, Divifors Die 
Tragfähigfeit des Schiffes ableitet. 

Zur Ermittelung ded inneren Raumes werden drei verticale Ouerfchnitte und 
ein Zängenmaaß gemeflen. Die Berechnung der Duerfchnitte gejchieht nach. einer ein> 
fachen, auf der Annahme parabolifcher Krümmung der Schiffswände beruhenden Formel, 
und die gemeflene Länge wird, nad Maaßgabe der Bauart und inneren Einrichtung 
um 6 bi8 17 Procent rebueirt, da ſolche Raͤume, Die nicht zur Aufnahme der Ladung 
dienen, alfo Kafjüten, Volkslogis, innere Vervede u. dgl. nicht mit in die Aiche auf 
zunehmen find, 

Der variable Divifor wird aus einer Tabelle entnommen, die im Voraus 
für alle in der Prarid vorkommenden Sciffdformen berechnet ift; es würde bier zu 
weit führen, die Konftruction folcher Tabellen fpeciell zu erläutern. 

Die Zahl, welche fi nach Divifton des nach der Anweiſung cubicirten inneren 
Schiffsraumes durch den richtigen Divifor ergiebt, bezeichnet die Anzahl. der Tonnen, 
jede zu 1000 Kilogramm, oder 2000 Zollpfund, gerechnet, welche das Schiff einneh⸗ 
men und über See führen Fann. Begreiflicher Weife würde man auch jede andere 
Maaßeinheit erhalten Fönnen, wenn man den Divifor mit einer conftanten, nach dem 
Maaßverhaͤltniß leicht zu berechnenden Zahl multiplicirt. 


Für eiferne Schiffe und Dampfichiffe erleidet dad Verfahren einige Modiſtcatio⸗ 


Zu bemerken ift dabei, daß nach den in England gemachten Erfahrungen fols 
—* Verfahren ſich empfiehlt, um bei der Schiffsaiche den Raum, welchen der 
Kohlenvorrath einnimmt, gehörig zu berückſichtigen. Es wird der wirkliche 
Maſchinen- und Keffelraum (bei Schraubenſchiffen auch der Raum, den die 
große Welle unter der Kajüte einnimmt) genau ausgemeſſen und berechnet und dann 
das Gemeffene für Näderfciffe 1% Mal, für Schraubenfdiffe 1%, Mal vom 
gemeflenen Schiffsraume abgezogen. Der Reſt gilt ald nugbarer Ladungsraum, ohne 
daß- für Kohlenraum ein weiterer Abzug geftattet if. 

Jenes im Jahre 1849 zur allgemeinen Einführung empfohlene Verfahren bat 
feitdem in den freien Städten Kübel und Bremen Geſetzeskraft erhalten und fich im 
Gebrauche fehr gut bewährt. In Hamburg machte die Kommerz-Deputation im Jahre 
1854 den Verſuch, deffen Einführung zu veranlaffen; die Sache feheint aber nicht den 
gewünfchten Anklang gefunden zu haben, welches vielleicht darin feinen Grund bat, 
daß die jeßige, feit 1819 beſtehende, Methode fehr einfach und Leicht anzınvenden ift, 
und den daraus entftehenden Mangel an Genauigkeit durch Geübtheit und praftifchen 
Blick der NAichbeamten zu erfeßen fucht. 

Das Aichmaaß für Seefchiffe ift die Schiffstonne zu 2000 Pfd., oder die 
Schiffslaft zu 4000 Pfd. In Hamburg giebt es auch Commerzlaſten, die 11%, Schiffs⸗ 
laſten gleich find, und in Holſtein und Schleswig Commerzlaſten zu 5400 Pfd. 

Folgende Tabelle kann zur Vergleichung der gebraͤuchlichſten Laſten und Tonnen 


dienen: 100 Samburger Gommerz-Laften 


* zu 6000 alte Hamburger Handelspfund 
find gleich. 
286,20 engl. Tons zu 2240 engl. Pfd.; 100 von dieſen find gleich 34,94 Hamb. Commerzlaften 
290,77 franz. Tonneaur zu 1000 Rilogr.; > en nn 34,39 „. „ 
155,01 preuß. NRormallaftenzu 4000 Pfo.pr.; % nn 644 „ „ 
111,83 Schlesw,p. Holfteinfche Commerzlaften zu 5200 Pfp.; 89,42 „ „ 


Alde toi et le ciel l’aidera! Name und Wahlfpruch einer im Jahre 1824 in 
Paris gebildeten, aus den Neihen der Doctrinärd oder gemäßigten Kiberalen hervor 
gegangenen Gefellfchaft. Die Gründer waren Remüſat (f. d.), Dubois, Guiffard, 
Rebacteure und MitarBeiter des „Globe“, des urfprünglichen Organs der Gefellfchaft. 
welche auch in den Bureaus biefer Zeitung ihre Zufammenkünfte hatte. Allmählich 
zog die Geſellſchaft viele Mitglieder früherer geheimen Verbindungen in ihre Reiben; 
oftenftbler Zwed war’ der legale Widerftand, ihr eigentlicher aber Oppofltion gegen 
die Bourbond. Nahden Odilon Barrot (ſ. d.) den Vorfig übernommen, wurden 


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DDErjeriE ori DUO HER petrſjontn ver 2 „NEUSUURUMEN ſall AUSURYIRE NUN 
zweien, welche geftorben find, befleiven jet die wichtigften Pläge unter unferm würdi⸗ 
gen Monarchen, dem Beften der Republikaner”, gefteht ein vepublifanifches Blatt, ver 
Ami des Peuples, im September 1830), unter diefer oberften Vente fand eine zweite, 
gleichfall8 fireng geheime, dad Comit& directeur, aus fünf Mitgliedern zufammengefekt, 
welche eine reiche Verzweigung in hoben, Central⸗ und ParticularseBenten hatte. Natürlich 
begünftigte diefe Organifation auf der einen Seite die Betheiligung hoher Perfonen am 
leitenden Mittelpunfte der Verfhwörung und auf der anderen eine ganz unmerkliche 
Beeinfluffung aller beſtehenden politifchen Vereinigungen, auch der Geſellſchaft Aide 
toi. Allerdings war die innere Rage Frankreichs damals eine abnorme, und voraus⸗ 
geworfene Schatten, wie 3. B. eine damals erfcheinende minifterielle Slugjchrift „über 
. die Nothmwendigkeit einer Dietatur* (von Eottu), mußten die Aufregung auf einen 
böchften Grad fleigern. (Vergl. auch „Geſchichte Frankreichs von 1814 — 1852 von 
A. L. v. Roch au. Leipzig, Hirzel. 1858. 1. ©. 183, eine zwar einfeitig das libe 
rale Element vertheidigende Darftelung, Die indeß die geheime Agitation zu Gunften 


der Orleans, welche überall den Bewegungen der legten Jahre der Neftauration zu 


Grunde lag, wenigftens doch anbeutet.) . 


Aiguillon. Der Earbinals Herzog von Nichelieu kaufte 1638 das Hergogiham 
Aiguillon im Agenois und fchenkte es der Tochter feiner Schwefter Francoiſe du 


Plefils, die mit Nene von Wignerod vermählt war. Marie Magpdalene de Big 
nerod du Pleſſis, erfte Herzogin von Aiguillon, Witwe von Antoine du Roure de 
Combalet ftarb 1675. Ihr Neffe und Erbe war Johann Armand de Vignerot du 
Pleſſis, Graf von Agenois, Marquis von Nichelien und Herzog von Aiguillon, der 
auch zugleich dem Herzogthum und der Pairfchaft von Nichelieu fubftituist war; ihm 





folgte im Herzogthum Niguillon, Ludwig Armand (er ift nur durch einige objeöne 


Bücher bekannt, die er in Oemeinfchaft mit dem Abbe Grecourt, dem Pater Vinst 
und der Prinzeß Conti verfaßte) und dieſem enplih 1750 Emanuel Arman 
de Wignerod du Pleſſis dritter Herzog von Aiguillon, der 1720 geboren war und 
bis 1750, wo fein Vater ftarb, den Titel eines Grafen von Agenois führte. Durch 
feinen Better den Herzog und Warfchall von Nichelieun machte er früh fein Ylid 
bei Hofe und den hohen Damen deffelben. U. war ein feiner und jchlaue 
Höfling, aber gewiffenlos und hochfahrend, ein mittelmäßiger Soldat, jämmerlichet 
Polititer und Eläglicher Adminiftrator. Sein Gouvernement Elfaß war dad am ſchlech— 
teften verwaltete in Frankreich; ald Commandirender in Bretagne gerieth er mit dem 
Parlamente, das fich feinen Forderungen nicht fügen wollte, in jenen Streit, in welchen 
er zwar flegte, aber dem Königthum unheilbare Wunden fchlug. Seine Verurtheilum 
bucch das PBarifer Parlament wurde durch einen koͤniglichen Machtfpruch gehindert, und 
als er den Herzog von Ehoifeul geftürzt und felbft Minifter der auswärtigen Angeles 
genheiten geworben war, tächte er fich an den Barlamenten, indem er fie auf alle Belt 
reizte und erniebrigte. Die, ſchiefe Stellung der Parlamente zum Königthum, die 
bald dem letzteren fo verberblich werben follte, war zum großen Theil das Wut 
Aiguillon's. Seit 1771 Minifter der auswärtigen Angelegenheiten, leitete er die Pol 
tik Frankreichs mit kaum erflärlihem Ungeſchick, von der zweiten Theilung Polen! 
hatte er eben fo wenig wie fein Gefanbter zu Wien, Cardinal Rohan, auch nur eine 
Ahnung. Die Gunft der Gräfin du Barry allein Eonnte ihn erhalten, kurz vor Lu 
wigs XV. Tode erhielt er auch noch das Portefeuille des Kriegsminiſters, noch hatte er 
feine Zeit mehr, fih auch auf dieſem Poften durch Uingefchidlichkeit auszuzeichnen, denn 
als Ludwig XV. flarb, wurde er entlaffen und vom Hoflager verwiefen. Der alte Höfling 
ftarb 1783 in der Verbannung. Seine Gemahlin war Louife Elifabeth von Brehan, 
Ludwig Roberts von Brehan Grafen von Plelo Tochter, Die er 1740 heirathete. Bel 
diefer Dame fand ein merfwürdiges Naturfpielftatt, fle wurde bei jeder Schwanger 
haft dunfelfarbig, faft ſchwarz und erhielt erſt nach ber Entbindung ihren zarten wer 
fen Teint wieder. Auf die Kinder hatte das feinen Einfluß. Der ältefte Sohn auf 
dieſer Ehe Armand de Wignerod du Pleffld war der vierte. Herzog von Aiguillon, 
ex trat 1789 in die Berfammlung ber &lats generaux als Deputirter des Adels yon 


x 








wahrend JE vei DER Admiſchadalen AUT, D. I RUNGENDE, OBpringende, UND DE DEN 
Korjälgn Kuinala heißen. Nach diefem Volke erhielt Die ganze Infelreihe zwifchen Japan 
und Kamtfchatka den Namen der Kurilifchen, Kuro Muſchiri, d. i. in der Ainofpradje In⸗ 
feln der Kuro oder Menfchen. Es gehört dahin auch die in der Ainofprache Taraikai oder 
Tarafai heißende Infel, auch Karafuto, Karafto ıc., von den Iapanefen Oku oder Kita 
Je⸗ßo, d. h. Innere oder. Nord⸗Je⸗ßo, auf den älteren der europäifchen Landkarten Sacha⸗ 
lien genannt, — eine Abkürzung von Saghaliensangashata, d. h. Infel der Mündung 
des fchwarzen Fluſſes, wie man auf dem benachbarten Fefllande im Mündungsgebiet bed 
Amur ſpricht, — fo wie diejenige, welche wir Je⸗ßo zu nennen pflegen, nach dem 
Namen, den die Japanefen den Aino überhaupt geben, und der, fo wie die chineflide 
Benennung Hia⸗-hi der Kurilen, Krabben» Barbaren bedeutet. Die am Ausflug des 
Amur und auf der Küfte des Feſtlandes wohnende VBölkerfchaft, welche von den Mandfihu 
Chedſchen, auch Fiaku genannt wird, und Bie in älteren und ben neueften ruſſiſchen 
Nachrichten Giljaki heißen, bat man bisher für Aino gehalten; allein Unterfuchungen, 
welche im Jahre 1855 ruſſiſcher Seits angeftellt worden find, haben dargethan, daß 
Anno, Giljuki und Tungufen drei nach Abflammung, Sprache, Charakter und Leben 
weiſe von einander völlig verfchiedene Voͤlker find, die aber Hinſichts des Wohnplapes 
auf der Infel Taraifai zufammentreffen. Was die Sprache der Aino betrifft, fo if ed 
nachgewiefen worden, daß in ihr die eigenthümlichen Conſtructionsgeſetze vorberrfchen, 
welche ald Merkmale der, ugrifchen und tatarifchen Sprachen gelten. Die Aino find 
ein harmloſes, unfriegerifches Volk, von Körper flarf, ausdauernd und Elein, und in 
Gefichtözügen von Iapanefen und Mandſchu (Tungufen) gleich verfchieden. Man bat 
‚fe die „haarige Race" genannt, und in der That paßt diefe Bezeichnung fehr gut: ihre 
fhwarzen, fliegenden Loden bangen bis unter die Schultern herab, und ihre Kinn-, 
kippen» und Badenbärte würden den Neid eined Sappeurs der „Garde Imperial" 
erregen. Auf der Bruft und über den ganzen Leib ift der Aino ungewöhnlich rau) 
und baarig, und alled Haar am Keibe ift ſchwarz und röthlich-ſchwarz. Alles, was bie 
Aino Wildes an fi haben, flammt von den Kamtfchadalen, ihren nördlichen, und von 
den nomadifrenden Tungufen, ihren weftlichen Nachbaren: das fchwarzbraune Geſicht, 
die Gewohnheit fi die Lippen zu fehmwärzen und fich die Arme bis an dew Ellenbogen 
mit allerhand phantaftifchen Figuren zu bemalen, ſich aus den Häuten vierfüßiger und 
geflügelter Thiere Kleider zu machen, die aus Haaren und Zedern in buntefter Karben 
mifchung zufammengefegt find. Alles Künflliche Haben fle von den Iapanejen entlehnt, 
namentlich das Scheeren des Kopfes, Die Art der Begrüßung, die Tracht, filbern 
Ninge in den Ohren zu tragen ac.; fogar in ihrem Wefen zeigen die Aino des fübli- 
hen Theiled von Taraikai, wo fle zeitweilig mit den Japanefen in Berührung, und 
gewiflermaßen unter ihrer Botmäßpigfeit ſtehen, etwas Düfteres und Zurückgezogenes, 
was gegen daß freie und männliche Benehmen ihrer Brüder im Norden abfticht. In 
ihrem Polytheismus nennen fle auf Taraikai die oberfte Gottheit Kamoi, vom japani- 
fhen Kami, auf den Eurilifchen Infeln aber Iefu, ein Wort, was fle von den Ruſſen 
angenommen haben. Diefed, fo wie alle übrigen Glieder ihres Götterhaing verſinn⸗ 
lichen fie flch durch hölzerne Götzenbilder, Ingul oder Innalu genannt, denen die erflen 
Thiere, die fle fangen, zum Opfer gebracht werden, doch nur die Haut, das Fleiſch 
verzehren die opfernden Gläubigen felbfl. Den Kamoi zu ehren ziehen fie nad ben 
Bergen und zünden auf deren Gipfel große Feuer an, und darin beſteht ihr ganzer 
Kultus, der vermuthlich mit der vulkanifchen Befchaffenheit ihres Landes, — alle Futi- 
lifche Infeln find die Heerde feuerfpeiender Berge — in Zufammenbang fteht. Die 
Jagd auf Pelz» und andere Thiere des Landes wie des Meeres ift die Hauptbeſchaͤfti⸗ 
gung der Aino, und ihr Ertrag giebt ihnen Nahrung, fo wie die Gegenftände zum 
Tauſch gegen die Waaren, welche ihnen von Japanefen und Huffen zugeführt werben, 
und die hauptfählic in Kleivungsftoffen, Tabak, Tabaföpfeifen, Reis, japanifchem Bein 
u. ſ. w. befteben. In ihren Heinen Weilern ein patriarchalifches Leben führend, flehen 
die Aino auf Je⸗ßo, im fühlichen Theil von Taraikai und den fühlichen Infeln der 
Kurilenkette unter japanifcher Botmäßigkeit, auf den nördlichen Kurilen dagegen unter 
ruſſiſcher, fo zwar, daß fle in den Verwaltungskreis der ruffifch-amerikanifchen Colonieen 











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zehn Jahren Der Schauplug geworben iſt, ſteht zu erwarten, daß alle Aino binnen 
Kurzem unter ruſſiſche Herrfchaft gelangen werden. 
Ainsworth (William, Harrifon), englifcher Romandichter geboren 4. Februar 
1805 zu Mancheſter. Vom Bater zum Nachfolger in der Advocatenpraris deſſel⸗ 
ben beſtimmt, indeß ohne Neigung zu biefer Thätigkeit, legte er fich auf's Verſe⸗ 
machen, veröffentlichte unter dem Pſeudonym Cheviot Tichebourne einen Band Poems 
1824, gründete in jeiner Baterftabt ein kleines Journal, the Manchester Iris, und ging 
dann nach London, um den fchönen Künften zu leben. Seine Erftlingsverjuche blieben 
ohne größeren Erfolg, wenn auch Walter Scott ihm für feinen erften Roman „Sir 
John Ebiverton* (1825) eine aufmunternde Anerkennung zu Theil werden ließ "und 
einer der erften Buchhändler Londons, Eberd, das Talent des jungen Manned ahnend, 
ihm feine Tochter zur Frau gab. Heifen durch Deutfchland, die Schweiz und Italien 
fhafften ihm Gelegenheit zu fcharfen und lohnenden Beobachtungen des Lebend und des 
Geſchmackes der Geſellſchaft. Er fehmeichelte von jebt an der Neigung des Zeitalters 
zum Schauerlihen und Wilden und verband damit auf glüdliche Weife einen jenti- 
mentalen Zug, der befonders in feinen Schilderungen patriarchalifcher, feudaler, alt» 
bürgerlicher, aber auch roffofoartiger Zuftände hervortritt. Seine Romane find: Rook⸗ 
wood (1834), Crichton (1837), Jack Sheppard (1839), Guy Fawkes (1840), Der 
Tower (1840), Die alte St. Paulskirche (1841), Die Tochter des Elenven (1843), 
Schloß Windſor (1843), St. James (1844), LKancaftersheren (1848), Die Stern» 
kammer; Die Spedjeite (the Flitch of.bacon) (1854) x. Ainsworth führte außerdem 
eine Zeit lang die Rebaction von Bentley’s miscellany, gründete dann 1842 felbft das 
Ainsworih’s magazine und erwarb dazu im Jahre 1845 noch dad „neue Monatd-Magazin* 
ald Eigenthümer. In diefen und ähnlichen Unterhaltungsblättern erſchien und erfcheint 
ein THeil feiner Romane in laufenden Fortfeßungen. Ainsworth gehört zu den Lieb- 
lingen des englifchen Mittelftandes, höher hinauf dringen feine Arbeiten felten, wie er 
denn ſelbſt ein erflärter und offener Feind der „fafhionablen Novelle” iſt, an ber noch 
Immer der englifche Büchermarkt fo großen Ueberfluß hat. Ainsworth's Schilde⸗ 
rungen des alten Londons haben für Heimifche wie Fremde gleich großen Reiz, und 
fie dürfen Neifenden, welche die Hauptftabt Englands befuchen wollen, zum Studium 
empfohlen werden. Beſondere Bedeutung nicht bloß in diefer Beziehung, fondern über- 
haupt als Werke der jchildernden Kunſt, haben die beiden Nomane Ainsworths: „der 
Tower" und „die alte Pauldfiche*. Dem oft flürmifchen Beifall, den das Publikum 
den Arbeiten Ainsworth's zu Theil werden ließ, widerfprach mehrfach, befonders beim 
Erfcheinen Jack Sheppards, die Englifche Kritik, welche die Idealiftrung eines gehenk⸗ 
ten Spigbuben auf das Schärffte tavelte. U. wird gerade deswegen auch nicht zu 
ven lebenden Schriftftelleen erften Ranges in England gezählt, Dickens, Thackeray, 
Warren, Bulwer ꝛc. ftehen über ihm. . 
Aire (Dep. Pas de Ealaid), franzöftfche Feſtung vierter Klaffe, zählt 9000 Ein⸗ 
Pr Uralter vornormännifcher Ort, ſchon 881 einmal von den Normannen ers 
t. 


Aidne. 1) Nebenflaß ver Dife, des Nebenflußes der Seine, entfpringt im Des 
partement der Rand. 

2) Departement im nördlichen Frankreich, früher zum Theil zur Isle de France, 
zam Theil zur Picardie, zum Theil zur Champagne gehörig; es hat (nach der Zählung 
von 1856) 555,539 Einwohner, welche Aderbau und Gewerbe, die meift mit diefem 
zufammenhängen, treiben. Das Departement bat auch viel Wald. Bei der Zählung 
von 1836 befaß es 527,095 Einwohner, hat alfo ähnlich einer größeren Zahl anderer 
vorzugsmeife- adlerbautreibender Departements an Einwohnern wenig zugenommen. (Die 
Gefammt» Bevölkerung Frankreichs flieg überhaupt von 1851—1856 nur um 250,000 
Seelen, die von Paris aber allein um 300,000; fihon daraus laͤßt ſich auf die Bes 
wegung der Waffe, welche ſich immer mehr und mehr in den großen Städten concentrirt, 
ſchließen. Das Departement Aisne bat fünf Arronviffements (Kaon, St. Quentin, 


Chateau⸗Thierry, Soiſſons, Vervier) gehört zur zweiten Miltär-Diviflon, zum Gerichts⸗ 
hofe von Amiens und zum Visthum von Soiſſons. 





Alb, SILHNDU U NDIERLLETT EN, SD DEE RERELT UT uſit VOR OIEURSEENG BETTER 
der Mündung des Charente⸗Fluſſes und der Infel Dleron gelegen, und zur Landichaft 
Aunis oder dem jeßigen Departement der untern Eharente gehörig, dient das auf diefem 
Kleinen, unbewohnten Eiland angelegte Fort mit zum Schuß des großen Handels⸗ und 
Kriegshafens von Mochefort, eines der von Natur vorzüglichften an Frankreichs Küſten. 
Im fiebenjährigen Kriege wurde diefe Feſtung zwei Mal von den Englänbern zerſtoͤrt, 
nämlich 1757 urd 1761. Im dem Kriege aber, den England ein Biertel-Jahrhundert 
lang gegen die franzöftfche Revolution und den entartetfien ihrer Söhne zur Rettung 
der Gefittung mit bemunderungswürdiger Ausdauer gekämpft bat, ift dieſes Tleine Ei- 
land, oder vielmehr Die Meergegend, in welcher e8 liegt und die von den einfligen Bes 
wohnern des Küftenlandes noch heute Die Rhede der Basken heißt, durch ein Seetreffen 
befannt geworben, welches, nach den Tagen von Abukir und Trafalgar, das Ueberge 
wicht Englands aufs Neue befeftigte. Nachdem die englifche Flotte unter Lord Gambier, 
welche Breit blodirte, durch Gegenwinde und Sturmwetter gezwungen worden war, in 
Zorbay Schub zu fuchen, wagte fi der Contre-Admiral Villaumez aus feinem 
Schlupfwinkel heraus. Er fegelte 1809 am 21. Februar von Breit ab mit 8 Linien 
fohiffen und 3 Fregatten, und erfchien am Abend deſſelben Tages vor L'Orient, um fih 
dajeldft mit dem Geſchwader des Schiffdcapitaindg Troude zu vereinigen. Weil mm 
aber die Fluth dies Vorhaben vereitelte, fo machte er ſich nach der Basken⸗Rhede bei 
dem Eiland Ar auf den Weg, wofelbft er am 24. Fchruar vor Anker ging. Admital 
Gambier, von dem in Kenntniß geſetzt, was vorgegangen war, verließ Torbay, mit 
Allem verjehen, was zum Verbrennen der franzöflfchen Flotte erforderlich war, inſon⸗ 
derheit mit Gongreve’fchen Raketen, die damald etwas Neued waren. Lord Cochrane 
wurde ntit dem Zerſtörungswerk beauftragt. „Die Gnade des Allmächtigen für bed 
Königs Majeftät und das englifhe Volk, fo begann der Bericht über das Treffen, 
bat fih durch den Erfolg bewährt, den Er der unter meinem Befehl ſtehenden Flotte 
©. M. verliehen bat." Die franzdfifche Flotte auf der Basken⸗Rhede, durch den Ar 
miral W’Allemand von Mochefort aus verflärkt, zählte 15 Schiffe, davon 11 von 
120—56 Kanonen und 4 von 36 Kanonen. Bier diefer Schiffe, eined von 80, zwei 
von 74 und eind von 56 Kanonen, wurben verbrannt, alle übrigen mußten, um ſich 
vor den Engländern zu retten, auf den Strand laufen. Diefes Treffen fand am 11. 
April 1809 ftatt. Beide Regierungen waren mit dem Ausgange nicht zufrieden, und 
ftellten deshalb ihre Anmirale vor ein Kriegögericht; Die englifche den ihrigen, daß a 
nicht die gefammte Flotte ded Gegners dem Feuer geopfert, Buonaparte den jeinigen, 
daß er fich nicht beſſer gewehrt! 

Air, Stadt in Frankreich, Sig eines Erzbiſchofs, auch eines Yinterpräfecten im Der. 
der Rhöne-Mündungen, bis zum Ausbruch der Nevolution Hauptftadt derjenigen Pro 
vinz, von der fi} die Könige von Frankreich in ihren öffentlichen Erlaffen „Grafen von 
Provence, Forcalquier und angränzenden Landen” nannten. Air ift Aqua Sertid, vom 
römifchen Feldherrn Sertus Calvinus gegründet, der bier eine Feſtung anlegte, und bie 
felbe nach den: Thermen (warmen Bädern), die er bier fand, und nad) feinem Ram 
benannte. Unter den Römern blühend, von den Arabern zur Zeit Karl Wartet 
zerftört, wurbe es von den Grafen der Provence wieder hergeftellt, die dort ihre Reſi⸗ 
denz nahmen. Hier bildete fich Die langue d’Oc und die provencalifche Poeſte. Au, 
eine der fchönften Städte Frankreichs, belegen in einem ziemlich breiten, vom Arc be 
wäfferten und vornehmlich mit Oelbäumen bepflanzten Thale, — Thuile d’Aix gilt 
für das befte Der Provencer Dele, — ift von mäßigem Umfange, zählt 24,660 Einw., 
eine Stadt mit breiten Straßen, die mit palaftartigen Häufern befegt find, und einem 
ungemein fihönen, großen und mit verfchievenen Springbrunnen geſchmückten Spaziet⸗ 
plag, welcher Orbitelle genannt wird, wie man dergleichen Rennbahnen (cours) in allen 
anfehnlichen Stäpten Frankreich findet, eine, in deutfchen Städten oft entbehrte, große 
Wohlthat, infonderheit für die Kinderichaar. In Air erinnert nichts an's Alterthum, 
wenn nicht etwa einige Säulen, welche in der erzbifchöflichen Metropolitanficche, einem 
Bandenktmale ded Mittelalters, die Taufenpelle tragen und die man für Ueberrefte eine® 
ApollosTempels hält. Die warnen Quellen, denen Air, zu Deutfch Ay, feinen Namen 
verdankt, erfreuen fich, nachdem ſie 1704 wieder an's Licht geführt worden, fortwähe 











ſtens Linderung fuchen. Alles im diefer Stadt erinnert Dagegen an die alte HSauptflabt 
der Grafen ver „Provinz“ im Arelatifhen Königeeih, und an den Mufenfig der Trou⸗ 
badours; auch befigt fle eine, von ihrem Gründer Mechaned benannte, Bibliothek, eine 
der reichſten an Drudwerfen und namentlih Handjchriften in ganz Branfreih, ein 
[höne8 Mufeum, wilfenfhaftlide Sammlungen und eine f. g. Akademie, aus zwei Fa⸗ 
eultäten beſtehend, einer uriftifchen und einer theologifchen, von denen bie erflere ſeit 
länger als einem Jahrhundert einen großen Ruf behauptet hat. Einft der Sig des Pars 
lamentd der Provence, ift Air auch Sit geblieben des Appellationdgerichtd für das Dep. 


. der Rhöne-Mündungen und noch andere Departements, ganz abweichend von der Negel, 


welche die „Cour nationale, imperiale oder royale, — ober wie das -Prädicat, je nach der 
eben in Mode feienden Regierungsweiſe lauten möge, — indie Departementshauptftabt 
weit, Die alfo in dieſem Kalle Marfeille wäre. Air ift pie Heimath von Tournefort, Adan- 
fon, Bauvenargued, des Seefahrers und Entdeckers D’Entrecafteaur, der La Peroufe aufs 
ſuchen ſollte, des Staatsmannes und Geſchichtſchreibers Thiers, bes Marquis d'Argens ıc. 
Air, Stadt in Savoten mit 2000 Einw., belegen in einem köſtlichen Thale, 
Yas ſich gegen den See von Bourget öffnet, gleichfalls berühmt wegen ihrer warmen 
Bäder, Aquä Gratiani, Sabaudica, Allobrogum der Alten, von deren Bauwerken ſich 
Veeberrefte erhalten haben, ein Triumphbogen des Pomponiud und die Trümmer eines 
Diana⸗Tempels. Bon den Baͤdern heißt eind das Koͤnigsbad, ein anderes das Schwefele, 
ein drittes dad Alaunbad. Die Stadt führte fonft den Titel einer Markgrafichaft. 
Ajaecio, Ajazzo, Ayacio, fprich Ajatſchſcho, Hauptfladt der Infel Eorfica mit 
ungefähr 9000 Einwohnern. | 
Ajaccio, an der Weftfeite der Injel belegen, bezeichnet die fchönfte Stelle von 
Eorfica. Es liegt an einer geräumigen Seebucht, die für die größten Schiffe einen 
bequemen und fihern Hafen darbietet, und in der rothe, weiße und ſchwarze Korallen 
gefifcht werben. Ueberhaupt ift Fifcherei ein Hauptgewerbe der Einwohner, nächſtdem 
Weinbau und Rhederei, zu deren Behuf eine Schifffahrtsfchule beſteht. Ajaccio iſt der 
Wohnort des Präferten vom Departement Corſe und eines Bifchofd der Tateinifchen 
Kirche; es leben dort auch Anhänger der griechifchen. Das Bisthum fand zur Zeit, 
ale Korfica ein Beſitzthum der Republik Genua war, unter dem Erzbisthum Pifa; ſeit⸗ 
dem die Franzoſen ſich ver Inſel bemächtigt haben, gehört ed zum erzbifchöflichen 
Sprengel der Kirche zu Air. Die AderbausGefellichaft, die ſich in Ajaccio gebildet 
bat, unterhält einen Pflanzengarten. Der Hafen ift durch eine Gitadelle von mäßigem 
Umfange geſchützt. Hier wurde Napoleon Buonaparte am 5. Auguft 1769 geboren, 
nidyt am 15., wie er felbft angab, damit fein Geburtstag mit einem großen katholiſchen 
Kirchenfeſte juſammenfiele. 
Ajan, in Sibirien, an der nordweſtlichen Küſte des ochozkiſchen Meeres, unter 
569 25° N. Br. und 136% 4° DO. L. von Paris, bisher ganz unbekannt und auf Feiner 
der früheren rufjifchen Karten angegeben, iſt für den Handel zwifchen dem Amur⸗Lande 
auf der einen, und Kamtſchatka, Amerika u. f. w. auf der andern Seite von der größ⸗ 
ten Bedeutung, denn es ift die große Niederlage für die ruſſiſche und amerifanifche 
Pelzhandel⸗Compagnie und. der Stapelplap der Waaren, die von Sitcha und dem ruſſi⸗ 
fhen Amerika überhaupt nach den chineflfchen Märkten längs des Amurſtroms gebracht 
werden. jan ift ein hübſcher Ort mit ungefähr 300 Einwohnern, Ruſſen von Ges 
burt, einem Gouverneur, der bi8 1854 unter dem General-Gouperneur von Oftfibirien 
in Irkuzk fland, und einem Agenten der Geſellſchaft. Es Hat ein Gotteshaus des 
morgenländifch »vechtgläubigen Kirchenbefenntniffes und wird jährlich zwei Mal vom 
Retropoliten von Oftfibirten befucht. Der Hafen tft als Anterplag dem von Ochozf 
weit vorzuziehen und befteht aus drei Becken, die durch vorfpringende Landſpitzen von 
einander getrennt find; das aͤußerſte iſt als Rhede zu betrachten, und das innere nur 
Dampf» und Heinen Segelichiffen zuganglih. Don der See aus ift der Hafen ſchwer 
zu erkennen und fann nur durch eine tief nach Norden und Oſten ſich ausbreitende 
Bucht und durch einige auffallende Felsfpigen unterſchieden werben. 
Ajan iſt aber auch der Name eines See's in Klein«Aflen, an deſſen Ufer die be⸗ 
rühmte Stabt Nicaͤa fleht, vom herrſchenden Osmanen⸗Volke Isnik genannt. Endlich ift 











“un, ul PVBERGISTEISUVE NIUJERLDBER, PS UUYEE SYyal, DEE AERERE , DER UW 
ältere Geographie einem afrikanifhen Küftenlande beilegt, und zwar demjenigen Theile 
der Oftküfte von Afrika, welcher fi vom Aequator norbwärts bis zum DBorgebirge 
Dſchardafun (Guardafui) erfiredt, ein fehr wenig befannter, dürrer, unfeuchtbarer und 
fohlecht bevölkerter Landſtrich, von räuberifchen Galla- und Somalishorden bewohnt, 
und in einigen Küftenpunften von Urabern aus Maskat beherrfcht. 

Akademie ’), eine wiffenfcheftliche Anftalt, bald vom Staate, bald von Privat 
im Interefle einer einzelnen oder aller Wiffenfchaften und der Wiſſenſchaft über- 
‚ baupt eingerichtet. Der Name wurde zuerft zur Bezeichnung des Kreifes von Philo⸗ 

fophen gebraucht, die Platon als feine Schüler auf einem kleinen Gute, dem akade⸗ 
mifchen Hain am Kephyſſos bei Athen (um das Jahr 388 v. Ehr.) um ſich ſammelte. 
(Akademos foll ein Heros gewefen fein; ihm weihte das Volk den bezeichneten Hain). ?) 
In das alternde und zerfallende Rom zog mit der Griechifchen Kunft und Wiſſen⸗ 
fchaft auch die Beachtung jeder äußeren Form und jedes Detaild griechifchen ebene 
ein; die griechifche Move war eine Macht, der ſich feldft Die Kaifer beugten. Auch die 
Erneuerung wiffenfchaftlicher Vereine, wie jene griechifchen und feine beimathlichen Nach⸗ 
ahmungen es waren, galt als eine Forderung guten Gefhmadd. Da aber der innen 
Trieb zu einer wirklichen wifjenfthaftlichen Thätigfeit, Die mit ihren Mefultaten flett 
auch auf das politifche, religiöfe, fociale Leben zu wirken bemüht ift, wie immer mit 
der politifchen Freiheit begraben war, fo Fonnte die römifche Akademie im beften Falle 
nur als launenhafte Barricatur auf einem Tusculum, in der Villa eines wohlgebilveten 
MWeltweifen gebeiben, indeß auch Cicero war wohl in den meiften Fällen genöthigt, 
feine philofophifchen Unterredungen und Erörterungen flatt mit lebendigen an ber 
MWiffenfchaft intereffirten Freunden mit imaginären PBerfonen zu führen, Wiederſpiege⸗ 
lungen feiner ſelbſt, wie wir fie denn in feinen philofophifchen Werfen dürr und lang 
weilig dem Autor gegenübergeftellt, nach der Schablone antwortend und fragend, wie 
derfinden. Die Akademie war zu einem Monologe der Wiſſenſchaft und dieſer zum Ro 
‚ nolog eines müfllgen und einfeitigen Philofophen geworden. Der Lebensgeiit Roms, 
während feiner Blüthe auf die Waffen und auf die Gefeggebung geftellt, mußte 
in’ der That erft von den Latinern gewichen fein, ehe fie fich philoſophiſchen 
Disputationen bingaben, und er war ed. Dem Berfall des Volkes in Staat 
und Gottesdienſt entfprach jebt allein noch, der Despotismus, und die Kaife, 
die ihn auszuüben unternahmen, fanden ein Volksthum vor, das mit allım 
Miffen und allen Künften vertraut, Doch in ihnen Feine Erflarfung, fondern nur 
eine Befriedigung feiner Launen und eine finnlihe Sättigung fand. Die Aufgabe 
ihrer inneren Bolitit war natürlich eine rein polizeiliche, aber weil das römifche Volt 
um fo unbändiger und fchroieriger geworden war, je mehr ihm fein inneres Gefet zu 
fehlen begann, jo durfte fich dieſe Polizei nicht auf die Mittel äußerer Gewalt beſchraͤn⸗ 
ten, fondern fie mußte fich durch alle feineren Werkzeuge, die auf gebildete, nervoͤſe 
und waffinirte Geifter einen Einfluß ausüben koͤnnen, verftärten. So ward Kunft und 
Wiffenfchaft im römifchen Kaiferreich ebenfalld zu einer Abtheilung der höheren Polizei, 
‚und neben den Volks⸗Amphitheatern mit ihren freien Entrees und obligaten Brot 
marfen gründeten fle auch Schulen der gutgefinnten Wiflenfchaft, frivole, ungläubige, 
dilettantifche Schulen, aber voll von dem Geiſte der Imperatorifchen Disciplin.) Dem 








1) Mir gedenken bier einer untergeorbneteren Bedeutung des Wortes A. nicht, in welcher ed 
einen Theil der fog. franz. Univerfität, d.h. der Gefammtheit des flaatlichen Unterrichtswefend, 
bildet. Nad) dem Geſetze von 1850 follte es 3. DB. 86 Akademieen, in jedem Departement eine, 
geben, man kann diefe 9. mit unfern Provinzial-Schul:Behörden vergleihen (f. Holzapfel. Er 
ziehung und Unterricht in Frankreich. Magdeburg. Baͤnſch. 1853). . 

2) Man zählt im Alterthum drei Afademieen: die alte A., gebildet von wirklichen Schülern 
Platon’ (ESpeufippos, Zenocrates, Bolemon, Grantor) ; die mittlere, 244 v. Ehr. von Arceſilaos 
gegründet Grundſatz: „Man kann nichts wiſſen“); die neue, von Carneades 160 v. Chr. ge: 
“ gründet („Man kann in der Grfenntniß nur bis zum Wahrfcheinlichen kommen“). Ginige nehmen 
nod) eine vierte und ſelbſt fünfte Akademie an, deren Häupter Philo und Antiochus fein würden. 

3) Aus den römischen Provinzen verlangt man in Rom, wenn man Bedarf hat, das nöthige 
Duantum geiftiger Unterhaltung, Schaufpieler, neue Xehrer der Mhetorif, und der Praefectus nO- 
bis fendet dann das Betreffende. (So fam Auguflin von Rom nad) Mailand. Conf. V. 13. Ed. 
Tauchn. 1837. S. 77.) Aehnlich hatten ſchon die Ptolemier zu Alerandria die Wiſſenſchafte⸗ 








Dub, eine Muye und Ordnung zu befefligen, m welcher einem blinden Glauben ein 
Stillſtand jeder allgemeinen Entwickelung der Wiſſenſchaft entſprach. Noch immer 
blieb der italiſche Scharfſinn, die italiſche Elaſticitaͤt des Denkens und die Vollendung 
der Form des Gedankens erhalten, aber man bejchränfte ſich gern auf Die Einzeln- 
beiten, und fcharf trennte ſich, wie überall da, wo die Wiflenfchaft nur noch eine 
Unterhaltung ift, dad Willen vom Kögnen. Noch heut blühen in Italien Akademieen, 
bie folche Unterhaltung fürbern, eine einzige Stadt hat deren mehrere, öfters viele, und 
ihre Leitungen baben in den Augen des Fachmannes Werth, aber. dem Volke und 
deu Lande beveuten fie nicht. Die wichtigften Derfelben find: 

Die Akademie della Grusca, 1582 zu Florenz gegründet, bejchäftigt ich mit 
Literatur; man verdankt ihr ein italienifches Wörterbuch, welches in allen Fragen über 
italienifche Sprache entfcheidend ift (erfte Ausgabe 1612); ferner die U. del Cimenteo, 
gegründet zu Florenz durch den Garbinal Xeopold von Mebicis 1657, beichäftigt ſich 
vorzüglich mit Erperimental-Phyfik; ferner Die U. der Arkaden oder richtiger der Ar⸗ 
kadier, eine zu Mom 1690 gegründete literarifche Sefellichaft, in welcher jedes Mit⸗ 
glied den Namen eines arkadifchen Schäfers führt; das Inftitut von Bologna, ge 
gründet 1690 unter dem Titel Institutum scientiarum et artium etc. 

Bon Italien aus Fam die Einrichtung der Akademieen nach Frankreich. Garbinal 
Richelieu, der große Staatdmann, der ed als feinen Xebendzwed betrachtete, die 
Macht des Proteflantismus in Frankreich zu zerbrechen, ward 1635 der Stifter ber 
franzöfifhen Afademie, deren erfter Beruf ed nad dem Muſter der A. della 
Crusca war, die franzoͤſiſche Sprache zu firiren und zu glätten (polir) *); ſie ent 
ledigte ſich dieſer Aufgabe in derſelben Art und in demfelben Geifte, wie ihr italienifches 
Borbild, durch Herausgabe eines Dietionnaird der franzöflfchen Sprache, deſſen erfe 
Ausgabe 1694 (die 6te 1835) erfchien. Wit diefer Godification der italienifchen und 
des durch fie vielfach gebilveten frangöftfchen mußte Die Gedanken- Entwidelung in der 
romanifchen Volkerwelt abfchliepen, und wenn in Frankreich bi8 dahin der Kampf 
zwiſchen den vielfachen Gegenfägen, die ſich fchließlich doch in dem einzigen zwilchen 
germanifchem und romanijchem Bildungsprincip auflöfen, noch Ausfiht auf eine uns 
günftige Entſcheidung hatte, jo war mit diefer vielleicht unfcheinbaren Gefeßgebung 
auf dem Gebiete der Sprache und Literatur, die unglüdjelige Zukunft dieſes xeich bes 
gabten Volkes fchon angedeutet. Man erinnere fich, welche Die Zuflände des Bol 
kes und GStaated waren, zu deſſen oberer Megierung Richelien, ein Edelmaun 
aud dem Poitou, mit zweiundzwanzig Jahren fehon römiſch-katholiſcher Bijchof von 
Rucon, den die Gunft der Maria von Medicid an den Hof z0g, berufen wurde. 
Die beiden großen Zielpunfte feiner inneren Politik waren: „Die politiihe Macht 
des Proteflantismus in Frankreich zu zertrümmern und die GSelbftfländigfeit ded 
franzöflfchen Adels zu brechen." Jedes franzöſiſche Geſchichtsbuch wiederholt Diefe 
Säge, um daran die Bemerkung zu fügen, daß ihm fein Plan gvohl gelungen if. 
Diefer Blan aber ging auf nichts anders heraus, als die mächtigen PBofltionen, die 
das deutiche Element feit einem Jahrtaufend in Frankreich inne hatte, zu zerflören, 
mit dem Geiſte der deutſchen Freiheit und mit dem Geiſte der deutfchen Per⸗ 
fünlichkeit, der gleicher Weife in der veligiöfen Unabhängigkeitderflärung der Reforma⸗ 
tion wie in der focialen Unabhängigkeit und politifchen Autorität des franfifch organi« 
firten Adels Iebte, zu Rande zu Fommen. Es war eine überaus jchmere Aufgabe, 
die der katholiſche Biſchof und Staatsmann, der Gimftling und Schüler der florentis 
niſchen Medizis, fich ftellte, und auf den Schlachtfelvern, durch Die Sperrung von Nochelle 
und durch den Frieden von Alais und dad Edict von Nimes' allein hätte er den pro⸗ 
teftantifchen Gegenſatz nicht befeitigen können, dazu bedurfte es auch geiftiger Waffen, 


) Rante, Granzöf, Geſch. Theil HI., gegen Ende: „Bei der Gründung der franzöftjchen 
Aademie war Richelieu's Gedanke, frangö ſche Sprache von. allen Berunftaltungen, bie fie 
durch willtürlihen Gebrauch ihrer Regeln erlitten, zu reinigen, fie aus ber Reihe der barbarifchen 
Sprachen ‚für immer zu erheben; fie follte den Rang einnehmen, wie einft bie griechiſche, dann bie 
lateiniſche; fie follte in diefer Reihe bie dritte ſein. Der Begriff des Modernclaſſiſchen, dem 
ex mit Benußtjein bejörberte, hat zugleich eine politische Beziehung: fo wie die Seitung, die er zuerſ 
segelmäßig erſcheinen ließ, ein monarchiſches Inſtitut war.“ 











folgenden Jahrhunderte, alö er 1791 Der Assempblee constituante bie Emrichiung des 
Inſtitut“ vorichlug, ausſprach. Aber wenn auch der Tod die weitere Mitwirkung Des 
Cardinals an dem Werke der U. verhinderte, fo war die Ausführung feiner Idee 
nur noch eine Brage der Zeit, denn es war ihm die Hauptjache gelungen: eine Kör- 
perichaft von Schriftftellern zu gründen, die über Geiſt, Macht und Glanz genug ver- 
fügten, un eine raſch wachfende und balb nur noch von Obnmächtigen angefochtene 
oberfte Autorität über ein Volk auszuüben, das zum Selbfidenken zu träge und zur 
Verwirklichung der Wahrheit zu leichtfinnig und zu bequem war. 

Die Gefhichte der franzöſiſchen Akademie wird bald nad dem Tode 
Richelieu's immer mehr die Gefchichte Frankreichs, unter Ludwig XIV. und bis auf 
Ludwig XV. ift die A. fervil, und mit der Mitte des achtzehnten Jahrhundert begann 
ſte revolutionär zu werden. Bald nach des Cardinals Tode beginnen die Grandſeigneurs 
fhon die Mitgliedſchaft als eine Ehre zu betrachten, Anfangs meift nur, um dem Hof 
zu gefallen, wie denn ein Graf Buſſy ganz ernfihaft fagte: „Einige wirkliche Schrift- 
ftellee müflen aber doch immer drin bleiben, wenn ed auch nur wäre, um bad Wörter» 
buch fertig zu machen und ihres Sitzfleiſches wegen, was Leute, wie wir, doch nicht 
fo bewähren würden“; aber bald murbe die gefammte höhere Gefellſchafi durch und 
durch wiſſenſchaftlich und akademiſch, und jeder Salon wurde zu einer Unter⸗Akademie, 
in welchen Dichter und Philofophen fich in der „Flucht aus der Wirklichkeit“ zu über- 
bieten fuchten. Einen befonderen Nachdrud legten die U. darauf, daß alle ihre Mit- 
glieder einander gleich feien, Golbert nahm von den Akademikern den Titel Monfeigneur 
nicht an, und die flolzeften Gejchlechter Brankreich8 fanden auf den Fautenild der Bierzig 
eine neue Ehre neben dem dunkeln homme de lettres. Eine radicale Verwandlung der 
franzdfifchen Geſellſchaft, allgemach ſeit Heinrich IV. zu Stande gekommen, zeigte fi 
während der Regierung Ludwig XIV. plöglicy ald vollendet: die Scheidung nach Stän- 
den hatte in der ſtaͤdtiſchen Gefellichaft ganz aufgehört, man begann, je mehr die In 
terefien überall unter den „Gebildeten“ rein literarifch, d. 5. akademifch wurden, dem 
Beifpiel, das die A. gegeben, bald auch anderwärts zu folgen, die Titel vom Namen 
hinwegzulaſſen und alle Mitglieder einer Gefellfchaft ald Gleiche zu betrachten; kurz, Das 
unfelige Gegentheil der Wahrheit, welche doch gerade die Ungleichheit zur Bildung einer 
den politifchen Künftler und die Natur gleichmäßig befriedigenden Gejellichaft verlangt, 
am in Frankreich an die Tagesordnung (f. Franzöflihe Revolution). Die einzige 
Art der Ungleichheit bewirkte ſeit diefer Zeit .wie in der ganzen franzöflfchen Gefell- 

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fchaft, fo auch in der A. uur noch die willfürliche, weil von tieferen focialen Gefegen 
Io8geldfte Hofetiquette. Ste verhinderte die Aufnahme Moliere's (+ 1673), des 
Comoͤdiendichters, eines der erften und boffnungsreichften Geifter Frankreichs, darum, 
weil er — ein Comöbiant war. In eine Akademie nach deutfchem Ideal hätte Moliere 
duschaus gehört. 1778 ftellte Die A. feine Büſte in ihrem Saale auf und gab ihr 
die Infchrift: Rien ne manque à sa gloire; il manquait à la nötre. 

Die hauptſächliche, fat kann man fagen, die ausjchließliche Beichäftigung der 
franzöftfchen Akademie war bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Schmei- 
chelei des Könige. 1663 wurde durch Colbert aud der großen Akademie eine kleinere 
(la petite A., A. des medailles) erwählt, zunaͤchſt aus vier Perfonen beftehend, deren 
"einzige Aufgabe e8 war, Infchriften und Devifen für die Triumphbogen, Pyramiden 
und Medaillen, welche den Ruhm und die Großthaten Ludwig XIV. preifen follten, zu 
erfinden. „Wenn augenbliclich Teine dergleichen Beftellungen vorlagen“, fchreibt ein 
damaliges Mitglied, „fo befchäftigten wir und damit, die Profa und Poeſie zu corrigi« 
ven, welche zum Preis des Königs eingelaufen war." 8 liegt eine furchtbare Logik 
m dieſer Entwidelung der romaniichen Akademie. Angelegt fcheinbar nur zu dem 
Zweck, die Wiflenfchaft, den Reichthum der Beifter zu mehren, ift fle nach wenigen Schrit⸗ 
sen fchon bei dem Amte eines verlogenen Luftigmachers angefommen, und fie mußte 
dort ankommen: Willfürlich Hatte fie fich über Das Weſen des Geiftes, die indivi« 
duelle Freiheit, hinmeggefeht, und gerüftet mit der Staatsmacht, ihm Geſetze aufzuzwin⸗ 
gen gewagt, indem ſie dem Gedanken die Sprache und die Richtung zugleich auch der 
Zeit den Geſchmack vorſchrieb; ſtatt Gottes, des oberſten Hortes aller perfönlichen 
Freiheit, erkannte ſie die Staatsmacht als oberfied Negiment im Gebiete des Weifles, 


J 


⸗ 


eine revolutionaͤre Oppoſition machen, und wenn man auf ihren Urſprung ſieht, ſo kann 
man ihren Abfall vom Koͤnigthum nicht auffällig finden. Die Huldigung gegen das 
Koͤnigthum kann in der romaniſchen Entwicklung nur die Sache eines Augenblicks ſein, 
faſt möchte man ſagen, nur die Bedeutung eines mathematiſchen Punktes haben. Das 
Königtdum ift beim romanischen Volksthum ftetd nur ein Mittel, ein Ichte8 Mittel, die 
Gentralifation, jene unperfönlicde Allgemeinheit, welche den romaniſchen Staat ausmacht, 
berzuftellen, und die Huldigungen, die ihm dargebradht werben, gelten darunı nicht ihm, 
als einer felbftftändigen hoͤchſten Inftitution, nicht feinen Trägern, als einem hoͤch⸗ 
ſten Geſchlechte in einer langen Reihe gleichartiger, fondern nur Vertretern und Dies 
‚nern einer allein verehrten abftracten Macht. Die U. war derſelben Anſicht, als fie 
Zudwig XIV. und Ludwig XV. in Weihrauchwolken hüllte, während fle fchon zwanzig 
Jahr darauf an die Stelle der Dithyramben auf die Könige die louanges und eloges 
anf große „Bürger“ fehte. Der Name „citoyen“ war damald in Frankreich nen 
(Mesnard p. 82), die Alademie führte ihn, treu ihren claffifchen und den Vollksthüm⸗ 
lichen abgewandten Beflrebungen, ein; es begannen bie Lobreden, in denen durch bie 
Erhebung verftorbener Staatsmänner lebende Minifter auf das Bitterfle getabelt 
wurden. 

Zur felben Zeit, als die A. in die Oppofition zu treten begann, äußerte fid 


auch ihr literarifcher Charakter: während fle noch in ihrer erften Periode hauptſaͤchlich 


durch Das hohe Genie einzelner Mitglieder geglänzt Hatte, ftellte fie -feit dem erften 
Drittel des achtzehnten Jahrhunderts mehr und mehr einen geiftigen Durchfchnitt, 
einen literariſchen Gefammtcharakter dar und wurde fo ganz Wiflenfchaftöbehörbe und 
feheinbar ganz Einheit. Boileau, für Die Form, Voltaire, für das geiftige Gepräge, 
find die beiden typifchen ©eftalten dieſer Akademie, welche die Schönheit nicht in bem 
zeinften Ausdruck der Wahrheit, fondern in der ſtrengſten Nachahmung alter und frem 
der Formen und in der vornehmen Gteichgültigkeit gegen die Wahrheit findet: Wan 
wähnt, eine neue claffifche Schule errichtet zu Haben, und Doch verbirgt fich hinter 
der Maſſe der Regeln die Ordnungsloſigkeit nur zu fchlecht. Leider aber huldigte bat 
ganze, nach Anerkennung feiner Bildung begierige Europa eine geraume Zeit hindurch 
diefer franzöflfchen Elajileität, in Dingen der Wiffenfchaft wie der Kunfl. (SG. Ve 
naiffanee, Roccaco und. Claſſicismus.) 

Eines der erften Signale, welches die herannahende Revolution gab, waren bie 
BVerhöhnungen, welche die Akademie fich plößlich von den Zuhörern — ihre Sitzungen 
waren Öffentlih- — gefallen laffen mußte; man machte fich Iuftig über die Delle 
mationen, die fo lange das Höchfte Lob der Breifinnigfeit davon getragen hatten, 
man verlangte jeßt nad) politifcherer Koft, und vergeblich erniebrigte fich einer der 
legten Directoren der U. fo tief, daß er, nachdem (1789) ein Mitglied in feine 
Antrittsrede ſich ausnahmsweiſe der royalifiifchen Sache angenommen, daran m 
uümerte, die U. babe durch die Wahl dieſes Hopaliften nur ihre Unparteilich⸗ 
feit, keineswegs eine Gemeinjamkeit der Gefinnungen bezeugen wollen; democh 
thaten die Mevolutionärd die U. als eine Gejellfchaft von Ariftofraten („ces lettres, 
titres, mitres“) in die Acht, und wenn ihr auch einige Male zum Ruhme angerechnet 
wurde, jeit dem Beginne der Encyclopedie fei ein befierer Geift in jie gekommen und 
unter Zubwig XV. babe fie in Verſailles als ein Heerd des Aufruhrs gegolten, fo 
wurbe ſie doch der Maſſe immer verbächtiger, in Folge deſſen ihre Arbeiten immer 
feltener- und unfcheinbarer. Wahlen fanden nicht mehr flatt, nicht wenige Mitglieder 
flohen aus Frankreich (darunter Montesquien) und am 8. Aug. 1793 nahm der Eon- 

vent dies Decret an: „Alle Akademieen und literarifchen Gejellfchaften, die durch bie 
Nation pateniirt waren, werben hiermit unterbrüdt." Kerker, Guillotine, Wahnflnn 
and Selbſtmord trafen gleich Darauf eine Meihe von Mitgliedern. Aber jchon im nächften 
Jahr, 1795 (an IM), erfteht die U., dem franzöfiichen Geifte unentbehrlich, in gerei⸗ 
nigter Form, d. h. frei von allen ariftofratifchen Meften, als Institut national wieber. 
Art. 298 der Verf. des Jahres II fagt: „Ed wird für die ganze Republik ein Inst. 
nat. geben, dad beflimmt ift, die Entbefungen zu ſammeln und die Künfte und Wiſſen⸗ 
haften zu vervollkommnen.“ Bezeichnend fagt der Gejchichtöfchreiber der franz. Akademie: 





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werden. Die getronien ‚preisfragen alſo uber Die „Einrichtung Deo Geſchwornen⸗ 
gerichtes in Branfreih“ (1819), „über die Bortheile des gegenfeitigen Unterrichts * 
. (1820), „über die Abfchaffung des Negerhandels“, erhielten für Srankreich Feine weitere 
Bedeutung. Weniger ald keinen Werth aber hatten ihre Tugendpreiſe, welche ſchon 
unter der alten Monarchie üblich, 1819 durch eine Stiftung ded Herrn von Monthyon 
wieder bergeftellt wurnen. Hier kam der prunfende, hohle und ſchamloſe Charakter des 
Volkes ganz unverhüllt zum Ausbrud. 

Gegen Ende der Reflauration gefellte fid, die A. wiederum der revolutionären 
Dppofition zu; „1827 petitionirte fie — es war dies das erfle Mal während ihres 
Beftebend — gegen das bald darauf der parlamentarifchen Oppofltion wegen zurückge⸗ 
zogene Preßgeſetz, dad der Minifter de Peyronnet der Kammer vorgelegt batte; unter 
ihren Mitgliedern wurben Lacretelle, Michaud, Chateaubriand, Villemain dafür befon- 
ders verantwortlich gemadyt. Die A. wählte gleich darauf, um ihre politifche Richtung 
noch deutlicher zu zeigen, den eifrigften Vertheidiger der Preßfreibeit in der Kammer, 
Royard Eollard, und diefer bob in feiner erfien Rede (Ende 1827) fogleich ganz ber 
fonder8 den Zufammenhang politifcher Freiheit (d. h. ungebundener Gleichheitöbeftre- 
bungen) mit dem Wefen der fchönen Wiflenfchaften hervor. 

Aber die U. hatte, fo fehr auch ihre politifchen Neigungen hin⸗ und herfchwanf: 
ten, in ven Sachen des Gefchmadd, der Sprache, der Gedanfenbildung ſtets denfelben 
abfolutiftifchen Charakter bewahrt und auf das Strengfte eine neue Schule ignorirt, 
wekhe wenigftens in allen Aeußerlichkeiten die Reſultate der germanifchen Entwidlung 
in Kunft und Wiffenfchaft fich zu eigen gemacht hatte. ' Shafefpeare und die Deutfchen, 
die wieder gefchäßte Gothik und a. D. konnten in Frankreich nicht unbelannt bleiben; 
fie verbreiteten dort auf einmal Geſchmack für die Volksſprache, für dad Komifche, 
Naive und Seltfame, für das nur dem Affecte Schöne, das nicht felten von einem 
neutralen Standpunkte bäßlich erfcheinen Fonnte, für das Detail, vie individuelle 
Charakteriſtik und die Mannichfaltigfeit, welche fi) im Wechfel der Scenen und Zeiten 
offenbart. Die claſſiſche Akademie mußte fich endlich, fo tief fie auch Diefe Neuerung 
verachtete, ihr beugen. Am 1. April 1830 ward Ramartine ald erfler Vertreter 
der romantifchen Schule aufgenommen, fpäter auch Bictor Hugo, der gewaltigfle 
Vorkaͤmpfer dieſer Richtung. (S. Claſſicismus und Romantiker.) Damit war ber 
alten akademischen Hegel gekündigt, auch mit der äußeren Gonvenienz der Spradhe, Dar 
poetifchen Form, der Gedankeneinkleidung gebrochen, und eine ſeltſame und willkürliche 
Borliebe für dad Megellofe, Verzerrte, Häßliche trat hervor; leicht wurbe es ber jo- 
cialiflifchen Sräuelliteratur, deren Führer Sue ift, fih, an diefe Romantik anſchließend, 
im Publicum zu legitimiren, eben jo leicht heut der legten Stufe, die die franzöflfche 
fhöne Wiſſenſchaft in ihrem Verfall erreicht hat, dem Liede, Drama und dem Noman 
der Demi-monde, der Kloafen und der unfäglichften Berneinung jeder idealen Rich⸗ 
tung, ihren Urſprung aus folcher Vergangenheit zu rechtfertigen. 

Mir dürfen allerdings für diefe legten Phaſen ver frangzöflichen Literatur bie 
Akademie nicht mehr verantwortlich machen, vielmehr ift zuzugeftehen, daß Die Roman⸗ 
tifer le übermannten, und daß fie ſich von den verlorenen Söhnen der Romantik, Deren 
wir eben gedachten, fogar empört abgewandt bat; aber was wir der Akademie vorwer⸗ 
fen, ift, daß fle eine Herrfchaft über die Geifter und ‚über den Geift der Literatur ver- 
ſucht und gewagt bat, welche mit der Beichädigung des innerften Lebenskeims Der 
@eifter. felbft beginnen, in einer Ablenkung dieſes Geiſtes von feinen beiligften Auf- 
gaben ſich fortfegen und mit der vollfländigften Obnmacht gegenüber diefem einmal 
verftümmelten und dann zur Raſerei gebrachten Geifte enden mußte. Als Nichelieu 
feine römifchen Schlagbäume in Frankreich errichtete, Hatte Frankreich noch eine ernſte 
und mäÄnnlihe Wiflenfchaft mit religiöfen, politifchen und focialen Inftincten, lebte in 
ihm noch genug von dem freien und geflaltungsfähigen Geifte Gerſons, Hotmanns, 
Calvin, Rabelais, war e8 freier Einrichtungen, organifcher ſich weiter bildender Ge⸗ 
feße, perfönlicher Selbftändigkfeiten noch nicht baar; damals war noch Zeit für eine 
fördernde Wiflenfchaft, welche das Kirchenthum reinigen und den Staat reicher ge- 
falten und den wechjelnden Bebürfnifien ver Gefellfchaft gefügiger hätte machen können. 











vumy gr Jeygmsbanat, RE WER ORT, BEUTTEGII WERE ABIT VEWORERRZR RT ETRTEREN TI DENT 
gezogen, fih eine Welt für ſich zu bilden, die ganz von Nichtigkeiien, Spul- und 
Mahngebilden bevölkert ift, und die moralifche Geſetloſigkeit, der Mangel an geſell⸗ 
ſchaftlicher Wohlanſtaͤndigkeit, welche der Schriftſteller in ſeinen Werken zeigt, tritt 
auch in ſeinem Leben hervor, und er hat es gern, daß man ihn betrachtet, wie man 
ihn lieſt, nämlich mit einer Art unruhiger Neugierde, welche nur eine blaſirte Phantaſie 
ergögen Tann. ... . Wenn aber die A. nach einer Verbindung zwijchen ſich und diejen 
Schriftftellern fucht, fo muß fie über die enormen Widerſprüche der Sitten, der An 
fichten, der Haltung erſchrecken, und fle fragt fich wohl leife, ob man 3. B. wohl an 
demfelben Dictionnaire weiter arbeiten fönne, wenn man doch nicht mehr diefelbe Sprache 
fpricht.” Der „Correſpondant“ erflärt endlich den Unterſchied zwiſchen ber literature 
polie und der literalure sauvage für zu groß, ald daß eine Ausgleihung zwifchen ben 
Schriftftellern der A. und denen der großen Maſſe ftattfinden Fönne. 

Damit if ein Zug zur Charakterifirung der heutigen Bedeutung der franzofiſchen 
A. gegeben; ſie bat von vorn herein nur auf die „gute Geſellſchaft“ einen Einfluß zu 
gewinnen gefucht, auf eine Abtheilung des Volksganzen, die theild nur der Zufall, 
ein doch fehr ſchwankender und veränderliher Geſchmack des Taged, die Gunft dei 
Hofes, theild aber geradezu ein heidniſch⸗despotiſcher Geift, der die berechtigte Entwide 
lung des Volksganzen und dad Organijationdgefeß deſſelben ignorirte, bewirkt hat. Die 
Folge davon war, daß das von feinen Bührern verlaffene, fich felbit überlaffene Volt 
in feiner religiöfen, focialen, politiſchen, aͤſthetiſchen Entwidelung auf falfche Bahnm 
gerieth, in Materinlismus und Senſuglismus, in Nevolutionen und in den Socialiemu 
verfiel, endlich, daß es jetzt als eine feindliche Armee den gebildeten, akademiſchen 
Sranfreich der „guten Geſellſchaft“ gegenüber ſteht. Napoleon II. weiß das, und er 
hütet fly darum mohl, die afademifchen Neigungen und Anſprüche zu -begünfligen, und 
mit leiſem Hohn jtellte er Ende 1858 einem Akademiker die Aufgabe, ihm über die 
Urfachen des Verfalls der franzöfljchen Literatur ein Memoire zu arbeiten. 

Der andere charakteriftifche Zug der heutigen franz. U. ergiebt fich aus dem Um⸗ 
ftande, daß ihre bemerkenswertheſten und bemerfteften Wahlen einen politifchen Charaltet 
zeigen. Es ift dies nur zum Fleineren Theil aus einer Oppofltiondfucht gegen den allerdings 
der Wiſſenſchaft wenig holden Bonapartismus abzuleiten, zum größeren Theile daraud, 
daß in der That in den legten vierzig Jahren die „politifche Literatur” in Frankreich 
vorgeherrfcht hat, und daß die A., indem fie politifche Charakter wählt, dadurch nur 
eine „offizielle Gonfecration des literarifchen Erfolges und Einfluffes des Gewählten 
ausübt. Die literarifchen Erfolge Foy's, Royer⸗Collard's, Martignac’d, die politifchen 
Broſchüren Chateaubrianv’s, Benj. Conſtant's, die großen und Eunftvollen Neden- Cal. 
Perier’8, Guizot's, des Herzogs von Broglie, Thierd’, Berryer's, Montalembert's, eben 
fo viel politifche Ereigniſſe für Srankreih, denen man auch die meiften bedeutenderen 
franz. Gefchichtöwerke zurechnen darf, — find allerdings die heroorragendften Momente 
der neueren franz. Literatur überhaupt. Aber daß eben die Politik derartig mit der Rite 
ratur der gebildeten Gejellicgaft zufammenfallen Tann, wie die wählende U. und die 
von ihr gewählten -politifchen Akademiker es ſtillſchweigend zugeftehen, ift einer der be 
denflichften Umftände, denn es ift damit Zugegeben, daß die freifinnige Politik Frank 
veich8, die Politif des Volks - Conftitutionalismud, wie fie in den Reden, Zeitungen, 
Brofhüren und Geſchichtswerken Frankreichs feit vierzig Jahren die Ueberhand bat, zu 
denn Volksganzen feine burchgreifenden Beziehungen bat. Auch in der Politik zieht 
fih das akademiſche Element wie ein tiefer Abgrund ziwifchen Volk und „gut 
Geſellſchaft“ dahin. 

Im Gegenjaß zur franzoͤſiſchen Akademie hat uns Leibnitz, der große Staats⸗ 
mann und Philoſoph, Das Ideal einer deutſchen Akademie als ein werthyolles 
Vermächtniß Hinterlaffen. Leibnitz ‚erkannte tiefer als vielleicht irgend ein anderer Zeit 
genoffe den deutſchen Geift und die welthiftorifche Bebeutung Deutſchlands, und gleid- 
mäßig eiferte er u. A. für die Neinerbaltung der deutſchen Sprache wie der deutſchen 
Höfe von franzöflichem Einfluß. in Gedicht, Dad er gegen die Nachahmer ber Fran⸗ 
zoſen richtet, bemerkt: „Wenn die Höfe franzöflfche Sprache und Sitte annahmen, 











es ihnen anzuthun. " " | 

Diefe Nachrichten waren nicht ohne Grund. Es haben ſich von mehreren Seiten 
ähnliche erhalten, welche darin übereinflimmen, daß Leibnig in den Jeſuiten heimliche 
Feinde und Wiberfacher gefunden habe. Ä 

Leibnig mußte fich endlich felbft bekennen, daß er zu früh gefommen, und daß die 
Nation bereitd zu ſchwach und ohnmächtig fei, um mit derartigen beroifchen Bitten, 
wie der durch gläubige, an der Tradition entwidelte Bibellehre erreichte Conſenſus bei- 
der Eonfefitonen, und wie feine vwoifienfchaftlichen Ringfchulen e8 waren, die Gene⸗ 
fung zu betreiben. Es kam eine Zeit (Leibnig flarb 1716), welche der große Weile 
ſchon 1704 in feinen „Neue Verfuche über den menfchlichen Verſtand“ mit pofltiver 
 Gewißheit vorbergefagt batte. „Ih finde“, fagt er dort, „daß Meinungen, welde 

an eine gewifle Zügellojigfeit ftreifen, und welhe fih nah und nad der 
Männer der großen Welt, von denen die Uebrigen fi führen lafien usb 
die Angelegenheiten abhängen, bemädhtigen und in die Modebücher ein- 
fhleihen, Alles für die allgemeine Revolution, von weldher Europa 
bedroht ift, vorbereiten”.... Und um den Gedanken noch erhabner zu geftalten, 
verwandelt fich dieſe Unglüdöprophezeiung am Schluß in die Verkündigung, daß bie 
Borfehbung die Menfchen durch die Revolution felbft befiern werde. Friedrich ver Große 
ift der erfte Mann viefer Vorbereitungsepoche der Revolution, aber wenn er auch auf 
‚ vielen Gebieten zugleich der Held einer die Nevolution verhindernden Entwidelung if, 
fo ift er doch auf dem Gebiet der Wiflenichaft fo gut als ganz Der romanifchen Welk 
anfchauung unterthänig oder fommt doch wenigftend nirgend zu einem klaren Bewußt⸗ 
fein von der Unverföhnlichkeit deutfcher und franzöflfcheromanifcher Art. Er fuchte dem 
faft verdorrten Baum feiner Berliner U. eine neue Geſtalt zu geben und bedrohte dadurch 
das junge eben ganz. 

Unter Friedrich Wilhelm I. war die Berliner A. fo gut wie veröbet geweſen; 
nachdem er bei Antritt feiner Regierung fich geradezu geweigert hatte, ihr eine ner 
Beftätigung zu gewähren, erhielt fie dieſe erft, als fie ſich 1717 erbot, ein anatomifches 
Theater zu errichten. Staatöminifter von Prinken wurde Protector, aber leider (Frei⸗ 
herr von) Gundling, der Polyhiftor und Hofnarr, ihr Präfldent. Der König haßte 
allerdings mit gefundem Inflincte die abftracte und hohle Gelehrfamkeit feiner Zeit, bie 
in der That überall da, wo fle noch eine Bedeutung hatte, im Dienfte der franzöflfchen 
Bildung war, und eine beberzigenöwerthe Lehre lag doch in den Worten, welche be 
König 1735 an die Abgeordneten der A. richtete: „Die Societät follte ſich auf Erfindungen 
legen, welche capable wären, folche Künjte und Wiflenfchaften immer höher zu bringen, 
die in der Welt zum wahren Nugen gereichen, keineswegs aber In bloßer Windmacherei 
und in falfchen Träumereien beftänvden, womit fich viele Gelehrte aufzuhalten pflegten‘). 
Dennoch fehlte ed dem König zu fehr an tieferer Einficht in das Weſen der Willen 
fhaft, und den damaligen Gelehrten zu ſehr an einer imponirenden Haltung, bie um 
aus wirklichem Verdienſt bergenommen werden Tann, als daß damals irgend etwad 
Wefentliches für und durch die A. gefchehen Eonnte. Sie machte eben den Kalender, 
weiter wufte das Volk von ihr nichts. Ein erotifcher Gedanke Leibnigens, war fr 
nad feinen Weggang fogleich in Nichts verfallen: es fehlte in den verwüfteten, armen, 
in Krieg und Kriegszucht rauh und flumpf gewordenen Preußifchen Thronlanden no 
zu fehbr an dem Triebe und Drange des Geiftes, ald daß eine A. einen Plap hätte 
finden koͤnnen. 

Sp ift es nur natürlih, daß Friedrich der Große, zur Regierung gekom⸗ 
men, bei feinen Beftrebungen, die Wiffenfchaft zu fördern, Anfangs die A. ignoriven 
fonnte und die um ihn fich verfammelnden Gelehrten, Euler, Lieberfühn, Formey, 


— — — 


.) Friedrich Wilhelm I. Bon Fr. Förſter. Potsdam 1835. II, p. 382. Welcher 
Art die Haltung der A. unter ihrem Narrenpräfidenten damals war, geht daraus hervor, daß fe 
„zur Prüfung ihrer Renntniffe von den geheimen Kräften der Natur“ den Auftrag erhielt, zu er 
mitteln, woher das Schaäumen des Champagners im Spibglafe entfiehe? Sie erflärte ſich bereit, bie 
ſchwierigen Verſuche anzuſtellen, ſobald iht aus dem Königlichen Keller vorläufig junizig Flaſchen 
zum Cxperimentiren überwiejen würben ! 


2 











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Namen der Wiſſenſchaft gehörten feitvem der Berl. A. an, aber fie fanden dort ſtets 
nur eine nebenfächliche Stellung und fuchten ihre eigentliche Wirkfamkeit an der Fried⸗ 
rich » Wilhelms » Univerfität, die mit feltenem Erfolge in zwei Epochen der Wiſſenſchaft 
(Bichte — Hegel) den Gang der wiſſenſchaftlichen Entwidelung in Preußen beein- 
flußte, freilich in jener einfeitigen Art, die bei dem Mangel der von Leibnitz vorge 
planten Thätigfeit einer wirklichen Akademie nur zu natürlich war. (S. Berliner 
Univerfität.) Der Regierungs- Antritt Friedrich Wilhelm's IV., dem ſogleich die 
Berufung der Gebrüder Grimm, der erfien Kenner und Breunde deutſcher Sprache. und 
deutfcher Gedankenart, in die Akademie folgte (durch Cab.Ordre vom 22. Oct. 1841), 
durfte auch auf eine neue Entwidelung der A. rechnen laffen, und als der König im 
April 1842 felbft einen Juden, den, gelehrten Mathematiker Dr. Rieß, den die U. zu 
ihrem Witglieve erwählt hatte, betätigte, wie dad Publitum fagte, gegen Eichhorn's 
Vorfchlag N), begannen wohl gar die Lente der Iandläufigen Oppofition auf dieſe Kör- 
perfchaft zu zählen. Aber auch ihren Tieferten bald die Feſtreden Böckh's und 
Fr. v. Raumer's, welche in der Univerfität einen geebneteren Boden fanden, mebr 
Stoff, und die Hoffnungen, mweldye die Akademie vielleicht für einen Augenblid 
ihnen erregt hatte, blieben ohne Erfüllung. Sie friftet ihr Dafein an den abflrarte- 
fin und unintereffanteften Dingen, unintereflant nicht bloß dem großen Haufen, 
fondem auch der lebendigen Wiflenfchaft, die allerdings auch für Unterfuchungen 
und Forſchungen in den Detaild danfbar zu fein weiß, aber niemald zugeben Tann, daß 
diefe wenn auch nothwendigen, doch vom großen Volke ſtets mit vieler Luft verfpotteten 
Studien über ein Fofitl, oder über eine unbedeutende Infchrift in breiter Behäbigfeit 
öffentlich an den Galatagen der Willenfchaft als die Opfer, die die U. den allge 
meinen Wohle- parbringt, von den Mitgliedern niedergelegt werden. Die gelehrten Aka⸗ 
demiker muthen Damit dem Volke zu, daß es mit einer Schlafrodvifite von ihnen be⸗ 
friedigt fe, und daß es die vorbereitende. Arbeit ihrer Studirzimmer mit der Andacht 
Dinnehme, welche nur den fertigen Kunftwerken im Tempel der Wiffenfchaft gebührt. 
Einer A. kann es wahrlich nicht zufteben, ſich als einen in der Stille verfammelten, 
geſchloſſenen Elub von Privatgelehrten zu gebahren und, ſei e8 unter Theilnahme, ſei 
es bei körperlicher oder doch geiftiger Abweſenheit aller übrigen Mitglieder, einem Aka⸗ 
Demifer zu überlafien, wöchentlich einmal das Echo der Wände des rothen Bebäudes, 
das Friedrich der Große der U. unter den Linden erbaute, durch eine Borlefung über 
den Gelenkknochen eines vorfündfluthlichen Thieres, oder über eine Partikel einer todten 
Sprache zu erweden. Solche rein handwerklichen Nebenfachen der Wiſſenſchaft ge⸗ 
hoͤren wahrhaftig nicht in die Akademie, welche Leibnitz gegründet bat. 2) 

Im Gegentbeil ift über die Zwecke und Aufgabe diefer Berliner Akademie Tein 
Streit moͤglich. Während ihre Statuten, in einer Zeit freier politifcher Anſchauungen 
entworfen, ihr. den weiteſten Spielraum für ihre Thätigfeit Iaffen, ift Ihr in dem Gegen⸗ 
fage zu dem Richelieu'ſchen Blane ein Princip ‚und eine Grundlage gegeben, weldhe 
durchaus Den Interefien des preußifchen Staates, der fie bergeftellt und damit Doc 
eine höchſte Concentration und Repräfentation des wiſſenſchaft⸗ 
lichen Factors feines Volkes erftrebt bat, entfprechen, ein Prineip und eine 
Grundlage, die außerdem ſchon Leibnig In richtigfter und klarſter Weife erklärt Bat. 

Die Preußische Akademie der Wiflenfchaften muß zunächft eine evangeliſch⸗ 
proteftantifche fein und jene eigenthünliche Freiheit geifliger Forſchung und geifliger 
Entwicklung vertreten, zu deren Unterdruckung das romaniſche Gegenbild unferer U. 
von Nichelieu in Bart gegründet ward. Die deutſche Neformation ging von der 


) Sehn Jahre Geſchichte der nenefien Zeit. Von R. Prutz. 11. 80. Gin Sammeljurium 
aus den liberalen Zeitungen und Flugſchriften der erſten vierziger Jahre. 

2) Die A. kann übrigens audy nidyt, wie die Frangahtähe, irgend einen Anfprudy darauf 
machen, ein Bild der Biftenkhaften oder der Literatim überhaupt in Preußen zu geben. Neben 
einigen großen Ramen mehrere unbedeutende, und baneben fehlen wiederum viele unferer erfien 
Bapacitäten. Der preu taatsfal. für 1858 zählt für bie philof.-hiftor. Klaffe folgende Mit: 
lieder auf: Savigny, Böck, E. Ritter, Ranke, die Gebr. Grin, Bopp, Lepfius, Homeyer, Riedel, 

ermann, Binder, Bujhmann, Belker, Meineke, Panoffa, Schott, Dicken, Perg, Trendelenburg, 
Dieterici, Haupt, Kiepert, Gerhard, Weber, Parthey. _ . 











Reyen, Ihrer Raſeſtat Wurde UND Urtheil zu compromittiren, INDEM ich eine Steuung an⸗ 
nähme, der ic} in keiner Weiſe gewachſen wäre. Ernennen Sie mich," ſagte ich, „zum 
Director von Ihrer Majeftät Wafchfrauen und Sie follen fehen, mit welchem Eifer ich Ihnen 
dienen werde." „Jetzt fchergen Sie," jagte die Kaiferin, „indem Sie fich für ſolch ein 
laͤcherliches Amt vorfchlagen.“ „Ihre Majeftät,” erwiederte ich, „halten fich felbit für 
wohlbefannt mit meinem Charakter, und doch feben Ste nicht den Sto in einem 
ſolchen Vorſchlag. Nach meiner Anftcht ehrt die Perſon das Anıt, und wenn idy durch 
Ihren Willen an die Spige Ihrer Wafchfrauen geftellt würde, fo würde man zu wir 
auffehen, als ob ich eine der wichtigften Stellen am Hofe befleidete, und ich würde 
verhältniimäßig beneidet werden. Freilich bin ich nicht eingeweiht in die Kunft des 
Waſchens, aber die Fehler, die ich hier aud Unwifjenheit begeben würde, wären von 
feiner Wichtigkeit, während im Gegentheil jeder einzelne Irrthum, den ein Director der 
Akademie der Wiflenfchaften fich zu Schulden kommen läßt, feine Ichädlihen Folgen haben 
und den Herrfcher in Mißcrebit bringen wird, der eine folche Wahl getroffen hat.” Ihre Ma⸗ 
jeftät blieb trog meiner Einwendungen bei ihrer Anficht. „Gut, gut,” erwiederte fie, „Iaften 
wir die Sache jegt ruhen, obgleich Ihre Weigerung gerade meine Meinung beftätigt, 
daß ich Feine beſſere Wahl treffen kann.“ Gegen den Abend des folgenden Taged er» 
bielt ich einen Brief vom Grafen Bezberodka und die Bopie eined Ukaſes, wel⸗ 
her jchon dem Senat übergeben war, der mich zum Dirertor der Alademie der 
Wiſſenſchaften ernannte. Die erfle Sache nun, welche ich unternahm, war, eine Gopie 
des Ukaſes nad) der Akademie zu ſchicken, zu bitten, daß die Commifiton, Die den Ge⸗ 
fchäften der Akademie in der legten Zeit vorgeftanden hatte, noch zwei Tage länger im 
Amte bleiben, und daß ich augenblidlicy mit einem Bericht über die verfchiedenen Zweige 
der Anftalt, über die Gefchäfte der Druckerei und die Namen der Bibliothefare und 
Vorſteher Der verſchiedenen Fächer verfehen werben möge; ferner, daß die Chefs von 
allen Departements mir am nächften Tage eine Ueberficht ihrer fpeciellen Pflichten und 
aller ihrer Sorge anvertrauten Gegenftände geben follten. Ich erfuchte zu gleicher 
Zeit Die Mitglieder der Commiſſion, daß fle mir alle Winzelnheiten mittheilen möchten, 
welche fih auf dad Amt und die Pflichten eined Directors bezögen, damit ich mir eine 
allgemeine Idee davon bilden fünne, was ich zu thun babe, ehe ich auch nur das 
Kleinfte zu thun verfuchte, und fchlieplich bat ich dieje Herren, zu glauben und dem Reſt 
der Akademie zu verfichern, daß ich mir fchon felbft als die erfte und dringendfte Pflicht 
vorgefchrieben babe, jedem Mitglied viefes gelehrten Körpers alle die Achtung und Ehr⸗ 
furcht zu beweifen, welche man ihren vielen Dienften jchuldig ſei. — Ich ſchmeichelte 
mir, daß ich auf dieſe Weije von Anfang an alle Gelegenheit, Eiferfucht und Unzu⸗ 
friedenheit zu erregen, vermeiden würde. Den dritten Tag nach meiner Ernen⸗ 
nung, an einem Sonntage, erhielt ich einen Beſuch yon den Profefloren, den 
Infpectoven und anderen Beamten der Akademie. Ich fagte ihnen, daß es meine 
Abfiht jei, am nächiten Tage in der Akademie zu erjcheinen, und bat fie, ein 
für alle Mal anzunehmen, Daß, wenn immer fie mit mir über Gefchäfte verkehren 
wollten, fie volle Erlaubniß hätten, ohne Umſtaͤnde bei mir vorzufommen. Den 
ganzen Abend war ich bejchäftigt, die verfchlebenen Berichte durchzuleſen, welche mir 
eingereicht worden waren. Ich machte mich auch mit den Namen der auögezeichnetften 
Mitglieder der Akademie befannt, und am folgenden Morgen, ehe ich mich in dieſelbe 
begab, flattete ich dem berühmten Euler, der mich ſchon feit Jahren fannte und mich 
ſtets mit Güte und mit Achtung behandelt hatte, cinen Befuch ab. Diefer gelebrte 
Mann war ohne Brage einer der erſten Mathematiker feiner Zeit. Ich bat ihn, mich 
am Morgen zu begleiten, damit bei meinem erften Erfcheinen ald Haupt eines wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Körperd ich den Vortheil und die Weihe feiner Begleitung haben möge, 
welche, wenn e8 ihm langweilig oder unbequem fei, ich niemals bei gewöhnlichen Beran- 
laffungen wieder erbitten wolle. Sobald ich den Sitzungsſaal erreicht hatte, redete ich Die 
daselbft verfammelten Brofefforen und Mitglieder an, inden ich meinen Mangel an wiflen- 
fohaftlicher Bildung beklagte, aber von meiner tiefen Ehrfurcht gegen die Wiflenjchaft 
fprach, von weicher die Gegenwart Herrn Euler's, defin Schuß ich in Anſpruch genommen 
hätte, um mich in der Akademie einzuführen, ihnen, wie ich hoffe, das feierlichfte Un⸗ 


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Ä 


Die Zahl Beider wurde don mir vermehrt, Die Erſteren BIS auf 50, Die Zweiten dis 


auf 40. In etwas mehr ald einem Jahre Eonnte ich alle’ Stipendien der Profefloren 
verbefjern und drei neue Curſe von Vorleſungen einführen, über Mathematik, Geome⸗ 
trie und Naturgefchichte, welche von einem einbeimifchen Profeffor in der Landesſprache 
Allen, die daran Theil nehmen wollten, publice gebalten wurden. Ich befuchte fle 
felbft öfter und Hatte die Genugtbuung, zu erfahren, daß die Söhne der ärmeren 
Adeligen und die jüngeren Garbe = Offiziere vielen Vortheil daraus zogen. Die Bars 
gütigung, die jeden Profefior am Ende jedes Eurfus bezahlt wurde, beftand ans 
zweihundert Rubeln aus dem döfonomifchen Fond. Im Laufe meines Amted erfuhr 
ich bald große Unannehmlichkeiten durch das Betragen des General-Procurators Kürften 
Wiaſemski, welcher entweder die Empfehlungen zur Beförderung, die ich den Mitglie⸗ 
dern der Akademie, denen ich eine ſolche zuerkannt hatte, an den Senat gab, nidt 
beachtete, oder es vernachläffigte, ınir Documente zu verfchaffen, welche ich geforbert 
hatte, um bezüglich der Grenzen einiger Provinzen des Reichs, von denen ich beiiere 
Karten anfertigen laſſen wollte, amtlichen Aufichluß zu erhalten. Zuletzt Hatte er foger 
die Keckheit, meinen Schagmeifter zu fragen, warum er ihm mit den Rechnungen des 


Recgierungsfonds nicht auch die des dÖfonomifchen' Fonds braͤchte. Hierauf jchrieb ich 


fogleich an Ihre Majeftät und verlangte meinen Abschied, indem ich fagte, daß Fürfl 
Wiaſemski eine DVerantwortlichfeit einzuführen wünfche, die niemals, von der erſten 
Einrichtung der Akademie an, einem Director auferlegt worden fei. Fürſt Wiaſemeli 
erhielt in Folge deſſen von der Kaiferin einen Verweis und ich murbe gebeten, feiner 
Thorheit nicht mehr zu gedenken. Eines Tages, als ich mit der Kaiferin in ben Gärten 
von Sarskoje-Selo fpazieren ging, wandte fich unfer Geſpraͤch auf die Schönheit und den 
Reichthum der ruſſiſchen Sprache, was mich veranlaßte, mein Erftaunen auszudrücken, daf 
Ihre Majeftät, die felbft Schriftftellerin fei und ihren Werth einfehen könne, niemals daran ge 
dacht hätte, eine rufflfche Akademie einzurichten. Ich bemerkte, daß nichts fehle, als Die Regeln 
und ein gutes Wörterbuch, um unfere Sprache ganz unabhängig von den Fremdwörtern 
und Ausdrüden zu machen, die den unfrigen in Energie und Ausdruck fo fehr nad 
fländen und fo alberner Weife darin eingeführt worden ſeien. „Ich weiß wirklich nicht, 
fagte Ihre Majeftät, wie e8 kommt, daß fol ein Gedanke nicht ſchon in Ausführung 
gebracht worden if. Der Augen einer Anftalt zur Vervollkommnung unferer eigenen 
Sprache ift mir oft in den Sinn gekommen, und ich hatte fogar Befehle darüber ge 
geben.“ Trotzdem ich felbft die Ausführung eines folchen Planes ablehnte und Ihte 
Mafeflät immer bei ihrer Meinung blieb, fo fand ich ed unnüß, ferner zu wiberfichen. 
Ich entwarf darauf eine Art Plan, von welchem ich glaubte, daß er eine Idee zur 
Grundung der beabfichtigten Anftalt gäbe und fandte ihn der Kaiferin. Ban fanı 
fich mein Erſtaunen denken, als ich von der Hand Ihrer Majeftät diefe unvollkommene 
Skizze eines Planes, der ſchnell entworfen und mangelhaft ausgeführt war, mit allem 
Geremoniell eine® förmlichen Inſtrumentes zurüd erhielt, bekräftigt mit ihrer Taiferlichen 


Unterſchrift und begleitetvvon einen Ukaſe, welcher mir die Präflpentfchaft der Embryo 


Akademie übertrug. Ich muß noch, ehe ich Diefen- Gegenfland verlafle, bemerfen, def 
viele Dinge in Betreff meine Amtes am Hofe vorfamen, welche mich anefelten und 
empfindlich reizten. Der gebildete Theil des Publicums freilich lieg mir mehr als 
Gerechtigkeit widerfahren in dem Xobe, dad man meinem Eifer und meinem öffentlichen 
Wirken zollte, denen man allein das Verdienſt der Errichtung einer ruſſiſchen Ale 
demie ſowohl, ald die erflaunlihe Schnelligkeit, mit weldyer das erfle Dictios 
nair unferer Mutterfprache vollendet wurde," zufchrieb. Dieſes Iehtere Werl wurde 
ein Gegenftand Tauter Kritik, befonder6 in Beziehung auf die Einrichtung, Pie 
nit nah einer alphabetifchen, ſondern etymologifchen Ordnung getroffen war. 
Auf eine Frage der Kaiferin, warum eine fo unbequeme . Einrichtung getroffen 
fei, bemerkte ich, daß dieſe Einrichtung nicht ungewöhnlich bei dem erflen Wörterbuch 
in einer Sprache ſei wegen der größeren Reichtigfeit, bie fle gewaͤhre, bie Wurzeln 
der Wörter zu zeigen und aufzufinden, und fügte hinzu, daß Die Akademie in unge 
fähr drei Jahren eine zweite Auflage machen würde, alphabetifch georbnet und in jeber 
Hinfiht viel vollkommener. Alle Mitglieder gaben, wie ich es erwartet hatte, ihre 








anders einzurichten, Daß aber, DaB zweite in alphabetiſcher Ordnung erſcheinen ſolle. 
Ich wiederholte der Kaiferin das nächfte Mal, wo ich fie ſah, die einflimmige 
Reinung der Akademie und den Grund, den fle dafür angab. Ihre Majeftät 
indeß blieb bei ihrer eigenen Meinung, da fle gerade zu der Zeit ſich fehr für ein 
Werk intereffirte, das mit dem Namen Dictionnaire beebrt wurde und deflen Here 
auögeber Herr Pallas war. Es war eine Art Wörterbuch, aus ungefähr hundert 
Sprachen zufammengeftellt, von denen einige dem Lefer nichts ald eine Maffe Wörter 
vorftellten, 3. B. Erde, Luft, Wafler, Vater u.f. w. Ofgeflächlich und unvollfonmen, 
wie dieſe fonderbare Production war, wurde fle doch ala Yin herrliches Dictionnaire ge- 
priefen und gab in der Zeit für mich Veranlaffung zu vielem Aerger und Verdruß. 
Zu der Zeit des Herbſtes war e8 Gebrauch in der Akademie der Wiffenfchaften, dieje⸗ 
nigen Werke durchzulefen, welche in dem verfloffenen Jahre von verfchienenen Gelehrten 
eingefandt worden waren, die Gandidaten für Die akademifchen-SPreife waren, welche aber, 
nad) dem Brogramm, erft im darauf folgenden Jahre audgetheilt wurden. Ich hatte nicht 
den mindeften Gefchmad daran, unferen wiſſenſchaftlichen Sitzungen beizumohnen und 
noch weniger denen, woran das Publicun Theil nahm, mußte jedoch meinen Wider: 
willen überwinden um ber dringenden Bitten der Mrs. Hamilton willen, die darauf 
beftand, mich ex cathedra in der Eigenfchaft ald Director auftreten zu ſehen. Als 
der Tag für die Zuerfennung der Preife, und daß die Sigung öffentlich fein werde, 
in den Zeitungen angezeigt war, fand fich wie gewöhnlich ein großes Publicum und 
unter demſelben auch die auswärtigen Gefandten mit ihren Brauen ein. Ich mußte 
eine Rede halten, welche ich fo lakoniſch als möglich machte, wobei ich aber doch meine 
Zuflucht zu einem Glas Eiswafler, dad man für mich bereit hielt, nehmen mußte, um 
das Fieber der falfchen Schaam zu bewältigen, welches mich bei folchen Gelegenheiten 
ſtets zu befallen pflegte. Die Beendigung” diefer Sigung war mir eine wahre Er= 
löfung, und ich habe nie wieder bei ähnlichen Gelegenheiten präftbirt. 
Die Fürſtin hat denn auch wirklich mit großem. Fleiße an der Ausarbeitung 
einer ruſſiſchen Grammatik und eined rufftichen Wörterbuches Theil genommen; ihr 
Ideal mar dabei das der franzöflfchen A. Die ruffifche A. hat auch in ihrer weiteren 
Entwicklung manches zur Förderung der Wiflenfchaften gethan, und ihre Bemühungen 
auf dem Gebiete der Geographie, der Sprachkunde sc. verdienen Anerkennung. 

(S. außer diefem Artikel über. A. auch Kunftafademie.) 

Akademie (der Schaufpielfunft). Jeder Vorfchlag zu einer Reform des Theaters, 
der Bühnenzuftände und der focialen Stellung des darftellenden Künftlers wirb fo 
lange unwirkſam bleiben, al8 die Schaufpielfunft einer Schule entbehrt, welche die 
Schaufpieler auf eine entfprechende Stufe zur allgemeinen Titerarifchen und praftifchen 
Bildung, neben der außfchließlich fachlichen, erhebt. Nur in Branfreih und Rußland 
if dahin’ Einfchlagendes verfucht worden; in Frankreich vorzugöweife für Gefang (ohne 
allen Erfolg) und Tanz (mit großem Erfolge), fo wie für die Darftellungsweife des 
Theätre frangais; in Rußland für alle Gattungen der feenifchen Kunft in großartigiter 
Weile. In Deutjchland fehlt es dem Schaufpieler — wenige anerkannte Ausnahmen 
abgerechnet — an demjenigen Grade allgemeiner und felbft fachlicher Bildung, welcher 
ihn zu dem berechtigten Interpreten der Dramatifchen Dichtfunft machen würde. Man wird 
eben Schaufpieler und begnügt fich auf empirifchem, meift mühelofem Wege zu erreichen, 
wad in anderen -Kunftübungen Aufgabe einer befonderen Schule if. Die Bequemlicy- 
feit, ſich aus den beften Kräften der Meinen Bühnen refrutiren zu können, hält die 
großen Bühnen davon ab, für eine ſachgemäße Borbildung der Schaufpieler zu forgen. 
Der Staat als folcher nimmt keine Notiz von der Bühne, und überall fteht der Koften- 
punft der entfprechenden Organifation einer Anftalt entgegen, die zumächft nichts ein- 
bringt. Alle Verſuche, eine Schaufpielfchule durch Brivatslinternehmung zu begründen, 
find fehlgefchlagen. Nur für Muſik und Tanz giebt es dergleichen. Das recitirende 
Schaufpiel ift überall einem rohen Empirismus überlaffen, der um fo gebieterifcher 
auftritt, ale die Leitung der Bühnen durchweg nicht mehr in der Hand hervorragender 
darſtellender Kümftler ift, fonbern von Speculanten Faufmännifch oder von Hofbeamten 
nach dem Geſchmacke des Hofes betrieben wird. Die Seltenheit Literarifcher und praclis 

Wagener, Staats« u. Geſellſch.⸗Lex. I. 38 





greſſton zugenommen, UND DIE Dommerthedtet, [0 wie DIE Teiqhtigtelt,, SOTEETONEN JUL 
neue Theater zu erhalten, ſomit auch die Vermehrung der Schaufpieler, tragen zu die 
fem allmählichen DVerfonmen bei. Biel Beachtendwerthed ift von E. Devrient, Röt- 
fcher, 2. Schneider und Anderen über die Nothwendigfeit künftlerifcher und wiſſenſchaft⸗ 
liher Borbildung für die Schaufpieler gefchrieben worben, bis jetzt ohne allen Erfolg, 
Ehe diefem Grundübel nicht abgeholfen wird, wolle man feine Hoffnungen an Belei- 
tigung einzelner zu Tage liegender Uebelftände knüpfen. Kür die praftifche Geftaltung 
einer Schaufpielerfchule fte ſich zwei Anfichten fchroff gegenüber. Die eine will 
überhaupt den Jünger nur Agemein vworbilden, in deutſcher Sprache, Rhetorik, Pro; 
fodie, Poetik, Geſchichte, Coſtümwiſſenſchaft, Tanzen, Fechten u. ſ. w. unterrichten; die 
andere will fofort fchaufpielen und in der täglichen Uebung zur Gefchidlichkeit außbil- 
den. Beide Spfteme führen Erfahrungsgründe für fih an. Das eine überläpt dem 
Individuum dad Maß feiner allgemeinen Bildung und bat nur den nächften Zwed im 
Auge. Das andere will den ganzen Stande eine der allgemeinen Bildung entfprechent: 
Balls geben. Sind wirflih beide Wege nützlich, fo Tieße fich vielleicht durd eine 
Vereinigung beider das Zwedkentfprechendfte erreichen. Das praftifch Eingehendſte übe 
diefen Gegenftand findet fi in den „Allgemeinen Tbeater-Lerifon,* Altenburg un 
Leipzig bei Vierer und Heymann, 1839, unter „Afademie der Schaufpielkunft”. 

Akademiſch ſ. Univerfität. 

Akademiſche Legion. Die akademiſche Bürgerſchaft der Univerſität Wien hat ſich 
als akademiſche Legion 1848 einen Namen erworben. Die Hochſchule in Oeſterteic 
war durch das Metternich’fche Megiment, das man mit Mecht ein Negiment der Furdt 


genannt hat, auf die Stufe eined Knaben-Gymnafiund herabgedrückt worden, und die 


ftudirende Jugend erwies ſich in dem Maße, als fte äußerlich gebundener und unfelbf- 
ftändiger wurde, auch innerläh unfreier und unzuverläffiger. Die Männerwelt in Oeſter⸗ 
reich fand nicht höher; alles war in Ungarn, Böhmen und Defterreich zur nationalen 
und liberal = conftitutionellen Revolution geneigt, und es bedurfte nur der Kunde von 
der Revolution in Mailand und Paris, daß auch in Wien die Bewegung um fich grifl 
Unter der Leitung der Studenten und des juriftifch » politifchen Leſevereins ward ein 
Petition am 13. März eingereicht, worin eine conftitutionelle Verfaffung und Anſchluj 
der öfterreichifchen Völker an das deutfche Parlament verlangt wurden. Die Antwort 
der Megierung Tonnte nicht befriedigen. Es entftand am Abend deſſelben Tages ein 
Auflauf von Studenten und Arbeitern, man verlangte die Entfernung Metternid 
und der Jeſuiten. Am 15. März gab der Kaiſer Preßfreibeit, Volksbewaffnung und 
freies Vereinsrecht, und am 26. April — Metternich war ſchon nach Holland geflehen 
— auch noch eine neue Verfaſſung. Darauf begann eine neue Bewegung in der ala 
demifchen Legion und in der Nationalgarde. Beide verlangten am 15. Mai ein Wahl 
gefeg auf demofratifcher Baſis, ohne Genfus, und eine conftituirende Verfammlung in 
einer Kanımer. Der Kaifer flob am 17. Mai nad Innsbruck, und wenn er and 
am 12. Auguft wieder zurüdfehrte und erſt am 7. Oct. wieder heimlich nad) Olmit 
ging, fo bedeutete feine Anwefenheit für die Regierung doch nichts, und man darf die 
revolutionäre, mitregierende Thätigkeit der afademifchen Legion von Wien von ber Ritk 
des Mai datiren. - 

Bei der October » Revolution 1848 befand die höchſte Staatsbehörde in Wir 
aus: 1) dem permanenten Ausfchuß des öfterreichifchen Reichstages (Schufelka), 
2) dem Ober-Commandant (Meifenbaufer), 3) dem Gemeinverath der Stabt (Dr. 
Taufenau, Dr. Jellinek, ein Jude), 4) dem Studenten-Ausfhuß (Hrabovsky). 
Bald Fam noch die Deputation des Frankfurter Parlamentd dazu (Blum, Fröbel 
M. Hartmann) und General Ben. Das waren die Groͤßen der Wiener Re 
volution. — Auf der Aula in Wien, d. i. die Univerfltät, wurden die meiften Reden 
auch von Blum gehalten. Die Aula war das Palais royale von 1789-91. So 
fpielten in Wien die Studenten auch als bewaffnete Macht, als afademifche Legion, 
eine der erften Rollen. Am 25. October bildete ſich ein Elitencorps, es beftand meift 
aud afademifchen Bürgern. Blum, Morig Hartmann, Fröbelteaten ein, Blum 
und Fröbel wurden Compagnie⸗Chefs, Eommandant des Eorps mar Hand. Diefed 








[3 a x ‘ 


eine beſurchtete Contrerevolution errichtet. er Studenten-⸗Ausſchuß Hat ESceſſe 

Volksjuſtiz verhindert. — Es Tag viel in der Hand der akademiſchen Legion. 
fpielte aber ihre Molle, wie die ganze Wiener Nevolution im October 1848, als 
unfähige Mafle ohne begabten Führer. 

Die afademifche Legion nahm zuerfi am Kampfe Antheil am 6. October 
Das Regiment Naffau. Kommandant war ein gewiffer Aigner. 

Das Wiener Studentencomite war der Centralpunkt für alle Meldungen und 
fragungen. Einzelne Proclamationen, wie die vom 9. October, waren im Sti 
gehalten. Auch politiſcher Blick zeigte ſich hie und da, wie am 14. October, wı 
Studenten baten, der Reichstag ſolle Jellacic angreifen. Und am 16., wo die X 
Die Infurrection des Landvolkes verfuchte. Dagegen war die Legion fo wenig um 
Rechtsſtandpunkt befümmert, daß fle nicht die Beſtrafung der Mörder Latours d 
fegte. Am 9. erklärte fie dem Neichdtag, jede Meinung werde ſie fchügen. Die 
Demifche Legion lieferte vom 20. October an die Anführer für die Nationalgardı 
Vorſtädte. Auch fehr viele Nichtftudenten brängten fich in die Legion. Als et 
28.— 30. October zur Entfcheidung zwifchen Extrem und Einlenfen kommen f 
war die Region für legtered. Ihre Tracht war ſchwarzer Calabreferhut mit ſchwe 
rother, grüner Strauffeber. 

Als Quellen find zu benüßen für die Gefchichte der Wiener akademifchen & 
Dr. Hermann Jellinek, kritiſche Gefchichte der Wiener Revolution, 1848; ver 
faffer ward am 23. November 1848 erfchoffen. Julius Fröbel, Briefe über 
Wiener October Mepolution, Frankf. 1849. Dr. Schütte, die Wiener Oct 
MNevolution, Prag 1848. Pillersporf, die politifche Bewegung in Oeſter 
1848 und 1849. 

Aatholiten. Ein beſonders in Defterreich angewandter und dafelbft früher 
lich eingeführter Ausdruck zur Bezeichnung der Nichtkatholiſchen. Die fri 
öfterreichifche Geſetzgebung bezeichnete als Akatholiken die nicht unirten Griechen, 
Unitarier, die augsburgiſchen und helvetifchen Glaubendverwandten. Die römifche ( 
bedient fich noch zumellen, doc gegenwärtig weit feltener als früher, dieſes Ausdr 
um alle chriftlichen, nicht zur .römijchen Kirche gehörenden Religionsparteien zu be; 
nen. Keineöwegd bedienen fich bie verfchiedenen proteftantifhen Gonfefllonen f 
dieſes Ausbrudes und halten e8 mit Recht für völlig unpaflend, denfelben auf fie 
zuwenden. Im Uebrigen verfchwindet er mehr und mehr. Er gehörte der feit 
legten oͤſterreichiſchen Concordate abgejchloffenen jofephinifchen Periode an und | 
fchonend fein, während es beleidigend oder doch praͤjudicirlich ifl. Im öfterreichi 
Concordat vom 18. Auguſt 1855, das befanntlich überhaupt nur die Verhaͤl 
der Katholiken berührt, findet fich dieſer Ausprud nicht. Kurz nach der Märzrei 
tion wurde übrigens ſchon beftlimmt, daß Fünftighin die proteftantifchen Confeſſi 
verwandten amtlich mit dem Namen „Evangelifche” zu bezeichnen feien (ſ. Czö 
Defterreichd Neugeftaltung. 1858. S. 648). In Angelegenheiten ver Ehegeſetzgeb 
welche in Bezug auf die Fatholifchen Unterthanen durch das Patent vom 8. Oct. 1 
eine neue Geftalt erhalten hat, in Bezug auf gemifchte Ehen und auf die Ehen r 
Fatholifcher Untertbanen aber die alte (allgem. bürgerl. Geſetzbuch u. weltl. Geri 
barkeit) geblieben ift, kommt wegen Ießteren Umflandes wohl noch die Bezeichı 
„Akatholik“ vor. (©. Czörnig a. a. DO. ©. 647.) 

Afjerman. Konvention von A. Ak⸗Kermaͤn, im Türkifchen, von den R 
in Aljerman verflümmelt, weil fie den Bocal e meiftend wie je, jö audfprechen, & 
Alba im Rumaͤniſchen, Bielgorod, Bielgorodof (Belgrad) im Slawifchen, find N 
eined und deſſelben Städtchens (Gorodok), die einerlei Bedeutung haben, näı 
Weißenſtadt, Weißenburg, denn Ak ift im Türkiſchen, Weiß“, Kerman „Stadt oder Bu 
Wiewohl mit Einwohnern, welche den verfchiedenften Nationen angehören, ald Rum 
(Moldauern), Griechen, Armeniern, Bulgaren, Groß- und Kleinruffen, Polaken, 7 
ſchen, Juden, bevölkert, Hat doch die rumänifche Sprache die Oberhand, daher denn 
Akkerman von feinen Bewohnern meiftend mit dem rumänifchen Namen bezei 
wird; Die Griechen nennen es Moncaſtro oder Mauro» Eafteo. Alkerman, in de 


38* 


⸗ 





DER OUDUWLN DED GEL DDUL, BEE ditſljawiſchen SODUDBABIN, SERIEN, am tehten STE 
der Mündungsbucht (Liman der Ruſſen, verberbt von Ayıryv) des Dniefterd, ungefähr 
2 deutfche Meilen vom Schwarzen Meere, in dem Steppenlande gelegen, wo vor hun⸗ 
dert Jahren, und auch noch fpäter, die fogenannten affermanfchen Tataren unter dem 
Namen der meißen Horde nomadiſtrten, ift eine aufblübende Kreisſtadt in der ruſſt⸗ 
Ichen Provinz Beſſarabien, mit einer Bevölkerung von 25,000 Seelen. Am Seehanbel 
und der Sceefchifffahrt nimmt Akkerman Eeinen Theil und Tann es nicht, denn, wiewohl 
die Stadt an der erwähnten breiten Mündungsbucht belegen ift und bis in's 16. Jahr- 
hundert einen der vorzüglichften Häfen hatte, jo iſt deren Wafler jest fo ſeicht, daß 
große Fahrzeuge nicht dahin gelangen koͤnnen; dieſe Seichtigkeit erſtreckt ſich weit in's 
Meer hinein, weil die Ablagerungen, welche von der Donau an bis nach Odeſſa hin 
der Einfluß vier großer Ströme erzeugt, eine Menge von Bänfen hervorgebracht haben, 
die allen Zugang zur Dniefter-Mündung verfperren, von der nur Fifcherfahrzenge aus⸗ 
laufen Fönnen, die eben auf jenen Baͤnken ein reiches Feld für ihre Betriebfamkeit finden. 
Akkerman wurde während des Feldzuge8 von 1770 von den Ruſſen, unter General 
Igelftröm, zum erften Mal erobert; im Frieden von Kutſchuk-Kainardſchi (4 Stunden 
von GSiliftria) vom 10./21. Juli 1774 aber mit ganz Beflarabien an die hohe Pforte 
zurüdgegeben. Zum zweiten Mal nahmen e8 die Ruſſen im Feldzuge von 1789; 
diefes Mal war es Platom mit feinen Kofafen, der am 13. October die Türfen daraus 
vertrieb. Noch ein Mal kehrte e8 unter ihre Herrfchaft zurüd, durch den Frieden von 
Jaſſy, 9./20. Januar 1792, der den Lauf des Dnieflerö zur Grenze zwifchen dem 
rufflfchen und osmaniſchen Reiche beflimmte. Zwanzig Jahre fpäter wurde der Pruth 
zur Grenze genommen, und fo fam A., faft nur von Ehriften bewohnt, durch den Frie⸗ 
den von Buchareft, 28. Mai 1812, unter ein chriſtliches Regiment. 

Der Name Q. ift befonderd befannt geworden durch bie Unterhanblungen, welche 
bier in den Monaten September und October 1826 zwijchen rufftfchen und osmaniſchen 
Abgeoroneten gepflogen wurden. Kaifer Nikolaus hatte dem vom Kabinet zu St. James 
in der türfifchsgriechifchen Angelegenheit nach St. Peteröburg gefandten Herzoge von 
Wellington erklärt, daß er zwar binfichtlich der Friedensſtiftung und Unabhängigkeit 
Griechenlands mit Großbritannien und Frankreich gemeinfchaftlich handeln wolle, daß 
er aber von diefer europäifchen Frage die ruffifchetürfifche als cine fpecififch ihn allein 
angehende, ganz getrennt betrachte. Der Kaiſer weigerte ſich daher, das Berfprechen 
zu geben, daß er feine Streitigkeiten mit der Pforte nicht mit den Waffen fchlichten 
wolle, und legte gegen jede Einmifchung fremder Diplomatie in dieſe Angelegenheit 
förmlich Einſpruch ein. Indeſſen erklärte fich das Petersburger Cabinet bereit, eine 
piplomatifche Verbindung mit der Pforte anzufnüpfen, und noch einmal den Weg der 
Güte durch Unterhandlungen in Akkerman zu verfuhen. Um nun den Ausbruch bed 
Krieges zwiſchen Rußland und der Pforte zu verhindern, unterſtützte der engliſche Bot⸗ 
ſchafter in Conſtantinopel, Sir Stratford Canning, das vom ruſſiſchen Geſchaͤftstraͤger 
Minziaky dem Reis Efendi am 5. April 1826 übergebene Ultimatum, worin die ges 
naue Vollziehung des Friedens zu Buchareſt und Genugthuung wegen bes bisherigen 
feindfeligen Verfahrens der Pforte gegen Rußland, fo wie die Abſendung türfifcher 
Bevollmächtigter, an die ruſſiſche Grenze gefordert wurde, um daſelbſt mit rufitfchen 
Bevollmächtigten die obwaltenden Streitigkeiten friedlich zu fehlichten. 

Die türkifchen Abgeoroneten gaben jedoch anfangs auf die obfchwebenden Fragen 
ausweichende Antworten und fchienen nicht einmal mit hinlänglicher Vollmacht verſe⸗ 
ben zu fein, fo daß endlich die rufflfchen Beuollmächtigten erklärten, der Kaijer werde, 
wenn bis zum 26. September (7. October n. St.) feine genügende Antwort auf alle 
Bragen ertheilt und die vorgelegten 8 Artikel nicht angenommen wären, feine Heere 
über den Pruth gehen, und ohne Weitered die Moldau und Walachei befegen laſ⸗ 
fen. Hierauf unterzeichneten envlich die türfifchen Bevollmächtigten am Abend des 
25. September (6. October) die, in Form einer ZufagsUebereinkunft zum Bucharefter 
Frieden vorgelegten, jebt in 8 Artikel zufammengefaßten Punkte. Der Kaifer von Ruß⸗ 
land beftätigte felbige am 14. (26.) Dectober, der Großherr am 24. Rußland erhielt 
durch Diefen von ihm zu Akkerman erfämpften diplomalifhen Sieg: 





— 7 yrv mr Ir dd VPPRDDY *9 Van uni ade: vw. WUVVUTO2 WET under Adler Add 


gegen die Seeräuber der Barbaresfen; — die Errichtung von Divans in der Moldau 
und Walachei; — die Wienerwählbarkeit der dortigen Hospodare nach ihrer flebenjähri- 
gen Regierung; — die Herftellung der Privilegien Serbiend, in welcher Provinz Die 
Türken bloß die Feſtungen befegt halten follten; — die Anerkennung der Privatforbes 
zungen rufftfcher Uintertbanen an die Türkei; — ebenfo Anerkennung der am 2. Sept. 
1817 befchlofjenen Grenzregulirung an der Donau. Die aflatifchen Grenzen zwifchen 
beiden Reichen folften bleiben, wie fle beſtanden. | 

" Man glaubte, daß diefer Artikel abfichtlich fehr gefchraubt abgefaßt worden fel, 
um der Pforte dad Geftändnig zu erfparen, daß Die von ruſſiſchen Kriegsvölfern in 
Alten befegt gehaltenen türfifchen Feſtungen Rußland verbleiben follten. Die Artikel 
der Affermaner Uebereinkunft erhielten durch den Friedensvertrag von Adrianopel, 
14. September 1829 (j. Adrianoyel) manche nähere Beſtimmung. Bei der Convention 
von Akkerman war die Pforte vertreten von Seid Mehemed, Hadi Effendi, 
Seid Ibrahim, Iffet Effendi; Rußland dagegen von Staatdratb Fronton, 
Seheimenratb Ribeaupierre (der bierauf Gefandter in Konftantinopel wurde) uud 
Graf Woronzow; dad Protocol führte Baron Brunnom. Die acht Artikel, als 
Convention explicative du traite de Bucharest (1812) signe a Ackerman officiell 
bezeichnet, bilden nur eine Apditionalacte zum Friedensinftrument von Buchareft, was 
auch der Entftehungsgrund dieſer Convention war; denn ed handelte ſich nur um bie 
Verletzungen des Briedend von YBuchareft, welche fich die Pforte von 1821 — 26 zu 
Schulden Eommen ließ. Daher Rußland jede Einmifchung dritter Mächte ſich ver⸗ 
bitten Eonnte. 

Gedruckt ift die Convention von Afferman im Journal de Frankfort, 10. Der. 
1826; Moniteur No. 349, 1826; ®hillany a. o. a.O. Bd. 2 ©. 277 flg.; Mar- 
tens, nouveau recueil Bd. 6 ©. 1053; Martens et Gussy, recueil manuel 
B. 4 ©. 221. 

Afoluthen. Die Entwidelung, welche die Verfaffung und das gefammie Leben 
der Kirche in der nachapoftolifchen Zeit unter der Leitung der Bifchöfe erhielt, mußte 
fi zunächft auf den Ausbau der einzelnen Gemeinden oder Diödcefen richten. So ward, 
wohl noch ehe die Wirkfamkeit neuer allgemeinkirchlicher Organe, der Synoden und 
Biſchöfe fich feftitellte, die DVervollftändigung und weitere Gliederung des unter dem 
 Biihofe ftehenden Gemeindeflerus in’d Werk gefegt. In dem Maße, ald die Ge- 
meinden fich vergrößerten und in ihrem @ultus und ihrer Verwaltung neue Bebürfniffe 
fich entfalteten, deren unmittelbare Beforgung Feiner der drei Ordnungen des Clerus, 
weder den Bifchofe, noch den Presbytern, noch den Diafonen auferlegt werden zu 
fönnen fchien, ſchritt man zur Errichtung einiger untergeorbneten Gemeinbeänter, 
unter welche jene Functionen vertheilt wurden. Es find Died die fogenannten nie- 
dern Ordnungen des Clerus, zu welchen nach den Subdiaconen, deren Amt zuerft 
ind Leben trat, die Akoluthen, Erorciften, Lectoren und Oftiarier, fo wie die kirch⸗ 
liden Chorfänger (Pfaltiften oder Cantoren) rechneten, anderer Bebienfteten, die 
nicht al8 Cleriker, oder höchitend als Halbelerifer und Laiengehülfen zählten, wie die 
Kopiaten (Leichenbeftatter, Krankenwärter), Parabolanen u. f. w. nicht zu gedenken. 
Die erſt genannten erhielten fämmtlich eine bifchöfliche Segnung und Beftallung, ob⸗ 
wohl feine eigentlich orbinatorifche Handauflegung ; ihre Aemter, die vorzugsweife nur 
jimgere Leute befeßten, wurden ald die Schule praftifcher Ausbildung für die höheren 
geiftlichen Grade betrachtet. In fpäterer Zeit wurde ed fogar gefeglich, Daß die Can⸗ 
didaten der höheren Stufen die niederen Ordnungen in einer gewiffen Reihenfolge 
durchgemacht haben mußten. Inzwifchen find dieſe letzteren, wie fe erſt allmählig und 
in verfchtedenen Kirchen entftanden waren, auch keineswegs überall gleichzeitig in Auf⸗ 
nahme gewefen. - Die orientalifchen Kirchen haben einige derfelben nicht hervorgebracht 
oder nicht beibehalten, welche im Occident einen feften Beftand erhielten und umgekehrt. 
Auch im Abendlande herrſchte Hinfichtlich diefer unteren Grade keineswegs allgemeine 
Mebereinftiimmung, bis man feit dem elften Jahrhundert, der Zeit der beginnenden 
Spyſtematiſirung des Kirchenrechts, ihre Zahl und Neihenfolge auf die vier der Afolu- 
then, Groreiften, Lectoren und Oſtiarier feftfeßte, den Subblaconat mit dem Diaconat 


/ 





-_— re” | Din IT ie —— se A ⏑ De An — — 7 


umfaffen ſollte) den höheren Ordnungen zuzaählte und fo die Heilige Stebenzahl in der 
Abftufung des Firchlichen Amtes herausbrachte — eine Anordnung, die von den Ideen 
der alten Kirche in mehrfacher Hinficht Darum nichts weniger abmeicht, weil fle von 
den ſymboliſchen Autoritäten der römifchen Kirche in den „Anfang der Kirche“ zurüd: 
Datirt wird. (Conc. Trident. sess. XXI, cap. 2 und Catechism. Rom. de sacram. 
ordinis, quaest. 12.) 

Ueber die anderen einzelnen Punkte find vie betreffenden Artikel nachzuſehen. 
Was den Grad der Akoluthen, den oberften unter den niederen Ordnungen, betrifft, fo iſt 
derfelbe im Drient niemald heimiſch geworden, im Occident aber bereitö im dritten 
Jahrhundert häufig bezeugt. Der Name, von dem griehifchen Wort dxoAnudeiv, fol. 
gen, abgeleitet (daher nicht, wie häufig geſchieht, Akolyth zu fchreiben), bebeutet fo 
viel als pedissequus, einen Aufwärter im Gefolge des Bifchofs. Die Akoluthen 
wutden vielfach zur Ausrichtung bifchöflicher Veftellungen gebraucht. Nach der Bes 
flimmung ihrer Pflichten, welche das vierte Farthagifche Concil im Jahre 399 getroffen 
und das römifche Ordinationdritual aufgenommen bat, follten vornehmlich fie die Lich⸗ 
ter in der Kirche anzünden und den Abendmahlswein beforgen, daher ihnen bei der 
Einfegung eine Kerze und eine Kanne überreicht ward. Indeſſen find diefe Verrich⸗ 
tungen längft auf die fogenannten Kerzenträger (ceroferarii), Küfter und andere Laien 
— Chordiener übergegangen, und dad Afoluthat, als ein unterfchiedenes thätiges Amt 
erlofchen, bildet nur noch eine leere ceremonielle Uebergangsftufe in der Ordination der 
fath. Geiftlihen. Alle vier niederen Grade oder Weihen werden ihnen gewöhnlich hinter 
einander an demfelben Tage, am folgenden fofort dad Subdiafonat n. f. w. bis zum 
Priefteramte beigelegt. Zum Theil auch deshalb Tießen die aus der Reformation ber 
vorgegangenen Kirchengemeinfchaften mit den übrigen niederen Amtsordnungen auch bie 
der Akoluthen ganz wegfallen. Die episfopalen Kirchen blieben bei der uranfänglichen 
Unterfcheidung der Bifchöfe, Presbyter und Diafonen ſtehen, die übrigen begnügten 
fih mit dem Begriffe eines einigen, in fich nicht weiter unterjchiedenen Predigtamtes. 
Die Functionen der verfchiedenen Stufen mußten, fo weit fie nicht ganz aufbhörten, auf 
das eine Amt oft bis zur Erdruͤckung gehäuft oder ohne wirklich organifche Austheilung 
von befoldeten Laien beforgt oder endlich dem Eifer freier Vereine überlaflen werden. 

Alabama. Bis zum Jahre 1819 ein Integrivender Theil Georgia's, des Miſ⸗ 
ftifippis®cbieted und des weftlichen Florida's, trat Alabama in dieſem Jahre der nord» 
amerifanifchen Union als feldftftändiger Staat bei, und bat fi in der kurzen Zeit 
feine® Beſtehens zu einem der bebeutenpften Staaten emporgefchwungen. Bwifchen Lat 
30° 14° und 350 N. und Long. 67° 30° und 709 49 W. v. F. gelegen, wird er 
im Norden von Tenneffee, im Often von Georgia und Florida, im Süden von Florida 
und dem merifanifchen Meerbufen und im Welten vom Staate Rifftffippi begranzt 
und hat einen Flächenraum von 2389 deutfchen Geviert:Meilen. 

- Die frühere Geſchichte Alabama's ift fo eng mit der der anderen Theile des 
füdweftlicden Gebietes der nordamerifanifchen Freiftaaten verbunden, daß feine unab⸗ 
hängige Gefchichte eigentlich erft mit dem Jahre 1818 anfängt, wo die Negierung ber 
Vereinigten Staaten dad Gebiet von Alabama bildete. Als ein Theil indeffen eines 
wichtigen Landſtriches, welcher auf eine feltfame Weije zwifchen Frankreich, Spanien 
und England umbergeworfen wurde, urfprünglich der Sit einer zahlreichen und mädhe 
tigen indianifchen Bevölkerung, von der ſich jegt noch in zahlreicher Menge Ruinen vor- 
finden, und dann Fühner und unternehmender Einwanderer, bietet er ein anziehendes 
Feld für gefchichtliche Forfchungen dar. Das Gebiet, welches jeht den Staat Alabama 
bildet, wurde im Jahre 1541 den Europäern zuerft durch de Soto's Reife von der 
Küfte von Süd- Karolina nach dem Mifftffippi, wobei dieſer Reiſende auch zugleich den nörd⸗ 
lichen Theil dieſer Gegend pafftrte, bekannt. Diefe Reiſe war jedoch nur eine flüdhtige 
und hinterließ Feine andere Spuren als folche, welche in der Regel die Bußtapfen der 
Spanier in der Neuen Welt bezeichneten, nämlich Plünderung, Raub und Mord. 
Ganze bundertundfunfzig Jahre nachdem de Soto’8 Gebeine in den Schlamm des 
Miſſiſſtppi verſunken waren und feine Nachfolger ähnliche unkennbare Gräber in der 
großen Wüflenei von Louiſtana und Texas gefunden hatten, blieb biefes große Gebiet 











TEE Q GE 7 Er ee Sue See u Zee 


Nah Verlauf diefed Zeitraumes fand die franzöftfche Befignahme von Louiſtana ftatt, 
und eine der früheften Nieberlaffung war die an der Bucht von Mobile. In das 
Innere drangen indefien nur indianifche Kaufleute, und bier und da war eine Fähre 
an Punkten, wo die Route für Padpferde einen der zahlreichen Flüſſe der Gegend 
durchfchnitt. Nur wenig gefhah für die Colonifation in Mabama bi8 nach dem An- 
kaufe Rouiflana’8 Seitens der Union und den Schluffe des EreefsKriegs, welcher 
mit großer Heftigfeit im Südweſten wüthete. Dann erft bildete die Eentral-Regierung 
das Gebiet Alabama. Die Einwanderungen ergofien ſich nun von Norden und Oſten 
herein, nach einigen Monaten bewarb fich die ftarf angewachjene Bevölferung um Zu—⸗ 
lafung in die Union und wurde fofort und zwar am 14. December 1819 als Staat 
aufgenommen. _ 

Bon Oſten nah Weften durch die füdmeltliden Ausläufer der Alleghanies 
durchzogen, wird das Rand in zwei,burch Klima ſowohl ald durch Boden und Erzeugniffe 
abweichende Theile gefchieden. Im Norden ift der Boden reich und fruchtbar; meiftens 
Kalle und Thonboden; fchwellt zu fanften Hügelketten an, zwifchen denen bin und 
wieder Streden flachen Wiefenlandes ſich ausdehnen und geht nach Tenneffee zu in 
Gebirge über, die reigende Thäler umziehen. Die Berg- und SHüpgelketten dieſes Theild 
find mit dichten Waldungen von Eichen, Hidoried, Efchen, Ulmen, Cedern und Pappeln 
bedeckt; die Mitte des Staate8 bat mit geringer Ausnahme armen, fandigen Boden in 
der Kreideformation, die dieſen Theil des Landes der ganzen Breite nach durchzieht, 
und bietet nichts als Nadelholz-Waldungen; der Süden dagegen hat in den tertiären 
Gebilden Ieichten, etwas ſandigen, aber ausnehnend reichen Boden, der zum Theil 
noch mit Kiefern, Enpreffen, Gummibäumen, SwampsEichen und Lebenseichen beitanden 
ift, mit Niederungen und Rohrbrüchen wechjelt, und längs der Florida-Grenze 10 bis 
12 Meilen weit nichts al8 Tannen= und Chpreflengebüfch bietet und von gleicher Be⸗ 
Ihaffenheit zwifchen der weftlichen- Grenze des Staates und dem Mobile if. Faſt alle 
Ströme und Creeks, welche diefen Theil des Landes .bewäflern, find mit NRohrbrüchen 
eingefaßt und deren Ufer mit Orangenbäumen geziert. Die Hauptflüffe des Staates 
laufen alle nach Süden bis auf den Tennefjee, der auf der Grenze von Nord⸗Carolina 
und des Staates Tenneffee auf den Allegbany = Gebirge entipringt, mit einem Bogen 
den nörblichen Theil Alabama’8 durchläuft, dann vordwärts durch die Staaten Tenneflee 
und Kentudy fließt und in diefem Staate 18 Meilen oberhalb der Bereinigung des 
Ohio's mit dem Wifftfippi in den erfteren mündet. Der Tenneflee nimmt in Alabama 
mehrere Gewäfler auf und zwar auf der rechten Seite den Crow⸗, Racoon⸗, Mud- 
und Sauta= Ereef, den Paint Rod, Flint-, Swan- und Elf» River und den Blues 
water⸗, Shoal-, Cypreß⸗ und Second⸗Creek, auf der linken Seite den Eofauda-, Leo⸗ 
ſanakee⸗, Cotaco⸗, Town⸗, Springe, Caney⸗ und Bear⸗Creek und zwifchen dem Cataco= 
und Town⸗Creek den FlinteRiver. Der bedeutendſte Fluß ift der Alabama, der durch 
den Zufammenfluß des Cooſa mit dem Talapoofa gebildet wird und nad) der Ver⸗ 
einigung mit dem Tombeckbee den Namen Mobile annimmt. Der Coofa entfpringt in 
dem: norbweitlichen Theile Georgiens, fließt nach feinem Eintritt in den Staat Ala⸗ 
bama in einem nach Weften gerichteten Bogen nach Süden bis zum Talapoofa, der 
im Weften Georgieng, einige Meilen von der Grenze Alabama's feine Quelle hat und 
in Iehterem Staate die größte Strede feines Laufes eine parallele Nichtung mit dem 
Cooſa annimmt und erft furz vor der Mündung dieſes fich nach Weften wendet. Die 
Zuflüfle des Cooſa find innerhalb Alabama's auf der rechten Seite der Little-River, 
ver Willd-, Canoe⸗ und Kelly's⸗Creek, auf der linken Seite der Rody- und Eufaulee- 
Creek und-der Hatchet- River, Die des Talapoofa, rechts der Hillabee⸗River und links 
der Lochie⸗, Mebehatchees und Oakfuskee⸗Creek. Nach dem Zufammenfluffe des Coofa 
und Talapooſa fchlägt der Alabama in den mannichfachften Windungen eine weftliche 
und darauf Ane ſüdſüdweſtliche Richtung ein und nimmt ald größten Zufluß den Ca- 
hawba auf, während die anderen in ihn mündenden Gewäfler nur unbedeutend find, 
wie der Mortar⸗, Pearl⸗, Antauga=, Rays, Mulberrye, Bougechitto⸗, Chelache⸗, Bea⸗ 
ver und Bear⸗Creek und auf der linfen Seite der Catama⸗, Pintelata=, Letohatchee⸗, 
Gedare, Pine Barren-, Flat⸗, Kimeftont- und Majors⸗Creek. Der Tombeckbee entfteht 





unter Denen Der Sıpjey und Der Dlaa Warrior Die bedeutendſten ſind. Letzterer tommt 
von den Ausläufern der Alleghanied im Staate Alabama herab und entfieht aus vie⸗ 
len Quelfflüffen, die dem WMulberry und dem Lokuſt zuftrömen, zweien Gewäflern, 
welche nach ihrer Bereinigung den Bla Warrior bilden. Auf derfelben Seite, wie 
diefe beiden großen Nebenflüffe, mündet in den Tombedbee, wenn auch außerhalb bes 
Staates der Buttahatchee Niver, der jedoch den norbweftliden Theil Alabama’ durch 
zieht, ferner der Lubbub⸗, Prairie-, Sauble-, Chidafaw-, Horſe⸗, Talahatta= und 
Baſſets⸗Creek und. auf der rechten Seite der Quibby⸗, Tugaloo⸗, Okeechee⸗, Killbud-, 
Oaktuppa⸗ und Bated-Ereef. Der Mobile fpaltet ſich gleich nad der 8 Meilen nörb- 
lih der Stadt Mobile erfolgten Mündung des Tombeckbee's in ihn in mehrere Arme, 
wie der Nafte, Tenſaw⸗-River, die fich mit dem eigentlichen Hauptarme in die Mobile 


Bai ergießen. Außer diejen Klüffen find noch zu erwähnen: der Chattohochee, der 


Choctawhatchee, der in die Bai gleichen Namens feinen Abflug hat und der den Bea 
aufnimmt; das Dellow Water, dad ebenjo wie der Escambia in die PBenfacola = Bucht 
mündet und endlich der Perdido, der die Grenze Alabama's gegen Florida bildet und 
in die Pedido⸗Bai fich ergießt. Der Chattohochee, der Hauptnebenfluß der Appaladi- 
cola, entfpringt ‚im nördlichen Theile Georgiens, feheidet auf eine große Strede dieſen 
Staat von Alabama und nimmt in ded lebteren Gebiet den Oſoligee⸗, Hallewockee⸗, 
Wockochee⸗, Euchees, Dconees, Dattayabbes und Omuſſee⸗Creek auf. 

Alabama ift wie alle fünlichen Staaten der Union demfelben Tenperaturmechiel 
unterworfen, als die mittleren und füdlichen Staaten. Der nördliche Theil Alabama's 
bat ein Höchft angenehmes und gefundes Klima, ver fühlichfte iſt Dagegen ungefund, 


Im Sommer beiß, im Winter gemäßigt. Die mittlere Tenıperatur innerhalb des gans 


zen Staated kann man nad den in Eutaw, Quntsville, Mobile, Morgan und Mount 
Bernon angeftellten Beobachtungen zu 150 R. annehmen, und beträgt infonderheit an 
zwei Orten, von denen der eine im nörblichen, der andere im füblichen Theile Albama’s 
liegt, nämlich zu Huntsville und Mobile, 149,,, und 16%, R. Die mittlere Tem 
peratur im Winter ift in Huntsville 79,40, im Frühjahr 129,,,, im Sommer 219,, 


und im Herbft 149,,, R. und der Unterfchied zwifchen ver Fälteften und wärmſten 


- 


Monatstemperatur belief fih auf 17935 R.; in Mobile beträgt die Durchfchnittätem- 
peratur im Winter 109%, im Frühjahr 179%,,,, im Sommer 22°, und im Herb 
169,9, und Die bezeichnete Differenz 120,0. R. Der wärnfte Tag an legterem Orte 
war 3. B. im Jahre 1841 299,,,, der Eältefte in dem nämlichen Jahre und zwar im 
Januar, 29,5 R. Der höchſte Stand des Barometerd betrug 30,26, der niebrigfle 
29,33; ſchoͤne Tage zählte man 149, bewölkte 71 und Megentage 145; Die Menge 
des Regens belief fih in Zollen auf 74,95. Der Monat Januar 1841 war der naf- 


fefte, deſſen fich die älteflen Bewohner der Stadt erinnern Eonnten, und die Regen⸗ 


menge deflelben allein betrug 14,, Zoll. 

Der Landbau iſt die Haupterwerbsquelle des Landes und wird im Süden nur 
ald Plantagenbau, im Norden als Aders und Plantagenbau betrieben; Die ganze an- 
gebaute Fläche umfaßte nach der Schäßung des Jahres 1850 ein Areal von 4,435,614 
Acres (316,3 Geviertmeilen) oder ein Siebentel des ganzen Blichenraumes Alabama's. 
Baumwolle, die im ganzen Staate angebaut wird, außer im Norden, und Mais bilden 
die Hauptftapelartifel; die Ernte von beiden betrug 1850 bezüglich 225,771,600 Pfd. 
und 28,754,048 Bufheld. Der Zuderrohrbau ſowohl wie der Reisbau kommen in 
den Niederungen immer mehr in Aufnahme; beide Eulturen lieferten in dem genannten 
Jahre einen Ertrag von 8,242,000 und 2,312,252 Pfd. Pataten (5,475,204 Bufhels an 
Ertrag im Jahre 1850), Kürbiffe, Melonen werben überall im Lande angebaut; Weizen 
(294,044 B.), Roggen (17261 B.), Gerfte (3,958 8.) bringt nur Nord-Alabama, 
aber bei Weitem nicht hinlänglih, um den Bedarf zu decken. Die Waldungen jind 
trefflich beftanden und bieten alle Baumarten Nordamerika's; eine geregelte Waldwirth⸗ 
fchaft ift aber noch nirgends eingeführt. Rothwild und wildes Geflügel ift noch in 
Menge zu finden; Naubthiere find felten geworden und nur im Hochlande fommen 
noch hin und wieder Bären und in den Nohrbrüchen des Südens Guguare vor, wo⸗ 


hingegen wilde Kapen, Marder, Füchſe, Raccoons, Opoſſums und Eichhörnchen in 











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— RVYsuen DD AUNUED, — IAn PiIiiyi DED ⏑ AEUDUIERD, N 
ſehr wenig erforjcht ift, flehen Steinkohlen oben an, die im ganzen Welten. des € 
gefunden und theilweije fchon benugt werden; Gold kommt in Cherokee Count 
wo der golbhaltige Diftrict fich verliert, der vom Rappahannock in Birginien | 
den Eofia läuft, auf einigen Stellen nur einige Fuß, auf andern mehrere Meilen 
aber im Ganzen troß des vorhandenen und leicht flüffig zu machenden Anlagec 
bei dem durch den unfäglihen Golddurſt gebotenen rohen Raubbau und bei dem | 
an bergmännifchen Kenntniffen nur wenig ausgebeutet wird. Aehnlich verhält 
mit dem Eifen, das in Lawrence County gefunden wird. 

. Un Kunft und Gewerbefleig ift im Allgemeinen Alabama noch zurüd; | 
Manufaktur» und Fabrikanlagen beftanden 1850, einige Brennereien und Bicı 
reien, Korn⸗ und Sägemühlen, Theerjchwelereien und Terpentinbrennereien aus 
men, in 3 Noheifenwerfen n einem Betriebscapitale von 11,000 D., in 10 Gu 
fabrifen mit 216,625 D., einer Eifenblechfabrit mit 2,500 D. und in 12 Bar 
Ienfabrifen mit 651,900 D. Der Handel ift bedeutend und wird Durch mehrere 4 
eine Menge gut im Stande gehaltener Straßen, zahlreiche Eijenbahnen, die 
einzelne Städte Alabama's, ald auch die angrenzender Staaten verbinden, durc 
bedeutende Fluß⸗ und Seefchifffahrt und mehrere Banken mit großen Gapitalie 
ſentlich unterftügt. Die Ausfuhr erfiredt fich größten Theil auf Rohproducte 
Baumwolle, Reis, Häute, Tifchler- und Bauholz und einige andere Randeserze 

. Die Einwohner Alabama’d flammen aud den öſtlichen und nördlichen € 
der Union, fpäter aber, ald die Indianer immer mehr zurüdgebrängt wurden, 
Deutfche, Schweizer, Schotten, Iren, Engländer und Franzoſen bier ein neues 
land. Die Bevölkerung belief ji im Jahre 1856 auf 841,704 Seelen, f 
auf dem Raume einer Geviertmeile 352 Menjchen lebten und betrug im Jahre 
20,345, 1820 127,901, 1830 309,527, 1840 590,756 und 1850 771,623 
hatte ſich aljo in den erften zehn Jahren um 513,,, von 1820 bis 1830 un 
von 1830 bis 1840 um 90,,, von 1840 bi8 1850 um 30,5, und in den 
Jahren von 1850 bi8 1856 um Y,os PEL vermehrt und feit 1810 bis 18: 
Durchſchnitt jedes Jahr um 65,, pE&t. Unter der Bevölkerung vom Jahre 185 
ren die Weißen mit 426,514, die freien Yarbigen mit 2,265 und die Sclav 
342,344 Seelen vertreten. Legtere hatten feit dem Jahre 1840 einen Zumad 
89,311, feit 1830 einen von 225,295 und feit 1820 einen von 300,965 Indi 
erhalten, alfo in den dreißig Jahren von 1820 bis 1850 durchſchnittlich jedes 
einen von 27,, pCt. Die Indianer befchränften fih 1856 auf 25,000 Köp 
find dies die Creeks; die Cherofees, die auf beiden Seiten des Tenneffee noch 
ziemlich zahlreich wohnten, find jet nur durch einzelne Bamilien vertreten und 
fih außer in dem Indiana » Territorium noch in Nord - Carolina, und die Ehe 
Die ebenfalld in Alabama ihre Jagdgründe hatten, in dem Staate Wifltffippt un 
eben genannten Territorium. Unter den Bewohnern des Staated im Jahre 
waren 16,630 im Handel, in der Induftrie und dem Bergbau, 68,635 im A 
und 807 in der Fluß- und Seefchifffahrt befchäftig.. 6248. Perfonen waren G 
D. 5. hatten Theologie, Rechtswiſſenſchaft, Medizin und andere Fächer ſtudirt 
Leute erheifchte der Regierungs⸗Civildienſt; 42 Individuen waren Dienfiboten und 
Zagelöhner, die aber nicht beim Aderbau ihren Unterhalt fanden. Bon den in 
Amerika einheimijchen Religionsſecten finden ſich auch in Alabama fehr viele, 
wod, nicht die Hinlängliche Anzahl von Kirchen, von denen 1850 im ganzen 
1373 vorhanden waren, und eine Menge begnügen ſich mit dem Privatgotted 
in Häufern, Scheunen, Niederlagen und auf freiem Felde. Am zablreichfien ve 
waren die Baptiften mit 189,980, die Methodiften mit 169,025 und die Presb 
wer mit 58,805 Anhängern, an die ſich 6920 Episcopalen, 5200 Romiſch⸗katt 
mit einem Biſchofe, 4050 Ebriftliche, 1800 Freie, 1125 Untoniften, 1000 Un 
500 Univerfaliften, 200 Lutheraner und von geringeren Secten etwa ‚1000 Indi 
anfchlofien. Dem Unterrichtöwefen wird in neuerer Zeit mehr Aufmerkjamkeit gefi 
ver Schulbefuh im ganzen Jahre erftredte ſich nach dem lebten Cenſus auf € 
Kinder ober auf 8 pCt. der Totalbevölferung; von den ermachjenen Perſoner 





reiben Tonnten, wad 4 pCt. Der Bevol 
dem Erirage eines Theiled der zum Be 
gebt, belief fich 1856 auf 1,258,933 Do 
Bänden forgten für die geiflige Nahruı 
60 Zeitungen und periodifche Schriften, 
und in 1 religiöfe, 16 Whig⸗, 22 dem 
Zeitungen und in 13 unbeflimmte Blatt: 
u. f. w. Zweige zerfielen. , 

Die Eonflitution des Staates fan 
Gewalt ruht in den Händen ber Genera! 
Mitgliedern, Die auf 4 Jahre, und einem 
die jährlich vom Volke gewählt werben, | 
am vierten Sonntag im October, und 
tägliches Gehalt während der Dauer der 
walt übt ein Gouverneur auß, der auf 
Gehalt von 2500 Dollars bezieht. Zur 
2 Senatoren, wie jeder Staat, groß ode 
liye Gewalt ift wie in allen Staaten der 
des Öbergerichtd, der Kreid- und Unterg, 
lung auf 6 Jahre, der Generalanwalt ! 
Es beſtehen im Lande: ein Obergericht, © 
gerichte; jährlich finden zwei Mal Sigung 
Die Finanzen find wohl geregelt. Die f 
5,888,134 Dollars, die einen jährlichen 
d. 5. alſo durchfchnittlih mit 5,35 Proc 
Ausgaben ohne dieje Zinfen beliefen ſich 

Alabama. zerfällt in 53 Diftricte, 
wohner zählen; die bevoͤlkertfte County i 
1852, dann Montgomery, Dallas, Mare 
Perch, Sumter, Lowndes, Pickens, Larder 
tone haben mehr wie 10,000, 15 mehr ı 
Die Hauptftabt, d. h. der Sig des Gouv 
gomery, auf einen hoben Felſen, am Ala 
wird, mit bedeutendem Baummollenhand: 
Handelswelt hat Mobile, auf einer Anhi 
am Bufen gleichen Namens, mit einem ! 
Süpküfte und, bis auf die Suͤdwinde, v 
das Fort Morgan gegenüber Dauphin Tel: 
gutgebaute Stabt, feit 1823 der Siß einei 
‚ im Sabre 1850. Ihr Handel bat in der 
genommen durch ihre glüdliche Lage ar 
lichſte Ausfuhrpunft der reichen Produete de: 
man In dem Staate erntet, daß man diefe S 
wollenmarkt der Vereinigten Staaten anjehe: 
der Hauptbank der Union, mehrere Localbı 
Aufnahme von Baumwolle, die vermitte 
Drittel ihres Volumens zufammengeprept 
bringt. Das Baummollen-Magazin, von 
ein ungebeures Gebäude von Badfteinen, 
Waare aufbewahrt. Unglücklicher Weife 
den Sommer⸗ und Herbfimonaten heimge 
ſtadt Spring « Hill gebildet, wohin ji v 
Einwohner begeben, welche nicht, wie «8 ; 
Staaten flüchten koͤnnen, ſondern an Ort 
Mobile Durch einige Werber getrennt, lieg 





Antonios@rande u. |. w. nach Pernambucco. Beide Verkehrswege erfordern ſaͤhrlich 
etwa 20,000 Tonnen Schiffsraum in größern und Eleinern Fahrzeugen. 

Alais, Stadt im ſüdl. Frankreich, Hauptort im gleichnamigen Arrond. des Dep. 
Gard, 15,624 Einw. mit thätiger Induftrie in Tohlene und eifenreicher Gegend; eine 
fehr alte proteftantifhe Stadt, die Ludwig XIII. (1629) unterwarf; Ludwig XIV. er- 
richtete dort nach Aufhebung ded Edicts von Nantes ein Bisthum und baute zugleich 
ein Bort. - _ 

Alanda- Injeln, eine Gruppe von’ vieleicht 200 Eilanden und Felſen oder 
Schären (Skaͤren) in demjenigen Theile des baltifchen Meeres, welcher auf der Schei- 
dung liegt zwijchen der Oſtſee und dem bottnifchen Weerbufen, zum Großfürftenthum 
Finnland gehörend und bier eine der neun Vogteien (Haͤred) der Provinz (Län) Äbo⸗ 
Biörneborg bildend; ein Labyrinth‘ von angebauten Eilanden und wüften Klippen, 
unter denen bie den Namen Aland inſonderheit tragende Infel die größte und vor: 
nehmſte ift, 3 Meilen lang und eben fo breit; mit gefahrvollem Fahrwaſſer in der 
unendlichen Menge von Kanälen, die die Eilande und Schären trennen, innerhalb deren 
nur der einheimifche, bier geborne Seemann den rechten und fichern Weg zu finden 
weiß zu den wenigen Anferplägen, deren e8 in dieſem Archipelagus hanptfächlich fieben 
giebt: im Ederö-Sund, nörblih von Torned; im Marfund, vor Gronffär; an ber 
Norde und Weftieite von Swind; im Nyhamm; im Roödhamm; im Ledfunde und an 
der Sübfeite von Längdr. Unter den Kanälen hat infonderbeit der Bomarfund in 
neuefter Zeit einen Namen erlangt, wegen der Feſtung, die bier an der Lumpar⸗-VBucht 
errichtet worden war, un, wie man f. 3. fagte, als großes militärifches Arfenal zu 
dienen, von dem aus die ganze Oſtſee beberrjcht werden follte, und erforderlichen Falls 
die Küfte Schwedens bedroht werden koͤnnte. Diefe Feſtung mußte fi in dem legten 
Kriege der jog. Weftmächte gegen Rußland der vereinigten franzoͤſiſch⸗ englifchen See 
und Landmacht am 16. Auguft 1854 ergeben. Franzoͤſiſche Berichte erzählten in dem 
prahlerifchen Tone, an den man bei ihnen feit- uralten Zeiten gewöhnt ift, von 180 
Kanonen, die in der Bomarfunder Feſtung erbeutet fein follten; und doch wußten fie 
nur von 2400 Wann Beſatzung, ein wunderliches Verhältnig zwifchen der Zabl des 
fehweren Gefchüged und der Zahl der vertheidigenden Mannfchaften. Darauf zerflörten 
die Franzoſen Bomarfunds Feſtungswerke gänzlich und räumten dann bie Infel wieber. 
In einer beſondern Uebereinkunft, die den Barifer Fricdenfchluß vom 30. März 1856 
angehängt worden ift, „erklärte S. M. der Kaijer aller Heußen, daß, um dem ihm aus- 
gebrücdten Wunfche „des zeitigen Oberhauptes von Frankreich‘“ und I. M. der Königin 
des vereinigten Königreich Großbritannien und Irland zu entiprechen, die Alands- 
Inſeln nicht befeſtigt und dafeldft Feine militärifche oder Seevertheidigungs-Anftalt eine 
gerichtet werben folle”, eine in ihrer Art einzige völkerrechtliche Befchränkung der ruffi- 
ſchen Souverainetät, nur zu vergleichen mit der Beitimmung des Utrechter Friedens, 
nach welcher Sranfreich fi) gegen England verpflichten mußte, Dünfirchen nicht von 
der Seefeite zu befeftigen. In ganz Frankreich warb diefe Beflimmung, welche im 
Berfailler Frieden (1783) befeitigt wurde, als eine Schmach gefühlt, und doch flüßte 
fie ih auf ein früheres thatfächliches Verhaͤltniß, in welchem England auf der (fran- 
zöflfchen) Süpfelte des Canals feiten Fuß genommen hatte. 

Die Hands « Infeln, aus kryſtalliniſchem Geftein beſtehend, deſſen langſam vor« 
fohreitende Verwitterung ein dem Pflanzenwuchs zufagended Erdreih gewährt, find, 
mit Ausnahme der Kicchipiele Kumlinge, Kogld und einiger anderer Dertlichkeiten von 
geringer Bedeutung, wo das "öde Land nur verkrüppelte Tannen und niebriges 
Geftrüpp hbervorbringt, reichlich mit Waldung bekleidet, fo daß denn auch Holz 
einen wichtigen Ausfuhrartikel bildet, vorzüglich nach Abo zum Schiffbau, der aber 
auch fir Rechnung finnländifcher Rheder auf den Injeln betrieben wird, weil bier 
der Tagelohn niedriger ift, als in den Hafenſtädten des Yefllandes. Außer den in 
den norbifchen Rändern beimifchen Bäumen, wie Fichte, Tanne, Birke, Erle, finden 
fih dort noch die Eichen, der Ahorn, der Eiben- und fogar noch der Nußbaum, 
der namentlich im Kirchfpiel Rumlinge einen Erſatz für Dad Fehlende ausmacht, wenn 
auch nicht an Quantität der Gremplare, doch an Qualität der Früchte. Unter der 
Iſotherme von 49 M. belegen, bei einer mittlern Temperatur des Winters von 





laufen u. ſ. w. für das Ohr durch ſtark und weitſchallende Inſtrumente, für das Auge 
durch Signale, Fanale, Feuerwerksträger. Raſchheit im Beginnen der verabrebeten 
Töne oder Zeichen unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Peranlafiung, und Raſch⸗ 
beit in der Kolgeleiftung find die Hauptbebingungen, für welche die Verabredung ober 
Anlage der Allarmzeichen im Voraus forgen muß. In Städten und im Frieden ge 
nügen dafür entweder Signale der Thurmmächter, bei Tage mit Fahnen, bei Nacht 
mit Laternen, Horn= oder Trommelruf, fo wie die Theilnahme der Militairwachen. Is 
neuefter Zeit haben fich telegraphifche Verbindungen der verfchienenen Polizeiftationen 
befonderd nüglich bewiefen. Im Lager und im Kriege folgt jede Allarmirung beſtimmten 
reglementarifchen Vorſchriften. 

a) Allarmftangen, Lärmſtangen, Banale, dienen für weit audge 
dehnte Truppenaufftellungen, oder weit vorgefchobenen Poften. Sie werden auf mög- 
lichſt erhöhten Punkten angebracht, und hat man ſich bei Der Errichtung zu überzeugen, 
ob fie von allen den Punkten auch wirklich gejehen werden Tönnen, wo fie geſehen 
werden follen, am beflen durch correfpondirend aufgerichtete Allarmftangen. Bei Tagı 
wendet man Dampffanale, bei Nacht Yeuerfanale an. Eine Tonne mit Stroh, WBerg, 
Pech, Theer u. f. w. gefüllt, auf einer möglichft hohen Stange, Maſtbaum, auch wohl 
in einem nicht belaubten Baum befeftigt, mit Zuftlöchern verfeben und durch eine ber- 
abführende Zünbleitung in Brand zu ſtecken. Die oben offene Tonne, oder das Faſton, 
muß mit einem abſtehenden Schugvache gegen den Regen verjehen werben. Die An 
fertigung und Verbindung der leicht feuerfangenden Theile, erfordert technifche Kennt⸗ 
nifie, für welche jedes technifche Kriegäbuch die genauen Vorfchriften giebt, wenn man 
nicht im Augenblide des Gebrauches ſich dem Miplingen ausfegen will. Cine Leiter 
ift in den meiften Fällen eben fo nothwendig, als die Stange felbfl, um bei einem Miß⸗ 
rathen der Zündung fofort nachhelfen zu können. In einzelnen Fällen genügt audı 
eine Leuchtkugel, welche an der Stangenfpite befefligt wird. 

b) Allarmbäufer Moöglichſt große und fefle, allenfalld einer Vertheidigung 
günftige Häufer, in welchen bei unmittelbarer Nähe des Feindes eine möglichſt große 
Zahl von Soldaten untergebracht werden fann, um für einen Alarm gleich in genü- 
gender Zahl beifammen zu fein. Da man gern wenigftens eine Compagnie auf Diele 
Art zur augenblidlichen Dispofttion bat, fo wählt man auf dem Lande Schlöffer, 
Kirchen, große Wirthfchaftögebäude, in aufrührerifchen Städten: Yabrifen, Schule, 
Magazine. Nur die Hälfte der Mannfchaft in einem Allarmhauſe darf die Waffen ab- 
legen und ruhen oder effen. Je nady Lage der Dinge wirb der Commandirende fid 
zu überzeugen haben, von wo ihm Gefahr broben, durch welche Vorrichtungen er fid 
in dem Allarmhaufe vertheidigen, wie er fich mit möglichfl geringem Verlufte im legten 


Augenblide zurücdziehen kann und wie ed mit Lebensmitteln und Waſſer befchaffen if! , 


In einer aufrührerifchen Stadt dienen Allarmbäujer auch dazu, die Anmefenheit und 
Bereitfchaft der Truppen den Einwohnern zu verbergen, bis ein Einfchreiten nothwendig 
wird. Die Sorge für die Communication mit den Relais, Hinterhäufern, ift in Diefe 
Beziehung von Wichtigfeit. Daß fie nur dann befegt werden, wenn Kafernen und Wohr- 
gebäude nicht mehr ausreichen, oder ed: darauf ankommt in einer beflimmten Gegend der 
Stadt eine Truppe in Bereitfchaft zu haben, wird von andermeiten Intereffen geboten. 

c) AllarmsDBatterieen werden bei lagernden und cantonnirenden Truppen 
den Bortruppen beigegeben, um dieſe bei einem plöglichen Angriffe ded Feindes mit 
Artillerie unterflügen zu können, die einem überfallenden Yeinde fletd am meiften impo⸗ 
nirt und ihn vorfichtig macht. Selbft auf8 Gerathewohl abgefeuerte Schüfle find oft 
von befter Wirkung für die Vertheidigung. Die Gefchüge bleiben befpannt, oder die 
Pferde doch jedenfalls angefhirrt. Das Abfüttern erfolgt nur abtheilungsweife. Fort 
währende Aufmerkſamkeit auf eine Allarmirung bei den Vorpoften, ift die Hauptaufgabe 
einer Allarm- Batterie. Einen Schuß darf fie indeflen nicht eher abgeben, biß der Com⸗ 


manbeur fich überzeugt, daß der Ueberfall oder der Angriff ernftlich gemeint it, um 


die lagernden und cantonnirenden Truppen nicht unnoͤthig zu allarmiren. 
d) Allarm»- Ranone Ein oder befler mehrere Gefchübe, welche durch eine 


voraus bekannt gemachte Zahl von Schüffen für ausgedehnte Truppen-⸗Stellungen, 











IT TTFRTTWETTY ee -. u Dun gr. ben nn DEUTET Or’ T -»ww—.n.. 


leicht anderd gedeutet werden. Daher iſt dic Zahl und noch mehr die Paı 
Denen mehrere Schüffe aufeinander folgen, maßgebend. In frähern Zeiten wı 


- Feftungen und Garnifonen, bei dent Bekanntwerden der Flucht eined Gefangen 


Deferteurd, Allarmfchüffe abgefenert. Die Allarm- Kanonen werden am beften 
Augenblick des Gebrauches geladen, und muß die Bedienungs⸗Mannſchaft in t 
untergebracht fein. - 

e) Allarm-Pkatz. Im Freien der Plab vor der Front Derfelben, in 
zumächit die Kafernenhöfe, dann diejenigen größten Pläge, welche möglichft in I 
des Rayons liegen, in welchem beftimmte Truppentbeile untergebracht find. X 
tonnements und Marfchquartieren derjenige Terrain Abfchnitt, von wo Abweh! 
leiftung und Angriff fih am jchnellften entwickeln laffen. Bei Mürfchen we 
Truppen möglihft von denjenigen Pla in die Quartiere entlaflen, der im 
zum Allarmplatz beilimmt worden ift, weil fie jo am beften den Weg zu d 
tennen lernen. In jedem Quartierorte werden wieder Sammelpläge bezeichnet 
fich beim Allarm die Mannfchaften zunächft aus den Quartieren zu begeben ha 
von dort auf ben Allarmplag geführt zu werden. Kür Artillerie ift jedesmal 
auch der Allarm⸗Platz. Bei Corps und Armeen find die Sammelpläge der ( 
ordnung für Vertheidigung oder Angriff gemäß zu wählen (Rendez vous). Yı 
Armeen ift es Sitte, daß bei jedem Feuerlärm die Truppen vollftändig feldm 
padt auf dem Allarm- Pag erfcheinen, in anderen nur dann, wenn dad Feue 
Nähe der Kaferne, oder in dem bequartirten Stadtviertel ausbricht. 

f. Ullarmiren, Allarmirung. Um das Gros des Feindes zu beu 
oder zu ermatten oder um durch einen Scheinangriff die Aufmerkfamkeit des 
von dem eigentlich entfcheidenden Punkt abzuziehen, wendet man Allarmirun 
leichten Truppen bei Nacht und mit Tagesanbruch, in Gebirgen, wo unbeme 
näberung möglich ift, auch bei Tage, an. Mit vielen Truppen unternommen, 
ſte diefe eben jo ermüden, wie den Feind, daher gefchehen fle, ohne allen ander 
als die Allarmirung felbft, mit wenigen, befonders dafür geeigneten Truppen. | 
Jäger, Hufaren, reitende Artillerie. Der Angreifer fammelt fi, nachdem Sc 
trouillen dad Terrain von Beobachtern gereinigt, meift zwei Stunden vor 
Allarmirung beflimmten Zeit, gevedt in der Nähe des anzugreifenden Punktet 
muß fo flarf fein, daß Gegenüberſtehendes jenenfall® auf den erften Anlauf 
wird. Kanonenſchüſſe find Hierbei für den moralifhen @indrud befonders 
Bei gutgefchulten Vortruppen und zwedmäßiger Verbindung mit dem Groß 
fich lagernde Truppen nicht leicht durch eine Allarmirung aus ihrer Ruhe 
laſſen. Doch ift zu große Sicherheit auch oft gefährlich geworden. Es ge 
Kennenlernen der gegenfeitigen Kriegö=-Eigenheiten dazu, um bei Allarmirun 
Richtige zu treffen. Der Allarmirende muß fehon beim Angriff fein Hauptaı 
auf den Rückzug und das gefahrlofe Abbrechen des Gefechted richten, weil 
leicht abgejchnitten werben kann. Bei dazu vorzugöweife befäbigten Truppe 
Kofaden, wirken die fortgefegten Allarmirungen in höchſtem Grade beprimirend 
allarmirten Truppen. Daß aus Ahlarmirungen und Mecognoscirungen entf 
Gefechte entftehen können, zeigte ſich in neuefter Zeit durch das Treffen bei © 
welches in feinen Beginn ganz den Charakter einer Allarmirung trug. 

Alava, eine der drei baskiſchen Provinzen Spaniens, zwifchen Bisca 
varra und Alteaftilien gelegen, Hauptſtadt Vittoria. Lange Zeit unabhäng 
einigte es fi 1200 mit der Krone von Gaftilien; doch unter der im Wei 
auch heut noch eingehaltenen Bedingung der Aufrechterhaltung feiner Privilegi 
fräftige und altfreie Volföftamm diefer und der angrenzenden Provinzen ba 
Gefchichte des Landes ſtets eine große Rolle gefpielt, und die Garliften far 
einen feften Anhalt. Die Provinz bat auf 51 Q.⸗M. ungefähr 100,000 Ein 

Alba, Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von. Der bedeutendſte Sta 
und Feldherr des 16. Jahrhunderts, deſſen Ruhm noch heller aus den Wirr 
Zeit hervorgegangen wäre, wenn kalt berechnete und von ihm für daß einzig 

zur Unterdrückung eines Aufftandes gehaltene Strenge und Graufamfeit jein ' 





fältig erzogen, weil fein Vater, Gracias De Toledo, ſchon früh in einer Schlacht gegen 
die Mauren gefallen war, und feine Mutter, Beatrir de PBimentel, ſich zu ſchwach gegen 
ihn bewied. Der junge Fernando zeigte große Abneigung gegen ernſte Stubien und 
namentlich gegen die alten Sprachen, dagegen Vorliebe für alle ritterlicden Uebungen, 
die ihn fchon früh ftärkten und abhärteten. Kaum 16 Iahre alt nahm ihn fein Groß⸗ 
vater mit zu der von ihm gegen Frankreich und Navarra commandirten Armee, wo et 
feine militärifchen Studien mit der Prarid begann. Bei ‘der Belagerung von Fuen⸗ 
terabia verdiente er fich unter dem Commando des Gonnetable von Gaftilien feinen 
erſten Sporn und führte ald Belohnung für die bewiefene Bravour fogar einige Zeit 
das Gouvesnement in diefer Feſtung. Schon durch feinen Charakter früh felbftfländig, 
wurde er e8 auch mit dem 19. Lebensjahre, 1527, Durch den Ton feined Großvaters. 
1528 heirathete er Maria Henriquez, Tochter ded Grafen Alba⸗d'Aliſte. Ob er der 
Schlacht bei Pavia beigewohnt, laffen die widerfprechenden Angaben feiner Biograpben 
ungewiß. 1531 ging er mit feinem Herrn, Raifer Garl V., nach Ungarn zur Bekaͤm⸗ 
pfung der Türken, ſchloß auf dieſem Zuge einen engen Freundſchaftsbund mit dem 
Grafen Nadaſty, den er fpäter feinen Lehrer in der Kriegskunſt nannte. Schon da 
mals zeichnete er fich neben feiner Tapferkeit auch durch kalte, vorfichtige Berechnung 
aus. Als er ſich unterfing, dem Kaifer zu rathen, er möge den fliehenden Türken lie 
ber" eine goldene Brüde bauen, als eine Schlacht wagen, wurde Carl V. ſo gegen ihn 
eingenommen, daß er ihn unfähig hielt, je ein Dber-Commando zu führen. Um fe 
hervorragender müſſen feine Berbienfte auf den Zügen des Kaljerd nah Tunis und 
Algier gegen Hairaddin Barbaroſſa gewefen fein, da er nach und nad) die hoͤchſten 
militärifchen Würden erftieg. Auf dem Zuge nach Tunis begleitete ihn bereits fein 
ältefter Sohn Federigo. Als in dem Kriege gegen Kranz I. von Frankreich, Kaiſer 
Garl Marfeille belagern wollte, widerrieth Alba diefe Unternehmung, weil er die Stärke 
des Platzes kannte, und fehlug dagegen Lyon vor, deſſen ſchwache Vertheivigungsmittel 
und günftige Lage in der Mitte Frankreichs eine leichte Entfcheidung herbeiführen mußte. 
Sein Rath wurde verworfen, Marfeille belagert, aber nicht bezwungen, fo daß der Kal 
fer die ganze Unternehmung aufgeben mußte, von nun an aber dem Herzoge von Alba 
einen faft unumjchränften Einfluß in feinem Mathe geftattete. ine fechömonatlide 
Vertheidigung der Feſtung Perpignan, 1542, gegen weit überlegene feindliche Streit: 
fräfte ftellten feinen militärifchen Ruf feft, und als ein erprobter Heerführer und Kriege 
rath folgte er nun dem Kaifer auf allen feinen Zügen. Nur als Carl nach Deutid- 
land ging, mußte Alba in Spanien zurücbleiben, um da3 Land gegen einen möglichen 
Angriff der Franzoſen zu ſchützen. Der Thronerbe Philipp I. wurde zu gleicher Zeit 
der Leitung Alba's anvertraut. Den Zug des Kaiferd nach Algier follte er mitmachen, 
fand aber bei der Einfchiffung jo fehlechte Disciplin in dem, meift aus jungen Ebel 
feuten beſtehenden Theile des Heeres, welchen er commanpiren follte, daß er zurüde 
blieb, um die Disciplin erft wieder herzuſtellen. Carl V. war frob, als er Schiffbrud 
gelitten und Dadurch die Erpedition aufgegeben hatte, noch einen imtacten Heertheil in 
Spanien wiederzufinden. Kurze Zeit nachher verheirathete Alba feinen älteften Sohn Federigo 
de Toledo Graf von Coria mit Hieronyna von Aragonien, Tochter ded Herzogs von 
Cordova. Als die Ereigniffe in Deutfchland fich Gefahr drohend für den Kaifer ge 
ftalteten, wurde Alba dorthin berufen und mit der Würde eines oberften Befehlshabers 
der Kaiferliden Heere befeidet, welche den Schmalfaldifchen Bund befämpfen follten. 
Mehr ald Politiker wie als Krieger wußte er den Bund zu lodern, und bejegte mehrere 
fefte Plaͤtze durch fein bloßes Erfcheinen vor denfelben. In dem Herzoge von Würt⸗ 
temberg erkannte er eine Hauptſtütze des Schmalfalbifchen Bundes und beſchloß, 
Württemberg als abſchreckendes Beifpiel für das übrige Deutfchland zu züd> 
tigen. Mit Blut und euer überfchwenmte er das unglückliche Land und plün- 
derte es bis zur DVerarmung, und zwang jo den Herzog zur Unterwerfung. — 
Der Kaiſer wollte Alba zum Herzoge von Württemberg machen, was diefer aber aud- 
ſchlug. Nun wendete er ſich gegen Sachen und jtegte glänzend bei Mühlberg am 
24. April 1547; obgleich der Kaifer felbft den Oberbefehl führte, war der Math und 
die Thätigkeit Alba's Doch von entfcheidendem Einfluffe. Kurfürft Johann Friedrich 





urtheilt women wolle, Da cr wahrend einer ganzen politiſchen Taufbahn Dem 
fage folgte: Nur die Todten fehren nicht wieder! Die Katholilen verbreit 
Gerücht von allerlei Wunder, die während der Schlacht vorgefallen fein follten 
Anderm wäre die Sonne länger am Himmel ftehen geblieben, um den Helt 
der fpanifchen Truppen zuzuſehen. Als Alba bei feinem fpätern Aufenthalte i 
am Hofe Heinrich's II. gefragt wurde, ob das wahr fei? antwortete Alba: „: 
an jenem Tage To, viel nach dem zu fehen gehabt, was auf Erden vorging, 
mich nicht auch um das befümmern konnte, was am Himmel geſchah!“ 2 
warnte Alba davor, das Kurfürftenthum Sachen dem Herzoge Morig zu 
indem er Alles dad vorausfagte, was fpäter wirklich eintrat. Der Kaifer wı 
gegebened Wort halten, bereute aber fpäter bitter, Alba's Math nicht ge 
fein. Da durch Auflöfung des Schmalkalbifchen Bundes in Deutfchland vor t 
die Ruhe wieder bergeftellt war, fo ſchickte der Kaifer den Herzog na Spa 
ruf, von wo er den Thronerben Philipp duch Italien nach Deutſchland 
ſollte. Ein Handfchreiben des. Kaiferd befahl dem Sohne, wenn er in Ital 
Deutfchland; einen Fürften oder einflußreichen Mann zu feiner Tafel zöge, . 
auch den Herzog von Alba Dazu einzuladen. Alba wußte e8 aber einzuricht: 
er jedesmal abweſend war, wenn eine folche Einladung erfolgen Eonnte, 
kannte den flolzen Charakter feines Löniglichen Böglinge. Während dieſer R 
ein, was Alba vorausgefagt. hatte Morik von Sachfen erhob fich gegen den 
überflel ihn bei Inniprud und erzwang den Bertrag von Paffau, Der Kaife 
es gegen alle feine Generale aus, daß ihm dieſes Unglück nicht widerfahr: 
wenn Alba bei ihm geweien. Nachdem Alba den Thronerben bis Brüffel | 
fehrte ex allein nach Spanien auf feine Güter zurüd, da er ſich mit dem flolz 
lipp nicht verfländigen konnte. Mber nicht lange follte er der Ruhe genieße 
der Kaifer berief ihn nach den Niederlanden, um von dort aus den Krieg 
Brankreich zu beginnen. Abermald gegen den Rath Alba's wurde die Bel 
von Meg unternommen, die er zwar commanbirte, feine Beſorgniß aber beflät 
und die Belagerung aufheben. mußte. Während ver weiteren Kriege = Ereigni 
er in Brüffel am kaiſerlichen Hofe und begleitete dann Philipp nach England 
ner Vermaͤhlung mit der Königin Maria. Don dort ging er nach Mail 
Neapel, um dort die Faiferlichen Truppen zu commandiren. Seine Vollmad 
BicesKönig und Generaliffimus waren faſt unbefchränft.e Die Intriguen feines 
des Herzogs von Eboli, am Hofe Philipp’s, ver ihm dad nöthige Geld von 
worauf die deutfchen Truppen abfielen, veranlaßten einen unglüdlichen Feldzu 
Die im Mailändifchen vordringenden Franzoſen, den er indeſſen in dem folgend: 
wieber einzubringen gedachte, als der Waffenſtillftand zwifchen dem Kaifer‘, | 
und Frankreich und die Abbication Carl's V. — 1556 — dem Kriege ei 
machte. Alba begab fi) nadı Spanien, um dem jungen Könige Philipp 11. 
digen und erbielt von dieſem abermald da8 Commando in Italien, ald de 
Paul IM. fi mit dem König Heinrich I. von Frankreich gegen Spanien | 
Bon Neapel aus fiel Alba in den Kirchenftaat ein, nahm Agrania, Tivoli, £ 
dag man fih in Rom fchon mit Feſtungswerken gegen ihn umgab. Da fam t 
zöfliche Feldherr, Herzog von Guife, aus Piemont mit einem zahlreichen Heer 
einigte fich mit den Truppen des Papftes, nahm Oſtia und die andern Städt: 
und drängte Alba bis hinter die .neapolitanifchen Grenzen zurüd. Alba bielt 
eiſerner Hand: den Aufruhr nieder und benupte Streitigkeiten zwifchen Guife ı 
Caraffa's (Mepoten des Papfted) fo gut, daß er nach der Entfernung Guiſe's 
bis Rom vordrang und die Stadt eng blofirte. Alles war zum Sturm ber 
Alba plöglich Die Belagerung auſhob. Es ift nicht aufgeklärt worden, ob \ 
Befehl Philipp's II. gefchah oder ob Alba als ftrenger Katholif jelbft die Der 
tung fürdhtete. Sein Biograpb behauptet das Lebtere und fchreibt die En 
eined gewiflen Sieges feiner Frömmigkeit zu. Haft gleichzeitig entichieb die 
bei St. Quentin in den Niederlanden über dad Schidjal des Krieges. Fr— 
machte Friede und Philipp IL befahl, dem Papſt fein ganzes Land wieder z 
Wagener, Staats u, Geſellſch.⸗Lex. 1. 39 











va Necht, Auf ſeinen Gultern 
niren. Nachdem der Friede von 
ſandt, um fich dort per procura 
Er wurde bier mit der größten 
nur Rühmliches, oder doch, 
maͤnniſch Nothwendiged aufzuz 
derlanden beginnt der Schatte 
Grauſamkeiten feined Sohnes 
fen. 1567 erhielt er das @oı 
fähr 10,000 Wann, um den ‘ 
Abreife aus Madrid Hatte er c 
108, der ihm mit dem Dolche 
anwenden wollte. Nur mit ! 
den Infanten jo fräftig und | 
Nun rief Earlod, Alba habe 
Borgang und entließ Alba mi 
betraut, zog Alba von Genua 
und Zuremburg nach Brüflel, 
erſchien. Tauſende flohen vo 
aus den Händen der Herzogii 
Magiftraten verkündet hatte, f 
Grafen Horn und Egmont ve 
12 Blutrichtern nieder, die üb 
urtheil ausfprechen mußten, fü 
jhlüffe der Trientifchen Kirche 
er den zehnten Theil, von ei 
jedes Einzelnen den 100. The 
lung der jehr vermehrten Tru 
von dem Blute feiner Schlach 
von Harlem, daB er 2000 M 
die Niederlande na 6 Jahren 
Religiöfer und politifcher Sta: 
weiter und erklärt ſich nur au: 
und Widerfpruch, in weldher 
Beziehung, je deutlicher zeig: 
Prinzen von Dranien, jo wie 
nach der anderen, ſiegte entich 
die Eitadelle von Antwerpen | 
fäule dort errichten, die ihn ü 
wurde, ald Alba nah Spanie 
was bis dahin nur an Fürite 
und bei feinem Iriumph-Einz: 
dergemworfen, ließ er ſich die ı 
Ubgabe ded hunderten Theils 
auf’8 Neue an und die Eric 
Seeftüdte, aus denen die fpar 
Deflg nahm. So mußte Al 
Zütphen, Naarden, Harlem, ı 
und begann feine Blutgericht 
allgemeine Entrüftung über ‘ 
endlich, daß er auf diefem W 
Auguft 1573 wegen zunehm 
Auch in Madrid hatte man | 
fhaffen würde, und fo legte | 
fammlung die Statthalterjchaf 





YO OIWYFOMERD, JEUWENEEIRLE AUG DUEUUD IE. WLIUEL UN DIE AERDTUE SYUSUDL, 
Schweiter des Herzogd von Marlborough. Der frangöflfche Marfchall Herzog von 
Berwid, des Königs Jacob U. Sohn, erhielt Diefen berühmten Grandentitel für die Siege, 
die er auf der Halbinfel im fpanifchen Erbfolgefriege für König Philipp V. Bourben 
erfocht. Der gegenwärtige Träger des berzoglichen Titeld von Alba de Tormes if 
feit 1847 Don Santiago Luis Rafael Fitz⸗James, der zugleich auch «Herzog von Ber- 
wid, Liria, Montoro und Olivarez beißt, überdem noch act Marquis⸗ und ſechs 
Grafentitel hat. Seine Gemahlin ift eine Schweſter der jeßigen Kaiferin ber Franzo⸗ 
fen. Der Grafentitel von Alba batirt von 1439, der berzoglidhe von 1469. 

. Albaner Gebirg, fünöftlih von Rom, das Ziel fo vieler Erforſcher ver Ge 
schichte Der Erde, und nach der Meinung eined der ausgezeichnetften unter ihnen, bad 
einzige Gebirg im Kirchenftaate, aus deſſen Mitte fich ein ausgebildeter, nach feinem 
Hervortauchen aus dem Schooß der Meereöflutben noch tbätig geweſener, Feuerberg 
erhebt. In der Mitte des vollkommen Freisförmigen Gebirge fteigt aus einer ringfär- 
migen Umwallung der eigentliche Ausbruchöfegel empor, eine ausgedehnte Fraterartige 
Vertiefung umfchliegend, Hannibald Felder genannt, und im Monto Cavo, dem Höhlen- 
Berge, eine Höhe von 2928 Fuß über dem Meere erreichend. In einer Lücke dieſes 
Kraterranded, aud weldyer ein erftarrter Kavaftrom, wie ein gefrorner Waflerfall furcht⸗ 
bar wild berabhängt, Flebt Rocca Di Bapa, der Papſt⸗Fels, die Krone der ganzen Um⸗ 
gegend. Jene ringförmige Ummwallung trägt auf ihrem obern Rande die Trümmer von 
Tusculum, Monte Compatri und Rocca Priora nach Norden, die Seen von Nemi und 
Albano nah Südweſt, an den äußeren Abhängen aber Monte Porzio, Frascati, Ma⸗ 
rino, Albano, Genzano und am meiften füdlich DBelletri, und beftehbt an ihrem Kamm 
aus Inder aufgefchütteten fcharfen Schladen und verwitterten Lavaflrömen. Die Alter 
unterfchieden den Mond Albanus und die Montes Tusculani und rechneten noch den 
Mons Algidus, in der Richtung von Paleſtrina und Beliträ, dem heutigen Velletri, 
als einen befondern Aft des Albaner Gebirge. - 

Zwei deutſche Meilen von der Weltitadt liegt das Städtchen Frasſscati, das 
Tibur der vergangenen Jahrhunderte mit feinen Landhaͤuſern oder Villen und Luft: 
gärten, die fich bier in einer Größe und Pracht häufen, wie vielleicht an feinem andern 
Orte Italiend. Frascati Liegt herrlich am unterften Abhange des Albaner Gebirge, 
und wie ed in der Landſchaft immer ald ein Glanzpunkt an den blauen Bergen a» 
foheint, fo überfieht man auch von feinen Villen, welche terrafienartig über einander 
auffteigen, immer daſſelbe Eöftliche Ganze: Die Campagna di Roma, das alte Latium, 
die ewige Stabt und dad Meer. Linter den zahlreichen Landhäufern alter und neuer 
römtfcher Gefchlechter, deren lieder bier den Sommer über in Fühler Luft verlieben, 
ift die unterfte, Die Villa Borghefe, fonft Alpobrandine, auch Belvedere genannt, bie 
- großartigfte und fchattigfte, überreih an. faftigen Grün, an prachtvollen Ausfichten, 
‘an kühlendem Waſſer. Nachſt ihr ift die Villa Rufinella die gefetertfie, namentlich 
wegen ihrer mannigfachen, theild großartigen, theild nedifchen Waflerkünfte und bes 
reizenden Durchblids auf Rom. Hat man die fehr fleile Straße erflommen und ben 
Treppen=Zidzad bei den Kapuzinern erftiegen, fo gelangt man durch eine bochgelegene 
Pilla, welche vor Jahren den Sardiniſchen Königöhaufe gehörte, an den Fuß be 
Bergkuppe, laͤngs deren fanften, mit Eleinen Bäumen und Gefträuchen bewaldeten Ab» 
hange der Pfad empor führt zu den Nuinen Tusculum's. Zuerſt gelangt man an 
das alte Amphitheater, wo @icero BVorlefungen gehalten haben fol. Bon dem ganzen 
Bau ift aber nicht mehr zu fehen, nur die Vertiefung iſt noch vorhanden. Dann 
aber werden Die Ruinen mit jedem Schritt häufiger, Grabmale, Häufer, Sculptusen. 
Alles übertreffend aber ift das kleine Iheater, welches man wegen feiner ungemeinen 
BZierlichkeit anfangs für eine neuere Nachahmung aus Spielerei zu halten geneigt fein 
kann, theild weil darin allerlei hier gefundene Bildwerke zufammen geftellt find, und 
eine moderne Infchrift im Hintergeunde bemerkbar wird, theild weil Alles in der That 
wunderbar erhalten und von fehr frifchen Anſehen iſt. Unmittelbar dahinter, auf ber 
äußerften Spige des Berges, welcher bier fcharf abfällt, iſt der Platz der alten Burg, 
Arx, die wohl ſtark genug gewefen fein mag, und wo man einer unbefchreiblidy ſchoͤnen 
Ausficht auf den unmittelbar gegenüberliegenden Monte Cavo mit dem Papflfeld an ber 


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— VM— ger her Ben — L 427 DA dee Auto Lidad / DA,2 ar ee | VIYU BUY WE ITEM 
ner Gebirge genießt. . Ä 

Auf dem Rückwege tritt man in die gemölbten, gut erhaltenen Hallen, welche 
man die Billa des Cicero nennt. Einen fohönern Platz, als bier am fühlichften Ab- 
bange hätte Eicero freilich nicht für fein Tusculanum auswählen Fönnen; allein der 
fchmeichelbaften Benennung liegt nicht einmal eine Vermuthung zum Grunde. 

Nach dreiſtündigem Marfch von Frascati aus tritt man auß einem frifchen Wald 
an die herrlichen Ufer des See's von Nemi, von den Alten Lacus Aricius oder 
Nemorenfis, bei ihren Dichtern auch Speculum Dianä genannt. Diefer fill romanti- 
fee See, ganz von Wald umgeben, bildet mit dem freundlichen Städtchen Nemi auf 
der einen Seite ein eben fo liebliches Bild, ald Genzano auf der andern Seite 
Der See liegt, von Bergen und Wäldern ringd umgeben, in einem fo tiefen Grunde, 
daß die Oberfläche deffelben niemals. von dem geringfien Winde bewegt wird. Diefes 
und die Klarheit feines - Waflerd mag ihm die Benennung des Spiegeld der Diana 


. zugezogen haben. Das Städtchen Genzano ift von Nemi aus bald erreicht, — beide 


Drte gehören der Familie Gefarini, — und von ihm führt ein fchattiger Weg unter 
Hohen Kaftanienbäumen in einer Stunde über Ariccia, Bleden, Schloß und Fürften- 
thum, Prineipato des Haufe Capua, nah Albano. (©. d. Art.) 

-  Abani, Zürften. Die Albani find eine fogenannte Cardinalsfamilie, der Ruhm, 
den fie gewonnen, die Ehren,’ die fie erlangt, flammen alle von der Kirche. Ihre Her- 
kunft ift dunkel, fie follen aus Albanien nach Rom gefommen fein und daher den Na- 
men haben, was wahrjcheinlich, aber nicht bewieſen iſt. Der erfte Kirchenfürft diefes 
Namens, Johann Hieronymus A., war ein Bergamadfe und venetianifcher Po⸗ 
defta zu Bergamo, wo er 1504 geboren war. Er führte den Grafentitel und foll ein 
ftattlicher Kriegsheld im Dienfte der Republik Venedig gewefen fein. In hohem Alter 
ſchon wurde er noch geiftlich, Fam 1566 nach Rom und erlangte 1570 die Cardinal⸗ 
priefterfchaft. Er ift auch Schriftfteller gewefen, unter andern hat er über Firchliche 
Immunitäten und Aſyle gefchrieben, er ftarb 1591. Seitdem findet man die U. in anfehn- 
lichen Aemtern zu Rom, doc ift nicht feftgeftellt, ob directe Nachkommen von dieſem 
Carbinal oder etwa von feinen Brüdern. Johann Franz A., geb. 1649 zu Urbino, 
mwurde 1690 Cardinal der Kirche und 1700 zum Papſt ermählt, er verwaltete als Cle⸗ 
mens Xl. dad Pontificat bis zu feinem Tode 1721. Man Fann nicht fagen, daß feine 


- Megierung eine befonbers glänzende für Die Kirche oder für den Kirchenftant geweſen 


fei. Dagegen flammt von feinem Bruder Horaz U. eine Reihe unbeftreitbar höchft 


. bedeutender Männer. Hannibal A., geb. 15. Auguft 1682 zu Urbino, ging 1709 


als Gefandter feines - Oheims Clemens XI. nach Wien und brachte die Ausföhnung 
zwifchen Raifer und Papft zu Stande, feitvem war er in hohem Anfehen zu Wien, 
vermittelte auch den Frieden ziwifchen dem Kaifer und der Repüblik Venedig und erhielt 
Hang und Titel eined Meichöfürften, 1719 war er Cardinal Camerlengo. Nachdem er 
oft mit der obern Leitung der Regierungdgefchäfte betraut gewefen, zog er ſich 1747 - 
auf fein Bisthum Urbino zurüd, um ganz den Wiffenfchaften zu leben, um die er ſich 
Durch prächtige Sammllungen und gelehrte Arbeiten aller Art hochverdient gemacht hat, 
er ftarb am 21. September 1751. Politiſch noch bedeutender ift Hannibals jüngerer 
Bruder Alerander A., geb. 19. October 1692 zu Urbino, auch er begann feine 
Zaufbahn glänzend al Nuntius 4720 in Wien, 1721 wurde er Garbinal. Maria 
Thereſta ernannte Ihn zu ihrem Bevollmächtigten in Rom, auch war er Protector der 
polnifchen Nation. Mächtig wirkte er Jahre lang als Beſchützer des Jeſuiten⸗Ordens, 
eifrig nahm er fich auch der legten im Eril verfommenden Stuart? an. Einen großen 
Namen aber hat er ſich ald feiner Kunftfenner, Sammler und Befchüger der Kunft 
gemacht. Unſer altmärfifcher Landsmann Winkelmann, den er zur römifchen Kirche 
bekehrt hatte, war fein Freund, der Garbinal U. war Winkelmann's Erbe. Bezeichnend 
für ihn ift auch, daß er den Titel eines Bibliothefard der römifchen Kirche führte. Er 
ftarb, um Kunſt und Wilfenfchaft hoch verdient, am 11. December 1779. Carl A—., 
der Bruber der beiden Iehtgenannten Cardinale, geb. 1687 zu Urbino, blieb weltlichen 
Standes und erfaufte 1715 das Herzogthum Soriano. Papft Innocenz XI. erhob 
ihn 1721 zum römischen Fürſten und ernannte ihn zum principe assistente al soglio, 


t 





zu Rom, Biſchof von Oſtia und Velletri, ein höchft geiftvoller, einnehmender, frommer 
und gelebrter Herr von größefter Popularität. 1747 empfing er den Purpur des 
Cardinals und bielt feft an der traditionellen Politik feiner Familie, die ihn ſowohl zu 
einem Freunde des Eaiferlichen Haufes ald auch des JeſuitenOrdens machte. Er war 
auch feit 1751 Protector der Polen und der Nepublif Raguſa. Mächtig befämpfte er 
bis zu feinem letzten Hauch den franzöflfchen Einfluß. Er flarb im September 1803. 
Sein Bruder Franz Horaz A., Herzog von GSoriano, geb. 21. September 1717, 
feßte das Geſchlecht fort und zeugte mit Maria Anna Mathilde, des legten Herzogs 
Alderani Eibo von Maſſa und Carrara Tochter, vier Söhne und mehrere Töchter. Er 
ftarb am 30. Juli 1792. Bon den Söhnen überlebten ihn drei: Fürft Jofepb Ele- 
mens Franz Andreas A., geb. 13. September 1750, ein großer Kenner und Lieb⸗ 
baber der Muſik, wie alle U. ein treuer Anhänger des öftreichifchen Haufe und Feind 
der Franzoſen. Er wurde am 23. Februar 1801 Cardinal und war biß zur franze- 
fifehen Invafion Vorſtand der Regierung im Departement des Innern. Gr zog ſich vor 
den Franzoſen nach Wien zurück, wo er in der Stille lebte und viel Gutes that. Unter 
Leo All. war er Legat in Bologna, 1829 Cardinal⸗Staatsſecretär, 1831 apoſtoliſcher 
Commiffär in Bologna, Ferrara, Ravenna und Forli, 1832 Legat in Pefaro und Ur⸗ 
bino. Er ftarb zu Pefaro am 3. December 1834. Sein älterer Bruder Fürſt Carl 
Franz Zaveriud U., geb. 25. Sept. 1749, kaiſerl. öfterr. wirklicher Geheimerath 
und Oberfihofmeifter des Erzherzogs Franz von Oeſterreich, ftarb am 19. März 1811 
und hinterließ aus feiner Ehe mit einer Gräfin Caſati nur zwei Töchter. Der, jüngfe 
Bruder, Fürft Philipp Jacob Franz de Paula, geb. 20. Juli 1766, ſtarb 1852 
unvermaͤhlt, mit ihm iſt das Haus Albani im Mannesſtamme erloſchen. Die Güter 
famen theild an die mailänvifchen Grafen Gaftelbarco, theild an den Fürften Auguſtin 
Ehigi, den Enkel der Fürftin Giulia Albani, deſſen Nachkommenſchaft darum auch den 
Fürſtentitel von Chigi⸗Albani führt. 

Albanien, Theil der europäifchen Türkei, wenn auch keine genau zu beſtimmende 
politische Provinz derfelben, vielmehr im Ganzen mit den Ejalets (Statthalterfchaften) 
Bitolia und Janina zuſammenfallend, erhielt ſeinen Namen nach ſeinen Einwohnern, 
den Albaneſen oder Arnauten, einem kriegeriſchen und rauhen Volke, das feine Un— 
abhaͤngigkeit der Sache nach in den meiſten Faͤllen vor den Türfen zu behaupten ge 
wußt bat. Die Türkei findet bei dem Mangel eines durchgreifenden Waſſerſyſtems ihre 
natürliche Eintheilung durch ihre großen Gebirgäfyfteme, welhe vom Kara⸗Dagh, 
dem höchften Punkte der ganzen Halbinfel, viefelbe in drei Theile, in das Haͤmus⸗ 
land, das nordweſtliche Gebirgsland und den Süden, das Pindusland zerlegen. Der 
Süden theilt ſich zwiſchen der Türkei und Griechenland, und die erftere Hälfte wird 
allgemein mit dem Namen Albanien bezeichnet. Diejer „vierte Hauptbeflandtheil der 
Türkei”, wie ein neuerer Geograph mit Hintanfeßung der politifchen Geographie umd 
in gerechter Berücfichtigung der politifchen Hinfälligkeit aller Anordnungen und Ein- 
richtungen der türfifchen Regierung Albanien nennt (Reufchle, „Banbbuch der Geo- 
grapbie”, 8. Heft, Stuttgart, 1858), umfaßt außerdem, was gemeinhin Albanien 
beißt, d. 5. dem weftlichen Theil, im Alterthum Illyrien (Illyris Graeca, propria) und 
Epirus, den weftlichflen Theil des alten Macedoniens und das alte Theflalien. Es iR 
im Ganzen ein wildes Gebirgsland, durchbrochen von Seen, kurzen, Eräftigen, regel- 
Iofen Waflerläufen und fleil abfallenden ungaftlichen Klippen am Meere, in welches 
die Alten den Eingang zur Unterwelt und heilige Waldorakel verlegten. Hauptflüfle 
find der Drin, entftehend aus dem Abfluffe des Ochridafeed, dem ſchwarzen Dein, wel⸗ 
chem der weiße Drin direct entgegenfließt, um dann mit ihm in einem durch fchroffe® 
Gebirg weſtwaͤrts heraudbrechenden Strome weiter zu fließen; ferner die Moraticha, 
nach Durchfließung des Skadar⸗Sees Bojana genannt, der Schfumbt, der Semani, die 
Wojuza, Frai (der Acheron der Alten mit feinem Nebenfluß Cocyhtus), Arta, Afpre- 
potamo. Bewohnt wird dieſes meift unwirthliche Bergland, das allerdings der Cultur 
in feinen Thalgründen, befonderd in den nach Süden geöffneten, durchaus nicht ent= 
gegen wäre und ſchon jebt reichlich jede Anſtrengung lohnt, von den Albanefen 
(europäifcher Nanıe) oder Arnauten (türfifch) oder Sfipataren (wie fie fi ſelbſt 














griechifche, beſonders dorifche Goloniften angeſtedelt hatten, vermifcht mit bulga 
‚ Elementen '); einzelne ibrer Stämme, 3. B. die an den Grenzen Wontenegro': 
factifch unabhängig. Unter Philipp II. macedonifh geworden, kamen fte mit 
Königreiih unter römifche, dann byzantiniſche Herrfchaft, und im Mittelalter felb 
dig und" Ehriften geworden, fielen fle nach dem Tode ihres legten Fürften Stan 
der türfifchen Herrfchaft anheim und traten vielfach zum Muhamedanismus über 
blieb ein andrer Theil, im Norden wohnhaft, bis heute der griechifchen Kirch 
ein dritter, nicht unanfehnlicher Theil in Albaniens Mitte ift katholiſch. Man 
Die beiden Gjalete, welchen U. im weiteren Sinne ungefähr entfpricht, auf 1661 : 
mit 2,337,000 Einw., davon etwa ein Drittel Muhamedaner. Das -Ejalet 9 
oder Monaftir oder Rumili im engern Sinne (Nordalbanien) bat davon 891 £ 
1,409,000 € und 647,000 Moslem, dad Ejalet Dania (Janina) 770 O 
928,000 €. und davon 253,000 Moslem. Der Zug wilder Unakhängigfeit, 
Diefem tapfern und Frieggeübten Volksſtamme lebt, wird, wenn die Zeiten der 
Kriſis für die Türkei berbeilommen, diefem Theile der Halbinjel eine befonders w 
Stellung fihern. Ein Sohn dieſer Berge, Ali-⸗-Paſcha (1788— 1822) gab in 
kühnen Berfuche, ein eigned Königreich in feiner Heimath zu gründen, vielleicht 
eine Andeutung der Zukunft. Bafcha eines Iheiled von Theflalien, bemächtigte 
des Paſchaliks von Janina mit Gewalt, und nachdem der ſchwache Sultan ihn 
in feinem Befige beftätigt hatte, riß er aud ganz Albanien an fi, dazu das 
eigentliche Griechenland, und rief endlih die Griechen zu den Waffen, indem er 
Die Unabhängigkeit und ein neued Reich verſprach. (S. Ali⸗Paſcha.) Auch na 
ner Befeitigung blieb den Albanefen ihre Neigung zur Unabhängigkeit, und m 
merkte von türfifcher Herrfchaft bei ihnen wenig. Der Einführung des Tan 
(der Reformen, welche auf eine Gleichftellung der Chriften und Türken abzielten, 
feßten fie fich energifch, und Omer Paſcha mußte deshalb 1843 und 1844 ge, 
in's Geld rüden. (Der nominelle Oberbefehlshaber war Reſchid Mehemed P 
Die GEhriften hatten von den mohamedanifchen A. während dieſes Aufftandes 1 
leiden, deſſen Anftifter übrigens auf die Galeeren wanderten. 

j In Nord» Albanien (Süd⸗Illyrien) finden fich alte Stätten der Cultur 
Küſte; von dorifchen Colonieen blieben größere. oder Kleinere Mefte von B 
Olcinium, Liffus, Epidanınus, Apollonia, Aulon erhalten. Die Hauptftabt 
Landes, des heutigen Ejaletd von Bitolia, ift Toli« Monaftir, mit 33=- bis 4 
Einwohnern; Schkodra, am See gleichen. Namens, hatte ald feſte und glängent 
fidenz des mächtigen Paſcha Muftapha 40,000 E., und iſt jetzt, nach Zerftöru 
Valaſtes, der Eitadelle und der Wälle 1831, wohl auf die Hälfte befchränttz & 
2000 E., an der Mündung des Fluffes Bojana, früher ein gefürchteter Corſa 
Bar, au Antivari, Tivari, 6000 E., Si des fathol. Erzbiſchofs; Lech, ı 
Mündung des Drin, 3000 €., mit Standerbeg’8 Grab; Kroja, 6000 €., 
Skanderbeg's Reſtdenz, Sig der Fathol. Mibriten, deren Feſtungswerke 1831 vı 
Türken geichleift find; Dratſch (Durazzo, Dyrrhachium), an der Küfte, 5000 € 
Ueberfahrts⸗Ort der Roͤmer, blühende Handelsſtadt. 

Im Süden Albaniens, dem Ejalete Janina (Dania): die gleichnamige Stad 
Dem alten Orakel⸗Ort Dodona, war von Ali Pafcha zu einer der blühendſten Stä 
Türkei mit 40,000 €., europäifchen Bildungdanftalten se. erhoben, verödete abe 
feinem Sturze raſch; Berat, mit 11,000 E.; Avlona 5000 E., in der Nähe Ei 
Duellen, welche ſchon Venedig flarf benutzte. Berner werben in dieſer Gegent 
alten Epirus, noch genannt: Tepelen, Dukades, der Sig eines befonderen Alb: 
ſtammes, Chimara, Sig der räuberifchen, halb unabhängigen Chimarioten, Bi 
und Parga, ehemals veneianifch, Handelöflädte, Suli, befannt durch die Ta! 
feiner Bewohner während der Revolution; Brevefa, 8000 €, am Eingang des 


) Ihre Abkunft muß als dunkel gelten, da fie weder, wie bie Walachen cine 
nische, noch eine dem Griechiſchen näher verwandte Sprache fprehen. Sie gelten wohl a 
re Stamm und allerdings erhalten fie fi auch in der Zerſtreuung anf allen Theilen be 
intel, jelbR auf den Infeln in ihrer Eigenart. > , 





biubende Handelsſtadt; endlich Liegen, zu dieſem Ejalet gehorig, im alten Theſſauen 
die beiden Städte Lariſſa (Jeniſchehr bei den Türken), mit 20,000 E., berühmten 
Rothfärbereien ꝛc.; Trikala, nit 12,000 €.; Pherfala (Bharfalus), 8000 E.; Turnavo 
und Ambelafia, mit Zeugfabrifen._ Außerdem die Nuinen vieler uralter Städte. 

Albano, ein wohlgebautes Städtchen mit etwa 5000 Einwohnern, dad aber 
nicht, wie längft nachgewiefen und dennoch wiederholt angenommen wird, das alte 
Alba Longa, die Mutterfiant Rom's, if. Died Tag vielmehr am gegenüber 
liegenden norböftlihen Rande des Albaner See's auf einem langen Felſenkamme 
zwifhen dem See und dem Mond Albanus, Monte Cavo, ungefähr da, wo 
jest das Klofter Palazuolo ſteht. Albano verdankt feinen Urfprung den Villen des 
Clodius und Pompejus und hat aus diefer Zeit noch manche Merkwürdigkeiten auf⸗ 
bewahrt, u. A. Reſte einer Waflerleitung, eined Ampbitheaterd und der Toloffalen 
Bauten Domitian’d. Die fchönften Baudenkmale find jedoch zwei Grabmonumente vor 
dem Thore nah Rom, das herrlich aus Quadern aufgeführte |. g. Grabmal des As⸗ 
canius, Gründerd von Alba Longa, und vor dem nad) Genzano führenden Thore das 
der Horatier und Guriatier, eine ehrwürdige Ruine. Beiden Bezeichnungen liegen, wie 
das bei fo_vielen Ueberbleibfeln des Alterthums in Italien der Fall ift, durchaus Feine 
biftorifchen Thatjachen zum Grunde; vielmehr ift nichts gewiſſer, als daß die Denk- 
male das nicht find, wofür der prablerifche Roͤmer fie audgiebt. 

daft noch mehr ald dieſe Alterthümer zieht eine Naturfchönheit nah Albans, 
der %, Stunden entfernte gleichnamige See, auch Lago di Eaftello genannt, Lacus 
Albanus der Alten. Der Weg dahin führt über Caſtel Gandolfo, unter uralten im⸗ 
mergrünen Eichen und bochflämmigen Ulmen bin und ift unbefchreiblich romantifch und 
fühl.» Sobald man die Höhe des Orts hinter der Kirche erftiegen hat, erblickt mas 
den Fleinen runden See tief unter ſich in einem Keffel, der ganz das Anſehen eines 
vulkaniſchen Bechers, Kraterd, bat, aber Fein folcher gemefen ift, ebenfo wenig wie er 
ganz ähnliche See von Nemi. Zwar wurde Died bis auf die neuere Zeit behauptet, 
und ift auch noch jeßt die gewöhnliche Anficht, wenigftend unter den Laien; allein ber 
geiftvolle, zu früh gefchiedene Geolog, Friedrich Hoffmann von Berlin, bat zuerft fi 
entfchieden dagegen erklärt, und der Mangel an Laven und Auswürflingen läßt aud 
wohl gar feinen Zweifel.über die Natur dieſer Eefjelfürmigen Vertiefungen zu, daß 
ſie nämlich feine gewefenen Krater, fondern bloße Einftürze find. 

Wie Die Via Tusculana nach Frascati führt, fo die Via Appia, die zum Theil 
noch ihr Pflafter hat, und zwar in einem bewunderungswürdig guten Zuftande,, von 
Albany nah dem 3 Meilen entfernten Rom zurüd. Zuerſt find e8 in der Campagna 
die ungeheuren Aquäducte, welche den Blick feſſeln und die gerade bier in größter. 
Maſſe und Vollkommenheit fteben. Albano gehörte ehedem der Familie Savelli unter 
dem Titel eines Herzogthums, Ducato; Papft Clemens VII. aber kaufte die Stadt 
1697 an fih. Das hiefige Bisthum fteht unmittelbar unter dem römischen Stuble, 
ebenfo dad Bisthun zu Brascati, und beide werben von GarbinalsBifchöfen verwaltet. 

Albany (Luiſe Marie Caroline, auch Aloyfla, Gräfin von), Tochter des Prinzen 
Guſtav Adolf von StolbergeGedern, Gemahlin Carl Eduard's, des Enkels Jacob's IL, 
befannt unter. dem Namen des Chevalierd von St. Georges und des Prätendenten; 
fo genannt nach dem ſchott. Earldom X. ihres Gemahls; geb. 1773, gef. 1824; f. 
Stolberg und Stuart. 

Albany (Afrika), einer ‘von den an ber Südoſtküſte des Kaplanded liegenden 
Diftrikten und von den Diftricten Uitenhage, Somerfet und Bictorta eingefchloflen, 
wird durch den Buſchmannsfluß (Bosjenans River) und den Großen Fiſchfluß bes 
grenzt, zwei Flüſſe, die, wie die zahlreichen anderen Gewäfler des Diftrictes, im Som- 
mer in faft trocdenen Betten fchleichen, um im Wihter in vollem Strome ihren Mün- 
Dungen zuzuellen. Der Konap-, Komd» und der Kap⸗htiver ergießen fich in den Gro⸗ 
Ben Fifchfluß, der Niewjaard-, Conga= und NazarsMiver in den Bufchmannsfluß, Der 
Niet-, Kouwie mit dem Blaauwe Krand-, dem Torrend-, Bathurft« und Mansfield⸗ 
River, der Kafouga und der Earrega mit dem Affegaay-» River in dad Mer. Bon 
Bergketten durchzogen, die nach allen Seiten bin Ausläufer ſenden, ift der Diſtrict 














am menigjien im December, Vo DZou, wahrend Die Regenhöhe Des Jahres nach Den 
vierzgehnjährigen Beobachtungen während der angegebenen Periode fih im Durchichnikt 
im Zollen auf 22,,05 belief. Diefe Regenhöhe wird etwas zu mobificiren fein, indem, 
wie allgemein befannt ift, die Bftlich gelegenen Diſtricte des Kaplandes weniger von 
Dürre zu leiden haben als die weftlichen und Daß fie mehr ober weniger den Kinflüffen 
der Monfune, die fich oft bis hierher geltend machen, unterworfen find. 

Die Einwohner ded Diftrictes, aud wenigen Kaffern, einigen Hottentotten, den 
zurüdgebliebenen Boeren (Goloniften holländifcher Abkunft) und den aus Europa feit 
Befigergreifung des Kaplandes Seitens der Engländer Eingewanderten beftehend , trei- 
ben vorzugsweife Viehzucht, infonderheit Schafzucht. Die mit den faftigften Gräfern 
. und Kräutern gefchmüdten Abhaͤnge, Schluchten und Plateaus liefern die herrlichfte 
Weide, und feit Einführung von guten Racenfchafen in dem Anfange der dreißiger 
Jahre d. 3. ift Die Wollproduction fowohl wie der Werth der ausgeführten Wolle 
in einem nicht einmal annähernden Berhältniffe geftiegen. Die Dchfen, die in Albany 
gezüchtet werden, Zuurveld-Ochſen genannt, zum linterfchtede des Viehes aus dem 
Grenzgebieten der Colonie und dem Lande jenſeits des Oranienfluffes, den holländi- 
[chen Breiflaaten, dad den Namen Zoetveld-Ochfen erhalten Hat, find als Zugvieh ſehr 
gefucht und. dem Süßfeldvieh vorzuziehen, da ed auf jeder Weide geveiht, währen» 
letzteres flirbt, wenn man e8 mehr ald einige Tage auf Sauerfeldboden, d. h. an der 
Küfte, wo das meifte Grad fauer ift, unterhält. Die Hauptfladt des Diftrictes und 
Sig des Lieutenant» Gouverneurd der Kapcolonie ift Grahamstown, die zweite Stabt 
der ganzen Golonie hinſichtlich der Größe und auch der Wichtigfeit; fte liegt am 
Kouwie und ift von mäßig hoben, meiſt fanft abfallenden Hügeln umgeben. Die 
Straßen find nach rechten Winkeln abgeftedt und viele Häufer, die fich jebt auf 800 
belaufen, würden jeder europäifchen Stadt zur Ehre gereichen; die 7000 Einwohner, 
meift Weiße, treiben einen bedeutenden Handel und haben zur Erleichterung deſſelben 
an der Mündung des Kouwie's den Port Francis, ‘einen Eleinen hübfchen Ort, an- 
gelegt. 7 Kirchen für eben fo viele Confeſſtonen, 6 Sönntagsfhulen, 2 Gewerbe 
ſchulen, 4 Miſſionsgeſellſchaften, die jährlih 4000 Pf. St. auf die Givilifation ber 
Kaffern, Fingos und Hottentotten verwenden, 1 Börfe, 1 Bank, Kaufballe, Bibliothek 
gebäude find fämmtlih Schöpfungen feit den Jahre 1820, wo bie große Einwande- 
rung aus England, auf die zurüdzulommen fich Gelegenheit finden wird, ſtattfand. 
Wie heimifch ſich europäifche Sitte in der faft gänzlichen Wildniß gemacht, beweiſt das 
zeitige Entftehen von Sparkafien, wohlthätigen Vereinen und zwei Zeitungen, von 
welchen zumal das  „Grabamdtown Journal" Durch tüchtige Redaction, Größe des 
Formats und Eleganz des Drudes irgend einer Zeitung in den Provinzen Alt- Eng« 
lands ſich Fühn zur Seite ftellen Tann. Unter den andern Anfteblungen find zu er⸗ 
wähnen: Bathurft, an dem Eleinen Fluße gleichen Namens und in, wie ſchon erwähnt, 
teizender Gegend, die Herrnhuter⸗Colonie Theopolis am Kafouga, King - Georgtomwa 
an einem Nebenarme des Kap⸗River und Salem und Waterforb unweit des Carrega. 
Die Hottentotten leben hauptſächlich in zwei Rocationen, nämlich in der Nähe von 
Grahamstown und in Theopolis, und nur wenige vereinzelt auf eigene Hand und als 
Tagelöhner. Der originelle Racentypus ift aber bei ihnen vermifcht, und bei Weitem 
die Meiften find WMulatten und Alle nah Sprache und Sitten coloniftet. Die wenigen 
Koffern, die innerhalb des Difirictes wohnen, ſtehen meiftend in Dienften der Colo⸗ 
niſten, find thätig und fparfam und zeichnen fich durch feltene. Tugend der Nüchteruheit 
aus. Theils fiedeln fich dieſe Leute nach Erringung eined kleinen Vermögens als 
mabhangige Landwirthe an, theils kehren fie in die Mitte ihres Stammes zurüd, we 
fie nur zu leicht wieder der Gefittung und der geringen Kenntniſſe verluflig gehen. 

Der Diſtrict Albany ift die frühere Landdroſtei Zuurveld (Sauerfeld), zur Zeit 
ald die Hollänner noch im Beſitz der Kapcolonie waren, und bat gerade am meiften 
von den Einfällen der Kaffern zu leiden gehabt. Es gab vor einigen Jahren no 
alte Boeren, die nicht weniger als ſechsmal aus ihrem Beſitzthum vertrieben wurden, 
und Haus und Hof durch die Einbrüche morbbrennerischer Amakofa verloren, mit denen 
fie zum erfien Mal in Berührung Famen, als man bie öftlichen Grenzen der Colonie 














gropen Zandbejiger Ihrer Arbeiter beraubie, jondern auch eine zahlreiche Klaſſe v 
Bagabunden jchuf, die auf ihre Koften lebten, und ein neuer Kaffernkrieg die Erbitte⸗ 
- rung der Boeren in Albany auf das Höchfte gefleigert hätten... Zahlreihde Schwärme 
verheerten. das Gebiet des Diftrictes, plünderten die Anſiedlung, trieben dad Vieh fort, 
mordeten nicht Wenige der Einwohner und zeigten überhaupt einen gefteigerten Haß 
gegen die Goloniften. Ganz Albany war ihnen preißgegeben und Grahamstown in 
höchften Grade bedroht. Nach Ankunft von Militär trieb der damalige Gouverneur, 
Sir Benjamin d'Urban, die Kaffern über den Fiſchfluß und weiter hinaus, legte An» 
ſtedlungen von Hottentoten und Fingos, einer Völferfchaft, die bei den Kaffern in ber 
drückendſten Knechtichaft gehalten worden war, an und verorbnete, zur Sicherflellung 
zunaͤchſt Albany's, daß der Strich zwiſchen dem Büffelfluß und dem großen Keiflug 
unbewohnt bleiben follte. Diejer wohlthätigen Maßregel wurde Seitend des damaligen 
Staatsferretärd der Colonieen die Zuftimmung verfagt: das den Kaffern abgenommene 
Gebiet follte unverzüglich diefen wieder zurüdgegeben werben.‘ Da erhob ſich ein Schrei 
ded Unmillend unter den Boeren, und nun begann, (1835) da8 Treffen, d. b. das 
Fortziehen der Holländer aus dem englifchen Kapgebicte, ein Ereigniß, das die Eolonie 
fo weit beruntergebracht und fie ihrer beften, thätigften und intelligenteften Bewohner 
beraubt bat. Ein Bürger Albany’s, Louis Triechard, war einer der Anführer der erw 
fien Züge, die nad) langen Leiden und Mühfeligkeiten, die beiden fchnell aufblühenden 
Staaten, die Dranienflußs und die Tansvaalſche Republik, gegründet haben. In den 
fpäteren Kriegen, durch die philantropifchen Verkehrtheiten der Nachfolger d'Urban's 
veranlaßt, hatte Albany indirect weniger zu leiden, nur daß fich immer mehr Holländer 
in Folge der bei ihnen einmal eingewurzelten und auch durch Thatſachen bewiefenen 
Anficht, feinen Schuß und Fein Recht bei dem englifchen Gouvernement zu finden, ihren 
ſchon ausgewanderten Landsleuten anfchlofjen und dadurch dem Diſtricte einen unerſetz⸗ 
baren Verluſt zufügten. 

” Albany (Amerika), der Sig ber Regierungsbehörden des Staates New⸗NPork, 
in der gleichnamigen County, am weſtlichen Ufer des Hudſon gelegen, iſt eine ſo feine 
Stadt, als man nur ſehen kann, und .in Kuppeln und Säulen ſcheinen feine Bewohnet 
ganz verliebt zu fein. Da ed fchon in früherer Zeit von den Holländern, und zwar 
im Jahre 1613. gegründet und jomit nad) Jamestown in Virginia, dad 1607 entftand, 
die ältefle Stadt der Bereinigten Staaten ift, fo zeigt es unter den vielen neu aufs 
wachjenden Städten des Staated New= Dort nächſt der Metropole der Union felbft 
einen gewiſſen gefchichtlichen Charakter. Urſprünglich eine Feſtung, Fort Oranje ges 
nannt, erhielt ſie fpäter den Namen Willemftad, ven fie bis zum Jahre 1664 beibehielt, 
wo die Golonte NeusNiederland, hei der Lage der hollänbifchsweftindifchen Compagnie 
den übrigend vollflommen gerechten Reclamationen der Engländer über das Befikredht 
des ganzen Küftengebieted vom 34. bis zum 45. Grad nördlicher Breite Feine bewaff⸗ 
neten Gründe entgegenfeßen Eonnte, der britifchen Herrſchaft zuftel. Ihren jegigen 
Namen erhielt die Stadt von Jacob IL, welchen, ald er noch Herzog von Vork und 
Albany war, fein Bruder Carl II, nad) dem Frieden von Weltminfter mit Long Island 
und den Lande am Hudſon belehnte. Im ihren Straßen und auf ihren Plägen herrfcht 
eine gewiffe vornehme Ruhe; hier findet der Staatdmann, Gelehrte und Künftler vor⸗ 
treffliche Muße zum Arbeiten und gebildete Geſellſchaft und Zöftliche Natur, um ſich zu 


ſchen. 

Dieſe Vornehmheit gilt aber bloß von den höher gelegenen Theilen Albany's, 
unten am Fluſſe und Erie⸗Canal herrſcht ein-Gemühl von Handel und Gewerbe. Die 
Stadt legt fich prächtig vor dem Hubfon und dad große Baſſin des Erie⸗Canals, Der 
nach einem Laufe von 79 deutfchen Meilen von Buffalo aus bier mündet. Auf diefem 
längften Canal der Bereinigten Staaten frömen alle Exgeugniffe herbei, welche aus 
den Feldern, Bergen und Waldungen des unendlich reichen Weſtens bervorgeholt werden. 
Der Hubjon bietet dafür die fehnelle Straße bid zum Meere, und auf diefer kommt 
noch Werthvolleres herauf aus den Werkflätten an beiden Seiten de Dceand. Albany 
nimmt zugleich die Eiſenbahn auf, welche vom Eriefee neben dem Canale herführt um» 
fih dann nach den Neu-Englandftaaten nach allen Richtungen bin verzweigt. 














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und 1855 auf 60, 000 Seelen, batte ſich alſo während. der Hofährigen Periode 
Jahr durdhfchnittiih um 25,45 Procent vermehrt. Die Stadt befteht aus einer H 
ftraße von beträchtlicher Ränge, die nebft anderen Straßen mit dem Fluß parallel 
Bon der Hauptftraße aus erhebt fich der Boden plöglich, fo daß der übrige The: 
Stadt an dem Abhange eined Hügeld liegt und von. dem an der andern Geit 
Fluſſes gelegenen Greenbufh und Bath einen ehr fchönen Anblick gewährt. Die F 
find aus Ziegels und Sandfteinen erbaut und die älteren Gebäude mit ihren fch 


- &iebeln nad der Straße hinaus — wie man ſie in New⸗-Nork zumellen auch 


findet — verkünden den holländifchen Urjprung beider Städte. Das Hauptge 
ift Das Bapitol, der VBerfammlungdort ded Senat? des Staates. Es fteht an der ( 
Der zwar abfchüfftgen, aber breiten und ſchönen Staatöflraße und enthält in ſ 
prachtvollen Innern reich gefchmückte und ausmöblirte Sale und die öffentliche Bibl 
(New-York State Library). Das Stadthaus ift vielleicht das fehönfte Gebäude, 
ſich Albany rühmen Tann; es erhebt fich auf demfelben Hügel mit dem Gapitol, if 
weißem Marmor und bat einen Dom, 'der ſchon in bedeutender Entfernung jichtb: 
Albany befigt außerdem 21 Kirchen und Bethäufer, 2 Arfenale, 1 Irrenbaud 
Farmers⸗ und Mechanichbant (Bank für Landwirthe und Handwerker), die Albany 
1 Theater, 1 Hofpital, ein neues Gefängniß umd zahlreiche Fabriken. Von n 
ſchaftlichen Anftalten find nennendwerth: das geologifhe Mufeum, das mebici 
Collegium, die Normalfchule für die Ausbildung von Lehrern, die Gefellfchaft der K 
Die Aderbaugefellfchaft und das Albany - Inftitut, welches ein reicher Menfchenfi 
van Nenfelaer, zur Beförderung der Wiffenfchaften und Künfte und zur Bildur 
jeder Art gegründet bat. Diefes Inftitut hat fehon mehrere Bände feiner 
fchriften herausgegeben. 
Außer diefem Albany giebt e8 in Nordamerika noch drei Orte, die diefen 9 
Haben und von‘ denen zwei in den Bereinigten Staaten liegen und einer in bem 
ritorium bed imperii in imperio des britifchen Amerika's, nämlich in der am 2. 
1670 von Earl 11. zur außsjchließlichen Betreibung des Erporthandels in allen ni 
und weſtlich von Canada gelegenen Rändern privilegirten „company of adver 
trading in Hudsonsbay*, welche nach langen, gegenfeitig gelieferten blutigen Käl 
fich vereinigte unter dem Namen der „HubfonbaisBelz-Compagnie*, mit der Nor! 
Eompagnie, 1783 zu Montreal geftiftet behuſs Ausbeutung der damals unbelaı 
längs des Stillen Meeres fich erflvedenden und in jenem älteren Gnadenbriefe nic 
begriffenen Negionen. Don den beiden Orten in dem Uniondgebiete liegt der ei 
Georgia in der County Baker und zwar am Flint, einem Nebenarme des Chattoh 
Der andere am Willamette in dem 1858 ald Staat in den Bund aufgenomi 
Dregon. Der erfte Ort bildet den Endpunkt der Dampfichifffahrt auf dem lin 
andere ift darum wichtig, Daß er mit den fibrigen an dem reizenden Willamett 
feinen Zuflüffen Elafanus, Butin, Twalatin und Yamhill liegenden @olonieen 
Bortland, Dregon- Eity, "Shracufe, Marysville, Cincinnati u. f. w. ungemein | 
in Auffhwung gefommen und eine der fchönften Nieberlaffungen in dem fruch! 
Thale dieſes Fluffes if. Das innerhalb des Gebiet? der Hudſonbai⸗-Compagn 
legene Albany ift ein Fort, an der Mündung des gleichnamigen Fluſſes in di 
Jamesbai und war mit der erfte befeftigte Plaß, der Seitend der Compagnie er 
wurde. ’ 

Albany (Auftralien); in der Graffchaft Plantagenet, an der Norbfeite des 
zeß-MoyalsHafend, des weftlichen Theiles des König-⸗Georgs⸗Sundes, beſitzt den 
Hafen der Provinz Weſtauſtralien, in welchem ſich die Schiffe mit Allem, woran 
leicht am Bord Mangel eingetreten ift, leicht verſehen können. Außer dem Be 
eines fichern Hafens genießt Albany mit Recht den Auf, der gefundefle Ort des 
zen auftralifchen Continente zu fein; heiße Winde wehen niemald und die Temp 
Hat als Minimum 12,49 und ala Marimum 23,50 R. Diefe faft gleichfürmige 
peratur zu allen Zeiten des Jahres ift höchft merkwürdig und macht den Fleck 
einem Sanitarium, das auch fchon von vielen Perfonen in der Swanfluß-@olon 
Wiederberftellung ihrer Geſundheit befucht wird. In Der unmittelbaren Umgebun; 





nennung von dem urjprünglihen Namen Ded Difirictes, auf welchem Albany ſteht, 
erhalten bat. Diefe Eingeborenen nennen fich auch felbft Kincannupsfeute, doch ift ed 
böchft wahrſcheinlich, daß fle ein Zweig der Samilie der Weal find, die nörblich vor 
dem König-GeorgdösSunde wohnen. 

Albedyll. Ein fchwebifch » liefländifches Gefchlecht, das in dieſem Jahrhundert 
fi in mehreren Provinzen Preußens anfäfflg gemacht und ein höchſt anfehnliches Con⸗ 
tingent zum Offiziercorps des Föniglichen Heeres geitellt hat. Hins Otto und Ebriftern 
Hind Albedyll erhielten 1764 von der Krone Schweden ein vermehrtes freiherrliches 
Wappen. Das Stammwappen zeigt einen fehräggelegten geafteten Baumflamm, oben 
von einem Stern, unten von einem Mond begleitet. Nach einer, allerdings wenig 
unterflüßten Tradition war die Kaiferin Katharina I. eine geborene v. Albedyll und au 
einen v. Tieſenhauſen vermählt. Der Schleier, der über ber Herkunft dieſer Kaiferin 
liegt, iſt noch immer nicht ganz: gelüftet. 

Albemarle ſ. Mont. 
| Alberoni, Julius, Cardinal und erfter Minifter Philipp’s V. von Spanien, ivar 
einer der merfwürbigften Männer jeiner Zeit. Am 31. Mai 1641 zu Fiorenzula, einem 
parmeſaniſchen Dorfe, ald Sohn eined armen Winzerd geboren, vermodte er burd 
feine revolutionäre Staatöfunft halb Europa gegen ſich zu bewaffnen. In Piacenza 
von einem Geiftlichen erzogen, dann Glödner an der Domlirche, fpäter zum Prieſter 
geweibt, trat er als Haußgeifllicher in die Dienfte des Vice⸗Legaten Barni di Romagna 
zu Ravenna und erhielt, als dieſer Bilchof von Piacenza wurde, die Verwaltung feines 
Hausweſens und die Erziehung feines Neffen, den er nach Mom begleitete. Hier eignete 
er fich die Umgangsfornen der ‚vornehmen Welt und namentlich Die Kunft an, ein 
flußreiche Gönner zu gewinnen. Im Jahre 1705 war er bereits Gejchäftsträger des 
Herzogs von Parma bei dem Herzoge von DBendöme, der dad damals in Italien 
ſtehende franzöfljche Heer befehligte. Mit ihm kam Alberoni, der ald- Serretär in 
deffen Dienfte übergetreten war, im Jahre 1706 nach Paris, dann in die Niederlande, 
endlich im Jahr 1711 nach Spanien, wo ſich der Hetzog des Fühnen und verfchlagenen 
Diplomaten. bediente, das Bolf wie die Vornehmen für die Sache Philipp’s-V. zu 
gewinnen. Seine Bemühungen, dieſem franzöfifchen Prinzen den Thron von Spanien 
zu fichern, waren überaus erfolgreich. Vendome felbft geftand, er verdanfe e8 feinem 
Abbe, daß Arragonien und DBalencia Philipp V. erhalten worden wären. Er follte 
nun im Auftrage Vendôme's am Hofe gegen die Prinzeſſin von Urfini wirken, die den 
König und die Königin (Marie Luiſe von Savoyen) beberrichte. Allein Alberoni fand 
es zuträglicher für fein Intereffe, fich mit der Prinzeſſin zu verflänpigen, um bierburd) 
feinen Einfluß in Spanien zu befefligen, und indem er dann auch Die Verföhnung ver 
Urfini mit Vendöme zu Wege brachte, wurde er. der unentbehrliche Vertraute aller 
- Parteien. Mehr und mehr bekam er fortan die Fäden der europäifchen Gabinet3politif 
in feine Hand. Im Jahre 1713 ernannte ihn der Herzog von Parma zum Reſtdenten 
am Madrider Hofe und erhob ihn zugleich in den Grafenftand. Bald darauf (15. Fe 
bruar 4714) ftarb die Königin, und die Urfini ward nun die eigentliche Regentin in 
Spanien, weldhe, um ihre Macht im Staate und ihren Einfluß über den König zu 
behaupten, gegen deſſen zweite Bermählung agitirte, Alberone wagte aber defien Verbin- 
dung mit Elifabetd Farneſe, der Nichte und Erbin des finderlofen Herzoge 
von Parma, zu vermitteln, und dieſer Staatöftreich gelang (1714, September); die 
getäufchte Urfini wurde fogar, wahrſcheinlich auf Alberoni’8 Nath, vom Hofe ver- 
wiefen. Als erfter Mintfter leitete Alberoni nun die Königin, damit auch den König 
und Spanien. Er ward Grande erfter Klaſſe und Biihof von Malaga, auch verichaffte 
ihn Der fpanifche Hof auf Schleichwegen die Cardinalswürde (1717). Unter feiner 
Verwaltung blübten Handel und Induftrie wieder auf, Ruhe und Ordnung wurden 
begründet, aber auf Koften des letzten Meftes der Freiheiten ber fpanifchen Nation. Ein 
Lieblingsgedanke der flolzen und entſchloſſenen Königin war, ihren Söhnen Carl und 
Philipp unabhängige Fürftenthümer in Italien zu verfehaffen, damit diefelben nicht Un⸗ 
terthbanen des Prinzen erfter Ehe und fpanifchen Thronerben Ludwig fein follten. 
Wegen dieſes Wunfches der Königin zunächft, dann, um Philipp V. auch auf ben 














Krankheiten, Leipzig 1829, 
und Kur der fopbilitifchen 
Vorlefungen, Leipzig 18: 
Beobachtungen auf dem G 
Bonn 1836— 1840, Hand! 
Erkenntniß der Krankheiten 
und Percufflion, Bonn 185: 
von der Arznei⸗ und He 
Pſfychiotrie oder Eurzgefaßte 
verbundenen Krankheiten, 2 
fhaft mit dem Philologen 
nelius Gelsus de re medi 
Albert (fowohl der C 
Größe nach den zu überwi 
Scholaftifern des 13. Jahr 
Zauingen im: 3. 1193 geb: 
aber erft auf den Univerfi 
Am legteren Orte gewann 
Dominikaner-Orden, in dei 
fophie im J. 1221 auftr 
1215 erneute Verbot viel 
Intereffe, die h. Jungfrau 
bis dahin flumpfen de 
bis 1231 lehrt er in Bari 
Als Generalvicar, feit 12 
Bifttationen Gelegenheit, ° 
feine Zeit ungeheure Kenn 
nah Rom rufen, werden 
von Negendburg, Das er a 
zwei Jahren niedergelegt, | 
er am 25. November 128 
von Jamıny in Lyon heraı 
laftif dad Stadium, wo die 
daß ihre Lehrer vom Xrift 
fondern auch jagen, was 
Lehren durch antichriftlich: 
Ariſtoteles von Albert erft 
Arabifche, von da (manc 
nehmen) in's Rateinifche 
lächeln, al8 zu bewundern, 
wie fehr das Hineinnehme 
die Streitigkeiten der Neal 
hervorgegangen ımter fich, 
Berechtigung ein. Auch b 
Philofophie nur Weltweist 
zur Welt wirket. Waͤhren 
Albert die finnlide Welt, 
Natur und Gnade bört aı 
Thomas) find erft fpäter X 
worden. Zu ihnen gehöre 
tigen. Dur Aegidius € 
Peully, die Bernhardiner, 
Lehre Alberts gewonnen. 
- Albert, Prinz» Gem 
Prinz Albert, richtiger u 


_ 
a 


Fr 


Königin von Großbritannien (25. Juni 1857), Sohn des Herzogs Ernſt 1 
Sachſen⸗Koburg⸗Gotha und der Herzogin Louife zu Sachſen, wurde am 20. Aug. 
zu Roſenau geboren. Seine Studien machte der Prinz auf ber Univerfität zu Bonn 
Erziehung vollendete ex an den befreundeten Höfen, namentlidy zu Brüffel und zı 


‚Don. Der König der Belgier war feines Vaters füngfter Bruder, und feine : 


jüngfte Schweiter, Herzogin Victoria, war in zweiter Ehe mit dem großbritan: 
Prinzen Herzoge von Kent, Mutter der Prinzeß Victoria Alerandrine ‚geworben 
als Bictoria I. ihrem Obeime König Wilhelm IV. am 20. Juni 1837 auf den 
ſchen Thron folgte. Sie wählte den Prinzen Albert, ihren Eoufin, zum Gemat 
Heiratdete ifn am 10. Februar 1840 zu London. Seine Ehe ift mit neun Ki 
vier Prinzen und fünf Prinzeſſinnen, gefegnet worden, von. denen der zweite | 
Alfred Herzog zu Sachſen und föniglicher Prinz von Großbritannien und J 
bei Der Kinverlofigfeit feines Oheims, bed regierenden Herzogs von Sachſen⸗-Ket 
Gotha, der präfumtive Erbe dieſes Herzogthumd if. Noch vor der Bermählung 
er durch Parlamentd-Acte (3. Vict. Cap. 1 u. 2) naturaliftrt, erhielt die Feldmarſ 
wircde, das Commando des 11. Hufaren-Reginents,. den Bath» Orden und den 
Königliche Hoheit; wurde datauf, 1842, Oberft. der, fchottifchen Füſtliergarde, 
Eommandeur des 60. Scharfichügen- Negimentd, dann zum Gommandeur der € 
ſchützen⸗Brigade und (nach dem Tode des Herzogs von Wellington) au zum ; 
Der Grenadier⸗Garde (1852) ernannt. Im Laufe der Zeit famen dazu noch 
Würden: Gouverneur von Windfor, 1847 Kanzler der Univerfität Cambridge, Groß: 
Der Englifchen Preimaurer»Logen, Ritter des Ordens vom goldenen Blief. 
treten noch mehrere Sinecuren; jo ift der Prinz 3. B. Grand Ranger of Wi 
Castle (Wildmeifter), und wir finden in Folge deflen feinen Namen unter den 
nungdtafeln, welche im Park von Windfor das Betreten des Rafend ıc. verbieten. 
ift er feit 1840 Mitglied des Geh. Raths, feit 1842 Lord Warden of the SI 
ries and Chief Steward des Herzogthums Gornwallis; High Steward von Ply 
(1843); Capitain-General und Oberft der Artillerie-Gompagnie (1843); High Stı 
von Neu-Windfor (1850); Präfident der Zoologifchen Gefellfchaft (1851); Mas 
the Trinity house (1852). Durch Orbonnanz der Königin vom 5. März 1840 
ihm der Vortritt vor allen Würdenträgern und neben und nüchft der Königin befi 
aber da nad Englands Gefegen Feines Mannes Stellung in der Gefellichaft 
Heirath verändert werden Tann, fo war der Prinz Albert allein nur zu ‚dem t 
eines Hoſenbandritters (nach, Dod's Peerage* der neunzigfte Rang) berechtigt. Dat 
lament zeigte fich auch nicht geneigt, diefe feine Stellung zu verändern und hatte 
bei Berathung der Naturalifation des Prinzen eine dahin gehende Clauſel zurück, 
fen, obgleich der Herzog von Cambridge in feinem und der ganzen Königlichen F 
Namen erklärt hatte, fie würden dem Prinzen den Bortritt Iaffen. Die Königin 
hierauf zur Ordonnanz, und der Prinz felbft genießt ſeitdem einen Rang, der freilid 
Dod fcharf bervorhebt, weder Durch statute noch durch common law begründet if. 
. Engländer find, fo_ hoc fie feine Fünftlerifche und wiffenfchaftliche Begabung und 
Dung und die Verdienfte anerkennen, die er fich in dieſen Gebieten, z. B. Durch | 
derung der Weltausftellung von 1851 erwarb, gegen feine politifche Haltung « 
ordentlich mißtrauiſch, und ein Gerücht, dad in neuerer Zeit auftauchte, die Ki 
beabfichtige ihrem Gemahl den Königstitel beizulegen, führte fogleich in der Preſſ 
in Berfammlungen zu ftarfen Angriffen auf ihn; ein Antrag, den dad Whig-Minifl 
bereits 1840 ftellte, feine Apanage (30,000 L2fl.).um 20,000 eſt. zu vergrößern, 
durch die Vereinigung der Toried und der Volkspartei vereitelt.- Die jungen ( 
fopbiichen) Radicalen halten ihn im Wiverfpruch mit der öffentlichen Meinung 
Hoch, und einer ber geiftvolfften unter ihnen (The Governing classes of ’Great Bı 
by Edw. M. Whitty. London, 1854.) erflärt ihn in einer Skizze, die er feiner 
rakteriſtrung widmet, für einen der umfichtigften Politifer Englands. Zwar fei 
Einfluß fein virecter, aber Doch darum nicht weniger ſtark. Er fei Wilhelm II. 
gleihbar an Größe und Weite ded Blicks, und ganz wie diefer verfehmähe e 
Eingreifen in bie unbedeutenden Fragen der englifchen Kirchthurm⸗Politik und 
Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch.Lex. 1. 40 





Du DIE DIL DWUDTERIG WHyitiyn nichl ganz ABLE EDEN, HI Dir TDG DERE 
* Gegnerſchaft, in der Palmerſton zum Prinzen ſteht, verraͤth ſchon, daß der Prim 
eine eigne Politik treibt und auch wohl durchzuſetzen weiß. 

Ein klareres Licht auf den Einfluß des Prinzen Albert ließ ein parlamentariſcher 
Streit zwiſchen Ruſſell und Palmerſton fallen, in welchem der erſte Staatsmann ge⸗ 
ſtand, die Königin habe es zur Regel gemacht, daß keine Depeſche nach dem Continen 
abgefandt werde, Die ihr nicht vorher zugefandt fei. Bei der Traulichkeit des ehelichen 
Lebens der Königin iſt Hierbei der Schluß, den auch Whitty macht, geboten, dab der 
Prinz fletd Die ganze auswärtige Politif Englands, zu überfehen und darnach gu beein» 
flufien vermag. Die regierenden Klafien Englands fcheinen fih an diefe Thätigfeit Des 
Prinzen in neuerer Zeit mehr gewöhnt zu haben; dagegen hören die Blätter, weldye 
PBalmerfton vertheinigen, nicht auf, die „Goburg-Policy“, welche ihr Centrum in Lon⸗ 
don babe, als die größte Gefahr Europa’8 zu denunciren. Daß eine joldhe Politik 
exiftirt, it nicht in Frage zu ftellen, und auch Whitty a. ang. D. erkennt je als be 
ſtehend an, ohne fle zu tadeln. Er fchreibt — es ift im Jahre 1854 — darüber 
Folgendes: „König Leopold von Belgien mag diefe Politik in’d Leben geführt Haben, 
aber da8 Haupt der Familie und der Leiter dieſer Poliiik ift jegt unzweifelhaft der 
Prinz Albert. Diefe Führerſchaft verdankt der Prinz zunächft feiner Stellung in Eng- 
land, dann aber feiner Intelligenz, einer der gebilbetften, verfeinertfien und reinften in 
diefer Zeit... Die Koburgs find eine außerorbentlihe Familie; vor vierzig Jahren 
bemerfen wir unter ihnen noch Feine biftorifche Perfönlichkeit, aber 1853 -find fie bie 
mächtigfte Bamilie in Europa... (Der Berfafler zählt nun ihre Verbindungen in der 
ganzen Welt auf und deutet auch auf den inzwifchen audgeführten „Coburg plan“, Die 
fünftige Königin von Preußen aus dieſem Haufe zu wählen)... Bei der Fülle de 
Kenntniffe des Prinzen, bei der Breite und Tiefe feines Blickes ift alfo fein Werth 


als leitender engliicher Staatsmann unberechenbar..... Diefe feine Macht zum 
Guten und der Einfluß, den er befigt, wurde nicht in einem Tage errungen; 
er wurde fchritiweife und nur Durch Geſchick erreicht. Vor zehn Jahren 


war er noch nicht der Mann, um ehrfurchtövolle Ergebenheit bei unſerer Ariftofratie 
hewworzurufen; beute ift er ftärker als einer der ihrigen, flärfer durch Stellung und 
durch Volksthümlichkeit. Prinz Albert ift vielleicht der volksthümlichſte Mann in Eng: 
land, und es iſt eine Thatfache, daß dieſe Volksthümlichkeit durch feine Entdeckung 
herbeigeführt ift, die Engländer, die fich ſtets für ein längft durchgebildetes und auf- 
geflärtes Volk Hielten, feien in der Kunft und in aller feineren Cultur der Civilijation 
Barbaren. US ein Fremder zeigte er fich gleichermweife befähigt, unfere Kirchthurm⸗ 
politi£ zu bemerken und die Gewöhnlichkeit, Engberzigfeit und Infularität unferer künft⸗ 
lerifchen Thätigfeit zu erkennen. Welchen Tact, welche vollendete Geſchicklichkeit mas 
er doch angewendet haben, als er fi damit befchäftigte, und zu überzeugen, daß 
wir unmwiflend und ungefchlacht feien!" Wahrlich, eine feltiame Sprache im Munde 
eined Engländers, aber gerade Die letzteren Säße erklären die Vorliebe derjenigen Vollks— 
klaſſen, die nicht zu den regierenden gehören, für dieſen Prinzen, von dem Whitty fehr 
gut fagt, er babe, sohne dazu ernannt zu fein, in England ein Minifterium des öffentlichen 
Unterrichts gegründet und verwalte es der Ehre wegen allein. Das Volk if für Die Auf 
merkjamfeit, die Prinz Albert ihm zu Theil werben laßt, dankbar, und es iſt jebenfalls 
Feine ſchlechte Politif, daß der Prinz ein Gegengewicht gegen die Mißgunft der regie 
renden Rlafien in der Zuneigung der niedern zu gemwinnen fucht. — Ueber bad Fami—⸗ 
lienleben des königlichen Haufes von England herrſcht nur eine Stimme der höchflen 
Anerkennung. — Als Feld marſchall hat der Prinz, fo weit ihm das geflattet war, 
mannichfache Verbeflerungen in der. Bekleidung und Bewaffnung des Heered vorge 
fhlagen und zum Theil auch durchgefegt. Der Feldzug in der Krim bat gezeigt, 
daß die britiſchen Minifter wohlgethan hätten, , öfter den Vorfchlägen des Prinzen 
nachzugeben. Eine jehr zweckmaͤßige militärifche Kopfbedeckung von des Prinzen Er⸗ 
findung Heißt nad ihm „PringeAlbertd- Hut“. 

ert, der Arbeiter, Mitglied der proviforifchen Regierung von Frankreich im 
Jahre 1848, eine dunkele Perfönlicgkeit, deren fich befanntere Mevolutionsmänner, des 











BRamen nam Arbeiter war, eine \ergieygung und Teine literariſchen Erzeugn 
fpredden Dem; doc gab er fich für einen Mechaniker aus, und am 23. F 
verließ er die Werkſtatt eines-Parifer Kuopfmacherd, um am Kampfe Theil ı 
Diejenigen, die ihn ald Werkzeug benußten, forgten auch für fein politifches 
fo verbseiteten fie, er babe fchon bei der Julirevolution mitgefämpft, obgleich 
erſt vierzehn Jahre zählte, er fei dann nach Lyon gegangen, babe dort eine 
Zeitung gefliftet und redigirt, auch die Sefellichaft der Menfchenrechte gegründ 
fei ex es geiwefen, ber ben ouvriers mutuellistes das wilde Stichwort: 
travaillant, ou mourir en combattant!“ (Arbeitend leben oder kaͤmpfend un! 
erfunden babe. Aber ed, ift nachgewiefen, daß der Arbeiter, auf den fich 
bezieht und der 1835 zur Deportation verurtheilt wurde, ein amberer Al 
Das ſpätere Mitglied der proviforifchen Regierung gründete 1840 zu Paris ei 
Zeitung unter dem Titel: l’Atelier, die er mit andern Arbeitern rebigirte, n 
er, wenigſtens fcheinbar, auch wirklich in Werkftätten arbeiteten. Er war baı 
mit Louis Blanc bekannt, der ihn dann au am 24. Febr. 1848 an fe 
zum Mitglied der proviforifchen Regierung machte. Sein Name ift auf all 
rungs=- Bekanntmachungen mit dem Zufat „Arbeiter“ verfehen. Zum Bicey 

dee Commiſſion der Abgeoroneten des Lurembourg erwäblt, unterflüßte er 

Louis Blanc. Er war damald auch kurze Zeit Präflvent der Commiſſto 

: Öffentlichen Belohnungen. Er wurde vom Departement der Seine mit große 

zum Abgeordneten der conftituirenden Verfammlung erwählt, aber er faß i 

wenige Tage. Als Mitichuldiger oder Anftifter de8 Attentatd vom 15. Ma 
wurde er vor den Gerichtshof zu Bourges geftellt und nad feiner Weigerun 

. Gerichtshof anzuerkennen, zur Deportation verurtheilt. Er wurde anfangs in 

. dann auf BellesI8le gefangen gehalten, von wo er in neuerer Zeit nach dem 

hauſe von Tours gebracht if. Ad Revolutions⸗Charakter bat X. 

. bedeutend er an’ fich if, doch eine gewiſſe Bedeutung, weil er über die Tom 

. Urt der Anorbner und Vorbereiter der Revolutionen, ebenfo wie über die X 

-bigkeit des Volks eine genügenbe Auskunft giebt. Er konnte weder ald Arb 
als Schriftfteller auf irgend eine Anerkennung Anſpruch machen, und er wur 

: von gewiflenlofen Agitateren Dazu benußt, um den Arbeitern als Schriftfteller 

Gebildeten als Arbeiter zu imponisen, Ein außerordentlich klaͤgliches Mi 

doch ſchlug ed in Frankreich a 

Aderti, Grafen. Es sieht zwei verfchiedene Grafengefchlechter, die dieſt 
- fübeen. Die Grafen Alberti von Enno find ein altes Rittergefchlecht, 

f von feiner Stammburg Enn in Südtyrol ab Enno nannte, fich aber feit 

: Sahrbunbert zu Ehren zweier feiner Sprößlinge, Albertus J., Bifchof vo 

1323 — 1336 und Albertus II, ebenfalls Biſchof von Briren de Albertis 

} ober de Enno fihrieb. Unter biefem Namen erhielt ed 1535 eine Beftätigui 

ı uralten Adels. Die Familie hat der rom. Kirche mehrere hohe Würdenträger 

- Sofeph Victor ftarb 1696 als Fürſtbiſchof von Trient, Felix 1750 ebenfallß 

biſchof von Trient, Kranz Felix 1804 ald Abt von Santa-Eroce in Maila 

.. Reichögrafenwürbe erlangte das ganze Gefchleht 1714. Das Wappen zeigt 

“ quabrirten Schild, im erflen und vierten goldenen Felde einen halben ſchwarz 

. im zweiten und britten filbernen Felde einen ſchrägrechten blauen Balken, der ı 

; goldenen Stern belegt ifl.. Auf dem Helm ein offener ſchwarzer Aplerflu, 
; Blügel mit dem blauen Balken und dem goldenen Stern ſchrägrechts und fi 
belegt find, Helmdecken rechts: ſchwarz und golden, links: blau und fllbern. 

. Daß andere Gefchlecht iſt das des Grafen Alberti von Poja, es lei 
Urſprung von dem altfranzöflfchen Haufe der Herzöge von Luynes ber, deren 

4 name ebenfall3 diAlbert if. Es iſt dunkel wie und warn biefe Familie na 

.ı gekommen; den Meichögrafenftand erlangten der ‚Schloßhauptmann von Riy 
Vigil de Albertis di Poja und feine Brüder unter dem 20. März 1774. D 

zu penſchild ift Durch einen Balken quer getheilt und zeigt oben in Blau eine 

A gelrönten und bewehrten itbernen Adler, unten in Grün drei vothe Pfaͤhle. 


‚ 40 * 





SEE L EIER, YVS 2 BEIESV vis... DPITSWaBEnER OTIUVERDER M. V a EEE TEEN 
find rechts blau und filbern, in der Mitte grün und filbern, links roth und golden. 
Schildhalter zwei goldene Löwen wiederſehend. Diefes Wappen fpricht übrigens nidı 
für die behauptete Abftammung von Den Hergögen von Luynes. 

, Albertiniſche Linie, der jüngere Zweig des Wettinifh-Säachfifchen Fürſtenſtammes 
geftiftet von Herzog Albrecht dem Beberzten zu Sachfen. Diefer hatte fich mit feinem 
älteren Bruder Ernft, in dem am 26. Auguft 1485 zu Leipzig gefchloffenen dent 
würdigen Erb-Bertrage, Dergeftalt in die feit dem Tode des Vaters, Kurfürft Friedrich 
des Sanftmüthigen (F 1464) gemeinfam regierten fächfifchen Lande getheilt, daß der 
Aeltere, welcher ald folcher die Kurwürde und den dazu gehörigen Kurfreis voraus 
hatte, den größten Theil von Thüringen, und von dem Ofterlande Altenburg, Eifen 
berg, das Voigtland und Coburg, ferner auch Torgau, Dommitzſch, Eilenburg, Colditz, 
Grimma, Düben, Zwidau und Annaberg erhielt; Albrecht Dagegen Meißen, die übrigen 
Theile des Ofterlandes, und in Thüringen die Aemter Weißenfele, Camburg, Jena, 
Breiburg, Sangerhaufen, Edartöberga, Thomasbrüd und Tennftädt. — Zufolge der 
Schlacht bei Mühlberg (24. April 1547) und der am 19. Mai beffelben Jahres abge: 
ſchloſſenen Wittenberger Eapitulation, erlangte die Albertinifche Linie von dem Repraͤſen⸗ 
tanten der Erneftinifchen, dem unglüdlichen Kurfürften Iohann Friedrich dem Groß⸗ 
mütbhigen, nicht allein die ſaͤchſiſche Kurmwürde, fondern auch den größten Theil der 
Erneftinifchen Lande, fo Daß der Bamilie des Vorkaͤmpfers des Proteflantismus nur 
noch die Aemter Gerfiungen, Salzungen, Eifenach mit der Wartburg, Kreugburg, Tenne 
berg, Gotha, Weimar, Roda, Iena, Camburg, Dornburg, Buttelftäpt und einige ander 
Stüde verblieben, wozu in dem Naumburger Bertrage vom 24. Februar 1554 nod 
Theile ded Altenburger Landes gefchlagen wurden. Es Fam nun zwar in Jahre 1555 
abermald zu Naumburg eine politifche Erbverbrüderung zwifchen beiden Hauptlinien 
des jächhfifchen Geſammthauſes zu Stande, doch konnte dadurch Die perfünlid: 
Spannung nicht gemildert werden, fo wie auch jeder Verfuch, durch Eheverbindungen 
die Familien» Einigkeit zwifchen beiden Teilen wieberherzuftellen, fcheiterte, wie 3. 2. 
die unglüdlicyen Ehebündniffe des Herzogs Johann Eafimir zu Coburg mit Anna, da 
Tochter Kurfürft Auguſt's 1., und des Kurfürften Johann Georg IV. mit Eleonore 
Erdmuthe von Sachen » Eifenach deutlih zeigen. Nur der von 1573 — 1672 
blühende Altenburger Zweig der Erneftiner, welcher auch (als Xeltefter) eine Zeit lang 
(1591 —1601) die Kurlande für den unmündigen Chriftian II. adminiftrirte, unterhielt 
ein beſſeres Einvernehmen mit der neuen Kurlinie, ja ed ſchien fogar eine Zeit lang, 
daß er die Leptere, welche zu Anfang des 17. Jahrhunderts auf ſehr ſchwachen Füßen 
ftand, beerben und fomit dad den Nachkommen Johann Friedrichs bed Großmütbigen 
widerfahrene Unrecht werde -gefühnt werben. 

Während die Erneftinifche Linie ihr fo fehr gefchmälertes Beſitzthum durch oft 
wiederholte Erbtheilungen noch mehr fchwächte, hielt die Albertinifche, in welde 
fhon durch dad Teflament ihres GStifterd die Primogeniturfolge vorbereitet war, das 
Ihrige zufammen, und wenn auch, zufolge legtwilliger Verfügung des Kurfürften Iobanz 
Georg 1., durch den Dresdener Vergleich vom 22. April 1657, feine drei nachgeborenen 

- Söoöhne mit befonderen Landestheilen ausgeftattet wurden und 3 Nebenlinien, zu Wei: 
Benfeld, Merfeburg und Zeig bildeten, jo dauerte doch dieſe Zerfplitterung fein 
volles Jahrhundert hindurch, indem dieſe Linien bis 1746 raſch nach einander erlojchen. 

Die Albertinifche Kurlinie war inzwifchen durch Uebertragung der Polnifchen 
Königskrone auf dad Haupt Friedrich Auguſt's I., zu noch höherem Glanze gelangt, 
zugleich aber war fle, durch .ihren Uebertritt zur Eatholifchen Kirche, der proteftantifchen 

* Erneftinifchen Xinie vollendd entfremdet worben. Als in dem Unglüdsjahre 1806 Kur: 
fürft Friedrich Auguft II. die ihm von Napoleon dargebotene Königskrone annahm, da 
ſchien es eine Zeit lang, als ob die geſammten, feit 1485 getrennten, Wettinifchen Land— 
wieder unter einen Scepter würden vereinigt werben, allein bie Verträge von 1815 
rebueirten das neue Königreich auf die Hälfte des bisherigen Staatögebieted, während 
fle andererſeits dem älteften Zweige der Erneftiner (zu Weimar), gleichfam als Ent⸗ 
ſchädigung für Die verlorene Kur, Die großherzogliche Würde zuerfannten. Es fchien 








würdig genau den Berbältniffen angepaßt. U. jelbft war Obergeneral diefes Lanb- 
ſturms, er commanbdirte eine Armee von etwa 16,000 Bann. Immer tapfer und oft 
flegreich flug fi Albini gegen die Franzoſen bei Hattensheim, bei Höchſt, am ber 
Nidda. Am 24. Novbr. 1800 überfiel er den General Dumonceau bei Ajchaffenburg 
flegreich und errang ſich dadurch feinen NRüdzug nah dem Speffart, der ibm durch 
die feindliche Uebermacht ſchon abgefchnitten war. Die franzöfifchen Feldherren erfanuten 
Albini's geſchickte Thätigkeit wohl an, aber bei den Deutfchen fand er wenig Dauk; 
nannte fich Doch in Erlangen eine Bürger» Conpagnie zu Ehren feined Gegner Au- 
gereau die „Augereaus@ompagnie"! Sein Churfürft Friedrich Carl von Erthal gab 
ihm im September einen Toftbaren Degen, auf deſſen goldenem Gefäß man in Bril⸗ 
lanten die einfach fohönen Worte lad: „Friedrich Carl Joſeph feinem Albisi. Die 
Gefechte an der Nidda, bei Afchaffenburg u. Neuhof." Kaum war der Friede ge 
fhlofien, fo ftarb der Churfürft von Erthal, Albini aber blieb auch unter dem Nach—⸗ 
folger, dem bisherigen Coadjutor v. Dalberg, der erſte Mann an dem geiftlihden Hofe. 
Schwer dünkte ihm Vieles und die Lage von Deutjchland zumal greuelbaft, aber er 
hielt aus bei feinem gütigen Herrn, dem er in dem von Napoleon gejchaffenen Groß⸗ 
herzogthum Frankfurt ale Minifter der auswärtigen Angelegenheiten diente. Als dieſer 
Staat 1813 zerfiel, trat eine proviſoriſche Verwaltung ein, an deren Spitze die Be 
bündeten den Freiherrn von Albini in Anerfenntniß feiner unter allen Umftänvden be 
währten deutfchen Geftnnung ftellten. 1815 trat U. in kaiſerl. üfterreichifche Dienſte 
und wurde 1816 zum eriten Bundestagd-Praftvial-Gefandten ernannt, doch flarb er 
auf dem Schloffe zu Dieburg, deſſen Burgmann er war, noch bevor er in dieſe 
Stellung eintreten Eonnte, am 8. Jan. 1816. Der ſtandhafte Patriot binterließ aus 
feiner Ebe mit der Breiin Johanna von Weidinger einen Sohn und drei Töchter. 
Der Sohn Friedrich Carl Iofeph, geb. 10. März 1794, war Ffönigl. baierſcher Haupt 
mann und ift am 19. Mai 1823 ohne Nachkommenſchaft verftorben; das Geſchlecht 
der Sreiherren von Albini ift mit ihm erlofchen. 

Albredit, Herzog von Defterreich (als deutfcher Kaiſer Albrecht I., 1298—1308), 
Sohn König Rudolf3 von Habsburg, war geb. i. I. 1248. Nachdem Rudolf den 
König Ottokar von Böhmen flegreich bekämpft hatte, belehnte er feine Söhne Albrecht und 
Rudolf mit den, Ienem abgenonmenen Gebieten: Deflreih, Steyermark, Kärntben, 
Krain und der windifchen Mark. Dies gefihah im Iahre 1282. Im folgenden Jahre 
übernahm Albrecht die genannten Serrfchaften gllein, während fein Bruder Rudolf 
bie vorderen Lande, d. i. Die Beſitzungen im Elfaß, Schwaben und der jetzigen Schweu 
zuertheilt erhielt. Rudolf von Haböburg verfuchte Furz vor feinem Tode vergeblich, 
bie deutfche Königskrone auf feinen Sohn Albrecht zu übertragen. Die deutfchen Kur 
fürften, Die ich feit der Zeit des Interregnumsd immer mehr ald die Alleinmächtigen 
innerhalb des deutſchen Stantenverbandes erhoben, befslgten denfelben Grundfag, Wer 


fie bei Rudolf's Erwaͤhlung geleitet hatte: feinen Kaifer aus einer mächtigen Familte 


(und eine folche waren unter Rudolf die Habsburger geworden) zuzulaflen. Sie ſetzten, 
namentlich durch den Erzbifchof von Mainz beflimmt, Adolf von Naffau auf den Thron, 
1291. Albrecht, der in Der gewiffen Vorausficht, gewählt zu werben, fich bereits der 
Reichsinſignien bemaͤchtigt hatte, trat von Anfang an gegen diefen König in Oppoſttion. 
Empoͤrungen in feinen Erblanden, töbtliche Krankheit und andere linfälle brachen da 
mald feinen eifernen Troß, fo daß er fich zur Auslieferung der Inflgnien verftand. 
Adolf von Naffau folgte der Politif der Habsburger und dem Gebote der Zeit, ſuchte 
gleichfalls fich eine Hausmacht zu gründen und trachtete deshalb auf ungererhte Weile 
nad dem Erwerb der thüringifchen Landgraffchaft; Hierdurch zerfiel er mit dem Erz⸗ 
bifhof von Mainz und erbitterte Durch den graufamen Krieg, den er in Mitteldeutſch⸗ 
land führte, die Gemüther der Fürften gegen ſich. Nun trat Albrecht von Defterreid 
wieder auf den Schauplaß, verbündete fich mit dem Erzbiſchof von Mainz und wurde 
bald Adolf's furchtbarſter Gegner. Letzterer ward auf einem Reichstage entfetzt, Albrecht 
zum Kaiſer erwählt und es kam (im Jult 1298) bei Gelheim zum entfcheidenden Kampfe. 
Beide Gegner fuchten einander perfönlich, beide fließen ſie auf einander, geſchmuͤckt mit 
den Barben bed Reichs, dem ſchwarz⸗ gelben Helmbufch. „Hier mußt Du mir Krone 


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wovt. u In dem mun folgenden Kampfgetammel fiel Aoolf von Naffau ob 
Albrecht's Hand, ift zweifelhaft; Albrecht hat es fpäter ala König ſtets geläu 
Albrecht ließ ſich noch einmal rechtlich wählen und faß nun unangefochten auf 
Deutjchen Throne. Nur der Papſt, Bonifag-VDI., erklärte fich gegen ihn ala 
beiten und Mörder feines Vorgängers, ald den von Bott gezeichneten Einäu; 
(ihm war, ala er noch Herzog war, mit Gift vergeben worden und nach ber 
Barifchen Weife der damaligen Heilkunde kurirt, hatte er ein Auge verloren) 
Den Verwandten des von der Kirche auf ewige Zeiten verworfenen Gefchle 
Der Hohenftaufen. Albrecht aber, jest im Beſitz der Krone, entwidelte die | 
eiferne Energie feines Charakters, verbunden mit den Grundfähen einer, bis 
bin undeutfhen Politik, die, ohne auf die Nechtmäßigfeit der Mittel zu a 
rückſichtslos ihren Zweck verfolgte. Albrecht's Zwed aber war, wie der feines 
terd, Hebung feined Hauſes und Erblichmachung der deutſchen Krone in de 
ben. Um Vonifaz zu widerſtehen, verband er ſich mit deſſen Feinde, Philipp 
Schönen von Frankreich, dem er dafür die Meichögrenzen in Lothringen blo| 
Darüber zerfiel er mit den rheinifchen Kurfürften, die er aber in beharrlichen Kaͤn 
(1301 und 1302) demüthigte und zwang, alle neu aufgelegten Aheinzölle zu Gu 
Der. Reichöftädte und ihres Handels wieder aufzuheben. Bonifacius, von Philipp 
Schönen hart bevrängt, mußte eine Verföhnung mit Albrecht fuchen. Albrecht 
Iangte vom Bapft, er jolle die deutſche Krone in feinem Haufe erblich machen; 
PBapft von ihm, Krieg gegen Frankreich; noch fehmebten die Berhandlungen, ald Br 
fein ſchnelles und tragifehes Ende fand. — In dem Streben nach Länderermerb 

flärzte ſich Albrecht in ähnlicher Weife, wie fein Vorgänger, und war darum 
glüdlicher ald jener. Um die Grafichaften Holland und Seeland führte er einer 
folglofen Krieg. Auch mit dem Könige Wenzlav’ Il. von.Böhmen, dem er die 7 
nung mit Weißen verfagte und in feinen Anfprüchen auf Ungarn zu Gunſten 
Mobertd von Neapel entgegentrat, verwidelte er fich in einen, für ihn unglüd 
Kampf, an welchem fi auch Graf Eberhard von Mürtemberg, der von Albrechts 
derländifchen Beſitzungen aus ſich bedroht glaubte, feindlich betbeiligte.e Als 
Wenzlav II., und 1306 auch Wenzlav UI., der mit Albrecht Friede geſchloſſen 
geftorben war, verfuchte Albrecht, Böhmen ais ein eröffnetes Reichslehn einzuziehen 
feinen Sohn Rudolf Damit zu belehnen. Zu gleicher Zeit trat er in die Ungere 
feit Adolfs von Naſſau ein, indem er behauptete, derfelbe babe Thüringen und M 
nicht fich oder feinem Haufe, fondern dem Reich erworben. Alle viefe gleichzeitig 
übereilt begonnenen Unternehmungen endeten unglüdlich für ihn. Sein Sohn R 
ftarb 1307, und die Böhmen erklärten ſich laut gegen eine Öfterreichifche Nach! 
Die Landgrafen von Thüringen, Friedrich und Diekmann, ſchlugen feine Leute im ?2 
burgiſchen; zulegt drohte auch der Krieg in den vorderen Randen bedenklich zu we 
da fi Eberhard von Würtemberg mit dem Bifchof von Bafel und dem Herzog 
von Baiern verbunden hatte. Unruhige Bewegungen in den Schweizer Waldf 
kamen Dazu: doch gehört die ausgefponnene Gefchichte von der Voͤgte Bedrüc 
Geßler's Tyrannei, Tell's Apfelſchuß ıc. in das Gebiet der biftorifchen Mythe 
Albrechts Gefchichte greifen dieſe Unruhen durchaus nicht wefentlich ein. Alb 
Der in die vorderen Lande geeilt war, fiel bier durch Mord von nahverwandter “ 
Sodann, Sohn Rudolfs, des Bruders von Albrecht, fpäter von feiner ruchlofen 
Parricida zubenannt, forderte, fobald er mündig geworben war, feines Waters $ 

laſſenſchaft, die vorderen Lande, als fein rechtmaͤßiges Erbe. Johann war thatfä 
ein wüſter und zügelloſer Menſch: gleichwohl war dies kein Rechtsgrund, ihm 
Beſitzungen vorzuenthalten. Aber Albrecht, in weitausſehende Pläne verwidelt, | 
mit richtigem politifchen Blick die ganze öfterreichifche Hausmacht in feiner Kanı 
fammenzufafien. Der ungeduldige Jüngling verfehwur ſich mit einigen Minifterialeı 
Königs aus dem Aargau, den Herren Walther von Eſchenbach, Rudolf von I 
Konrad von Tegernfeld und Rudolf von der Wart. Als im April 1308 Albrech 





.) Alberti Argent, chron. ap. Urstis. Il. 





er. MIIEUNETEERIE JUSTIN WER , MER WEBER OMYER Te sy vy. INTERDR ⏑—— 


gewußt hatten. An den Moͤrdern nahm Albrechts Tochter Agnes, Königin von Ungarn, 
furchtbare Rache; die Eönigliche Leiche wurde ein Jahr fpäter im Dom von Speier 
beigefeßt. — Der Charakter Albrechts ift namentlich durch die fchmeizerifche Mythe 
vielfach entftellt. Seine Fehler, Habfucht und Kändergier, dienten in ihm größeren 
politifhen Gedanken; für dad Reich war er ein verfländiger, flarfer Regent; in feinem 
Privatleben befonnen, weiſe, jparfam, nie von Zorn oder Wolluft unterfocht, überbaupt 
feinem Lafter untertban, außer dem Ehrgeiz. Auf feine Arbeit, feinen politifchen 
Scharfblick faft nicht minder als auf die Thaten des Ahnherrn der Haböburger gründet 
fih die fpätere Bedeutung Oeſterreichs, welcher A. II. fein Land entgegengeführt. 

„Albrecht V., Herzog von Defterreich, als deutfcher Kaifer (1438—1439) Albrecht IL, 
geb. 1397, ein Sohn Herzog Albrecht IV., vermäblte fih 1422 mit Elijabeth, Der 
Tochter des Kaiferd Sigismund, dem er (1437) in Ungarn und (1438) in Böhmen 
folgte, Ein Fürft, der nur ein Jahr die deutjche Krone trug und in der Blüthe des 
Alters ftarb, aber doch von großer Wichtigkeit wegen feiner Stellung in der Ent⸗ 
widelung Deutfchlands und des öflerreichifchen Kaiſerthums. 

Die fammelnden und zerftreuenden, die verbindenden und trennenden Kräfte halten ſich 
das Gleichgewicht. Wenn eine gejchichtliche Macht die Kraft des Sammelnd und Berbin- 
dend fo weit treibt, daß, wie im alten deutfchen Heich, alle Eigenthümlichkeit zu erſticken 
drobt, fo regen ſich die Provinzen und Nationalitäten, um ihre Selbftheit und Eigenheit 
geltend zu machen, und wenn fle zu ſchwach find, ihre Nechte burchzufegen, dringen 
von außen bie nordifchen Barbaren berein, um das Reich enblih im Namen ihres 
höheren Cultur⸗Princips, der Inbividualität, in Veflg zu nehmen. Aber eben fo wenig 
duldet die Welt, ertzägt die Gefellfchaft Die Herrſchaft der Zerfplitterung, Ifolirung und 
Abfonderung allein; wo dieſe Elemmte das Uebergewicht erhalten haben, muß bie 
Kraft der Einheit, wenn fie nicht im Innern durchdringen kann, von außen, wie in 
Polen, ald eine fremde Gewalt hereinfommen, oder ſie organifirt innerhalb und neben 
der Zerfplitterung ihre Herrfchaft zu einem bejonderen felbftändigen Reiche. 

Letzteres war im beutjchen Neich der Fall, als das Kaiſerthum vefinitiv zum 
Vorrecht des Haböburgifchen Haufes wurde. 

Als die germanifchen Barbaren im Namen ihres höheren Gultur- Princips , der 
individuellen. Aneignung und Repräfentation der Staats-Intereffen, die mweftliche Hälfte 
Europa’8 vom Norden bi8 zum äußerfien Süden in Beflg genommen hatten und aus 

dem Duell der neuen @ultur vielmehr eine neue Barbarei der Selbſtmacht .und Zer- 
ſplitterung bervorzugeben drohte, bildete das rämifche Kaiſerthum beutfcher Nation, 
wenn nicht die Rettung, doch einen großen rettenden Verſuch und ein Proviforium, 
welches, wenn auch endlich vergeblih, den Gedanken und die Intereffen der Einheit 
für Europa zu repräfentiren fuchte. 

Als biefer großartige Verſuch feheiterte und überflüfftg wurde, als die anderen 
Nationalitäten in England und Frankreich die Kraft der Einigung und Eoncentration 
in fich felbft gefunden hatten, das deutfche Neich dagegen das Privilegium der Indivi⸗ 


dualität und Zerfplitterung für fich allein fefthielt, bereitete fich auf einer beſchraͤnkteren 


und befcheideneren, aber fichereren Baſis, an der Donau, die Kraft der Einheit und 
Ordnung ein mächtiged Bollwerk, hinter dem fie fi fammeln und befeftigen und für 
die Zeiten der Noth auch dem deutjchen Reich Rettung gegen feine Berfplitterung und 
gegen die zerftörenden Folgen derſelben bereiten follte. 

Hier, an der mittleren Donau, batten fchon verſchiedene Staͤmme und Racen das 
große mittel = europäifche Reich zu gründen verfucht, das in Zeiten der Auflöfung ben 
Hort des Beſtandes bilden, in den europäifchen Völkerkaͤmpfen das Schiedsrichteramt 
bernehmen follte. Im zweiten Jahrhundert, ald die römifchen Kalfer dem Andrang 
er nordifchen Barbaren für immer Stillftand geboten zu haben fchienen, wollten bie 
Rarfomannen bier das große Feldlager aufichlagen, wo die Germanen ſich fammeln 
and mit vereinter. Kraft gegen den Süben lodbrechen köͤnnten. Die Wogen der Völker⸗ 
wanderung wollte Attila von bier aus beberrfchen und den unruhigen Fluthen eine 
dauernde Grenze fegen. Die Awaren hatten bier das Lager gefunden, von wo fle ihre 








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nahe daran, bier eine Weltmacht aufzurichten, Die Mittel⸗ Qropa beherrſcht und geordnet 
haben würde, als die Magyaren und böhmiſchen Czechen den kühnen Bau zerſtörten 
und ihrerſeits die Erbſchaft des Mittelreiches für ſich in Anſpruch nahmen. Dieſem 
Hin⸗ und Herwogen der Prätendenten um die Herrſchaft des Mittelreiches machten 
endlich die deutſchen Habsburger ein Ende. Die germaniſche Oſtmark ſollte ausführen, 
was die Anderen, von den Markomannen an bis zu den Magyaren, verſucht hatten, zu 
Defien Vollendung aber ihre Ausdauer und ordnenden Kräfte nicht ausreichten. 
j Kaifer Sigismund hatte Schon feit Langem befchloffen, dem Gemahl feiner einzi- 
gen Tochter, Albrecht von Defterreich, Alled zuzumenden, was er zu eigen beſaß. Die 
ungariihen Stände hatten auch fehon bei Xebzeiten des Kaiferd zur Nachfolge des Erz- 
Herzogs die Zuflimmung gegeben, Doch unter der Bedingung, daß er die deutfche Koͤnigs⸗ 
krone nicht annehme. Als Albrecht nach dem Tode feines Schwiegervater (d. 9. Dec. 
1437) Böhmen und Ungarn mit feinen öflerreichifchen Landen vereinigte, beherrſchte er 
von Wien aus ein Ländergebiet, den an Umfang und günftiger Lage feines in der 
Chriſtenheit gleich kam. Cr felbſt war eine böchft bedeutende Perſoͤnlichkeit und es 
vereinigten jih in ihm Die großen und umfaſſenden Intentionen des Iuxemburgifchen 
Hauſes und habsburgiſches Selbfigefühl. Er fuchte das Reich nicht, da ihn fein Erbe 
binreihend befchäftigte.e Gleichwohl trug er über feine Mitbewerber im Meich einen 
entfcheidenden Sieg davon. Churfürft Friedrich von Brandenburg hatte fich bei der 
Wahl ald Thronbewerber geftellt und zwar für fich oder Einen feiner Prinzen, Die er 
mit nah Frankfurt brachte. Trotz der Bedenken aber, die gegen Albrecht fpradhen, 
trotz der Verpflichtungen, Die er gegen die Ungarn übernommen batte, entfchieven fich 
für denjelben die Churfürften. Man mußte darauf gefaßt fein, daß er die Wahl nur 
auf. Bedingungen annehmen würde, die ihm und den Ungam genehm wären. In der 
That verlangte er in den Verhandlungen, die zwifchen ihm und den Ständen ftattfan= 
den, che ihm die Botſchaft der Churfürſten feierlich überbracht wurde, daß er in den 
nächſten zwei Jahren nicht in das Reich und zu der Krönung zu kommen brauche. 
Aber man gab ihm auch in dieſer Forderung nach. Das Haus Habsburg bot dem 
Reich zu viel, als daß man eine Bedingung zu hart und zu ſchwer hätte finden koön⸗ 
nen. Albrecht’ Wahl entſchied den Sieg der TerritorialsHerrfchaft; ein Kaifer, deſſen 
Macht fich auf feinen Hausbeſitz gründete, verjprach den Ständen den ruhigen und un« 
verkürzten Beſitz ihrer eigenen Hausmacht und brauchte von ihnen Feine übermäßigen Opfer 
für das Ganze zu verlangen. Während Frankreich und England ſich centraliſirten und 
große ſtaatliche Formen annahmen, bot ein Kaiſer, der für ſich ſchon ein mächtiger 
Hausfinſt war, wenigftend ein Aequivalent und gab er der Taiferlichen Gewalt eine 
gediegene Unterlage. Endlich war die Hauspolitif eingd Kaiſers, deſſen Beflgungen fi 
über die Grenzen des beutfchen Reiches hinaus erſtreckten, wenigftens ein Erfah für die 
auswärtige Politik der früheren großen Kaijer und für den Gedanken der deutſchen Be- 
fimmung nad außen — vor Allem aber und zundächft wollte man Ruhe und Schuß 
gegen den Huf nach Reformen, die die Territoriale Hoheit der Stände nothwendig bät- 
ten beichränfen möürfen. Ein Kaifer, berechnete man, der felbft ein mächtiger Territorial⸗ 
herr ift und in deften Intereffe es liegt, feinen Hausbeſitz neuen Neichögeiegen zu ent« 
ziehen, wird die Neform und Gentraliflrung nicht fo weit treiben wollen, daß fle die 
Hoheit und Selbftändigfeit der Stände beeinträchtigen Eönnte. 

Nach diefen Vorausſetzungen mußte Deutfchland entweder den ungarifcheöfterreichi« 
ſchen Intereffen dienen, oder während dad Haus Habsburg die große Aufgabe der 
früheren Kaifer in eine öfterreichifche verwandelte, die Nolle des neutralen Zufchauers 
übernehmen. Es blieb zwar noch ein Drittes zu wählen. Deutfchland Eonnte auch in 
fich felbft Ordnung und politiichen Zuſammenhang fchaffen, den Schwerpunft in das 
Meich verlegen und demfelben die Hauptrolle gewinnen. Diefes Dritte war aber bei 
der Wahl Albrecht'8 ausgefchloffen; man wählte ihn eben als Garantie für den Beſtand 
und für die Befeftigung der TerritorialsHerrfchaft. 

Albrecht konnte zwar nicht umhin, Vorfchläge ‘gegen die verwilderte Zerfplitterung 
zu machen und die Neformfache auf den beiden Reform» Berfammiungen zu Nürnberg 
zur Besatbung zu bringen. Allein fein Antrag, daß Böhmen und die öfterreichifchen 





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gewußt hatten. An den Mördern nahm Albrechts Tochter Agnes, Königin von Ungarn, 
furchtbare Mache; die Föniglicde Leiche wurde ein Jahr fpäter im Dom von Speir 
beigefegt. — Der Charakter Albrechts ift namentlich) durch Die fchmeizerifche Mythe 
vielfach entſtellt. Seine Fehler, Habjucht und Ländergier, dienten in ihm größeren 
politifhden Gedanken; für dad Reich war er ein verftändiger, ftarfer Regent; in feinem 
Privatleben befonnen, weiſe, fparfam, nie von Zorn oder Wolluft unterfocht, überhaupt 
feinem Laſter untertban, außer dem Ehrgeiz. Auf feine Arbeit, feinen politijchen 
Scharfblict faft nicht minder als auf die Thaten des Ahnherrn ber Habsburger gründet 
fih die fpätere Bedeutung Oeſterreichs, welcher U. II. fein Land entgegengeführt. 

, Albrecht V. Herzog von Oeſterreich, als deutſcher Kaiſer (138 — 1439) Albredtil, 
geb. 1397, ein Sohn Herzog Albrecht IV., vermäßlte fih 1422 mit Elijabeth, ber 
Tochter ded Kaiferd Sigismund, dem er (1437) in Ungarn und (1438) in Böhmen 
folgte. Ein Fürft, der nur ein Jahr die deutjche Krone trug und in der Blüthe des 
Alters flarb, aber doch von großer Wichtigkeit wegen feiner Stellung in der _Ent 
widelung Deutfchlande und des öfterreichifchen Kaiſerthums. 

Die fammelnden und zerſtreuenden, die verbindenden und trennenden Kräfte halten ſich 
das Gleichgewicht. Wenn eine gejchichtliche Macht Die Kraft des Sammelns und Berbin- 
dend jo weit treibt, daß, wie im alten deutfchen Heich, alle Eigenthümlichkeit zu erfliden 
droht, fo regen fich die Provinzen und Nationalitäten, um ihre Selbftheit und Eigenheit 
geltend zu machen, und wenn fie zu ſchwach find, ihre Nechte burchzufegen, dringen 
von außen die norbifchen Barbaren herein, um Dad Reich enblih im Namen ihret 
hoͤheren Cultur⸗Princips, der Individualität, in Beſitz zu nehmen. Aber eben fo wenig 
duldet die Welt, ertyägt die Gefellfehaft Die Herrſchaft der Zerfplitterung, Ifolirung und 
Abfonderung allein; wo dieſe Elemmte das Uebergewicht erhalten haben, muß bie 
Kraft der Einheit, wenn fie nicht im Innern durchdringen kann, von außen, wie in 
Polen, ald eine fremde Gewalt bereinfommen, oder fie organifirt innerhalb und neben 
der Zerfplitterung ihre Herrſchaft zu einem befonderen felbfändigen Reiche. 

Letzteres war im bdeutfchen Reich der Fall, ald das Kaifertbum Definitiv zum 
Vorrecht des Habsburgiſchen Hauſes wurde. 

ALS die germanischen Barbaren im Namen ihres höheren Gultur- Princips, dr 
individuellen Aneignung und Nepräfentation der Staatö-Intereffen, die weftliche Hälfte 
Europa's vom Norden bis zum Außerfien Süden in Beſitz genommen hatten und aus 
dem Duell der neuen Eultur vielmehr eine neue Barbarei der Selbflmacht ‚und Jar 
fplitterung bervorzugeben drohte, bildete das rämifche Kaifertbum deutfcher Nation, 
wenn nicht die Nettung, doch einen großen rettenden Verſuch und ein Proviforium, 
welche, wenn auch endlich vergeblih, den Gedanken und die Interefien der Einheit 
für Europa zu vepräfentiren fuchte. 

Als Diefer großartige Verfuch fcheiterte und überflüfflg wurde, als die anderen 
Nationalitäten in England und Frankreich Die Kraft der Einigung und Concentration 
in fich felbft gefunden hatten, das deutſche Reich dagegen dad Privilegium der Indivi⸗ 
Dualität und Zerfplitterung für fich allein fefthielt, bereitete‘ fich auf einer befchränkteren 
und beſcheideneren, aber ſichereren Baſts, an der Donau, die Kraft der Einheit und 
Ordnung ein mächtiged Bollwerk, binter dem fle fi fammeln und befeftigen und für 
die Zeiten der Noth auch dem deutſchen Neich Rettung gegen feine Gerfplitterung und 
gegen die zerftörenden Folgen derſelben bereiten follte. 

Hier, an der mittleren Donau, hatten fchon verſchiedene Staͤmme und Racen das 
große mittel = europäifche Reich zu gründen verfucht, das in Zeiten der Auflöfung ben 
Hort des Beftandes bilden, in den europäifchen Völferfämpfen das Schiensrichteramt 
übernehmen ſollte. Im zweiten Jahrhundert, als die römifchen Kaiſer dem Andrang 
der nordifchen Barbaren für immer Stillftand geboten zu haben fchienen, wollten bie 
Markomannen hier das große Feldlager aufichlagen, wo die Germanen fich fammeln 
und mit vereinter Kraft gegen den Süben losbrechen könnten. Die Wogen der Völker 
wanderung wollte Attila von bier aus beberrfchen und den unruhigen Fluthen eine 
dauernde Grenze feßen. Die Awaren hatten bier das Lager gefunden, von wo fe ihre 








naye Daran, bier seine Weltmacht aufzuriagten, DIE Mittel⸗Fropa beherrſcht UND geordnet 
haben würde, ald die Magyaren und böhmifchen Czechen den Fühnen Bau zerftürten 
and ihrerſeits die Erbfchaft des Mittelveiches für fi in Anjpruh nahmen. Diefem 
Hine und Herwogen der Prätendenten um die Herrichaft des Mittelreihed machten 
endlich die deutfchen Haböburger ein Ende. Die germanifche Oftmarf follte ausführen, - 
was die Anderen, von den Markomannen an bid zu den WMagyaren, verfucht hatten, zu 
defien Vollendung aber ihre Ausdauer und ordnenden Kräfte nicht außreichten. ' 
Kaifer Sigismund hatte ſchon feit Langem befchloffen, dem Gemahl feiner einzie 
gen Tochter, Albrecht von Defterreich, Alles zuzumenden, was er zu eigen bejaß. Die 
ungarifchen Stände hatten auch ſchon bei Lebzeiten des Kaiferd zur Nachfolge des Erz- 
herzogs die Zuflimmung gegeben, doch unter der Bebingung, daß er die beutfche Koͤnigs⸗ 
frone nicht annehme. Als Albrecht nad) dem Tode feined Schwiegervater (d. 9. Der. 
1437) Böhmen und Ungarn mit feinen öfterreichifchen Landen vereinigte, beherrſchte er 
von Wien aus ein Laͤndergebiet, dem an Umfang und günftiger Lage keines in der 
Ehriftenheit gleich kam. Er jelbft war eine höchſt bebeutende Perfönlicgkeit und es 
vereinigten fi in ihm die großen und umfafjenden Intentionen des luxemburgiſchen 
Hauſes und habsburgiſches Selbfigefühl. Cr ſuchte das Heich nicht, da ihn fein Erbe 
. hinreichend befchäftigte. Gleichwohl trug er über feine Mitbewerber im Reich einen 
entfcheidenden Sieg davon. Churfürft Friedrich von Brandenburg hatte fick bei Der 
Wahl als Thronbewerber geftellt und zwar für fich oder Einen feiner Prinzen, die er 
mit nach Frankfurt brachte. Trog der Bedenken aber, die gegen Albrecht fpradhen, 
tod der Verpflichtungen, die er gegen die Ungarn übernommen hatte, entfchieden ftch 
für denfelben die Churfürften. Man mußte darauf gefaßt fein, daß er die Wahl nur 
auf Bedingungen annehmen würde, die ihm und den Ungam genehm wären. In der 
That verlangte er in den Verhandlungen, Die zwifchen ihm und den Ständen jtattfan- 
den, ehe ihm die Botfchaft der Ehurfürften feierlich überbracht wurde, daß er in ben 
nächften zwei Jahren nicht in das Reich und zu der Krönung zu kommen braude. 
Aber man gab ihm auch in diefer Korberung nad, Das Haus Habsburg bot dem 
Reich zu viel, ald daß man eine Bedingung zu hart und zu fchwer hätte finden koͤn⸗ 
nen. Albrecht's Wahl entfchied den Sieg der Territorial⸗Herrſchaft; ein Kaifer, deſſen 
Macht fich auf feinen Hausbeſitz gründete, verfprach den Ständen den ruhigen und un⸗ 
verfürzten Befig ihrer eigenen Hausmacht und brauchte von ihnen Feine übermäßigen Opfer 
für dad Ganze zu verlangen. Während Frankreich und England fich centrafifirten und 
große flaatliche Kormen annahmen, bot ein Kaijer, der für ſich fchon ein mächtiger 
Hausfürſt war, wenigftens ein Aequivalent und gab er der Eaiferlichen Gewalt eine 
gediegene Unterlage. Endlich war die Hauspolitif eines Kaiſers, deſſen Beſitzungen ſich 
über die Grenzen des deutſchen Neiches hinaus erſtreckten, wenigftend ein Erſatz für die 
auswaͤrtige Politik der früheren großen Kaifer und für den Gedanken der deutſchen Be⸗ 
fimmung nach außen — vor Allem aber und zunachſt wollte man Ruhe und Schuß 
gegen den Auf nach Neformen, die die TerritorialsHoheit der Stände nothwendig hät- 
ten befchränfen müſſen. Ein Kaijer, berechnete man, der felbft ein mächtiger Territorials 
herr ift und in deſſen Intereffe e8 liegt, feinen Hausbeſitz neuen Reichsgeſetzen zu ent« 
ziehen, wird die Neform und Gentraliffrung nicht fo weit treiben wollen, daß fie die 
Hoheit und Selbftändigfeit der Stände beeinträchtigen Eönnte. 

Nach diefen Vorausfegungen mußte Deutfchland entweder den ungarifcheöflerreichi- 
ſchen Intereffen dienen, oder während das Haus Habsburg die große Aufgabe "der 
früheren Kaifer in eine öfterreichlfche verwandelte, die Rolle des neutralen Zuſchauers 
übernehmen. Es blieb zwar noch ein Dritted zu wählen. Deutfchland Eonnte auch in 
fih felbft Orbnung und politijchen Zufammenhang Schaffen, den Schwerpunft in das 
Meich verlegen und demſelben die Hauptrolle gewinnen. Diefes Dritte war aber bet 
der Wahl Albrecht's ausgeſchloſſen; man wählte ihn eben als Garantie für den Beſtand 
und für die Befefligung der TerritorialeHerrfchaft. 

Albrecht Tonnte zwar nicht umhin, Vorfchläge ‘gegen die verwilderte Zerfplitterung 
zu machen und Die Meformfache auf den beiden Neform-Berfammiungen zu Nürnberg 
zur Besatbung zu bringen. Allein fein Antrag, daß Böhmen und: die öſterreichiſchen 





a . Albrecht Aqhilles. 


Länder außerhalb der Kreis⸗Eintheilung, die er in Vorſchlag brachte, bleiben ſenu 
ermuthigte die Stände zu ih Widerſtande. Außerdem fcheiterten die Verhandlun⸗ 
gen an dem Miptrauen der Stände, da die Städte befürchteten, in dem neuen Kreis- 
verband durch Die Fürften aus ihrer felbfifländigen Stellung berausgerifien zu merben 
und die Fürſten ihrerfeitd den Taiferlihen Borlagen den Vorwurf machten, daß fie im 
Interefie der Städte ausgearbeitet feien. 

Ä Um ja nicht fir das Ganze zu Opfern und Anftrengungen gezwungen zu wer⸗ 
den, batte man in Albrecht den Fürften gewählt, der allenfalls im Stande war, was 
von Dentfchlands Beſtimmung und auswärtiger Aufgabe noch übrig, zu retten und 
auszuführen war, auf fih zu nehmen. Man batte Oeſterreich ald Träger ber kai⸗ 
ferlichen Ehre gemählt, weil es Doch noch einen Kern und Haltepunkt im Verfall und 
in der Zerfplitterung bot. Uber jetzt begann auch fchon Die Furcht zu wirken, die 
viertehalb Jahrhunderte hindurch ihre zerflörende Wirkung geäußert Hatte, die Furcht, 
Etwas für Deutfchland und deffen Einfluß nad außen zu thun, weil Alles, wad man 
leiftete,. dem öfterreichifchen Haus⸗Intereſſen dienen könnte. Man brauchte Defterreich, 
hatte es nöthig und doch beneidete, beargwöhnte, hinderte man es und zwang 
ed, nothdürftig und gleichſam verftohlener Weife und allerdings. auch zu "feinen 
Zwecken Deutfchland fo viel Hülfe und Mittel abzuprefien, ald nöthig war, um das 
Ganze nicht total verfallen zu laſſen und um fich jelbft in feinen auswärtigen Unter 
nehmungen aufrecht zu erhalten. 

Albrecht hatte noch nicht Zeit gehabt, dieſe öſterreichiſche Politik audzubilben. 
Er Rarb, als er auf eigene Hand die Meichöpflicht erfüllte. Als er in Prag zur Krö- 
mung war, hatten die mifvergnügten böhmifchen Parteien die Polen berbeigerufen und 
diefe mit den Türken, die in Ungarn eindrangen, VBerbindungen angeknüpft. Vom 
Meich, welches die Horden der Armagnac’d ungeftraft tm Elfaß pländern ließ, in Stich 
gelaffen, eilt er nach Ungarn, wo er nach einem Zuge gegen die Türken am 5. No— 
vember 1439 flirbt und dem Glüd, der Ausdauer und dem Stolz feined Haufes die 
Ausführung feiner Aufgabe überlaflen muß. 

Albrecht Achilles, dritter Sohn des erſten hohenzolferfchen Kurfürften von Bran⸗ 
denburg und Elifabeth’8 von Baiern-Landshut, geboren zu Tangermünde am 24, Nor 
vember 1414, verrieth frühzeitig die Eigenfchaften, welche ihm den ihm zuerft von 
Bapft Pius H. beigelegten Ehrennamen „der deutſche Achilles“ erwarben. Seine 
Jugend brachte er größtentbeild am Hofe jeined Großvaters mütterlicherfeits, in Lands⸗ 
but zw. Vereits mit dem 14. Jahre wegen feiner vorzüglichen Geiftesfähigfeiten 
mündig gefprochen, begab er fich zu feiner weiteren Ausbildung an den Hof Katfer 
Sigidmunds nach Ungarn. Im Jahre 1435 unternahm er mit feinem älteren Bruder 
Johann die bekannte Wallfahrt nach dem gelobten Lande und fehrte von dort als 
vollendeter Mitter zurüd. Albrecht war — wie ein neuerer Gefchichtöfchreiber ibn 
treffend charakterifirtt — ganz der Mitter des Mittelalterö an deſſen Grenzſcheide. uf 
allen Tournieren glänzte er, feine Lanze legte Jeden nieber,; 17 Mal fiegte er fo ohne 
Harniſch, nur mit der Sturmhaube bedeckt. Leberall, in Deutfehland, Polen, Preußen, 
Ungeen, Böhmen, bat er ſich verfucht, überall ift des Kriegerd hohe Beftalt, männliche 
Schönheit und Kraft bewundert worden, wie die Gewandtheit feiner Rede und die 
Klugheit feined Rathes. Er ift der Fürſt des 15. Jahrhunderts in voller Kraft. Auf 
den großen Schauplag trat er zuaft im Jahre 1438, wo König Albrecht II. ihm den 
Oberbefehl über die Armee gegen Böhmen und Polen anvertraute. Der Tod feines 
Baterd z0g ihn 4440 in die fränfifchen Stammlande zurüd, wo er, der väterlichen 
Anorbmung gemäß, die Negierung- Über das untergebirgifche Fürſtenthum (Ansbach) 
antrat. Er nahm feine Reſidenz nicht mehr für beftändig in ber flattlichen Burg feiner 
Borfabren zu Cadolzburg, fondern ſchlug fein Hoflager in dem zu biefem Behufe er- 
weiterten und verfehönerten Schloffe zu Ansbach auf, wofelbft er im Spätjahr 1446 
feine junge Gemahlin, Margaretha von Baden, heimführte. Bei allem Aufwand, 
"welchen diefer prachtliebende Fürfſt machte, ward Doch dad verhältnigmäßig fleine Laͤndchen 
nicht bedrädt, Da er, wie feine Grundbůcher und Aeten zeigen, die von feinen Vor⸗ 
fahren ererbte muſterhafte Verwaltung in gleichem Geiſte fortführte. Auch ſelbſt die 
großen Koſten, welche feine ‚häufigen Kriegözüge verſchlangen, wußte er jederzeit klug 











636. | Albrecht. (Erzbifchof.) Albrecht. (Prinz v. Preußen.) 


Ganzen zu retten, fei e8 auch, nur unter dem Schub Polens. Am 8. April 1525 
legte Albrecht als Herzog von Preußen zu Krakau den Lehnseid vor Dem König von 
Polen ab; König Sigidmund und die Mehrzahl der Ordensritter hatten zugeftimmt, 
der Papſt diefem in der That des Nechtögrundes entbehrenden Acte widerſprochen; Karl V. 
verhängte außerdem 1532 über Albrecht die Neichsacht. Aber wie eben Die alfen Zu- 
fände in diefem fernen Norden nur darum zerbrechen konnten, weil dort der Einfluß 
von Kater und Reich gefehlt Hatten, fo war auch jetzt die Faiferliche Politik in Bezug 
auf Diefe Lande von Feiner entfcheidenden Bedeutung. 

Die Regierung U. war eine mühevolle und unglückliche. Er gründete 1543 die 
Iniverfität Königsberg. Vermaͤhlt war er mit Dorothea, Tochter des Könige von 
Dänemarf, darauf mit Anna Maria von Lüneburg. Aus der zweiten Ehe hinterlich 
er einen Sohn Albrecht Briedrih. Vergl. übrigens den Art. Prengen (Ordensſtaat.) 

Albrecht, SarbinalsErzbifchof von Magdeburg und Mainz, Primas und Erzkanzler 
des Reichs, war geboren 1490, als der jüngere Sohn des Kurfürften Johann Eicero 
von Brandenburg. ˖ An dem Hofe feines gelehrten Vaters hatte er einen-tüchtigen Grund 
wiftenfchaftlicher Bildung gelegt und war frühzeitig für den geiftlichen Stand vorbereitet 
worden. Mit den ihm verliehenen Ganonicaten zu Mainz und Trier begnügte er ſich 
nicht Tange, fondern warb bereitö im Jahre 1513 auf den Erzbifchöflichen Stuhl zu 
Magdeburg berufen, ja ed wurde ihn fogar — obgleich es unerhört ſchien, daß 2 Erz 
bisthümer in Eine Hand kamen — im nächft folgenden Jahre die hoͤchſte kirchliche 
Würde Deutfchlands, die eines Erzbifchofs und Kurfürften von Mainz übertragen. Da er 
bei feiner Wahl ſich anbeifchig gemacht hatte, Die Palliengelvder felbft zu zahlen, fo nahm 
er bei dem Hauſe Bugger 30,000 Ducaten auf; um aber‘vie Mittel zur Rückzahlung 
zu erlangen, richtete er den Tegel’fchen Ablaßkram ein und gab font eine ber nächften 
Beranlaſſungen zur Reformation. Er ſchien, an der Schwelle einer ſolchen Zeit auf 
einen ſolchen Poften berufen, zu Großem beſtimmt; allein, wenn er auch mit all 
Gaben audgerüftet war, um jeine Zeit zu begreifen, fo bielt ihn andererfeitd der in 
ibm vorberrfchende Hang zur Sinnlichkeit von “einem freien, bochherzigen Aufſchwung 
zurüd, und, anftatt nach dem Beifpiel feines Vetters, Albrecht des Hochmeifters, Herzogs 
in-Preußen, für fein Haus und für das eyangel. Deutfchland zu wirken, übernahm er 
die undankbare Rolle eines immer zäheren Feſthaltens am Alten. Bon Luther, der An 
fange ihn für feine Sache zu gewinnen hoffte, mußte er derbe, bittere Wahrheiten hören, 
und in feinen MNechtfertigungeni ſehen wir oft den Primas von Deutichland vor dem 
geichteten Mönch gleichfam zu Füßen liegen. Seine Liebe zu den Wiflenfchaften, wegen 
welcher Albrecht von den bervorragendften Geiftern feiner Zeit, namentlich von Hutten 
und Erasmus, Hoch gefeiert worden ift, zeigte ſich ganz beſonders auch in feinem 
Lieblingsplan, eine Univerfität in Halle zu begründen, welcher aber, nachdem er bereits 
1531 Die päpftlihe Sanetion erhalten, hauptfächlich deshalb aufgegeben ward, weil 
Inzwifchen die Reformation in feinen Magdeburgifchen und Halberftäbtifchen Landen 
durchdrang. Nachdem nun auch mit dem Tode feines Bruders, Kurfürft Joachim 1, 
der. der neuen Lehre fo hartnädig Widerftand geleiftet hat, dieſelbe in feinem Heimath⸗ 
Iande fich mehr und mehr außbreitete, jchloß Albrecht gegen fein Lebensende fich immer 
inniger an Rom an: Er rief die fo eben erſt conftituirten Jeſuiten nad) Deutfchland 
und ftarb bald darauf zu Mainz, am 24. September 1545. 

Albrecht, Prinz von Preußen. Friedrich Heinrich Albrecht, Prinz von Preußen, 
jüngfter Sohn weiland Ihrer Majeftäten des Königs Friedrich Wilhelm II. von Preußen 
und der Königin Louife, wurde am 4. October 1809 zu Königsberg in Preußen ges 
boren und erhielt, role alle Prinzen des Hoden Königlichen Haufed eine vorzugsweiſe 
militärische Erziehung. Der Wilitärs-Gouverneur des jungen Prinzen war einer dar | 
audgezeichnetften Offiziere der Armee, jener Oberftlieutenant von Stodhaufen vom 

ten Infanterieregiment, der fich durch feine Thaten, namentlich bei ChateausThierry 
314 den böchften Kriegsruhm ermorben hatte und nun zwanzig Sabre lang, von 1823 
8 1843, in der nächften Yimgebung des Königöfohnes, von 1830 bis an feinen Tod 
3 Hoͤchſtdeſſen Hofmarſchall blieb. Prinz Albrecht erhielt den hoben Orden vom 
ſchwarzen Adler am 4 October 1819, an welchem Tage er zugleich als Secondelieu⸗ 
tenant beim erſten Garderegiment zu Zuß und a la suite des erften Garde⸗Landwehr⸗ 











a —— — 





N 


638 Albrecht. (Vrofeſſor.) , 


1848 bie Wogen der Revolution, zuerſt in Frankreich entfeſſelt, auch über die Daͤmme 


AlteDefterreih8 — Erzherzog Albreht war es, der fich mit jeinem jungen Bruder, 
dem Erzherzoge Wilhelm, und nit feinem Oheim, dem Erzherzoge Ludwig, der Fluth 
mutbig entgegen warf und am 13. März die Emeute energifch angriff; er führte perfäwlich 
die Truppen an diefem Tage und wurde vor dem Landhaufe Leicht bieffirt. Leider 
drangen feine und feines Oheims Ludwig Anflchten in der Hofburg nicht durch gegen 
die Anfichten feined anderen Oheims, des Erzberzogs Johann; Erzherzog Albrecht mußte 
am 14. März feine Stelle ald commandirender General in Defterreich niederlegen, doc 
blieb er zu Wien bis zum 2. April; ald aber an diefem Tage die dreifarbige Fahne 
der Revolution vom St. Stephan wehete, da verließ der Erzherzog die Kaiferflabt und 
begab fi dahin, mo damals Defterreih war, in das Keldlager bes Feldmarſchalls 
Radetzky. In Italien fämpfte er ruhmreich für das Haus Defterreich, zeichnete ſich an 
der Spige feiner Diviflon beim liebergang über den Ticino und beim Angriff auf 
Mantua im höchſten Grade aus und trug wefentlich zum Siege bei Novara bei. Nach 
dem Feldzuge von 1849 wurde Erzberzog Albrecht Diviffonär in Bergamo; 1850 
erbielt er das Commando der 3. Armee und wurde Gouverneur der Bundesfeſtung 
Mainz; 1851 General der Eavallerie, 1852 Civil- und Militär-Gouverneur von Ungarn, 
fungirte 1853 auch als alter ego des Kaiferd, da Franz Joſeph von dem Banditen⸗ 
dolch verwundet darniederlag. Gegenwärtig iſt der Erzherzog Generalgouverneur von 
Ungarn, Commandant der 3. Armee, commandirender General in Ungarn, Inhaber dei 
Infanterie Regiments Nr. 44 und Chef des Kaif. Auffifchen 5. Wanen-Regiments; im 
höchften Vertrauen des Kaifers behauptet er mit großer Umſicht die bedeutendſte 
Stellung neben dem Throne. Die Energie, die er gegen die Nevolution, die Bravour 
und das Talent, dad er in zwei Feldzügen gezeigt, haben den Erzherzog Albrecht im 
Heere wie im Volke für alle Zeit die höchfte Verehrung gewonnen. 

Aus der Ehe des Erzberzogs Albrecht find bis jetzt zwei Erzherzoginnen her⸗ 
vorgegangen. 

Albrecht, Wilhelm Eduard, Hofrat und Profeffor der Rechte an der Uni- 
verfität zu Leipzig, geboren 1800 zu Elbing, bezog nad der Ausbildung auf bem 
dortigen Gymnaflum 1818 die Univerfität zu Koͤnigsberg und fpäter zu Göttingen, wo 
er dur C. F. Eichhorn's Anregung und Einfluß fich vorzugsweije den germaniftijchen 
Studien widmete und 1822 zum Doctor der Rechte promovirt ward. Im Jahre 1823 
babilitirte er ſich als Privatbocent Des deutſchen Rechts zu Königsberg, wurde daſelbſt 
1827 außerorventlicher und 1829 ordentlicher Profeffor, folgte aber fhon 1830 an 
C. F. Eichhorn's Stelle, welcher ſich 1829 zunächft auf fein Gut Ammern bei Tüubin- 
gen zurüdzog, einem Aufe nach Göttingen. Hier lehrte er bis zum Jahre 1837 deut- 
fches Staats» und Privat Mecht, Kirchen Mecht und deuͤtſche Hechtögefchichte. Don 
diefem öffentlichen Lehramte wurbe er mitteld Töniglichen Meferiptd vom 11. December 
1837 entlaffen, weil er zu den fieben Brofefloren gehörte, welche die Proteftations- 
Schrift gegen die durch das Patent des Königs Ernft Auguft vom 1. November 1837 
angeordnete Aufhebung des Staatögrundgefeped für das Königreich Hannover vom 
26. September 1833 unterzeichnet hatten. Im Jahre 1839 eröffnete Albrecht auf 
der Univerfität Leipzig — im Lectiondverzeichniffe an Der Spike der Privatbocenten 
genannt — wiederum DBorlefungen über dieſelben Disciplinen wie zu Göttingen, 
und wurde fehon 1840 zum ordentlichen Profeffior mit dem Titel Hofrath er 
nannt. Als durch den Bundeöbefchlug vom 10. März 1848 fämmtliche Bunded-Re- 
gierungen eingeladen waren, Männer des allgemeinen Vertrauens, und zwar für jebe 
der flebzehn Stimmen des engern Raths je einen Bevollmächtigten, mit dem Auftrage 
nah Frankfurt a. M. abzuordnen, der Bundedverfammlung und deren Ausfchüflen zur 
Vorbereitung der Reviflon der Bundesverfaſſuug mit gutachtlihem Beirathe an bie 
Hand zu gehen, mählten die zur funfzehnten Gefammtflimme vereinigten Regierungen 
Divenburg, Anhalt und Schwarzburg zum Bertrauensmann Albrecht. Diefe ſiebzehn 
Bertrauendmänner feßten am 5. April 1848 eine eigene Commiffton, beftehend aus 
Albrecht, Baflermann, Dablmann und Jordan (Marburg) nieder, um einen Entwurf 
zu einer neuen Bunbeöverfaffung auszuarbeiten. Der Entwurf, im Weſentlichen ein 
Werl Dahlmann’s, welcher mit dem beftehenden Bundes⸗Staatsrecht entſchieden brach 

















N | 


Albrecht. (Prefefler,) 


: amd nicht bloß vom Stantenbund zum Bundesſtaat, ſondern mit einem fühnen € 
zum Einheitsſtaat fortfchritt, blieb eine Privatarbeit der Siebzehn, denn we 
Bundedtag noch eine der deutſchen Megierungen. hatten ibn zu dem ihrigen | 
um deujelben ald Antrag in die Berfammlung zu bringen und während der Be 
zu derireten. 

Später ward Albrecht von dem eilften Hannoverfhen Wahlbezirk zum 7 
neteu für Die Deutfche National» Berfammlung gewählt. Er ſtimmte in den n 
Sigungen vom 27. — 30. Juni (ſtenographiſcher Bericht Nr. 26 ©. 5763 ge 
Antrag, „bid zur definitiven Begründung einer Regierungsgewalt für Deitfchl« 
proviforifche Gentralgewalt für alle gemeinfamen Angelegenheiten des beutjchen 

zu beftellen”, ebenfo (a. a. O. ©. 594) gegen die Uebertragung einer provi' 
Gentralgewalt an einen Präfldenten, aber (a. a. D. ©. 598) für bie freie W 
Meichöverwefers durch die National » Verfanmlung und deſſen Unverantwo 
(Nr. 27 a. a. ©. ©. 606), fo wie (Nr. 28 a. a. D. ©. 628) für den € 
Johann von Defterseich zum Reichsverweſer. Allein ſchon in der Sigung v 
Auguſt 1848 (ftenogr. Ber. Nr. 62) zeigte, der Bräfldent den Auätritt des Pı 
Albreht aus Leipzig an, welcher fich zur Motivirung „bauptfählich auf f 
ſchwaͤchte Gefundheit und auf feinen Beruf ald afademifcher Lehrer beziehe.“ 

Seitvem bat Albrecht feine Lehrthätigkeit” fortgefegt ohne weitere Unter 
und fi den Beifall feiner Zuhörer immer zu erhalten gewußt. In Eurzen 
Umriffen giebt er in eleganter Form ein lebensvolles Bild der verfchiedenen 
Inftitute und reiht diefe felbft organifch aneinander, Er verfucht nicht, die . 
tief in den Stoff der vorgetragenen Rechtsdisciplinen einzuführen, fie mit g 
Apparat zu überfchütten, feve kleinſte Gontroverfe mit ängfllicher Benauigtei 
handeln — er beabfichtigt nur den Geift der Sache mitzutheilen — ein Ve 
bei dem freilich die nothwendige Hinweiſung auf bie bezüglichen Gefegftellen ı 
Erfahrung der Praris, gefchweige die Namhaftmachung der bedeutenderen Liter 
terbleibt, wie denn auch Albrecht mehr feharfiinnig als gelehrt if. Als pr 
Politiker, ald eigentlicder Staatömann ift er nie aufgetreten, wie frühere Pri 
gleihen Faches an der Georgia Augufle. Die Kraft feiner Ueberzeugung beru 
auf der juriftifchen Deduction, als auf der Hiftorifchen Anfchauung, obgleich 
gern hört, daß man ihn zur biflorifchen Schule zählt. 

Aus feiner fehriftftellerifchen Thatigkeit find nur zmei größere Leiſtungen 
nen: Die Inaugural= Differtation „Gommentatio juris Germanici doctrinam de 
tionibus ad umbrans. Regimonti 1825 et 1827* — und das Buh „Die 
ale Grundlage des älteren deutfchen Sachenrehts. Königsberg, 1828." 

letzteren mit feltenen Talente der biftorifchen Forſchung und der juriſtiſchen D 
zugleich verfaßten Werke entwidelt Albrecht folgende Auffaffung und Lehre. ©o ı 
faltig auch die Bedeutungen find, in welchem da8 Hauptwort Gewere (Be: 
Were) und dad Zeitwort geweren vorfommen, fo weifen doch alle auf e 
meinfame Grundidee zurüd, nämlich auf die des Schuged, der DVertheidigung, 
rung. Vornemlich bat dad Wort Gewere drei Bedeutungen, deren Zufammenh: 
der Grundidee deſſelben jedoch auf den erjten Blick nicht fo klar fein hürfte. 
erfien entjpricht e8 dem Begriff des Beſitzes, in der zmeiten bezeichnet e8 das 2 
niß bedjenigen zu einer Sache, der nicht beſttzt, aber eine dringliche Klage h 
dritte endlich, ift die von Haus und Hof oder dem Inbegriff von Immobilien, 
mand befigt. Die Frage nun, auf welche Weife fich die Bedeutung von Be 
Die Grundidee ded Wortes knüpft, ift fo zu beantworten, Bon den beiden Ge 
Beſitzes, ded inneren (gegen die Sache felbft gefehrten), wonach er die Faͤhigk 
fie zu Schalten und zu walten bat, und des äußeren, welche in der Faͤhigkeit 
die Sache der willkührlichen Einwirkung jedes Dritten zu entziehen, iſt nun bie 

diejenige, auf welche der DBeflg, als folcher, nicht blos Faktum, fondern aud 
iſt; dieſes zeigt fih in der Befugniß des Befigerd, die Einwirkung ande 
Die Sache von dem Ausgange eines Prozefies, in welchem er die Mechte des : 

‚ ten genießt, abhängig zu machen und jeben faktiſchen Angriff durch Gelbſth 

- Hintertweiben. Dieſe äußere Seite des Beſttzes, in ihrer juirſtiſchne Bed 


—4 


6409 Albreiht. (Profeſſor.) 


| war ed nun, die das deutfche Recht bei dem Begriffe des Beſttzes auffaßte, auf die 


» 


fi die Bezeichnung defielben mit dem Worte Gewere gründete. Der Beſther er⸗ 
ſchien nämlich in Folge jener Rechte, im Prozefle den, Beklagten zu machen und bie 
Selbfthülfe anzuwenden als Schüber und Bertheidiger der Sache gegen ge 
richtliche und außergerichtliche Angriffe (die Gewere S. 1—10). Zu den Rechten, die 
mit der Gemere, d. 5. dem faktifchen Beſitzer verbunden find, gehören Schus 
des Richters und daß in der Gewere von Immobilien, zugleih die Gewer: 
an aller fahrenden Habe enthalten ift, die fi in dem Umfreiß der Immo— 
bilien befindet, d. h. der Inhaber der erfteren hat das Recht ſich in Bezug af 
die fahrende Habe fo zu benehmen, als habe er fle in feiner Gewere; die Gewere, 
deffen der fie wirklich befigt, ift gegen jenen wirkungslos. Während es für denjenigen, 





‚der eine Sache aus fremder Gemwere -gewinnen wollte, feinen anderen rechtmäßigen 


Weg gab, ald den der Klage und richterlichen Hülfe, bedurfte der Inhaber von Haus 
und Hof nicht des richterlichen Beiftandes, um einer Sache, die in dem Bellge eines 
Anderen, aber innerhalb der Grenzen feiner Gewere war, fich zu bemächtigen, und in 
diefer eigenmächtigen Apprebenfion an fich lag nicht ein Frevel ober Friedens 
bruch weil er Dadurch nicht eine fremde Gewere verlegte, fondern in der That feine 
eigene nur geltend machte (S. 14—20). Ferner genießet der Innhaber der Gewere 
an Grundftüden in einem Nechtöftreite mit einem Haudgenoflen über eine in den Gren⸗ 
zen der Gewere befindliche Sache dad Vorrecht des Beklagten (bed Beſitzers), welches 
darin beftand, daß er „näher iſt mit feinem ide. die Sache zu behalten, denn ein 
Anderer fie ibm abzugewinnen". (S. 22.) 

Gewere, ald Bezeichnung des Verhaͤltniſſes desjenigen, Der nicht .befit, aber eine 
dDingliche Klage bat, jur iſtiſch Gewere, wird in gewiflen Fällen demjenigen zugefährie 
ben, 1) der früher den Beſitz Hatte, binterbrein aber verlor, nämlich wenn der Def 
wider Willen des Inhabers und ohne Veranlaffung eines richterlichen Spruchs ver 
Ioren geht, und wenn eine unbewegliche Sache zwar mit dem Willen des Beſizers, abe 
nicht in Folge der gerichtlichen Auflaffung oder Inveftitur, fondern durch fimple Tra 
dition an einen Andern gelangt; 2) der weder früher im Bell war, noch burd 
Apprebenfton denfelben erworben hat, nämlich wenn Iemand eine Sache erbt, wen 
fie ihm Durch richterliches Urtheil zuerkannt wird und wenn Jemanden ein 
unbeweglihe Sache auf dem Wege der gerichtlihen Auflaffung, bie be 
fanntlich keine Tradition tft, .alfo den factifchen Beſitz nicht geben Tann, übertragen wird 
(S. 23 u. 24). 

Die ganze Behandlung des Nichtbeflgerd, dem die Gewere zugefchrieben wird, führt, 
wie Albrecht glaubt, nothwendig darauf, daß jene juriftifch von der Gewere, die wir die 
factifche nennen, nicht verſchieden, als Kortfeßung oder Anticipirung derfel- 
ben zu betrachten fei. Diefer Sag will eigentlich nicht fagen, die juriftifche Gerer 
fei eine Fiction des Beſitzes, fondern fie ift in Wahrheit eben das, was der Beſth if, 
nämlich das Recht zur Vertretung der Sache, und in einer anderen Kornt-Der Ausübung 
(S. 26 bis 28). Wenn aljo die juriftifhe Gewere diefelben Wirkungen Wgt, meld: 
oben dem Befige beigelegt find, fo iſt das nicht eigentlich Folge davon, daß wie erſtere 
dem letteren gleich fteht, fondern davon, daß jene Wirkungen eigentlich dem echte zut 
Vertretung der Sache, als einem eigenthbümlihen Begriffe des Diatjchen 
Rechts angehören, und folglich beiden Formen dieſes Rechts zukommer müffen 






(S. 29). Die juriftifche Gewere als folche führt immer eine DinglicheXlag: 


mit fih, und wo jene fehlt, kann nur eine perfönliche Klage ftattfinden (IM. 


löfcht zwar an und für fich niemals, wohl aber wirb fle dadurch unwirkfam gt 
daß der Gegner in dasjenige Berhältnig zur Sache kommt, welches technifch vie zit 
Gewere genannt wird: Diefe nämlich fichert ihn gegen jede dinglie 
Klage, fofern Deren Zweck mit dem Htechte, welches, als causa, der rechten Gewe 
zum Grunde liegt, unvereinbar if. Der Geſichtspunkt alfo, welcher den Zufanmen 
bang zwifchen ber Lehre von der juriflifchen und der rechten Gewere vermittelt, tft der 
daß letztere als ein Inftitut erſcheint, wodurch die Wirkjamkeit der erfleren entwede 
beſchraͤnkt oder gaͤnzlich vernichtet wird (S. 100). Die Gewere, auß ver Die recht 


Die dingliche Klage, welche aus der juriſtiſchen Gewere an Immobilien —* 


46 





642 Albrecht. (Profeſſor.) 


-von ſelbſt folge, Daß es für den Publiciſten Die wichtigſte Aufgabe ſei, dieſen Gegen⸗ 
ſatz zwiſchen dem älteren und neueren Rechte in feiner ganzen Tiefe und Fülle aufzu⸗ 
faſſen. Es genügt, feiner Auffaflung zufolge, dazu nicht, bloß auf die politijchen 
een hinzuweiſen, welche die neuere Zeit im Gegenſatz ber älteren bewegen, da dieſe 
zwar Die Umgeftaltung des Staatsrechtd herbeigeführt haben, aber dic eigentlich jurifti= 
ſche Auffafiung und Conftruction derjelben im Ganzen und feinen Theilen nicht erfeßen. 
Jener Gegenſatz befchränft ſich nicht nur auf Einzelheiten, — dieſes Wort felbft in einem 
weiteren, umfaffendern Sinne genommen — vielmehr beftebt er in nichts geringerem, 
als in einer wefentlich verfchiedenen Grundanficht über die rechtliche Natur des Staats 
überhaupt. Entgegen der durchgängig oder wenigftend vorzugsweife privatrechtlichen 
Barbe des älteren Staatsrechts neunt Albrecht die des neueren eine flaatere.cdht- 
liche im eminenten Sinne des Wortes und hält für die Grumdformel dieſer feiner 
Auffaflung den Sa, den Staat als juriftiiche Perſon zu denfen. Er legt dad Haupt 
gewicht darauf, daß das Verhaͤltniß des Landesherrn zu den Kandesfaflen feiner inne- 
ren juriftifchen Natur nach privatrechtlich war, nicht bloß feinem äußeren Umriſſe 
nach betrachtet darum privatrechtlich erfcheint, weil es unter der Botmäßigfeit einer 
wahren Staatsgewalt (ded Reiches) fland. Die Rechte und Verpflichtungen, welde 
Öffentlichen Zweden dienten, waren nicht-weſentlich gefondert von denen, weldye den 
Privatintereflen gebührten, vielmehr waren es entweder diefelben, oder wenigftens ihnen 
ganz gleichartig; das öffentliche Recht bildete Feine über dem Privatrecht ſtehende be= 
jondere Rechtsſphäre, vielmehr war e8 umgekehrt auf letzteres gebaut, erjchien ald ein 
Adnexum deſſelben. So bilden die Soheitörechte des Landesherrn feine von 
feinen übrigen Rechten getrennte Kategorie, vielmehr find fle, gleich den legttern, 
jeine Privatrechte, werden in Abficht der Vererbung, der Veräußerung gleich Dielen 
behandelt, aus beiden fchöpft auf gleiche Weile das öffentliche, wie das Privatleben 
des Landeöheren jeine Nahrung und Befriedigung, die Laſten und Koſten der Regie- 
rung find ebenfo des Landesheren eigene (Privat) Sache, wie es die Nechte find. 
Und wenn auch durch die Hausgeſetze feit dem Ende des Mittelalter eine juriftifche 
Sonderung in die landesherrlihen Rechte hineingebracht wurde, die in ihrer äußeren 
Geſtalt und felbft in einzelnen inneren Beziehungen, z. B. der Vererbung, berjenigen 
nahe kommt, weldhe auf die Idee der juriftifchen Perfon des Staates gebaut ift, jo 
war jene doch immer noch eine Sonderung nach privatrechtlicden Kategorieen (Fidei⸗ 
commißrechte und gewöhnliche Privatrechte) und kann nur als eine ber merkwürdigſten 
Vorbereitunge ſtufen zur wahrhaft flaatörechtlichen Geftaltung des Gebäudes betradh: 
tet werben. Ebenſo waren die älteren Formen des felbftändigen Antheild von Untertbanen 
an der Ausübung der Landeöhoheit vorzugsweife privatrechtlichen Gepräged, Als ein 
ſprechender Beleg dafür ift die Erjcheinung anzufehen, daß Unterthanen (phyſiſche und 
moralifche Perfonen) einzelne Hoheitörechte als felbftändige, eigenthimliche Rechte zu⸗ 
ſtehen. Aber auch die älteren Landflände erfcheinen ald eine von dem übrigen Volke 
gänzlich gefonderte, abgeichlofiene Corporation, die dem wahren juriftifchen Geſichts⸗ 
punkte nach nur um ihrer felbft willen berechtigt war. Daher benugten ſie ihr Stewer- 
bewilligungsrecht unbedenklich zur Befeſtigung und Erweiterung ihrer eigenen (Corpo⸗ 
rationd- und individuellen) Vorrechte und Breibeiten, daher hatten ſie wenigftene 
urfprünglich und felbft noch fpäterhin in mehreren Ländern — bei Gefeßen und Auf 

‚ lagen, die nicht fie ſelbſt und ihre Schüglinge (Hinterfaflen) betrafen, nicht mitzu⸗ 
fprechen, und wenn fie, wie gar nicht geleugnet werben foll, oft genug für das Im- 
tereſſe des Landes wirkten, jo erklärt fich Diefed ganz ungezwungen daraus, daß jenes 
in vielen allen mit ihrem eigenen zufammen fiel. Auch die paſſive Seite des Un⸗ 
textbanenverhältniffes zeigt die privatrechtliche Farbe darin, daß, flatt einer gleichmaͤßi⸗ 
gen Theilnahme Aller an dem öffentlichen Laſten und Berpflichtungen, die ungleichfie 
auf dad Mannigfaltigfte inbividualifirte Stellung der einzelnen Stände, Klaffen, Orte 
und felbft Individuen in jener Beziehung einen SHauptzug des älteren Rechts⸗ 
zuftandes bildete; der Einzelne bat den Grund jeiner Berpflichtung nicht in dem Be⸗ 
rufe für ein allgemeines zu handeln und zu geben, fondern in dem perjönlichen Rechte 
eines Anderen oder in den inbivinuellen Vortheilen, die er felber dafür geniept, 
zu juchen. 








64 Albreda. Albufera. (Spanien.) 


an einem .2Y, Zoll breiten deögleichen Bande um den Hald, mit einem etwas Eleineren 
vierfpigigen Stern auf der linken Bruft; die Comthure zweiter Klafje daſſelbe Ehren 
zeichen ohne Stern. Das Ritterkreuz von etwas Fleinerem Durchmefler und ohne 
Krone wird links im Knopfloch an einem 11, ZoU breiten Ordensbande befefligt und 
ebenfo das filberne Kleinfreuz. Beſondere Vorrechte find mit diefem Sachſen-Al— 
bertinifhen Hausorden nicht verknüpft. ‘ 

Aldreda. Zur Regelung der Handelöbeziehungen zwifchen Großbritannien und 
Srankreich in Albreda (an der Mündung des Gambiafluffes, im Lande der Mandingo's 
liegend, mit 7000 Einwohnern) und in und um Portendif (unter 180 18° N. Br. 
gelegen, von reichen Gunmimäldern umgeben, nur zur Zeit der Gummi-Ernte bewohnt 
und einer von den Orten an der Weftküfte Afrika’, auf bie, Der Bertrag von 178 
zwijchen Großbritannien und Frankreich den englifchen Gummihandel befchränfte) wurde 
am 7. März 1857 ein Vertrag zwifchen beiden Regierungen gefchlofien und am 
25. d. M. ratifieirt, dahin lautend: 1) Berzichtet England auf ben bisherigen Han⸗ 
delöverfehr von der Mündung des St. Johns-Fluſſes (mündet nördlich des unter 
199 23° N. Br. liegenden Mirif- Caps) bis zur Bai und dem Hafen von Portentil 
inclufive; 2) tritt Freinkreich feine Bactorei in Albreda an England ab, und 3) be 
yilligt England den franzöflfchen LUntertbanen Behufs Handelszwecken ungehinderten 
Zugang zum Gambia und geftattet, daß fich- diefe in Bathurft (eigentlih Bars 
Bathurft oder St. Mary Gambia, Stadt auf der in der Gambia - Mündung liegenden 
feinen Infel St. Mary, mit wichtigem Handel, Hafen, dem Sig ded Gouverneurs 
und 2000 Einw.) und anderen von der britifchen Negierung noch näher zu beftimmen- 
den Orten niederlafien dürfen. 

Albufera. Laͤngs des ganzen Aragonifchen Küſtenlandes, fübwärtd von de 
Ebro - Mündung hinab bis zum Vorgebirge Palos, zieht fich ein flacher, fandiger, un 
fruchtbarer, bier und da fumpfiger Küftenftricy mit ſtehenden Küftenwaflern, flachen ta 
gunen oder Strandfeen, gebildet vom Meeresſande, den die Küftenftrömung bier, mie 
im Aoriatifchen Meerbufen, in den Golfen von Yarent, von Genua, von Lyon u. |. w. 
unablaffig aus der Tiefe gegen die Küfte wirft, und der an den Küften des Wittellän- 
difchen Meeres, auch anderer Meere, eine ftebende Form if. Wie ein folcher Küften- 
firiy in Italien Maremma, an der oceanifchen Seite von Frankreich Landes, Landı 
der Basken, beißt, fo wird er bier an der aragonifchen Küfle des Königreich& Valencia 
Debfa, abgekürzt von Debefa, und, wo Strandfeen find, Albufera, vom arabijden 
Wort Albuhira, d. i. Maritime, und die Mehrzahl Albuhirät, genannt. Diefe Strand 
feen ziehen ſich, bald größeren, bald Fleineren Umfangs, vom Vorgebirge Palos bie 
jenſeits Oröpeſa, und fie find es, welche Eprifl, dem fogenannten nubifchen Geogra⸗ 
phen, Anlaß gaben zu feinem Glima-Albuhirat (Territorium marilimum). Der Boden 
dieſes Strandes ift der Aufenthalt von Kaninchen, die ihre Gänge in den Sandduͤnen 
graben; in den flehenden Waffern ift Fiſchreichthum, auf den Sümpfen viel Waffergeflügel, 
und, wo Menfchenfleiß ihn nutzt, ergiebiger Reisbau; die darüber ſchwebende Atmo 
ſphaͤre iſt Fieber erzeugend, Scharlachfleber bei den Strandfeen von Oropeſa, Murviebre, 
Faulfieber ani Mündungsgebiet des KZucar-Fluffes. Außer dem Mar Menor, dem klei⸗ 
nen Meer, das unmittelbar am Vorgebirge Palos liegt, und darum ſchon zum König: 
reich Murcia gehört, ift der Strandfee, der eine kurze Strede füblich von der Stadt 
Valencia entfernt ift, der größte feines Gleichen, und’ er iſt ed auch, der vorzugsweiſe 
Albufera genannt wird. Seine Ränge beträgt 3 Meilen, und feine Breite im Durd- 
ſchnitt %, Meilen. Eine Dünenkette, vergleichbar mit den Nehrungen der Oſtſeehaffe 
im Königreich Preußen, feheidet ihn vom Meere, mit dem er durch eine fehmale Bün- 
dung in Verbindung fteht. — Während des Unabhängigkeitsfampfes des ſpaniſchen Volke 
fand der Diviflond = General Suchet an der Spitze des frangöfifchen Heeres, welchem 
1811 und 1812 die Aufgabe geworden war, die Känder der Krone Aragon zu unler- 
werfen. Am 28. Juni 1811 eroberte er nad, fünfmaligem Sturm bie befvenmüthigt 
vertheidigte Feftung Tarragona in Gatalonien, was ihm den Marfchallsftab einbrachte; 
und am 9. Januar 1812 nad mehrtägigem Bombardement die Hauptftabt des König‘ 
reichs Valencia, diefe große, ſchoͤne und ſtark bevölferte Stadt, welche als ein Hau 
heerd des fpanifchen Aufftandes galt. Der Herzogstitel von Albufera war bie Beloh⸗ 











ei 





646 Alcala. Alcantara Orden. 


gen wohlthätigen Vicekoͤnige, die Merico gehabt, er farb 22. October 1733. Sein | 
Bruder, Don Joſeph Dominicus de la Eueva, führte den Titel eined Marquis 
von Bedmar und war fpanifcher. Gefandter zu Paris. Im berzoglichen Titel folgten 
ihm nacheinander feine beiden Söhne, zuerſt Don Francesco, Graf von Ledesma 
und Marquis von Cuellar, geb. 1692, welcher Oberftallmeifter war; dann Don 
Pedro Miguel de la Eueva, geb. 1714, geft. 27. October 1764 zu Madrid, er 
war Generallieutenant und Comthur des Calatrava⸗Ordens zu Viborad. Sein Sohn 
Don Alfonfo de la Cueva diente zuerft im Dragoner » Regiment Sagunt; als Ge—⸗ 
neral commandirte er neben dem Marquis de Ta Romana die 8000 Spanier, welde 
1808 die franzöflfchen Fahnen verließen und über Dänemarf nad Spanien zurüd: 
fehrten. Bei dem Unabhängigkeitöfriege gegen die Sranzofen zeichnete er jich jebr aus, 
namentlich bei Mebellin und dann bei Ocafta, wo er eine Divifton führte. Im Jahre 
1810 warf er fid mit 4000 Mann nach Cadirx, nahm Hier Hauptquartier auf der 
Infel Xeon, vertheidigte Cadix über Jahr und Tag ruhmreich gegen die Franzoſen und 
ftand an der Spibe der fpanifchen Centraljunta. 1813 übernahm er eine Miſſion 
nach London, wo er, von den Strapazen des Krieged erichöpft, Furz nad feine 
Ankunft ftarb. 

Das alte Wappen der La Eueva von Albuquerque zeigt einen goldenen Spar 
im vothen Feld und in der filbernen Spike einen grünen Drachen. 

Gegenwärtig führt Don Nicolas Oforio 9 Jaygas, Marquid von Alcanices, 
ſeit 1847 Die herzoglichen Titel von Albuquerque, jo wie die Damit verbundenen grür 
lichen von Ledesma und Guellar. \ 

Alcala, Name mehrerer fpanifcher Städte; Alcala de Henares, Geburtsort des 
Eervantes, 5123 Einwohner, früher berühmte Univerfität, gegründet 1499 durch Ximenes, 
die erfte nach Salamanca, jegt in eine Mitteljchule verwandelt; Reſidenz eines Erzbiſchois. 

Alcalde, Alcade, vom Arab. al kadi, der Richter; Titel, den noch Heut in Sp 
nien gewiſſe örtliche Beamte tragen, welche eine den franzöflfchen Maire ähnliche, doch 
nicht bloß verwaltende, fondern auch richterliche Thätigkeit ausüben. Der Name er—⸗ 
balt duch Zufammenfeßungen verfchiedene Bedeutungen, 3.8. Alcalde de corte iR de 
Oberhofrichter. 

Alcantaras Orden. Die Brüder Don Suero und Don Gomez Fernando Bar: 
riented bauten 1156 eine feſte Burg gegen die Mauren unweit Ciudad Rodrigo, dir 
fie Sanct Julian vom Birnbaum nannten. Zur Vertheidigung derfelben fil 
teten fie einen Nitterbund, der ſich „orden de San Julian de Peral* nannte, ald a 
vom Erzbifchof Odo von Salamanca 1158 eine erite Regel empfangen. Papft Aleran- 
der Il. erhub diefe Ritterbrüderfchaft zu einem geiftlichen Ritterorven und gab ihm bie 
gemäßigte Negel Benedict's, der auch die Mitter von Calatrava folgten und König 
Fernando I. begnadete fie 1177 mit fo großen Freiheiten, daß er zumeilen auch ad 
Stifter des Ordens genannt wird. Die Ritter von St. Julian trugen einen weißen 
- Bappenrod mit fehwarzer Eopuze und ſchwarzem Scapulier. 1213 gab ihnen I 
phons IX. die Stadt Alcantara, die der Orden von Galatrava nicht länger gegen die 
Ungläubigen zu vertheivigen vermochte, Die Nitter von St. Yulian festen ſich fe in 
dem Städtchen, machten es zum Hauptſitz ihres Ordens und hießen ſeitdem erf die 
Nitter von Alcantara. Im Kampf gegen die Mauren erwarb der Orden großen 
Kriegsruhm, aber auch unermeßliche Neichthümer; feine Verfcehmelzung mit dem Orden 
von Galatrava wurde mehrfach verfucht, Eonnte aber nicht zu Stande gebracht werden 
Seit 1441 tragen die Alcantararitter glei denen von Galatrava ftatt der frühen 
Ordenstracht einen weißen Mantel mit einem grünen Lilienfreuz auf der linken Seit. 
1494 vereinigte Ferdinand V. das Großmeiftertfum von Alcantara mit ber Krone 
1540 erhielten die Ritter die Erlaubniß, fich zu verheirathen. Seitdem legten dieſe 
Nitter vier Gelübde ab: der Armuth, der ehelichen Keufchheit, des Gehorfamd und 
der Vertheidigung der Lehre von der unbefledten Empfängnig Marii. Im Wappen 
führt der Orden noch immer den Birnbaum, der an feinen Stifter erinnert; zur Auf 
nahme in den Orden war eine Adels- und Ahnenprobe nöthig, doch verlangte man 
nur vier Ahnen. Bis zur franzöflfchen Occupation 1808 befaß der Orden 37 Com 
thureien mit 53 Städten und Dörfern, Ferdinand VI. bat fich nach feiner Reffitution 





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vorige Jahrhundert hinein allgemein angenommen ward. Und bier muß man geftehen, 
daß, wie hoch auch die mancherlei Fehler und unerweislichen Vorausſetzungen der älte- 
ren Syſteme angefchlagen werden mögen, doch der Schluß der neueren nicht8 weniger 
als ſtichhaltig ift: weil es durch alle bisher befannten Mittel der chemifchen Analyfe 
nicht gelinge, die regulinifchen Metalle zu zerfegen, fte als abfolut untheilbar, als Ele- 
mente, zu betrachten. Die bisher erfahrene Unthunlichkeit der Metallauflöfung ift nod 
feine Unmöglichkeit. Und gerade in der Chemie ift auf neuentdeckten Wegen fchon 
Vieles möglich geworden, wad zuvor unthunlic war. Ja, es giebt mehr ald einen 
ſchwer wiegenden Grund, aus dem die angenommene Unzerlegbarfeit der Metalle von 
vorn herein fehr zweifelhaft erfcheinen muß, wie denn dies auch von den befonnenften 
Meiftern der neueren Chemie offen eingeftanden worden if. So fagt u. U. Ferdi— 
nand Wurzer in feinem Handbuch der Chemie: „Ich geftehe freimüthig, daß ich 
durchaus nicht begreife, wie. man die Möglichkeit der Metallverwandlung beftreiten 
fönne. — — Obſchon wir noch fein Metall in feine Beftandtheile zu zerlegen im 
Stande find, fo ift es dennoch nicht allein möglich, fondern fogar wahrfcheinlich, daß 
man aus anderen Metallen Gold fchon gemacht habe. Konnte nicht der Zufall Ein 
zelne bei ihrem raſtloſen Beftreben und den buntjchedigften Mifchungen, die fie in den 
verfchiedenften Graden ber Temperatur behandelten, begünftigen? Bei den rafchen Fort- 
fchritten der Scheidefunft if fogar vorauszufehen, daß der Zeitpunkt vielleicht nicht ſeht 
entfernt ift, wo dad Goldmachen nicht das Monopol von Einzelnen ift, ſondern bei 
den Chemifern eine allgemein befannte Kunft fein wird. Offenbar wird das eine nid 
wünfchenswertbe Nevolution in der menfchlichen Gefellfchaft hervorbringen: aller Reich⸗ 
tbum an Gold und Silber wird fich in den Händen der Beflter vernichten. Es giebt 
dann feine Reichthümer mehr, als die natürlichen, nämlich die Erzeugniffe des Bo⸗ 
dend u. f. mw.” 

Die Ausficht oder Beſorgniß, daß die Goldverwandlung demnaͤchſt einmal allge 
mein befannt werden und dann weltummälzende Folgen haben werde, möchte indeffen 
für fo lange zurüdtreten dürfen, ald die Kortfchritte der Wiffenfchaft durch eine höher 
Weisheit, als Die der Gelehrten, beftimmt und gelenkt werden. Diefelbe jperielle Bro: 
videnz, welche das Geheimniß, wenn es anderd je gefunden war, bis hierher auf wenige 
Adepten befchränkt bat, würde es auch insfünftig vor Der Deffentlichkeit behüten 
fönnen! — 

Die Geſchichte der Alchemie wird gewöhnlich mit dem graueften Altertum be 
gonnen. Als Erfinder der Metallveredelung galt der fagenhafte ägyptifch - phöniciihe 
Thot, Taaut oder Hermes Trismegiftus. Ihm fihrieb man neben. anderem 
offenbar unterfchobenen Producten die Urquelle der alchemiftifchen Traditionen zu, bie 
berühmte tabula smaragdina, ein in orafelbaftem Style gehaltenes Fragment, dad 
‘wir nur in der lateinifchen Ueberfegung haben, und aus dem man — durch finnreide | 
Deutung — eben fo gut aftronomifche und kosmogoniſche als chemifche Grundfähe 
beraustlauben kann. MUebrigend bat die Alchemie von jenem Hermes ber allgemein 
den Namen „bermetifche Kunft” erhalten. — Die hiftorifchen Beweiſe für die Alchemie 
bei den Aegyptern, Perfern und älteren Griechen find nicht probehaltig. Zwar nennt 
man einzelne Namen, einen Perſer Oſthanes, der unter Zerres gelebt haben foll, 
und vor Allem den berühmten Abderiten Demokritus als foldhe, die die Aufgabe 
der Alchemie gekannt und bereits gelöft hätten; aber eine befonnene Beurtheilung det 
darüber berichtenden Zeugniffe der Alten wird ihnen nur ein fleißiges Yortarbeiten an 
den Anfängen der Chemie, welche ihr Zeitalter Tannte, zugeftehen köͤnnen. Ganz un: 
beftreitbar ift e8 Dagegen, daß fpäteftens im 4. chriftlichen Jahrhundert und zwar In 
der gelehrten Schule zu Alerandrien, einer wahren Univerfität aller Wiffenfchaften der 
Zeit, das Problem der Goldvermanbelung befannt war und mit Eifer verfolgt wurde. 
Ein wieder unter dem Namen Demofritus auftretender (vielleicht pſeudonymer, 
ficherlich aber bald mit dem Abderiten verwechfelter) Schriftfteller, der offenbar dieſem 
Kreife angehörte, eröffnet mit feinem Buche Pocwxd xal wuorxd bie lange Reihe 
wirklich alchemiftifcher Werke. Ihm fchließen fich zunächft chriftliche VBifchäfe, Moͤnche, 
ſelbſt hochberühmte Kirchenlehrer an, wie Synefius von Ptolemais, Zoſimus von 
Ramopolis, Johannes von Damaskus u. U. m., deren Namen wohl geeignet 











—— 





65 Alchemie. 


wurden die Spaniſchen Schulen die Pflanzſtätten der geſammten Europdifchen Wiſſen⸗ 
ſchaft. Bon den Arabijchen Lehrern entnahm man jomohl die Stoffe als die Formen des 
Studiums. Noch gab ed nur eine Univerfalgelehrfamfeit. Ieber hervorragende Mann 
umfaßte die ganze Summe des Wiſſens der Zeit. Daher kommt ed, daß man den 
jelben Männern, die ſich als theologifche und philofophifche Kirchenlehrer berühmt ge 
macht haben,. auch in der Gefchichte der Alchenie begegnet, wie überhaupt alle geiftigen 
Gröpen des Mittelalterd audy der Alchemie ihre Aufmerkſamkeit und einen Theil ihrer 
Kräfte gewidmet haben. Papft Silvefter II, die Scholaftifer Alanus (ab Insulis), 
Albertus Magnus, Thomas v. Aquino, RihaelBortus, Roger Baco, 
Richard von Middleton, Johann Duns Scotus und namentlich Naimund 
Zullus haben durch Schriften und Thaten ihre alchemiftifche Befliffenheit bewieſen 
einige derjelben werden als völlige Meifter der Kunft, ald Adepten, die das Geheimnik 
erlangt, gerühmt. DVergeblich verdammte Papft Johannes XXI. die Alchemie als ein 
loſe betrügliche Kunft in einer befonderen Bulle 1317. Er fol in feinen fpätermn 
Jahren jelbft ein eifriger Kaborant geweien fein. Die Bulle ward bald vergeflen un 
in der Folgezeit, befonderd im 15. Jahrhundert gelangte bie Alchemie gerade zur böchften 
Anerkennung und Ausbreitung. Cie warb auf allen Univerjitäten getrieben, unzer 
trennlich von mebicinifchen und den naturmiflenfchaftlichen Studien; fahrende Alchemiken 
verbreiteten eine Notiz und ein Intereffe ihrer Kunft in alle Schichten des Volkes. 
An den Höfen der Fürſten ward fie unter großen Erwartungen aufgenommen, und von 
gewifjenlofen Herren wenigftend zur Herftellung taufchend nachgeahmter Goldmünzen 
mißbraucht, wie von der berüchtigten Barbara v. Cilly (Kaifer Sigismunds Gemablin) 
und dem fchwachleligen Heinrich VI. von England; während Andere ein ernfteres In 
tereſſe an der Wiflenfchaft nahmen und ſich perfönlich damit aufs eifrigfte befchäftigten, wie 
Markgraf Johann von Brandenburg, zubenannt ver Alchemiſt. Der obengenannte 
König Heinrich von England und fein Nachfolger Eduard IV. ertbeilten wiederholt 
einzelnen angeblichen Adepten und fogar alchemiftiichen Geſellſchaften förmliche Privilegien, 
„Bold zu machen, das Lebenselirix zu verkaufen“ u. |. mw. 

Die wiffenfchaftliche und geiflige Umwälgung, die im 16. Jahrhundert fidh offen 
barte, that dem hohen Ruſe der Alchemie Feinen Abbruch; fie ward bei den Papiſten 
wie bei den Proteflanten — auch Luther hatte fi zu ihren Gunften geäußert — 
mit gleichem Eifer betrieben. Kein Wunder, dag die allgemeine Stimmung von zahl 
loſen felbftbethörten oder gar betrügerifchen Speculanten zu ihrem Vortheil ausgebeutet 
wurde: den ercentriichen Ugrippa von Nettesheim, T 1535, und den markt 
fhreierifchen Baracelius (Theopraftus Bombaftus) von Hohenheim, 7 154l, 
das Urbild aller Eharlatans, kann man füglich zu dieſer Klaſſe zählen; Doch traten 
auch einige fonft weniger befannte Männer auf, die man nach einigen hiftorijch wohl 
bezeugten Leiflungen wenn nicht für Abepten, doch für Beſitzer einer Achten Tinctur 
balten mußte. Damals erhielt nie Alchemie in Deutfchland eine glänzende Reihe fürk- 
licher Gönner und Mitarbeiter: voran Kaifer Rudolph IL, der feinen Hof zu Prag 
zum Sammelplage der Kunſtverwandten aus allen Ländern machte und dadurch ſicher⸗ 
lich öftere Gelegenheiten erhielt, ji von dem Grund “oder Ungrund der Sache u 
überzeugen, der ex bis an fein Ende huldigte. Auch der Kurfürft Auguft von Sachſen 
und feine Gemahlin Anna von Dänemark (beim Volke nur die „Mutter Anne” ge 
nannt), fein Nachfolger Ehriftian, Herzog Friedrich von Würtenberg u. a. ®. 
waren eifrige Alchemiften; der erftere kounte ſich Der Kenntniß wenigftens einer Par 
ticulartinetur rühmen, wie er felbft in einem Briefe an einen italienifcyen Alchemiſten 
jagt: „So weit bin ich nun gefommen, daß ich aus 8 Unzen Silber 3 Unzen gutes 
Gold täglich machen kann." Aber die unmiderleglichften hiftorifchen Beweiſe, daß es 
wirklich Adepten und golderzeugende Tincturen von erflaunlicher Kraft gegeben bat, 
häufen fich feit dem 17. Jahrhundert. Während die wunberliche geheime oder vielleicht 
fogar nicht wirflich vorhandene @efellfchaft der Roſenkreuzer, fpäterhin aber die hoͤch⸗ 
fin Stufen des Freimaurer⸗Ordens, ald die rechten Erben und Beförberer aller gehei⸗ 
men Wiſſenſchaften, beſonders auch der Alchemie, ausgegeben wurden, gab es mehrere 
ſcheu und einfam in der Welt berumirrende Männer, die ſich durch wohlbezeugte ge 
hungene Projectionen ald Befiger des „Steins der Weiſen“ wirklich legitimirt haben. 











 Menbie. 


Godoy, der fpäter auch der Friedensfurſt genannt wurde, den Titel eines Marquis⸗ 
Herzogs. Emanuel Godoy war von guter Familie, die mit dem Geſchlecht der Con⸗ 
quiſtadoren, mit den Cortes, eines Stammes iſt; zu Badajoz 1764 geboren, trat er, 
achtzehn Jahre alt, bei den königlichen Leibwachten ein, bei denen ſchon ſein aͤlterer 
Bruder Don Ludwig ſtand, bei denen ſpaͤter auch der jüngere Bruder Don Diego feine 
Zaufbahn begann. Man fagt, dad Guitarrefpiel, in welchen Don Emanuel Weifter 
war, babe zuerit die Aufmerkſamkeit der Königin auf den jungen Garbe- du» Eorps 
gelenkt. Jedenfalls muß Don Emanuel noch andere Eigenfchaften befeflen haben, als 
die eined Guitarrefpielers, denn wenige Jahre genügten, um ihn vom Keibgarbiften 
zum allmächtigen Premier» Minifter Spaniens zu avaneiren. "Don Emanuel war nidht 
nur der Günftling der Königin, fondern, in noch höherem Grade beinahe, der des 
Königs Carl IV., der bald nicht mehr ohne ihn leben konnte und fpäter an det Tafel 
Napoleon’8 Furz und gut nach Godoy verlangte, der nicht mit eingeladen war und 
nun geholt werden mußte, um den Fatholifchen König zu beruhigen. Zuerft wurde G. 
Lieutenant, zwei Wochen fpäter Hauptmann und Auffeher über die Fünigliche Lotterie, 
eine ſehr einträgliche Stellung; zugleich erhielt er eine reiche Kommende bed Ordens 
von Santiago. Auch für die Familie G. wurde geforgt. Der Vater, ein alter 
Ehrenmann, mußte beinahe gezwungen werben, eine Stelle im Finanz⸗Collegium anzu= 
nehmen. Der ältere Bruder wurde General, der jüngere Marquis, die Schweftern 
wurden verheiratbet, ein vierter Bruder, der geiftlich war, erhielt reiche Pfründen. Die 
Sunft, welche auf diefe bis dahin faft unbekannte Familie regnete, erregte ungeheures 
Auffehen in Spanien, binverte aber &. nicht in feiner weiteren Laufbahn. 1792 
wurde der Staatdrath, Kammerherr und Generallieutenant Don Emanuel Godoyh,' noch 
nicht 27 Jahre alt, zum Marquis und Herzog von Alcudia erhoben. 1793 wurde 
der Herzog von Alcudia Premier-Minifter an Aranda’8 Stelle, und man fann eigentlich 
nicht fagen, daß er fein Amt fchlecht begonnen Hätte; er begriff die Solidarität der 
monardhifchen Intereffen der frangzöftfchen Nevolution gegenüber, er ſchloß mit England, 
Preußen und Oeflerreih dad Bündni von 93 gegen Frankreich, er ließ es an Thaͤ⸗ 
tigkeit nicht fehlen, die fpanifche Armee auf einen achtunggebietenden Fuß zu feßen 
und zur Action zu bringen. Es wäre ungerecht, ihm alle die Jaͤmmerlichkeiten, die 
damald bei der Führung und Verwaltung der fpanifchen Heere vorfamen, aufzubürben ; 
allerdings aber zeigte ſich's bald, daß er der hohen Stellung, auf der er ftand, durch⸗ 
aus nicht gewachſen war. Es fehlten ihm die nöthigen Kenntniffe nicht nur, fondern 
auch der Scharfblid und vor Allem Beitigkeit des Willens und Der Weberzeugung. 
Als der Herzog von Alcudia 1795 feinen König bewogen hatte, dem Bafeler Frieden 
beizutreten, wurde er zu einem Priedendfürften, Principe de la Paz, ernannt, ein Titel, 
der beinahe, und nicht mit Unrecht, den Zorn des Inquiflitiond-Tribunals erregt hätte. 
Im folgenden Jahre ließ ſich der Herzog von Alcudia verleiten, den Alliance = Tractat 
von San Ildefonfo (29. Auguft 1796) mit der franzöflfchen Republik zu fchließen. 
Im Eingang dieſes Tractates wird er ald Grande von Spanien erfter Klaffe mit allen 
feinen Titeln und Würden aufgeführt; man fleht daraus, daß er eigentlich nach allen 
Richtungen hin eingriff und thätig war, denn der Premier-Minifter war nicht nur zu- 
gleich Ober⸗Poſt- und Wegemeifter, fondern auch Protector der Akademie der fehönen 
Künfte, Director des bofmnifchen Gartens, des chemifchen Laboratoriumd und des aſtro⸗ 
nomifchen Obfervatoriumd. Demnach ift eine- gewille Verwirrung in den Staats⸗ 
geichäften wohl ziemlich erklaͤrlich. Der Herzog von Alcudia gerietb feitvem immer 
mehr unter den Einfluß der Sranzofen, die ihm mit dem Einzigen fchnieichelten, was 
den fo Hoch geftiegenen Mann noch reizen konnte, mit der Ausſicht auf eine Souve— 
rainetät. 1797 mußte er dem immer mehr überhand nehmenden Mißtrauen ber Nation 
weichen; er legte das Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten nieder, blieb aber 
nach wie vor der eigentliche Herrfcher im Lande. Ya, im felben Jahre wurde er Der 
Gemahl einer fpanifchen Infantin, der Prinzefiin Maria Thereſia von Bourbon, vie 
aus einer geheimen, aber rechtmäßigen Ehe des Infanten Don Luis, ded Bruders Des 
Königs Earl IV., ſtammte. Diefe Verheirathung ded mächtigen Mannes gab zu der 
Beſchuldigung Der Bigamie gegen ihn Anlaß, die indeffen auf feine Weife zu erweifen 
if. Der Herzog von Alcudia follte naͤmlich ſchon einige Jahre früher ein ſchoͤnes 








654 Aldaniſches Gebirge, 


Herzogin von Sueca.- Ihr ältefter Sohn, Don Adolf Ruspoli, geb. 1822, führt ge 
genwärtig den Titel eined Herzogs von Alcudia. Ihr zweiter Sohn, der andere 
Enkel des Priedensfürften, Don Luis NRuspoli, führt den Titel eines Marquis von 
Boadilla. 

Uebrigens finden ſich in der ſpaniſchen Grandezza noch zwei alte Grafentitel von 
Alcudia, der eine, um 1663 geſchaffen, iſt gegenwärtig im Beſitz des Marquis von Cer⸗ 
ralbo, der andere, 1669, gefchaffen, fteht jeit 1848 dem Don Antonio Montagut, Gra- 
fen von Geftalgar, zu. - 

Aldanisches Gebirge, im norpöftlichen Theil von Aflen. Wer von Jakuzk, an 
der Xena, nach Ochozk, an der Küſte des nach diefer Stadt, oder auch nach Penſchinsk 
genannten Meeres veifen will, bat ein Gebirge zu überfteigen, welches als eine Kort- 
jehung derjenigen Bergketten anzujehen ift, die man unter dem Gefamminamen des Altai- 
Syſtems zu begreifen pflegt, und das weiter gegen Nordoften bin bi an bie Auperfle 
Oſtſpitze des Erdtheils an der Beringöftraße zu ftreichen fcheint. Adolf Erman, dem 
man die erfle, und bis jeßt einzigfte Kenntniß von dieſem Berglande zwifchen Iakyzf 
und Ochozf, durch feine Reife, 1829, verdankt, nennt es das Aldaniſche Gebirge, nach 
dem Fluſſe Aldan, einem vechten Zufttome der Xena, ber eins feiner Hauptthaͤler be⸗ 
waͤſſert. Drei Tagemaͤrſche von Jakuzk, ungefähr 290° über dem Meere, kommt man 
nach Anıgi, einem von Auffen bewohnten, obwohl aus Jurten beftehenden Kirchdorfe am 
Fluſſe Amga, wo man fich dent Gebirge nähert, denn der Boden wird ſchon wellig, 
bügelig und die Bäche fließen in langen, meift von W. nah D. fich erftredenten 
Schluchten, aber es zeigt fich noch Fein anſtehendes Geftein, überall nur eine dicke Dede 
von anfgefchwenmten Lande, die von Jakuzk bis zum Aldanfluffe fich erſtreckt, den man 
bald durch Dichten Lärchenwald, bald durch menfchenlofe Wüftenei über immer welliger 
werdenden Boden am fünften Tage erreicht. Bis dahin bat man Höhen von höchftend 
900’ über der Meeresfläche überftiegen. Steil ift das linke Ufer des breiten Aldan: 
am gegenüberliegenden rechten Ufer begrüßt man, feit Jakuzk zum erften Male, nadıe 
Felbwände. Das Thal Liegt bier ungefähr 700° über dem Meere. Dom Aldan bie 
zur Allach⸗Juna zeigt fid) ein Geftein, das die ältere geologifche Nomenklatur Ueber: 
gangstalf nannte, von der nenern aber ald ein Glied der Grauwadengruppe betrachtet 
wird, überall mit Schichten - Verbrüdungen, gebogenen Schichten und“ Duerfpaltung, 
feine größte Erhebung dicht vor dem Thale der Allach⸗Inna erreihend. Bis dahin find vom 
Alvanflufie ſechs Tagemärfche. Unterwegs gebt eö über die Bjelaja, den weißen Fluß, 
der mit dem Aldan parallel fließt, zwiſchen fteilen Ufern, und feinem Laufe gegen feinen 
Urfprung folgt. Tungufen und akuten mohnen bier in vereinzelten Jurten abwech⸗ 
felnd. Einer dieſer Wohnpläge im Thal der Bjelaja heißt Karnaſtach, gegen. 1900‘ 
über dem Meere. Bon den Bergen, welche Karnaftach umgeben, überragen mehrere bit 
Baumgrenze. Laͤrchen, die bier den Wald ausfchließlich bilden, werden allmählig feltene 
auf den Bergipigen, und verfehwinden an einigen ganz. Einer der Berge heißt bei 
den Tungufen Ulag⸗Tſchan; die Baumgränze fteht an vemfelben 30001 Höhe über dem 
Meere. Bon der Bfelaja, am Urfprung eines ihrer Arme, längs deſſen der Pfad gebt, 
fleigt man fleil aufwaͤrts zu den f. g. Sieben Rüden, die durch Einfenfungen in ein 
zelne Joche getheilt find. Diefe Berge reichen noch um etwas über die Gränze bet 
Lärche, denn die Gipfel find ganz Zahl, die Abhänge aber aufs Dichteſte bewaldet. 
Das von S. W. nah N.O. ftreichende Thal der Allach⸗Juna ift eine, wohl 1 Beil 
breite Spalte, welche dad Gebirge in zwei burchaus gefonderte Hälften trennt. Die 
fleil gegen das Thal abfallenden Sieben Ruͤcken und eine Menge gleich hoher Berg 
gipfel machen die weftliche Wand des großen Thals aus, auf ver öftlichen Seite abet 
erhebt fich eine Mauer viel höherer und entfernterer Gebirgögipfel. Der LZagerplag an 
der Allach⸗Juna ift 2300 ° über dem Meere. In dieſem Thale führt Der Weg auf 
wärts, bis man in Das Thal eines vom rechten Ufer eintretenden Zuflufſes gelangt, 
das die Tungufen Antſcha nennen. Die aus einem dunkeln Thonfchiefer beftehenden 
Wände des Thals find von oben bis unten mit verwitterten Schieferbroden über: 
ſchüttet, das Bett des Fluſſes aber mit Granitgeröllen. Man verfolgt das Thal der 
Antſcha bis zu einem See, aud welchem der Fluß entipringt; die Tungufen nennen 
ihn Tungor; er ift ringsum von hohen Bergen eingefchlofien. Gleich hinter dem 





a 











Aldenhoven. | 655 


Nachtlager am See Tungor bemerkt man zuerſt ein G&eftein, welches nun uns 
unterbrochen bis zur Judoma ſich .eben fo beitändig erhält, wie die Kalkformation 
zwifchen dem Aldan und der Allach⸗Juna; es ift died eine höchſt merkwürdige Grau⸗ 
ware, die oft fo vollfommen fryftallinifches Gefüge annimmt, daß man fie unbedingt 
für ein Eruptivgeftein zu halten geneigt fein fann. Bon nun an nehmen die Berge 
äußerft jchroffe Formen an und find die höchften auf ben Wege nach Ochozk. Bon 
der Jurte Choinja ſteigt man noch eine Zeit lang bergan und jlebt dann unter ſich 
einen rundum gejchlofjfenen Bergkeſſel mit ringsum ſteil ſich erhebenden glatten Waͤnden. 
Der Boden des Keſſelthals ift eine Ebene von etwa Y, Meile Durchmeſſer, bedeckt mit 
völlig ebenen Eife, welches auch mitten im Sommer nicht ſchmilzt. Der Eisfpiegel 
liegt in einer Höhe von 3660 über dem Meere. Er bat feinen Zufammenhang mit 
den umgebenden Bergfpigen, auf denen jogar mitten im Winter, wegen Steilheit der 
Abhänge und SHeftigkeit der Winde, nur fehr dünner Schnee liege. Er verdient alfo 
durchaus nicht den Namen Glätfcher, den man ihm- in Sibirien gegeben bat. Die 
Keflelgeftalt des Thals ſchützt das Eiß gegen Sonnemwärme. Der Jurte Ehoinja gegen- 
über liegt der völlig nadte Rand des Bergkefleld, den man Kapitanskaja Gora nennt. 
yalnja ift der Winteraufenthaft eines tungufifchen Knäſes oder Kapitan’s, wie bie 
Zungufen jeden Obern nennen, und wird von ihnen für den höchfigelegenen der Ge⸗ 
gend gehalten. Daß Geſtein bildet bier einen allmähligen llebergang von dem kryſtal⸗ 
linifchen bis zur entjchiedenften Grauwacke mit fauftgroßen Broden von Granit und 
fohligen Schiefer. Auf dem höchſten Punkte des Weges über Kapitandlaja Bora 
ſteht man 4200 Hoch. Hier finden ſich noch vereinzelte Tärchen, aber die legten. Offen⸗ 
bar fteigen fie aljo bier, untern Einfluß des Küftenklima des Ochozkiſchen oder Lamu⸗ 
tiichen Meeres, höher hinauf, ald am Weſtabhang des Gebirgd bei Karnaſtach. Der 
Gipfel des Berges, von bier ganz kahl, erhebt fich noch 200° höher. Aeußerſt auf: 
fallend ift die Anficht der umgebenden Berge vom Kapitansfaja aus: ſchroffe Abhänge, 
nadt und fat ſchneelos, und zwijchen den Bergen Schluchten, die Eeinen Waſſern zum 
hal dienen, fondern meift gefchloffen find, wie die von Choinja. Die Jurte von 
Judoma, im Flußthale diefed Namens, Tiegt 2910° body. Nur 60° mehr erhebt ſich 
die Jurte Katanda auf der Waſſerſcheide zwiſchen den Flüſſen Judoma und Ochota. 
Hinter dieſer Jurte trennt eine Hochebene die allmählich flacher gewordenen Grau⸗ 
wadensBerge von einer andern im Oſten fi erhebenden Berggruppe, die fteil und 
mit felfigen Abhängen aus der Ebene auffteigt. Der Zufluß zur Ochota, welchen bie 
Tunguſen Katanda nennen, dringt durch eine Spalte in diefer Gruppe, die bis Urazki 
Müp, ungefähr 8 Meilen vor Ochozk, aus Porphyr befteht, fleife Klippen bildend. 
Dod) erreichen Die Berge niemald die Höhe des Kapitansberges. In dieſem Porphyr⸗ 
rand des Gebirges liegt dad ganze Thal der Ochota, wie die Flußgerölle beweijen, 
die zu ganzen Hügeln bei Ochozk abgelagert find; denn der, nach gewöhnlicher Art 
aller Borphyrberge, fteil und fchnell in jähen Kelfenwänden gegen die Küftenebene ab- 
fallende Halbkreis, welcher Ochozk umgiebt, entjendet mit ſtrömendem Laufe die Ochota 
von N. W. nah SD., und den Kudtui von ND. nah SW. Bei Angilan, 
1460 hoch, ift die legte Rennthierweide gegen Ochozf zu. Aufgehäufte Kieshügel 
zeugen in der Nähe von Ochozk von einer früheren Erſtreckung des Meered landein⸗ 
wärts. Der Marafan, an deſſen ſüdweſtlichem Fuße die Stadt Ochozk liegt, ift eine, 
das Meer mit fteilem Belfenabfall erreichende Fortfegung diefer Porphyrberge, welche 
die dritte und letzte Kette des Aldaniſchen Bergzuges ausmachen, dem man eine Laͤn⸗ 
genausdehnung von 90 d. Meilen auf der Streichungslinie von S. S. W. nah NND. 
beilegt. Die Kette ſcheint zwei Klima⸗Regionen zu ſcheiden, welche mehrfach in meteo⸗ 
rologiſcher Beziehung von einander abweichen: im Weſten der ewig gefrorne Boden 
von Jakuzk aus im ganzen mittleren und untern Lenathal, am Oſtabhange des Ge⸗ 
birgs das ſanfte Klima der lamutiſchen Meeresküſte. Daß auch andere Eruptivgefteine, 
wie Granit und Syenit, vorfommen, das beweifen die Gerölle. 

Aldenhoven, bei Jülich im preußiſchen Regierungsbezirk Aachen, bekannt durch 
"den Sieg, welchen bier am 1. März 1793 die Oeſterreicher unter dem Prinzen Coburg 
gegen die Franzoſen gewonnen. Erzherzog Karl eumandiite bei diefer Gelegenheit bie 
Avantgarde. 





656 Alderman. Aldinen. 


Alderman (Aeltermann), ift in der vornormannifchen Zeit in England der Ge⸗ 
meindevorfteher, als folcher Mitglied der Landesverſammlung und in Kriege auch wohl An- 
führer der Waffenfähigen feines Bezirks. Heut ift der A. in England ein Communal- 
beamter. Ein Theil der Gemeinderäthe' (Town Councillors), die zu einem Drittel alle 
zwei Jahre von der Bürgerfchaft. neu gewählt werden, führt den Ehrentitel A., doch 
ohne befondere Vorrechte, außer einer fechöjährigen Amtsdauer, einer Bertretung dei 
(jährlich von Gemeinderathe neu gewählten) Mayors in gemwiffen Fällen und einer 
Aufficht über Die Gemeinderathswahlen. Die Aldermen ftellen alio dad ftetige Element 
in ber Gemeindeverfaffung bar; doch ift nicht zu verfennen, daß im neuerer Zeit bie | 
Bedeutung ded U. verringert worden ift, nämlich Durch die Municipalreforu von 1835, 
welche zweihundert Städten eine gleichartige Verfaffung gab und nur der Hauptſtadt 
ihre altertbümlichen Einrichtungen lief. Bis dahin hatten die A. einen großen Einfluß | 
auf den Gemeinderat ausgeübt, und ed war wohl vorgefommen, daß fte felbft den 
Seneinderath wählten. . Ein liberales englifches Geſchichtswerk (Gefchichte Englands 
während des breißigjührigen Friedens, 1816 — 1846, von Harriet Martineau. Bo. l, 
©. 38, deutfche Ueberſetzung von Bergius) jagt von dieſer neuen Stellung der Ale 
men: „Dad Amt der Alpermen ift nach der neuen Acte, wie biefelbe von den Xorbt 
geformt wurde, etwas anomal, mehr, wie es fcheint, in Folge einer Hinneigung zu 
alten Namen und Formen, als von einer Elaren Einflcht davon, was die Aldermen zu 
thun haben. Dadurch, daß fie ſechs Jahr im Amt bleiben, und jedes britte Jahr zur 
Hälfte ausjcheiden, während fie einen Drittheil des ganzen Rathes ausmachen, if die 
Beflimnung, daß der Rath durch neue Mitglieder zu einem Drittheil jährlich ergänzt 
werden fol, umgefloßen. Sie find wenig mehr ald Raͤthe, welche den anderen vor 
gehen und nah Ablauf von ſechs, anftatt drei Jahren, abjegbar find.“ Allerdings but 
dad Buch Recht, daß Faun mehr ald der Namen der alten X. in der neuen Ber 
faflung erbalten ift, aber es ift ein Namen, an den ſich manche heitere und humo— 
riftifche, Erinnerungen des Volkes knüpfen, wie denn ſchon Shafefpeare mit dem Bilk 
der U. gern den Begsiff ungetrübter Behaglichkeit, wenn auch nicht. gerade große 
Seelenfräfte verbindet. Die Beamten der Stabteorporationen und ihre Wähler, welche 
- bi8 1835 in den verfchiedenen Orten auffallend verfchiedene Titel geführt hatten, wer 
den feitvem allenthalben „Mayor, Aldermen and Burgesses* genannt. S. Aeltermanı. 

Aldinen (Aldinae, editiones Aldinae) heißen in ber Kiterargefchichte Die von be 
Familie Manucci (Manutius) zu Venedig in dem Zeitraume von beinahe 100 Jahren (von 
1494 bis nach 1590) herausgegebenen Drude, und zwar nad) den Vornamen Aldo, den 
der ältefte ſowohl al8 der dritte der Typographen aus jener Familie gemeinfan führten, 
‚während der mittlere, Paul, in feinen Publicationen fletd die Anfangsbuchflaben A, I. 
d. i. Aldi Nlius, feinem Namen nachſetzte. Die Druckwerke der berühmten Offizin, ein 
ein Hauptaugenmerk aller Bibliophilen, im Ganzen 908 an der Zahl (vgl. das Va— 
zeichniß der ächten Aldinen bei Ebert im Anhange zum erften Bande feines „2iblie 
graphifchen Lerifond", S. 104663), unterfheiden fich nach den drei Typographea 
wie nah dem Grade des Werthes und der Seltenheit. Dem Inhalte nach gehören 
fie vorzugöweife der claſſiſchen Philologie und der neueren Italienifchen Literatur an. 
Correctheit und Schönheit des Druckes auf ſtarkem und feinem Papier zeichnet namen 
lich die Ausgaben des ältern Aldus und des Paulus Manutius, weniger fchon bie 
ded jüngeren Aldus aud. Aldus Pius Manutiud (geb. um 1477, gef. im 
April 1515), deſſen bewunderungsmwürbiger Thätigkeit die Offizin ihren Ruf und ihr 
fefte Begründung verbankte, ift überhaupt für die Gefchichte der Typographie von hoher 
Bedeutung. Er war der Erſte, welcher ſchoͤne und gleichmäßige griechifche Typen in 
9 verfchiedenen Arten herftellte und auch bei der Eleinften Gattung derſelben Zierlickeit 
mit großer Schärfe und. Deutlichkeit zu verbinden verftand, wie dieſes u. A. feine Aut: 
gabe des Ariftotelifchen Commentatord Ammonius vom Sabre 1503 beweiſt. Auch 
verbefferte er die Antiqua und wandte zuerft die fog. italienifche Gurftvfchrift, eine Et⸗ 
findung des Bolognefer Stempelfchneivers Francesco, an. Zu den lateinifchen Werken 
benußte er 14 Tppengattungen. Ban fchreibt ihm -ferner die Vervollkommnung ber 
Interpunction durch Einführung des Colons und Semicolons zu. So viel über dad 
Aeußere feiner umfaffenden Thätigkeit; was den Inhalt der im Zeitrgume von 20 Jahren 








* 


ti 





658 Aldobrandini. Alemannen. 


fallen in die Jahre 1494— 1502. Im Ganzen baben nur einige wenige Werke darunter 


Holzſchnitte; viele und vortreffliche weiſt nur die Hypnerotomachia Poliphili (1499) 
auf, einige fchöne Abbildungen die Ausgabe des Caeſar vom Jahre 1559, des Dante 
vom Jahre 1515, der Anhang zu G. Valla, de expetendis et fugiendis rebus opus 


(1501) u. e. a. Die reichhaltigfte Sammlung von Albinen ift im Beflge des Groß⸗ 


herzogd von Toscana, zu Florenz. Neuerdingd bat der Buchhändler Renouard zu 
Paris die Ausgaben faft vollftändig gefammelt und ald Frucht diefer Bemühungen bie 
Annales de l’imprimerie des Aldes (3. Ausg. 1834 in 1 Bande) publicirt. Litera⸗ 
rifch bibliographiſche Nachweife und Verzeichniſſe der Aldinen finnet man außerdem kei 
Panzer im 3. Bande feiner Annales typographici und in Hain's Repertorium 
bibliographicum (4 .Bde., Stuttg. u. Tüb., 1826—38). Viele feltene Ausgaben 
giebt ein Katalog der Triefter antiquarifchen Buchhandlung von Colombo Even (1858) 
an. Iw der im April und Mai 1858 zu Köln verfleigerten bebeutenden Bibliothek 
des verflorbenen Frhrn. von Coels v. d. Brügghen zu Aachen befanden ſich 140 Aldinen, 
darunter viele hoͤchſt ſeltene Exemplare. 

Aldobrandini, ein altes florentiniſches, jetzt ausgeſtorbenes Popolanengeſchlecht. 
Der legte Fürft U. war Giovanni George, der die herzoglichen Titel von Carpi⸗ 
netti und Roſſano in Neapel führte. Die bedeutenden Güter, fo wie die Titel fielen 
1681 an dad Haus Borghefe, deflen zweiter Sohn feitdem Fürſt Aldobrandini 
beißt. Gegenwärtig führt der Prinz Camillo Borgheſe den Titel eines Fuürſten Aldo⸗ 
brandint, belanntlih war berfelbe vom 10. März bis zum 3. Mai 1848 in flinmifcher 
Zeit päpftlicher Kriegdminifter.. 

Das Stammmappen der N. zeigt einen golbenen rechten Schrägbalfen im blauen 
Felde, der von ſechs goldenen Sternen begleitet ift. 

Aldobrendiniiche Hochzeit, ein Hauptgemälde aus der beifexen römifchen Zeit. 
Es murde in dem. ehemaligen Garten des Mäcenas auf dem esquiliniſchen Hügel, 16606, 
gefunden, kam zuerft in den Bells des Fürften Aldobrandini und ift jet im vatifani- 
‚schen Mufeum. Es ift ein Wandgemälde, das mit Maflerfarben leicht und dünn mit 
feinem Sinne fir Harmonie und Bedeutung der Karben gemalt if. An fünftlerifchem 
Werthe Tann e8 den beſten Erzeugnifien der neueren Kunft an die Seite geſetzt werben 
und läßt ahnen, daß die Malerei der Alten auf keiner geringeren Stufe ftand, als die 
Seulptur und Architektur derſelben. Das Bild vereint in der Witte die Braut im 
Brautgemach mit der Zurichtung zum Babe in einem linken Nebenzimmer und ber 
Vorbereitung zum Hymenaͤos in einem rechten Nebenzimmer, wo ſich auch der fehn- 
fühdtig harrende Bräutigam befindet. Die verfchiedenen Zimmer find nur leife durch 
die veränderte PBerfpective der Hinterwand angedeutet. Die halb entkleivete Braut figt 
nah D. Muller's Deutung mit der verhüllten Aphrodite, die ſie überredet, auf dem 
Hochzeitbette, zur Seite flieht Charis, Die fle falben wild. Winfelmann erklärt dad 
Gemäbe für Die Hochzeit ves Peleus und der Thetid, Biondi für die von Manlius 
und Julia, Böttiger für eine allegorifch- mythiſche Compofttion. Vielleicht iſt es auch 
nur eine Darftellung der Gochzeitgebräucdhe, alfo ein eigentliched Genrebild. Wem 
manche Kunftfritifer das Bild für eine Nachahmung Echion’s halten, der im 4. Yabr: 
hundert v. Chr. lebte und Durch Darftellung Eeufcher Iungfräulichkeit berühmt war, fo 
müfjen fle vorausſetzen, daß die Zeitgenofien des Fchion eigenthümliche Begriffe von 
letzterer Eigenſchaft haben, um Echion's keuſche Manier in der aldobrandiniſchen Hoch⸗ 
zeit wiederzufinden. Eine gelungene Nachbildung befindet ſich im Muſeum zu Berlin. 

Aldringer, ſ. Clary. 

Alemannen auch Alamannen: über den Urfprung dieſes Namens eined deutſchen 
Erobererſtammes, dem zulegt Die Gauen des Oberrheind zufielen, bat man fich noch nicht 
einigen können. Allemannen fchrieb man biöher gewöhnlich, weil man in dem Namen 
„allerlei Männer, ein Maͤnnerbund“ den Umftand ausgebrüdt fand, Daß dies Volk auf 
einer Bereinigung von allerlei Stämmen hervorgegangen iſt, Die ohne eine georbnete 
politifche Verbindung nur durch Das gemeinfame Intereffe ihrer Häuptlinge — (reguli. 
subreguli, von den Nömern genannt) — nad) dem Süden aufbrachen. Jegt ift es 
üblicher, Alemannen zu fchreiben, ohne daß man darüber gewiß if, ob das Al eine Ber- 
ftärfungsftlbe ift, fo daß der Name fo viel ald Ur- Männer, Kraft» Männer bebektet, 











66. Alemannen. 


hat ſich mit der Zeit ſo geſtaltet, daß die Urner Alpen Rhätien und Alemannien ſchie⸗ 
den. Das erobernde Vorſchreiten des Alemanniſchen gegen das Romanenthum in der 
Schweiz dauerte bis in's 15. Jahrhundert. Dem romaniſchen und burgundiſchen Idiom 
gegenüber war das alemanniſche ſtark, dem fraͤnkiſchen und ſchwaͤbiſchen Dialekt gegen- 
über ſchwach. 

Die Art und der Charakter, mit denen die Alemannen in die Geſchichte traten, 

iſt ihnen auch ſpäter bis in die neueſte Zeit geblieben. 
„Imn Angriffskriege iſt der Alemanne immer unglücklich geweſen, und es fehlte ihm 
für denſelben das Geſchick und die Brauchbarkeit des Rheinfranken. Dagegen hat er 
in der Vertheidigung feſter Plaͤtze, ſo wie im Defenſivkriege immer die höchſte Bravour 
an den Tag gelegt; wir erinnern z. B. nur an die Schlachten bei Moorgarten, Sem⸗ 
pach, Murten, Granſon. 

Aus den-Dynaſtieen der Alemannen iſt nur eine hervorgegangen, die im Mittel⸗ 
alter und noch bis zur neueften Zeit ausgezeichnete Feldherrntalente lieferte, — die 
Habsburger (Rudolph, Albreht, Leopold, Erzherzog Karl). In dieſer Dynaftie hat 
fih der eigenthümliche Charakter des ganzen Volksſtammes, den die Anbänglichfeit an 
die Heimath und die Treue zu feinem Fürſten und zur Verfaflung auszeichnet, ale 
eonfervative Kraft und Standhaftigkeit in der Vertheidigung der erworbenen und er= 
erbten echte dargeftellt. 

- Sowohl in der Anhänglichkeit der Alemannen an die hergebrachten Inftitutionen 
und an die Ueberlieferung, — (einer Anhänglichkeit, die fich in der Treue von Brei- 
ſach und Freiburg während des Mittelalterd und im 30jährigen Kriege zu dem Hauſe 
Habsburg bewährt und noch jept in Freiburg und in einzelnen Theilen der Schweiz 
erhalten bat,) — aber auch in ihrem tiefen und friedlichen Gemüth ift ihre Religiofität 
Begründet. Zeugen verfelben find die berühmten Prediger Alemanniend, Sujo von Eon- 
ſtanz, Bertold aus dem Breisgau, denen oft 10 bi8 20 Taufend Zuhörer folgten. 
Während des Streited zwifchen Gregor VII. und dem Kaifer Heinrich hat Aleman- 
nien fih in der Vertheidigung des päpftliden Stuhles hervorgethan. Die Klöfter 
Schaffhauſen, Reichenau, St. Blaften, Peteröhaufen, Murbach, Hirfau und die Dom- 
ſchule von Conſtanz haben die bedeutendſten Schriftſteller gegen die Heinricianer 
geliefert. 

Die ſpaͤtere kirchliche Legende hat über die Bekehrung der Alemannen zum 
Chriſtenthum irethümliche Anfichten verbreitet. Schon durch die Roͤmer und Gelten, 
zwifchen 280-408, waren die Alemannen mit dem Chriftentbum befannt geworben; 
noch mehr war dies der Fall auf ihrem Streifzug durch Gallien. Die unter den 
Alemannen wohnenden Eelten, Romanen und Mifchvölfer hatten bereits das Chriften- 
thum angenommen; bei der Verfolgung unter Diocletian (305) gab ed in Conſtanz 
eine zahlreiche chriftlicde Gemeinde; die Edicte des Theodoſtus gegen den heidnifchen 
Eultus am Ende ded 4. Jahrhundertd wurden in dem Lande des Öberrheind voll 
zogen; nur fland das Ehriftenthum außerhalb der Berührung mit dem Staat, da die 
berifchende Klaffe, die der Alemannen, beidnifch war. Im Laufe des 6. Jahrhunderts 
haben jedoch auch diefe allmählich den Ehriftenglauben angenommen, ohne daß es zu 
ihrer Belehrung der irifchen Mifftonäre bedurfte. Dieſe Lebteren, wie Fridolin, in 
den Jahren 526—536 Stifter des Klofters Säfingen, nad ihm Gallus, Gründer von 
St. Ballm, Offo, im Jahre 620 Stifter des Klofters Schüttern, waren allerdings 
in Alemannien fehr thätig; fie halfen dem Prieftermangel ab und gründeten die Klöfter, 
die für die Eultur des Landes äußerft wichtig wurden. Ihre Lebensbefchreibungen find 
jenoch ohne geſchichtlichen Werth, exft im 12. Sahrhundert entftanden und die Wieder- 
bolung eines ſtehenden Legendentypus. 

Nur fehr langfam vermochten ſich die Alemannen aus dem Verfall ihrer natio⸗ 
nalen Kraft zu erholen. Die Folgen der Niederlage von 496 ſtellten ſich im Laufe 
des 6. JIahrhundertd ein; gezwungene Bundesgenoffen der Franken, waren die Ale 
mannen ber Uebermacht dieſes Stammes preißgegeben und hörten fle auf, einen eignen 
nationalen Staat zu bilden; unter Pipin und Karl dem Großen verloren ſie auch ihre 
Serzoge, die zulegt nur eine Titularwürbe befaßen, und ward ihr Land von frankiſchen 
Gaugrafen und Send⸗,und Kammerboten verwaltet. 


* 








Hembert. 


Bon 917 — 1080 Hatte Alemannien wieder Herzoge; von dieſen, deren fi 
auf einander folgten, waren aber nur drei, die wirflich dem einheimifchen Ade 
der Baar und Mheinfelden angehörten. Viele regierten nur furze Zeit oder 
Bormundfchaft, oder waren lange Zeit außerhalb Landes zu Felde; Die einbein 
Grafen und Dynaften waren zu mächtig, um eine ftarfe herzogliche Gewalt auffe 
zu laflen; faft immer aus Fremden beftehend, ohne Allodialgüter und ohne PB 
rität im Lande, Eonnten die Herzoge Feine dauernde Organifation gründen. Die 
wiegende Stellung der einheimifchen Dynaftieen der Habsburger, Fürftenberg, 2 
Württemberg, und die Uebermacht, die dad fchwähifche Herzogthum unter den “ 
flaufen gewann, machten dem alemannifchen Herzogthum ein Ende. 

Nachdem Alemannien feine ‚politifche Selbfiftändigfeit verloren Hatte und g 
theild in das Herzogthum Schwaben aufgegangen war, bat es fich durch feine ( 
und Bündniffe, dur Handel und Induftrie feine Bedeutung für Deutfchland ge 
Sein Handel ging hauptſaͤchlich nach Italien, über den Brenner nach Venedig, w 
Fontego dei Tedeschi (Tudjladen), dad große alemannische Kaufhaus, war, uni 
Chiavenna nah Mailand, nördlich Dagegen den Rhein hinunter, und nah Nürn] 

Doch auch in den Städten gab ſich die Unfähigkeit des alemannifchen ı 
med zu einer umfafjenden politifchen Production zu erkennen. Ihre Neigung zu 
föderationen führte nur zu einer Gruppe von verfchiedenen Bündniffen; in der © 
machte fich die Eidgenoflenfchaft als ein felbftftänpiger Cryſtalliſationspunkt gu 
in den Jahren 1329 u. 1347 fchloffen Straßburg, Bafel, Freiburg, Zürich, Bern, Solo 
Conſtanz, Lindau, Vieberlingen und die Eidgenoffen einen Bund. Auf dem Sti 
zu Augsburg (1331) näherten fih den alemannifchen Städten Die ſchwaͤbiſchen € 
bis zum Schluß des 14. Jahrhunderts erhielt aber der ſchwaͤbiſche Stäbtebun 
Uebergewicht, und neben ihm beftanden die Bündniſſe der Seeflädte, Die vier 
Rädte am Rhein nur als Fleinere Conföderationen. Der Macht des fchwä 
Bundes ift es auch zuzufchreiben, daß die alemannifchen Städte im Norden des 2 
ſee's nicht ihrer Neigung folgen durften, die ihnen im 14. und 15. Jahrhunde 
Anschluß an die Eidgenofjenfchaft wünfchenswertb machte — einer Neigung, ' 
jenen Gegenden auch jegt noch nicht ganz ausgeftorben iſt. 

Noch zuleßt, ehe die alemannifchen Städte durch die Auffindung des Ge 
nah Oſtindien und durch die Entdeckung Amerika's ihre Bedeutung für den 
bandel verloren, erwarben fie ſich durch die Berbreitung der Buchdruderfunft 
romanijchen Ländern ein großes Verdienſt. Die erſten Gründer von Buchbrui 
außerhalb Dentfchlands waren faft fümmtlich Alemannen, fo Heinrich Alding 
d’Alemannia) in Meſſina 1473, Leonard, Achates und Friedrich von Bafel in 2 
1472, Briedrih Biel in Burgos 1485, Martin Crank von Freiburg im ®., | 
von Gonftanz in Paris 1470, Ulrich Hahn (Gallus) in Rom 1467, Johann € 
in Barcelona 1468 u. f. w. 'u. f. w. 

Dem Anfehen, welched- die Alemannen durch ihren Handel und Verkel 
durch ihre Verbreitung der Culturmittel bei den romaniſchen Völkern gewannen, 
fie die Ehre zu verdamfen, daß der romanische Name für Deutichland ihrem Sta 
namen nachgebildet if. Alles deutfche war für die Romanen alemannifch. 

Alembert (Sean Te Rond d’), berühmt als Mathematiker, jedoch namhaf 
Mitherausgeber der franzöftfchen Encyklopädie und als Oberhaupt der parifer Au 
vor der Nevolution. Seine Mutter war Claudine Alerandrine Guerin de : 
eine Schwefter des Abbe Tenein, der zulegt als Cardinal und Erzbifchof von 
farb. Sie war Nonne in dem Klofter zu Montfleurg bei Grenoble gewefen, 
aber dad Klofter verlaffen und e8 dahin zu bringen gewußt, daß fle von ihr 
lübden frei gefprochen wurde, worauf fle in Außerft Iodern Verhäͤltniſſen zu 
lebte. Bon ihren Liebhabern wird meiftend der Dichter Destouches als 
d'Alemberts bezeichnet. Geboren am 16. November 1717 zu Paris, ward d'Al 
von feiner Mutter ausgeſetzt. Man fand ihn früh Morgens am 17. November ı 
Schwelle des Dratoire. Der Polizeicommiffar, der das Kind aufbob, fand 
ſchwach, Daß er es nicht ind Findelhaus ſchickte, fondern bei einer Handwer 
aufziehen Tief. Nach anderen Berichten hätten die Väter des Oratoire den verl 


Ed 





62 . “ Alembert. 


Findling aufgenommen und für ſeine Erziehung Sorge getragen. Durch ſeine Werke 
erregte d'Alembert ſchon frühzeitig Aufſehen; ſeit dem 12. Jahre ind College Mazarin 
aufgenommen, entwickelte er ſich ſehr ſchnell; nachdem er ſich der Rechtswiſſenſchaft und 
dann auch der Medizin gewidmet hatte, richtete er fein Studium faſt ausſchließlich auf 
die Mathematik, bis er zulegt als Akademiker ſich auch als reiner Literator einen Namen 
machte. Doch behaupten feine Gegner, die Mathematiker hätten ihn eigentlih nur | 
als Literator gerühmt, während die Literatoren auf ihn ſtolz geweſen wären, weil er 
als Mathematiker und Mann der eracten Wiflenfchaften ihrem Bunde Anfehn gebe 
Indeflen fleht dad Factum feft, daß die von ihm der Akademie der Wiflenfchaften über 
reichten beiden Abhandlungen über die Bewegung fefler Körper in einer Flüſſtigkeit un 
"über die Integralrechnung verfelben fo bedeutend fchienen,, daß fte ihm in feinem 24. 
Jahre 1741 zu ihrem Mitgliede wählte. Seine „Meflerionen über die Urſache 
der Winde“ (Paris 1747) verfchaffte ihm den von der Berliner Alabemie aut 
gefebten Preis und darauf die Ehre der Mitglievfchaft in derſelben. Seine 
matbhematifchen Abhandlungen find in der Sammlung von 8 Bänden zu Paris von 
1761— 80 erſchienen. Sowohl fein Drang nach practifchem Einfluß und nad He 
ſchaft, ald auch ein univerfelles theoretiſches Bedürfniß, ließen ihn in den mathemat: 
fhen Wiflenfchaften Feine dauernde Befriedigung gewinnen. Er mar bierin der richtig 
Ausdruck des damaligen franzöfifchen Geiftes, der ohne fchöpferifche Kraft in einer be 
ſtimmten Kunft oder Wiffenfchaft mur in Allgemeinheiten lebte, an venfelben das Br 
flehende in Kirche, Staat und im gefellichaftliden Leben maß, mit Hülfe dieſer A 
gemeinheiten die beſtehenden Ordnungen verurtheilte und auf dieſe oberflächlicye Uni- 
verfalität feine Weltherrichaft gründen wollte. In Verbindung mit Diderot und unta 
dem Batronat Voltaire’3 gründete d'Alembert die „Encyklopaͤdie“; er felbft ſchrieb die 
Vorrede zu diefem feit 1750 erfcheinenden Rieſenwerke, die feinen Auf als Xiterator be⸗ 
gründete. Die Kämpfe, in die ihn das große Unternehmen mit Geiftlichleit und 
Staatöregierung verwidelte, gaben ihm zu mehreren Abhandlungen, z. B. über die 
„gens de lettres“, über den Styl und über die Kunft des Ueberfegens Anlaß, in denen 
die Literatoren die Präcifion, Klarheit und exacte Schärfe bewunderten, die als bat 
Kennzeichen aller feiner Arbeiten galten. Namentlich diefen legteren Arbeiten verdanfı: 
er feine Aufnahme in die Academie francaise, deren Secretär er 1772 warb. Fried 
rih II., mit dem er in einem vertrauten Briefmechfel fland und der ihn megen feint 
perfönlich ehrenhaften Haltung beſonders achtete, Iub ihn zu wiederholten Malen ein, 
fih in Berlin nieverzulafien und fi den Verfolgungen und Zurüdfegungen zu mr 
ziehen, die er in Frankreich wegen der Enchklopädie erfuhr; Katharina II. trug ihm 
die Erziehung ihres Sohnes Alerander an; er zog es aber vor, als akademiſches 
Haupt in Barid zu bleiben und feinen anhaltenden Bemühungen ift e8 beſonders zu 
zufchreiben, daß die Akademie allmählich faft allein von den Aufklaͤrern, den Delone 
miften und den Gegnern des Beftehenden eingenommen wurde. Er flarb am 29. Cr 
tober 1783. Condorcet, der ihm fein „Eloge“ widmete, fland und wachte an jer 
nem Sterbebette und forgte dafür, daß ihm kein Geifllicher nahen durfte. Bor 
fiht und berechnete Zurüdhaltung, dabei aber unermüblicde Ausdauer in de 
Verfolgung feines Dperationspland und Müdfjichtslofigkeit im Angriff Hatten ihn 
unter feinen Genoſſen in Frankreich eine hervorragende Stellung verſchafft. Er wat 
eines der angefehenften Häupter jener im vorigen Jahrhundert durch ganz Europa 
weit verbreiteten Klaffe von Männern, die ſich weniger damit befchäftigten, neue Wahr⸗ 
beiten der Wiflenfchaft zu entdeden ober meh Fr die Wahrheit zu erforfchen und zu 
ergründen, als das, wad man für Wahrheit hielt, zu verbreiten und an Höfen wie in 
der bürgerlichen Gefellfchaft einzuführen. Im Umgange und im Briefmechfel mit ben 
Großen, wie in feiner Defenfive gegen die franzöflfche Regierung und Geiftlichkeit hielt 
er es für Fein Unrecht, den vermeintlichen Borurtheilen zu jchmeicheln, um ihnen befte 
gewiflere Streiche zu verfeßen. Gr folgte dem Grundſatz feiner Genofien, nie mehrer 
Vorurtbeile zugleich, oder auch nur Eines ganz zu bedrohen. Die Geiftlichfeit hoffte 
er zu befchwichtigen, indem er in der Religion Nichts als eine halbe Duldung for- 
derte, den Argwohn der politifchen Machthaber fchläaferte er ein, indem er fi den An- 
ſchein gab, nur eine Halbfreiheit zu wollen. Die Zürften ſchonte und lobte er, wenn 








664 Alem⸗Tejo. 


Evora, deſſen Erbauung dem Quintns Sertorind zugeſchrieben wird, eins der ſchoͤnſten 
Baudenkmale in Portugal, auch Ueberreſte eines Dianen⸗Tempels ebendaſelbſt. Dieſen 
höhern Alem = Tejo entfpringen mehrere Slüffe, die faft alle in der Richtung von Of 
nach Welt, der vorherrſchenden in ber ganzen tberifchen Halbinſel, ſtrömen theild un- 
mittelbar in den Ocean, theild in den Tejo, im Winter anfchwellen, im Sommer mehr 
oder weniger verfiegen, immer aber die innere Verbindung des Landes erjchweren ober 
ganz hemmen. Nur der Sado, vom algarbifchen Scheidegebtrge berabfommend, fließt 
nördlih, zulegt aber auch meftlih zur Bucht von Setubal. Von dieſem Fluſſe heijt 
e8, daß er fchiffbar jet; man fügt aber Hinzu, daß er von Garviäo bis Alcacer do Sal, 
wo fein Wefllauf beginnt, canalifirt werden müſſe. Der Tejo durchflrömt die Provinz 
auf Furzer, die Guadiana Dagegen auf längerer Strede; beide Ströme bebürfen abır 
auch einer vollftändigen Regulirung, wenn fle für den Wafferverfehr nutzbar werden 
folfen. Was aber für einen großen Handel können 620 Menfchen auf der Duabrat- 
meile betreiben? Ihre Korn- und andere Srüchte — Farren fle nach den Stäbten, 
auch nad Liffabon! Einen Seehafen bat Alem-Tejo ganz und gar nicht, obwohl feine 
atlantifche Küfte gegen 11 Meilen lang if. Nur Fifcherbarfen können in Santiaje 
de Eagen, Sines und in Villanova de Milliontes verkehren. 

Der Boden zwifchen jenem höheren Granitplateau, dad in den Serrad von Por- 
talegre und Oſſa noch 2000° Höhe über der Meeresfläche erreichen mag, in den Berg— 
flächen zwifchen der Guabiana und den Sado aber, u. U. bei Beja, auf 900° herab⸗ 
gefunfen ift, und den fandigen Ebenen des unteren Tagus, welcher ſüdwaͤrts Die gan 
Provinz erfüllt, ift mit Höhen von Schiefern und Sandfteinen der Graumade überbeit, 
deren wellenförmiged Anſehen überall die vollendetfte Einförmigfeit zeigt, und der 
Oberfläche der Luneburger Haide gleicht. Hier und da ift Diefer Boden mit einer 
fruchtbaten Thonfchicht bedeckt, oder mit Gefchieben, oder mit feftem Sand und rotdem, 
eifenhaltigen Thon, bier und da auch mit Sümpfen, in denen ſich Najeneifenftein 
"erzeugt. Korkwälder, welche einft einen Theil dieſes Strich8 beFleideten, find zur Koh⸗ 
Ienbereitung niedergebrannt; alles aufmwuchernde Geſträuch wird an den fruchtbaren 
Stellen alle acht Jahre durch Feuer verwüftet und mit der Aſche ein kleines Feld ge 
düngt, um da dann ein Mal eine Ernte zu gewinnen, bie aber höchftens nur das 
achte Korn bringt. Diele Stellen würben, beffer bebaut, auch Frucht tragen, aber jeht 
ift dieſe weite Landſtrecke eine traurige, oft fehauerliche Einöde, die nur im Frühling 
einigen Reiz gewinnt, weil dann der Kadanftrauch, der fle als Heerdenpflanze, wie das 
Haidefraut im Norden, weit und breit überzieht, feine großen, prachtvollen Blüthen 
treibt, deren Einerleibeit Doch auf die Länge auch mit Ueberdruß erfüllt. Keine Heer⸗ 
firaße, Fein Weg führt durch diefe Einöde, jelten liegen elende Ortfchaften in ihr ver 
‚eingelt, nur Schafe und Ziegenheerven, erftere an die 80,000 Stüd, letztere an die 
260,000 Stüd zählen, bevölfern. fie; Bienen fammeln auf ihren weiten Triften reich 
lichen Honig ein. Sie ift der Sammelplat herumſtreifender Bettler und die unſicherſte 
Gegend des ganzen, fonft frienfamen Portugals. Erſt in den Thalgehängen, melde 
. von den Haiden in die tieferen Stellen führen, zeigen fich andere Gewächje, an den 
Hängen die immergrüne Eiche, der wilde Delbaum, und wo Wafler den Boden be 
fruchtet und die Lüfte Fühlt, der Myrthenſtrauch. 

Auf diefem unwirthbaren, für Portugal fo bezeichnenden Boden, war ed, wo 
auf dem Campo de Ourique, bei Caftroverbe, die Unabhängigkeit des Landes von der 
Herrfchaft der Araber durch eine kühne Schlacht, am 25. Juli 1139, erfochten und 
die portugieflfche Monarchie begründet warb, durch Alfons J., ven erſten König von 
Portugal, der fih von feinen Soldaten auf dem Schlachtfelde als König audrufen 
ließ, eine Begebenheit, welche nicht nur durch den erften epifchen Dichter ver Nation, 
im dritten Geſang der Luiflade, verberrlicht ward, fondern deren geringfte Einzelheit 
auch der portugieflfche Landmann bis quf den heutigen Tag lebendig inne hat; die Cortes 
von Lamego beftätigten den König 1143; aber auch der heilige Vater zu Nom that 
e8, unter der Bedingung, daß ſich Alfons als Vafall der Kirche erflären mußte. Das 
fur noͤthigte der römische Biſchof den König von Caſtilien, die Unabhängigkeit Por⸗ 
tugals anzuerkennen. 

AlemsTefo wird von der Ifotherme von 120 des achtzigtheiligen Thermometer⸗ 








>  Hem-Teis. 


Maßes gefchnitten, und feine mittlere Sommer- Temperatur fteigt auf 17°, 

mittlere Temperatur des Winters ‚gebt wohl nirgends, die höheren Plateau - © 
auögenommen, unter 9% über dem Gefrierpunkte herab. Alem⸗Tejo bat demna 
bloß ein warmes, fondern wirflich ein heißes Klima, das einige Reiſende unter 
fen limftänden fogar ein glühbendes nennen. Die Sommerbige, die im Mai 
und erft im October nachläßt, trocknet alles Rand längs des Meeres und in 
tern Hügel» Region aus, das Feld wird dürre und man ſieht nirgends einen 
Halm, felbft dad Laub der immergrünen Bäume wird fahl. Die Hitze bi 
Aufhören an unter einem ewig beitern Himmel; denn in diefer Jahreszeit f 
fein Tropfen zur Erde; die Negenzeit if in Alem⸗Tejo, wie in ganz Portugal 

Winter, im Frühling und Herbft nur bis und um die Zeit der Sonnen 
nach den NRegengüffen des Herbſt⸗Aequinoctiums bedeckt fich der Boden mit 
Grün. Die Oftwinde,. die die heiße Luft vom Caftilinifchen Hochlande herab‘ 
wären in der That unerträglich, wechfelten fie nicht mit den Weftwinden, meld 
den Dcean fließend, die Luft abzufühlen vermögen, und trete nicht Abends und 
die Wärmeftrahlung gegen das unbevedte Himmelsgewoͤlbe ein, wodurch Die ı 
Wirkung der Abkühlung hervorgebracht wird. In den fumpfigen Gegenden E 
bei folcher Temperatur natürlich viele Fieber. ‘ 

Bon Mineralproducten der Provinz Alem⸗Tejo rühmt man verfchieden 
von Marmor, namentlich aus den Brühen von Eſtremoz, Montes Claros, Bi 
cofa, worunter offenbar Kalkftein der Graumwade, f. g. Uebergangsfalf, zu verfk 
Feine Thon- und Fayance⸗, auch Borzellanerde ift bei Eſtremoz und Moni 
Novo häufig. Kupfer, in der. Zechfteinformation (2), findet fich bei Portalegre, 
Srandola; Blei bei Morvaäo; Zinn bei Montforte. Mineralifhe Wafler, aud 
quellen, kommen an mehreren Orten zum Borfchein. 

Der Ackerbau ift in Portugal niemald blühend gemwefen, und vornehmlich, 
Provinz Alem⸗Tejo ftetd vernachläjfigt worden. Man rechnet, Daß von der © 
Bodenfläche diefer Provinz nur 6 Procent mit Körnerfrächten beftellt find. Die 
urfache dieſer Erfcheinung iſt, daß es an einer Klafie eigentlicher Aderbautrı 
fehlt, weldhe an Grund und Boden . ein Interefje nehmen und durch deſſen 
Beftellung die Mittel zum Wohlftande ihrer Familie begründen fönnen. Der- 
befigenne Adel erfand, wie und WMinutoli erzählt, eine fo große Menge von Sa 
Abgaben, perfönlichen Leiftungen und Befchränfungen, daß der Lanpmann, der | 
den für den adligen Heren pachtweiſe beftellte, ſich in einer perfönlichen Abhaı 
und ohne eignen Grundbefiß auf die Gnade des Grundadeld angemiefen ſah. 
viel befjer ging ed dem Pächter der bißherigen Kirchen⸗ und Kloftergüter, Die e 
einen fehr beträchtlichen Theil des anbaufähigen Bodens ausmachten. Zu diefer 
urfache kommen noch andere Sinderniffe, welche fich der Entwidlung der Lar 
Ihaft auf eine fehr hemmende Weife entgegenftellen: der Mangel an Verbindung 
an einer genügend eingerichteten Xandpofizei, an einer agrarifchen Gefeßgebun 
Mangel an Waffer zu Beriefelungen, an Weiden, an Vieh, an Dünger, die 
Kenntniß der in anderen Ländern gewonnenen landwirthfchaftlichen Erfahrungen 
der Mangel an Wirthfchaftsprincipien, die beſtehenden Gemeinve-Hütungen, die 
kurzen Bachtfriften. In Alem⸗Tejo, das troßdem als Kornkammer Portugals gi 
man vorzugsweife Weizen, diejenige Kornart, welche in Portugal am meiften 
wird, Doch aber auch viel Roggen, der mit einer geringern Bodenklaſſe vorlieb 
Heid wird an den Ufern des Sabo und des Mibeiro de Sor fultivirt. Die 
Emte ift in Alem⸗Tejo ein Volksfeft, indem während des Ausbrechend aus den 
auf den Tennen mufleirt und getanzt wird. Mais ſowohl als Roggen und Ger 
nen bier ald Viehfutter, indem” von Yutterfräuterbau, von Wiefenfultur und He 
nung gar nicht die Rede iſt. Erbfen und Bohnen bilden mehlhaltige Gemi 
beliebt find; die Kartoffel weiß man noch nicht ihrem ganzen Werthe nach zu f 
Melonen und Kürbiffe werden als Felvfrüchte behandelt. Die Obfibaumzudht i 
tugal bat überall, wo man fi damit befchäftigt, die dankbarften Nefultate < 
felbft auf den heißen Ebenen Alem⸗-Tejo's, ohne daß ſſie jeboch bier zu irger 
Bedeutung gelangt ift, was auch von der Eultur des Orangenbaums gejagt 


\ 


bon 


“66 Alem⸗Tejo. 


muß. Die indiſche Feige, als Zaunpflanze und zur Nahrung eben ſo geeignet, wie 
zur Cochenillezucht, iſt beſonders in Alem⸗Tejo und in Algarbe heimiſch, in beiden 
Provinzen giebt es auch viele Bananen und Olivenbaͤume von hohem Wuchs, mit 


großen, fleifhigen Früchten. Daß es in einem Südlande, wie Alem⸗Tejo, nicht an 


Weinbau fehlen werde, ift von felbft Elar, Doch gehören die Sorten, die daſelbſt ge 
wonnen werden, zu den f. g. Laribweinen und fommen nicht in den Handel. Don 


üppiger Pracht find Die Kaftanienbäume auf den Plateau von Portalegre. Ihre 


Früchte jo wie die Eicheln der Korkeiche und Stieleiche, welche mit dem Kaftanien- 
baume ganze Wälder bilden, bieten Die Hauptnahrung für die Schweine, wegen bern 
Maſt die Provinz berühmt ift: Schinken von Alem⸗Tejo wetteifert mit dem Schinken 
von Bayonne, mit unferm weftfälifchen Schinken. In Alem=-Tejo ift ein landeöhen: 


liches und ein Privat» Geftüt, ein drittes, Privateigentbum des Königs, in Mafra bi 





Liſſabon; das find die einzigen Anftalten in ganz Portugal zur Erzielung eines tüch⸗ 
tigen Pferpefchlagd, an dem es im Lande gar fehr mangelt; überhaupt find in Por 
tugal Pferde felten, Aleni- Tejo bat ihrer etwas über 10,000, dagegen 15,500 Raul 


thiere und 30,000 Efel. Der Rindviehſtand beläuft fih auf etwa 90,000 Haupt 
Was die technifche Induſtrie betrifft, fo ſoll in Wollenftoffen Portalegre Tüchtiges 
leiften ; dieſer Gewerbözweig ift daſelbſt fehr alt. J 

Mit dem Straßenbauweſen ſieht ed in Alem-Tejo gar jaͤmmerlich aus. Bin 


toli erzählte und 1855, Daß die Negierung damit umginge, folgende Hauptfrafn 
funftmäßig einrichten zu laffen: von Ponte de Sor über Erato nach Portalegre; — 
yon Aldeagalega über Montemor, Eftremoz nach Elvas und weiter nach Badajoz in 


Spanien; — von Montemor o novo nad Evora; — von Alcacer de Sal übe 


Porto do Mey, Ferreira nach Bea. Ob man, mit Ausnahme der fpanifchen Strafe 


über Elvas, bei den übrigen an’8 Werk gegangen, ift dieſſeits nicht befannt, und 
wenn’8 auch gefcheben, fo läßt ſich davon für die nächte Zukunft nicht viel erwarten, 
liefet man bei Minutoli dad Verfahren, welches man beim Wegebau befolgt, und das 
in.der That für un's Deutjche an’d Komifche, an's Drollige grenzt, wie pompbaft auf 
die Ueberfichten von vollendeten Wegeſtrecken Elingen, welche die Liſſabonner Staats⸗ 
zeitung allmonatlich verfündet. | W 

Das Königreich Portugal iſt in Verwaltungs-Diſtricte, und dieſe find in Gr 
meinven oder Bürgermeiftereien (Eonfelho8) getheilt. Alem⸗Tejo zerfällt in drei Di- 
ftriete: Beja mit 17, Evora mit 14 und Portalegre mit 19 Gemeinden, die ganze 
Provinz enthält mithin 50 politifche Gemeinden. Ein jeder der Berwaltungs-Diftrict 
bildet zugleich einen Gerichtöbezirk, Davon wiederum ein jeder in Gerichtöfprengel (Co 
marcad), Gerichtöämter (Julgados) und Ortörichtereien (Freguezias) zerfallen. Im 
Ganzen find in Aem-Tejo 13 Sprengel, 50 Aemter und 315 Ortsrichter. Ju 
Kirchenprovinz Evora, woſelbſt das Bistum 1511. zu einem Erzbisthun erhoben 
wurde, gehören die Bisthümer Elvas feit 1570, und Beja feit 1770, auch bie Diöceſe 
Algarbe, deren Kathedrale feit 1580 in Faro if. Das Bistum Portalegre, 1591 
gegründet, ift der Provinzia Lisbonnefe untergeben. Die Umgrenzung der Diöceles 
flimmt aber feineöweges mit der politifchen Eintheilung überein. Zur Metropolitan 
firhe Evora gehören 1361 Pfarrer und 72 Goadjutoren, die über die Verwaltungs⸗ 
Bezirke Evora, Beja, Portalegre und über die von Lisboa und Santarem im Portw 
giefljchen Eſtremadura verbreitet find. Zur Diöcefe Elvas gehören 37 Pfarrer und 4 
Goadjutoren in den Diftrieten Portalegre und Evora; zur Diösefe Beja 118 Pfarr 
und 10 Goadjutoren in den Diſtricten Beja, Evora und Kiffabon; und zur Diörele 
PBortalegre 36 Pfarrer und 4 Coadjutoren bloß im Verwaltungs » Diftrict Portalege. 
Die Schule fteht in Portugal durchaus abgefondert vom Einfluß der Kirche, ob bie 
überhaupt, und namentlich hinſichts der Vorbildung der jungen Theologen in einem 
Lande durchführbar if, wo die römifch = Eatholifch » apoftolijche, Die allein feligmachende, 
die Staatd- und einzig Öffentlich geduldete Religion ift, und daneben eine andere nid 
befannt werden darf, das ift eine Frage, welche die portugieflfchen Staatsreformatoren 
in Erwägung nehmen müffen. Wollen und fünnen fie dieſe Maßregel fixeng durch⸗ 
führen, fo leitet ſie folgerichtig auch auf eine Kirchenreformation. Im Jahre 1854 
gab «8 in Alem-Tejo 113 Glementarfchulen, darunter 3 für Mädchen, mit 2490 








a 


668 Aleppo. | 
» notten bin und ber fchwanfend, ed bald mit dieſen, bald mit jenen hielten, und des⸗ 
halb die Politiker oder die Mißyergnügten genannt wurden. Nach und nad aber ging 
der Herzog von Alençon ganz auf Seite der Hugenotten über und errang durch den 
befannten Vertrag von. 6. Mai 1576, der den Proteftanten die Neligiondfreibeit fichern 
ſollte, für fich die Lande Anjou, Maine, Tourraine und Berry ald Apanage. Nach 
dDiefem Vertrag ging der Herzog von Alencon nad) Flandern, wo er nahe Daran war, 
feine Pläne auf eine Souveränetät burchzufegen,; Fortan nannte er ſich einen Herzog 
von Brabant und Grafen von Flandern, hätte er fich entfchließen können, Proteftant zu 
merden, er wäre mit Hülfe der niederländifchen Proteftanten Sieger geblieben. Da ibn 
aber die Königin Elifabeth, die ihm zuvor Hoffnung auf ihre Hand gemacht, in Stiche 
lieg, er auch fort und fort Intriguen fpielte und auf geheime Raͤnke das höchfte Ber: 
trauen fegte, jo wurden Die Niederländer mißtrauifch, ließen ihn fallen, und der Bruder 
von drei Königen ftarb unbemerft und umbeflagt am 11. Junius 1584 zu Chateau⸗ 
Thierry. | 
In neuefter Zeit verlieb 1844 Louis Philipp von Orleans, als König der 
Franzoſen, feinem Enfel, dem zweiten Sohne des Herzogs von Nemours, dem Prin 
zen Ferdinand Bhilipp Maria von Orleans, geb. am 12. Juli 1844, den Titel eine 
Herzogs von Alengon, den derfelbe auch gegenwärtig noch führt. on 

Das Wappen des alten Grafen von X. zeigt drei rothe Sparren in ftlbernem 
Felde, die Herzöge von U. aus dem Haufe Valois führten den franzöfifchen Lilienſchild 
mit einer rothen Einfafjung, in welcher acht filberne Pfennige. 

Außerdem gab ed eine Familie Alencon in Lothringen; fie führte im Wappen 
einen rothen Sparren im filbernen Feld, begleitet von drei geftümmelten: jchwarzen 
Adlern. Nach Aufhebung des Edictes von Nantes refugirte fie ſich in Brandenburg, 
ift aber in hieſigen Landen erlofchen. 

Aleppo oder Haleb, eind von den achtzehn Ejalets (Statthalterfchaften), in die 
das ottomannifche Neich in Aflen zerfällt, macht den nörblichiten Theil des alten 
Syriens aus, iſt 528 deutfche Geviertmeilen groß und flößt im Süden an das Ejakt 
Scham oder Damaskus, im Welten an das Mittelländifche Meer und im Norden an 
Anadoli, während im Often der Euphrat die Grenze bilbet. Außer der Stabt gleichen 
Namens liegen in dem Ejalet die Mefldenz der Seleucivenfünige, das alte berühmt 
Antiochia, das fünf Stunden im Umfange und in dem erften Jahrhundert der chrift⸗ 

- lichen Zeitrechnung mehr wie 600,000 Einwohner zählte, das jegige Antakiah, deſſen 
‚Bevölkerung auf 10,000 Seelen gejchmolzen ift, ferner der Seehafen Antafiah’s, Suedik 
(Seleueia), Beilan, im Alterthum fo berühmt unter dem Namen ber ſyriſchen Pforte, 
das Eleine, mitten in pefthauchenden Sümpfen liegende Iskenderije, Iskenderum, Aleran- 
drette von den Seeleuten zur Zeit feiner Blüthe Alexandria ad Issum genannt, wichtig 
duch feinen Hafen und ald Hauptftapelplag für die aus Aleppo nach dem Abendlande 
derfendeten Waaren, und Killis, mit 12,000 Ew., blühen durch feine zahlreichen Re 
nufakturen und Handel. Die Meflvenz ves General= Gouverneurs dieſer Statthalter 
ſchaft iſt in 

Aleppo, dieſer alten hochberühmten Stadt, die von den alten arabiſchen Schrift 
flelfern wegen ihrer Größe, ihrer Volkszahl, ihrer Schönheit und des Einfluſſes, den 
ihe ein auögebreiteter Welthandel und hieraus entfpringender Reichthum und Racht 
auf die Schicfale des Orients verfchaffte, fo hoch gepriefen wurde und die jegt, obgleih 
Immer noch nach Damaskus die bei Weitem bebeutendfte Stadt Syriens, fo von ihrer 
Macht und Herrlichkeit zurückgekommen ift, daß ed Mühe halt, fle in ihren Weberreften 

zu erkennen. Burchtbare Erdbeben, die fle zu verfchiedenen Zeiten verwüfteten, das 
zerftörende Regierungsſyſtem des feit Jahrhunderten in Syrien herrfchenden Halbmondes, 
der Verfall des Handels durch den Verfall der früher nörblich und öftlih von Syrien 
beftehenden großen und flarf bevölferten Neiche, und endlich Die Zerftörung ihrer frü- 
heren bedeutenden Manufakturen, bauptfächlich herbeigeführt durch den unglaublichen 
Umſchwung europäifcher Fabrikwaaren, haben Aleppo in feinen jegigen Zuftand hinab- 
gevrüdt. Nur von den noch vorhandenen, der Zeit und der Zerftdrung trogenden 
Monumenten der herrlichen und gefihmadvollen früheren arabijchen Baufunft fann man 
den ehemaligen Glanz diefer Hochberühmten Stabt ahnn. . 


— 


— 


> 





Aleppo. 


Aleppo, der Sig eines griechiſchen Metropoliten, eines armeniſchen Biſchofs 
der Conſuln aller größeren europaäiſchen Mächte, mit 80,000 Ew., darunter der 
Theil Chriften, liegt an dem Heinen Flüßchen, Kawik oder Koif, in einem weiten 
fefiel, der auf allen Seiten von dominirenden, aus Kalkiteinfeld beftehenden Höhe 
geichloffen wird, die aber feine eigentlichen Berge bilden, fondern nur als Fort 
des weiten ungeheuren Plateau’8 zu betrachten find, das fich von dem Ausgan 
Thales Bekaa bis zum Euphrat erfiredt. In dem öftlichen Theile der Stadt, 
noch in den Ringmauern derfelben, liegt die verfallene Eitadelle auf einem Hüge 
Wal erbaut, dem man durd) Auftragen von Schutt eine größere Höhe gegeben, 
urfprünglich hatte. Die rund um die Stadt herum abfallenden Abhänge der Kal 
. Hochebene find von einer Menge fehr bedeutender Höhlen durchwühlt, aus den 
Baufteine der Häufer genommen wurden und von denen mehrere eine foldhe A 
nung baben, daß Ibrahim Paſcha feine Armee in ihnen campiren ließ, ald er | 
feinem Abmarſch nah Nifib und dem Euphrat bei Aleppo concentrirt hatte. 
Aleppo ift mit einer alten, vortrefflid gebauten Mauer umgeben, fte iſt freneli 
mit ftarfen, bervorfpringenden Thürmen verfehen, aber das furchtbare Erdbeber 
24. Auguft 1822, das beinahe ganz Aleppo zerftörte, Hat auch fie hart mitgeno 
ein großer Theil derfelben ift eingeftürzt und kaum giebt es einen Punkt, wo ſie 
ſchädigt geblieben wäre. Zwiſchen der Mauer und dem jeßt bewohnten Thei 
Stadt befinden fi häufig weite Näume, Die mit zertrümmerten Käufern ül 
find, Spuren deſſelben fchredlichen Erdbebens, das -in weniger ald 5 Stunden 
Verwüſtungen anrichtete. Trotz dieſer Verwüſtungen ift Aleppo doch noch in 
heutigen Zuflande, in Bezug auf feine Bauart, die fchönfte Stadt Syriend, vi 
des ganzen mufelmännifchen Orients. Weder Damaskus noch Kairo, ded von 
gezimmerten Konftantinopel3 gar nicht zu gedenken, Fönnen einen Vergleich n 
aushalten. Die Menge der auf einem verbältnigmäßig Fleinen Raume flehende 
fcheen, Medſchlis oder öffentlichen Sprachhäufer und Maͤdreſſes oder öffentlichen € 
bietet mit ihren gewölbten Kuppeln und Fleinen ſchlanken Thrürmen und Minaret 
Böchft überraſchenden und angenehmen Anbli und den einer Acht arabifchen Stal 
alter, maurifcher Bauart dar. Die Käufer, mit einer bequem eingerichteten Dacht 
enthalten durchgängig zwei Stodwerke, find alle maſſiv, aus Quaderfteinen, aufı 
und auf der Außenfeite häufig mit einem Ueberfluß arabifcher Architeftur verziert 
Straßen find mit großen, feit ineinander gefügten Steinen gepflaftert und ſenke 
durchgehende nach der Mitte, in der ein breiter und tiefer, gewöhnlich bedeckter 
fein läuft: Died ift der Grund, daß die Straßen Aleppo's niemald Kotl 
Unflath verunreinigen, wie in den übrigen Stäbten Spriens, felbit Damasfut 
' ausgenommen, wo die Einwohner nicht ausgehen koͤnnen, wenn es regnet, währı 
Straßen Aleppo's um fo reinlicher werden, je mehr es regnet. 

Aleppo bat 8 Thore und 7 Vorſtädte und ift in 60 Quartiere getheilt. 
dem legten Erpbeben am 24. Auguft des erwähnten Jahres zühlte es noch 5 © 
100 Mofcheen, 50 Medſchlis, 10 Maͤdreſſes, 2 öffentliche Bibliothefen, 5 Mal 
oder Tribunale, 50 Bäder, 110 Kaffeehäufer, 48 Bafare, 36 Chans, 230 Bon 
15 Wakfs oder religiöfe Stiftungen, 1 Mewlafhane oder Derwifch-Seminar, 2 
Anftalten, 100 Goldfadenfabrifen, 100 Färbereien, 7 Seifenfledereien, 1 Gerber: 
Maflermühlen und 60 Stopmühlen. Das legte Erdbeben hat jedoch beinahe die 
der Mofcheen, Medſchlis und Bäder ruinirt; zwar find einige berfelben wieder ı 
aber trogdem giebt es nur noch 55 brauchbare Mofcheen, einige Medſchlis und 
30 Bäder. Die Goldfadenfabrifen jowie die übrigen Etabliffements der einbeir 
Induftrie find beinahe gänzlich eingegangen. Ibrahim Pafcha ließ während fein 
ſetzung Syriens ein in fehr gefälligem Stil ausgeführtes Serail erbauen, ebenf 
dankt Aleppo ihm zwei große Kafernen. 

Aleppo’3 Bevölkerung theilt fich,: wie Die der meiften Stäbte der aflatifchen - 
die Iſraeliten unberüdfichtigt gelaffen, in zwei ungleiche Theile, in den. ber chril 
Devölferung und in den der Moslems; nur ift zu bemerken, daß der Antagon 
der beiden Religionen ſtaͤrker ausgefprochen ift als fonft irgendwo, fei ed, w 
Bevölferungen bier einander näher gerudt find, fei e8 wegen der Heiligkeit, vie 





670 Alepps. 


Neligionen mit dem Lande verknüpfen, um deſſen Beſitz ſie einander fo viele Kämpfe 
gellefert haben. Die Nähe von Jerufalem, die Erinnerung an die Kreugzüge, beren 
Spuren Sprien allenthalben trägt, alles,bis auf die Privilegien hinaus, welche Frank⸗ 
reich den Türken zu Gunften der fyrifchen‘ Ehriften entrifien hat, und die ben ana 
tismus der einen und den Ingrimm der andern fteigern, alles vereinigt fi, um ſtets 
eine gegenfeitige Abneigung zu unterhalten. Unter den Chriften führen wiederum bie 
verfchiedenen Sekten, die faft alle bier vertreten find, mit einander einen Krieg auf 


Leben und Tod, nur die wenigen Proteflanten, die bier leben, machen eine rühmliche 


Ausnahme. Die Katholiken haben in Aleppo vier Klöfter geftiftet, und zwar dad der 
lerra sania, oder Franziskaner, daß der Kapuciner, der Lazariften und der Syrer, und 
außerdem giebt es eine griechifch = Fatholifche, eine armenifch-Fatholifhe, eine griechiſch⸗ 
ſchismatiſche und eine armenifch = fchiämatifche Kirche. Die Chriften bewohnen zum 
größten Theil die Vorſtadt Dſchedeida, ein außerhalb der Thore gelegenes, vollkommen 
abgefchloffenes Quartier. Die Juden, auch ein befonveres Quartier innehabend, zählm 
mebr ald 2000 Seelen und Haben eine Synagoge in einem großen Chan. Die 
Europäer, die fich in Aleppo angeflevelt haben, oder vielmehr die Nachkommen berfel 


‚ben, find ſehr gering, dennoch ift der Handel dieſer Stadt feit 25 Jahren hauptſaͤchlich 


in den Händen eined europäifchen Volkes, nämlich der Engländer. Die Wohlfeilkeit 
und Solidität der englifchen Induftrigerzeugniffe haben die Syriens gänzlich verbrängt, 
und find die Urfache, wie ſchon erwähnt, daß täglich mehr Manufacturen in Aleppo 
eingehen. Es werden bier zwar noch die befannten fehweren, golddurchwirkten feidenen 
Zeuge verfertigt, allein fle finden verhältnigmäßig wenig Käufer, und find außerden 


zum großen Unglüdf für die Kabrifanten aus der Mode gekommen. Europäifche Seiden⸗ 


waaren fieht man jährlich mehr und mehr, und würde eine Fabrik die überall in Syrien 
zu Kaftan getragenen Halbſeiden- und Halbbaummollenftoffe verfertigen und fie wohl 
feil abfeßen, fo würde auch dieſer lebte Nahrungdzweig für Aleppo verloren geben. 
Diefe Stadt, ſowie Syrien überhaupt, liefert übrigens dadurch den ſchlagendſten Beweis 
von der DVerberblichkeit des Freihandelſyfſftems. Mehemed Ali hatte die Abſicht, die in 
Aegypten mißglüdten Fabriken in Syrien einzuführen und einen ftarfen Zoll auf die 
europaͤiſchen Fabrikate zu legen; er wartete hierzu nur die endliche Beſeitigung der 
Zerwürfniffe mit der Pforte ab. Solche Fabriken hätten dem Rande unberechnenbare 
Vortheil ‚gebracht, den Engländern aber großen Schaden gethban, und Died war den 
Briten mit ein Grund, Syrien wieder in den ruhigen Beil des Großherrn zurüd- 
fehren zu laſſen. 

Dad Elima Aleppo's, defien Jahrestemperatur 140 MR. beträgt, wird nicht febt 
gelobt, im Sommer berrfcht eime überaus drüdende Schwüle, während es im Winte 
ſehr kalt ift, jo daß z. B. die mittlere Temperatur bed Winters von 1843 bis 1844 
Inc? MR. betrug. Mit dem 1. März iſt der Frühling gleichjam wie durch einen Zauber: 
fihlag hervorgerufen; er dauert indeffen nicht länger als bi Ende April. Mit dem 
Mai, wo durch die Kraft der Sonne alle Pflanzen vertrodnen und verborren, ver 
fehwinbet Das grüne, blumenreiche Kleid, welches die beiden legten Monate hindurch bie 
Fluren bedeckte. Bon dieſer Zeit an fällt nicht ein einziger erquidender Megentropfen, 
und nur felten zeigt fich eine Wolfe an dem Flaren, glühenden Himmel, bis gegen die 
Mitte Septembers einige Regenfchauer fich einzuftellen pflegen und dad Wetter in 


hohem Grade veränderlich wird. Die Monate Juni, Juli und Auguft, deren mittlere 


Temperatur im Jahre 1843 21,1; 0 R. war, bringen regelmäßig intermitticende Fieber, 
von denen ſich der Erkranfte nur ſehr ſchwer wieder losmachen kann; die Luft ift jcharf 
und für Bruſtleidende fehr gefährlich, gewöhnlich fterben folche, wenn fle fich nicht fe 
bald als möglich entfernen. Einheimifche Krankheiten giebt es nicht außer dem be 
Eannten Aleppo⸗Geſchwuͤr, welches auch Jahrgefchwür (hahb-el-sinnet) genannt wird, 
weil e8 in der Megel ein Jahr währt, und deffen Urfache man bis jegt noch nicht 
kennt. Es befällt jeden Eingeborenen ohne Unterfchied und. auch gemöhnlich bie 
Fremden, die fi in Aleppo aufhalten; bei den Eingebornen kommt es regelmäßig m 
Geſicht vor, während es die Europäer gewöhnli nur an den Händen und Füßen 
befommen. Obgleich nicht gefährlich, ift e8 doch Höchft unbequem, namentlich wenn es 
an einer ſolchen Stelle des Körpers hervorbricht, wo es Die Bewegungen beffelben 














tu 


62 Aleſandria. 


gleich es noch lange nach Damaskus die bedeutendſte und reichſte Handelsſtadt Syriens 
blieb, ſo ſank es doch immer mehr und mehr, bis es endlich, das Schickſal des ganzen 
Orients theilend, zur jetzigen Unbedeutendheit herabgeſunken if. Es wurde unter ber 
türkiſchen Herrſchaft der Schauplatz der wildeſten Bürgerkriege und der ſchrecklichſten 
Erderſchütterungen, und vor noch nicht langer Zeit, Ende des Jahres 1850, wurden 
einzelne Stapttheile durch den Aufftand Abdullah⸗Bey's und durch das Verfahren 
Seitens Kerim Paſcha's gegen die Aufrührer faft gänzlich zerſtoͤrt. 

Aleſſandria, durch den Beinamen della paglia_von einem gleichnamigen Fledm 
in der neapolitanifchen Provinz Galabrien unterfchieven. Stadt von 34,000 Ein 
wohner und durch die fumpfige Umgebung am Einfluß des Bormida in den Tanaro 
bedeutende piemonteftfche Feſtung. Der Ort wurde fehon 1167 von, &remonefern und 
Mailaͤndern als ein beſonders günſtiger Vertheidigungspunkt erbaut, nach damaliger 
Art befefligt und Bäjarea genannt. Als Papſt Alerander II.. ein Bisthum dorthin 
verlegte,- erhielt die Stadt ihm zu Ehren den Namen Alexandria. Nach und nad 
den Fortfchritten der Befeftigungsfunft folgend, erflarfte fie und wurde durch zwei jähr 
liche fehr befuchte Meilen wohlhabend. Schon 1174 hatte die Feſte eine ſchwere Be 
lagerung auszuhalten. Der Podefta Rodolfo Conceſt vertheidigte fie gegen Katie 
Friedrich I. über ſechs Monate und geigte den Deutfchen, daß Aleffandria den Spott 
namen „della paglia* nicht verdiene. Der Kaifer wandte ımterirdifche Gänge an, die 
fih plößlih, während von außen geflürmt wurde, auf dem Marktplatze öffneten, aber 
durch Einfturz die Angreifer verfchütteten, als fig eben bervorbrachen. Friedrich mußte 
abziehen und ftedkte fein Lager in Brand. (dv. Raumer. Gefchichte der Hohenflaufen 11. 
©. 235.) 1522 eroberte Franz Sforza ind 1527 die Franzoſen unter dem Marſchall 
Zautrec die Feſtung. 1657 widerfland fle dem franzöflfchen Angriffe unter Gonty. 


1707 fiel fie nach hartnädiger Gegenmwehr in die Sände des Prinzen Eugen. 179 


warf General Moreau auf feinem Rüdzuge am 18. Mai eine flarke Garnifon hinein, 
die bald darauf von den Defterreichern und Ruſſen eingefchloflen wurde. Die regel 
mäßige Belagerung begann indefien erft am 14. Juli, als Beldmarfchall - Lieutenant 
Graf Bellegarde von Tyrol aus mit feinem Armee-Corps eintraf. Nach abgefchlage: 
ner Aufforderung zur Uebergabe wurde die Feftung mit 200 jchweren Gefchügen be 
ſchoſſen. Am 16. flog ein Pulvermagazin in die Luft und in 2 Baftionen wurden 
gangbare Brefchen gelegt. Eine abermalige Aufforderung wurde abgefchlagen und nur 
ald am 21. die Belagerungs-Arbeiten jo weit vorgefchritten waren, daß bereit 8 Ba 
taillone Ruſſen ſich zum Sturm in den Laufgräben fammelten, capitulirte der ‚franzöf: 
[he Commandant, ergab fih und die 2580 Mann ftarke Befagung als Kriegsgefangen 
und überließ den Siegern nebft bedeutenden Kriegövorräthen 102, jedoch meift un 
brauchbare Gefchüge. (Defterreichiiche MilitäreZeitfchrift 1812 u. 1822. Feldzüge der 








Defterreicher und Ruſſen in Italien im Jahre 1799. Leipzig 1800.) 1800 wurde in | 


Aleffandria am 16. Juni der folgenreihe Vertrag zwifchen dem franzöflfchen Oben 
General Alexander Bertbier und dem Defterreichifchen General Melas abgefchlojlen 
Nah der für Die Oefterreicher unglüdlichen Schlat von Marengo zog fich Welas 
hierher zurüd und wurde von Waflena und Suchet gedrängt. Zu Unterhandlunge 
gezwungen, mußte Melad die harten Bedingungen des „Vertragd von Aleffan- 
dria“ unterfehreiben, nach welchem den Sranzofen die Pläge Turin, Coni, Savona, 
Genua, Aleffandria ſelbſt, Tortona, Piacenza, Mailand, Pizzighetone, Urbino, Arona 


und Ceva, fo wie dad ganze Land zwifchen den Flüffen Chiufa, Po und Oglio ein⸗ 


geräumt wurden. Unbeſetzt zwifchen den beiden Heeren follte dad Gebiet zwifchen der 
Chiufa und dem Mincio bleiben und während einer Waffenruhe Antwort von Bien 
erwartet werden. Die Geſchütze öfterreichifchen Guſſes und Galiberd in allen abgetre 
tenen PBlägen verblieben den Defterreichern; alle übrigen gingen in franzöflfchen Bellt 
über. Die Mundvorräthe wurden getheilt. Der Wiederbeginn der Feindſeligkeiten 
folfte von einer 10 Tage vorher erfolgten Auffündigung abhängen. (Reynert. Franz |. 
und fein Zeitalter. Leipzig 1834.) Im Jahre 1821 hatte Die Meuterei der Gamifon 
von Aleſſandria bedeutenden Einfluß auf die Piemonteflfche Revolution. In jedem 
Kriege, der in Nord= Italien geführt wird, muß Nleffandria von Bedeutung werben, 
und Dies erklärt die Sorgfalt, welche neuerbinge die fardinifche Regierung auf bie 


Menten. | 673 


gute Unterhaltung und Ausdehnung der Feſtungswerke verwendet, die aus einer fehr 
ſtarken Citadelle, 6 Baflionen und bedeutenden Außenwerken befteht. Sie liegt am 
linken Ufer des Tanaro, über welchen eine fleinerne Brüde Stadt und Eitadelle mit 
einander verbindet. | 

Alenten, von Bering auf feiner zweiten Heife im Jahre 1741 entvedt, und von 


den Auffen nach und nach, befonders Aber 1759 von Glotov, dem Befehlshaber eines- 


dem xuffifchen Kaufmann Mifiphoroy. gehörenden Schiffe erforfcht, bilden eine lange 
Kette von mehr als hundert Infeln, die ſich in einem weiten Bogen von der Halbinfel 
Alaſchka nach Kamtſchatka bin erflreden und zerfallen in die Fuchsinſeln, Liſti Oftromi, 
auch Kawalany bei den Ruſſen genannt, Unimaf, Akun, Akutan, Unalafchfa, Umnaf, 


Junaska u. f. w. in fich begreifend und bis Siguan reichend, in die Andreanows⸗ 


Infeln,. von denen Amlfa, Atcha, Adag, Kanaga und Tanaga die größten find und in 
die eigentlichen Aleuten mit det Eleinen Gruppe der Natteninfeln (Khao, Kriji bei den 
Rufſen). Zu fleilen, fchroffen, zerflüfteten und ausgehöhlten Bergen aus dem Meere 
fich erhebenv, find die Aleuten alle vulfanifchen Urſprungs, und menn auch die vul⸗ 
kaniſchen Kräfte in den am weftlichften gelegenen Infeln des Archipeld nirgends gegen 
die Atmofphäre fich öffnen, fo wirken fie doch unterirbifch, durch heftige Erbbeben, bei 
denen daB Meer zuweilen zehn Buß und Darüber in einem Moment fich hebt und fenft. 
Die vullanifchen Deffnungen treten auf diefer langen Infelkette erfi mit dem Meridian 
von 1790 D. 9. F. und zwar mit der Infel Klein» oder Weft-Sitfhin auf, und man 
erkennt, Daß die vulfanifche Thätigfeit der Aleuten weſentlich gegen die amerifanifche 
Küfte- gerichtet ift, in der Direction von Südweſten nad Norboften. Berfchiedene 
Infeln enthalten fogar mehrere Vulkane, wie Atcha, das, eben fo wie Umnaf, die eigen- 
tbümliche Geſtaltung bat, daß es im Südweſten mit einer fchmalen, niedrigen Land⸗ 
ipige beginnt, dann allmählich breiter nnd höher wird, bis es in feinem norböftlichen 
Theile den Scheitelpunft feiner Höhe erreicht, wo die vullanifchen Kräfte ſich Bahn 
brechen au& dem Innern gegen die Atmofphäre. Außer den beiden Vulkanen auf 


Umnaf, Deren Thätigfeit die Inſel zerreißt und ganze Landesftriche in Die Meeredwogen - 


binabfinfen, andere aus ihnen bervortreten läßt, brechen heiße Quellen überall hervor 
auf diefem @ilande. Eine diefer Quellen zeichnet ſich befonberd aus; fie bietet daß 
Phänomen ded isländifchen Geijer dar: vier Mal in der Stunde wirft fie einen zwei 
Fuß hohen Strahl aus, dann verfiegt fie, ohne Die mindeſte Spur von einer Deffnung 
zurädzulaflen; bevor fie wieder ausbricht, hört man ein unterirdifches Getöfe. An 
einer andern Stelle der Inſel finden ſich Drei, Dicht bei einander liegende Quellen, 
von denen die eine fo heiß ift, daß man bie Hand nicht darin halten Tann, Die zweite 
ift nicht fo warm, die britte ganz kalt. Nördlich von Umnak entfland im Mai des 
Jahres 1796 eine Infel, die den Namen Agafchagofh oder Joanna Bogoßlowa, d. h. 
St. Johannis des Theologen erhielt. Diefes Eiland, das 1819 einen Umfang von beis 
nahe 4 deutfchen Meilen bei einer Höhe von 350 Toiſen (2173 preuß. Fuß) Hatte, 
1823 aber auf 2 Meilen in Umfang und auf ein Höhe von 235 T. (1460 Fuß) 
beraßgefunfen war, erhob ſich unter einem fürchterlichen Nordflurme und einen unter- 
irdiſchen Krachen, das mit den allerftärkfien Donnerfchlägen die größte Aehnlichkeit 
hatte, Bis 1823 fpie der Vulkan, der fich auf diefer Infel gebilvet, unaufhörlich Feuer, 
von da an raucht er nur noch. Zunaächſt Umnak liegt Unalaſchka, defſen norböftlicher 
Theil von drei hohen Bergketten durchzogen wird, welche größtentheild aus fyenitifchem 
Granit, der in Gneis übergeht, beftebt; auf der weftlichften dieſer Ketten erhebt fich der 
Bulfan, der 856 %. (5315 8.) hoch ifl. In der Nähe vefjelben fammeln die Be- 
wohner der Infel eine große Menge Schwefel und heiße Quellen umgeben feinen Fuß. 
Erdbeben und unterirdifche Detonationen find auf Unalaſchka Häufig und finden ges 
wöhnlich in den Monaten October bis April, feltener dagegen im Sommer flatt. 
Unimak, die letzte der aleutifchen Infeln gegen das Feſtland von Amerika und die ſich 
immittelbar an die Halbinjel Alaſchka anfchließt, ift der Länge nad, von SW. nad 
NO., von einer hohen Bergkette durchſchnitten, auf deren Rüden mehrere Eſſen ſich 
Öffnen, die den Verbindungskanal des unterirdifchen Feuers bilden, welches den Boden 
diefer Infel unaufhoͤrlichen Umwälzungen unterwirft; ja bie innere Gährung ift von 
der Art, daß, trog der großen Menge von Luftlöchern, die Grundfläche dieſes Feuer⸗ 
Bagener, Staats u. Gefellf.-Lex. 1. ' | 43 


— 








674 . Aenten. 


heerdes häufigen Erſchütterungen ausgefegt if. Der Sage nad entfland auf ber Berg- 
fette, die jich von Bogromnoi, einem fteil aus dem Meere ſich erhebenden, nach Kotzebne's 
Angabe 864 T. (5365 F.), nach Chamiſſo's Meflung 1175 T. (7295 F.) hoben, kegel⸗ 
fürmigen Bulfan, norböftlidy erſtreckt, vormals auch ein Vulkan, der aber eingeftinzt if. 
Daffelbe wird von einem Berge angeführt, der norbweftlich von Pogrommei fleht, und 
noch jeßt erinnern fich alte Leute eined Kleinen Vulkans auf der Norbfeite deſſelben 
Pogrommoi, der Ylanimen ausftieß und gegen das Jahr 1795 erloſch, als dieſe Kette 
mit. furchtbarem Krachen und unter dem dickſten Megen weißer Afche in Die Luft fprang. 

Bei der geologifchen Beichaffenheit ver Aleuten, deren immer oder periodiſch 
thätige oder erlofchene Vulkane bier nicht Infel auf Infel verfolgt werden können, ik 


"die Vegetation natürlich nur eine ſehr befchränkte und erſtreckt fi hauptſächlich aui 


Flechten und Mooſe, die Hin und wieder eine dünne Schicht fruchtbaren Bodens 
befleiden. Nur einzelne innere Thäler bieten ab und zu einen reichen Pflanzenwuchs 
dar; in ihnen gedeihen Kartoffeln, Nüben, Salat u. f. w. und fogar einige Tannen, 
Zärchen, Erlen, Birken und Bachweiden. , Keinedweged würden die Flimatifchen Ver⸗ 
hältniffe an diefem Begetationsmangel ſchuld fein, denn die Jahres⸗Iſotherme, die bie 
Südküſte Amtſchitka's, des größten Eilandes der Ratteninfeln, berührt, Läuft, um einig 
Puͤnkte in Europa zum Vergleich anzuführen, über. Saratow, Smolenff, Witebſt, 
Upfala und Chriftiania. Die Januar-Iſotherme und. die Juli« Ifotherme wer Aleutm 
betragen bezüglich 09 und 80 R.; die erite berührt in Europa Simpheropol, die Donas 


. mündungen, Klaufenburg, München, Köln, Bergen, die Sübfüfle von Island, die an- 


dere Kola, Hammerfeft und die Nordküſte Islands. In Iluluf, auf der Nordſeite von 
Unalafhfa und 20 Min. nördlicher als Amtſchitka liegend, beläuft fich Die mitte: 
Temperatur des Jahres auf 29,,, die fih auf den Winter mit 09,93, auf Das Frühjahr 
mit 09,,,, auf den Sommer mit 7%,,. und auf. den Herbſt mit 30,3 vertheilt. De 
Auguft, als waͤrmſter Monat, bat im Durchfchnitt eine Temperatur von 99,,, und da 
November, ald Die Fältefte Periode während des Jahres, eine von — 1%. Doch in 
Ganzen ift auf den Aleuten Temperaturwechfel ſehr häufig und dabei jählings: Alles 
bangt von dem Winde ab. Bisweilen zählt man im ganzen Jahre nur. vier heiter 
Tage. Was indeffen der Boden nicht gewähren kann an Begetabilien, liefert im reichen 
Maße das Meer und dad Land in ihrer Sauna. Bon den Wallfiihen, Chachelott, 
Robben verfchiedener Art, Heringen, Kabliaus, Sepien, Stodfifchen, Dttern und Ser 
vögeln, die das Meer, und von den Pelzthieren, die das Land darbietet, werben bie 
erfteren vorzüglid, ihred Fettes wegen harpunirt, dA8 den Eingebomen die vornehut 
Speiſe gewährt; die Zahl der getödteten Wallfifche überfchreitet aber felten während 
eines Jahres ein halbes Hundert. Früher belief fh der Ertrag der Seebaͤrenfelle 
jährlich mindeftens auf 80,000 Stüd, in der lebten Zeit bat man mit genauer Not 
nur 12,000 alle Jahre erbeutet. Eben fo verhält es fich mit dem Biber; von ihn 
wurden auf Unalaſchka und den übrigen Fuchsinſeln früherhin Jahr aus Jahr ein 
mindeftens taufend gefangen, jet fängt man ihrer um ein Zünftheil weniger. Ti 
Füchſe, Seebären und Wölfe haben ebenfalld abgenommen, Doch zeigt fich bei dem ki 
MWeitem einträglichften Waidwerke, der Jagd auf Füchſe, obfchon die Pelze Diefer Thiere 
einen weit geringeren Werth haben al8 die der Biber, eine vortbeilhafte Veränderung 
die befonderd auf Unalaſchka Bezug bat. Ehemals erbeutete man bier mehr rothe alt 
ſchwarzgraue Füchſe, jebt ift es umgekehrt, folglich Hat die Art diefer Thiere ſich ver 
beſſert. Ottern kommen auf den Aleuten feltener, und zwar nur auf den Weſtaleuten 
vor; fie finden fich vorzugsmeife auf der im Süden der Alafchfa» Halbinfel Tiegenben 
Gruppe der Schumaginfchen Eilande, die außerdem reich an Robben und zahlreichen 
Bögeln find. Die allgemeine Abnahme der verfchievenen Thiergattungen auf den Aleuten 
bezieht fich auch auf die Fifche Die Coloniſten des Hauptortes von Unalaſchka und 
überhaupt des Archipels, Gawanff, fangen oft binnen eines Jahres Feiner einzigen 
Stockfiſch, während dieſer Kifch vormals in fehr großer Menge rings un die Infel an 
zutreffen war. Diele faft unglaubliche Verringerung kann man wohl den Wirkungen 
unterirbifchen Feuers zufchreiben, denn als im Jahre 1825 der Höhenzug von Unimal 
wiederum durch eine Erderſchütterung gefprengt ward, ſah man auf der Oberfläche dei 
Meeres plöglich eine zahlloſe Menge todter Stodfifche ſchwimmen. - 


⸗ 














euten. | ' 65 


Die aleutifchen Infeln, in den Jahren von 1760 bis 1790 von den Ruſſen unter» 
joht und zum Gebiete der ruſſiſch⸗ amerifanifchen Compagnie gebärend, fcheinen vor 
ihren jegigen Bewohnern Feine anderen gehabt zu haben, und dieſe wohnten zur Zeit | 
der Entdeckung des Archipeld noch nicht allzu lange auf den Eilanden' deſſelben. Der 
Ueberlieferung des aleutifchen Volksſtammes zufolge lebten feine Vorfahren in einem 
großen Lande, wahrjcheinlich im Norden‘ Amerika's, indem man die Aleuten dem &sfimo- 
Stamme zuzählen muß. Schon Cook hatte fte für Ablümmlinge oder Sprachverwandte 
der Eskimo's auf Grönland gehalten, die aber, wie alle öftlichen Zweige dieſes im 
höchften Norden der Neuen Welt wohnenden Volkes, eine Uebergangd -» Race bilden 
zwijchen dem mongolifchen Menjchenflamme und feiner Unterabtheilung, den Indianern 
“ Nordamerila’d. Wenn aber auch die Mleuten eine Sprache mit den öftlichen Eskimo's 
an der Hudjonsbti in Grönland, überhaupt längs der nördlichen Seeküſte Amerika's 
reden und, oberflächlich betrachtet, in ven Geflchtözügen und Gebräuchen große Aehn⸗ 
lichkeit mit einander haben, fo zeigt doch eine gründliche Prüfung der Dialekte, deren 
fih die Aleuten und ihre nächften Nachbaren bedienen, und eine forgfältige Vergleichung 
ihrer Sitten, Gebräuche und Geflchtsbildung eine große Verſchiedenheit zwifchen ihnen. 
So unterfcheiden ſich Die Aleuten in vielen Stüden von den Bewohnern der nahen 
Infel Kadjad und Den diefelbe Sprache redenden Tichugatfchen, den Uferbemohnern 
von Prinz-Williamd-Sund, und obgleich ſich in den Sprachen diefer Völker ähnliche 
Wörter finden, fp ift die Anzahl derfelben nur gering, und der leute von Unalaſchka 
fann den Kadjaden nicht verftehen, wenngleih ihre Sprachen nur Dialekte deſſelben 
Sprachftammes find; ja in den Benennungen von Gegenftänden, die mit Der Griftenz 
der Eskimo's fo zu fagen unzertrennlich find, findet in der alentifchen Sprache nicht 
Die mindeſte, oder nur eine fehr entfernte Achnlichkeit mit der allgemeinen Eskimo⸗ 
Sprache flatt. 

Die Aleuten find von mittlerer Statur und von fräftiger Leibeöbefchaffenheit, 
welche ſie in den Stand ſetzt, Beſchwerden und Mühfeligkeiten aller Art zu ertragen. 
Sie fahren auf ihren Baidaren oder Lederbooten 15 bi8 20 Stunden weit, ohne aus⸗ 
zuruben und legen nicht jelten in Einem Tage mit einer Laſt von 60 bis 80 Pfund 
über fieben deutſche Meilen zu Buß zurüd. Sie haben ein außerordentlich ſcharfes 
Gefiht; weniger gut ift ihr Gehör, obgleich fie Die Muſik und den Gefang lieben und 
die Geige fpielen lernen. In ihren Bewegungen find fie äußerft unbeholfen, fchwer- 
fällig um langſam; wenn fle aber durch Noth zur größeren Thätigkeit gezwungen wer- 





den, jo zeigen ſie oft eine Blinkdeit und Anftelligkeit, die gegen ihr gewöhnliche " 


Benehmen ungemein abfliht. Sie befiten ein vorzügliched Nackhahmungs - Talent, jo 
daß fie den Nuflen faft alle Handwerke abgelernt haben und dieſe unter fich üben. 

Der Hauptzug in dem Charakter der Aleuten ift eine unüberwindliche Geduld, 
die fa in Stumpflinn ausartet. Bon ihrer früheften Kindheit an Entbehrungen 
gewöhnt, ift ihnen der Stoicidmus zur andern Natur geworden; die beftigften Schmerzen 
zwingen ihnen feine Klage, keinen Seufzer ab. Freud und Leid erträgt der Aleute 
äußerlich mit gleicher Gelaffenheit, wie tief er auch in feinem Innern empfinden mag. 
Habfucht und Neid haben wenig Spielraum, und der Reichtum wird nur in dem 
Balle geachtet, wenn er durch Arbeitfamfeit, Gewandtheit und Gefchidlichkeit in der 
Jagd erworben wird. Diebftähle finden nur ausnahmsweife in Zeiten der dringendften 
Noth ftatt, wo fie fich meiftentheild auf Lebensmittel befchränfen, und man hält es. 
daher überflüffig, die Jurten mit Schlöffen und Riegeln zu verfehen; und feit der 
Zeit, daß die Ruſſen mit den Aleuten mehr befannt geworden, ift unter ihnen nur ein 
einziger Mord vorgefallen, von dem es felbit zweifelhaft geblieben, ob er wirklich von 
einem Aleuten verübt wurde.’ 

Saͤmmtliche Handarbeiten der Aleuten haben in ihrer Art die höchſte Vollendung: 
Ihr Jagdgeraͤth, ihre Boote, ihre Nationaltraht — Alles ift fehr folide und zmed- 
mäßig gearbeitet. Letztere befteht aus der Parka, einem langen Hemde mit ſtehendem 
Kragen und engen Aermeln, welches bis unter Die Kniee reicht und entweder aud dem 
Balge der Seepapageis und der Taucher oder aus Seehundäfell verfertigt wird. Ein 
zweiteö unentbehrliches Kleidungsſtück ift Die Kamleika, die ebenfalls einem Langen Hemde 
ähnlich, aber oben mit einem Sacke verfehen ift, der über den Kopf gezogen und mit 

. “ ’ 43* 





676 lenten. 


Schnüren um das Geſicht befeftigt wird. Die Kamleiken werden aus ven Eingeweiden 
der Seethiere angefertigt und gemöhnlich auf Seereifen oder bei naffem Wetter getragen. 
Eigentliche Hemden, die ehemals unbekannt waren, find jeßt allgemein; auch werben 
von den mohlhabenderen Aleuten Welten, Halstücher und weite Schifferhoſen getragen, 
und ihre Frauen ſchmücken fich an den Feiertagen mit rufftfchen Kleidern und Shawls, 
worin fie fich jedoch lächerlich genug ausnehmen. 

Der Archipel der aleutifchen Infeln gehört in abminiflrativer Hinſicht zum on: 
vernement Oſtſibirien und ift, mie ſchon erwähnt, im Beſitz der Compagnie, die 1797 
von einer Gefellfchaft Kaufleute, an deren Spige Schelechow ftand, in Irkutſk gegrün- 
det wurde und welcher Katfer Paul das ausfchliegliche Privilegium ertheilte, auf den 
Aleuten fowohl wie in den angrenzenden Gegenden der amerifanifchen Feſtlandsküſte 


— 





Pelzbandel zu treiben. Alexander dehnte 1822 dieſe Rechte über ganz Ruſſiſch-Ame- 
rika aus, d. b. über ein Gebiet, daß jebt einen Flaͤchenraum von 27,250 deutſchen 


Geviertmeilen und eine Bevölkerung von 54,000 Seelen umfaßt. Anfangs befand ſich 
die Sauptfactorei der Gefellfehaft, Alexandria oder St. Paul genannt, auf der waldi⸗ 
gen Infel Kadjad, da jedoch um die Aleuten herum die Biber immer feltener wurden, 
fo zogen fich die Jäger immer mehr nach Südoſten in den König-Georg-Archipel, und 
der damalige Gouverneur Baranom legte daſelbſt Neu-Archangel’fE an, welches dann bie 
Hauptſtadt und Hauptniederlaffung für ganz Nufflfch- Amerika wurde. Letzteres zerfällt 
in acht Abtheilungen oder Otdjela; in mehreren von dieſen hat die Compagnie Com— 
toird mit eigenen Berwaltern, während die übrigen Fleineren Diftricte ihr Baibarid- 
tſchiks haben und je einem Hauptgebiete beigeoronet find. Die Aleuten bilden zwei 
Abtheilungen, die im Jahre 1851 eine Bevölkerung von refp. S44 und 1222 Seelm, 
ohne das Dienftperfonal der Compagnie zu rechnen, zählten, und von denen ke 
Bezirk Atcha Die weftlichen leuten, der andere wichtigere Bezirk Unalafchka, die 
Fuchsinfeln und die nördlich von Diefen liegende, von dem Steuermann-Pribylom 1756 
entdeckte und zu Ehren dieſes Seemannes genannte Infelgruppe in fich begriff. In 


kirchlicher Beziehung find die Mleuten, wie ganz Rufftfch » Amerika, dem Erzbisthume 


1 





von Kamtſchatka untergeordnet und die vortheilhafte innere, geiftige Veränderung, welht 


mit dem aleutifchen Volksſtamme vorgegangen ift feit Beflgergreifung des Archipelt 
Seitens der Ruſſen, ift unbezweifelt dem chriftlichen Glauben zugufchreiben, der biefen 
Infulanern zu Herzen gedrungen ift, daher auch fehnelle Kortfchritte unter ihnen ge 
macht bat. Die Geduld und die Gutherzigkeit der Aleuten find Eigenſchaften, die ein 
herrliches Feld für den reinen Samen des Chriftentbums und zugleich die wichtigſten 
Hülfsmittel zur Vollendung des Bekehrungswerkes abgaben. ALS die Aleuten noch 
dem Glauben ihrer Väter huldigten, töbteten fie Sclaven, damit ed den hingeſchiede⸗ 
nen Ihrigen nicht an Bedienung fehlte; jetzt ift natürlich diefer Gebrauch ganz abge 
fchafft, und nicht etwa darum, weil fie der Möglichkeit beraubt find, Solches zu ihm, 
fondern weil fle die volle Ueberzeugung gewonnen haben, daß Berftorbene fein 
Dienfte, und überhaupt Feines Beiftandes bedürfen, den Beiſtand ausgenommen, we: 
chen das Chriſtenthum gewährt. Vor Ankunft der Ruſſen hatten die leuten oft 
furchtbare Kriege und Megeleien unter ſich; ja es kam endlich fo weit, daß micht bloß 
die Bewohner benachbarter Injeln, fondern felbft benachbarter Orte und Häufer Ar 





ander unverföhnlich haften und, wo nicht mit offener Gewalt, fo doch heimlich und 


verftellt einander zu Grunde richteten, Jetzt haben alle Kämpfe und Feindſeligkeiten 
ein Ende — felbft Fleine häusliche Zwiſtigkeiten gehören jet zur großen Seltenheit 
und ihre früheren Todfeinde, die Kadjacker, betrachten fle als Freunde und Brüber. 
Wenn man die Aufflärung des Volkes nach der Zahl der Individuen, welche leſen 
können, ermeflen darf, fo bleiben die leuten in dieſer Hinftcht hinter manchem gebil⸗ 
deten Volke nicht zurück. In der neueſten Zeit, d. h. als man Bücher in die aleuti— 
ſche Sprache zu überſetzen anfing, war ſchon mehr als ein Sechstheil der Eingebore— 
nen des Archipels des Leſens kundig. Sie erwarben ihre Schulbildung theils in ben 
Colontalfehulen, theils durch Selbflunterricht; die talentvolffien und fleißigften 334 
finge diefer Schulen werden nach ihrer Entlaffung nach Petersburg geſchickt und au! 
Koften der Compagnie in verfehiedenen Bewerben und Befhäftigungen, ihren Neigun- 
gen entfprechend, ausgebildet. Was nun endlich die jetzige Regierungsverfaſſung und 








Allexauder TIL, der Große. (Gefichte.) m 


das Verhaͤltniß dieſer zu der früheren anbetrifft, fo war leßter® die unbeftimmtefte, Die 
es nur geben Fonnte, oder, befier gefagt, das Volk hatte gar Feine und auch feine 
Geſetze. Ihre Häuptlinge waren nur ſtark Durch phyſiſche Gewalt; Herfonmen und 
Willkür dienten als Gefetz. Seht genießen die Weuten nur die Früchte einer Ver⸗ 
faffung und haben feine der gewöhnlichften Staatdlaften zu tragen. Wan findet bei 
den leuten weder Richter noch Händelfchlichter, noch Einfammler von Abgaben; das 
bürgerliche Gefeß, unter welchem fie jebt leben, ift im vollen Sinn des Wortes ihr 
Schut und die Duelle ihres Wohlſtandes — eine ſtarke und mächtige Wache, aber 
eine Wache in ruhiger und frieblicher Gefellfchaft. 

Alerander II., der Große (356 — 323), war der Sohn Philipp’s IL, des 
Königs von DMacedonien. Beide Könige haben durd; ihre Größe dem fleinen Ma⸗ 
cedonien eine welthiſtoriſche Bedeutung gegeben. Nach dem übereinſtimmenden Zeug- 
niſſe des Theopompus und Iſocrates hat Europa nie einen größeren Mann hervor⸗ 
gebracht, als den Philippus, Und wenn auch ein competenter Richter, Hannibal, 
den Ulerander ven größten Feldherrn genannt bat, jo kommt in Wahrheit ein wichtiger 
Theil diefer Größe auf die Rechnung des Philippus; denn im Grunde war er ed doch 
geweien, ver feinem Sohne ein jo wohl geübte und wohl disciplinirtes Heer binter- 
lafien und fo auögezeichnete Feldherrn wie Parmenion, Philotas, Ptolemäus, Seleucus 
und Antigonus gebildet batte, mit Hilfe deren die umfaflenden Eroberungen gemacht 
werden konnten. Wir befigen am Ende des 9. Buches (im Auszuge) des Juſtinus 
eine wahrſcheinlich aus Theopomp entlehnte Vergleihung Philipp'8 und Alexander's, 
in welcher es heißt: Philipp war ein König, den Waffen ergebener ald den Gaftgelagen, 
welchem die größten Schäge nur Mittel zu Kriegen waren; erfinderifcher, Reichtum 
zu gewinnen als zu bewahren. Deshalb mar er bei täglichen Räubereien ſtets arm. 
Nitleid fand man an ihm eben jo wie Treulofigfeit. Keine, Art des Sieges war ihm 
ſchimpflich. Eben fo einfchmeichelnn als tüdifch im Reden, mehr verfprechend als 
baltend, ein Künftler zu Ernft und Scherz. Preundfchaften ehrte ex nach Vortheil, nicht 
nad Treue. Bei Haß Gunft vorzugeben, bei Gunft Beleidigung, unter Einträchtigen 
Zwietracht zu ftiften, bei beiden Gunft zu fuchen, war feine gemöhnliche Weife, dabei 
ausgezeichnet feine Beredtjamfeit, feine Sprache voll Schärfe und Gewandtheit, fo Daß 
weder dem Schmude die Keichtigkeit, noch der Leichtigkeit die Erfindung, noch den Er- 
findungen der Schmud fehlte. Auf ihn folgte fein Sohn Alerander, größer ald der 
Vater an Tugenden fowohl, ald an Laſtern. Die Art zu flegen war beiden verfchieben. 
Diefer führte feine Kriege offen, jener durch Künfte. Jener freute ſich der betrogenen, 
Diejer der gefchlagenen Feinde. Jener war Elüger im Rath, Diefer größer an Muth. 
Der Vater verbarg feinen Zorn, beflegte ihn fogar meiftend; war dieſer entbrannt, fo 
war weder Aufihub noch Maaß der Rache. Beide waren dem Weine allzufehr er- 
geben, aber verfchieden die Kafter der Trunfenheit. Der Vater drang aus Baftgelagen 
gegeh den Feind vor, mifchte fich in den Kampf, bot fich rüdfichtslo8 Gefahren dar; 
Alerander müthete nicht gegen den Feind, fondern gegen die Seinigen. Deöwegen fam 
Philipp Häufig aus Schlachten zurüd; dieſer verließ häufiger ein Gaſtmahl als der 
Mörder feiner Freunde. Jener wollte mit Freunden herrfchen, diefer übte feine Herrfchaft 
gegen Breunde. Der Vater wollte lieber geliebt, dieſer gefürchtet werben. Pflege der 
Wiffenfchaften war beiden gemein. Der Vater hatte mehr Gewandtheit, dieſer mehr 
Treue In Wort und Rede war Philippus, diefer in Thaten gemäßigter. Beſtegte 
zu fchonen war der Sohn geneigter und edler; jener enthielt ſich auch der Berbündeten 
nicht. Der Einfachheit war mehr der Vater, der Leppigfeit mehr der Sohn ergeben. 
Durch diefe Künjte legte der Vater den Grund zur Herrfchaft der Welt, der Sohn 
vollendete den Ruhm des Werkes. Dem Philipp, Diefem ohne Frage außerorbentlichen 
Manne, wurde von der Olympias, einer Tochter des Epiroten-Königs Neoptolemus, 
im Monat Boedromion (15. Septbr. bis 14. Octbr.) 356 v. Chr. Alerander geboren. 

An demſelben Tage wurde dem König ein Sieg des Parnenion über die Illyrier 
gemeldet und zu derſelben Zeit brannte auch Heroftratus ven berühmten Tempel der 
Diana zu Ephefuß nieder. Die Oberaufſicht über alles, was die geiftige und leibliche 
Pflege des Knaben anlangte, führte der firenge Leonidas, ein Verwandter ber 
Olympias; eigentlicher Pädagog des Knaben war Lyſimachus aus Afarnanien, der 


678 Alerander III. der Große. Geſchichte.) 


ſich gern mit dem Phönix und feinen- Schüler mit dem Achilleus verglich. Als 
Alerander das 13. Lebensjahr zurüdgelegt hatte, berief Philipp Den Stagiriten Ariſto⸗ 
teles zum Erzieher feines Sohned. Bor Philipp's Verftand und Einſicht Reſpect 
zu haben, Dazu reicht hin, auch ohne einen andern Beweis, wenn man fleht, was 
er für die Erziehung feined Sohnes that und melde Mühe er ſich gab, den größten 
‚ feiner Beitgenofien, Ariftoteles, für feinen Sohn zu gewinnen und ihn zu bemegen, 
Athen zu verlaffen, daß er ihm foggr feine zerftörte Vaterſtadt nach feinem Verlangen 
berftellte: ein großes Zugeſtaͤndniß. (Val. Niebuhr, Vortr. üb. alte Geſch. II. 417 fl.) 
Mit Ariftoteles,. der ihn in die Herrlichkeit der griechifchen Kunft und Literatur ein 
führte, blieb Alexander immer in gutem Einvernehmen, er ſchickte dem Philoſophen 
fpäter allerlei naturbiftorifche Merfwürdigfeiten von feinen fernen Zügen, durch deren 
Unterfuchung der große Lehrer die Wiffenfchaft bereicherte. Denjenigen, welcher dat 
Verhaͤltniß des Könige und feines Lehrers genauer kennen zu lernen wünfcht, verweiſen 
wir auf Die intereffante Schrift: Alerander und Ariftoteles in ihren gegenfeitigen Be 
ziehungen nach den Quellen dargeftellt von Dr. Rob. Geier, Halle 1856. Im feine 
Jugend fand Alerander gut mit feinem Vater; nur einige Jahre vor dem Tode Phi: 
lipps entftand zwifchen ihnen heftige Entzweiung, und ohne Zweifel hat Alerander um 
den Mord feines Vaters gewußt. Paufaniad tödtete, weil er perfönlich beleidigt 
worden war (336 dv. Ehr.), den König Philipp, als er die Vermählung feiner Tochter 
Kleopatra mit Alerander, König der Molofier= Epeiroten und Bruder der Olympias, 
verberrlichen wollte, und fo Fam Alexander im 20. Jahre zur Regierung. Der große 
Gefchichtöfchreiber und Kenner des Altertbums, Niebuhr (Bortr. II. 419), nimmt die 
Theilnahme der Mutter und des Sohnes an der Verfhwörung, durch die Philippus 
fiel, als gewiß an und fagt deshalb: „Sehe ich einen jungen Mann, der im 20 Jahre 
evident durch eine Verſchwoͤrung gegen feinen Bater den Thron befteigt, der dann nad 
feiner Thronbefteigung eine Graufamkeit der Politik zeigt, vole das Haus, Medicis im 
16. Jahrh. wie Cosmus von Mebicid und feine beiden Söhne; der nicht allein feine 
Stiefmutter der Olympias aufopfert, auch Das unfchuldige neugeborene Kind der Un 
glücklichen ermorden läßt, fo wie mehrere andere Halbgefchwifter — der Alle, die etwas 
mitwiffen Eonnten, mit Ealter Ueberlegung aus der Welt fhafft, Alle, die ihn vorbe 
beleidigt batten, aus dem Wege räumt: fo ift ein folcher IJüngling zu allen Zeiten 
gerichtet.” | 

Schon Philippus hatte den Gedanken gehabt, gegen das große PVerferreich zu ziehen, 
fein Sohn bringt ihn zur Ausführung. Doch ehe der jugendliche König feinen Lieblingäplar 
verwirklichen Eonnte, hatte ex erft daheim manchen Feind zu belegen. Sein Vetter Attalns, 
der zugleichmit dem Parmenion nad) dem Hellefpont vorausgeſchickt war, trachtete insgehein 
nach der Herrfchaft, obwohl er die ergebenften Briefe an den jungen König fchrieb. Diele 
wurde bald aus dem Wege gefchafft. Noch vor diefer That hatte Alerander nad Grie 
chenland eilen müffen, um bie befonderd durch den großen patriotifchen Demoſthenes 
aufgeregten Griechen wieder zur Ruhe zu bringen. Er wurde in den Amphictionenbund 
aufgenommen, befegte Theben und ließ fi) in Korinth, wohin die Griechen Abgeord⸗ 
nete gefandt hatten, zum Oberbefehldhaber in dem Kriege gegen die Perfer ermäßlen. 
NIE er nach Maredonien zurüdgefehrt war, unterwarf er die rings um Macedonien 
wohnenden abgefallenen Barbaren; im Srühjahr 335 ging er über den Hainos, ſchlug 
die Triballer und fegte ibnen bi8 an bie Donau nach, zwang die Beten zur Unter 
werfung und eilte dann in das Land der Illyrier, um auch, diefe zu befrieden. In⸗ 
zwifchen hatten die Griechen ſich wieder empört, nur in der Kadmea Thebens hatte ſich 
die macedonifche Befagung noch gehalten, Doch auch diefe wurde auf die Kunde bin, 
daß Alexander auf feinen Untermerfungszügen umgefonmen fei, vertrieben. Doc; plöf- 
lich erfchien der junge König vor den Mauern Thebens, forderte die Stabt zur Ueber 
gabe auf, und da fie fich weigerte, nahm er ſie mit Gewalt ein und zerftörte fle, nut 
dad Haus des großen Dichters Pindar ließ er fchonen, 6000 Thebaner waren gefallen 
und 30,000 wurden ald Sclaven verkauft. So Hatte er an Theben ein Beifpiel ge 
geben, wie er mit denen verfahre, die fich feinem Willen nicht fügen wollten und 
kehrte nun nad) Macedonien zurüd, um die großen Rüſtungen gegen Perſten zu bettei— 
ben. Dem Antipater übertrug er die Negierung in feiner Abweſenheit, orbnete bie 














Alerander III. der Brofe. (Gefchichte.) | 679 


übrigen Angelegenheiten des Reichs und brach 334 im Frühjahr mit einem Heere von 
40000 Mann, wozu and) die Griechen ihr Contingent geftellt hatten, gegen PBerfien 
auf. Der jugendliche König, der ſich gern dem Achilled verglich, brachte auf der Ebene 
von Ilium dieſem bomerifchen Helden ein Opfer, die vorausgeſchickten Schaaren Par- 
mentons zog er bierauf an fich heran, eroberte Lampſacus und viele andere Stäbte ber 
Propontid. Mit einem perfifchen Heere ftieß er am Granikos zufammen, deſſen rechtes‘ 
Ufer 20,000 Reiter und als Nüdhalt eben fo viele Fußknechte, meiſtens hellenifche 
Söldner, vertheidigten. In dem Treffen Ieuchtete Alexander durch feine Tapferkeit her⸗ 
vor, er beflegte im Zweikampf des Großkönigs Schwiegerfohn Mithridates. Die in 
dem für die Macedonier fo flegreichen Treffen gefallenen Waffengenofien ließ der König 
feierlich beftatten. Das Andenken an 25 feiner Getreuen, die im Kampfe geblieben 
waren, ebrte er durch Standbilder, die Eltern und Kinder der andern Todten erhielten 
fir immer Befreiung von PBrohndienften und Steuern. 300 Harniſche kamen 
ald Siegespreis nah Athen mit der Infchrift: „Alexander und die Hellenen 
mit Ausnahme der Lacedämonier von den Barbaren, die Aften bewohnen.“ 
Der Sieg am Granikos öffnete den Macedoniern Die Thore von Sardes und Epheſus; 
Rilet wurde nach ſchwachem, Halikarnaſſos nach flarfem, von Memnon geleiteten 
Widerftande in Befig genommen. In den eroberten Städten ftellte er die heimischen 
Geſetze wieder her, minderte die von den Perfern aufgelegten Steuern und verfuhr 
überhaupt mit großer Weisheit und Milde. Als der Winter herankam, fandte er die 
verheiratheten Soldaten auf Urlaub nad) Haufe, er felbft ging durch Lycien, Pamphy⸗ 
lien und Bifidien nah Gordium in Phrygien, um bier den Knoten zu zerhauen, an 
defien Köfung der Beſitz Aſiens hingen follte.e Im I. 333 trafen die Beurlaubten. 

mit neuem Muthe und neuen Erfagmanufaften wieder ein, und nun wurde Paphla⸗ 
genien und Kappabocien unterworfen. Bald darauf gerieth der große König in Tarfus 
durch ein Faltes Bad in dem Fluſſe Cydnus in Lebensgefahr, doch dur die Kunft 
jeines Leibarztes Philippus wurde er gerettet. Um dieſe Zeit hätte die Feldherrn⸗ 
weisheit und Nührigkeit Menınond den Maceboniern gefährlich werden können; dieſer 
ausgezeichnete Mann hatte mit großem Verſtande eine Müden- und Seitenbewegung, 
die, was das einzig Richtige war, den Krieg nach Europa überfpielen follte, bewerk⸗ 
ftelligt, er Hatte Chios nnd Lesbos auf der Grundlage des Antalkidiſchen Friedens 
von Neuem gewonnen, Tenedos und die Eycladen für denſelben Schritt vorbereitet, 
durch Unterhandlungen Geld, Schiffe, die Rißvergnügten Griechenlands, namentlich den 
Spartanerkönig Agis 11. zum thätigen Eingreifen in den Gang der Dinge beflimmt, 
wie denn auch fortan auf dem Tänarifchen Borgebirge eine rührige Werbe-Anftalt für 
perſiſchen Sold errichtet und endlich einen Feldzug gegen Chalkis und Euboea vorbereis 
tet, um dadurch der gährenden Volksſtimmung in Böotien und Attifa Luft zu machen. 
Diefe wohlberechneten Blane Menmons zerriß der Tod, feine Nachfolger Pharnabazos 
‘und Antophrapatos beſaßen nicht die Einficht, um dem klugen Gedanken ded Groß⸗ 
Admirals Wirklichkeit zu geben, Alles geichah vereinzelt, und deshalb erfolglos, die 
Abgefallenen Eehrten gar bald zum Gehorſam zurkd. Darius Hatte indefien eine un⸗ 
geheure Heeresmaſſe in die Nähe von der Ciliciſchen Stabt Iſſus herangezogen. Als 
es im November 333-zur Schlacht Fam, wurde von den WMacedoniern ein vollfländiger 
Sieg erfochten, der PBerferfönig entging nur mit Mühe der Gefangenfchaft, feine Mutter 
Sifygambis, feine Gemahlin Statira und mehrere feiner Kinder wurden gefangen ge 
nommen. Der Sieger lehnte den zweimal gebotenen Frieden und den Beſitz Border: 
Aliens ab, er eroberte Syrien, Baläftina, Phönirien, deſſen Hauptftabt Tyrus nad) 
mebrmonatlicher tapferer Vertheidigung im Juni 332 v. Chr. endlich doch auch in Die 
Hände des Siegers fiel, und zulegt ohne große Schwierigkeit Aegypten. Hier ſchonte 
er die nationalsreligiöfen Eigenthämlichkeiten des Volkes und gewann fo die Herzen 
Alles für fi, da gerade die Perfer in dieſer Beziehung rückſtchtslos gewefen waren. 
Daß er ein ganz ungewöhnlicher Bann war. und den Blick des Sehers hatte, der 
(nie Nieb. 1. 420) auch Napoleon fo fehr auszeichnete, der, wenn ex an einen Ort 
kam, gleich feine Beilimmung fab, den Blick, der den practifchen Mann macht, Dad zeigte 
ih hier. Hätte man fein anderes Beilpiel von der Schärfe feines Blides, fo würde 
dafür fchon Zeugniß genug geben, daß er Alexandria erbaute, daß er den Punkt zu 


0 Sesanber EL. der Gecũe (Geſchichte) 
Den 


wufiz, Ber 'eır 153 Juhreubezerr Den Berni gebabt bat, die Vereinigung von 
Begosen mir Wureue nd Item zu Yıldın Wenn auch früher, als der Nil neh 
aubr weich mer Meer Bunle re Wichtigkeit noch nicht hatte, fo ſah doch 
Alerunser ui Dem Sail ur auem Pine, wem dieſer Ort von der Natur beftinmt 
zart „es mc Zur nur me Sale gegruuirt zu werden, um groß und dad Gm 
zerum „er Mer :z werden ° Tore Scabt tollıe der Schlupftein feines Neiches fein 
zuB us 'cıumer zanriemtsc sense Dumptkadt Nach der Gründung yon A. (ſ. d. Art.) 
‚ag tr mn ne Sberwe Eine eu Orckel des Jupiter Ammon, bierauf kehrte er 
zn Bmr:s amd. zu m 3 331, As meue Truppen aus Macedonien angekommen 
zume. Un 2 Versegumg temed Strieged gegen die Perſer zu wenden. In 
[Comer 322 ve ee wm Ber Ebene zwiſchen Arbela und Gaugamela in 
rem =e ‚ungelumpidinde, die ibm in den Beil von Aſien eh. 
Vup oem Sırur aber er mai eigentliche Perſis, nabm die Todtenreſidenz der yer- 
warn Yoruie Berrersus ar ars wie wrachteslle Königsburg dieſer Stadt verbrennen 
aun> ung zue Wbunee Turms Heb von bier nach Bactrien, wurde aber auf dem 
ur sen ee zemieer Peruad, der uch zum König audrufen ließ und anderen abtrün 
zum Zutumer m &rreim zeiegt Alerander wollte den unglüdlichen König aus den 
Dunien erner zemmen Samamım beiteien, ebe er aber fein Ziel erreichte, wurde Da 
ze6 nu wruumier da Ge ida möcht ichnell genug fortbringen Tonnten, im Stich 
zeumen ına Ger ux äzipe sure, ebme den Alerander. zu ſehen. Alexander lie 
„un Sunns m Ferepeid wer iimizlichen Ehren beflatten. Nach beftigem Widerſtande 
wer Sumtum zu Wecziee umterwerien 329 und 328. Um dieſe Zeit vermählt 
un ne img wur wer Tochter cines Häuptlings, deſſen Bergfeſte er eingenommen 
Nute, ut Xer emen Merazee. Jam Sabre 327 emdblich wurde, nachdem zur Sicherung 
Nr wurdaden “umter me Bazadl Stadte, meiſtens Alerandria genannt, gegrändt 
wur, wıt 130. 0 Meuraifneme ven Bactra aus nach Indien aufgebrochen. Zunädit 
Yuite Nu Der dedge Cimeeie wir den Bergoölfern längs des Kophen, eined Neben 
Tem: ne ntei za deſtehen, zer Fürſt Tariled unterwarf fich, eben fo wurben die 
rd? wetten ueihen Vellerichaften bezwungen. Nach Erbauung einer Blott 
wurde Tr Fate ateriäeten, Bad Süunffromland durchzogen, das Reich des Tariled 
Suureeert aut cite Sumapie unter feinem Feldherrn Bhilippus gegründet. Am Hr 
Saas Uri Verumeier zur den Widerſtand des Poros (326 v. Chr.). Alerander bejlegte 
Ta and unit a zu euneu armen Bundesgenoſſen, dann überfchritt ex den Hydraortes 
ur aa I an den Orrde: Die Gimmohuer loben in die Gebirge. Die Soldaten weigertn 
a Ne, Nu de Deren jemieche Red Fluſſes wohnten friegeriiche Völker, weiter zu ziehen 
A Mm Nee Summmey er Soldaten auch bie Opfer ungünftig außgefallen waren, 
wur Nr Madeg keiileen: zur Grinnerung an feine Thaten ließ Alexander 12 
wiendugle Siarsesitäre errichten, allerlei Waffen und Geſchirr von ungewöhnlicde 
eis Naututen damit Die Nachwelt an ein Miefengefchlecht denken möchte. Im Ro 
u IE Nuuyte der die vom berühmten Nearchod befehligte Flotte, auf der en 
air Tai Nur Yumturmee ſich befand, flromabwärtd auf dem Indus, Der andern 
u un a Re Wera der Kluſſes unter Führung des Krateros und Hephaeſtion, bem 
Fre .n au keit Treffen im Sebiete der Maller, in dem Alerander gefährlid 
mr Ka wu Tede entging, iſt noch zu erwähnen. Bequeme MWinterquartiet 
arm am au auuen Subud (326— 25 v. GH.) aufgeſchlagen. Die Landſchaft 
or I wesrwarf jich, um den Schickſale der Samber zu entgehen, bit 
— DE, werten. Die an der Thetlung der beiden Flußarme gelegene Haupt 
au Ra were ven den Macedoniern ſtark befefligt und ald Stapelplag bes Eünfe 
ad ur dere und Werften verfehen; denn ber raſtlos thätige König 
Te an ur Neekebröversindung Aflens, Afrika's und Europas. Die 
Tai ar dem mächften Umgebungen Pattala's bi an die Muͤndun⸗ 
2 DR Wyehiloflen. Schlimme Nachrichten aus der Heimath be 
„ne Sn, mar em Befehl des Satrapen Philippus blieben 
ii an . ine web Ti eigentliche Heeresmaſſe ſetzte ſich in drei 
in 0 greden Mühen umb Drangfalen zo’ 
Ten Gebroſiens Wuſten. In 7 


unge Tbe «a 
DT 














Alerander IIL, der Große, (Welthiſt. Vebeutung.) 681 


Gedroſiens, wurde geraftet und mancher Nachzügler noch aufgenommen. In Karınar 
nien vereinigten ſich ſodann die drei Heeredabtheilungen. Alexander felbit kam nad 
Perſis und in Perfepolis bielt er über die Beamten, die fich Bebrüdungen batten zu 
Schulden kommen lafien, fchweres Gericht. Der im Herbſt ded Jahres 324 in Ekba⸗ 
tma erfolgte Tod des Freundes Hephäftion ſetzte den König in tiefe Betribniß; in 
Babylon, der neuen Haupt-Reſtdenz, verberrlichte der nun vereinfamte König Dem 
abgefchievenen Freund durch bie glänzendften Leichenjpiele. Die Luft am Leben 
war nun geſchwunden, die von Oſten und Weiten erfchienenen Ehrenboten Eonnten 
den von den Folgen der Anftrengungen und des Grames niedergebrüdten Alexander, 
der duch Ausjchweifungen aller Art feinen Körper noch mehr zerrüttet hatte, nicht 
ermuthigen und erfreuen. Anfang Juni fiel er, während die Rüftungen zu neuen Un⸗ 
ternehmungen gegen Arabien, Afrifa und Italien eifrig betrieben wurden, in eins 
Krankheit: eine große Unruhe und Bewegung bemächtigte fih der Gemüther als die 
Nachricht von dem Unmwohlfein die Stadt durchlief, die Macedonier verlangten : ihren 
König zu ſehen, denn fchon glaubten fle, ex fei geftorben, ſie erlangten endlich durch 
inftändiges Bitten, daß jle vor dem kranken König vorüber geben durften, er winkte 
mit dem Auge jeinen alten Soldaten den Abſchiedsgruß. Am 10. Juni gingen Peu⸗ 
cefted und andere Freunde in den Tenipel des Serapid und fragten den Gott, ob es 
heiler für den König fei, wenn er fich in den Tempel bringen lafje und zu dem Gotte 
betete, ihnen wurde die Antwort: „Bringet ihn nicht, wenn er 'vort bleibt, wird ihm 
bald befier werden.“ Am 11. Yuni 323 v. Chr. flarb der große König. In der 
legten Zeit feines Lebend hatte Alexander nad) Angabe der Tagebücher nur getrunfen. 
und geichlafen, jich ſonſt nicht viel um die andern Dinge befümmert. Cr ſtarb wie 
Kortüm .lI. S. 364 jagt, wie Hephäflion am Säufermahnfinn (delirium tremens), 
32 Jahre und 8 Monate alt. Daher, fährt Kortüm fort, konnte auch während des 
10» bis 12tägigen Todeskampfes troß lichter Augenblide über Thronfolge, Reichsver⸗ 
weierfchaft und andre folgenfchwere Kragen nichts verordnet werden; alles blieb liegen in 
wüfter Ziellofigfeit; man hatte eine halbe Welt aus den Fugen gerifien, wußte fie 
aber nicht wieder einzurichten, man batte zerflört, aber nicht aufgebaut, einander ab⸗ 
ftoßende gewaltfame Kräfte gewaltfam und äußerlich verbunden, ohne daß ein neueß, 
aus dem Innern der Dinge entflandened Mittleres dazwiſchen trat. Die Leiche des 
Königs wurde zuerft in Memphis beigefeht, fpäter von Ptolemäus nach Alexandria 
gebracht. Morane, Aleranderd Gemahlin, gebar nach feinem Tode einen Sohn, Aleran- 
dee, dem man in ben auöbrechenden Succejjtonsftreitigfeiten einen Antheil an ber Regie- 
rung neben dem Halbbruder Aleranderd, dem Philipp Arrhiväus geftattete. Vielleicht 
hatte der fterbende Alerander für den von ihm erwarteten Sohn dem Berbiccad den 
Siegelring übergeben. Aus den Trümmern des großen macebonifchen Reichs hoben 
fih einige für die Gefchichte wichtige Fleinere Königreiche heraus, unter denen bad 
Reich der Btolemäer und das der Seleuciden die bedeutendſten find. 

Die gefhichtliche Bedeutung Alexander des Großen ift befonders in Fol⸗ 
gendem zu ſuchen: Ehe, die Gemeinde geftiftet werden konnte, in der der Begenfak 
der Griepen und Barbaren nichts mehr galt und das Vorrecht des Juden und bed 
Römers feinen Werth verloren hatte, hat die Menfchheit viele Kämpfe beftchen, manche 
Schmerzen ertragen müflen, Kämpfe mit dem Stolz auf das Blut und nuf die in ihm 
begründeten NationalBorzüge, Schmerzen der Selbfibearbeitung und der Entfagung auf 
natürliche Vorrechte und Vorurtheile. Damit Die Zeit erfüllt würde, mußte fle vor⸗ 
bereitet werben. 

In der Reihe viefer Vorbereiter bat fich Alexander von Macevonien durch die 
Kraft, mit der er die politifchen Gebilde ded Abend» und Morgenlandes zufammen- 
warf, und duch den mächtigen Einheitöprang, mit dem er die Verfehmelzung Europa’s 
und Aſiens zu einer neuen zufammenhängenden Welt zu bemwerkitelligen ſuchte, den 
Namen ded Großen erworben. Sehen wir, wie diefe Leidenfchaft ber Einheit in ihm. 
wish. und welches die Grundlagen waren, auf die er feine neue Welt gründete. 

- feinem Bater in der Regierung folgte, war bereit3 ein großer Schritt 
iener Aufgabe, der er nachflrebte, geſchehen. Die griechifchen Stäbte. 

» ihre Autonomie verlosen; foweit fie noch der Befchichte angebörs 





680 Alexander TIL, der Große. (Geſchichte.) 


finden wußte, der feit 15 Jahrhunderten ven Beruf gehabt bat, die Vereinigung von 
Aegypten mit Europa und Aſten zu bilden. Wenn auch früher, ald der Nil ned 
nicht verfchlammt war, dieſer Punkt dieſe Wichtigkeit noch nicht hatte, fo ſah bad 
Alerander auf jeden Fall mit einem Blicke, wozu dieſer Ort von der Natur beftimmt 
war: „ed brauchte bier nur eine Stadt gegründet zu werden, um groß und dad Em- 
porium der Welt zu erden.“ Diefe Stadt follte der Schlußftein feined Reiches fein 
und als folcher wahrfcheinlicy feine Hauptftadt. Nach der Gründung von X. (f. d. Art.) 
309 er duch die Libyfche Wüfte zum Orakel des Jupiter Ammon, bierauf kehrte er 
nah Memphis zurüd, um im I. 331, ald neue Truppen aus Wacevonien angefommen 
waren, ſich zur Bortfegumg feines Kriege gegen die Perſer zu wenden. Im 
Detober 331 lieferte er in der Ebene zwifchen Arbela und Gaugamela in 


. Afiyrien die Entſcheidungsſchlacht, die ihn in den Bells von Aſten ſegte. 
Nach diefem Siege eroberte er das eigentliche Perfld, nahm die Todtenrefivenz ber per- 


ſiſchen Könige Perfepolis ein, ließ die prachtvolle Königsburg Diefer Stadt verbrennen 
und ging nah Efbatana. Darius floh von bier nach Bactrim, wurde aber auf dem 
Wege von dem treulofen Beſſus, der ſich zum König audrufen ließ und anderen abtrün- 
nigen Satrapen in Feſſeln gelegt. Alexander wollte den unglüdlichen König aus des 
Händen feiner treulofen Satrapen befreien, ebe er aber fein Ziel erreichte, wurde Da 
rius töbtlich verwundet, da fle ihn nicht fehnell genug fortbringen Eonnten, im Std 
gelafien und ftarb in Folge davon, ohne den Alerander. zu ſehen. Alexander li 
den Darius in Perfepolis mit föniglichen Ehren beflatten. Nach beftigem Widerſtande 
wurde Soybiana und Bactrien unterworfen 329 und 328. Um dieſe Zeit vermählt 
fih der König mit der Tochter eined Häuptlings, deſſen Bergfefte er eingenommm 
batte, mit der fchönen Roxane. Im Jahre 327 endlich wurde, nachdem zur Sicherung 


de nördlichen Länder eine Anzahl Städte, meiſtens Alerandria genannt, gegründe 


waren, mit 100,000 Bewaffneten von Bactra aus nach Indien aufgebrochen. Zunääft 
hatte dad Heer heftige Kämpfe mit den Bergvölfern längs des Kophen, eines Neben 
firomes des Indus, zu beflehen, der Fürſt Tariled unterwarf fich, eben fo wurden bie 
nördlich wohnenden indiſchen Völkerfchaften bezwungen. Nach Erbauung einer Flotte 
wurde der Indus überfchritten, das Fünfſtromland durchzogen, das Meich des Tariles 
vergrößert und eine Satrapie unter feinem Feldherrn Philippus gegründet. Am Hy 
daspes ſtieß Alerander auf den Widerftand des Poros (326 v. Chr.). Alerander beilegte 
ihn und machte ihn zu einem treuen Bundesgenofien, dann überfchritt er den Hydraortes 
und Fam bis an den Hyphaſis; Die Einwohner flohen in die Gebirge. Die Soldaten weigerten 
ſich bier, da fie hörten, jenfeits des Fluſſes wohnten friegerijche Völker, weiter zu ziehen. 
Als bei diefer Stimmung der Soldaten auch die Opfer ungünftig ausgefallen waren, 
wurde der Rüdzug beſchloſſen; zur Erinnerung an feine Thaten ließ Alexander 12 
riefenbafte Götteraltäre errichten, allerlei Waffen und Gedirr von ungemöhnlider 
Größe vergraben, damit die Nachwelt an ein Niefengefchlecht denken möchte. Im Ne 


vember 326 bewegte fich die vom berühmten Nearchos befehligte Flotte, auf der ein 


großer Theil der Landarmee ſich befand, firomabwärtd auf dem Indus, der andere 
Theil zog an den Ufern des Fluſſes unter Führung des Kraterod und Hephaeftion, dem 
Süden zu. Ein beftiges Treffen im Gebiete des Maller, in dem Alexander gefährlid 
verwundet Faum dem Tode entging, ift noch zu erwähnen. Bequeme Winterquartiere 
wurden fodann am untern Indus (326— 25 v. Eh.) aufgefchlagen. Die Landſchaft 
Pattala (Indusdelta) untermarf fich, um dem Schidfale der. Samber zu entgehen, die 
zahlreich erfchlagen wurden. Die an der Theilung der beiden Flußarme gelegene Haupt 
ſtadt Pattala wurde von den Macedoniern ftark befefligt und als Stapelplag des Eünf- 
tigen Welthandel mit Hafen und Werften verfehen; denn der raftlos thätige König 
Dachte allerdings an eine Verkehrsverbindung Aſtens, Afrika's und Europa’s.. Die 
verjchiedenen Expeditionen in den nächften Umgebungen Pattala’8 bis an.die Ründun- 
gen wurden 325 v. Ch. abgefchloffen. Schlimme Nachrichten aus der Heimath be 
fehleunigten den Rückzug. inter dem Befehl des Satrapen Bhilippus blieben mac 


doniſche Poſten in Indien zurüd, die eigentliche Heeresmaſſe fegte fich in drei Abthei- 


lungen in Bewegung. Unter großen Mühen und Drangfalen z0g Alerander an ber 
Spige der zweiten Abtheilung durch Gedroſiens Wüften. In Pura, ber Hauptfladt 








- 


Alerander II, der Große. (Welthift. Bedeutung.) 681 


Gedroſiens, wurde geraftet und mancher Nachzügler noch aufgenommen. In Karma- 
nien vereinigten jich jodann die drei Heeresabtheilungen. Wlerander felbit fam nad 
Perſis und in Perfepolis bielt er über die Beamten, die fich Berrüdungen hatten zu 
Schulden kommen laffen, ſchweres Gericht. Der im Herbft ded Jahres 324 in Ekba⸗ 
tana erfolgte Tod des Freundes Hephäftion jegte den König in tiefe Betrübniß; in 
Babylon, der neuen Haupt-Reſidenz, verberrlichte der nun vereinfamte König Den 
abgefchiedenen Freund Durch die glaͤnzendſten Leichenſpiele. Die Luft am Leben 
war nun gefchwunden, die von DOften und Welten erfchienenen Ehrenboten konnten 
den von den Folgen der Anjtrengungen und des Grames niebergevrüdten Alerander, 
der durch Ausjchweifungen aller Urt feinen Körper noch mehr zerrüttet hatte, nicht 
ermutbhigen und erfreuen. Anfang Juni fiel er, während bie Nüftungen zu neuen Uns 
ternehmungen gegen Arabien, Afrika und Italien eifrig betrieben murden, in eine 
Krankheit: eine große Unruhe und Bewegung bemädhtigte fih der Gemüther als die 
Nachricht von dem Unmohljein die Stadt durchlief, die Macedonier verlangten ihren 
König zu feben, denn jchon glaubten fle, ex fei geftorben, ſie erlangten endlich Durch 
infländige8 Bitten, daß fie vor dem kranken König vorüber geben durften, er winfte 
mit dem Auge jeinen alten Soldaten den Abſchiedsgruß. Am 10. Juni gingen Peu- 
cefted und andere Freunde in den Tempel des Serapid und fragten den Gott; ob es 
beiler für den König fei, wenn er fich in den Tempel bringen laſſe und zu dem Gotte 
betete, ihnen wurde die Antwort: „Bringet ihn nicht, wenn er 'dort bleibt, wird ihm 
bald befler werden.” Am 11. Yuni 323 v. Chr. flarb der große König. In der 
letzten Zeit feines Lebens hatte Alexander nach Angabe der Tagebücher nur getrunfen. 
und gejchlafen, fich jonft nicht viel um Die andern Dinge befümmert. Gr ftarb wie 
Kortüm II. S. 364 fagt, wie Hephäfion am Säufermahnfinn (delirium tremens), 
32 Jahre und S Monate alt. Daher, fährt Kortüm fort, konnte auch während bes 
10 bis 12tägigen Todeöfampfed trotz lichter Augenblicke über Thronfolge, Reichsver⸗ 
weierfchaft und andre folgenfchwere Fragen nichts verordnet werden; alles blieb liegen in 
wüfter Ziellofigfeit; man batte eine halbe Welt aus den Fugen geriffen, wußte fe 
aber nicht wieder einzurichten, man hatte zerflört, aber nicht aufgebaut, einander ab⸗ 
ſtoßende gewaltfame Kräfte gewaltfam und äußerlich verbunden, ohne daß ein neues, 
aus dem Innern der Dinge entflandenes Mittleres dazwifchen trat. Die Leiche des 
Königs wurde zuerft in Memphis beigefeht, fpater von Ptolemäus nach Alexandria 
gebracht. Morane, Uleranderd Gemahlin, gebar nach feinem Tode einen Sohn, Aleran= 
der, dem man in den ausbrechenden Sucrefitongftreitigfeiten einen Antheil an der Megies 
rung neben dem Halbbruder Aleranders, dem Philipp Arrhidaͤus geftattete. Vielleicht 
hatte der fterbende Alerander für den von ihm erwarteten Sohn dem Perdiccas den 
Siegelring übergeben. Aus den Trümmern des großen macedonifchen Reichs hoben 
fih einige für die Gefchichte wichtige Heinere Königreiche heraus, unter denen Das 
Reich Der BPtolemäer und dad der Seleuciden die bedeutendften find. 

Die gefhichtliche Bedeutung Alerander ded Großen ift befonders in Fol⸗ 
gendem zu fuchen: Ehe bie Gemeinde geftiftet werden Tonnte, in der der Gegenſatz 
der Griechen und Barbaren nichts mehr galt und Bas Vorrecht des Juden und des 
Römers feinen Werth verloren hatte, hat die Menfchheit viele Kämpfe beftehen, manche 
Schmerzen ertragen müflen, Kämpfe mit dem Stolz auf das Blut und nuf bie in ihm 
begründeten NationalsVBorzüge, Schmerzen der Selbftbearbeitung und der Entfagung auf 
natürliche Vorrechte und Vorurtheile. Damit die Zeit erfüllt würde, mußte fle vor⸗ 
bereitet werden. _ | 

In der Reihe dieſer Vorbereiter bat fich Alerander von Macedonien durch Die 
Kraft, mit der er die politifchen Gebilde ded Abend- und Morgenlandes zufammen- 
warf, und durch den mächtigen Einheitöbrang, mit dem er die Verfchmelzung Europa’s 
und Aftend zu einer neuen zufammenhängenden Belt zu bemerfftelligen fuchte, den 
Namen des Großen erworben. Sehen wir, wie biefe Leidenfchaft der Einheit in ihm 
wirkt und welches die Grundlagen waren, auf die er feine neue Welt gründete. 

Als er feinem Vater in der Regierung folgte, war bereit3 ein großer Schritt 
zur. Ausführung jener Aufgabe, der er nachitrebte, gefchehen. Die griechifchen Städte. 
und Staaten hatten ihre Autonomie verloven; ſoweit fie noch ‚der Befchichte angehöre 


* 


088 Alexander III, der Große. (Welthiſt. Bedeutung.) 


ten and für die politiſchen Weltverhaͤltniſſe Bedeutung hatten, hingen fle von den Be» 
ſchlüſſen Eines Mannes ab. 

Die Schlacht bei Chäronen, Philipps Marſch durch den Peloponnes und der 
Gemeindetag von Korinth hatten diefen Umſchwung bewirkt, vollendet und zur An- 
erfennung gebracht. Nur Sparta bielt fidy noch in feiner Ifolirtheit, Die Niemandem 
in ber Welt nügte, Niemandem ſchadete; es war cine unfruchtbare Eriftenz, feine 
Stellung eine Ausnahme ohne Einfluß. In den übrigen griechifchen Staaten war das 
Prinetp der gegenfeitigen Berechtigung und Verpflichtung aller Theile der bürgerlichen 
Geſellſchaft, dieſer Quell des Wetteiferd und der Entwidelung, aber auch der Schwaͤche 
— durch einen griechifch vebenden Barbaren gejtürzt, der Allen feinen Selbſtwillen auf 
legte. So war jhon in Griechenland felbft der Gegenſatz des Barbarenthums und 
Hellenentbums aufgehoben. 

Diefer Umfchwung war vorbereitet worden, als das Helfenenthum f ſchon vor Phi⸗ 
lipp feine Triebkraft verloren hatte und zu einem fertigen Element geworben war, 
welches das Bürgertfun genießen konnte nnd nicht mehr Fortzuentwideln und bard 
einen angefirengten Kanıpf gegen auswärtige Feinde zu vertheibigen brauchte. Was 
das Griechentbum für fidy allein erzeugen konnte, war hervorgebracht und zum Gemein 
gut der gefammten griechifchen Welt geworden. Das Ergebniß der früheren Anſtren⸗ 
gungen war jegt als eine Atmofphäre voller Meize, die man nur aufzunehmen und zu 
genießen brauchte, über die griechiſche Welt ausgebreitet. 

Die Thatkraft und die Luft zu handeln waren auf Macenomien übergegangen. 
Während Griechenland feierte, genoß und feiner Erbfchaft fich frente, hatte Philipp 
eine neue Heered-Drganifation geichaffen, in feinem militärifchen Königthum ein geniales 
Wert aufgerichtet und in dem macebonifchen Phalanx den Keil ausgebildet, mit dem a 
fih den Weg nad) der Meeresküſte öffnete, feinem Macevonien, das bisher nur en 


‚ Binnenland war, Luft machte und Griechenland zerjprengte. 


Während Philipp das Heer zur Grundlage des neuen, zur Weltherrfchaft bero 
fenen Königthums machte, war der Friegerifche Geift in Griechenland verfallen und bie 
Krlegstüchtigkeit zu einer Privatſache geworden, die von Einzelnen nad) Belieben gepflegt 
und verwerthet wurde. Un die Stelle des patriotifhen Dienftes war Die Abenteurerei 
getreten, die ferne Dienfte und im Sold fremder Mächte Beichäftigung und Anftellung 
firhte. Die Zahl diefer Söldlinge nahm um fo mehr zu, je mehr das Wachsthum 
des Kapitals zu Haufe den Unterfchied von Arm und Reich vergrößerte, und Die große 
Induftrie, die nur anfehnlichen Geldmitteln zugänglich blieb, die Mittellofen auf eine 
dienende Stellung anwies. 

Sonft ſtanden den unbefchäftigten und unternehmenden Bürgern die Goloniem 
offen, oder jene vereinigten fich unter dem Schuß ihrer Vaterfladt zur Gründung eine 
neuen Niederlaffung. Uber auch in diefer Beziehung zeigte es fidh, daß das Griechen⸗ 
thum fertig war. Seitdem am Mittelmeer die Binnenftaaten, wie 3. B. felbft in Ita 
lien, fi an's Meer drängten, die Griechen in Sicilien fich centraliftrten, um fich gegen 
Karthago zu behaupten, in Klein Aften die PBerfer die Oberhand erhalten hatten, war 
diefer Ausweg der Golonifirung den Griechen abgefchnitten und den Privatleuten, die 
draußen eine Verwendung Ihrer Kräfte fuchten, blieb Nichts übrig, als fich den frem 
den Machthabern. anzubieten und zu verkaufen. Die wohlhabenden Bürger ergaben 
ſich indefien zu Haufe der Induftrie und dem Handel oder genoffen in Ruhe bie ger 
fligen Refultate früherer Kämpfe und Anftrengimgen, und erfreuten ſich der Fünftleri« 


fchen, wiflenfchaftlicden und religiöfen Anregungen, die ihnen, ohne daß es von ihre | 


Seite einer beſonderen Thätigfeit bedurfte, aus der geiftigen und nationalen Atmos- 
phäre in der fle lebten, zuſtroͤmten. 

Als Philipp zu Korinth die geiechifche Hegemonie antrat und fomit die Flefnen 
Staaten von der Oberherrfchaft ihrer bisherigen Hegemonen befreite, waren die erſteren 
mit dem Schein der Autonomie, die ihnen der neue Oberherr gewährte, zufrieden. Sie 
waren der Laſten und Mühen, die Die Bundesabhängigkeit von den hegemonifchen Staaten 


‚ ihnen auflub, herzlich fatt, fie wollten nicht mehr in deren Streit verwidelt jein und hoff 


ten fih nun einer ruhigen und flillen Souveränetät zu erfreuen. . Aus den Stürmen bed 
Öffentlichen polniſchen Lebens Eehrten fie nun in den Hafen des MPrivatichend ein. 








Alerander III. der Große. (Welthiſt. Bedeutung.) 683 


Aber auch die hegemonifchen Staaten waren ermattet und ihre Bürger froh, ſich 
ihren Privat = Intereflen, Induftrie, Handel, Kunft, Wiffenfchaft hingeben zu koͤnnen. 
Sie wollten nichtd weiter, ald Frieden und Sicherheit, die ihnen der neue Hegemon 
durch den Randfrieden verbürgte, den er zwifchen den griechifchen Stauten ftiftete und 
den er. überwachte. Auch fie hatten es: fatt, fich für die Größe und Sicherheit ihres 
Staated anzuftrengen oder gar am Ende aufzuopfern. 

Die Fertigkeit des Griechenthums und die Auflöfung feines Gegenſatzes gegen Aflen 
zeigte fich auch in der neuen Stellung, welche die griechifcehen Staaten zu dem Perferftaat 
eingenommen hatten. Derfelbe war fir ſie Feine Gefahr mehr, Fein Gegenftand ihrer 
Furcht, fondern Schupwehr gegen die macedonifche Uebermacht. Griechenland und Aflen 
waren fomit durch daſſelbe Intereife fchon Eined geworden und für den neuen Welt- 
bern handelt es fich nur noch darum, jeded der Beiden in dem anderen zu erobern. 

Um den Gegenfaß beider Welten aufzuheben, hatte Zerred Griechenland verfihlin- 
gen und mit Perfien vereinigen wollen. Wlerander nahm den entgegengefehten Aus⸗ 
gangspunft, aber fein Schlag gegen Perſien war Doc auch gegen Griedjenland ger 
richtet. In Perſten wollte er Hellas der einzigen Stüge berauben, Die es gegen 
Macedonien hatte, und die Eroberung von Griechenland vollenden. Als die Griechen 
auf dem Bımdestage zu Korinth Philipp's Ernennung zu Ihrem gemeinfamen Führer ° 
gegen Perſien genehmigten, gaben fte nur zu ihrer völligen Unterwerfung die Zuftim- 
mung und befchloffen fo, ihre letzte Schugmwehr nieberzubrechen. — Darius fiel, weil 
er dies Verhaͤltniß Nicht anerkennen wollte. Nach Philipp’ Tode und während Ale⸗ 
xander rüflete, verfuchte die anti= macedonifche Partei in Athen einen Bund mit dem 
PBerjerkönig berzuftellen; dieſer ging aber in feiner falfehen Sicherheit auf den Antrag 
nit ein, mißachtete auch den Math feines Admirals Memnon, durch Befegung Gries 
henlands und durch einen Angriff auf Macedonien dem Stoß Alexander's zuvorzu= 
fommen. Er verftand das neue Weltverhältnig nicht, welches Allen und Griechenland 
folidarifch mit einander verfnüpft hatte. . 

Bon feinem Beruf, die Welt zu reinigen und alle biöherigen Sonderungen zu 
beſeitigen, war Alerander Dagegen in dem Grade durchdrungen, daß er auch die Reli⸗ 
gionsculte combinirte und auch die höchften Mächte zu einigen fuchte, in deren Dienft 
die Nationen bisher ihre eigene Trennung bewahrt hatten. Als er nach feinem erften 
entfcheidenden Schlage gegen Darius bei Iſſus die phönichfche Küfte fich unterworfen 
batte und Aegypten organifirte, opferte er in Memphis dem Apis und tm feiner 
neuen Schöpfung, in Mleranbrien errichtete er dem aͤgyptiſchen, eben fo wie den 
griechifchen Göttern Tempel und Altäre. 

d ALS er nach der völligen Bellegung des Darius bei Arbela und Gaugamela in 
Babylon raftete und feine neue Eroberung organifirte, war fein Erſtes, die Religions 
freiheit, die die Perſer befchränft oder ungern gewährt hatten, den Babyloniern zuzu⸗ 
fihern und namentlich die Priefterfchaft des Bora zu gewinnen, indem er denfelben 
den griechifchen Göttern als gleichberechtigt zur Seite ftellte. s 

Somohl durdy die Größe feines Strebens wie feiner Erfolge fühlte er fich ſelbſt 
über das Menfchliche erhaben. In der Gefchichte‘ fand er felbft, und fanden feine Be 
wunderer nichts ihm Gleiches vor; höchftens in der Heroen⸗Geſchichte erfannte er in dem 
Herafles ein ihm ebenbürtiges Wefen an; als Ordner, nicht nur der Erbe, fondern 
auch des Himmels, und als Friedensftifter unter den Göttern, die ſich bis dahin, wie 
ihre Völker untereinander, befimpft hatten, fühlte er fid felbf den Göoͤttern gleich. 
In dieſem Sinn unternahm er nach der Gründung Alexandriens den Zug nach dem 
Tempel des Jupiter Ammon, um den Gott als ebenbürtiges Weſen zu begrüßen, und 
die Priefter des Ammon, indem fie diefen Sinn des jugendlichen Eroberer richtig deu⸗ 
teten, verfeblten nicht, ihn ald Sohn des Gotted anzureben. 

Als er nach dem Sturz des Darius die Organifation beftimmte, die die nene 
Zeit beherrfchen und feinem fosmopolitifhen Streben genug thun jollte, behielt er das 
föderative Syſtem der perflfchen Satrapieen bei, aber über bemjelben gründete er zu- 
gleich eine firaffe Bentralifation. Als Mittel derfelben diente das ‚militärifche König- 
thum, welches Aften und Europa miteinander verfchmelzen, bie neue Welt ins Dafein 
sufen und eine neue Bildung fchaffen follte. 





4 Alerander III. der Große. (Weltbifl. Bedeutung.) 


Aber welche Mittel hatte dieſes Königthum felbft, um die Welteinheit herbeizu 
führen. Es hatte zwar die Werkzeuge ded- Krieged und Friedens, außer der Wucht 
der Phalanr hatte e8 Handel und Imduftrie, Kunft und Wilfenfchaft in feinem Gefolge, 
ed Fonnte Güte und Ueberredung, Zwang und Gewalt anwenden. Aber zulegt fragte 
es fich doc, wozu dieſer Reichtum von. Mitteln? Welches war denn die Anfchauung, 
zu der ſich die Menfchheit vereinigen follte? Welches die neue Pofltion, die den Stu; 
der alten Formeln überleben oder die Combination und Amalgamirung der beftehenden 
Inftitutionen beherrſchen konnte? Dieje ideale Einheit fehlte noch und ihr Mangel 
bauptfächlih war ed, wad dem Unternehmen Aleranders ,- jo großartig es in jeiner 
äußeren Ausführung und jo glänzend fein augenblidliche® Gelingen war, den Charak⸗ 
ter des Abenteuers giebt. Er Iebte im Gefühl der Welteinbeit; der Drang uady diejer 
Einheit trieb ihn in unbekannte Fernen, aber zugleich auch in eine geiftige Xeere, in 
der er zulegt unterging und. fein Werk felbit wieder zerfiel. 

Das faßlichſte Mittel zur SHerftellung feiner Welteinheit war für ihn noch de 
Handelsverkehr und die materiellen Intereffen. Für die Koncentrirung derjelben und 
al8 DBermittlerin der Handelsbeziehungen Europa's, Aſtens und Afrika's hatte er in 
der alten Welt Aleranvrien gegründet. Als er nady feinem Triumpbzug durch Gentral 
Aſien und nad feinen indifchen Feldzug im Indus-Delta lagerte, legte er bier die 
Aſtatiſche Schwefterftant Alerandriens an, die im indiſchen Ocean der Stapelplag des 
Welthandels werden follte; zu dieſem Zwede wollte er ben perfifchen Meerbufen und 
das rothe Meer dem europäifchen Handel öffnen und von diefer großartigen Verbindung 
der Welttbeile und von dem ermeiterten Verkehr derfelben erwartete er die Beſeitigung 
der alten und befchränkten Erinnerungen und die Rechtfertigung feiner neuen Herrichaft. 

Wie fein Werk durd den Mangel einer idealen Goncentration bald mieder zu 
fanımenfiel, ſo war felbft feine perfünliche Weberhebung durch den’ noch ungelöften Ge 
genfag der kosmopolitiſchen und nationals macebonifchen Partei in feiner nächften Um⸗ 
gebung beftritten. Beſonders ijt fein Zug durch Central⸗Aſten bis Samarfand, durch 
den Kampf diefer Parteien und durd) jeine gewaltthaͤtige Beendigung deſſelben bezeich⸗ 
net. In der Folter des Philotas wegen einer vermeintlichen Verſchwörung, in der 
hinterliſtigen Ermordung des Parmenion, Vaters des Philotas, tritt Die Leidenſchafi 
des Barbaren hervor und die illyriſche Wildheit, die durch orientaliſche Eigenmacht 


und Argwohn und Furcht noch geſteigert war. Auf dem Banquet zu Samarkand, wo 


er den Klitos erſtach, regte ſich in ihm Der ſpaͤtere Haß der römiſchen Imperatoren 
gegen ſelbſtſtaͤndiges Urtheil. Aus Klitos ſprach der Unwille des barbariſchen Genoj- 
fen, der es nicht ertragen konnte, daß feine und feiner Mitkaͤmpfer ſtaunenswuͤrdige 
Erfolge alle nur dazu benugt wurden, um ihren perfünlicden Werth zu vernichten ynd 
den Einen über fie Alle zu erheben. Die Schmeichelei der Freunde und Diener, die 
Alexanders That rechtfertigen und ihm zureden, um ihn aus der Apathie und Zerfal- 
Ienheit, wieder herauszureißen, der er fich nach Klitos' Ermordung bingiebt, ift der 
Vorläufer der Schmeichelei, die die Verbrechen ber fpätern römifchen Imperatoren be 
ſchoͤnigte und zu gerechten Handlungen umwandelte. Die macedoniſche Armee beſchloß 
ſogar in einer Art von Volks-Verſammlung, daß Klitos mit Recht getödtet ſei, mie 
ſpaͤter der Senat die Opfer Nero's als Mifjetbäter verdammte. 

Die Philoſophen fügten zu diefen Schmeicheleien und Befchlüffen ihre fpeculative 
und ftaatsphilofophifche Nechtfertigung der Unthat Alerander’d, und Diejenigen, die in 
denfelben Ton nicht einftimmen wollten, zogen fi "die Ungnade des Herrfchers zu. 
Anaxarchos aus Abdera z. B. ftellte ihm vor, daß er ald Sieger und Großfönig be 
rechtigt jet, zu beflimmen, was als recht und zuläffig zu gelten babe, und daß er ſich 
nicht Gefegen unterwerfen dürfe, Die ihm von Außen Dictirt würden. Kallifihened da- 
gegen, der Alerander als Journaliſt und Gefchichtfchreiber begleitete, und durch biele 
feine Stellung als Protocollführer der Großthaten des Königs mit philofophifchem 
Stolz fi auch zur Kritik berechtigt glaubte, entfrembete ſich den Herrſcher, weil er in 
den Ton der Anderen nicht einflimmen wollte, und legte bei dieſer Gelegenheit zu der 
Spannung den Grund, die er zu Bartra, als Alerander feine Bermählung mit Roxane 
feierte, auf eine für ihn verberbliche Höhe trieb. Auf diefer Hochzeit vollendete naͤm⸗ 
lich Alexander feine orientalifche Haltung und verlangte von Griechen und Macedor 








‘ 


\ 


Alerenber UI,; der Große. (Wepi: wein)  , 688 


niern Diefelbe Niederwerfung wie von den Perfern und Die Anerkennung feiner über- 
menfchlichen Natur und Würde. Anaxarchos ging auch bei diefer Gelegenheit gefchmeibig 
auf die Anfprüche des Herrfcherd ein und erklärte öffentlich, Daß verfelbe über Dio⸗ 
nyſos und Herakles ftehe; Kalliſthenes dagegen weigerte fich nicht nur, die Anbetung 
‚u Heiften, fondern führte auch während der Hochzeitfeier durch einige fpöttifche Bemer⸗ 
fungen gegen die orientalifche Ueberhebung Alexander's einen ſtörenden Eclat herbei. 
Das Eonnte ihm diefer nicht vergefien. Als die Verfehwörung einiger Edelfnaben gegen 
fein Leben an den Tag Fam, fuhr er auch gegen die Philofophen auf, drohte er denen, . 
die ihm namentlich den Kalliſthenes zugefchickt hatten, d. h. den Ariſtoteles, Verderben 
und ließ er den mißliebig gemordenen Philoſophen folteern und Hinrichten. 

Immer flegreich auf einem Zug, der ihn zu den äufßerften Punkten Central⸗Aſiens 
führte, welche die Großmächte der neueren Zeit noch nicht berührt haben, wurde feinem 
Drange ind Weite und Unbeſtimmte durch den Ungehorfam jeined Heeres, welches dieſes 
Streben in's Leere nicht mehr ertragen Fonnte, eine Grenze gefegt. Mitten in feinen 
Unternehmungen im Industhal, ald er ſchon Bis zum änßerften Stromarm des Bendfchab 
vorgedrungen war, zwangen ihn die Seinigen zum Rückzug. -Unfähig zu raften und 
ſich zu beſchraͤnken, betrachtete er nach der Ruckkehr den Aufenthalt zu Suja nur ale 
eine Vorbereitung zu weiteren Unternehmungen, die den fernften Welten bis zu ven 
Säulen des Herkules in feine Botmäßigfeit bringen folltn. Ehe er diefen Ing antrat, 
wollte er nur noch einmal die Elemente, die ihm geborchten, völlig zufammenwerfen und 
dann mit ihrer vereinten Kraft den Stoß auf das Abendland ausführen. Wie er ſich 
jelbft mit der Statira, Tochter ded Darius, und mit der Pariſatis, Tochter des vorigen 
Königs Ochus, vermählte, fo zwang er auch troß ihres Widerfirebens eine Anzabl 
feiner Sreunde und Unterfeldherren, Jungfrauen aus perfifhen Bamilien zu ehelichen. 
In icher Weife refrutirte er fein Heer ans den unterworfenen aflatifchen Provinzen, 
jelbft aus denen Central⸗Aſtens, bewaffnete und übte er diefe Aflaten In macedonifcher 
Weiſe ein, und nachdem er einen Theil feiner alten Soldaten in die Heimath entlaffen 
hatte, feste er die Verſchmelzung der Veteranen und der Fremden, die er feine Epigonen 
nannte, durch. Doch mitten in diefen Vorbereitungen raffte ihn der Tod dahin. As 
er in Babylon die Todtenfeier jeined Kephäftion beging, der den Uebermaß der afiati⸗ 
hen Schwelgerei erlegen war, ſtarb er ſelbſt in ähnlicher Weife an der Zerrüttung der 
Nerven, die nicht ſowohl feine ungeheure Thätigfeit, ald dad Uebermaß der Genüfle 
berbeiführte, denen er fih in den Augenbliden der Ruhe und Unthätigfeit hinge⸗ 
geben Hatte. 

Die Welt fühlte, Daß diefer Tod nicht weniger als das Leben des Mannes ihr 
Schickſal verändere. Erſt wollte man es nicht glauben, daß es wahr ſei. Der Red⸗ 
ner Demades in Athen fagte: „es kann nicht wahr fein, wäre Alerander tobt, bie 
ganze bewohnte Welt würde nach feiner Reiche riechen.“ Allein der Kampf der Feld⸗ 
berren um die Sinterlaffenfchaft ihres Führers follte die Welt bald darauf Yon dem 
Tode des Herrn überzeugen, wie die Verfchmelzung ver aflatifehen und helleniſchen 
Cultur Das bleibende Zeugniß vom Leben des Mannes war. | 

Was jeine perfönliche Begabung betrifft, fo waren ihm in feltenem Grade zu 
gleicher Zeit und in gleichem Maße ritterlicher Muth, erhabener Flug der Phantafle, 
Conceptions⸗ und Unternehmungskraft, aggreffiver Trieb und vorfichtige Berechnung, 
Organifations » Gente, Behutſamkeit und unerichöpfliche Ausdauer eigen. Mit‘ feinem 
Ungeftüm verband er zugleich gründliche Methode, bei feinem übenvältigenden Bor- 
dringen ließ er Feine Vorfichtömafiregel unbenchtet, an feinen Sieg glaubte er erft, nach⸗ 
dem er ven Feind raſtlos verfolgt und vernichtet hatte. In jedem Stadium einer 
Unternehmung, im Entwurf, in der Vorbereitung, in der Ausführung und Ausbentung 
war er gleich vollendet, feurig und ſchwungvoll, befommen und feft. 

Dabei leitete ihn in allen feinen Internehmungen nur Ein Trieb, Ein Gedanke 
— der der Weltherrfchaft, und zwar der Unterwerfung der Welt unter feinen Willen, 
unter fein Gebot. Für die Griechen mollte er nicht die Welt durchziehen; die Ein- 
bildung der Macevonter auf ihren nationalen Vorzug ftrafte er eigenmächtig in den 
Ausbrüchen feiner Wuth und Leidenſchaft, wie in dem Auftritt mit Klitos, wie in der 
mifttärifchen Verſchmelzung mit den Perjern. 


N 











656 ‚ Maganber III, der Große. Gelchiſ— Bedeutung.) 


Ariſtoteles hatte ihm den Math gegeben, in Allen als Deſpot, in Griechenland 
als Hegemon zu herrſchen. Dieſe Trennung und Unterſcheidung war ihm aber uner⸗ 
träglich. Er wollte für die ganze Erde Herr fein. Grieche und Barbar, Beides war 
ihm gleich. Die macebonifche oder griechiiche Eigenthümlichkeit hatte er in ſich ge 
ſchwächt; er wollte Nichts ausfchließlich oder auch nur vorwiegend fein in nationaler 
Beziehung, fondern nur freier Herr, Gott, Gebieter und Ordner der Menfchheit. 

Dem Griechenthum ward er vielmehr immer mehr abgewandt; er hate an ihm 
die Selbftändigkfeit des Willens und die Freiheit des Urtheild. Dagegen betrachtete er 
ſich als den Erben der weltherrichenden Tradition der perjiichen Groß-Rönige, und er 
glaubte ſich dazu berufen, den aftatifchen Gedanken der Weltberrfchaft mit den Mitteln 
ber enronälfchen Kraft, Bildung und Ueberlegung auszuführen. 

Ein Zeugniß von der Eigenmacht feines Weſens, aber auch zugleich von ber 
Unreife feiner Vorſtellung von der nothwendigen Vermiſchung aller Volksgeiſter ift 
der Plan, der ſich nach feinem Tode unter feinen Papieren und Anweifungen an Kra- 
teros fand, wonach er die Bewohner Europa's nach Aften, die des Drients nach dem 
Abendland verfegen mollte. Wie die Perjerkönige die Völkerſchaften verpflanzt Hatten, 
fo mollte er den Gegenſatz der Welttbeile durch die Austaufchung ihrer Bewohner 
ausgleichen. (Seh Jahrhunderte nach ihm komnmit die Völkerwanderung!) 

Dennody bat er zur Hellenifirung Aſtens durch Durchbringung der orientalis 
fihen Weltanfhauung mit dem griechifchen wiſſenſchaftlichen Geifte den Grund gelegt. 
Die Seleuciden und Ptolemäer haben fein Werk nur fortgefegt, als fie in Meſopota⸗ 
wien, Syrien, im Innern von Kleinaflen und in Aegypten die griechiiche und orienta- 
liſche Cultur amalgamirten und den Griechen und gricchijchen Macedoniern die Herr⸗ 
fhaft und Verwaltung ded Orients übertrugen. 

Natürlich Eonnte nicht die, bürgerlide Autonomie der Griechen, ihre jtifche 
Sitte und Thätigkeit nad) Aften vorbringen, denn alles das war in Griechenland” felbf 
untergegangen. Das fläbtifch zerfplitterte und befchäftigte, von der politischen Allmacht 
der einzelnen Städte in Anfpruch genommene Griechenthun Tonnte fich nicht mit dem 
Orient verfchmelzen, jondern nur Das aufgelöfte, abgeplattete, von der flädtifchen Ober- 
hobeit befreite Griechenthum. Emancipirt von den fäbtifhen Schranfen, in denen ed 
fih bisher entwidelt hatte, war das Griechentbun, welches nach Alien und Aegypten 
fam, vielmehr eine kosmopolitiſche Weltanficht und zugleich ein Individualismus, kraft 
deſſen der Einzelne ſich dazu berechtigt fühlte, Die Welt zu ordnen und zu regieren. 
Den griechifchen Individuen, die dad Gefühl der politischen Heimathlichkeit verloren 
hatten, war die Welt geöffnet für Handel und Verfehr, für politiiche und wiflenjchaft- 
liche AUbenteuerei, ihre Kraft und Bildung konnten fie im fremden Staatsdienft wie 
für wiflenfchaftliche Eutdeckung verwertben; ihr Univerſalismus befriebigte fach in Der 
Sammlung und in der Ueberficht alles deilen, was griechiſche Poeſie und Wiſſenſchaft 
bisher erzeugt hatten, in der Erweiterung der eracten Wiflenjchaften, der Geographie, 
Mathematik, Aftronomie und Naturforfchung; der erweiterte Blick Iegte endlich zur 
Melt Hiftorie den rund. Selbſt die Abenteurer, die den Seleuciden und Ptolomäern 
ihre Kräfte und Dienfte anboten und zunächft nur ein Gebiet für ihre Ihätigkeit und 
ihren perjönlichen Machtgenuß fuchten, den ſie in ihrer Heimath nicht mehr finden 
fonnten, trugen ald Verwaltungd-Beamte der fyriichen und äggptijchen Despoten Dazu 
bei, daß die materiellen Interefien und bumaniftiichen Studien geordnete und gejtcherte 
Bahnen für die Befriedigung ihres univerfellen Strebens fanden. 

Bedenken wir endlich, daß das Griechenthum, indem es den Orient ordnete und 
verwaltete, in ber pantheiſtiſchen Natur⸗Anſchauung des letzteren cine Anſchauung er⸗ 
kannte, die ſeinem Drange nach einer Ueberſicht der Welt entſprach, daß es ſich einem 
Monotheismus unterwarf, der mit der Aufklärung und Ablöfung von feinen Sonder⸗ 
gettheiten zufammentraf, fo werden wir Alerander den Ruhm zugeftehen müffen, daß 
er nicht umſonſt den Drient aus feinen Angeln gehoben bat. Er bat den Gegenſatz 
bes Griechen» und Barbarenthums in einer neuen Schöpfung auflöfen wollen. Seine 
Abficht Fam zur Ausführung, wenn auch anders, als er felbit gedacht Hatte. 

Wie fih über Karl ven Großen fchon fehr früh erklärte Yabeleien finden, fo ift 
auch ſchon früh in Aegypten eine fabelhafte Gefchichte Alexanders unter dem Namen 


1 





Alexander Aewäli. 6 


eines Aeſopus entſtanden (Nieb. Il. 423). Die Schickſale und Thaten dieſes Könige 
haben mehr oder weniger veraͤndert im Mittelalter bei allen civiliſirten Voͤlkern ihre 
Bearbeiter gefunden. Daher kommt ed auch, daß der Eskander oder Jskander des 
Orients dem Alerander des Oeccidents gar nicht nachſteht. (Vergl. Lehrbuch einer 
Literaturgefch. ıc. von Dr. Graeſſe II. B. S. 436 — 456, außerdem Alerander, Gedicht 
des 12. Jahrhunderts, von Pfaffen Lamprecht. Urtert und Ueberjegung nebjt gefchicht- 
lichen und fprachlichen Grläuterungen, fo wie der vollftändigen Ueberfegung des Pſeudo⸗ 
Kalliſthenes, von Dr. Heinr. Wismann, Frankfurt 1850. 2 Bände.) 

Die wichtigften Quellen für die Gejchichte Alexander find Plutarch (50120 
n. Ehr.), Arrian (unter Hadrian und den Antoninen) in feiner Anabajie. Curtius 
(im 1. Jahrhundert n. Chr.) De gestis Alexandri, Juſtinus, der aus dem großen 
Werke des Trogus Pompejus (unter Auguſtus): Historine Philippicae einen Auge 
zug machte. 

Bon neueren Geſchichtsſchreibern iſt zunennen: Geichichte Alexanders des Großen, 
von Joh. Guſt. Dronfen, Hamburg 1833; Niebuhrs Vorträge über alte Geſchichte. 
3 Bände. Berlin 1848 (vorzüglih 2. IL); Kortüm, Gefchichte Griechenlands von 
der Urzeit bis zum Untergang ‚des achäifchen Bundes, Heidelberg 1854 (befenderd B. 
ll. ©. 304 — 369). 

Alerander Newski. Fin Schugheiliger Rußlands. ALS zweiter Sohn des Groß⸗ 
fürften Jaroslaw Il. Wſewolodowitſch 1217 geboren, daher Saroslawitfch genunnt, 
wurde er fchon in feinem 15. Lebensjahre Verwalter ded Fürſtenthums Nowogrod, wo 
ihn fein Vater zurüdgelafien, ald er den Hof von dort nach Perejeslaw verlegte. Er 
überragte feine Brüder in jeber Beziehung und als fein ältefler Bruder 1232 fach, 
überließ ihm der Vater faft felbftftändig die Negierung von Nowogrod. 1239 vermählte 
er .fich mit einer Tochter des Knjäs von Botozfo, und fuchte die Macht Nowogrods 
durch wiederholte Einfälle in das fchwebifche Finnland zu vergrößern. Um dies zu 
verhindern und den unruhigen Nachbar zu züchtigen, landeten die Schweden unter ihrem 
Feldherrn Birger, 1240, auf vielen flachen Fahrzeugen an den Ufern der Newa und 
bedrohten den jungen Großfürften unerwartet in feinem Nande. Alexander ſammelte, 
was in der bDrangenden Gefahr an ftreitbarer Mannfchaft zufanımenzubringen war und 
überfiel die ihn abweiend und anderweitig befchäftigt glaubenden Schweden, Durch einen 
Aufſeher der Sttandwehr Pelqui geführt, am 15. Juli am lifer der Newa, wo er fie 
voltftändig vernichtete. Nur die einbrechende Nacht rettete noch einige Schiffe mit Klücht« 
lingen. Der Berluft der Auffen war bei Diefem’ Gefecht fo wunderbar gering gegen 
den der Schweden, daß Alexander Saroslawitich jchon damals für einen Wunderthäter 
gehalten und ihm von Volke ber Name Newski (der Newaifche) beigelegt wurde. Auch 
im perfönlichen Kampfe hatte Alexander ſich ausgezeichnet und den feindlichen Feldherrn 
Birger — einen Verwandten des ſchwediſchen Königs — im Geficht vermundet. Der 
Sieg an der Newa wirkte ermuthigend auf die gegen die Mongolen im Süden kämpfen⸗ 
ben ruffiichen Heere. Unzuhen der Nowogroder veranlaften Alerander dieſe Stabt zu 
verlaſſen und fih an den Hof feined Vaters nach Berejeslam zu begeben, bis ihm die 
von einem Einfalle der liefländifchen Schwert⸗Ritter geängftigten Nowogroder flehentlich 
zurüdriefen. Am 5. April 1242 gewann Alerander auf dem Eiſe ded Peipusſees einen 
glänzenden Sieg über die Feinde Rußlands, durch welchen über 500 Schwert-Mitter 
umfanıen. Auch die Rittauer, welche fich mit den Rittern verbündet, trieb er in ihr 
Rand zurüd. 1245 flarb jein Vater, und Alerander wurde im Beſitze feined Theil⸗ 
Fürſtenthums beflätigt. Die Ehane der Tatarei, denen die übrigen ruffifchen Groß⸗ 
fürftenthümer tributpflicytig waren, verlangten nun auch von dem big jebt verſchont 
gebliebenen Nowogrod Tribut, und Alerander unterwarf ſich vemjelben, um fein aufblüben- 
des Land vor wilden Verwüftungen durch Tatarenhorden zu fichern. Der Chan empfing 
ihn mit Auszeichnung und belehnte ihn mit Kiew und ganz Süd-Rußlaud. Alexanders 
Bruder Andreas, mußte feinen Widerfland gegen die Oberlehnöhersfchaft der Tartaren 
‚mit den Berlufte jeined Großfürſtenthumes Wladimir und mit der Flucht nach Schweben 
büßen. Während der ganzen Megierung Aleranders dauerten übrigens die Kriege mit 
Littauen, Liefland und Schweden fort, ohne die Macht Nowogrods zu erfhüttern. 1259 
verlangten auch die Mongolen Tribut und auch dieſem unterwarf ſich Alerander, um 





668 Alerander Rewätis Orden. 


feinem Lande den Frieden zu erhalten. Die Ruſſen wußten diefe Nachgiebigkeit mit 
den Siegen und dem Stolze ihres Großfürſten aber nicht zu vereinigen und verbitterten 
durch Unruhen und Widerftand die Iehten Lebensjahre des Helen. Auf der Rückreiſe 
von dem neuen Mongolen Chan Berkai erkrankte Alerander in Nifchnei-Nowsgrod und 
ftarb 1261 am 14, November in Gorode. Das Jahr feines Todes wird widerfprechend 
überliefert. Einige Ehroniften geben 1263 dafür an und fügen hinzu, daß er nodh 
auf den Krankenlager Mönch geworden fei und den Namen Alerei augenommen babe. 
In Wladimir in der dortigen Rogumaters Kirche begraben, wurden feine Gebeine von 
Peter dem Großen nad) Petersburg gebracht und dort in dem neubegründeten Klofter 
des heiligen Alexander Nemwsfi beigefeht. Seine Heiligfprechung erfolgte bald 
nach feinem Tode, da fich bei feinem Begräbniß ein Wunder ereignete. Als feiner 
Leiche nämlich, nach dem Gebrauche der rufftfchen Kirche der Indulgenz- Zettel in die 
Hand gegeben werben follte, ſtreckte Diefe in Gegenwart vielen Volkes die Hand dar⸗ 
nad aus. Die Erinnerung an feine Regententugenden erwachte im ganzen ruflifchen 
Volke bald nach feinem Tode und machte ihn zum Schugheiligen Rußlands. (Karamſin, 
Gefchichte des rufſiſchen Reiches.) 

Alerander Rewski⸗Orden. Seinem Range ‚nach der zweite unter den Kaiſerlich 
Ruſſiſchen Orden. Zwar nicht urkundlich nachgewiefen, aber aus unverdächliger Quelle 
übereinflimmend erzählt, ſoll ſchon Peter der Große 1724, alfo Eurz vor feinem Tode 
und bei Gelegenheit der Ueberführung der Gebeine des heiligen Großfürften Alerander 
Newski aus Wladimir nach Petersburg in das für viefelben gegründete Pradhtflofter 
feines Namens, die beftimmte Ubficht ausgefprochen haben, einen Orden zu Ehren 
dieſes Schugheiligen Rußlands zu fliften, aber durch den Tod daran verhindert worden 
fein. Seine Nachfolgerin, die Kaiferin Catharina Alerefewna, führte den Gedanken 
ihre Gemahls aus und bekleidete zuerft am 8. April 1725, den Fürften Menſchikoff 
mit den Infignien deflelben. Ein Statut des Ordens aus jener Zeit eriftirt nicht, 
wohl aber ein Ukas vom 21. Mai deflelben Jahres, in welchem die Kaiferin ausfpricht, 
daß fie and Veranlaſſung ver Vermählung ihrer Tochter, der Großfürftin Anna Petrowna 
mit dem Herzoge von Schledwig- Holftein, mehrere Perfonen vom Rilitär und Civil 
mit diefen Orden begnadige „um deren ausgezeichnete Verdienſte“ zu belohnen. Diefem 
Ufas folgten 1735, am 30. Auguft, Beftimmungen über den Anzug der Ritter durch 
die Kaiferin Anna Johannowna, welde unter Kaiſer Raul verändert und erweitert 
wurden, und ift davon der 30. Auguft als der Tag des Aletander Newski⸗Ordensfeſtes 
feftgefegt worden. Das Ordenszeichen, früher gewöhnlich nur „le cordon rouge“ ges 
naunt, befteht in einem ftumpfedigen roth emaillirten Kreuze, in deſſen weißem Mittel⸗ 
ſchilde ſich das Bild des Heiligen Großfürften in goldener Nüftung befindet. Eine 
‚ Hand, aus Wollen hervorragend, febt ihm einen LorbeersKranz auf. Auf der Rückſeite 
befinden fich ebenfall8 auf dem Mittelſchilde die lateiniſchen Buchſtaben S (anctus) 
A (lexander) unter einer Fürftenkrone.. In den Kreuzwinfeln breiten fich 4 goldene 
doppelföpfige Adler mit der Kaiferfrone aus. Das Band ift gemäffert ponceauroth umb 
wird von links nach rechts getragen. Der Stern tft von Silber und achtſpitzig mit 
Füllfpigen. Auch Hier zeigen ſich in dem ebenfalls filbernen Mittelfchilde die Lateinischen 
Buchftaben S. A. unter einer Fürftenfrone. Umgeben wird dieſes Mittelfchild von einen 
ponceauroth emaillirten Reifen, auf welchem die Ordensdeviſe in einer ruſſtſchen Infchrift 
mit der Bedeutung: „Für Arbeit und Vaterland!" eben fo wie auf den ausgehenden Enden 
des eigentlichen Ordenskreuzes angebracht find. Das Ordenscoftum befteht, in einem 
rothſammtnen, weißgefütterten Mantel mit einem Kragen von Silberfloff, Weite eben⸗ 
falls von Silberftoff, ſchwarzem Sammethut mit weißer Feder’und einem goldgeſtickten 
Kreuze an ſchmalem rothen Bande. Der Orden wird auch in Brillanten verliehen. 
MNechnet man den nur für Damen beftimmten Orden der beiligen Gatharina mit, fo 
würde der Alerander Newski⸗Orden allerdings erft den 3. Rang unter den Nuflifchen 
Orden befleiven. Er bat wie der Orden vom weißen Adler nur eine Klafle und wirb 
nicht unter dem Range eined General-Maford verliehen. Nur wer fchon Inhaber des 
Alerander Newoeki⸗ Drpene ift, Fann den Heiligen Anpreas- Orden, ald erfien aller 
Auffifchen Orden erhalten, was indeffen nicht für die geborenen Mitter des heiligen 
Andreas, die Sroßfürften des Katferlicden Hauſes, gilt. Muflen erlangen nach dem 








Alexander L 689 


Ufas vom März 1834 durch ben Orden Anſpruch auf eine Penflon von 500 bis 
700 Aubeln, welche bei Ausländern wegfällt. Dergleichen Penſionen werden gegen 
wärtig von 24 Nittern, zufammen mit 7000 Aubeln bezogen. Der Orden hat feine 
befondere Geiftlichkeit, welche aus 5 PBerfonen befteht und dem berühmten Alexander 
Newski⸗Kloſter in Petersburg zugebört. 

Alerander l. Barlowitfch, Kaifer von Rußland, ward den 23. December 1777 
geboren ; feine Großmutter Katharina I1., die dem Vater Aleranders, dem fpätern Kaifer 
Paul, keinen Einfluß auf die Erziehung feines Sohnes geftattete, Tieß diefelbe durch 
den franzöftfchen Literateur und Aufklärer, Laharpe, einen geborenen Schweizer, leiten. 
Seiner Mutter, Marie, Tochter des Herzogs Eugen von Württemberg, war Alerander 
mit befonderer Liebe ergeben. Im Iahre 1793 am 9. October mit Tuife Marie Aus 
gufte, Tochter des Erbprinzen von Baden, die bei ihrem Uebertritt zur griechifchen Kirche 
den Namen Elifabeth annahm, vermählt, folgte er nach der fchredlichen Kataftrophe, 
der fein Vater Paul erlag, denfelben am 24. März 1801 auf den Thron. Seine 
Erziehung in den Grundfüßen eines liberalen Humanidmus, feine edle, fehmwärmerifche 
und der liberalen Ausgleihung aller ſchroffen Gegenfäge zugemandte Natur erweckte 
in den Freunden der Aufklärung die größten Hoffnungen.” Klopftod feierte feine Thron⸗ 
beſteigung durch eine Ode „an die Humanität”. Sein Vater Paul hatte in der aus⸗ 
wärtigen Politik fich in den wiberfprechendften Gegenfägen bewegt: zuerft mit Oeſter⸗ 
reich und England zur Bekämpfung Frankreichs verbunden, war er, ald Bonaparte in 
Paris wieder eine flarke Regierungsgewalt aufrichtete, der glühendfte Bewunderer des 
erften Conſuls geworden und hatte er fih an die Spike der Mitteljtaaten geftellt, die 
gegen England die Rechte der neutralen Flagge geltend machen ‚wollten. In. beiden 
Faͤllen Hatte zwar feine Politik einen nationalsruffifchen Zwed, die Ausbreitung des 
ruſſiſchen Einfluffes in Süden Europas, namentlich die Fußfaſſung in Italien und im 
Mittelmeer. Mit Defterreich im Bunde wollte er durch Sumaroff dad Königreich Pie⸗ 
mont wieder berftellen und Italien nach den Iegitimen Traditionen unter ruffifchem Pro⸗ 
tectorat wieder organifiren. Durch Defterreich, wie er glaubte, verratben, wurbe er 
nachher durch England gereizt, welches Ihm Malta entzog, mit deſſen Bells und Groß- 
meiftertbum ihm Frankreich geſchmeichelt hatte. Europa wurde durch dies Streben 
Kaiſer Paul's nach dem — wie durch ein geſpenſtiſches Abenteuer geſchreckt, 
Rußland dagegen konnte dieſe weitgreifende Tendenz nach dem Süden Europa's noch 
nicht ertragen. Es war als ob der Tod Kaiſer Paul's Europa und Rußland von 
einer unnatürlichen Laft und Aufgabe befreite und man Hoffte, daß der Nachfolger auf 
dem Zarenthron Rußland zu feinen innern Aufgaben zurüdführen und durch Verbrei⸗ 
tung europäifcher Bildung, durch Pflege des Unterrichts, fo wie durch die Entfeffelung 
des Gewerbfleißes beglücen werde. Dazu fam, daß Kaifer Paul durch den Gegenſatz 
der Revolution beunruhigt und angeftachelt, die Autorität de Zarenthumd im Großen, 
aber auch zugleich im Kleinen mit etferfüchtigem Argwohn gepflegt hatte. Noch bie 
in feine übertriebenften Ausfprüche und Verordnungen kann man zwar eine nicht uns 
begründete Auffaffung der Zaren-Autorität verfolgen... Sein Ausſpruch z. B., daß nur 
derjenige in Rußland bedeutend fei, der mit ihm fpreche und fo lange er mit ihm 
fpreche, ift ein richtiger Ausbrud des nationalsruffifchen Principe, wonach die Herr- 
lichkeit des Staats im Zar allein eine perfönliche Erfcheinung Hat und von ihm auf 
die Klaflen und Untertbanen zurüdjcheinen kann. Die revolutionäre Aufklärung war 
jedoch in Rußland bereits fo weit verbreitet, daß diefer Eultus des Zarenthums als 
eine Uebertreibung und Idioſynkraſte des Kaifers erſchien, und auch in dieſer Beziehung 
hoffte man von Alexander, daß er mit feiner Milde die Anſpannung im Innern des 
Reichs herabſtimmen und die Menſchenrechte mit den Anſprüchen des Zarenthums in 
Einklang bringen werde. 

Die friedliche Stimmung, die nach der Schlacht bei Marengo und waͤhrend der 
Verhandlungen über den Luneviller Frieden in ganz Europa herrſchte, ſchien Alexander 
in der Ausführung ſeiner inneren Aufgaben zu begünſtigen. Selbſt England hatte 
dieſer Stimmung ſo weit nachgegeben, daß es über den Frieden unterhandelte. Die 
wichtigfte Angelegenheit Europa's war die neue Organiſation Deutſchlands und die 
Vertheilung der Entſchaͤdigungen, die die einzelnen deutfchen Staaten für ihre Verlufte 

Wagener, Staats u. Geſellſch⸗Lex. 1. 44 


6 Alexander 1. 


‚auf dem linken Rhein⸗Ufer aus den eingezogenen geiftlichen Staaten und Stiftungen 
erhalten follten. Rußland leitete mit Frankreich dies Werk, aber es fchien in ver 
Hand Alerander’3 faft nur ald eine Gelegenheit, die mit ihm verwandten Höfe von 
Baden und Württemberg mit Anfchen und Macht zu befchenten und den mit ihm hrs 
freundeten Monarchen von Preußen in feinen gerechten Anfprüchen zu unterflügen. 


Während Alerander fich dieſem Werk der vermandtichaftlichen Anbänglichkeit un 


der Freundſchaft winmete, ſchwelgte er in der Heimath im Traume der Verfühnung 
der Regitimität mit feiner revolutionären Myſtik. Joſeph de Waiftre, der ſardiniſche 
Bevollmächtigte, der im Jahre 1803 nah St. Petersburg Fam, um durch diploma 
tifche Kunft feinem auf Sarbinien beſchraͤnkten König Piemont und Savoyen wie 


zuerobern, fand den Kaifer, wie er nach Haufe fchreibt, fehwärmend- für dad Ideal 


einer myſtiſchen Demokratie. Alerander gab abfichtlih keine großen Gala» Diners 
mehr, weil er bei benfelben hätte repräfentiven und den Zaren darftellen müfſſen. 
Joſeph de Maiftre geht fogar fo weit, dem Cabinet feines Königs zu melden, dat 
der Kaiſer an das Recht der Legitimität nicht mehr glaube und es aufgegeben habe. 
Allein der Ernft der Zeit und die Unermüdlichkeit und Enplofigkeit der Ren: 
Iution enttäufchte Diejenigen, die auf eine friedliche Transaction mit der leßteren rech⸗ 
neten. Auch Werander wurde daran gemahnt, feine bemofratifchen Illuſionen aufıw 
‚geben, ſich auf die Hebung feines Reichs Durch Verbeſſerung der Unterrichts-Anftalten, 
Reform der Univerfitäten und Gymnaſien zu befchränfen, die Reviſion der innem 
Befeggebung auf eine noch ferne Friedenszeit zu vertagen und ſich zunächſt zum Kampf 
mit der bewaffneten Revolution zu rüften. Diejenigen, die nach der Schlacht von 
Marengo glaubten, der Vorhang werde fallen und dad Schaufpiel der Mevolution It 
zu Ende, täufchten fih, fchreibt de Maiftre aus Petersburg. Es Fam Aufterlig; — 
man glaubte ſich zurüczieben zu FTünnen. Aber nein! Es Tommt Iena und Fried— 
land! Und Alles das war doch nur der Prolog zu dem Kampf, der Darauf von 
den Schlachtfeldern Rußlands bis nach den Anhöben bei Paris ſich erftreden follte. 
Die Errichtung des Königreichd Italien, überhaupt die Unterwerfung Italiens, 





für welches die Ruffen unter Suwarow noch kurz vorber geblutet hatten, die Bejegun 


Hannoverd durch ein franzöflfches Heer und die völlige Vernichtung Hollands übe: 
zeugten Ulerander, daß er von Branfreich bei den Lunldiller Friedens verhandlungen 
nur benutzt ſei, und daß er Napoleon nur geholfen habe, Deutſchland ſich unterwerfen, 
um von bier aus Holland und Italien definitiv zu gewinnen. Alexander trat barım 
der neuen, von Pitt geftifteten Coalition bei, fchidte feine Armee Defterreich zur Hält 
und verfuchte ed, auf feiner Reife nah Wien in Berlin der deutfchen und preußiſchen, 
antisfranzöflfchen Partei am Hofe Friedrich Wilhelm II. das Nebergemicht zu geben. 
Es gelang ihm nicht und ed Fam nur zu dem Freundſchaftsſchwur am Sarge Friedrid 
des Großen in Potsdam. Bei Aufterlig mit den Oefterreichern am 2. December 18% 
gefchlagen, zog er fich in fein Neich zurück, da Ocfterreich für den Augenblid an dr 
Möglichkeit einer neuen glücklichen Wendung verzweifelte. Den Frieden nit Frankreich 
ablehnend, ftand Alerander im folgenden Jahre auf der Seite Preußens, doch trafen 
feine Heere erft für die Entfcheidungsfchlachten des Jahres 1807 bei Eylau und Frie- 
land ein und fonnte er nur das Mißgefchi Friedrich Wilhelm II. int Tilfiter Frieden 
mildern. Auf der Zufammenfunft zu Erfurt ftellte ſich die in Tilftt getroffene neu 
Rage Europa’d: dar. Napoleon gebot ald das Haupt des Weftend und Mittel-Euroyai 
über den großen Militärftaat, dem Völker und Zürften nur noch ald willenlofe Ritt! 
dienten. Alerander repräfentirte das Kaiſerthum des Ditens, aber doch nicht mehr felbf- 
ftändig und jouverän, da er fein Reich dem Gontinentalfyftem einverleiben und jich dem 
Kreuzzug gegen England anfchließen mußte. 

Doch wußte Ulerander die veränderte Rage Europa’8 und feines Reiches ie! 
wohl zu dem Vortheil des letztern auszubeuten. England griff er hauptfächlich nur in 


dem Bundesgenoffen deflelben, in Schweden an, dem er im Frieden von Friedrichs⸗ 


bamm, im Jahre 1809, Finnland abgewann. Sodann folgte der Krieg gegen die 


Türfei, der erft 1812 durch den Bufarefter Frieden beendigt wurde und Rußland unter 


Bermittelung Englands, welches Alerander für den neuen Entſcheidungskampf im Si— 
ben freie Hand verichaffen wollte, Beflarabien einbrachte. 


— 


Aexander 1. 69l 


Der unnatürliche Druck, den das Continentalſyftem auf die Ackerbau⸗Intereſſen 
Rußlands ausübte, Die Schmadh, die da3 große Zarenreih in der Dienftbarfeit unter 
einem fremden Handelsſyſtem finden mußte, die Annäherung Schwedend, das in Nor- 
wegen Erſatz für Finnland zu gewinnen hoffte, endlich die Vergrößerung ded Herzog» 
thums Warſchau, in welchem Napoleon in ähnlicher Weiſe wie im Königreich Italien 
in der füblichen romanifchen Welt in der flawifchen die Stüße feiner Univerfalherrfchaft . 
fih bilden wollte — Alles das entfchied unter Englands Mitwirkung den Bruch zwi⸗ 
ſchen Frankreich und Alerander. 

Am Klarften hatte der geheime Abgefandte Friedrich Wilhelms II. und einer der 
edelften Führer der patriotifchen Partei in Berlin die neue Situation aufgefaßt und in 
St. Petersburg dargeftellt. Da Preußen zunächft noch gezwungen war, ſich dem fran⸗ 
zöflfegen Erpeditiondheerr nach Rußland mit den anderen deutſchen Armeeförpern und 
mit den. Truppen der anderen Völker des Feftlandes anzufchließen, fo ftellte Freib. v. d. 
Kneſebeck dieſe ganze Unternehmung nur als eine unvermeidliche Epifode dar, die zum 
Untergang der franzöflfchen Macht und zur Befreiung Europa's führen werde. 

Der Ausgang beflätigte die Auffaffung des preußifchen Abgefandten. Als Aleran- 
der nach der Vernichtung des franzdfifchen Heers die Proclamation von Kalifch unterm 
25. März 1813 an die Völker Deutfchlands erließ, war Preußen fehon dem Aufruf 
feined Königs gefolgt. 

Während Die Heerfäulen Europa's nach der Schlacht bei Leipzig auf franzöftfchem 
Boden fanden, und Die verbündeten Monarchen über die Zukunft Frankreichs beriethen, 
ſoll Alexander, wie der Verfaffer ver „Pentarchie" als Beweis feines politifchen Scharf- 
blicks und feiner liberalen Neigungen‘ bervorhebt, die Idee aufgeftellt haben, den Her⸗ 
zog von Orleans ald das natürliche Oberhaupt des neuern franzöftfchen Bürgerthums 
auf den Thron zu heben. Seinem edelmüthigen Romanticismus, der durch die erjchüt- 
ternden Wendungen ber legten Jahre aufs Höchſte gefteigert mar und nach dauernden 
Inftitutionen verlangte, entfpricht aber mehr die Annahme, daB er befonvers lebhaft 
für Die ältere Linie der Bourbond auftrat und in ihrer Anerkennung die ficherite Schutz⸗ 
wehr gegen die Revolution und den Liberalismus fah. 

Gerade die Schöpfung aber, Die er auf dem zweiten Parifer Congreß in's Leben 
rief und Die nach feiner Anficht die Politik Europa’8 auf den Grundlagen der Gerech⸗ 
tigfeit und “des Ehriftenthbums gründen follte, die am 26. September 1815 von ihm 
und den Monarchen von Defterreihh und Preußen unterzeichnete heilige Alliang war 
ein Beweid, daß feine Jugenprichtuug des Humanismus und Liberalismus auch Aınter , 
der Hülle eined fcheinbaren Myſticismus noch mächtig fortwirfte Nur die nächften 
Wirkungen diefes religidfen Bundes, nur der Gebrauch, den Defterreich von ihm machte, 
nur die bewaffneten und noch dazu, wie die fpätere Zukunft bewies, fruchtlofen Inter⸗ 
ventionen, die er im Süden Europa's zur Folge hatte, haben das Urtheil über Die Be» 
deutung diefed Bundes trüben können. In Berona fagte einmal Alerander, es bürfe 
fortan nicht mehr eine englifche, franzöftfche, ruſſiſche, preußifche, öſterreichiſche Politik 
geben, fondern nur eine allgemeine, die zum Heil aller Völker und Fürſten zur Nichte 
ſchnur dienen muß. So ift auch der Sinn der heiligen Allianz, daß es fortan Feine 
proteftantifche, Tatholifche, griechifche Kirche, ſondern eine indifferente Norm geben jo, 
die über den Bündniffen und Aufgaben jener einzelnen Kirchen ſteht. Die heilige Al⸗ 
liance war. demnach auf einen größeren Gebiet bafielbe, wie die Union, die bald darauf 
in den proteftantifchen Landesfirchen Deutfchlands eingeführt wurde. 

Die Solidarität der confervativen Intereffen, bie bie heilige Allianz anerfannt 
hatte, benugte Defterreich, um auf den Gongreflen von Aachen, Troppau und Verona 
die Elemente des Beſtandes in Deutfchland felbft gegen die Gefahren der Unbeſtimmt⸗ 
heit, welche die Hoffnungen und Erwartungen nach der Kriegdaufregung angenommen: 
hatten, zu zeiten und zu erhalten, und im ronıanifchen Süden, von Spanien bis Nea- 
pel, die militärifchen Aufftände, die Europa fchon damals mit einer Militär - Dietatur 
bedrohten, zu brechen. Weiter hat die Allianz nicht? gewirkt; Alerander war dienen⸗ 
des Werkzeug Oeſterreichs und flatt eines neuen foliden Aufbaues erhielt Europa nur 
den Troft, die nothbürftigften Elemente einer fpäteren pofitiven Schöpfung erhalten 
zu fehen. 

44% 


692 Alexander IE 

Schon in der Zeit ihrer erften Blüthe, ſchon damals, al& fie leiflete, was ſie 
leiften Eonnte, erhielt die Heilige Allianz ihren Todesftoß in dem griechifchen Aufftande. 
Alerander, der ald einzige Frucht der Allianz Rußland nur die argmöhnifche Lieber: 
wachung aller von ihm felbft früher begünftigten liberalen Bewegungen bieten fonnte, 


mußte: jenen Aufftand ſich felbft überlaffen, die Hoffnungen der Griechen auf Rußland | 
ſelbſt enttäufchen helfen und die Theilnahme der ruſſiſchen Kirche für ihre Neligiond- 


Verwandten in Süden der Donau zügeln. 

Diefe Colliſton, die er feit 1821 bis 1825 ertragen mußte, brady feine Seelt 
und führte ihn mit geflörtem Gemüthszuſtande dem Tode entgegen, der ihn endlid 
auf feiner Reife nach dem Süden in Taganrog den 1. December 1825 von feine 
geiftigen Qualen befreite. 

Sein Nachfolger Nikolaus Löfte die Eollifion, die den Bruder getöbtet batte, in⸗ 
dem er ald Vorkaͤmpfer der ruffifchen Kirche den Krieg mit der Türkei begann. Die 


fe8 Erwachen, diefen Triumph. der rufftfchen Kirche kann man bereitd ala das Ente 


der heiligen Allianz bezeichnen — ein Ende, das fi auch darin ausſpricht, daß 
Kaifer Nikolaus mit 'meifterhafter Politit gerade England und Frankreich durd den 
Londoner Vertrag vom 6. Juli 1827 mit Rußland zur gemeinfamen Verwendung fir 


Die Griechen verband, während Defterreih und Preußen für eine Theilnahme an da 


orientalifchen Kirchenfrage nicht zu gewinnen waren. 

Alerander II, Kaifer von Rußland. Indem wir von den erften Regierungs⸗ 
jahren des jeßigen Zar einen kurzen Ueberblid geben, haben wir e8 zugleich mit einem 
der größten Probleme zu thun, mit dem Rußland bisher zu Fämpfen gehabt Hat. Ja, 
wir Fönnen 'fagen, daß die erften Regierungsjahre ' Alerander 1. der Gefchichte für 
immer angehören werden; weil in ihnen das Hauptproblem der ruffifchen Geſchichte 
Mar und entfchieden aufgeftellt if. Die Brage, um die es fich handelt, iſt nicht nur 
eine perfönliche, nicht nur die, ob es dem jegigen Kaifer gelingen wird, feine Reform 
pläne glüdlich durchzuführen, jondern e8 ift zugleich die Frage Rußlands felbft, die 
zur Entſcheidung kommen muß. Kann Rußland, das ift die Frage, nachdem. es bie 


ber nur durch Zwang und Gewaltmittel zur Arbeit angetrieben werden mußte, dur 


eine Örganifation, die auf Ehrgefühl, Selbftachtung und gegenfeitigem Vertrauen 
beruht, zu feinem innern Ausbau gebracht werden? Iſt e8 möglich, den 35 Millionen, 
die mehr oder weniger fireng der völligen Leibeigenfchaft verfallen find, die Wohlthat 
der perfönlichen Nechtöfähigkeit zu ertheilen, ohne zugleich die Eoftbaren Elemente 
eined gefunden Gemeindelebens, das ſich unter einem großen Theil von ihnen erhalten 
bat, zu zerftören? Wird der Adel, nachdem er durch die Dienftbarkeit der Leibeigenen, 


mit der ihn die Allgewalt der Zaren beſchenkt bat, felbft moralifch angegriffen ift und 


für das Gefchen? der Zaren fih in ein willenloſes Beamtenthum verwandeln mußt, 
den Ernft des Augenblid3 verftehen und die völlige Umgeftaltung des Gemeindeleben? 
und der Kreis⸗ und Provinzials Verhältniffe dazu benugen, um fich zum lebendigen 
Haupt der Gemeinde zu machen und eine wirffame Kreis» und Provinzial- Vertretung 
herbei zu führen? Oder wird Die jegige Neform nur die völlige Desorganifation des 
ruſſiſchen Gemeindeleben zur Folge haben, mwirb fie die Umwandlung des Adelt in 
eine mechanifche Büreaufratie vollenden, und wird dad Zarenthum aus einer Bewegung, 
die die Reime der Selbftvermaltung der Gemeinde entwideln zu wollen fich den An 
fein giebt und dem Abel für diefes große Werk die Ehre der Initiative zuweiſt, id 
mit verftärfter Gewalt erheben und mehr ald je auf ein innerlich entzweites Gemeinde 


leben und auf einen, durch feinen Nothſtand mehr als bisher büreaufratifch geworde 


nen Adel drüden? Die NReformverhandlungen der legten anderthalb Jahre Bieten ſchon | 


fo viel Thatfahen und Anhaltpunkte, daß es nicht zu verwegen fein dürfte, die wahr: 
Scheinliche Beantwortung diefer Frage zu anticipiren. j 
Alerander TI. trat nad) dem Tode feines Vaters Nikolaus, am 2. März 1955, 
in einer der ſchwerſten Krifen, die Rußland erfahren bat, die Negierung an. Geboren 
am 29. April 1818 erhielt er feine erfte Erziehung unter der Reitung feiner Wutter 
Alerandra Feodorowna, Schwefter Friedrich Wilhelm IV.. Sein erfter Lehrer war 
Geyeral Mörder, ein deutſcher Proteflant; bezeichnend für fein innerliches und nad» 
denfliches Weſen iſt es jedoch, daß der Dichter Zukowski, von der romantifchen 











Alerander I. 693 


Schule und von der aljeujftfchen Partei feine Erziehung vollendete. Im Jahre 1834 
majorenn erklärt, machte er als Commandant der Garde-Ulanen, ald Ataman der 
Kofaken und erfter Adjutant des Kaiſers die militärifche Schule unter der Leitung feis 
ned Vaters durch. Dom firengen Tageödienft jedoch nicht befrienigt und von Melan⸗ 
cholie ergriffen, begab er ſich auf eine Reiſe nach Deutfchland, wo fein Aufenthalt 
zu Darmftadt zu feiner Vermählung mit der großherzoglicdyen Prinzeſſtn Marie führte. 
Schon im Jahre 1826 zum Sanzler der finnifchen Landesuniverſitaͤt ernannt, legte 
er ſich nad) feiner Vermählung Die im Jahre 1841 erfolgte, befonderd auf das Wert 
der VBerföhnung, die Mißſtimmung der Finnen gegen Rußland zu mildern und auszu⸗ 
gleichen. _ 

‚Der Tod feines Vaters berief ihn aber zu einem umfafjenderen Werke der Ver⸗ 
föhnung. Es galt den Bruch mit Europa zu heilen und zugleich die Zerrüttung , die 
der orientalifche Krieg in den Aderbau und in die Verhaͤltniſſe des Grundbeſitzes 
gebracht hatte, zu heben. 

Im Jahre 1852 ftand fein Faiferlicder Vater als der erfte Staatsmann Europa's 
und als Die mächtigfte Schugmehr der confervativen Interefien da. Das Unfehen aber 
und das Uebergewicht, dad er Durch die Rettung Ungarns, durch die Abwehr der Re⸗ 
volution und Durch feinen Antheil an der Aufrechterhaltung des Deutfchen Friedens 
gewonnen hatte, war von ihm nicht zu Thaten und Schöpfungen benugt worden, Durd 
die er feine hervorragende Stellung allein hätte behaupten können. Rußland's Macht 
und Natur erlaubten ihm nur, wie es fcheint, den Status quo in Mittel-Europa gegen 
die Revolution zu vertheibigen, aber nicht Durch eine neue Organifation Europa's, vor, 
allem Durch einen ernten Kampf mit dem mächtig fich erhebenden Imperialismus Frank⸗ 
teich8 der Gedichte eine neue und gedeihliche Wendung zu geben. Außerdem rief ihn 
die Eiferfucht der ruſſiſchen Kirche und des ruffifchen Nationalcharakters nach einer 
andern Seite bin; beide ‚waren durch Frankreichs Agitationen in der Frage der heiligen 
Stätten gereizt, der Kaifer mußte ihnen folgen und er verlor den politifchen Gewinn 
ber legten Jahre, indem er von den Staaten, mit denen ihn bisher die Solidarität der 
conſervativen Interefien verband, verlangte, daß fle die übermäßige Machtzunahme der 
ruſſiſchen Staatskirche und die geiftliche Unterwerfung aller türkifchen Slawen unter 
Rußland flillfchweigend dulden und genehmigen follten. 

Als Alerander II. den Thron beftieg, hatten fich Die Folgen dieſes Schritte voll⸗ 
Rändig entwideltl. Der Bund der confervativen Intereifen war gelöft, die heilige Allianz 
zerfallen, der Mangel an gemeinfamen pofltiven Schöpfungen war bitter beftraft wor- 
den und daß europäifche Stantenfnftem, in feinen Innern vom Imperialismus bedroht, 
batte in feinem gründlichen Zerfall fi dem Geſetz des Individualismus gebeugt. 
Jeder für fih — war der Wahlfpruch der Staaten geworben. 

DOeftreih, dad die Mifachtung, die für e8 im Pruthsllebergange lag, am bit« 
terften empfand, Hatte aus Diefer Beleidigung das Recht zur Undankbarkeit gezogen. 
Ohne einen Schwertfireih zu thun, hatte es durch feine Diplomatijche Benugung bed 
orientalifchen Krieges fich der Ausführung feines ftolzen Plans, die Oberberrfchaft über 
die ganze Donau zu führen, bedeutend genähert. Durch jeine- Verträge mit den 
MWeitmächten, mit Preußen und mit der Pforte hatte es die Ruſſen zum Rüdzuge über 
den Pruth gezwungen. Als es wußte, daß Rußland, nachdem es die Unmöglichkeit 
einer aggrefiiven Politik eingefehen, zu Unterhandlungen geneigt jei, verpflichtete es ſich 
die Weftmächte durch den Vertrag vom 2. December 1854. Schon Nikolaus Hatte 
die Wiener Verhandlungen befchloffen, fie aber noch bingezogen, Alexander Il. nahm 
fie fogleich nach feiner Throndefteigung ernftlich auf. Der dritte Punkt, die Neviflon 
der Verträge von 1841, die von Drouin de L'Huys erfundene Neutralifation des 
Schwarzen Meeres, die Herftellung eines Gleichgewichts zwifchen der rufftfchen und 
türkifchen Seemacht war aber fo lange nicht zh entfcheiden, als die Alliirten noch ver⸗ 
geblih mit Sebaftopol rangen, fo wie aber diefe Veſte gefallen war, entſchied Oeſter⸗ 
reich den Frieden. Es trat im December 1855 mit feinem Ultimatum hervor, ed wußte, 
daß Rußland es annehmen würde und Frankreich zu Gunften Englands den Krieg nicht 
mehr fortfeßen wolle. 

In dem Manifeft bei feiner Thronbefteigung hatte Alerander fchon bie Ifolirung 


694 ° Alerander IL 


Rußland’ 8 proclamirt. . „Möge die Vorſehung,“ fagt er in demſelben, „geben, daß 
wir, geleitet von ihr, Rußland auf der höchften Stufe der Macht und ded Ruhmes 
befefligen." Der Gulminationspunkt ber Ruſſiſchen Macht iſt demnach erreiht, Kup 
land iſt Sich felbft genug; es kann ſich mit Ehren auf fich zurüdziehen und braudt 
fih und feinen Bellg nur zu conferviren. 

Mit diefer Reflgnation Eonnte aber die rufjifche Kirche nicht zufrieden fein. Die 
Proclamation Alerander’8 vom 31. März 1856 über den Abſchluß des parijer Frie⸗ 
dend gab ihr zwar die genugthuende Erklärung, daß Der Zweck des Krieges erreicht 
und das Fünftige Loos und Die Rechte aller Chriften im Orient ficher geftellt feien. 
Allein die unerwarteten, nicht vorbergefehbenen Wege, auf denen das große Werk vol: 
lendet fei, fonnten ihr nicht wirklich genügen. Dad europäifche Protectorat über 
die Ehriften der Türkei war die Niederlage der rufilfchen Kirche. 

Frankreich Mipftimmung gegen England, von dem ed ſich ald Mittel und Vaſall 
behandelt glaubte, gegen Defterreih, das nach der Verdrängung Rußlands von der 
Donau den reellfien Gewinn aus dem Krieg der Weftmächte davon getragen hatte, 
bot Rußland für feine Verluſte zwar einen Erfah. Aber um welchen Preis? Auf 
Koften eben der Ehriften der Türkei, eben der Vajallenftaaten‘, deren Sicherheit und 
Fortentwicklung jet dem Proctectorat der europäifchen Mächte anvertraut war. 

Frankreich, unzufrieden mit dem Krieg, der ihm keinen dauernden Gewinn ge 
bracht hatte, unzufrieden mit den von ihm felbit übereilten Frieden, in dem es Oche- 
reich an der Donau noch nicht alle von ihm gewünfchten Demüthigungen und Beihä- 
Digungen zufügen konnte, fuchte nach dem parifer Frieden in den türfifchen Donau⸗ 
Provinzen desorganifirend zu wirken, nur um fich im Rath der garantivenden Mädte 
befonderd geltend zu machen, un, wie es meinte, Deftreich zu fchaden und um, wie e 
hoffte, Rußland einen Gefallen zu thun. 

—Zur Dedorganifation, die Rußlands Pruthübergang, fodann feine Ifolirung in 
die Gruppirung der europäischen Mächte gebracht hatte, kam Die Desorganifation, die 
Frankreich in die laufende Politif brachte, und Die Verwirrung, die ed anftiftete, um 
fih für den Notbfall und für die fpätern GCombinationen die rufftfche Allianz zu fichern. 

Die claſſiſche Formel für die Ifolirung Rußlands Hatte Fürſt Gortjchakoff, der 
Nachfolger Neſſelrode's in der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, in der Eirculars 
depefche aufgeftellt, in der er gegen Die fernere Occupation des Königreich8 Griechen⸗ 
land durch die alliirten Truppen und gegen die beabfichtigte Demonftration der Weſt⸗ 
mächte gegen Neapel im Sommer 1856 proteflirte. Er ſpricht es in dieſer Depeſche 
geradezu aus, daß „das Principienbündniß, dem Europa einen mehr als 25jährigen 
Brieden verdankt, nicht mehr in feiner alten Kraft beſteht. “Er giebt ſehr deutlich m 
verftehen, daß dieß Principienbündniß für Rußland eine Feſſel war, Die es, in de 
Wahl feiner Allianzen einengte und ihm oft eine unnatürlicdhe Richtung gab, — „die 
Berhältniffe, jagt er, haben uns die volle Freiheit des Handelns wiedergegeben.“ Fir 
jest, fegt er endlich zur Eharakteriftif der neuen Stellung Rußland's auseinander, wil 
fich Ddaflelbe, indem fich fein Kaifer vor Allem dem Wohl feiner Unterthanen widmet, 

keineswegs unzufrieden und verſtimmt iſoliren. „Es ſchmollt nicht, — es ſammelt ſich. 
Etwas ſchroffer und ruͤckſichtsloſer drückte ſich über die neue europäifche Politik 
die deutſche St. Petersburger Zeitung im December 1857 in einem Artikel aus, in 
dem ſie ſich gegen einen Aufſatz der Times über den principiellen Gegenſatz Rußland 
und Englands erklärte. Ihre Behauptung, daß die ruſſiſchen Staatsmänner Feine 
abftracten Principien haben und die SPrincipienjägerei in der Politif überhaupt einer 
nun bald verfchollenen Zeit angehöre, machte fie durch den Sag deutlich, daß de 
Mond, wenn er feheint und leuchtet, Daß der „Mops“, wenn er den Mond anbellt, 
deshalb nicht beſondere Principien haben, fondern, daß jener, wenn er leuchtet, dieſer, 
wenn er den Mond anbellt, nur den Impulfen folgen, die aus den Lebensbedingungen 
ihrer @riftenz hervorgehen und fich, jeder auf feine Weife von der fchönen, freundlichen 
Gewohnheit ded Lebens und Wirkens treiben laſſen. 

Während Rußland fich jammelte und den Chaos zufah, welches nach dem Sturz 
ber Principien aus der Politif der natürlichen Inſtincte hervorgehen mußte, ließ es 
Branfreich den providentielfen. Zuge folgen, der daſſelbe zur Gegnerfchaft gegen Oeſter⸗ 








reich antrieb. In der Bolgrad= Brage und in der Angelegenheit der Schlangeninfel 
Icheiterten zwar Frankreich und Rußland, der Verfuch des letzteren, ſich an der Donau 
u behaupten, mißlang; Defterreich hatte, als e8 im December 1855 durch fein Ulti⸗ 
natum den Frieden erzwang, Die Vorficht geübt, Branfreich vorher Durch einen Ver⸗ 
trag zu binden, wonach daſſelbe aus jeder Beeintrichtigung des Friedensvertrags einen 
Kriegsfall machen mußte. / 

Defto eifriger begann nach dem unglüdlichen Verlauf dieſes Verſuchs Frankreich 
feine Agitation in den türfifchen Donauprovinzen. Nachdem es Defterreich von Mon- 
tenegro bid Serbien und ‚ven DonausFürftenthümern mit einer Reihe breinender Fra⸗ 
gen umgeben batte, fuchte e8 auf denfelben Kaiferflaat auch von Italien aus zu drücken, 
indem e8 in Turin dem Traume fchmeichelte, daß Piemont das natürliche Haupt eines 
teformirten und freien Italiens fei. 

An die Stelle der Solidarität der confervativen Interefien ift, eine dumpfe Agi- 
tation getreten, die den ganzen Süden von Europa umfaßt; — der heiligen Allianz 
ift ein frieblicher Krieg gefolgt, deſſen Gegenftand Oeſterreich iſt. Durch Die Fußfaſ⸗ 
fung in Billafranca bat ſich Rußland jest diefem Drud auf den mitteleuropäifchen 
Kaiferftaat angefchloffen. 

Es ift unmöglich, dem zuffifchen Etabliffement in Billafranca nur einen fried- 
lihen Handelszweck zuzufchreiben, denn dazu fehlt ihm die Baſis einer tüchtigen Segel- 
ſchifffahrt und eines ruſſiſchen Handelsverkehrs auf dem Mittelmeer. Uber e8 ift auch 
zu ſchwach zu einer großen Friegerifchen Unternehmung, da ihm die öfterreichifche Flotte, 
abgefchen von dent englifchen Beiftand, der ihr im erniten Kriegdfall nicht fern blei⸗ 
ben würde, allein ſchon gewachſen iſt. Es ift bedeutend und für die Zukunft Europa's 
ein trauriged Prognoftifon, daß fih Rußland in diefem Punkte einer bloßen Demon⸗ 
ftrationspolitif: angefchloffen bat. Es bat fich mit Louis Napoleon, den „Parvenu“, 
deſſen Politif kaum anders ald durch die Traditionen eined großen Abenteurers bes 
fimmt werden kann, viel zu fehr auf eine Linie geftellt. 

Höchſt bedenklich if es auch, daß die Peteröburger Prefle ihre jegige Freiheit 
ausfchließlich nur benußt, um alle Regungen der Unzufriedenheit im Süden Oeſter⸗ 
reichs zu begünftigen. Sie bat ſich für Sarbiniens große Beftimmung, fo wie für die 
neopolitanifche und römifche Reform audgefprochen, Ungarn ift ihr Schüßling, die une 
glücklichen Experimente in den Donaufürftenthümern und die Meaction in Serbien 
gegen Die befonnene Politik des geftürzten Fürften und gegen das Eindringen deutfcher 
Cultur haben ihren ganzen Beifall. Defterreih ift ihr Hauptfeind und fle unterhält 
in Zeitartifeln und in Correſpondenzen aus Italien ihr Publicum von der Ungerechtig« 
feit und Unhaltbarkeit der öfterreichifchen Herrſchaft jenfeit der Alpen. Sie vergißt, 
daß Rußlands Woeltftellung feit dem erften fchöpferifchen Auftreten der Normannen 
unter Rurik auf der Combination verfchiedener Nationalitäten beruht, und ironifirt 
Defterreich, weil es fein Nationalftaat fei. Sie vergißt die Worte, die Kaifer Aleran« 
der II. im Mai 1856 bei feinen Befuh in Warfhau den Polen zurief, um fle aus 
ihrem Traume von einem fünftigen polnifchen Nationalftaat zu reißen — die Worte: 
„Bor Allem Eeine Träumereien! Eeine Träumereien!" — und fie nimmt jebe Negung 
einer Nationalität in Schuß, fobald fie gegen Defterreich gerichtet ift.' 

Die Zufammenkunft Kaifer Alerander'8 und Louis Napoleon’3 in Stuttgart im 
September 1857, in der die franzöflfche Preſſe Die Beſiegelung einer definitiven Allianz 
jah, gewährte in diefer Desorganifation der europätjchen Verhältniſſe noch einen Troft. 
Nach Allen, was man aus fichern Nachrichten weiß, blieben fich beide Monarchen 
fremd und kalt gegenüber ſtehen. Zwijchen dem legitimen Serrfcher, der für eine große 
Bergangenbeit und Zukunft verantwortlich ift, und dem Vertreter des Imperialismus, 
der felbft ‚zur Durchführung der franzöfifchen Abenteurerpolitit noch zu ſchwach iſt, 
konnte keine Einigung flattfinden. Freilich herrſchte auch dieſelbe Kälte und Fremdheit 
J der darauf folgenden Zuſammenkunft der Kaiſer von Rußland und Oeſterreich zu 

eimar. 

Die Fremdheit, mit der Kaiſer Alexander dem franzöflfchen Imperator wie dem 
Haupt der habsburgelothringifchen Dynaſtie entgegentrat, beweiſt, daß Rußland zwifchen 
den Intsrefien, die Europa zerflüften, neqh nicht ſein Gleichgewicht und ſein letztes 


696 Alerander IL 


Mort gefunden hat. Ein Blick auf Die Leibeigenfchaftöfrage, an der es ſich jetzt zer⸗ 
arbeitet, beweiſt aber, daß ihm dies Gleichgewicht auch noch in feinem Innern fehlt. 
Dad Werk der Enancipation, welches der Kaiſer Alerander troß des Widerſtandes 
der Intereſſen und troß der Gefahren des Unternehmens mit Eifer und Gonfequen; 
verfolgt, war Fein jehlechtbin neues. Man kann e8 mit größerem Recht als die For 
fegung und als den Abfchluß der Gefeßgebung feines Vaters bezeichnen. Kaifer 
Nicolaus hatte durch den Grafen Kiffeleff, den er an die Spike des von ihm geflifte- 
ten Minifleriums der Staatöpomänen geftellt hatte, den Kronbauern eine Organifotion 
gegeben, die ihnen das alte Recht der Selbfiverwaltung der Gemeinde wahrte und der 
Regierung in diefem Augenblide erlaubt, Die Staatspomänen mit ihrer Bevölkerung 
von fait 20 Millionen noch außerhalb der Frage zu halten. Außerdem batte der Ufas 
vom. 14. April 1842, der den Gutöherren geftattete, mit ihren Leibeigenen Verträge 
über ihre Leiftungen in Frohnen, Naturalien oder Geld abzufchliegen, die Mündigkei 
und NRechtöfühigfeit Derfelben anerfannt. Der Ukas vom 20. November 1847 hatte 
ferner der leibeigenen Gemeinde das Hecht gegeben, die wegen MUeberfchuldung zum 
Öffentlichen Berfauf kommenden Liegenfchaften ihres Leibherrn erbeigenthümlich zu ge 
winnen, der Ukas vom 15. März 1848 endlich hatte den einzelnen Leibeigenen das 
Necht des Bodenerwerbs zuerkannt. 

Während der Liberalismus des Weftens dieſe Ufafe die Magna Charta des 
ruſſiſchen Bauernthums nannte, wollten jedoch ruſſiſche Kritiker in ihnen noch Etwas 
mehr, nämlich die Grundlinie eines Syſtems feben, welches einerfeits auf die Schwä- 
hung des Grundadels, andererfeitd auf die gänzliche Auflöfung der bißherigen Ge⸗ 
meindeverfaffung gerichtet war. In leßterer Beziehung namentlich vermuthete man, daß 
die neue Geſetzgebung bezwedte, Durch die Einführung der Ungleichheit des Beſitzes die 
bisherige Solidarität, die die Gemeindeglieder miteinander verband, aufzulöfen. 

Für das jebige Emancipationswerf ift es ſchon eine bedenkliche Vorbeveutung, 
daß es durch die Anträge des Adels in den früheren polnifhen Provinzen Wilna, 
Koreno und Grodno feinen Anftoß erhielt. Schon Kaifer Nikolaus hatte dem Tithani- 
fhen Adel durch einen Ufas vom 26. Mai 1847 eine Gommiffton aufgeladen, die das 


‚Inventar jedes, einzelnen Gutes aufnehmen follte, um darnach die Verpflichtungen der 


Bauern gegen die Gutsherren aufzuftellen. Offenbar mar diefe Maßregel darauf bes 
rechnet, die Macht des polnifchen Adels vollends zu brechen, durch die Auseinander⸗ 
feßung zwifchen den Herren und Bauern den Bruch zur gefeglichen Darftellung zu 
bringen, der Beide in Bezug auf Nationalität und nad dem Vorbringen der ruflifchen 
Kirche fugar auch in Firchlicher Beziehung trennte; endlich follte die Inventar= Gom- 
mifflon die polizeiliche Beauffichtigung über Beide, den biöherigen Herrn der Gemeinde, 
wie über die Bauern organifiren. 

Um den Drud diefer Commiſſion von fich abzufchütteln und alle adminiftrative 
Zucht los zu fein, hatte Der Adel von Lithauen ſchon unter Nikolaus die fofortige und 
völlige Emancipation der Bauern angeboten, ohne bei der Regierung Gehör zu finden. 
Erſt unter Alexander I. drang er mit feinem Vorfchlage durch, nnd durch das Reſcript 
vom 2. December 1857 wurde fein Antrag dem Adel des ganzen rufilfchen Reiche als 
nachahmungswerthes Beifpiel vorgehalten. 

Nach diefem Vorgange iſt e8 wohl fehwerlih noch als Schwarzfeherei zu be 
zeichnen, wenn man es als die Aufgabe der feitvem in ganz Rußland zufammenbe 
zufenen und nur zögernd zufanmengetretenen Adelscomitès bezeichnet, den bisherigen 
Organismus der Gemeinde zu Iodern und zugleich den Reſt des patriarchalifchen Zu- 
fammenhangs zwifchen Gutöheren und Bauern zu tilgen. Das Ziel, welches das 
Peteröburger Haupteomite in feinen Programmen, befonderd in feinem Erlaß vom 
1. März 1858 den proviforifchen Arbeiten der nächften 12 Jahre geftellt hat, völliges 
Eigenihbumäreht des Bauern über fein Haus, Gehöft und feinen Haudgarten und 
contractliche Feſtſetzung über feine Benugung eines Theild des Gemeindeaderd giebt 
dem ruflifchen Bauer einen doppelten Charakter als Eigenthümer und Pächter, der allen 
feinen bisherigen Anjchauungen und Mleberlieferungen widerfpricht. Der Adel, der für feine 
Berlufte eine pecuniaͤre Entfchädigung fordert, ift in eine finanzielle Revolution ges 
fihleudert, deren Ende noch nicht abzuſehen ift, da es noch fehr die Frage iſt, ob Ruß⸗ 





Alerander VI. 67 


land für feine Umwandlung -In einen Finanzftaat bereits hinreichend flüſſtge Mittel 
befigt. Sodann ift e3 noch ſehr die Frage, ob der Bauer nad) einer taufendjährigen 
Tradition, die ihn mit den Gemeindeader affimilirt bat, fähig ift, in fich die Doppelte 
Berfon des Eigenthümers und Pächterd zu unterfcheiden, und ob er nicht auch fein 
Nugnießungsrecht auf den Gutsacker für ein definitived Eigenthumsrecht halten wird. 

Allen diefen Gefahren bat zwar das Peteröburger Haupteomite dur den im 
Juli vorigen Jahres veröffentlichten Entwurf einer Organifation der Kandgemeinden 
und der Kreife entgegenarbeiten wollen. Allein Diefe Organifation, die dem Adel die 
Vorftandfchaft der Gemeinde» und der Kreidvertretung fichern will, feßt feine ganze 
Gewalt zu einer bloß polizeilichen herab, vermehrt zugleich dad bureaufratifche Raͤder⸗ 
werk der Verwaltung in dem Grade, daß in demfelben der Abel nur einen Neben» 
beftandtheil bildet, und legt durch die Vergrößerung des Beamtenheeres dem Staats⸗ 
budget eine Belaftung auf, für die bie bißherigen financiellen Kräfte Rußlands kaum 
außreichen. 

Befchädigen alle biöherigen Neformvorfchläge den altsruffifchen Gemeindeverband, 
fo fieht der Adel im Entwurf jener Gemeinde = Ordnung fein. künftiges Schidfal vor 
Augen, — feine definitive und völlige Umwandlung in einen Bruchtheil der Bureau- 
fratie, — alfo die Vollendung des Werks Peter des Großen, der dem Erbadel feinen 
neuen Tſchin⸗Adel zur Seite ftellte. 

Noch eine Gefahr! Die LKeibeigenfchaft, die die Mongolen in Rußland zuerft bes 
gründeten, als fie den Bauer auf den Krongütern an die Scholle feflelten, — die 
Iman der Dritte fortbildete, ald er Die Freizügigkeit der Bauern auf den St. Georgätag 
beſchraͤnkte — die Leibeigenfchaft, die Peter der Große endlich vollendete, als er fie 
auch perfönlich machte; bat den nomadifchen Trieb der Ruſſen gebändigt und Rußland 
gleihfam erft anfällig gemacht. Iſt aber die innere Erziehung Rußlands wirklich voll 
endet? Iſt die Anfäfjigkeit des Ruſſen fo geflchert und erftarkt, daß die Zeit der freien 
Arbeit beginnen kann? Wird der nomadifche Trieb nicht wieder erwachen, wenn die 
Gemeinde zeriplittert ift und die Kleinen, mittellofen Eigenthümer von der augenblidlich 
Iohnenderen Arbeit an den projectirten Eifenbahnbauten angelodt werben? 

MWahrjcheinlich wird dieſer Gefahr durch Entwürfe neuer Zwangsgeſetze entgegen- 
gearbeitet werden müflen, wie bereitd für die Gemeinde⸗Ordnung eine verftärkte bureu- 
fratiiche Regelung aufgeftellt ift, und die edlen Intentionen Alerander 11. werben ſich 
wohl derfelben Nothwendigkeit des Zwanges beugen, der alle Neformpläne feiner Vor⸗ 
gänger fich beugen mußten — des Zwangs, der zur Erweckung und Entwickelung der 
rufftfchen Nationalarbeit bisher erforderlich war. Der edle Kaifer der Gegenwart ſteht 
wenigftend vor der Brage, ob für die Zukunft nur Diejenigen Zaren groß genannt wer« 
den follen, die Rußland durch Gemalt und Zwang groß gemacht haben. 

Alerander VI., Papfl. Nach dem Tode Innocenz VIII., der ſich allzu fehr in 
die öffentlichen Angelegenheiten gemifcht, Kriege und Rivalitäten der mächtigen Dynaſten 
im Kirchenftaate abfichtlich genährt Hatte, gebot Ascanio Sforza, von dem herzog⸗ 
lichen Haufe in Mailand, zwar über viele Stimmen im Conclave, aber doch hatte fein 
Mitbewerber Giuliano della Rovere dad Uebergewicht. Diefer nun verkaufte 
feine Stimmen an den Spanier Rodriguez Lenzuoli, welcher von feinem Obeim 
Papſt Calixtus II. den Namen Borgia angenommen, Erzbifchof von Valencia — 
wo er im 3. 1431 das Licht der Welt erblidt — und, mit 25 Jahren, Carbinal 
geworden war. Jetzt (1492) gelangte Borgia, der eine große Frömmigkeit beuchelte 
— obgleich er mit einer vornehmen römifchen Dame, Vanozza, indgeheim in ehebreche⸗ 
rifchem Umgange lebte — und fich dabei durch eine ungemeine Klugheit und Gefchäfts- 
gemwanbtheit außzeichnete, durch Intriguen und Geld auf den päpftlihen Stuhl, wobei 
er den Namen Alerander VI annahm. Seine Fähigkeiten, die mit einem gleich großen 
Ehrgeize gepaart waren, hätten ihn, auch ohne daß er der Nepot eines Papftes gewefen, 
zu einer glänzenden Laufbahn berechtigt, und er wäre der Auszeichnungen, mit welchen 
der Oheim ihn überhäufte, nicht unwerth gewefen, wenn feine großen Geiſtesgaben 
und Kenniniffe, namentlich im Nechtöfache, nicht durch noch größere Laſter wären ver⸗ 
dunfelt worden. Und die Thatfache, daß fein Auf im Punkte der Sittlichkeit fchon 
Fängft ein ſchlechter war, ohne daß Diefer Auf feine Erhebung zur hoͤchſten Würde in 





698 Aleranber VI. 


der Kirche unmöglich machte, wirft ein grelled Licht auf die Verkommenheit der Zeit. 
Die Italiener jubelten über die Wahl, aber der Huge Ferdinand der Katholifche 
von Spanien erkannte das Unheil, welches daraus folgen würde. Allerdings führte 
A. mit flarker Hand die Barone zu ihrer Pflicht zurüd und die energifchften Maßregeln 
ergriff er gegen die Räuber, deren Frechheit alles Maß überftieg, fo daß während der 
legten Krankheit feined DBorgängerd wohl 200 Einwohner Romd unter ihren Mefiern 
gefallen waren; aber im Uebrigen Tannte er Fein höheres Intereſſe, als die ihm von 
der Vanozza geborenen Kinder glänzend zu verforgen, und in der Verfolgung dieſer 
Pläne zeigte er fich als einen der unmürbigften Menjchen, vie je den päpftlichen Stuhl 
entebrt baden. Wohl waren die entjeglicy zerrütteten Zuftände im damaligen Italien 
gewiffermaßen eine Herausforderung für einen fo unternehmenden Kopf, wie A. in dieſelben 
lenkend einzugreifen, Doch verfuhr er Dabei fo felbftifch, treulos und gewaltthätig, daß 
ex bierin nur von feinem Sohne Caäſar Borgia, den Macchiavel (f. d.) für den 
größten Staatsınann erklärte, übertroffen wurde. Beide find die Typen der überhaupt 
unreblichen und treulojen Politik jener Zeit, und um dies recht deutlich zu zeigen, um 
die Schledhtigfeit eines Kirchenhaupted wie A. in helles Licht zu ftellen, bat ihm die 
Vorſehung den florentinifchen Mönh Girolamo Savonarola (1452 —1498) 
(f. d.), der durch einen Cardinalshut nicht zu gewinnen war und Darum den Feuertod 
fterben mußte, gegenüber geftelll. — Um mit feiner Hülfe Ferdinand aus Neapel 
zu vertreiben, veranlaßte U. Karl VII. von Frankreich zu dem unfeligen Zuge nadı 
Stalien, der unter ihm und feinem Nachfolger Ludwig All. die traurigſten Folgen 
für beide Lande nach. fih zog. Karl verfprach A., die päpftlihen Kinder Föniglich zu 
verforgen, da aber Ferdinand in der eilften Stunde noch einlenfte und nicht blog 
befiere Bebingungen ftellte, fondern auch audführte, A.'s Drei Söhne, den Herzag 
v. Gandia, den Cäfar und den Gottfried Borgia mit Yand, Ehren und Würden über- 
bäufte, kehrte ſich A. von der franzöftfchen wieder zur jpanifchen Seite und die paäpfl- 
lihefpanifche Partei bewarb fi jogar um die Hülfe der Türken. Karl war nun 
geneigt, nicht nach Italien zu geben, aber vom Garbinal della Rovere, von N. 
vertrieben und nun deſſen unermüblichfter Gegner, bewogen, unternahm er doch den 
Zug und bejehte Rom. Der Garbinal verlangte vom König dringend die Berufung 
eined Concils und die Abfegung des unmürdigen Papftes; Diefem gelang es jedoch, 
den ſchwachen Karl für fich zu gewinnen. In des Griteren Gewalt befand jich der 
Prinz Bizim, welcher Anſprüche auf den osmanifchen Thron hatte. Bajazet batte 
wiederholt die Auslieferung dieſes Prätendenten verlangt unter dem Erbieten großer 
Summen für U. und defien Söhne; auch die Tunica Chriſti erbot er ſich herauszu⸗ 
geben. Karl war ed nun fehr erwünfcht, den Prinzen in feinen Händen zu baben, 
als Motiv, um dem Großtürken den Krieg zu erklären. A. durfte die Audlieferung 
nicht verweigern, aber ehe der unglüdliche Prinz in franzöfifche Hände überging, ward 
er vergiftet, wenigftend erklärten fo allgemein die Zeitgenofjen feinen rajchen Ton. 
Darauf erließ der Papft in drei Sprachen einen vollen Ablaß für das Invaflonsheer. 
Er blieb dem franzdfifchen Bündniſſe treu, fo lange die Franzoſen erfolgreich waren, 
als aber deren Glück ſich wendete, fchloß er mit Herzog Lodovico il Moro von 
Mailand, dem beftändigen Unrubftifter in Italien, Venedig und dem deutſchen Kaijer 
wieder ein Bünbnig gegen Srankfreih. Und ald Ludwig XI. abermald die Oberhand 
gewann und den ränfevollen Mailänder flürzte, wußten die Borgia auch dieſe neue 
Wendung wieder zu ihrem Vortbeile zu benugen und es erreichte nun auch Gälar, 
der, nach dem hoͤchſt wahrfcheinlich durch ihn veranlapten gewaltfamen Tod des Altern 
Bruders, den Purpur des Cardinals mit dem Herzogähute von Valentinois vertaufcht 
batte, nahezu feinen beharrlich verfolgten Plan, durch Vernichtung der Fleinen Feudal⸗ 
herren in der Romagna fich felber eine große fürftliche Herrfchaft zu gründen, Diele 
unter Benugung günftiger Umftände mehr und mehr auszudehnen. Die Demüthigung 
diefer Tyrannen, die jedes Verbrechen für erlaubt hielten, das Fühn genug vollbracht 
ward, um zu gelingen (Macchiavell entwirft in feinen Discorsi ein furchtbares Bild 
von dem Treiben diefer Dynaſten der Nomagna), die felbft in Nom einanver befriegten 
und die Macht des Papftes gewiſſermaßen auf die Engelöburg befchränften, — war 
an und für ſich ein gutes Werl, In dieſem Gewoge des Haſſes, der Verkommenheit, 


J 








Alerander VI. | 699 


der Erbitterung fußten die Borgia, zur Ausführung ihres Planes, auf der Liebe des 
Volkes. U. behandelte daſſelbe mit großer Milde, und Cäfar erklärte: wer den Großen 
auf die Köpfe treten wolle, dürfe nicht wenig thun für die Kleinen. Es wurden Aufe 
feher über vie Gefängniffe eingefeßt, welche die Klagen der ungerecht Eingelerkerten 
entgegen zu nehmen hatten; überhaupt that U. viel für die Hebung der Gerechtigkeits⸗ 
pflege in Ron, wo, fo lange er regierte, feine Hungerönoth entftand und der Hand⸗ 
werker feines Lohnes nicht verluftig ging. Hätte U. nur ſolche Mittel in Anwendung 
gebracht! Aber er verfchmähte auch feine Treulofigfeit und Graufamkeit bei der Vers 
folgung feiner Zwede. Er verkaufte den Fürften fein Bündnig um Geld und Hei⸗ 
rathen; er ſäete Veindfchaften aus zwijchen die kleinen Gewalthaber, um ſie einzeln 
und getrennt zu vernichten. Um alled dies vollbringen zu können, bediente er fich des 
Armes feines Sohnes, welcher bei feinem großen Ehrgeize ed an Energie nicht fehlen 
ließ und wußte, daß der Erfolg ihn Verzeihung auch für Die fchlechteften Mittel ver» 
fhaffen würde. Hierin traf er auch ganz richtig die Denfungsweife feines Waters, 
und man fagte fprüchwörtlich, der Papft vollführe niemals, was er fage, und der 
Herzog dv. Valentinois fage niemals, was er vollführe. Auf dem Gipfel feines Glückes 
war der letztere nicht nur Herzog von Romanien, ſondern gebot faſt über ganz Mittel⸗ 
italien. Er hatte ſich mit einer Tochter des Königs von Navarra und feine Schweſter 
Lucretia nit Alphonſo D’Efte vermählt. Diefed Weib, deren Leben eine Kette 
von Unzucht war und auf deren Seele doppelte Blutfchande laftete, ward von ihrem 
Vater, dem Papfte, förmlich zur Statthalterin eingefeßt,-ald er zur Belagerung von 
Sermoneta auszog. Da bewohnte fie die päpftlicden Gemächer, oͤffnete die Staats⸗ 
ſchriften, erledigte die Gejchäfte mit dem Garbinal- Collegium. So feierte dad Laſter 
den böchften Triumph und das Verbrechen heiſchte Ehrfurcht! Cäſar Borgia, der bes 
wundert zu werben verdiente, wenn in der Welt dic Erfolge und dad Glück alles wäre, 
und dem Florenz aus Furcht Beiftand leiftete, richtete, nachdem er Romaniens, Latiums 
nebft einem Theile Toscana's fich bemächtigt hatte, fein Augenmerf auf das neapoli« 
tanifche Königreich, im Vertrauen auf den väterlichen Beiftand, wie die eigene Kraft 
und Lift. Jedoch die Mittel, welche er zur Durchführung dieſer Pläne in Anwendung 
bringen wollte, behielt er für ſich, und Macchiavelli, trog feiner großen diplomatifchen 
Gewandtheit, mußte die Lieberlegenheit diefed undurchdringlichen Menfchen anerkennen, 
von dem er nichtd anderes zu fagen wußte, als daß er Außerft zurüdhaltend (secre- 
tissimo) fei. Macchiavelli hatte als florentinifcher Unterhaͤndler Die Gelegenheit, ven 
Borgia, welcher ihn bei feinem Ideale eines modernen Tyrannen ald Vorbild diente, 
in der Nähe zu beobachten. Beiden diente der nämliche Gedanke zur Richtſchnur: die 
Nothwendigkeit, Italien unter eine einheitliche Regierung zu bringen, aber beide waren 
auch überzeugt, daß die Kraft des Löwen Died nicht allein bewerfftelligen Eönne, ſon⸗ 
dern Daß auch des Buches Hinterlift Dazu helfen müfle Kraft eines vollftändigen 
Syſtems von Scheinverträgen und der vollendetiten Heuchelei befam er endlich auch 
die einzig noch Widerſtand leiſtenden Barone, darunter drei Brüder Orſini, in feine 
Gewalt. Sie bezahlten mit ihren Blute die Erfahrung, daß diejenigen, die niemals 
Andern Treue gehalten, nicht zu erwarten haben, daß fe ihnen gehalten werde; wäh 
rend der Papft den Carbinal Orfini und die ihm erreichbaren noch übrigen Ritglieder 
Diefes großen Haufes in Rom greifen, den Cardinal vergiften, die Uebrigen binrichten, 
ihre Burgen befegen ließ. Die Großen waren nun vollftändig entmuthigt, das Volk 
frohlockte über den Ball feiner Tyrannen und Blutfauger, Pifa ergab ſich dem Herzog 
und diefer traf eben Anftalten, auch Siena zu erobern, ald die Stunde fchlug für die 
Borgia. Alexander VI. ftarb nämlich plöglih (1503, 18. Aug.). Es ift erflärlich, 
daß von dem Tode dieſes Mannes, in deffen Leben das Gift eine fo wichtige Rolle 
gejpielt Hatte, die Sage ging, er er ſei endlich am eignen Gifte geftorben. &r ſowohl 
wie fein Sohn, der’ ſich aber durch Gegengift rettete, follen aus Verſehen von ver- 
giftetem Weine genoflen haben, der bei einem Gaftmahle dem reichen Cardinal Borneto 
vorgefegt werden ſollte. So erzählen die meiften gleichzeitigen und fpätern Hiftorifer, 
auh Hanke; aber Rainaldi und neuerdingd Roscoe (Geſchichte Leo's X.) er⸗ 
Hären dies für eine Erfindung. Nach ihnen flarb U. an einem fiehbentägigen Fieber. 
„Als fein Leichnam — fo erzühlt Guicciardini in feiner italienifihen Geſchichte — 





700 Alerander, Prinz v. Preußen. Alexander Carl, Herz. v. Anh.⸗V. 


in der Peterskirche zur Schau ausgeſtellt wurde, lief die ganze Stadt mit unbeſchreib⸗ 
licher Freude herbei, Niemand konnte feine Blicke an der todten Schlange fättigen, Die 
mit unerſättlichem Ehrgeiz und mit abfcheulicher Treulofigfeit durch alle Beifpiele einer 
entjeglihen Graufamfeit, einer ungeheuren Wolluft und einer unerhörten Habfucht, 
Indem fie geiftliche und weltliche Dinge obne Linterfchieb verkaufte, Die ganze Welt mit 
Gift angeſteckt hatte, und die gleichwohl von ihrer Jugend bis an ihren legten Tag 
eined auönehnenden und faft beftändigen Glückes, ftetd nach dem Höchften trachtend 
und inmer mehr erlangend, als fie gewünfcht hatte, genoß." — Uebrigens war der 
Papſtſohn doch noch weit verborbener ald der Vater, der von jenem fogar in gewiſſem 
Sinne gelenkt wurde und dem es auch Feinesmwegs völlig an löblihen Eigenfchaften 
fehlte. Ohne diefe Eigenfchaften, bemerft Roscoe treffend, wäre das Glüd nicht zu 
ertläxen, das ihn bis an feinen Tod treu blieb, ebenjo wenig der Umftand, daß, fo 
lange er auf dem päpftlichen Stuhle faß, Fein Volksaufſtand fein Anfehen oder feine 
Ruhe bedxohte. Selbſt feine Feinde geftehen ihm ein großes Genie, ein vielumfafien- 
des Gedaͤchtniß, Berevfamkeit, Thaͤtigkeit und Gewandtheit in der Betreibung der Ger 
fhäfte zu. Die italienischen Gefchichtfchreiber berichten wahrhaft gräulidhe Züge von 
feiner Ausfchweifung und Sittenlofigfeit, aber daß hier manche Uebertreibungen mit 
unterlaufen, erjieht man aus der neuen vollftändigen Ausgabe des befannten Diarium 
von Joh. Burchard, herausgegeben von Achill Genarelli (Florenz 1354—56); 
während der biöher bekannte Burchard — einen Audzug hatte ſchon Leibnig im J. 
1707 unter dem Xitel: Historia arcana, sive de vita Alexandri VI. Papae heraus 
gegeben — den Liebhabern der Scandalgefchichte insbefondere hinſichtlich der Borgia 
Sauptquelle gemefen. U. war wenigſtens mäßig bei Tiſche und fchlief wenig, und 
feine Geiftesgaben bebielt er -ungefchwächt bi8 an fein Ende. Obgleich felbft Fein 
großer Kenner der Gelehrſamkeit, war er Doch freigebig gegen Gelehrte und ermunterte 
die Künfte; im vaticanifchen Palaſt, den er vergrößern ließ, fammelte er Die Werke 
der damald berühmteften Maler. Im Uebrigen fteht die Erfcheinung dieſes PBapftes, 
mit Dem die Entartung des römischen Hofes ihren Höhepunft erreicht, keineswegs in 
ihrer Zeit vereinzelt da; ein vergleichender Umblid über die damaligen öffentlichen 
Charaktere zeigt, daß fie alle nur wenig ihm nachftehen an Schlechtigkeit. Namentlich 
daß er feine erhabene Würde zur Vergrößerung feines Hauſes benugt habe, ift ihm 
nicht fo fehr zum Vorwurf zu machen, denn er lebte in einem Zeitalter, wo faft alle 
Fürſten ihren Ehrgeiz durdy nicht minder ſchlechte Mittel, als er, zu befriedigen ſuch⸗ 
ten. — Gäfar Borgia vermochte beim Tode des Vaters mit Hülfe des Cardinals 
D’Amboife, der durch ihn, wiewohl vergeblich, die Tiara zu erlangen hoffte, fi 
des päpftlichen Schaged zu bemächtigen und fih im Vatican und in der Engelöburg 
zu befefligen. Aber die noch übrigen römifchen Barone zwangen ihn zum Abzuge, 
nachdem Brand, Plünderung und Mord furchtbar in Nom und der Umgegend gemütbet. 
Nach einer Eurzen Zmwijchenregierung beftieg der erbittertfte Keind der Borgia, Cardinal 
della Movere, als Julius IL den päpftlichen Thron. Diefer Krieger- Bapft nahm 
den Caͤſar Borgia gefangen, welcher feine Freiheit, gegen Herausgabe aller feften Pläge, 
nur erlangte, um abermals ald Gefangener von Gonzalez de Cordova nad Spa- 
nien gejchickt zu werben, von wo er entfam und im I. 1507 in einem Feldzuge gegen 
Spanien vor dem Schloſſe Viana erfchofien warb. 

Alerander (Friedrich Wilhelm Ludwig), Prinz von Preußen, ältefter Sohn Sr. 
fönigl. Hoheit des Prinzen Friedrich Wilhelm Ludwig und Ihrer Fönigl Hoh. ber 
Prinzeſſin Wilhelmine Luiſe, geborenen Prinzefjin zu AnhalteBernburg, warb geboren 
am 21. Juni 1820, Generals Lieutenant und erfter Gonmandeur des 3. Bataillons 
(Sraudenz) 1. Garde⸗Landwehr⸗Regiments. Der Prinz lebt aus Geſundheitsrückſichten 
meiſtens in der Schmeiz. Ä u 

Alerander Cark, Herzog von Anhalt-Bernburg. Alexander Earl, geboren am 
2. März 1805 auf dem Schloffe zu Ballenftädt, Sohn des Herzogs Alerius Friedrich 
Chriſtian yon Anhalt⸗Bernburg, aus deſſen erſter Ehe mit Marie Friederike, Tochter des 
Ehurfürften Wilhelm I. von Heflen, folgte feinem Vater, welcher ald der letzte deutſche 
Reichsfürſt von Kaifer Franz II. am 18. April 1806 den berzoglichen Titel erhalten 
hatte, am 24. März 1834 in der Regierung ber anhaltsbernburgifhen Lande und ver 








Alerander, Graf v. Würtiemb. Alerandra, Großfürſtin Gonf. v. Rußl. 101 


mählte fih am 30. Detober deſſelben Iahres mit der Herzogin Friederike Karoline Ju⸗ 
liane, geb. Prinzefiin von Schleewig-Kolftein-Sonderburg-Blüdöburg, welche ex feiner 
anhaltenden Kränklichkeit halber durch herzogliches Patent vom 8. October 1855 zur 
„Herzogin Mitregentin® ernannte. Trotz der durchaus mwohlwollenden und wahrhaft 
fegenBreichen Weife, in welcher die Regierung, namentlich unter Einfluß der Herzo⸗ 
gin geleitet wurde, hatte der Herzog 1848 doc den Schmerz, auf ſchweren Undank 
zu floßen. Für eine Eurze Zeit fah er fich fogar gendthigt, außer Landes nah Qued⸗ 
linburg zu gehen. Seit feiner Rückkehr hat er durch Berufung eines preußifchen Beam⸗ 
ten, v. Schägell, an die Stelle des erften Minifters, preußiiche Einrichtungen, fo weit 
ſolche den DVerhältniffen anpafiend, in's Leben gerufen und von ber Herzogin unter 
fügt nach Kräften ſich gemüht für feine Unterthanen. Da die Ehe des Herzogs eine 
finderlofe geblieben, jo erlifcht mit ihm das Haus Anhalt-Bernburg und die Lande 
fallen an Anhalt-Defiau. Die einzige Schwefter des Herzogs, Prinzeſſin Luiſe, iſt die 
Gemahlin des Prinzen Friedrich von Preußen. 

Alexander, Graf von Wirttemberg. Herzog Wilhelm Friedrich Philipp von 
Württemberg, des erften Königs von Württemberg Bruder, Hinterließ aus einer mor⸗ 
ganatifchen Ehe mit Friederike Rhodis, welche zu einer Burggräfln von Tunderfeld er- 
hoben wurde, die Grafen von Württemberg. Der Aeltere verfelben, Graf Chriſtian 
Friedrich Alerander von W., geb. am 5. Nov. 1801, diente in ber mwürttembergi- 
hen Armee, audgezeichnet durch fein männlich ernſtes Wefen, das ſich auch in feinen 
Gedichten ausſprach; dieſelben erfchienen 1838 unter dem Titel „Lieder des Sturms“ 
und machten großed Auffehen, das fie wohl mehr dem Namen des Dichters als ihrer 
poetifchen Bedeutung verdankten. Mit großem Unrecht zählten die Liberalen den Gra⸗ 
in von W. zu den ihrigen, Unzufriedenheit fpricht fich allerdings in feinen Gedichten 
aus, diefelben find auch nicht frei von einem gewiſſen liberalen Anflug, der in der Zeit 
lag, es gehört aber eben Fein befonderer Scharfblid dazu, um zu erkennen, wie fern 
Graf Alerander dem modernen Liberalismus fland. Ein hoher Hear, der den Grafen 
von Württemberg neben dem Fürften Pückler⸗Muskau ſah, fagte: „Da haben Sie 

einen Ritter aus Kaifer Marimilian’8 Zeit neben einem Chevalier vom Hofe Lud⸗ 
wig’8 XIV.” Graf Ulerander war Königl. württembergifcher Obrift, ald er am 7. Juli 
1844 im Wildbad ganz plotzlich am Hirnſchlage ſtarb. Er Hinterließ aus feiner am 
3. Juli 1832 mit der Gräfin Helene Antonie Iofephine von Feſteticz und Tolna ge⸗ 
en Ehe, zwei Söhne und zwei Töchter, Grafen und Sräfinnen. von Würts 
tember 

Äleranderſchlacht, ein berühmtes Meiſterwerk der Moſaikbildnerei, wurde 1831 
im ſogen. Hauſe des Fauns zu Pompeji gefunden und befindet ſich gegenwaͤrtig im 
Muſeum zu Neapel. Es iſt an 20 F. lang und 12 F. breit und diente als Fuß⸗ 
boden. Nach dem erfahrenften Mofaikiften Raffaeli befteht e8 nicht aus gefärbten Glas⸗ 
ftüden, fondern aus farbigen Steinen. DO. Müller hält e8 mit den früheren Auslegern 
entfchieden für eine Aleranderfchlacht, ein Werk des Philorenod oder der Helma, aus 
dem 4. Jahrhundert v. Ehr., weil beide Aleranderjchlachten gemalt haben. Schreiber 
in Sreiburg Dagegen deutet ed der Kleidung wegen auf die Schlacht des Marcellus 
gegen die Sallier bei Elaftivindar (222 v. Chr.) Kugler im Handbuch der Kunft« 
geh. 3. Aufl. 1856, und Weiß in der Gefchichte des Coſtüms 1855 erklären, 
daß das Coſtüm eine entfchieden fpätere Zeit bezeichne, die dem Untergang von Pom⸗ 
peji ſchon nahe ftehe. Das Bild ift leider in einem befchädigten Zuftande und nur 
unvollfommen reſtaurirt. Es ift eine fehr Iebhafte, tumultuarifche Scene. Die Haupt⸗ 


beiden find der Anführer der Mömer oder Griechen und ein Anführer der Barbaren, 


welcher von erfterem mit einem Spieße getroffen wird. Auf einem vierfpännigen 
Kriegswagen ſteht ein älterer Krieger, der voll Schreden nach dem Durchflochenen hin⸗ 
blidt. Sehr lebendige und ausführliche Schilderungen dieſes großartigen Kunſwerkes 
geben Hettner in der „DBorjchule zur bildenden Kunft der Alten,“ Th. 1, 1848, und 
Stahr „Ein Jahr in Italien,” Th. 2, 1848. Goethe flellt es faft hoher als irgend 
ein eueres Gemaͤlde. 

Alexandra, Großfürſtin Conſtantin von Rußland. Friederike Henriette Pauline 
Marianne Eliſabeth Alexandra, Herzogin zu Sachſen, geboren am 8. Juli 1830 auf 


— 


702 Alexandra, Sroffürftin Mic. v. Aufl. Alexandria. (Stebt.) 


dem Schloffe zu Altenburg, Joſeph's, Herzogs zu Sachſen (von 1834 bi 1848 res 
gierender Herzog von Sachſen⸗Altenburg) und der Herzogin Amalie, geb. Prinzeſſin von 
Württemberg, jüngfte Tochter; dieſe durch Geift und Gemüth, wie durch Schönheit gleich 
außgezeichnete Fuürſtin, unter den Augen ihrer hoben eltern mit großer Sorgfalt er 
zogen, wurde am 11. Sept. (30. Auguft) 1848 die Gemahlin des Zarewitfh Grof- 
fürften Eonftantin von Rußland, zweiten Sohnes des verewigten Kaiſers Nicolaus von 
Rußland. Bei niehrfachen Befuchen am altenburgifchen Hofe hatte der Gropfürft das 
Herz der Prinzeffin gewonnen, fie wurde feine Braut und ging einige Monate vor der 
Hochzeit nach Rußland, um Dort, den kaiſerlich ruffifchen Hausdgefegen gemäß, in bie 
Gemeinfchaft der griechifch-Fatholifchen Kirche einzutreten. Seitdem führt fie den Na- 
men Alexandra Joſephowna. Sie hat ihrem Gemahl zwei Großfürften und zwei Groß» 
fürftinnen geboren. j 

Alerandra, Großfürſtin Nicolaus von Rußland. Friederike Wilhelmine Alexan- 
dra, Brinzeffin von HolfteinsÖldenburg, geboren am 2. Iuni 1838 zu St. Peteröbwrg, 
iſt die Altefte Tochter des kaiſerl. ruflifchen Generald der Infanterie und Praͤſtdenten 
im Dirigirenden Senat für Eivile und Eirchliche Angelegenheiten, Prinzen Peter von 
Oldenburg und der Prinzeffin Therefe von Naffau. Sie wurde am 6. Februar 1856 
mit dem Großfürften Nicolaus Nicolajewitſch von Rußland, drittem Sohn des verewig⸗ 
ten Kaiferd Nieslaus von Rußland, vermählt; feit ihren Uebertritt zur griechifch-Tatho- 
lifhen Kirche heißt fie Alerandra Petrowna, fie ift die Mutter eined Gropfürften. 

Aferandria (Iöfanderieb; Skanderik). Es giebt Männer, die das Gepraͤge 
ihres Weſens Allem jo aufprüden, daß man bei ihren Werken ſich unwillfürlich ihrer 
erinnert; fpricht man von Alexandria, fo erinnert man fich aldöbald an den Eroberer 
Aftens, der zwifchen Indien und Griechenland feinen Schiffen ein Afyl öffnete und dem 
ungeheuren Reiche, deflen Schöpfung ihn befchäftigte, eine Handelsſtadt gab, wo man 
die Reihthümer dreier Welttbeile austaufchen Eonnte. Da der Nil durch den reißenden 
Kauf feiner Gemwäfler und fein Audtreten jede anfehnlichere Niederlafjung auf den be 
weglichen Geftaden des Delta's unmöglich machte, jo wählte der Befleger des Darius 
für feinen Hafen einen ficheren Ort, die nicht fern von Kanobo8 (Al Bekur) Tiegendbe 
Heine Inſel Pharos, die einzige, die fich in einer Ausvehnung von mehr ald fünfzig 
Stunden auf diefer Küıfte findet. Die ſchmale Kandenge, Die zwifchen den Meere und 
dem umfangreichen See Mareotis (Birfet Mariut) liegt, und gleich einem Damme 
Aegypten mit Lybien verbindet, war der Plab der Stadt, die beflimmt war, die Haupt 
ſtadt der heidnifchen Welt, das vornehmfte Handelsemporium der Erde fechd Jahrhum⸗ 
derte’ lang, die Wiege der chriftlichen Gotteögelabrtheit zu werden, und bie, nadh ein- 


. ander auß den Händen der Griechen in die der Römer, der Araber, der Türken unb 


Mameluffen fallend, nach fo vielen Schiejaldwechfeln und verheerenden Umwaͤlzungen, 
aus ihren Trümmern fich erheben follte, um noch ein Mal von einem anderen Sohne 
Macedoniend mit Neichthümern und Macht ausgeftattet zu werden. Gewiß war dieſe 
Rage, gerade in der Mitte zwifchen Griechenland und Arabien, zwijchen dem Delta und 
Eyrenaica, nicht ohne bedeutenden Einfluß auf dad Schickſal Alerandria’s, und bierbei 
bemerkt man, daß in all’ den Städten, von denen das Mittelländifche Meer nur noch 
Ruinen befpült — Kartbago, Cyrene, Ptolemais, Halyfarnaffus, Epheſus, Iroja und 
fo viele andere — ſchon von Anfang an der Keim der Grichlaffung und des Dahin- 
fterbend lag, der ſich an ihre geographifche age, mit ‘wer fie zu kaͤmpfen batten, 
nüpfte, während diejenigen, welchen befchieden war, jene zu Überleben — Smyrna, 
Konftantinopel, Athen, Ron, Mejjina, Marfeile — ihr jahrtaufendelanges Beſtehen 
eben fo fehr den Orts - Eigenthümlichkeiten zu verdanken haben, ald den politiſchen 
Ereigniffen, durch die fie am meiften begünftigt wurden. Dieſe rein relativen Vortheile 
der Lage ſind bei der Eriftenz Alerandria’8 um fo unbeftreitbarer, als fein Boden an 
ſich felbft keiner günftigen Eigenfchaft fich zu erfreuen hat und überall eine merkwür⸗ 
dige Unfruchtbarkeit zeigt. Die MNömer nannten dieſes äußerſte Ende der Ipbifchen 
Küfte das weiße Ufer, und in der That bemerkt man, auf welchem Punkte man auch 
landet, nur ein fanbiges und weißliched Geftabe, deſſen dicke Palmenwälder bier und 
da die niedrigen Oberflächen und bie 'regelmäßig horizontalen Linien unterbrechen. 
Man muß ſchon nahe an der Küfte fein, um einige Erkennungspunkte, 3. B. Den 





Alerandria. (Stadt.) 303 


Araberthurm, einen neueren Bau, zu unterſcheiden, der weftlich auf Die Stelle de 
alten Tapoflris hinweiſt, und wo 1798 das franzöflfche Heer zu der albernen Erpe⸗ 
dition Iandete; den Marabutsthurm, auf den man losfteuert, um einen guten Anker⸗ 
grund zu gewinnen, und endlich die 88 Fuß hohe, einfam und majeftätifch oberhalb der 
Stadt fich erhebende Pompejus- Säule, die ihren Nanıen nicht etwa dem berühmten Gegner 
Caͤſar's verdankt, fondern nach einem Praͤfecten unter Diocletian, Namend Pompejus, 
benannt worden ift, welcher fie gegen Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. errichten ließ. 
Am Fuße der Mauern öffnen fich zwei Rheden, durch einen Damm von einander ge⸗ 
trennt, der ‘die Infel Pharos mit dem Zeftlande verbindet, und an deren aͤußerſtem 
Ende jenes berühmte Denkmal, eines der fleben Wunder der Welt, emporragte, deſſen 
Namen man dem Belfen entlieh, der ihm zur Grundlage diente. Diefer Damm bieß 
ehbemald wegen feiner Xänge Heptaſtadium, d. h. feine Ausdehnung betrug ſieben 
Stadien (4375 Fuß). Verſchüttet zum Theil Durch den Sand und die Trümmer des 
riefenhaften Gebäudes, das ein pygmdenartiger Leuchtturm und ein kleines Caſtell 
erſetzten, ift Die öftliche Rhede heut zu Tage beinahe ganz verlafien und nimmt num 
noch in QDuarantaine liegende Schiffe auf. Die weftliche dagegen, der alte Hafen von. 
Eunofte, die gegen dad Meer durch eine der Wafferfläche gleiche Felſenbank vertheidigt 
ft und den Schiffen einen fichern Anterplag bietet, trägt das ganze Jahr eine ſchwim⸗ 
mende Stabt, die durch ihr Takelwerk und ihre Maften kaum die Mauern Alerandria’s 
erbliden laßt. Während den Reiſenden ein arabifcher Pilot mitten durch die Klippen 
leitet, die feine Erfahrung unumgänglich nöthig machen, heften jich feine Blide Anfangs 
auf ein großes Gebäude auf der Mitte des Dammes, das durch fein Ziegeldach und 
feine Eleinen Fenſter einer Fabrik fehr ähnlich flieht. Es ift dies das Serail, deſſen 
bintere Seite an dad See⸗Arſenal ftößt, gleich als hätte Mehemed Ali durch die Ver⸗ 
bindung feines Palafte® und feiner großartigen Schiffswerfte bezwecken wollen, daß bie 
Europäer fihon von fern den Fräftigen Mann, den gewerbfleißigen Herrſcher, den Paſcha 
ald Gründer und Handelsmann Eennen lernten. Hierauf kommen die weitläfigen 
Ateliers, die Holzvorräthe, und am Eingange ded Arfenald beginnen die Quais, ‚bie 
flet8 unter Mehemed Ali fowohl wie auch jegt mit Waaren und Matrofen angefüllt 
und die beftändigen Entrepots der Ein- und Ausfuhr find; fe dehnen fich bi8 zum Damme 
eines Canals ) aus, den der große Paſcha den Namen des Sultans beilegte, ein 


1) Diefer Canal, ohne den Nlerandria gar nicht befiehen Tönnte, weil er es mit ſüßem 
Waſſer verfieht, wurde ſchon in hohem Alterthume ausgegraben und Hatte damals eine etwas ans 
dere Richtung als jetzt. Die Geſchichtſchreiber haben indeß Feine beftimmten Nachrichten über die 
Zeit feiner Ausgrabung: unter den arabiſchen Schriftftelleen fpriht nur Mafrizi von Arbeiten, die 
durch Kalifen und andere Herricher Aegyptens unternommen wurben, um ſtets die S —3 im 
Canal zu unterhalten; Abulfeda, der dieſen Canal in der Mitte des 14. Jahrhunderts ſah, hinter⸗ 
ließ eine Beſchreibung feiner. Pracht. Im Jahre 1550 fand Ihn Belon noch in ziemlich gutem Zu: 
ftande, feit der Zeit aber wurde er vernadjläffigt, fein Bett mehr und mehr verſchlammt, es dag im 
Anfange des laufenden Jahrhunderts, zur Zeit des franzöfifhen Räuberzuges, bie Heinften Barken 
nur 20 oder 25 Tage des Jahres auf demfelben nad) Alerandrien gelangen konnten, und er eigent- 
lid) nur noch dazu diente, um A. mit Nilwafier zu verforgen, womit man um bdiefe Zeit die öffentlidyen 
und Privat:Cifternen für das ganze Jahr anfüllte. Da Mehemed Ali den Handel des Landes mit 
Europa entwiceln wollte, jo überzeugte er fid) von ber Nothwenbigfeit, eine regelmäßige Schifffahrt 
auf dem anal wiederherzuftellen. & verlegte die Mündung, ober eigentlid) gejagt, den Ausgangs: 
punkt deflelben von dem Dorfe Rachmanieh, wo er zu den Zeiten der Yranzofen gewefen war, nad) 
dem Städtchen Atfeh, das etwas weiter gegen Norden liegt, und erweiterte und vertiefte das Bett 
bedeutend. Die Arbeiten, weldye leider einem ungeſchickten einheimifcyen Ingenieur übertragen 
wurden, der bie Dertlicdykeit nidyt zu benußen verftand, wurden im Jahre 1819 begonnen und in 
wenig mehr wie 10 Monaten beendigt. Die Länge des jekigen Canals beträgt etwa 12 Meilen, 
obwohl die gerade Entfernung von Alfeh nad) A. nım etwa 10 beträyt; bie Breite des Canals be: 
trägt faſt allenthalben nidyt weniger als 90 Fuß, die Tiefe 6 Fuß bei vollem und nur 2 Fuß bei 
niedrigem Waflerftande. Daran arbeiteten 313,000 Fellahs, von denen 12,000 aus Erihöpfung 
und wegen fchlechter, ungenügender Nahrung geftorben fein follen; ihre Gebeine liegen unter den 
hohen Erdaufwürfen am Ganal. Der Schatz fehte die Bezahlung für bie Arbeiter ieh zu 400 Pia: 
fern für jede Kaffabe (ein Längenmaß von etwa 12,2; Zuß), zahlte fie aber nicht in Geld aus, 
jonbern redynete fie, nach Vollendung der Arbeit, welche fid) AR; eine Summe von 8,795,200 P. belief, 
von den Steuern derjenigen Droningen Unterägyptens ab, zu denen die arbeitenden Fellahs gehörten, 
jo daß die Lekteren eigentlidy gar feine Bezahlung erhielten. Alle Ausgaben für den Ganal, mit nſchlu 
bes Ankaufs von Materialien, des Soldes der Beamten, der officiellen Geſchenke an den Scheich-⸗el⸗ 
- Beled u. ſ. w. machten eine Summe von 35,000 Beuteln oder 1,170,000 preuß. Thalern aus. 





704 | Alerandria. (Stabt.) 


Zeichen der Verehrung, das ihn aber nicht hinderte, die Truppen feines Herm und 
Meifters zu fchlagen. Dann folgen auf dem rechten Ufer des Mahmudieh die zur Auf- 
nahme der Waaren, welche durch den Ganal den Nil berabfommen, beflimmten Maga- 
zine, — ungeheure Gebäude, die an die Kornhäufer der Vharaonen erinnern; bierauf 
endlich auf der weftlichen Küfte bi8 zum Marabutsthurme eine Reihe Winpmühlen, 
welche von eben dem Manne in Aegypten eingeführt wurden, ber die Arfenale und 
Slotten fchuf und den Armeen des Sultand Lehren der Taktik gab. 

In Ulerandria findet man Europa nicht mehr und flehbt auch Aegypten nod 
nicht. Es iſt eine Zwitterftadt ohne ausgeprägten Charakter und Phyftognomie. Den⸗ 
noch geben ihre ungepflafterten, im Sommer flaubigen, im Winter jchmugigen und 
ohne die Eſel ungangbaren Straßen, ihre in dem einen Stabttheile aus Badteinen 
und rothem Kitt, in einem anderen aus Kalk und weißen Steinen gebauten, zwei ober 
drei Stockwerke hohen, in .einer flachen Terrafie ſich abſchließenden Haͤuſer mit ihren 
fih nur felten öffnenden Thüren und vergitterten Fenſtern, einen erjten Begriff der 
mufelmännifchen Sitten, und zeigen einigermaßen die Kluft, welche den Orient von 
unferer erfinderifchen Givilifation trennt. — Kein Theil der Stadt verdient beſondere 
Erwähnung, ausgenommen dad Quartier Der Franken, deſſen lange Straßen und großer 
Plag wegen ihrer koſtbaren Laͤden und ihrer durch Scheiben verjehenen Kreuzfenfter 
an die Gebräuche des Abendlandes erinnern und auf den erften Blick die immer wadh- 
fende Wichtigkeit dieſes Stadtheild erkennen laſſen, durch welche die Handeldverbin- 
dungen Aegyptens mit Europa unterhalten werden. Don der erften Einfriedung der 
Stadt bis zu ihren aͤußeren Mauern dehnt ſich ein größerer Raum aus, als die ganze 
Flaͤche aller andern Stadttheile zuſammengenommen ausmacht, der ohne alle Gebäude 
ift, und worauf fich nur Eifternen, Dattelbaumgärten und einige im Boden aufgeworfene 
Verfhanzungen, Werke des Generals Buonaparte, befinden, bie noch feinen Namen 
tragen. Es ift eine Sandwüſte, die Alerandria in feine Mauern einfchliegt, und die, 
wie die große Wüfte, ihre Quellen, ihre Dafen hat und felbft ihren Schoß abwirft; 
denn Neger, die fih mit dem Trodnen des Kamelmiftes befchäftigen, woraus man 
eine große Menge flüchtigen Alkali'8 gewinnt, bauten am Fuße der innern Mauer brei 
oder vier Fuß hohe Erbhütten, worin fie fih in buntem Durcheinander mit ihren 
Meibern, Kindern, Tauben und Hühnern zufammendrängen. Dieje Ungzäunung, in 
welcher eine Stadt von 25,000 Seelen zu Grunde ‚gegangen fcheint, hatte im Jahre 
630, als Amru, der Feldherr des Kalifen Omar, der Alerandria dem griechifchen Kai- 
fertgum entriß, eine drei- oder Yiermal größere Ausdehnung. Im Jahre 875, unter 
der Negierung Elmotamwaffeld, des zehnten Kalifen der Abajflden = Dynaftie, ließ ber 
Türke Ahmed -ibn- Tulun, der erſte Der ägpptifchen Sultane, die Befefligungen der 
Ptolemäer und Roͤmer ſchleifen. Die von hundert Thürnen flanfirte Mauer, in melche 
er den Platz einfchloß, um deſſen Vertheidigung leichter zu machen, warb im 13. Jahr⸗ 
hundert von dem Mameluffen- Sultan Beybars, der feiner Seitd die Türken enttbronte, 
außgebeflert, und dies ift Diejelbe, die noch jeßt die Stadt umgiebt und fie vertheibigt. 

Alerandria, mit mehr wie 60,000 Einwohnern, darunter 12,000 @uropäer, bat 
außer den erwähnten Gebäuden noch mehrere prächtige Öffentliche, ferner gut einge: 
richtete Gafthöfe, meiſtens in der ſchonen Frankenſtraße, 2 Theater, ein italiaͤniſches 
und ein franzöfifches, ein Marine⸗Hoſpital, eine Militäar- und Navigationsfchule, 30 
Mofcheen, mehrere chriftliche Kiechen (jeit 1840 auch eine proteftantifche) und Klöfter, 
einige Synagogen, Affecnranzgefellichaften, eine Bank für Aegypten und eine Telegrapben: 
2inie, jo wie eine 1854 begonnene Eiſenbahn, die U. mit Cairo verbinde. Eine 
Zelegrapbenlinie zwifchen A. und Europa ift projectirt und wird Gandia, Nilaria und 
Chios berühren. U. unterhält regelmäßig direkte Verbindungen mit Jaffa, Beirut, 
Rhodus, Trieft über Corfu, über Tripolis mit Marfeille und mit dieſem Handelsplatze 
über Malta und bildet durch die legtere Linie das Entrepot zwifchen Europa, inſon— 
derheit zwifchen England und Suez, Aden, Oftindien, Auftralien, Singapore und China. 
Wie A. im Alterthum das erfte Handelsemporium und im Mittelalter bis zur Auf- 
findung des Seemeges nach Dftindien durch Die Portugiefen im I. 1498 eine blühende 
Handelsſtadt war, fo hat e8 jegt wieder eine Wichtigkeit erlangt, die ed zum Haupt⸗ 
hafen Aegyptens macht, und die anderen Häfen Aegyptens, Damyat oder Damiette 








Alexandria. (Stadt.) | 705 


Rofetta oder Reſchid und Al Bekur faft ganz in Schatten fell. Wenn e8 richtig ift, 
dag Handel und Givilifation in einer nie ermangelnden Wechſelwirkung von einander 
fteben, fo Dürfen die nachfolgenden Zahlen wohl im Stande fein, zu bemeifen, wie 
jehr der innere und äußere Verkehr Aegyptens in den letzten Jahren zugenommen hat, 
anberntheild dürften die erfreulichen Schlüffe über die Bivilifatfon der Bewohner ihre 
Begründung durch diefelben finden: Im Jahre 1843 betrug der Import Alerandria’s 
100,541,253 aegyptiſche Piafter (ein P. gleich 2 Sgr.), der Export 132,126,896 P., 
und die Schiffözahl 1363, im Jahre 1849 bezüglich 147,400,624 P., 166,056,132 P. 
und 1651, und im Jahre 1856 reſp. 276,372,788 P., 459,225,373 PB. und 2339. 
Daraud erhellt, daß fich die Einfuhr im Laufe von 14 Jahren um nicht weniger als 
175,832,535 P., die Ausfuhr Hingegen um 327,098,477 P. vermehrt, fomit ein Aufs 
ſchwung des Gejfammtverfehrs von faft 503 Millionen P. flattgefunden bat, eine Mehr» 
jumme, welche außer allem Verhaͤltniß im Vergleich zu andern Handelsplaͤtzen geblieben 
fl. Im Jahre 1843 betrug der Gefammtverfehr 232,668,149, im Jahre 1856 
735,598,161 P. Das Ableben Mehemed Ali's erfolgte um die Mitte des Jahres 
1849 und mit ihm die Aufhebung der in Aegypten eingeführten Monopoliſtrung ber 
Landesprodufte Durch bie Regierung. An dem Handelöverfehr Alerandria’8 participiren Die 
bandeltreibenden Nationen dreler Welttheile, Guropa, Aften und Afrifa, infonverheit 
England, Defterreih, Frankreich, Türkei, Toskana, Griechenland, Syrien und die Ber- 
berei, während Die .übrigen handeltreibenden Staaten, wie Sardinien, Belgien, Neapel 
und Spanien nur mit unbedeutenden Aus» und Einfuhrmerthen theilnehmen. Haupt⸗ 
ſächlich iſt es England, welches den Iebhafteften Verkehr mit A. unterhält und ſowohl in 
Einfuhr (128,631,451 PB. im Jahre 1856) als in Ausfuhr (242,927,912 P. in dem 
nämlichen Jahre) die übrigen Nationen in Eolofjaler Weife überflügelt hat. Der haupt - 
ſächlichſte Grund Hiervon Tiegt -in dem Bebinfniffe des an Getreide armen Englands 
nach den vortrefflichen Bictualien Aegyptens, für welche es an Zahlungsftatt eine größt« 
möglichfte Menge von Manufacturwaaren auf den Markt bringt, welche faft um gleichen 
Preis wie an den Fabrikorten abgefegt werden können, da die Menge ber zum Getreides 
holen nad; Aegypten abgehenden Schiffe dieſelben gleichfam als Ballaft in den 
Schiffsräumen mit fi führen. Nach England folgt mit der größten Totalfumme 
(130,606,863 P. im Jahre 1856) das fogenannte Mutterland Aegypten, Die Türkei. 
Sleihe Sitten und Gebräuche, territoriale Depenvdenz bebingen das Bebürfniß, eine 
Menge von Gegenfländen von dorther zu beziehen, wo dem orientalifchen Geſchmack die 
meifte Mechnung getragen wird. Defterreich fteht nach der Türkei als nächfibebentender 
Handeldconcurrent da, und wenn gleich in enormem Unterſchiede mit England, fo betrug 
feine Einfuhr für 1856 Doch 19,869,798 P. Die wichtigften Artikel, welche unter öfters 
reichifcher Flagge auch von dem übrigen Deutfchland importirt wurden, waren Manufac« 
turwaaren mit einem Werthe von 3,784,810 P., Quincallerie zu 1,094,600 und ver⸗ 
Ichiedene Waaren zu 1,520,270 P. Werth. Unter diefen figuriren fowohl die Nürn- 
berger Spielmaaren und Bapiermadje-Gegenftände, als die Steterifchen Raſirmeſſer zu 
238 P. für 4 Dutzend, Böhmifche Glaswaaren u.f.w. Die Solinger Klingen zu Sä» 
bein und langen Meffern müffen, da gegenwärtig die Waffeneinfuhr in Aeghpten unter 
fagt ift, meiftens gefchmuggelt werben, gelangen jedoch in großer Maſſe nach Alexan⸗ 
drin und von bier in den Sudan und nad; Innerafrifa. Während im Ganzen feit 

1851 eine Verminderung des Imports — in dieſem Jahre betrug er 25,079,850B. — ° 
bemerkbar ift, find es infonderheit äfterreichifche Tücher, welche fich immer mehr Eingang 
verfchaffen und das biäher vorherrfchend franzöftfche Fabrikat verdrängen. So wurden 
3. 8. im Jahre 1855 an öfterreichifchen Tüchern für 1,793,664 P. importirt, von 
franzöftfchen Tüchern dagegen nur für 512,380 P., während im Jahre 1843 genau 
das umgekehrte Verhältniß flattfand. Der Export (45,331,052 B.) beftand haupt⸗ 
ſaͤchlich in roher Baumwolle, von welcher für 29,274,120 P., und in Gummi, wo⸗ 
vom für 3,467,968 PB. nach Trieft abgingen. Getreide oder Bictualien bezog Das 
fruchtbare Land nur in unbeveutender Quantität. Zufolge befonderen Bertraged mit 
der aͤgyptiſchen Regierung erhält Defterreich jährlih für 1,219,700 P. Salznitrat - 
zur Pulvererzeugung. Die HaupteEinfuhrurtikel Frankreichs beftanden in verfchievenen- 
Waaren für 2,561,809 P., Manufakturwaaren für 1,711,215 B., Blei für 1,146,312 

Wagener, Staats u. Geſellſch.Lex. 1. 45 





N 
[4 


76 Alexandria. (Stadi.) 


P., wogegen es in gleichem Jahre 1856 ausführte: Baummolle zu 22,728,480 P., 
Gummi mit 2,113,216 P. und für 39,348,320 P. Getreide, welche letztere Summe 
im Vergleich zu den Vorjahren fehr beveutend ift und wohl den Folgen ver verheeren: 
den Ueberſchwemmungen der Rhoͤne zugefchrieben werden muß. Bon den übrigen 
hanbeltreibenden Staaten importirt Toskana zumeift Marmor, Seide und Korallen, 
Griechenland Seide, Syrien Seide und Tabak, und von erflerer im Jahre 1855 für 
16,175,000 P., von Tabak für 9,277,132 P., während, aus der Berberei, Tunis und 
Algier bauptfächlich rothgefärbte Feß für 4,082,112 P. und ein ähnlicher Betrag von 
Burnuffen und gelben Schuhen geliefert wurde. | 

A., in Jahre 332 v. Chr. unter Leitung des berühmten Architeften Dinochares 
erbaut, hatte einen Umfang von 100 Stadien, nach PBlinius aber von 15 römifchen, 
d. i. 3 deutſchen Meilen. Die Stadt war regelmäßig gebaut, mit langen Straßen und 
fhönen Gebäuden verſehen und zur Zeit ihrer Blüthe von 300,000 freien Einwohnern 
bewohnt, die in 3 Klaſſen zerfielen, und zwar in die Alerandriner, d. b. Griechen und 
Macedonier, die fich bier niedergelaflen hatten, nächft denen die Juden, welche zu 
fchnelleren Bevölkerung der Stadt ald Eoloniften hierher verpflanzt wurben, die zahl 
reichiten geweſen zu fein fiheinen; ferner in die Söldner, aus den von Alerander unter: 
jochten Völkern gewählt, und endlich in die Aegypter. Die Griechen und Macebonier, 
in Zünfte getheilt, bilbeten die Bürgerfchaft und hatten Municipalverfaffung, die ande 
zen, wie die Juden, bildeten Gorporationen nach den Völkerfchaften. Die Stadt hatte 
vier Häfen: der große im Often, welcher jebt der neue beißt, der Hafen Eunoſte, jept 
der alte oder türfijche genannt, der geheime oder gefperrte, nur für den Gebrauch bed 
Königs reſervirt, und der ausgegrabene Hafen oder Kibotoß, welcher ein Theil bes 
großen war und feinen Namen von feiner vieredigen Geftalt hatte. 

Im Often und Weften des jegt fo lebhaften Stabttheild des neuen Alexandria's, 
der an die See ftößt, verbreiten fi die beiden vornehniften Quartiere des alten Alexan⸗ 
dria’d, die Heut zu Tage ausgeftorben und unter Dünen vergraben find. Dad weil 
lihe Quartier, Rachotis genannt, nach den Namen eined Dorfed, deflen Stelle es 
einnahm, bebedte das Geſtade des Hafens von Eunofte und zog fich bis gegen bie 
See bin. E38 enthielt jenen berühmten Serapis= Tempel, der, nachdem er wie ber 
Tempel des nämlichen Gottes zu Kanobos, der Schauplaß der abjcheulichften Schlem⸗ 
mereien — ein Zeichen des Todeskampfes, in dem das Heidenthum lag — geworden 
war, auf Befehl des Kaiſers Theodoſius zerſtoͤrt wurde. In der Nähe dieſes gewalti⸗ 
gen Gebaͤudes befand ſich die von Marcus Antonius der Kleopatra zum Erſatz der⸗ 
jenigen, aus welcher die Soldaten des Cäſar ein Freudenfeuer gemacht hatten, ge 
ſchenkte pergamenifche Bibliothek, welche felbft fpäter verbrannt wurde. In etwas 
weiterer Entfernung finden fi noch Ruinen von Bädern, die am Meeredufer in Fels 
gehauen waren, und der Eingang in die ungeheuren Katafomben, die ſich unter ber 
‚ ven Namen Todtenftadt (Nekropolis) führenden Vorſtadt 'ausdehnten. Ein einziges 
Merk enthielt fle, nämlich die fchon erwähnte Pompejusſäule, an deren Fuß Buona- 
parte die irbifchen Ueberrefte der Unglüdlichen beifeßen ließ, deren Tapferkeit der fran- 
zöflfchen Armee den Eingang in Aegypten öffnete. Doch ift zu fürchten, daß bie 
Dpfer der Belagerung von Nlerandria nicht lange” eine ruhige Schlummerflätte in 
ihrem Grabe finden werben; denn leicht mag das Fieber nach Alterthümern fie ihrer 
Ruhe berauben. Schon wurden die beiden Obeliäfen, die den Namen Nadeln der 
Kleopatra führen, der eine an Frankreich, der andere an England verfchenkt; fie waren 
die einzigen Trümmer des öftlicyen Theild der Stadt, die das Buihion oder das 
Duartier der Paläfte hieß. Don jenem fechshundert Fuß langen und mit WRarmor: 
Portiken umgebenden Gymnaflum, von jenen prächtigen Straßen, die, rechtwinkelig ſich 
fehneidend, an ihrem Durchſchnittspunkte einen vieredigen Plag bildeten, von wo man 
die Schiffe in die beiden Häfen des Oſtens und des Weſtens einfahren jehen fonnte; 
von jenem Tempel, worin Ulerandria all’ feinen Luxus entwidelte, un deu in einem 
maſſiv goldenen Sarg eingefchloffenen Leichnam feined Grümderd in Empfang zu neb- 
men; von jenem Theater, wo man vor dem gebilvetfien Volke der Welt die Haupt⸗ 
werke der alten Bühne aufführte; -von den vielen Monumenten, zu beren Vollendung 
alle Künfte und Erzeugniffe der Welt in Concurrenz traten, und an die indgefammt 


\ 


Aeris, aceri. 207 


wieder, wegen ihres Urfprungd oder ihrer Beſtimmung, einiger Ruhm der Renſchheit 
ſich knüpfte — von all’ dieſem ift heut zu Tage nichtd mehr vorhanden, ald Dje unter« 
irdiſchen Gewölbe, über weldyen dieſe Baumwerfe aufgeführt wurden, einige zerbrochene 
Säulenftüde, die Hier und da herumliegen, oder deren Gemaͤuer der türfifchen Stadt zur 
Stüge dienen, und eine Schicht Badfteine oder Töpferwaaren, die mit ihrer röthlichen 
Barbe eine ungeheure Wüfte bedeckt. Diefe Stabt, deren Plan Alerander ſelbſt ent- 
warf und der er den Stempel feiner Größe aufbrüdte, dieſe Hauptſtadt, welche Die 
Könige von dem Stamme des Ptolomäud Lagos und die römifchen Kaifer in edlem 
Wetteifer mit allen Zierden der Kunft ausfchmüdten und die vor Rom den Thron der 
Welt beſaß — ift zertrümmert, zermalmt und in Schutt gelegt. Bon Zeit zu Zeit 
fih erneuernde Erderfchütterungen werfen ein Gemäuer nach dem andern ein, und täg=. 
lc reißt der Wind die Staubtrümmer hin, und nur zu bald wird feine Spur mehr 
von dem alten Alerandria übrig fein. 

Aleris, Wilibald. Georg Wilhelm Heincich Haering, geboren 1798 zu 
Breslau, verließ frühzeitig die von ihm nicht ohne Glück betretene juriftifche Laufbahn 
(er war Kanmergerichtö-Referendar zu-Berlin), um fidy ganz einer freien fchrififtellerifchen 
Zhätigkeit hinzugeben. In größern Kreifen wurde er befannt burch den Roman 
„Walladmor“, der 1824 erſchien und eine fo geniale Nachahmung Walter Scotts ift, 
daß er bei feinem Erjcheinen (er kündigte ihn ald eine Ueberfegung aus dem Englifchen 
an) wirflih für ein Werk Walter Scotts gehalten wurde. Als „Walladmor“ ind 
Englifche überjegt worden, flaunte Walter Scott felbft über eine fo gelungene Copie. 
Bedeutender für Die vaterlänbifche Literatur ‚aber wurde Willibald Aleris, unter, 
dDiefem Pſeudonym erfchienen feine Werke, durch die Romane, welche auf märtifchem j 
Boden fpielen. In dieſen bat er mit wahrer Meifterfehaft die Iocalen Vortheile benugt, . 
die ihm das Vaterland im engiten Sinne bot, fich mit folcher Liebe Der märkifchen 
Natur angefchloffen, fo daß man von dieſen Dichtungen fagen Tann, fle feien durchduftet 
von dem frifchen Hauch der märkifchen Kieferwälder. Vor ihm bat Keiner fo gut die - 
befcheidenen Reize der märfifchen Landfchaft aufzufinden und darzuftellen gewußt. Aber 
nicht allein die märfifche Natur, fondern auch die märkifche Specialgefchichte Hat W. A. 
zum Gegenftande feiner Dichtungen gemacht, und wenn feine Romane auch nicht fehler» 
frei find, fo ift doch ein’ hiftorifcher Zug darin, Der ſie trägt, und der wader geholfen 
bat zur Erwedung und Belebung patriotifchen Sinned. Sein „Roland von Berlin“, 
„Hand Jürgen und Hand Jochem, oder die Hoſen ded Herrn von Bredow“, beſonders 
aber fein „&abanis", der mit großem Glüd Die Zeit Friedrichs des Großen wieder- 
Ipiegelt, find Werke von bleibendem Werth. In den fpäteren Romanen: „Ruhe ift 
die erfte Bürgerpflicht”, „Ifegrimm”, „Dorothea”, feheint Die Kraft des Dichters, wenn 
auch nicht erfchöpft, denn alle drei find immer noch reich an einzelnen Schönheiten, 
fo doch ſchwaͤcher; Der Zufammenhang ift Ioderer, die Schreibart nachläffiger, das 
Urtheil oft gar zu fehr in liberaler Parteianfchauung befangen und darum die Schil« 
derungen von biftorifchen Ereigniffen und die Zeichnungen biftorifcher PBerfönlichkeiten 
oft völlig verunglüdt. Außer zahlreichen Eleineren Erzählungen haben wir auch Bal- 
laden, erfchienen 1836, von W. A.; mehrere verfelben find anerfennenswerthe Leiftungen ; 
von feinen anderen Gedichten find zwei, „Friedericus Rex, unjer König und Herr” 
und „Schwerin ift todt”, volksthümlich componirt, wirkliche preußifche Volkslieder ges 
worden. Anfänglich in Verbindung mit dem Griminal«-Director J. E. Hitzig, dann 
allein gab W. A. auch den „Neuen Pitaval“, eine Sammlung merfwürdiger Rechts⸗ 
fälle heraus, ein bedeutendes Werk, von dem feit 1842 .eine lange Reihe von Bänden 
erfchienen ifl. Die meiften der darin abgehandelten Rechtsfälle haben ein allgemeineres 
Intereffe dadurch, daß W. A., wie vor ihm Feuerbach, eine pfuchologijche Erklärung 
des Verbrechens verfuht. Bis in die neueſte Zeit lebte W. U. in Mitten eined bes 
freundeten literariſchen Kreiſes, in mannigfacher Weiſe thaͤtig, eine Zeit lang auch als 
Theilnehmer einer Buchhandlung, in Berlin; eine ſchwere Krankheit nöthigte ihn, Berlin 
zu verlaffen und ſich nach Arnſtadt in Tändliche Stille zurüdzuziehen, anfänglich nur 
für Die Sommermonate, dann für immer. Im März 1858 nahm er mit einigen Zeilen 
an feine Breunde in den Zeitungen öffentlich Abfchied von Berlin. 

Alſieri. Graf Vittorio Alfter, Sohn des Grafen Anton U. und der Gräfin 


45* 


— — 


108 Alfred der Große. 


Monica Maillard von Tournon, am 17. Januar 1749 zu Aftt in Piemont geboren, 
gehörte einer, edlen Familie an, in welcher ein fefler und ftolger Sinn für Unab⸗ 
hängigkeit erblich war. Weber im Hof» noch im Staatsbienft haben die A. geglängt, 
fie jaßen, freie Herren, auf einem Keinen Erbe und begehrten nichts darüber hinaus. 
Früh verwaift, Fam der junge U. auf die Militärfchule zu Turin und tat dann in bie 
Armee ein, doch nur für kurze Zeit; fein ſtoͤlzer, heftiger, bis zum Starrſinn eigen⸗ 
williger Charakter ließ ihn in dem Dienft nur eine Feſſel finden, die er fo bald als 
möglich abſtreifte. Er nahm feinen Abfchied und machte 1771 feine erſte größere 
Neife, von der er mit dem Entfchluß heimfehrte, zunächft Die Mängel feiner vernach⸗ 
läffigten Erziehung zu befeitigen; mit dem feurigen Eifer und der unbezwinglichen Hart 
nädigfeit feiner Itatur warf er fich auf das Studium des Lateinifchen und Toscanijchen, 
namentlich um dann ald Schriftfteller für die Ermedung des italienischen Volkes aus 
feiner fittlihen Verfommenbeit wirken zu fünnen. Bittorio U. wurde Dichter, Drama: 
tiſcher Dichter, weil er fich des Drama's, deſſen mächtigen Einfluß auf das italienijche 
Volk er kannte, bedienen wollte, um es zu beflern, zu vereveln. Zu diefem Zwecke 
fohrieb er eine MHeihe von dramatifchen Werfen, die in der Ausgabe von Papua und 
Brescia 1810, ſiebenunddreißig Bände füllen. Es ift ihm nicht gelungen, das italie 
nifhe Volk „frei, ſtark und edel“ zu machen, wie er wollte, wie er jelbft war, Dazu 
bedarf's eben anderer Einwirkungen als Dramen zw geben vermögen, aber fein Wil⸗ 
wear gut, die Energie, die er an die Ausführung ſetzte, bewundernswerth, fein Ziel ſchön. 
Die Kraft und Einfachheit feiner Sprache find mufterhaft, feine Verſe aber find Bart, 
feine Dramen oft biß zur Dürftigkeit einfach in der Anlage und ftarr in der Ausfüh⸗ 
rung. Wit einem Wort, Vittorio A. war ohne alle poetifche Begeifterung. Dennod 
bat der männliche Geift, deſſen Producte diefe Dramen waren, entſchieden günftig auf 
dieſe verweichelte italienifche Literatur gewirkt, und was das italienifche Theater in 
neuerer Zeit Gutes gebracht bat, ift im Hinblick und in der Nachfolge auf Alfieri ge 
fihaffen worden. Der fittlihe Werth der Dramen Alfieri's ift bei Weitem höher als 
ihr poetifcher. Die ſechs Komödien, die A. gefchrieben, flehen in jeder Beziehung 
unter den Tragödien, deren er 21 hinterlaſſen hat. Zür fein beites Werk gilt 
„Abel", eine Tragödie, die faft Oper ift, er felbft nennt- fie Tamelogödie. Man— 
nichfach befprochen ift auch das in eigentlichfter Bedeutung des Wortes zarte Freund⸗ 
ſchaftsband, welches den Dichter mit der Gemahlin des legten Prinzen. aus dem Könige: 
hauſe der Stuart verfnüpfte. Diefe Dame, eine Stolberg, aus der gefürfteten Linie 
Gedern, war an den Prinzen Carl Edward Stuart, der durch feine Lafter dad große 
Ungläd jeined Haufe befchmugte, in höchft unglüdlidyer Ehe verheirathet, aus der fie 
1788 durch den Tod ihre unmwürdigen Gemahls erlöft wurde. X. lernte die Prin⸗ 
zeſſin, welche den Titel einer Gräfin Albany führte, auf jeiner erften Reife nad Tos⸗ 
fana fennen und widmete ihr ſeitdem bis an feinen Tod eine Verehrung, eine Freund» 
ſchaft ohne Gleichen. Seit die Gräfin verwittwet, lebte U. in ihrer Nähe, mit ihr zu 
Rom, Paris, Florenz und auch in Deutfchland, überall und flet3 aber war fie der 
Mittelpunkt feiner zarteften Sorgfalt, und Alles was er that und dichtete, batte eine 
Beziehung zu ihr. Meiner, inniger und ausdauernder wie U. bat felten ein Dichter 
einer Dame gebuldigt. Seit 1792 Iebte Graf A. mit der Gräfin Albany zu Florenz; 
mit dem Feuer eined wahren italienijchen Patrioten, mit dem ganzen Mannedzorn feines 
Weſens befämpfte er in Wort und Schrift Dig Branzofen und die Barbarei der fran- 

zöfifchen Revolution, Zeuge deß ift noch der Mifogallo, der erſt nach feinem Tode erfchien. 
A. flarb am 8. October 1803. Er ift ver Grabftätte nicht unmwürdig, die er in Santa 
Croce zu Florenz gefunden, dort rubt er zwijchen Michel Angelo Buonarotti und 
Mackhiavell. Mehr ald zwanzig Jahre fpäter, 1824, jtarb feine gefeierte Yreundin, bie 
Gräfin von Albany, fle ward in feinem Grabe beigefeßt, dad ein ſchoͤnes Denkmal 
von Canova deckt. Die merkwürdige Selbſtbiographie Afer's erfchien in beutjcher 
Veberfegung von Ludwig Hain. Leipzig 1812. 

Alfred der Große. Die fleben ‘Königreiche, welche die Angelſachſen in Britan⸗ 
nien gebildet hatten, befriegten einander, bid Egbert, König von Weiler und Suffer, 
nur noch der einzige Herrfcher aus Odin's Stamm war, denn Mercien, Oftanglien, 
Kent und Effer gehorchten dem Ufurpator Bernulf, und Northumberland war nad dem 





Afreb der Große Ä 209 


blutigen Ende feiner Fürften in Anarchie verfallen. Aber auch in Egbert's Lande 
berichte nicht8 weniger ald Ruhe; er ward fogar genöthigt, die Flucht zu ergreifen, 
ging an den Hof Kaifer Karl's und unterrichtete fih da während eines dreizehnjaͤhri⸗ 
gen Aufenthalt3 in den Künften des Krieges und des Friedens. Auf den Thron zu- 
rüdgefehrt, traf er Anftalten zur Unterwerfung der Briten in Cornwallis, als Bernulf 
in fein Gebiet einfiel. Ohnehin kriegeriſch, griff ee ihn an, ſchlug und tödtete ihn, 
worauf er ald Oberfönig aller angelfächflfchen Reiche fih König der Angeln nannte, 
und von welcher Zeit an der Name England gebräuchlicher wurde. — Mit der natio« 
nalen Einheit fchien eine glüdlichere Zeit für England wiebergefehrt, aber da brach 
eine neue Heimjuchung herein: die Einfälle der Scandinavier oder Dänen, yon denen 
einzelne Haufen fchon feit 787 ab und zu plündernd an den Küften erjchienen waren. 
Unter Egbert'd Sohn Aethelmulf (836) famen ihre Raubzüge, meift von der Küfle 
von Cornwallis aus, wo fie bei den die Sachſen haffenden Bewohnern günftig aufge: 
nommen wurden, regelmäßig vor; i. I. 851 begannen ſie endlich auch auf englifchem 
Boden zu überwintern; zurüdgetrieben, erfchienen fte in bedeutend größerer Menge, 
breiteten fich über den Süden und Often Englands aus, brannten Canterbury und 
London nieder, wurden aber bei Okely von Aethelwulf gefchlagen. Diefer eben fo 
fromme als tapfere Fürſt fchichte feinen jüngften, I. 3. 848 geborenen Sohn Alfred 
(richtiger Alfred, Alprät) in dem zarten Alter von fünf Jahren nah Rom, damit 
er, dem Die Nachfolge zugewandt werben follte, vom Papfte die Firmung und koͤnig⸗ 
lihe Salbung erbalte. Der Vater felbit folgte fpäter ald Pilger, verweilte ein Jahr 
in Rom (854), fand aber bei feiner Nüdfunft das Heich in Bebrängniß durch die 
Uneinigfeit der Altern Söhne, von denen. Aethelbald und Aethelbert fih nach feinem 
ode (858) in die Ränder theilten, aber bald (860 und 866) farben. Deren Länder 
fielen dem dritten Bruder en bat zu, der aber neue, ſehr unglüdliche Kämpfe mit den 
- Dänen und riefen zu führen hatte. Es entfpann fich ein furchtbarer Krieg, der manchen 
der wilden Seekönige, aber auch viele einheimifche Fürften verfchlang. Bald hatten die 
Dänen Nortbumbrien, Oftanglien — deſſen unglüfflicher gefangener König, weil er ih . 
weigerte, der chriftlichen Religion abtrünnig und daͤniſcher Vaſall zu werden, auf bie 
graujamfte Weife hingerichtet wurde und Dabei eine Standhaftigkeit bewies, die Ihn der 
Verehrung des Volkes würdig machte — und auch Mercien unterworfen, und von 
den alten Königreichen beftand nur noch Wefler. Aethelred ftarb (871) an einer im 
Gefecht erhaltenen Wunde, und es verlangten nun die Wünfche des gefammten Volkes 
defien jetzt zweiundzmanzigjährigen Bruder Alfred zum Herrſcher, denn derfelbe, der 
übrigend bereits unter der Herrfchaft feiner Brüder als zweiter Regent bezeichnet wird, 
batte ſich Durch geiftige Gaben und ausgezeichnete Tapferkeit bereits die allgemeine Liebe 
erworben. Doc war er ſo fern von dem Ehrgeize der Alleinberrfchaft, daß er auch 
jest das ihm mit Vebergehung der zwei minderjährigen Söhne Aethelred's angetragene 
Neich, deſſen Beſchützung gegen die Helden fchon den vereinten Kräften der Brüder-zu 
Ichwer gewefen war, allein zu übernehmen fih weigerte und erft nach Monatsfrift zu 
diefem Entfchluffe bewogen werben konnte. Er begann damit eine Laufbahn, welche 
ihn zu einem felten erreichten, nie überftzahlten Ruhme geführt bat. Ihm warb daß 
Glück, fein unterdrüctes Bolt von dem Ioche verhaßter heidnifcher Fremden zu befreien 
und e8 jeinem Glauben wieder zu geben, zugleich aber es dem neuen Lichte einer 
ſtaatsburgerlichen Entwidlung und nationalen Bildung entgegen zu führen, deſſen Strah⸗ 
len, wenngleich oft feltfam gebrochen, jeßt Uber den größten Theil des Erdballs leuch- 
ten. Bag nun auch die überfchwellende Verehrung früherer und die Wortfeligkeit ſpa⸗ 
terer Zeiten manche 2ob auf den Befreier und Neubegründer eines tieferniebrigten 
Volkes gehäuft haben, welches die Kritik wieder vernichten muß, indem fie die Keime 
mancher ihm zugefchriebenen Einrichtung ſchon früher bei feinem Volle und deſſen 
Stammgenofien nachweiſt: fo bleibt doch immerhin fo viel beftehen, daß man in Alfred 
einen der trefflichſten Fürſten und einen Helden der europäifchen Geflttung erkennen 
muß. — Zu Rom, wo.er ald Kind gewefen, wohin er als Jüngling zurückkehrte, hatte 
er ein höheres Leben kennen gelernt und fich angeeignet, aber feine eigentliche, 
namentlich ftttliche Bildung verdankte er, wie fo viele ausgezeichnete Männer, feiner 
vom Vater verjtoßenen trefflichen Mutter. Im etwas vorgerüdten Jünglingsalter über- 


210 Ahfred der Große. 


fiel ihn eine fehr fehmerzliche, den Aerzten feiner Zeit unbekannte Krankheit; aber durch 
die Macht des Gemüths, die Kraft des Willens mußte er die ungeflüme Reizbarkeit 
des Körpers zu beflegen, und Die vermehrte Gewalt Eörperlicher Schwäche fheint Die 
geiftige Gegenwirkung nur geftählt zu haben. — Nie begann ein Fürft feine Regierung 
unter fchwierigeren Umftänden. Schon während er Die Leiche feined Bruders zur Bei- 
fegung geleitete, wara er von Normannen, die den daͤniſchen Stammgenoffen nachge⸗ 
folgt und ſich mit diefen zu einem ftarfen Heere vereinigt hatten, angegriffen. Der 
König ſchlug mit feiner geringen Mannfchaft den weit überlegenen Yeind (bei einem 
Berge Milton in Wiltfhire), aber zu verwegen verfolgt, ftellte legterer das Treffen 
wieder ber und behauptete das Schlachtfeld. Acht große Schlachten waren ſchon vor 
ber in dieſem Jahre gefchlagen, nicht blos die Sachen, auch die Danen waren bier- 
durch fehr gefchwäcdht, und jo vertrugen dieſe fich jegt über Bebingungen, Weller 
zu räumen. Das geſchah, aber die Normannen eroberten nun Mercien und feßten 
ih in Northumbrien fehl, wo fie abtrünnige Sachſen als Scheinfönige oder Erheber 
der Schagungen einfeßten. Bon da überfielen fie mitten im Frieden Wieder Weiler, 
und vergebens Tieß ſie Alfred auf Meliquien — weil bei den Dänen eine äbnlide 
Verehrung der Gebeine der Vorfahren beftand — und auf dem königlichen Armbande 
— was die Dänen für die höchfte Befräftigung hielten und bisher nicht hatten thun 
wollen — einen neuen #rieden «befchwören: derſelbe ward unntittelbar darauf wieder 
treulod gebrochen. Nun ließ Alfred, um ferneren Landungen ficherer vorbeugen zu 
fönnen, an verfchiedenen Küftenpunkten größere Schiffe bauen, ald die bisherigen angels 
fächflfchen, und dieſe neugefchaffene Flotte bewährte auch bald ihre Brauchbarkeit durch 
Vernichtung vieler feindlichen Schiffe. Aber zu Lande mußte er Doch, obgleich wieder 
holt erfolgreich, ver dem treulos abermald Friede brechenden Feinde das Feld räumen; 
der größte Theil des Landes ergab fi den Dänen und der König rettete ſich mit 
wenigen Getreuen in die Wälder und Marfchen Somerſets. Diefer plötliche Umfchlag 
ließe fich nicht Leicht erklären, wenn nicht die Quellen andeuteten, der König ſei bei 
Einführung feiner Verbeſſerungen nicht ohne Gewaltſamkeit verfahren, wie es fcheint 
aus Geringichägung der ihm barbarifc, dünkenden nationalen Einrichtungen und Sitten. 
Aber mit jener Seelen- und Willensftärfe begabt, welche dad Erbtheil wahrer Helden 
ift, Tieß er filh durch das Unglüd nicht niederbeugen, vielmehr erhöhte es feinen Muth, 
verebelte fein Nachdenken, die Liebe zur heimifchen Sitte. Er felbft erzählte in ſpaͤtern 
Tagen gern von, jener Verdunklung feines Gejchided. Bei einem feiner Kuhhirten 
hatte er eine Schupftätte gefunden. Eines Tages faß er bein Herde, Pfeile und Bo⸗ 
gen fchnigend, während die Hausfrau, den hoben Gaft nicht Eennend, mit Brobbaden 
befchäftigt war. Das Brod, zu nahe dem Feuer, begann zu brennen, und die Frau 
fprang berzu, den Fremdling jchmähend, welcher nur zu fleißig fel, das Brod zu ver 
zehren, aber zu faul, des Badend zu achten. Eine andere Erzählung, wie Alfred 
allein in feinem Haufe die beiligen Bücher oder vaterländifchen Annalen leſend faß, 
während fein Gefinde auf den Fifchfang auögegangen war, und er einem anflopfenben 
Bettler die Hälfte des letzten Brodes gegeben, worauf ihm im Traum der h. Luthbert 
erfehienen und Die Wiederherſtellung in fein Reich ihm wieder verheißen, bezeichnet we⸗ 
nigftend den Charakter, welchen die Angeljachfen liebten, und der deshalb von ihnen 
ihrem Alfred zugefchrieben wurde. Wir erfahren aus biefer Sage noch, daß A.'s treue 
Mutter Osburge, welcher er das bedeutſame Traumgeſicht fogleich mittheilte, nicht ben 
Sohn, und diefer die Mutter nicht verlaffen hatte. Allmaͤhlich verfammelten ſich meh⸗ 
rere feiner alten Krieger um ihn, von denen er vernahm, Daß unter dem Drude ber 
daniſchen Zwingberrfchaft fein Volk, ungewiß, ob er noch unter den Lebenden weile, 
nach ihrem angeftammten Herrfcher feufze. Von einer Eleinen, Durch ihre fumpfige Lage 
gefchüßten Infel aus ahmte er die Breibeutermeife der Feinde nach und erfpäbete Die 
Gelegenheiten, über vereinzelte’ Dänenzüge. berzufallen und ihnen die Früchte ihres Rau⸗ 
bes abzujagen. Mehr und mehr verftärkte fi fein Anhang, und er felbft wagte fich, 
als Barde verfleivet, unter Die Dänen, um ihre ‚Kräfte auszufundfchaften umd zugleich 
die Hoffnung der dem DBaterlande treu gebliebenen Sachen neu zu beleben. Als endlich 
feine Plane gereift waren, entfaltete er das Banner des weißen Pferdes und fiel unver- 
ſehens über Die Dänen her, welche, von der plöglichen Erſcheinung eines Sachſenheeres 











Mfreb ber re ll 


überrafcht, teils unter deſſen Streichen fielen, theils fich in Die Veſten einfchloffen, 
während im ganzen Lande das Volk fi erhob. Der Düne Guthrun, der fi zum 
Könige von Weller aufgeworfen, verfland fich zur Annahme der Taufe, und als Athel⸗ 
ftan wurde er im Beſitz von Oftanglien gelaffen (S80).. Auch wer fonft von den dä 
nifchen Häuptlingen ſich zum Ghriftenthume befebrte, erlangte Breiheit und Beſitz. Die 
befreiten Staaten Suffer und Kent buldigten dem A., deſſen Geſetze das ganze fächfifche 
Land annahm; die alte Eintheilimg in 7 Königreiche. hatte nun ihr Ende erreicht, und 
die AnglosSachfen beharrten im Siege in der Bereinigung, welche dad Unglück ger 
Ihaffen. Alfred's naͤchſfte Sorge war jegt, fein Reich in „guten Vertheidigungs⸗ 
zuftand zu fegen, namentlich eine Slotte zu fchaffen; er durfte auch nicht lange auf 

ube hoffen ; der furchtbare Haftings fehiffte (893) aus Zranfreih mit 330 Schiffen 
herbei, fand Unterflüßung bei den meineidigen Dänen von Oftanglien und erzwang einen 
neuen dreijaͤhrigen Kampf von Alfred, ver noch 56 Schlachten für die Zreiheit feines 
Volkes fchlug. In den Furzen Zeiten der Ruhe, welche ihm die Kriege gewährten — 
doch von 895 bis zu feinem Tohedtage, 26. October 901, konnte er als Friedensfürſt 


walten, — arbeitete U. an der Sittigung feined Volkes mit einem Cifer und einer 


Einficht, wegen deren ihn die Geſchichte mit Kaifer Karl vergleicht, obgleich der wahr: 
haft große, weil im Unglück ungebeugte, im Glück ſtets mäßige und milde englifche 
Herrfoher in einer weit befchränfteren Sphäre, jo wie mit ungleich geringerem Kinfluß 
auf die allgemeine Eultur wirkte, ald der fränfifche Held. A. verhinderte, daß die 
hriftlichen Kitchen in England den Balderstenpeln und Donnereichen ſkandinaviſchen 
Heidenthumd weichen mußten, wie Karl durch feine Sachfenkriege eine Lsberfluthung 
des fächflfchen Heidenthumd gegen Weſten und Süden unmöglicy machte. Wir bewun⸗ 
dern ihn als Gefepgeber, und wenn troß feines Ruhmes bei dem Volke die Sage 
durchklingt, A. habe feine Gewalt auch mißbraucht und. hergebrachtes Recht gefränft, 
fo ift Dies wohl erflärlich, und er theilt diefen Vorwurf mit Kaiſer Karl Beide Herr⸗ 
fcher mußten zerrüttete Zander orbnen, Beider Orbnung wollte ſich die altgermanifche 
Freiheit nicht fügen, welche in der Vereinzelung ihr Weſen hatte, die daher wohl bie 
trogigfte‘ Selbfiftändigkeit nährte, aber feine Ordnung zuließ, wie ihrer ein Staat bedarf. - 
A.'s und Karl's trogige Wannen mußten fich gefallen laſſen, daß ihrer wilden Freiheit 
diefenäge Beichränfung auferlegt ward, ohne welche die chriftliche Civiliſation ſich weder 
erhalten noch gebeihlich entwideln fonnte. Gleich wie Karl an Eginhard’einen Freund 
batte, fo ftand dem’englifchen Helden der Mönch Affer aus dem Klofter St. Davids 
in Wales, dann Biſchof von Sherburn, zur Seite, der feine Lebensgefchichte ſchrieb 
(Cf. Annales rer. gest. Alfredi M. auct. Asserio, Menevensi, recens. Franc. Wise. 
Oxon. 1722), die literariſch minder bedeutend, ald das Werf des Branfen, aber na- 
turlich und wahrhaft if. Auh Grimoald und dem bekannten ffeptifchen Philo- 
fopden Joannes Scotus (Erigena) gewährte U. Gunfl. — Endlich uud vor 
allem hat A. durch feine Gejege dad angelfächlifche Volk fo gefeftigt, daB ed auch 
dann noch die Grundlage des Staates blieb, als die franzoͤſiſchen Normannen ich zu 
feinen Herren gemacht, das Land unter fich vertbeilt und das Joch des barbarifchen 
Eroberungsrechted auf die Angelſachſen gelegt hatten, daß es ſich allmählich wieder 
bob und die Normannen angelfächilfch machte, ohne ſie zu corrumpiren, mie ed fonft 
bei erobernden Völkern geſchah, wenn dieſelben mit den Beſiegten ſich verſchmolzen. 
Dazu trug die infulare Lage Englands fehr viel bei, und der angelfächfifche Charakter 
trat entfchieden hervor, als die engliichen Könige ihre Gebiete auf franzöflfchem Boden 
verloren hatten. A., der Befreier und Ordner, war zugleich eine Leuchte feines Vol—⸗ 
fe8, der Beförberer edler Bildung, die er fich felbit in einem bemunderungdwürbigen 
Maße erworben hatte, auch hierin dem großen Franken ähnlich, ja denfelben noch über» 
treffend. Er gründete nicht blos Volksſchulen, in welche Alle ihre Kinder jchiden 
mußten, fondern auch höhere Lehranftalten, namentlich die reich ausgeftattete Schule 
von Oxford. Es war dies um fo nothwendiger, ald die blühennflen Klöfter, welche 
alle Pflegeftätten der wiflenfchaftlihen Cultur geweſen, niebergebrannt waren, fo daß, 
wie A. felbft fchreibt, jenfeitö der Humber kaum Einer fi fand, der die gewöhnlichften 
Gebete verftand oder eine Tateinifche Stelle überfegen Eonnte. (Er ſelbſt Ierute erſt im 
36. Jahre Latein unter der Leitung der fein Streben für Wiſſenſchaft und Religion 


\ 


712 | Alfred der Große. 


unterflügenden Bifhöfe Plegmund von Canterbury und Werfrith von Worcefter.) 
Um diefer tiefen Unwifjenheit abzubelfen, unterzog fich der König felber der Lieberfegung 
folder Schriften in die Volksſprache, die ihm Behufs Verbreitung einer allgemeinen 
Bildung am angemeflenften fchienen, namentlich Aeſops Fabeln, der Kirchengefdhichte 
ded ebrwürdigen Beda und der ded Drofius, bereichert durch Noten über Germa- 
nien und die flavifchen Länder. (Es wird ihm auch eine alliterivende Ueberfegung von 
des Bonthius „Vom Trofte der Philoſophie im Unglück“ zugefchrieben, jedoch ſpricht 
Wright [Biograph. britann. I.] ihm dieſe Arbeit ab.) Jedem Bifchof fandte er ein 
Eremplar des Hirtenbuchs Gregor's d. Gr. nebft einem Schreibzeug zu, verbietend, 
beide je von einander zu trennen und aus der Kirche zu entfernen. Ueberdem verfaßte 
er Unterrichtöbücher und hinterließ Dichtungen, welch’ Tegtere in der Form roh find, 
aber eined gewiflen Schwunges der Phantafte nicht emtbehren. Auch fammelte er — 
und dies allein beweift ſchon, wie hoch er über feiner Zeit ſtand — die altjächfifchen Volks⸗ 
lieder. Er batte inımer Schreibzeug zur Hand, um die Stellen der h. Schrift, welche 
vorzugsweife feine Aufmerkſamkeit erregten, namentlich aus den Pfalmen, anzumerken, 
und ftellte daraus ein Buch zufammen, das ibn ſtets begleitete. Nach einem felbft- 
erfundenen Beitmaße, welches in Wachsferzen befand, die in Leuchten von Horn 
brannten, theilte er Tag und Nacht in drei gleiche Zeitabjchnitte, für die Regierungs⸗ 
gefchäfte, für gelehrte Arbeiten und das Gebet, für Schlaf und körperlichen Genuß. 
Die Hälfte feiner Einkünfte verwandte er für fromme Werke, nämlich für zwei Klöfter, 
Die er geftiftet Hatte, für Schulen, für irgend ein felbft außerenglifches Klofter, endlich 
für die Armen; dieſe befchäftigte er vorzugsmelfe an Bauten, um ihnen Brod und ben 
Reichen ein Beifpiel zu geben. Dur Gewährung befonderer Rechte und Vortheile 
309 er Handwerker und Handelsleute in die Städte, Siedler in das veröbete Land; Die 
Deifebefchreibung ded Normannen Other — die er feiner Ueberfegung des Orofius 
hinzugab — brachte ihn. fogar auf den Gedanken, die nordiſchen Meere durchforfchen 
zu lafien. — Was U. als Gefepgeber und Ordner geleiftet, ift genau auszumitteln 
faum mehr möglid. Gewiß if, daß man ihm die Stiftung fehr vieler Einrichtungen 
zugefchrieben, welche allen germanifchen Völkern laͤngſt eigenthümlich und bei den An⸗ 
gelfachjen vorzüglich audgebildet waren; aber Das tiefe Dunkel, welches die Verwaltung 
der angelfächltichen Reiche dedt, geftattet nicht genauer zu erforfchen, wad A. von den 
alten Einrichtungen blos wieberhergeftellt, was er verbeffert, was er endlich neu ge 
fhaffen. Doc ift zu ermitteln, daß er die Gerichtöverfaflung auf einen hohen Grad 
der Vervollkommnung brachte, und daß Diefelbe unter jeiner firengen und eifrigen Auf⸗ 
fiht fi fo gut bewährte, daß eine Verlegung des Eigenthums zu den höchſt feltenen 
Vorkommniſſen gehörte. Dies unmittelbar nach einer langen Zeit mörberifcher Kriege, 
nad einer Zeit, wo der Raub im ganzen Lande geherrfcht hatte! — Der König ver- 
fammelte zweimal im Jahre, und zumeift in London, die Großen des Reiche, Bifchöfe, 
Aebte, Grafen, Aldermen (Statthalter und MVorfigende der Graffchaftögerichte, shire- 
mots) und Thanes (KRronvafallen), welche 9600 Acres befaßen; wahrfcheinlih waren 
auf Diefer großen Rmtionalverfammtung (witenageinote) auch die Städte durch ihre 
Obrigfeiten, nicht aber die Bauern, Freigelaffenen und Hörigen vertreten. Hier wurbe 
unter dem Vorſttz ded Königs Krieg und Frieden befchloffen, wurden durch die Wahl 
alle diejenigen Staatsämter vergeben, welche nicht fchon durch die Unterabtheilungen 
der Staatsbürger, nämlich Durch die Vorfteher der Tithings und Hundreds, befekt waren, Die 
Auflagen beflimmt, die Geſetze gegeben und überhaupt alle Dinge verhandelt, welche 
die Nation betrafen. Als höchfter Gerichtshof des Reichs entfhied der Witenagemot 
in Tester Inftanz (die unterften Inftanzen bildeten der Sheriff nebft 12 rechtskundigen 
Beifigern, wahrfcheinlih vom Stande der Thane — Died doch erſt fpäter, als Die 
bürgerlichen Verhältniffe verwicelter wurden — und das Grafichaftögericht), und vor 
ihm wurden auch die Streitigkeiten der Thane und Beiftlichen verhandelt, welch letztere 
- mit ihren Untergebenen einen Fleinen Staat für ftch bildeten, der nicht in Die Tithinge 
und Hundrede eingriff. Die gefeßgebende Gewalt lag Daher in den Händen der „weis 
fen Männer,“ d. 5. der Ariftofratie, Die richterliche in denen der Gemeinde (den Hun⸗ 
dreder, Vorfigender eined Hundred, wählten 12 &amilienväter, welche befchworen, nach 
Berechtigkeit zu entſcheiden und nach Unterfuchung der Nechtöfache die Strafen zu beſtim⸗ 





* 








Al Fresco, Algarbe oder Algarve 7B 


men, die zumeift in Geldbußen beftanden; dieſe z0g der Sherif, Shiregerieve, ein, ber 
. zugleich über das regelmäßige Einfommen der Gefälle des Fiscus wachte). Mehrere 
der von U. erlafienen Gefege find erneuerte Verordnungen von Ina, König von 
Defier, Offa, König von Mercien, Athelbert, König von Kent. Er felbft iſt ber 
Urheber von 40 beflimmt nachweisbaren Gefeßen, deren einige aus dem Alten Tefta- 
mente gezogen find, als hätte er den Verpflichtungen des Sittengefeged größere Kraft 
- geben wollen, indem er fle zu Stantögefegen erhob. Zu den U. zugefchriebenen Ein- 
richtungen gehört auch die Aufnahme eined allgemeinen Kataſters. Es iſt nit uns 
wahrfcheinlih, Daß er hierin älteren Beifpielen der fränkifchen Geſchichte folgte und 
darin die Grundlage einer guten Apminiftration erkannte. — Jedenfalls Eonnte U. 
in feinem Teftamente, als er nach 29 ysjähriger Regierung und im 53. Jahre jei- 
ned Lebens am Ende feiner fegendreichen Laufbahn fand, in gerechtem Stolg auf bie 
von ihm gegründete Verfaſſung fagen, der Engländer folle frei fein wie fein Denken. 
In feinen binterlaffenen Aufzeichnungen finden fich einige der Grundſaͤtze, die er für 
ſich jelbft oder feine Unterthanen zur Richtſchnur aufgeftellt hatte. Nur wenige feien 
auögehoben: Pflicht des Kriegers ift es, wirkfame Vorkehrungen zu treffen wider Peſt 
- und Hungersnoth, darauf zu achten, daß Die Kirche des Friedens genieße, daß ber 
Landmann zum Beften Aller mit Ruhe die Ernte von feinen Feldern einheimje und 
feinen Ader pflüge. — Die Würde eines Königs ift nur in fofern eine wahrbafte, 
als er fich nicht ald König betrachtet, fondern ald Bürger im Reiche Ehrifti, d. i. in 
dee Kirche, daß er fich nicht der Gelege der Bifchöfe überbebt, fondern fi mit De 
muth und Folgfamkeit dem durch fle verfündeten Geſetz des Heilandes unterwirft. — 
Außer Dem ſchon genannten Affer ift Wilhelm von Malmesbury (de gestis 
regum Anglorum 1. V.) Sauptquelle für die Zeit und das Leben A.'s. Sehr braud- 
bar ift auch deſſen Biographie von U. Brednell, London 1777. Die vom Grafen 
Leopold von Stolberg verfaßte Lebenäbefchreibung hat geringen wiffenfchaftlichen 
Werth. Sorgfältige kritifche Nachweifungen giebt I. M. Lappenberg's Gefch. v. Eng- 
land, Br. I. (Hamburg 1834. In der Gefch. d. europätfchen Staaten von Heeren u. 
Udert), Trefflich ift Die Geſchichte A.ss des Großen von Profeffor Dr. Weiß (Schaff- 
baufen, 1852). Neuerdings fuchte Dr. Reinhold Pauli, der Schüler und Nach- 
abmer Dahlmann's (König Aelfred u. f. Stelle in der Geſchichte Englands, Bew 
lin, 1851) eines Weiteren auszuführen, daß der fireng römifch und Firchlich gefinmte 
Fürſt, welcher mit Rom eine genauere Verbindung ald irgend einer feiner Vorgänger 
oder Zeitgenofjen unterhielt, in feinem Wefen dennoch die Grundzüge der Selbfiftändig- 
feit des Proteftantismus Hatte. _ 
Al Fresco ſ. Frescomalerei. Ä 

Algarbe oder Algarve, das feine Bezeichnung ald Königreih in dem Titel der 
portugiefljchen Monarchen fortführt und gegen Norden an. Alemtefo, gegen Often an 
Andalufien,. gegen Süden und Weften am den atlantifchen Dcean grenzt), bat bei 
einer Ausdehnung von 20, deutjchen Meilen von DO. nah W. und von 3 bis 7%, 
Min. von ©. nad N. nad) Brancini ein Areal von 90 Geviertmeilen. Diefes äußerfte 
Weftland (EI Garb der Araber in Europa, wie das gegenüber liegende EI Magreb 
der Mauren in Afrika) zerfällt in Hinficht der Geftaltung und Zufammenfehung des 


Bodens naturgemäß in drei parallele Streifen, die jo ſcharf charakterifirt find, daß ihre 


Verfchiedenheit fogleich in die Augen fpringt. Diefe drei Streifen find der Küften- 
frih, vom Volke „a beiramar” genannt, dad benfelben gegen Norden begrenzenbe 
Hügelland „a barrocal" und das dahinter emporfteigende Gebirge „a ferra,” welches 
Algarbe von den Haiden Alemtejo's ſcheidet und daher allgemem als „algarbifthes 
Scheidegebirge“ bezeichnet worden iſt. Letzterer Gebirgözug, der den Syſtem der gan⸗ 
zen iberifchen Halbinfel gemäß von O. nah W. zieht und das weftlihe Glied des 
beinahe 80 Min. Igngen marianijchen Gebirgsſyſtemes bildet, ift mehr durch feine Breite 
als feine Höhe audgezeichnet und keinesweges eine einfache Kette, fondern befteht zum 


‚ H Zu dem leider reich mit Drudjehlern ausgeftatieten Werke „Bortugal und feine Colo⸗ 

nieen im Jahre 1854 von Julius Freiheren von Minutoli” gehört eine Karte, bie bebeutende Män- 

x hat und auf der die Norbgrenze Algarbe's ganz faljch angegeben tft. Nicht die Mündung bes 
demira bildet im Weſten biete Grenze, fondern der Opefeire. " 


+ 


. 


2 | Algarbe ober Algarve. _ 


größern Hälfte aud einer umfangreichen Gebirgögruppe, deren einzelne Glieder nichte 
ald die von Guadiana geriffenen Kortfegungen der Ketten der weſtlichen Sierra Mo- 
sena ind. Da, mo jener Strom feine dunklen Fluthen ſchaͤumend zwiſchen Toloffalen 
Klippen Hindurchdrängt, deren Gipfel fich fo nahe zufammen neigen, daß, wie die Be 
wohner diefer Gegend behaupten, ein Wolf über die dazwijchen Iiegenden Klippen hin⸗ 
wegfepen kaun — daher der Name Salto do Lobo, d. h. Wolfsfprung — beginnt 
auf dem rechten Ufer ein Gebirgözug, der, nad SE. laufend und Yon Stunde zu 
Stunde Höher anfchwellend, in die gewaltigen Berge von Mertola übergeht. Der be- 
deutendfte AR, der von diefem Knoten ausgeht und als die Fortfegung der Hauptkette ber 
Sierra Morena anzufehen ift, erſtreckt fich unter dem Namen Serra de Calderao in fünweft- 
licher Richtung bis in die Nähe des bereitd in Algarbien gelegenen Ameirial, wofelbft er 
weftlih davon einen neuen Knoten, die Hauptgebirgsſtadt des algarbifchen Scheibes 
gebirged, Serra de Malhao genannt, bildet, von dem ftrahlenförmig eine Menge von 
Zweigen nad allen Himmeldgegenden hin auslaufen. Die längften derfelben find nach 
Oſten gerichtet und ſenken ſich allmählich in terrafjirten Abhängen zu den Ufern des 
Guadiana hinab. Der bedeutendfte Ddiefer Zweige ift der, welder fi von Ameirial 
nah OSO. bis Odeleite in der Nähe des Guadiana erfiredt und Die auf der Serra 
de Malhao entipeingenden Flüſſe Foupana und Obdeleite von einander fcheibet, Bon 
dem übrigend nicht durch hohe Gipfel außdgezeichneten Knoten der Serra de Malhao 
wendet fich der aus Thonfchiefer beftehende Hauptgebirgdzug, zum großen Theil zahl⸗ 
Iofe, über und über mit immergrünem Gebüſch bebedte Wellenberge bilpend, nad 
Weiten und theilt fich bald in die zwei Anfangs beinahe parallel laufenden Ketten, in 
die Serra da Mezquita und da Odelouca, die allmaͤhlich aber immer weiter aus ein⸗ 
ander weichen, fo daß fle zulegt einen breiten Raum zwifchen fich laſſen, welcher Durch 
die gewaltigen Granitmaſſen der Serra de Ronchique, der höchſten Abtheilung des 
algarbifchen Scheidegebirged, die durch ihren Durchbruch jene Theilung des Thonſchie⸗ 
fergebirgeö bewirkt bat, ausgefüllt if. Von den beiden Ketten des legtern veräftelt 
fih die nördliche, die Serra da Mezquita, nach Norden zu vielfältig, einen großen 
Theil Alemtejo’8 bebedend; die fünliche, welche von den auf der nördlichen Kette jo 
wie in der Serra de Monchique entfpringenden Gewäffern vielfach durchbrochen worben 
iR und verfchiedene Namen führt, Löft fich weftlich der Fleinen Stadt Monchique in 
mehrere Zweige auf, die theild nah SW., theild nach W. verlaufen, raſch an Höhe 
abnehmen und endlich in Hügelreihen übergehen, welche mit den fchroffen, hoben, 
zadigen und wilb zerriffenen Beljen, von denen die Weft- und zum Theil die Südküſte 
Algarbe's umgürtet ift, endigen. Die bedeutendſten dieſer niebrigen Zweige find bie 
Serra do Efpinhaco de Cao (Hundsrück) und die Serra da Figueira, von Denen die 
Iegtere fich in ſüdweſtlicher Richtung bi8 an das 207 (preuß.) Fuß fih aus dem Merre 
erhebende Cabo de S. Vincente, in der Kriegögefchichte fo berühmt durch Die Sees 
flat von 1797, erftredt. Dieſes Cap, einft Promontorium farrum genannt, weil 
bier ein Tempel de Pluto am dunfeln (mare tenebrofum), undurchſchiffbaren Drean 
geftanden haben foll, ift jet dem Heiligen dieſes Namens geweiht, wie bie mehrften 
gefahrvollen Borgebirge den Menfchen darauf führten, gerade in ihrer Nähe einer hoͤhe⸗ 
zen, bimmlifchen Macht fich anzuvertrauen. Die Araber nannten ed Kenifat Algarb, 
den Welttempel, woraus die Legende vom heiligen Algorab das Rabenvorgebirge ge 
macht hat, weil er wie der Prophet Eliad von Haben ernährt wurde. Go verband 
ſich Mythologie und Etymologie zur Erklärung der Benennung diefer Südweſtſpitze 
von Europa, von deren Lage das ganze Königreich Algarbe ‚feine arabifche Benennung 
erhalten Hat, Die zuesit in jenem ſchwermüthigen Gedichte vorkommt, welches Kalif 
Abderrahman J. in heißer Sehnſucht nach ſeiner verlorenen Heimath Damascus auf die 
auf feinen Befehl, 756, in Cordova gepflanzte Palme gedichtet haben ſoll. 

“- Das algarbifche Scheidegebirge befteht, mit Ausnahme der ans ven beiden hohen 
Kuppen, der abgerundeten, hochgemölbten Boia (3965) und der breitppramibalen, 
fanft zugefpigten Picota (3830) gebildeten Serra de Monchique, aus Wellenbergen, 
wie die Sierra Morena, die, wenigftiend an feinem Südabhange terrafiirt erfäheinen. 
Laͤngs des fühlichen Handes der Serra ober ded Thonfchiefergebirges zieht fi Das 

„Barrocal”, das der Hauptfache nah aus Kalf, Sandftein, Mergel und anderen Ses 


P2 














Algarbe ober Algarve. | 5 


dimenten der Tertiäsperiobe zufammengefeßte Hügelland von Algarbe bin, welches von 
allen in der Serra entſpringenden Bächen und Zlüffen durchbrochen wird, im Allge⸗ 
meinen abgerundete Kuppen oder langgeſtreckte Kämme mit fleilen, felflgen Abhängen 
bildet und in der Gegend der in einem weiten Thale liegenden Stadt Xoule in den 
vier Cabeças fo wie in dem rauhen Serro de San Miguel, deſſen Scheitel eine dem 
Erzengel Michael geweihte Kapelle ziert, feine größte Höhe (2070) erreicht. Der 
Ihonfchiefer, aus dem der Hauptgebirgszug, fo wie überhaupt das ganze marlanifche 
Gebkrgsſyſtem beſteht, tritt in Algarbe vorzugäweije ald Sandfchiefer auf, der in ben 
mannichfaltigften, durch Tertur, Korn und Färbung abwechſelndſten Nuancen in Grau⸗ 
wadenfchiefer und Graumade übergeht. Er bebedt drei Biertheile der Provinz; mit 
etwas Glimmer gemifcht, hat er Unterlagen von röthlihen Pfammit und den beiden 
genannten Steinarten; dann folgen Sandftein, Mergel und Kalfarien, die ſich in den 
nach dem Meere gelegenen Flächen beſonders gegen das Cabo de S. Bincente aus⸗ 
dehnen, wo der Kalkitein fo rauh, zadig und nadt wird, daß man Faum auf ihm 
umberwandern Tann. Außer dem ziben Efpartografe (Stipa tenacissima), dem Tra⸗ 
gantftrauch (Astragalus tragaceniha) und baumartigen Violen (Viola arborescens) 
zeigte ſich Jahrhunderte lang in biefer Einoͤde, Die an der Spige des Continents von 
aller Welt verlaffen erfcheint, kaum noch etwas Anderes ald das Klofter '), mit deffen 
Bewohnern bei ſtillem Wetter der vorüberjegelnde Schiffer, che er fich dem weiten 
Ocean anvertraute, wohl noch in der Eile einige, vielleicht die letzten Worte wechfeln 
fonnte. Die Granitformation, die in einer folchen Mächtigfeit das algarbifche Scheide 
gebirge eine kurze Strede, bevor der ungeheure Schiefergebirgözug an den weſtlichen 
Geſtaden Portuga[d endet, durchbricht, enthält ein ſchwarzes Geſtein, vermifcht mit 
wenig Glimmer und rofenrotbem Feldſpath; grüner Porphyr mit weißen eingefpsengten 
Kryſtallen findet fich zwifchen ihm. oa 

Die fürlihe Hälfte von Portugal gehört bekanntlich zu denjenigen Theilen 
Europa's, die am meiften von den gewaltfamen Reactionen des glühenden Erdinnern 
zu leiden Haben, Denn Faum vergeht dafelbft ein Jahr ohne Erberfchütterungen. Es 
verfteht fich daher von felbft, daß auch Algarbe häufig son Erpbeben heimgeſucht wer⸗ 
den müfſe. In der That haben die Erpbeben bier fchon große Verheerungen ange 
richtet, ganz befonderd das bekannte von Liſſabon am 1. Nevember 1755, welches 
außerhalb feines eigentlichen Focus ſich nirgends in jo furchtbarer Weife geäußert bat, 
wie in Algarbe. Auch in. den Jahren 1719 und 1722 wurde dieſes Laͤndchen von 
beftigen Erſchuͤtterungen heimgefucht, welde an vielen Orten großen Schaden an⸗ 
richteten. Die ſtaͤrkſten Erbheben neuerer Zeit fanden 1807 und 1829 flatt, Doch mar 
der Schaden unerheblich im Vergleich mit den Verheerungen der drei großen Erfchüttes 
tungen des 18. Jahrhunderts. 

Algarbe, das fich in Hinficht der Phyflognomie und der Zufanunenfegung der 
Vegetation in zwei ziemlich jcharf markirte Regionen unterfcheidet, welche ald Region 
der Orangen, Dliven und Iohannisbropbäume und ald Region der Kaftanien und 
Haiden zu bezeichnen find, und von denen Die erftere dad Bairamar und Barrocal und 
die zweite die Serra von 2000° an in fich begreift, wird von zahlreichen Flüſſen und 
Flüßchen durchfchnittn, unter denen die von den moorigen Wiefen der Foia und Picota 
berabriefelnden, mit üppigen hoben Büfchen der prächtigen pontifchen Alpenrofen 
(Rhododendron ponticum) eingefaßt find und tiefe Furchen, die nach unten zu allmählig 
in romantifche waldige Felsſchluchten fich verwandeln, in die Abhänge beider tiefen 
graben. Diele vereinigen ſich zu dem fpäter in den Rio de Silves fallenden Rio de 
Boina, welcher fich zwifchen beiden Bergen binburchgebrängt bat, wodurch Das weite, 
äußerft fruchtbare und ungemein reizende Thal entflanden tft, hoch über welchen Mon 

1) Diefes bereits im 14. Jahrhundert gefliftete und Anfangs dem Möndysorben ber Hiero⸗ 
nymiten anvertrante Klofler wurde 1587 von den Engländern in Brand geftedt und gänzlidy zer⸗ 
Hört. Dann wieder aufgebaut, blieb es bis 1834 von Kapuzinermönden bewohnt, wo e6 in Folge 
der in diefem Jahre derretirten Aufhebung verlafien und fomit das Gap gänzlid, verwaift wurde, 
bis endlid auf einem 20 Jahre fpäter erbauten Leuchtthurme dem kommenden Schiffer, der vom 
Gap Koorn, oder vom Dorgeditge der Guten Hoffnung, bis hierher den geiahrvolien Drean glü 


lic durchſchifft hat und voll Ungeduld nad) dem erften feſten Bunfte des Gontinenteg ſich fehnt 
Feuerzeichen entgegenwinft. 







d6 Algarbe oder Algarve. 


chique in einer ber romantifchften Lagen der Welt am Südoſt⸗Abhange der Foia, um⸗ 
tingt von uüppigen Kaftanien« und Eichenwälbern, ſchwebt. Das Hügelland von Algarbe, 
das einen eine halbe bis drittehalb Meilen breiten Streifen Landes bildet und aus 
mehreren parallelen Hügelketten befteht, ift voll der malerifchften Landſchaften und obne 
Widerrede der fehönfte Theil der iberifchen Halbinfel und einer Der reizendften und 
lieblichften Landftriche Europa’. Prächtig bebaute, von Orangen⸗, Feigen⸗ und Wandel 
Plantagen erfüllte, von kryſtallenen Bächen durchraufchte Thäler, deren Wände pittorekle, 
von zahllofen Schlingpflanzen überrankte Felfenpartieen von Kalk und Kalktuff fhmiden, 
ſchlaͤngeln ſich allenthalben zwifchen den fchön geformten, felßgefrönten Bergen bin, 
deren Abhänge faft durchgängig mit verwilberten Delbäumen, Korkeichen und namentlich 
mit breitäfligen, reich belanbten Johannisbrodbaͤumen bewaldet find, in deren Schatten 
ein immergruͤnes, vielfach zufammengefeßted Unterholz auf dad Ueppigſte gedeiht. Pie 
ſchoͤnſte Stelle des Barrocal ifk unbedingt dad zwifchen den vier Cabegças gelegene, 
vom Rio de Cadavai bemäflerte Becken von Roule. Algarbe fann man das tropiſche 
Europa nennen, denn e8 erinnert nach Luft fowohl wie Gewächs an Länder innerhalb 
der Wendefreife, obgleich e8 bei 370 Norpbreite um 131,50 dem Angelende der Ede 
näher liegt als diefe. Nach mehrjährigen Beobachtungen, die in der Hafenftadt Vila 
noya de Portimao zwei Mal des Taged angeftellt morden find, fcheint die mitte 
Wärme dafelbft Iahr aus Jahr ein 169 zu betragen; bier berrfcht ein Winter, deſſen 
Iemperatur mit der Sommerwärme auf der deutfchen Hochebene von Franken und de 
Oberpfalz übereinftimmt; 129 ift der gemöhnliche Durchfchnitt für dieſe Jahreszeit, 
während die mittlere Sommerwärne jenen. um 8 bis 109 übertrifft, oder auf 20 bi 
22° fteigt. Innerhalb der fünf Jahre von 1816 bis 1821 ift in Billanova das Thr- 
mometer, immer nach der achtzigtheiligen Skala gerechnet, niemald unter 79 herunter: 
gegangen und niemald über 250 gefltegen; und in der Hafenftadt Karo, melde um 
»/,° fünlicher Liegt, ald Villanova, hat man in dem zwölffährigen Zeitraume von 1810 
bis 1821 das Thermometer nie unter 6° finfen und nie über 260 fteigen fehen. In 
den am böchften gelegenen Ortjchaften, wie zu Mondhique, Ameirial u. a., dürfte bie 
mittlere Sabrestenperatur fhwerlich unter 144,9 betragen, da daſelbſt noch Pflanzen 
wild vorfommen, welche man früher nur in den heißen Litoralgegenden Nordafrika? 
gefunden batte. In dem algarbifchen Küftenlanvde blüht der Pfirfichhaum in her erften 
Woche des Februar, ebenſo der Aprifofen- und Kirfhbaum, nur eine Woche fpäter 
entfaltet fich die Apfelblüthe. Die bundertjährige Aloe, feit 1561 aus dem tropijchen 
Amerika durch Gortufus nach Europa verpflanzt und bier verwildert, Die erft im Alter 
zwiichen 90 und 100 Jahren ihren bis. 24° hoch ſchießenden Blumenfchaft mit unzäh 
ligen, eieglodenförmigen Blüthen entwidelt, wuchert in dieſem Küftenlande unter dieſen 
“ reizenden Klima als breite, wilde Felderumzaͤunung, in Gefellfchaft der gemeinen un 
der indiſchen Fackeldiſtel, die gleihfalld aus den Tropenländern Amerifa’s eingefühtt, 
in Algarbe verwildert ift, mit ihren gelben und glänzenden Blumen die undurchdring⸗ 
lichen Hecken ſchmuͤckt und in der Eleinen Provinz die Cochenillezucht heimiſch machen 
wird. Europa's einzige Palme, die Befen=- oder Zwergpalme, der lebte zwergartige 
Vertreter der Niefenformen in der Palmenfamilie, ift, wie der über Die ganze ſüdweſt⸗ 
liche Hälfte der pyrenäifchen Halbinfel und in Nordafrika, infonberheit in Algarbe in 
der Bergregion oder der der Haiden und Kaftanien verbreitete Ladanſtrauch (Cistus 
ladaniferus), mit feinen immergrünen, glänzenden, weidenartigen Blättern an ruthen⸗ 
fürmigen Zweigen, wie im mittleren Europa die Haide, im. höheren Norden das Rem 
thiermoos, die Heerdenpflanze, die mit ihren fächerförmigen, grünen, oft ftrohgelben 
Blättern ganze Landftriche überzieht und ihnen ein frembartiges Ausjchen verleiht, das 
bier und da von dem fchlanfen Stamm und der flolgen Krone der Dattelpalme unter 
brochen wird, neben der die Baummollenpflanze fteht und das Zuckerrohr auf Fünftlih 
bewäfierten Feldern. Die Jonquille, eine gelbblühende, wohlriechende Narciſſe ſchmuͤct 
die Wiefen, und verfchienene hübfche Arten der Sternbyacinthe zieren Anhöhen und 
Gebüſche. 
Das entſchiedene Küftenklima Algarbe's dürfte ſich nur in den tiefſten Thälern 
"x Serra, zu denen der Seewind keinen Zutritt hat, mohifleiren und einen mehr con 
„BDoſen Charakter annehmen. In den Küftenfteichen und im Barrocal fihneit und 











Algarbe oder Algarve: . 77 


friert e8, wie bereit oben angedeutet. ift, niemald, in der Serra nur vorübergehend 
und zwar bloß in den höheren,- über 2000° erhabenen Gebirgsgegenden. Selbſt die 
Hochgipfel der Serra de Monchique bedecken fi nur felten mit Schnee, und auch bier 
bleibt derfelbe niemald Iange liegen. Regen fällt im Winter reichlich, beſonders in 
der Serra, im Herbit und Frühling fpärlih und faft nur um die Uequinoftien, im 
Sommer gar nicht. Gewitter Eommen hoͤchſt felten vor, und bloß im Heft und 
Winter. Sie pflegen fehr beftig zu fein und find bisweilen von Hagelſchlag begleitet. 
hau fällt im Sommer reichlich, weshalb die Frautartige Vegetation während der ge⸗ 
nannten Jahreszeit nicht in fo hohem Grade leidet, wie in andern Gegenden Süd⸗ 
Europa's. Die berrfchenden Winde find im Often und Weflen der Norbwind, im 
Centrum der Südweſt⸗ und Sübmind, der fehr heiß ift und im Sommer ſtets erhöhte 
Zemperaturgrade und ähnliche Wirkungen bei Menfchen und Thieren bervorbringt, wie 
der Scirocco in UntersItalien und der Solano an der Küfte von Andalufien. 

In Folge der geologifchen ‚Befchaffenheit ded Landes, daß drei Viertel deſſelben 
von ©ebirgen durchzogen wird, ift nur ein Theil der Provinz und 3, Quadrat⸗ 
. meilen oder der 30. Theil der Bodenfläche mit Eerealien bebaut. Bei dem Mangel 
einer umfangreichen 'Biehzucht und daher auch des Düngerd verwendet man mit 
beftem Erfolge den Fucus, oder fargaffo Dos mares, Seelinfe oder Seetang, und es 
ift intereffant, anzufehen, mit welcher Kühnheit Männer und hochgefhürzte Frauen bei 
eintretender Fluth auf einer kleinen Holzfchleife oder Kufe ſtehen, die mit Korkplatten 
belegt ifl, mit einem großen Dreizad oder Ne bewaffnet, in die offene See hinein" 
fahren oder bis über den Leib hineingehen und die herantreibenden Kräuter auffifchen; 
jpießen ‚oder abreißen. An's Land gebracht und getrodnet, liefert der Seetang einen 
ganz vortrefflichen Dünger und außerdem, was von ihm zu dieſem Zwed nicht gebraucht 
wird, einen AusfuhrsArtifel, der unter dem Namen Seegrad für Bolfter- Arbeiten eine 
10 gute Verwendung findet. An Weizen, mit ein Haupt» Ausfuhr» Artikel Algarbe’s, 
an Gerfte, von der die cevada cavallar, de inverno und fancta am meiften gefchägt 
und viel, mit Kaffee vermifcht, verbraucht werden, an Mais, befonderd minbo e 
panico, weniger fürnerreich ald die im Norden Portugald angebauten Arten, aber einer 
weniger forgfältigen Bodenbeftellung bebürfend; an Roggen, von dem die Genteio de 
S. Joao Ende Juni, eine andere Sorte im October, etwas früher ald der Weizen 
gefäet wird, und an Gemüfen aller Art wurden 1852 geerntet refp. 13,437, 6028, 
2700, 1506 u. 2292 Moios (1 Moio ift gleich 15,0651 Preuß. Scheffel), zuſammen 
25,963 Moios, eine Summe, vie fi zwei Jahre fpäter für dDiefelben Gerealien, mit . 
Ausfchluß der Gemüfe, auf 28,568 M. bei einer Ausfaat von 4444 M. erhöht hatte. 
An Gemüfen werden vorzüglich Favas (vicia faba) cultivirt. Kicher- Exrbien, Linfen, 
Erhfen, Feig- und Wolfsbohnen bilden ebenfalld die beliebten mehlhaltign Gemüſe, 
währen, mas die Kartoffel betrifft, obgleich in ganz Portugal angebaut, man nicht 
ihren vollen Werth zu fehägen weiß. Die Reiscultur ift fehr ergiebig und gewährt 
nicht weniger ald das vierzigfte Kom; 1852 belief fi bei 3 Moios Ausſaat die 
Ernte auf 126 M. Butterfräuter werden kaum angebaut, eben fo wenig Gewürze und 
darbepflanzgen. Tabak, welcher vortrefflich gedeihen würde, darf bekanntlich in Algarbe 
. 10 wenig wie im übrigen Portugal gezogen werden. Die Obftbaumzucht liefert die 
dankbarfſten Nefultate, vorzüglich gedeiht der Feigen», Orangen-, Manvel- und Oliven⸗ 
baum. Obgleich in: ganz Portugal fehr verbreitet, probucirt Algarbe doch Die meiften 
und fügeften grünen und trodenen, zur Ausfuhr beftinnmten Zeigen, deren Ernte 1852 
beinahe 13%, Millionen Arrateis betrug (1 Arratei gleich 1,0eo Preuß. Pf.) Eine 
eigenthümliche Art: dieſer Eultur ift die aprification der eigen, die darin- befteht, 
daß man die unreifen Früchte einer geroiffen Sorte yon Feigenbäumen durch eine be= 
fordere Art von Fliegen, weldhe ihre Eier in die Früchte der wilden Zeigenbäume 
(caprificus der Alten) zu legen pflegen, anftechen läßt. Dadurch werden nämlich die 
Fruͤchte jener cultivirten Feigenbaͤume viel größer und faftiger, als wenn man diefelben 
ſich ſelbſt überläßt, wo fie in der Negel unreif abfallen. Zu dieſem Zwecke hängen 
die Algarber Schnüre von wilden, mit den Ciern jenes Inſects erfüllten eigen an 
die Aeſte der angepflanzten Feigenbäume. Sobald die Inferten fich ausgebildet habe 
Rechen fle die jungen, noch unberührten Feigen an, worauf dieſe fehr ſchnell an X 






718 Ä Algarbe oder Algarve. 


fang, Saftigfeit und Zuckerſtoff zunehmen. Dieſes eigenthümliche Berfahren fcheint 
fi aus Griechenland, wo es fchon im Alterthum ausgeübt wurde, oder aus‘ Malta, 
wo es ebenfalld gebräuchlich ift, nach Algarbe verpflanzt zu haben, denn in den übri⸗ 
gen Mediterranländern Europa's pflegt ed nicht angewendet zu werden, indem dort 
auch die Eultur jener Sorte von Peigenbäumen nicht eingeführt if. Die capriftsirten 
Feigen find aber unflreitig die beften von allen. Vorzüglich gedeiht in Algarbe aud 
die Orange, nicht allein die fäuerliche Frucht, welche urfprünglicy in Portugal heimiſch 
war, fondern auch die füße, 1650 aus China hierher verpflanzte, ferner die Alfaroben 
(ceratonia Siliqua), eigentlich in Afrika zu Haufe, und in außerordentlicher Anzahl ia 
Algarbe vorhanden. Legtere blühen im October und ihre Früchte reifen zum naͤchſt⸗ 
folgenden Herbſt. 1853 belief fich die Ernte Algarbe's auf mehr ald 15 Millionen 
Drangen und 1%, Billionen Citronen. Bon den vielen Gattungen des Dlivenbau- 
med, die in Portugal befannt find, werben zwei oder drei Arten ig Algarbe gezogen 
und gedeihen bier auf den nad) dem Meere zu abgedachten Flächen, trotzdem man, wie 
in ganz Portugal, zu wenig Gewicht auf die Behandlung diefer Bäume legt, immer 
noch beffer wie in jeder anderen Provinz ded Königreichs. In dem genannten Jahre 
ergab die Dliven-Ernte eine Ausbeute von 894 Pipen Del (1 Pipe gleih 6', preup. 
Eimer). Die Bultur des Mandelbaumes, von Afien nach Europa verpflanzt, if in 
Portugal ſchon im Allgemeinen fehr verbreitet, befonderd aber in Algarbe, dad die 
meiften Mandeln zieht (1852 964 Moios) und verkauf. An Wein, deſſen Anbau 
wenig verbreitet ift und am meiften noch um Loule, Faro, Villanova u. Lagos betrieben 
wird, wurden 1852 6400 Pipen, an Wallnüffen 54,685 Alqueires (1 Alqueire glei 
4,173 Preuß. Meben), an Johannisbrod 6,032,320 Arrateis, und an Kaftanien 
531, Moiod gewonnen. 

Algarbe’8 Viehzucht ift nur in der Serra von Belang, das Barrocal und Bai⸗ 
ramar bieten zu wenig Weide dar, um große Viehheerden ernähren zu Tönnen. Die 
bauptfächlichften Zmeige dieſes Gewerbes bilden noch die Ziegen-, Schweine- und 
Schafzucht, doch ift letztere außerordentlich vernachläffigt, und nirgends wird eine eble 
Race gezüchtet. Die Mehrzahl der Schafe, die im Winter und Sommer im Freien 
umberjegweifen, befigt grobe Wolle, die im Lande felbft verbraucht wird, indem bie 
Srauen ſtarke Wollenftoffe daraus weben. Ebenſo verhält es ſich mit ver Pferdezucht, 
und die Maulthiere werden vielfach aus Spanien bezogen; die im Lande gezüchteten 
find weniger fchön und dauerhaft. Das Rindvieh, das in Algarbe gehalten wird und 
das unter den Namen Vaccas anas do Cabo S. Bicento bekannt ift, giebt eine große 
Menge Milch und ift zierlich ‚gebaut, lebhaft, aber außerordentlich Elein. Der Viehſtand 
Algarbe's belief fich 1852 auf 2114 Pferde, 5263 Maulthiere, 13,056 Efel, 18,462 
Stück Rindvieh, 39,140 Schafe, die 524 Arrobad weißer und 1159 U. ſchwarzer Wolle 
gaben (1 Arroba gleich 15,, preuß. Pfo.), auf 33,893 Biegen und 21,634 Schweine, 
fo daß alfo auf 68 Menfchen ein Pferd, auf 27 ein Maulthier, auf 11 ein Efel, auf 
8 ein Stud Rindvieh, auf 3 ein Schaf, auf 4 eine Ziege und auf 6 ein Schwein 
famen, ein Verhaͤltniß, das keinesweges ein günfliges genannt werden kann. Allgemein 
verbreitet. ift aber Die Hühnerzucht; die Eier bilden fogar einen beträchtlichen Ausfuhr: 
artikel. In der Serra wird auch die Bienenzucht eifrig betrieben, und ed wurden bier 
im Jahre 1853 an Honig 1,599,184, und an Wachs 629,300 Arrateis gewonnen; 
die Zucht der Seidenraupen bat aber bis jet in Algarbe nicht beimifch werden wollen, 
obwohl fich dieſes Land ganz vorzüglich dazu ‚eignet. Daffelbe gilt von der Cochenille⸗ 
ſchildiaus, die im Bairamar mit demfelben Erfolge gezüchtet werden Tönnte, wie um 
Malaga, Valencia und anderen Punkten der Süd⸗ und Süooftfüfte Spaniens. 

Bon allen Nahrungszweigen, von denen die Bevölkerung von Algarbe lebt, if 
der Fiſchfang der bebeutendfte, der, wenn audy in allen übrigen Theilen Portugals 
fehr lebhaft betrieben, nirgends in-fo großartigem Maßſtabe und auf fo erfolgreiche Weiſe 
gehandhabt wird. Das milde Klima des Eleinen Laͤndchens, feine eigenthümliche Lage 
zwifchen dem Ocean und dem ſchon im Alterthun wegen feines Fiſchreichthums berühm⸗ 
ten Guadiana, endlich der Umftand, daß alle Fiſche des Nordens, welche die Gewohn- 
heit Haben, im Mittelländifchen Meere zu laichen, an feinen Küften vorbeifhwimmen 
„Ken, führen den Geſtaden Algarbe's, befonders feiner Seeküfte, eine viel größere 


* 








Atgarbe oder Maarve. 719 


Menge von Fiſchen aller Art zu, als irgend einer anderen Küftenftrede Portugals und 
der iberifchen Halbinſel überhaupt. Außer dieſem ichthynlogifchen Reichthum der das 
Land umgebenden Gewäfler, fordern die Flimatifchen und hydrographiſchen Verhaͤltniſſe 
dieſes kleinen Königreich8 feine Bewohner mehr als in allen übrigen Küftengegenden 
der Heöperijchen Halbinfel auf, fich dem Bifchfange zu ergeben. Das berrlihe Klima 
und die Regelmaͤßigkeit der Luftfirömungen erlauben hier den Fiſcher, zu jeder Jahres⸗ 
zeit in die See zu gehen; überall finden fich vor den Stürmen geficherte Buchten und 
Strandflüde, mofelbft er feine Netze auswerfen und feine Barfen und Geräthe bergen 
fann, und große Ragunen in der Nähe faft aller Häfen, aus deren Wafler durch bloße 
Abdampfung das fchönfte Salz gewonnen werben kann, tragen nicht wenig dazu bei, 
die zur Gonfervirung der gefangenen Fifche nöthigen Operationen zu erleichtern. Die 
Hauptzweige der algarbifchen Fiſcherei beftehben in dem ange der Thunfifhe und Save 
dinen, von. denen man die erfleren in ein Netz von Eoloffalen Dimenfionen, das vers 
mittelft vieler Anker auf den Grund des Meeres angebeftet wird, treibt, und dann in» 
nerbalb dieſes Apparates, „armacan” genannt, harpunirt. Der Reichthum der Fifche 
fol in Folge des Geſetzes vom Jahre 1830 bedeutend abgenommen haben, da man 
feither den Zifchern freie Hand gelaflen hatte, fich beliebig conftruirter Netze zu bebie- 
nen, und durch die mehrentheils in Anwendung gekommenen engeren Netze ein großer 
Theil der jungen Brut verloren geht. Nichts vefto weniger ift der Ertrag noch heute 
außerordentlich Hoch, und die Abgaben für die Fiſcherei bilden eine bebeutende Summe 
in den Staatdeinnahneen, obgleich ein großer Theil der Fifche, befonders der Sarbinen, 


welche die Hauptnahrung der niederen Volksklaſſen, alfo aud der Fiſcher ausmachen, 


für den eigenen Bedarf refervirt, alfo auch nicht in den Verkehr und zur Verfteuerung 
gelangt. Die Fifcher bilden in allen Hafenorten Algarbe's, im Verein mit den übrigen 
Seeleuten, Innungen (compromifjos), von deuen einige, wie die Innung von Faro, 
aus den älteften Zeiten der portugieftfchen Monarchie herrühren. Diefe Fijcher-Innungen 
genofien früher große Privilegien, und find eine jede im Beil eines Fonds, der durch 
Beiträge der einzelnen Mitglieder erhalten wird, und zur Anfchaffung von Barken, Br 
ten und nöthigen Apparaten, fowie zur Unterftüßung alter oder invaliver Fifcher und 
Seeleute, deren Wittwen und Familien beftinmt if. Jeder folcher Verein wird von 
einem Ausfchuß (meta) geleitet, der aus ſieben Perfonen befteht, welche jährlich durch 
Abſtimmung neu erwählt werben. Algarbe bildet eine von den fieben Divifionen, in 
die das Feſtland der portugiefljchen Monarchie eingetheilt iſt, und die zur Erhebung 
der Steuer auf die Fifcherei beflimmte Diſtricte repräfentiren. 

Wenn fih auch in der Beyölkerung Portugals, die ein Gemiſch von Kelten 
Arabern, Deutfchen und Juden if, ohne der vielfachen Mobdificationen, entflanden durch 
Vermiſchung mit Völkern der neuen Welt, zu gebenfen, fein beſtimmter Nationaltypus 
erkennen läßt und die Bewohner mehr oder weniger der Natur, ihrer Umgebung in 


.n 


jeder einzeln durchaus von einander verfchiedenen Provinz entfprechen, fo tritt Doch in 


den Algarbern das maurifche Blut noch am meiften hervor, und bie Sitten diejed kraͤf⸗ 
tigen und gefunden Menfchenfchlags enthalten noch viele Reminiscenzen an die arabifche 
Herrſchaft. In des Algarberd Lebensweiſe ift übrigens der Einfluß des Briten, des⸗ 
jenigen Fremden, mit dem er, wie überhaupt der Portugiefe, am haͤufigſten in Berüh⸗ 
rung kommt, unverkennbar. Der Volksdialekt von Algarbe ift ein fchlecht ausgeſproche⸗ 
nes, zum Theil corrumpirtes und mit einer ziemlich beträchtlichen Anzahl von Wörtern 
arabifchen Urfprungd gemengted Portugieflfh. Die Bevölkerung, die fih im Jahre 
1801 auf 95,080 Seelen belief, betrug 1854 146,365 Köpfe, hatte alfo während der 
53 Jahre jedes Jahr um 1,017 Procent zugenommen ) und vertheilte fich im Durch» 
Ihnitt mit 1626 Seelen auf jede deutfche Geviertmeile. 


) Borausgefeht, daß die Angabe der Bevölterungszahl für 1801, die Balbi in feinem 
„Essai statistique sur le royaume de Portugal et d’Älgarve” mittheilt, eine richtige if, was 
aber bei dem damaligen Stande der Statiftit im Allgemeinen und im Beſonderen in Bortugal höchſt 
wahrſcheinlich nicht der Fall ifl.. In der den Gortes im Jahre 1836 vorgelegten Weberfiht der Be: 
völferung des Königreichs wurde dieſe für ganz Portugal zu 3,061,684, infonderheit für Algarbe 
zu 105,406 Seelen angegeben, während zwei Jahre fpäter die Commiſſion, welche die Zahlungen 
des ganzen Landes zufanmenzuftellen hatte und an deren Spige der Oberſt Francini fland, eine 
Befammtbevölferung von 3,224,174 Köpfen herausrechnete, ein NRejultat, auf das man wohl am 


. 


mw - N A garbe oder Algarve. 


Algarbe, 1854 im Ganzen 39,126 Feuerftellen zählend, bildet gegenwärtig einen 
der abminiflrativen Diftricte, in welche Portugal eingetheilt ift, indem die frühere Ein- 
theilung in Provinzen im Jahre 1835 aufgehoben wurde. Jede Provinz zerflel früher 
in „Comarcas“, und zwar gab es deren in Algarbe drei, nämlich die Comarcas von 
Tavira, Faro und Lagos. Gegenwärtig ift die Eintbeilung unterprüdt und der „Dis 
frift von Karo”, wie Algarbe in abıminiftrativer Hinficht genannt wird, in 15 Gemein- 
den ober DBürgermeiftereien (Conſelhos) eingeteilt. Hinfichtlih der Wahlen zu den 
Cortes zerfällt Algarbe in die beiden Wahlbezirfe Karo und Lagos, die refp. 4 und 2 
Deputirten in die Kammer ſchicken; binfichtlich der Jurisdiction in 5 unter dem Ober- 
appellationdgerichte von Liffabon ftehende Sprengel, hinſichtlich der Firchlichen Verwal⸗ 
tung in 69 Kirchfpiele, welche den Sprengel des Bisthums Faro bilden unb hinficht- 
li der Mititärverwaltung endlich bildet e8 im Verein mit dem Diftrict von Beja die 
achte Divifion von Portugal. Algarbe beſitzt 4 Städte zweiter Orbnung (Cidades), 
namlih Faro, Tavira, Silves und Lagos, 12 Städte dritter Ordnung (Villas), naͤm⸗ 
lich AUlgezur, Billa Do Bispo, Sagres, Monique, Villanova de Portimao, Lagoa, 
Albufeira, Zoule, Olhao, Billareal de S. Antoniv, Eaftro-Marim und Alcoutim, 50 
Kicchdörfer und Flecken (aldeias com parochia) und eine große Anzahl Weiler (aldeias) 
und zerſtreute Geböfte. Faro, die Hauptſtadt Algarbe's und Sig der Diftriftöregierung, 
liegt in einer fandigen, baumarmen Ebene, Hart anı Rande einer infelerfüllten Bucht 
und an ber Mündung des Flüßchen Valfermofo, welches mit leichter Mühe fchiffber 
gemacht werben Fönnte, jeßt aber der Stadt mehr Schaden ald Nugen bringt, indem 
es große Mafien von Sand in den Hafen fchmemmt, Dennoch ift Faro der Haupts 
hafen des Fleinen Königreiches, und es liefen im Jahre 1851 338 Schiffe von 9585 
Tonnen in ihm ein und 310 mit 9507 Tonnen aus ihm aus. Die 9500 (nah Mi⸗ 
nutoli 17,072) Einwohner befchäftigten fi außer mit Handel und Fifcherei, mit der 
Gewinnung von Salz, das für Algarbe ein bedeutender Handelsartikel if und an 
Güte nur den von Setubal oder St. Yves und von Liffabon nachſteht. Nur etwa 
10,000 Moios werden von dem in den 150 Salinen Algarbe'd gewonnenen Salze 
erportirt, wovon man einen Theil nach EI Araiſch (Larache) im WMaroflanifchen ver- 
fährt, dad Meifte wird im Lande felbft verbraucht und namentlich, anſehnliche Quan⸗ 
titäten nach Alemtejo verfaufl. Faro wurde 1755 durch das Erdbeben zerflört und 
beftgt daher, neu wieder aufgebaut, ein modernes Anfelren; die bifchöflicde Kirche ifl 
gro und ſtoößt an den bifhöflichen Palaft und an ein unfcheinbared Gebäude, in 
welchem fi das von dem gelehrten und Tiberalen Bifchof Don Francisco Gomes 
gegründete Seminar befindet, eine zur Heranbildung von Getfllichen beftimmte Anftalt, 
die in neuerer Zeit fehr beruntergefommen if. Am füröftlihen Ende der Stabt liegt 
auf einem flachen Hügel das Schloß von Faro, ein weitläuftiged- Gebäude, innerhalb 
deflen die Regierung des Diftrictes ihren Sig hat und das, umgeben von alten Mauern 
und einigen modernen Batterien, zugleich als Eitadelle dient. Faro, zur Zeit der 
Mauren, denen ed am 28. März 1249 durch den König Affonfo III. entriffen wurde, 
eine bedeutende Stadt, wurde 1540 durch Joao IM. zu einer Givade erhoben. Unweit 
der Stadt liegt auf einem Hügel das Kleine Eftoi, das alte Offonoba, wo vor Dem 
Einfall der Araber in Algarbe der Bifchoffts war, der nad 1188 nach Silves und 
unter Biſchof Don Jeronimo Oforio im Jahre 1580 nach Faro verlegt wurde. Bon 
den übrigen Orten find zu erwähnen: Lagos, das alte Xacobriga, mit 7000 Einwoh⸗ 
nern und unregelmäßigen Feſtungswerken; Tavira, in einem äußerft fruchtbaren und 
angebauten Thale zu beiden Seiten des Sequa, die fihönfte Stadt Algarbe's, mit 
breiten, graben, gutgepflafterten und reinlihen Straßen, großen und ftattliden Gebäu- 
‘den mit 8700 €. und einer Schmefelquelle, deren Wärme 20 40R. betraͤgt; Silves, 
ehemalige Hauptſtadt des mauriſchen Königreiches Algarbe, in einem reizenden Thale 
des gleichnamigen Fluſſes, Monchique, Sagres, Villanova de Portimao, Loulé und 
Villareal de: Santo Antonio, 1774 auf Befehl des berühmten Miniſters Könige 
Joſeph I., des Marquis v. Pombal, am rechten Ufer des Guadiana lediglich deshalb 
nur angelegt, um den Kandel und die Fifcherei der gegenüber Hegenden fpanifchen 
Befen — Rügen fann, teopbenı es von dem amilich beglaubigten des Jahres 1836 fo erheb: 
i 














Algarbe oder Algarve. | ei 


Stadt Ayamonte zu ruiniren. Terraflenförmig fih an ben Oflabhange ber majefläti- 
ihen $oia anfchmiegend, mitten in Oelbaum⸗, Obftl- und Orangenplantagen liegt 
Monchique, wichtig durch feinen Kandel, feine Induſtrie, jeine parabiefliche Umge⸗ 
bung und Die vier mächtigen, vielfach benußten Schwefelquellen, die am Abhange Der 
Serra liegen und die, wenn ein Erdbeben bevorfteht, plößlich zu verflegen und nad 
demfelben in verflärktem Map von Neuem bervorzubrechen pflegen. Während ber 
großen Erderjchütterung von Liffabon fing das Waffer zu kochen an und ftrömte hier- 
auf zwei Monate lang in viel größerer Menge als gewöhnlich hervor. Sagres, un 
weit des Caps Bincent, Eleiner Flecken, Seehafen und Waffenplat, wurde 1419 durch 
den berühmten Infanten Don Henrique, dritten Sohn des Königs Joao I., gegründet, 
welcher dort die Akademie für Aftronomie errichtete und aus biefem Hafen die welts 
berühmten Entdeckungs⸗Expeditionen zur See ausſandte. Noch jegt zeigt man fein 
Haus, oder richtiger die Stelle, wo ed ſtand, denn e8 wurde fammt der Kirche, den 
Kafernen, einen Theil der Feſtungswerke und allen größeren Gebäuden durch das Erd⸗ 
beben von 1755 zerftärt. Das Andenken des großen Fürften bewahrt ein Denkmal, 
das im Jahre 1839 auf Befehl ver verftorbenen Königin errichtet wurde. Villanova 
de Portimao, Heine hübfchgebaute, wohlhabende, Iebhafte, aber fehr ſchmutzige Billa 
von 3500 €., leitet feine Gründung von Hannibal ab, der dort zuerft auf Iufitanifchem 
Boden gelandet fein follte. 

Der Name Algarbe befchränfte ſich während der arabifchen Herrſchaft auf der 
iberifchen Halbinfel auf das jegige Königreich oder Provinz Algarbe nicht allein; man 
verftand Darunter ein Mal die ganze Südküſte von Cap St. Vincent an big zur Stabt 
Almeria im Königreihe Granada, ein ander Mal nicht nur alle8 vom Guabdalquivir 
weftlich gelegene Land, fondern auch das nordweſtliche Afrika und unterfchied das euro- 
päifche Algarbe von dem afrikanischen durch den Zufag „dalem marem und d'aquem 
marem“ (diesfeitö und jenſeits des Meeres). „König von Algarbe” nahm ſchon Kö- 
nig Sancho I. nach der Eroberung der Stadt Silves im Jahre 1188 in den Fönig«- 
lihen Titel auf, den 1472 Affonfo V. oder der Afrikaner, nad der Einnahme von 
Zanger und anderen Plägen an der norbweftafrifanifchen Küfte in „Rey dos Algarves 
d’aquem et d'alem marem” umaͤnderte und der, troßdem daß diefer Theil Afrika's 
jest zum Meiche Fez und der Hauptort Geuta der fpanifchen Krone gehört, Feine Aen- 
derung erfahren bat. Daß Sancho I. ſchon und nicht erft Affonfo II. fich dieſes Titels 
bedient hat, erhellt aus mehreren Urkunden, infonderheit aus einer dem Klofter zu Grifo bei 
Beira am 7. Juli 1190 gemachten Schenfung, von der das Original, in dem er ſich 
„Sancius Dei gratia Portugalliae et Algarbii rex* nennt, zu Torre do Tombo auf- 
gehoben wird. 

Algarbe'8 Geſchichte ift mit der der ganzen iberifchen Halbinſel eng verfnüpft; 
mit Diefer erlitt das Kleine Ländchen gleihe Schidfale, nur blieben die Araber länger 
im Befig defielben als irgend eines andern Theils von Portugal, und die Monarchen 
diefed Reiches mußten in Algarbe Ort für Ort erobern und wieberaufgeben, bis fie 
im Stande waren, das ganze Gebiet von den fremden Eindringlingen zu fäubern. 
Sancho 1. war der erſte König von Portugal, der, wie eben erwähnt, 1188 Silves, 
dann Lagos und 1198 Alvor den Mauren entriß; feine beiden Nachfolger, Affonfo I. 
und Sancho II. jegten mit mwechfelndem Glüde Die Eroberungen fort und Affonfo II. 
beendigte dieſelben, befonders durch Die Fräftige Unterflügung des Don Paio Peres 
Correa, indem er den Fremblingen 1242 Tavira, 1249 Loule und Faro, zum zweiten 
Male 1250 Alvor und 1266 nach einer langen Belagerung Silves,- ferner Albufeira, 
das zur Zeit der Mauren blühende und große Eocella u. f. w. abnahm, die Araber 
gänzlich aus Algarbe vertrieb und der jebigen portugiefifchen Monarchie Ihren bleiben- 
den Umfang gab. Wegen Algarbe wurde Affonfo II. 1252 mit dem Könige von 
Kaflilien, Alphons X., in Krieg 'verwidelt, indem legterer Anfpruch auf das Königreich 
machte, entweder weil Sancho IL, der Bruder und Vorgänger Affonfo’s II, gegen ben 
mächtigen portugieflfchen Adel in Toledo Schuß fuchend, es ihm abgetreten, oder weil 
der aus Algarbe verjagte maurifche König Aben Maffo oder Aben Afan fein Reich an 
Alphons X. überlaffen und dafür die Graffchaft Niebla im Königreiche Sevilla empfan- 
gen hatte. Der Krieg währte bis 1253 und wurde durch einen Vertrag beenbigt, 

Wagener, Staats u. Gefellfch.-Ler. I. 46 

! 


\ 


122 Agarotti. 


verndge deſſen der König von Kaftiltien den Tebenslangen Genuß aller Gefälle und 
Abgaben aus ganz Algarbe befam, der König von Portugal aber die erb⸗ und eigen⸗ 
thümliche Herrfchaft über vaffelbe behielt. Zu gleicher Zeit vermählte fi Affonfo IT. 
mit des Faftilianifchen Königs Tochter Brited oder Beatrir, und 1263 ward zwiſchen 
beiden Fürften ein neuer Bergleich gefchloffen, in dem Alphons X. der Nusung des 
Königsreiche® Algarbe entfagte und Affonfo II. fi) dagegen verpflichtete, feinem 
Schwiegervater im Falle eined Krieges und fo fange er (Alphons X.) lebe, ftets mit 
einer Truppe von fünfzig Ranzen zu unterftüßen. Auf diefem Fuße blieb die Sache 
bis 1266, wo der Infant Denys, oder Dionyfius, der 1279 zur Regierung kam und 
einer der größten Monarchen Portugals gewefen ift, feinem Großvater wider die Man⸗ 
ron freiwillig zu Hülfe und nah Sevilla kam, wofür aus Dankbarkeit feinem Bater 
die Verpflichtung, Die erwähnte Kleine Hülfsteuppe zu ftellen, erlaffen wurde. Bon 
dieſem Augenblide an gehörte Algarbe unangetaftet zur portugiefifhen Monarchie und 
erlitt gleiche Schickſale mit diefer zur Zeit der Herrfchaft des korſiſchen Machtinhabers 
in Branfreih, der e8, als Herzogthum Algarbe, in den beiden geheimen Verträgen, 
- zwifchen Duroe und dem fpanifchen Minifter Don Eugenio Izquierdo zu Fontainebleau 
am 27. October 1807 gefchloflen, jenem Glüdßritter, dem 1795 der Titel „Friedens⸗ 

ft” von feinem Herrn und König beigelegt war, wen Don Manuel Godoi verhieß 
ind ihm die vollen Souveränetätsrechte verfpradh, mit dem Vorbehalte, den König von 
Spanien als feinen Beſchützer zu betrachten und ohne deffen Einwilligung weder Krieg 
zu erflären noch Frieden zu fhließen. 

Algarotti. Francesco A., geboren 1713 zu Padua, gehörte einer alten Kauf- 
manndfamilie an, Die mit mehteren großen patricifchen Gefchlechtern Venedigs, unter anderen 
den Dandolo, verwandt war. Ein feingebildeter, witziger, höchft liebenswürdiger Mann, 
ſcharfſinniger Philofoph in dem Sinne der Franzoſen des 18. Jahrhunderts, Dichter mit 
mehr Geſchmack ald Kraft und Feuer, Kunftverfländiger, Naturforfcher, Nationalokonom, 
vorab aber eleganter Stylift, lernte A. auf feinen Reifen faft alle Titerarifchen und künſt⸗ 
Ierifchen Sommitäten feiner Zeit Eennen ımd gewann die Zuneigung der Meiften. Anf 
der Müdreife von St. Petersburg Tam er im Iahre 1739 mit Lord Baltimore an den 
fronprinzlichen Hof nach Rheinsberg; ſeitdem gebörte er zu Friedrichs Lieblingen. Der 
große König rief ihn bereit am vierten Tage nach feiner Thronbefteigung durch eigens 
bändiged Schreiber an feinen Hof, erhob ihn und feinen Bruder am 20. Decbr. 1740 
in den preußifchen Grafenfland und ernannte ihn zum Kammerherrn. Abmechfelnd in 
Berlin und Dresden lebend, denn auch am färhftfchen Hofe ftand A. in bober Gunſt, 
blieb er bis 1754 in Deutfchland, dann kehrte er in feine Heimath zurüd, erft in 
Venedig, dann in Bologna und endli in Pifa lebend. Mit dem großen Könige blieb 
er fortwährend in Briefmechfel; Friedrich brauchte feinen Liebling, den er feinen 
„cher cygne de Padoue* genannt bat, zu mancherlei Gefchäften, nicht blop zur Be 
forgung von Verdea⸗Wein aus Toscana und gelbem Gaviar, fondern auch zu Diple- 
matifhen Verhandlungen mit dem rönifhen Stuhl. (Auf die Beziehungen We. zu 
Friedrich dem Großen wirft eine vom Baron Keyſerlingk, auch einem Freunde des 
Königs, dem erwähnten erften einladenden Briefe angehängte Nachfchrift einiges Licht. 
Keyſerlingk hebt dort befonderd hervor: „Der König hat fich zum Breimaurer erflärt 
und ich, ‚meinem Helden folgend, ebenfalls. Sehen Sie mich alfo ald einen Meifter- 
Maurer an.“) Biel bedauert flarb U. ohne Nachkommenſchaft am 3. März 1764 zu 
Pifa. Sein königlicher Freund, Friedrich ließ ihm auf den Campo fanto zu Piſa ein 
Grabmal errichten, zu dem 2. felbft den Entwurf gemacht; die Infchrift Tautet: Hic 
jacet Algarotti sed non omnis. (lud wird die Grabſchrift: „Hic jacet Ovidii 
aemulus et Neutoni discipulus“, als von Friedrich herrührend, erwähnt) Die 
17 Bände feiner gefanmelten Werke, welche zu Venedig 1791—1794 erfchienen, zeu- 
gen von der großen Vielfeitigfeit feines Willens; noch 1826 erfchien zu Venedig eine 
neue Auflage feiner „lettere Nlologiche“. Algarotti ift auch der Berfaffer der Infchrift 
am Berliner Opernhauſe. Das Wappen, welches den Brüdern Algarotti bei ihrer Er⸗ 
hebung in den preußifchen Grafenftand verliehen worben, zeigt in gefpaltenem Schild 
vorn in Silber den FTöniglichen ſchwarzen Adler von Breußen; das hintere Feld if 
Durch einen rothen Querbalten getheilt, oben in Moth ein goldener Dreiberg mit einem 





Algan. Gebiet und Alpen.) 7123 


1) . 

Slügellreuz, unten in Blau zwei gebogene rothe Balken. Zwei Schwäne find Schild⸗ 
halter; Die Devife Tautet: Invidia major. | 

Algan. ine taufendjährige Vergangenheit hat biefen Namen aus dem Gedaͤcht⸗ 
niß Des Deutfchen Volks nicht verwiſcht! Nach Karls des Großen Grafichafts-Einthei- 
lung des deutfchen Bodens umfapte der Algau oder Albegau, mie man urfprünglid) 
fpra und fchrieb, dasjenige Gebiet im ſüdlichen Deutfchland, welches, die Quellen bes 
Argen und der Iller, der bregenzer Ach und der Wertach ıc. birgt, "alfo jenen Theil 
des Alpengebirges, den man noch heut zu Tage die Algauer Alpen zu nennen pflegt, 
welche Die nördlichen letzten Stufen des tirolifchen Hochgebirges zwifchen. dem Bodenſee 
und dem Lechthale bilden. Aber auch weit hinaus über die Grenzen der Alpen er- 
ſtreckte ſich die polizeiliche und gerichtliche Gewalt des Oraven, der dem Albe- ober 
Algau als oberiter Beamter vorgefeßt war, und noch gegenwärtig fagt man von Den 
ehemaligen freien Reichsſtaͤdten Rayensburg, Leutfich, Memmingen, Kaufbeuren und 
von den Bellgungen der Erbtruchfefle von Waldburg ꝛc., wenn ihre geographifche Lage 
bezeichnet werden foll: — fie liegen im Algau oder im Algaü, wie ber füddentfche 
Mund den Namen audzufprechen liebt. Nach der heutigen politiſchen Eintheilung um⸗ 
faßt Der geographifche Begriff Algau den ſüdlichen Theil des Doraufreifes vom König- 
reich Württemberg und den des Kreiſes Schwaben-Neuburg vom Königreich Baiern; 
und vornehmlich find ed die neumürttembergifchen Schwaben, bei denen die Benennung 
des Algaü gang und gäbe geblieben ift, meniger ift es bei den baierifchen Schwaben 
der Fall. Steigt man auf der Hochebene von Oberfchwaben in dem Hauptthale des 
Algau, dem der Iller, in die Höhe, fo ift um Kempten herum, 2000’ über dem Meere, 
bad Land noch ziemlich eben oder wellenförmig, Alles ift Tertiärgebirge, aber 8 Stun» 
den Weges von diefer Stadt, mo einft Republikaner neben einem geiftlichen Seren, 
dem gefürfteten Abte von Kempten, tegierten, erheben fich die Kalkalpen bei Immen- 
fladt, Diefem Marktflecken oder Stäbtchen, das einft die vornehmfte Ortfchaft Der den 
Grafen zu Koͤnigsegg gehörenden Grafſchaft Rothenfels war. Immenſtadt, 2250° hoch, 
im Jllerthal, wie Yüpen, 2420‘ hoch, im Lechthale, und Bregenz, 1212° hoch, am Bohenfee, 
diefe Drei Orte bezeichnen den nörblichen Fuß der Kalk» oder der Algauer Alpen, wie fie 
bier genannt werben. Noch weiter gegen Süden von Immenſtadt fangen Schiefer- und 
Granitberge an, die ſich unmittelbar an die Alpen Tirold und der Vorarlbergſchen 
Herrichaften anfchließen. Mehrere der Algauer Berge find fteile Berge, deren Hohe, 
fpige Gipfel bis in die Wolfen reichen, wie man zu fagen pflegt, nicht aber bis 
zue Grenze des ewigen Schneed emporftreben. Als höchfler Gipfel der Algauer Alpen 
gilt der Hochvogel, ein Berg unfern Sonthofen, auch im baierifchen Theil des Gebir⸗ 
ged; man hat feine Höhe zu 7952’ über dem Meere beftimmt. Andere Berge find auf 
ihren Lehnen mit Tannenwäldern gejchmückt, und die Thaler zwifchen ihnen liefern auf 
ihren Matten ein vortreffliches Futter für's Vieh. Die wenigen Bewohner dieſes Ge⸗ 
birges beichäftigen fich daher größtentheild mit Viehzucht und Milchwirtbfchaft, jo zwar, 
dag Algaüer Rindvieh ein gefuchter Handelsartikel ift, der vielfach nach dem flachen 
Norddeutichland ausgeführt wird, um bier zur Veredlung des Landviehes verwendet zu 
werden. Im Winter befchäftigen fich die Algaüer Hirten mit Spinnen und Weben; 
doch bat man auch etwas Getreide» und Flachsbau, fo wie der Wald zu Holzarbeiten 
ausgebeutet wird. In der ehemaligen Grafſchaft Königsegg-Rothenfels liegt, unfern 
Immenftabt, der Alpfee, der, 1%, Stunden lang und 1 Stunde breit, von allen Sei- 
ten mit Alpen umgeben ifl. Fahrbare Straßen führen nirgends über Die Scheideden 
des Algauer Gochgebirged. Wer aus dem obern Illerthale, 3. B. von Oberdorf, 
2563° Hoch, zu Wagen in’3 Lechthal einer» und nach dem Bodenſee andererfeitd will, 
der muß bis nach Immenſtadt hinabfahren, von wo ſich rechts und links Fahrbahnen 
lang& des Alpenfußes und in feinen Vorderthaͤlern verzweigen. Zwar giebt ed Paile, 
die aus dem Illerthal nach Tirol und dem Vorarlberge führen, aber fie find alleſammt 
ſehr Hefchwerlih für Reiter und felbft für Fußgänger mühfelig. In firategifcher Ruͤck⸗ 
fiht haben daher Die Algauer Alpen eine gewiffe Wichtigkeit, weil fle, auf dem linken 
Flügel eined DBertheidigungsheeres gelegen, durch eine Hand voll Soldaten vertheidigt 
werden koͤnnen, wenn ed dem anbringenden weftlihen Erbfeinde gelungen fein follte, 
die Stellung von Bredenz zu bewältigen, die den Weg durch das vorarlberg'ſche 

46* 


S 


724 Algebra. 


Illthal über den Arlberg nach dem Innthal und Tirol’8 Hauptſtadt Innsbruck be⸗ 
errſcht. 

Algebra iſt die aus dem Arabiſchen entnommene Bezeichnung desjenigen Theiles 
der reinen Mathematik, welcher die Lehre von den Gleichungen behandelt. Ihre Auflöfung 
macht die vornehmfte Aufgabe der Algebra aus. Sie wird durch die Umformung der 
gegebenen und die flufenmweife Ableitung neuer Gleichungen bewirkt, welche zulegt jede 
einzelne linbelannte in der Art durch lauter gegebene Größen barflellen müflen, daß 
jene ſich ohne Anſtand in Zahlen berechnen laſſen, fobald die Zahlenwerthe aller als 
befannt vorausgefegten Größen gegeben find. 

Iſt z. B. die Summe s und die Differenz d eier unbefannten Größen x,y 
gegeben, vw drüden die Gleichungen x+y=s und x— y=d die zwiſchen den Größen 
x,y,s,d beftebenden Relationen aus. Die halbe Summe und die halbe Differenz 

d und rt, welche Ausbrüde die ver- 
langte Auflöfung der vorgelegten Gleichungen barbieten. 

Soll die Auflöfung gegebener Gleichungen möglich, d. h. foll es thunlich fein, 
den unbekannten ober gefuchten Größen ſolche Werthe beizulegen, welche fämmtlichen 
Bleichungen Genüge leiften, ohne einer einzigen zu wiberfprechen, fo darf die Anzahl 

. der Sleihungen, von welchen jede eine durch die gejuchten Größen zu erfüllende Be⸗ 
dingung aufftellt, die Zahl dieſer Unbekannten nicht überfchreiten. Iſt umgefehrt die 
Zahl der Unbekannten größer als die Zahl der zwifchen ihnen beftehenden Gleichungen, 
fo fann man im Allgemeinen die Werthe fo vieler Unbekannten ganz nad Belieben 
feftfegen, als erforderlich ift, damit die Anzahl der Gleichungen die Zahl der noch übrig 
bleibenden gefuchten Größen gerade erreicht und ſodann legtere durch Auflöfung der 
hiernach modiſicirten Gleichungen finden. 

Hierauf gründet fich Der Unterfchied zwifchen beftimmten und unbeſtimmten 
Gleichungen. Dort erreicht die Anzahl der vorgelegten Gleichungen die Zahl der ge⸗ 
fuchten Größen, wodurch jede Willfür in Bezug auf die Beftimmung der Unbekannten 
ausgefchloffen wird; bier find mehr Unbekannte ala Gleichungen vorhanden und dem⸗ 
zufolge Tann eine geroiffe Willkür bei ihrer Auflöfung nur Durch befondere Neben» 
beflimmungen, 3. B. durch die Feſtſetzung, daß die gefuchten Größen ganze ober bodh 
rationale Zahlen fein follen u. ſ. w. befeitigt werben. 

Die Algebra im gewöhnlichen Sinne des Worts befchäftigt ſich nur mit ben 
beflimmten Gleichungen, während die Theorie der unbeflimmten Gleichungen ber 
unbeflimmten oder diophantiſchen Analytif anheimfällt. 

Die Auflöfung der ganzen rationalen Gleichungen, auf welche Die eigentlich alges 
braiſchen Gleichungen ſaͤmmtlich zurüdgeführt werden können (vergl. Gleichung), macht 
bei Weitem den wichtigften und umfaffenbften Gegenfland der Algebra aus. Da e8 
nun thunlich ift die Auflöfung folcher Gleichungen mit mehr als Einer Unbekannten 
auf die Betrachtung von Gleichungen derfelben Art mit Einer Unbekannten zurüdzu- 
führen, fo ift daraus ſchon die ungemeine Bedeutung der Betrachtung von ganzen ra 
tionalen Gleichungen mit Einer Unbelannten erfihtlih. In der That find ed dieſe 
Sleichungen, mit Deren Eigenfchaften und Auflöfung die Algebra fich vorzugsweiſe bes 
ſchaͤftigt und deren theoretifche Unterfuchung durch die fcharfiinnigften Analyften zu den 
anziehendften Reſultaten geführt bat. 

Diefenigen Werthe, welche der unbefannten Größe einer folchen Gleichung bei⸗ 
gelegt werden müſſen, damit ihr Genüge geſchieht, heißen Wurzeln der Gleichung. 
Die allgemeine Auflöfung der Gleichungen diefer Art kann nur dann bewirkt wer- 
den, wenn ſie den vierten Grad nicht überfleigen. Dagegen Tünnen aber die Wur⸗ 
zen aller Gleichungen höherer Grade wenigftend mit jedem beliebigen Grade von Ge⸗ 
nauigfeit ermittelt werden, wenn dieſe Gleichungen numerifche find, d. h. wenn Die 
Goefficienten aller Glieder derfelben in Zahlen gegeben find. 

Die Algebra bevient fich der allgemeinen Bezeichnung der Größen, welche in 
der Buchftabenrechnung gelehrt wird und zur Anwendung kommt. Daher wird zumeis 
len auch die Buchflabenrechnung der Algebra mit zugezählt. 





diefer Gleichungen aber ergiebt gest 





Algeſiras. Algier. (Colonie.) 725 


Algeſiras, ſpaniſche Stadt nahe bei Gibraltar an ber Meerenge gelegen; 4800 
Einwohner; Alphons XI. von Eaftilien nahm fie den Mauren nad einer Belagerung 
von zwei Jahren, bei der man fi zum erften Male der Kanonen bediente (1344); 
vor der Stadt fanden auch zwei Seegefechte zwifchen Sranzofen und Engländern im 
Jahre 1801 flatt. | 

Algier (franzöftfche Colonie). Diefe ehemalige Regentfchaft, die urfprünglich 
zum osmaniſchen Neiche gehörte, in der legten Zeit aber zu demſelben im einem jehr 
lockern Vafallen- Verbältniffe ſtand, war einft der kriegeriſcheſte Barbaresfenftaat, zus 
gleich aber auch der verrufenfte derfelben, der Hauptſitz chrifllicher Sklaverei, von einem 
zürnenden Chroniften als „die Schutzwehr der Barbarenmwelt” gebrandmarkt. Noch bie 
zum Sabre 1830 für die gebildeten Handelsvölfer äußerft unbequem, fpielte Algier in 
den politifchen Verhaͤltniſſen Europa's eine Rolle, die weder feinen Kräften noch feiner 
Stellung den großen Mächten gegenüber irgendwie entſprach; aber wie man die Tür⸗ 
fen ohne Nachtheil des europäifchen Gleichgereichtd nicht untergehen lafien zu Tönnen 
glaubt, fo betrachtete man lange Zeit Algier mit feinen beiden Nachbarſtaaten als 
nothwendig zum Gleichgewicht des Welthanveld. Glüdlicherweife für dieſen und Die 
Civiliſation gerieth der Ießte Dei mit Frankreich in Händel, was die Eroberung ſeines 
Landes und die Beſetzung deſſelben durch franzöflfche Truppen (1830) zur Folge hatte. 
‘ Seitdem ift Branfreich im Beſitz des wichtigen Küftenlandes geblieben und hat 
daffelbe zuerft Durch commandirende Generale (Bourmont, Glauzel, Berthezene, Her⸗ 
zog von Rovigo, Voirol, 1830 — 1834), dann durch Gouverneur (Gen. d'Erlon, 
Clauzel, Damremont, Valée, Bugeaud, Gavaignac [24. Februar 1848], Ehangar- 
nier [29. April], Charon [9. Sept.], d'Hautpoul [22. Oct. 1850], Randon [von 
1851 — 1858]) regieren lafien, bis es 1858 dem Prinzen Napoleon, dem Winifter 
Algiers und der Colonieen, untergeorbnet ward, der indeſſen bereitd Anfangs März 
1859 feine Entlaffung nahm. Die Hauptereigniffe der Eroberung und der ſich daran 
"fliegenden franzöftfchen Erpebitionen waren: die Eroberung von Bona (1830), von 
Oran (1831), von Arzew, von Roftaganem und Vougia (1833), die unglädliche 
Erpedition nach der Marta’ (1835), die Einnahme von Masfara, von Tlemſen (1835), 
der Sieg an der Sikkak unter Bugeaud (1836), der Friedensvertrag von Tafna mit 
Abdeel» Kader 1837 gefchloffen,; die Eroberung von Eonftantine durch Damremont, 
der dort fiel (1837); die Eröffnung der Beindfeligkeiten mit Abd= el» Kader Ende 
1839, Der Marfch durch die eifernen Thore (1839) und nad Muzala (1840), die 
tapfre Vertheidigung von Mazagran, die Einnahme von Scherfchell, von Medeah, von 
Nilianah (1840), von Tefevempt, Boghar, Thaza, Sata und von Maskara 
(1841); endlich 1842 die Einnahme von Sebdu, des letzten Platzes Abd » el» Kaders, 
die Beflegung der Stämme, die dem mir eine Zuflucht gewährt hatten, die Unterwer⸗ 
fung der früheren Provinz Titterie, Die Einnahme von Tebefla (1842), das Treffen 
von Taguin unter Anführung des Herzogs von Aumale, welcher Abd sel» Kader über- 
fiel und feine Smalah zerftreute, die Flucht des Emirs nach Maroffo (1843), die 
Seindfeligkeiten mit Marofto, welches dem Emir Beiftand leiftete, das Bombarbement 
von Tanger (6. Aug.), der Sieg Bugeaud's am Jsly (14. Aug.), Einnahme Moga- 
dor's durch den Prinzen von Joinville, Frieden mit Maroffo (10. Sept. 1844), neue 
Einfälle Abd⸗el⸗Kader's, Aufftand in einem großen Theile des Landes, befonderd im 
Lande Dhara unter Anführung Bu⸗Maza, unterbrüdt durch die Obriften St. Arnaud 
und Peliffier, Unterwerfung der Stämme des Auresgebirges durch Gen. Bebeau (1845); 
Züchtigung mehrerer auffländifchen Stämme, neue Zurüdwerfung Ahdsel-Kaber'3 nad 
Maroffo, nachdem er die franzöflfchen Gefangenen niedergemächt hatte (1846); freimil- 
lige Unterwerfung der zwifchen Bougia und Setif mohnenden Kabylen, Crgebung 
Bu⸗Maza's; rpedition ded Gen. Bugeaud gegen Groß- Kabylien, fortgefegt durch 
' den Herzog von -Aumale; die Unterwerfung Abd⸗el⸗Kader's, der fih am 23. Dechr. 
- 1847 dem Gen. Lamoricière ergiebt und nach Branfreich gebracht wird; 1848 Errich⸗ 
tung von Ackerbau⸗Colonieen arbeitslofer Bewohner der franzöftfchen Stäbte in Folge 
des Juni= Aufftandes; 1849 Unterdrückung mehrerer Iocaler Aufftände durch Obrift 
Ganrobert; 1850 ähnliche Kämpfe unter dem General de Baral und Transportation 
der nicht begnadigien Juni⸗Inſurgenten nad) Lambeſſa; 1851 Einführung des freien Han⸗ 


— & 


1726 Algier. (Colonte.) 


dels nit dem Wutterlande und glücliche Erpebition des Gen. St. Arnaud gegen Klein- 
Kabylien; 1852 ein ähnlicher Feldzug des Gen. Mac-Mahon, gänzliche Beflegung 
von Djurdjura durch die Gen. Camou und Beliffier; in den folgenden Jahren ähnliche 
Kämpfe. 1855 blieb ungeachtet des orientalifchen Krieged alles ruhig, Dagegen began- 
nen 1856 die Aufftände von Neuen, und 1857 unterwirft Marfchall Randon ned 
einmal Theile von Groß =» Kabylien. 

Wie Frankreich mit Allem, was e8 ift, treibt und denkt, die Welt qualt und 
martert, fo ift es im legten Sabre aller Welt auch mit der Lobpreifung der Verwal⸗ 
tungsreform in Algier und mit der Noth, die ihm der Mangel an Arbeitern in biefe 
Colonie macht, wahrhaft zur Laft gefallen. Während feine Journale das europäiſche 
Publicum nicht genug mit der Nachricht unterhalten Eonnten, daß die Megierung nun 
endlich fo glüdlich gewefen fei, das Geheimniß der Decentralifation zu entdeden, und 
mit der Löfung der großen franzöfifchen Aufgabe in Algier die erfle Probe zu machen, 
beunruhigten feine Schiffe die Oft- und Weſtküſte Afrika's, um die Arme zu fuchen und 
zu holen, die zum Anban der Colonie Algier immer noch fehlen. Nachdem der Rege- 
flaat Kiberia durch die Empörung der Schwarzen auf der „Regina Coeli“ in Ber 
fegenheit gefegt war, hat nun auch Portugal büßen müflen, weil e8 ſich von der Frei⸗ 
willigfeit der von dem „Charles et Georges" aufgebrachten Schwarzen nicht über 
zeugen konnte, und es wird England mit der Korderung turbulirt, den franzoͤſiſchen 
Sflavenfchiffen den indifchen Markt zu öffnen und ihnen zu erlauben, fich dafeldft mit 
Kulis zu verforgen. 

Die Franzoſen waren nach allen bißherigen Erfahrumgen die unpaſſendſte Ration, 
der die Coleniftrung Algiers zufallen konnte. Noch neuerlich fagte einer von ihren 
Schriftſtellern: „Algier ift weder eine Colonie, noch eine Provinz von &rankaid). 
Unfere Rilitaͤrbeſatzung hält einige Pläte in Abhängigkeit, aber das 2008 des Krieges 
giebt und das vollfte Recht,“ fügt er mit der feiner Nation eigenen Ruhmredigkeit 
hinzu, „in den ganzen Befig der vorigen Souveränetät zu treten, und unfere Herrſchaft 
erſtreckt ſich, fei e8 dem Namen oder der That nach, über das ganze Gebiet, welches 
feine feften Grenzen bat als das Mittelmeer im Norden, dad Reich Marokko im Welten, 
die Regentſchaft Tunis im Often und Die Linermeßlichfeit der Sahara im Süden.“ 

Diefe vermeintliche Unermeßlichfeit de8 Südens, Die in den Declamationen der 
Schriftfteller und in den Plänen der Regierung eine wichtige Rolle fpielt, erklärt bie 
großen Schwankungen in der Angabe des Flaͤcheninhalts der franzöfiichen Be 
figungen in Nord-Afrika. Während Cinige ſich damit begnügen, nur etwa 65W 
deutſche Quadratmeilen als die Eroberung des Schwertes zu bezeichnen, berechnen fl 
Andere auf 10,000 Weilen und darüber. 
In adminiftrativer Hinficht in drei Provinzen, Dran, Algier und Gonfantin 
eingetheilt, ift Algier ungemein gebirgig. . Der Atlas durchzieht mit feinen Nebenketten 
das Land; feine Ausläufer flürzen fich entweder fteil und ſchroff in die Fluthen dei 
. Mittelmeereö, oder fafien, glei einem Gürtel, dad ſchmale, flache Uferland ein, nur 
bie und da durch ein Flußbett oder eine Ebene unterbrochen, oder fie verlieren ſich im 
Süden in die Oede der Sahara. 

Die bedentendfte Ebene, die fich in dem von Thälern und größeren oder Fleineren 
flachen Streden zerklüfteten Gebirgslande findet, ift die der Metidja, die ſich in eine 
Laͤnge von mehr ald 30 Meilen und in einer Breite von 6 bis 8 Meilen erftredt. Sie 
bat die Form eines Halbmonded oder eined Bogend; ihre Außerftien Endpunkte im 
Weiten und Often berühren das Meer, während fie in ihrer Mitte fi immer mehr 
von demſelben entfernt. 

Die Gegenden Algierd, welche am Südabhange des Atlad beginnen und eine 
fortlaufende Kette felfiger Gochebenen bilden, deren tiefliegende Gründe von Salzſeen 
ausgefüllt find, haben ein durchaus fteppenartiged Ausfehen, und da diefe Zone im 
Süden von Dran einen immer wüftern Charafter annimmt, fo bat man diefem Theik 
vorzugsweife den Namen die algierifche Sahara oder die Feine Wüfte beigelegt. 

Die Südabhänge der ſüdlichen Gebirgskette fenken fich endlich zu der Negion 
der eigentlichen Sahara herab, Die Sahara, fo weit fle zu Algier gehört oder fo 
weit die angenommene Grenze der ganzen Colonie hinausgerückt if, theilt fich in brei 





Agier, (Colpnir.) | 227 


fcharf von einander gefonderte Regionen, nämlich in eine bewohnte, eine bemohnbare 
und in eine folche, Die von der Natur beflimmt ift, ewig wüſt zu bleiben. 

Obgleich Algier zufolge feiner geograpbifchen Lage zu den beißen Ländern ge- 
rechnet werden muß, fo wird fein Klima, deifen Durchfchnitt fich auf 169 His 200 R. 
beläuft, natürlich durch die phyſiſche Befchaffenheit feiner Oberfläche modificirt. Auf 
den Gipfeln und Plateaus ded Atlas herricht während der Wintermonate eine Külte, 
die der norbiichen fehr nahe kommt, während in der andern Gebirgsregion, im Süden 
und Norden ein gemäßigted Klima vorberrfcht, welches in den Ebenen in ein faft 
tropifches übergeht. 

Die Bewohner Algiers befteben, wie im ganzen nörblichen Afrika, vom Mittelmeer 
bis zum 150 N. B. und vom Atlantifchen Ocean bis zur Libyſchen Wüfte, in ver 
Hauptmaſſe aus zwei verfchiedenen Racen, den Arabern, den Eroberern, und den Ber- 
bern, den Urſaſſen des Landes. Beide find dem muhamebanifchen Glauben zugethan, 
allein durch ihre fittlichen und geſellſchaftlichen Verhältniſſe, ſowie auch durch ihre 
Herkunft und Sprache zerfallen ſie in zwei große Abtheilungen, von denen die eine das 
Acker- und Weideland im Tell und in der Sahara, Die andere die Gebirge auf der 
Grenzfcheide zwifchen diefen beiden inne hat. Die Stärke dieſer einheimifchen Bevölkerung 
ſchlägt man auf drei Millionen an. 

Die arabifhen Stämme in Algier find die Nachkommen der großen Heerfchaar, 
bie in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhundertd nach der Eroberung Aeghptens weiter 
eilte, um die Heere der Byzantiner und die Berbern von Cyrene bis Tanger zu ver⸗ 
nichten. Sie leben in einer patriarchalifchen Verfaſſung. Die Häupter der Familien 
beiigen eine abfolute Autorität über den Kreis ihrer Angehörigen, die ſich um ihr Zelt 
nievergelafien haben und einen Duar bilden, von dem dad Haupt der Scheich if. Die 
Autorität diefes Scheich ift von jeder Delegation unabhängig; weder das franzöfifche 
Souvernement, noch der Stanım Fönnen binfichtlich feiner Ernennung einjchreiten, wenn 
man das Factum einer ftillfchweigenven, aber einftimmigen Einwilligung überhaupt noch 
fo nennen kann. 

Troß einem beinahe dreißigjährigen Zufammenleben ift an eine Verbruͤderung der 
beiden bis jetzt einander feindfelig gegenüber ſtehenden Racen, der arabijchen und euro- 
päifchen nicht zu denken. Das Privatintereffe freilich bringt beide in ſo nahe Bezie- 
bung, als es der Fanatismus des Uraberd erlaubt. Aber man kann nur miitleidig Die 
Achſeln zuden, wenn die Optimiften in der franzöfifchen Verwaltung und Prefle von 
der immer zunehmenden Sympathie der Einheimifchen zu den Europäern fprechen. Was 
die von der Regierung fo dft ausgefprochene Hoffnung betrifft, durch Die Vermehrung 
der Berührungspunfte eine baldige Fuſion der beiden Racen zu bewirken, fo bleibt daß 
nur ein frommer Wunfh, der noch lange Zeit nicht erfüllt werden wird. Man febe 
einmal felbft Die verfchiedenen Eoncefilonäre unter den Arabern und Kabylen, welchen 
Die Regierung verfuchöweife Landeigenthum bewilligte, unter der Bedingung, ein orbent- 
liches Wohnhaus zu errichten, Bäume zu pflanzen und dad Ganze regelmäßig anzu- 
bauen: — das fchon_feit Iahren erbaute Haus ſteht noch zur beutigen Stunde leer, 
oder wird hoͤchſtens ald Speicher benupt, während der Eigenthümer unter feinem Zelte 
campirt, die Baumpflanzungen befchränfen fich auf einige Feigenſtecklinge, und Die Heer- 
den weiden nach wie vor auf dem Staatdeigenthbum, wo nicht gar auf demjenigen ber 
europäifchen Nachbaren. 

Die Berbeen oder Amazirghen, wie fie fich felbft nennen, was in ihrer Sprache 
jo viel wie Edle, Freie, Franken heißt, diefe energifche, arbeitiame, und wo nicht bejon- 
dere Umftände einwirken, zum anfäffigen Leben geneigte Race war feit dem 3. Jahre 
hundert dem Chriftenthbum ergeben. Bon den Urabern beflegt, wurden fle in das 
Sehirgsland und in die Wüfle verdrängt, wo fie, vor Allem die Kabylen, mit ihren 
Beftegern Haß um Haß, Verachtung um Verachtung austaufchen und die Vorfchriften 
des Islam, der ihnen aufgezwungen ift, aber ihren Neigungen wiberfpricht, nur mit 
Lauheit ausüben. - 

Ein nicht unwichtiger Beftandtheil der von den Franzoſen vorgefundenen Bevoͤl⸗ 
kerung Algiers ſind die Juden. Im 14. und 15. Jahrhundert aus Italien, den Nie⸗ 
derlanden, England, Frankreich, vor Allem aus Spanien und Portugal eingewandert, 


Mn. 





7128 Algier. (Colexte.) 


um fih den Verfolgungen zu entziehen, fanden fie in Algier zwar Aufnahme, aber and 
eine harte Behandlung. Aber troß der Leiden, die ſie mit unermüblicher Geduld a- 
trugen, trog der beleidigenden Zurüdfegung, vie fle im gewöhnlichen Leben und Ver- 
fehr erfuhren, wußten viele von ihnen in der Stille beveutende Reichthümer zu fam- 
meln. Sie waren die Steuereinnehmer, die Pächter der reichften Ländereien, fie hatten 
den innern Handel beinahe ganz in ihren Händen, fie verfahen die Dolmetfcher: und 
Geheimfchreiberdienfte, und durch die Geſchmeidigkeit ihres Charakters übten ſie oft 
einen unbefchränkten Einfluß im Divan aus. Das Alles Eonnte aber nicht die Ver⸗ 
achtung und die Erpreffungen aufwiegen, denen ſie durch die despotifche Willtr 
preißgegeben waren. Die Feſtſetzung der Franzoſen im Lande mußte daher für fi 
als ein Anfang der Befreiung gelten. Auch haben Einige dieſe Wohlthat nach ihrem 
wahren Werthe gewürdigt; die Mehrzahl jedoch hat über der Summe der von einen 
Herrſchaftswechſel unzertrennlichen Nachtheile die Vortheile, die er ihnen verfchaffte, 
vergefien. Die Quellen ihres Reichthums wurden durch die Occupation der Franzoſen 
zum Theil verftopft; Die Emancipation beeinträchtigte ihre materiellen Intereflen; — 
Daher eine gewifle Unbebaglichfeit und felbft Antipathie gegen die fremde Herrſchaft. 

Außerdem haben die Franzoſen auch die biäherige corporative Verfaſſung der 
Juden modificirtt. Seit langer Zeit hatten diefelben eine eigne Körperfchaft gebilber, 
die ihre befonderen Gewalten und Inftitutionen hatte, — in der Verwaltung den 
Makdam oder das Oberhaupt der Nation, in der Gerichtöbarkeit das rabbinifche Bath: 
Din oder Dad Gerichtöhaus, im Finanzwefen die Erhebung befonderer Auflagen, die 
Befoldung ihrer Beamten, die Unterftüßung ihrer Armen; im bürgerlichen Xeben bie 
verfchtedenen Inftitute, die ſich auf Familie und Dffentlichen Unterricht beziehen. Unter 
der Negierung der Deiß diente der Makdam, der den Titel „König der Juden“ hatte, 
feinen Glaubensgenoſſen als DBermittler bei der Regierung. Ihm fand allein die Ber: 
waltung der Einfünfte der Gefammtheit und die Ernennung wie —** der 
Beamten zu, er autoriſirte die Vollſtreckung der rabbiniſchen Urtheile und konnte fogar 
Berurtheilungen zu Einfperrung, zur Baftonade und zu einer willfürlichen Geldſtrafe 
aus eigner Machtvollkommenheit verhängen. Das rabbinifhe Tribunal feinerfeits batı 
‚ eine große Autorität, es urtheilte nach talmudifchen Gefegen und ließ feine Entſchei⸗ 
Dungen mit der größten Strenge ausführen. Das hat fih nun freilich jeit der Occu⸗ 
pation der Franzoſen geändert. Die Befugniffe ded Königs der Juden find durch eim 
Verordnung vom Juni 1851 näher beflimmt, und ein Gefeß vom September 1842 
ließ den Rabbinern nur bie Befugnig, über Verlegungen des religiöfen Gefeged zu 
erkennen, ohne Daß fle jedoch in irgend einem Falle Geld⸗ over förperliche Strafen 
verhängen dürfen. Die Juden Algiers ftehen fomit, jegt unter ftanzoſiſcher Ge⸗ 
richtsbarkeit. 

Die Geſqmmtzahl der europäiſchen Bevölkerung bellef ſich, ohne das 
ſtehende Heer zu rechnen, am 31. December 1857 auf 180,472 Seelen, und zwar auf 
61,833 Maͤnner, 47,237 Frauen und 71,042 Kinder. Im Ganzen wird die Natio⸗ 
nalität dieſer Bevölkerung durch Die Nähe der europälfchen Auswanderungspunkte be 
ftimmt; fo ift die Provinz Oran der Nähe Spaniens wegen hauptfächlich durch Spa 
nier, Die Provinz Algier mit Franzofen, Conftantine dagegen mit Malteſern und Ita 
lienern befeßt. 

Bis jetzt bat den größten Theil dieſer Bevoͤlkerung noch der Handel beſchaͤftigt. 
Alles ſpeculirt, kauft und verkauft mit mehr oder weniger glücklichem Erfolg. Die 
Anweſenheit einer beträchtlichen Armee mar der Magnet, der zahlreiche Speculanten ans 
aller Herren Ländern an fidy z0g, deren Gedanke nur war, fich fo ſchnell wie möglid 
zu bereichern, um ihr Vermögen in der Heimath zu’ verzehren. Allein die Zeit iR 
vorüber, wo der Marfetender fich fehnell zum SHptelbeflger und der Krämer zum reichen 
Kaufmann auffchwingen fonnte. Die Profite find fehr verkürzt und auch nur auf we 
nige Häufer befchräntt, und felbft diefe zittern beim bloßen Gedanken, daß die Armee, 
die immer noch die Baſis der Mehrzahl der Gefchäfte bildet, anfehnlich verringert 
werden koͤnne. 

Das weibliche Gefchlecht bietet nicht die fittliche Gewaͤhrſchaft, wie bei der ger 
maniſchen Coloniflrung. Die englifche oder deutſche Frau ift in den Colonieen in 











Algier. ( Colonie.) r 


Amerika oder Auftralien die Trägerin des Gedeihens und als Hüterin des Heerdes die 
Seele des Unternehmens. Die romaniſchen Frauen in Algier halten dagegen Rüfig- 
gang und Schlemmen für ihre einzige Aufgabe. Wie «8 in allen Eolonieen der Fall 
ift, giebt ed in Algier der Tracht nach feine Handwerks⸗, Bauer- oder Tagelühner- 
Braun und Töchter, fondern lauter Damen. Uber zugleich Tennt auch Die Ungebun- 
denheit der Sitten feine Grenzen. Die Ehe wird in hohem Grade mißachtet; wilde 
Ehen find eine ganz gewöhnliche Sache, und audy viele rechtmäßig verbeirathete Frauen 
wiflen das Band der beftehenden Ehen jehr zu lockern. 

Nicht nur hinter dem Handelsverkehr, ſondern auch noch hinter der Viehzucht, 
bie fich befonderd der Aufziehung von Pferden und Schafen zugewandt hat, ift der 
Aderbau bis jegt zurüdgeblieben, obwohl er ſich in den letzten Jahren ſowohl unter 
der europäfchen Bevolkerung, wie unter der einheimifchen über feinen bisherigen trau⸗ 
rigen Zuſtand zu erheben angefangen hat. 

Die Franzoſen haben in ihren Verſuchen, das Land zu coloniſtren, eine ſehr 
theure Schule durchgemacht, und alle ihre Plaͤne ſind bis jetzt fehlgeſchlagen. Außer 
dem feindſeligen Klima, den Kampf mit den Eingeborenen und den unmäßtgen Koſten, 
bie bisher auf alle Verfuche daraufgegangen find, haben fich dem Gedeihen der Kolonie 
noch folgende Umftände binderlich entgegengeftellt: Das Schwanfen des Gouvernements 
in allen Algier betreffenden Maßregeln, dad wenige Interefie, welches die Angelegenheiten 
diefer Eolonie im Wutterlande ſtets gefunden haben und noch finden, endlich der Um⸗ 
fand, daß der ‘europäifche Anftedler viel und theuer probucirt und auf dem Marfte 
von feinem Concurrenten, dem Araber und Kabylen, aus dem Felde gefchlagen wird, 
indem die beiden Teßteren mit einem Einfommen leben, mit welchem der Europäer nicht 
beftehen Tann. 

Man bat bis jet verſchiedene Eolonifationdmethoden verfucht, und alle 
find bisher mißglückt. 

Kleine, einzelne Anſiedlungen konnten nicht gedeihen, weil deren Begründer nicht 
dad Bermögen hatten, zwei bie drei Jahre lang aus ihrer Taſche zu leben und bar 
neben ein Haus zu bauen und den Boden urbar zu machen. Statt ihnen freie Hand 
zu laſſen, fich einfiweilen einzurichten, wie es ihnen ihre Mittel geftatteten, und das 
foftfpielige europäifche Gulturverfahren nach den Xocalverhältniffen zu modificiren, hat 
man ihnen fogar noch unerfüllbare Bedingungen aufgelegt, um ſie, wie man glaubte, 
an den Boden zu fefleln. . \ 

Verwilligungen großer Ländereien an einzelne vermögende Europäer mißlangen 
deshalb, weil diefe, falls fle europäifche Arbeiter kommen laffen wollten, große Koften 
hätten übernehmen müflen, und wenn fie Eingeborne gebrauchten, der Zwed, ſich eine 
esropäifche Bevölkerung zu fchaffen, nicht erreicht wurde. 

Die Dritte Methode find die militärifchen Anfleblungen, die namentlich) durch 
Bugeaud betrieben wurden. Da hiernach der Boden mit Hülfe des Militärs umge- 
brechen und die Häufer errichtet wurden, um nachher Eivil = Anfledleen übergeben zu 
werden, ſo fiel Damit die Ausgabe, an der die einzelnen kleinen Unternehmer erlahmten 
und die die großen Grundbefitzer aus natürlichen Gründen nicht übernehmen fonnten und 
wollten, an den Staat, der ſchon vor der Februartevolution nur widerwillig die gefteigerte 
Ausgabe ertrug und fie nach dem Sturz der Iuli-Monarchie Taum noch leiften Farm. 

Nah allen diefen trüben rfahrungen und nad dem Umbertappen In ver⸗ 
ſchiedenen Golonifationämethoden iſt man jeßt Doch noch nicht im Klaren, wie bie 
Xändereien Algier's am zweckmaͤßigſten mit Anſtedlern zu befegen ſeien. Bis zum 
Jahr 1856 Hatte man Gonceflonen an Ländereien ertheilt, doc gewichtige Stimmen 
erhoben ſich dagegen, theild wegen der Damit verbundenen Umftaͤndlichkeiten, theils 
wegen der Willkürlichkeiten, Die nur zu oft dabei flattfanden. Man hatte feit einigen 
Jahren ſchon dem Gouvernement vorgefchlagen, das Beifpiel der Bereinigten Staaten 
Nordauerika's nachzuahmen, Die Landgebiete in Auctionen zu veräußern und aus freier 
Hand für einen geringen Preis Parcellen zu verkaufen, für die kein annehmbares Ge⸗ 
bot zu erzielen gewefen. Gegen dieſes Syſtem aber, wenn es auch in Amerika reuſſtrt, 
find für Algier gewichtige Bedenken geltend gemacht. Man fürdhtet, daß Leute, Die 
über bedeutende Bapitalien verfügen, große Kändereien erſtehen würden, mit ber Abfict, 


’ 4 


Am. 


7 Higler, (Colonie.) 


fie brach liegen zu laflen, bis fie in Folge vorgefchrittener Colonifation des ganzen 
Landes einen großen Werth erhalten haben. Man würde alfo nicht ven Anbau, fon- 
dern die Speculatton befördern und die Fleinen Coloniften würden in der Concurrenz 
mit den großen Gapitaliften durch lehtere verdrängt werben. 

Endlich ſteht der Golonifation Algierd der geringe Umfang des dazu offen flehen- 
den Landes entgegen. Der Größe des Landes entfpricht bei feiner Gebirgs- und 
Müftennatur- keineswegs der Umfang des anbaufähigen Landes, und das Iegtere iſt noch 
dazu durch Die inländifchen Heerdenbefiger und durch ihr verfchwenderifches Aderbaus 
foftem, namentlich Durch ihr Brachfuften in Anfpruch genommen... Durch Gantonnirung 
der Eingebornen und durch ihre Einfchräanktung auf einen geringeren Raum hofft man 
baber für europäifche Anfiedler Plag zu gewinnen. Allein auch dies Spftem ift nit 
ohne Gefahren, da die arabifchen Familien fchon feit langer Zeit ihre liegenden Grüude 
durch einen Rechtstitel erb- und eigentbümlich befigen oder Durch eine langjährige Occu⸗ 
pation ein gewiſſes Necht über einzelne Landflriche erworben haben. Eine Einziehung 
folder Grundſtücke ohne Vergütigung würde die Leidenfchaften ber zwar unterworfenen, 
ſtets aber feindjelig gefinnten Stämme von Neuem entflammen und ein möglicher Krieg 
mit den Eingeborenen würde unvergleichlich groͤßere Koſten als die Ankaufung des 
Landes verurſachen. 

Natürlich gebricht es bei dem prefären Stand der Anſiedelungen überhaupt und 
bei dem geringen Zufluß der Coloniſten aus Frankreich ſogar an Arbeitskraͤften auf 
den. beſtehenden Gütern. Bis zur franzöflfchen Occupation war Algier dad Ziel zahl: 
reicher Baramanen aus: dem Süden, die nach dem Norden Negerfelaven brachten, und 
dafür Fabrikate mit nahmen nach Haufe. Seit der Eroberung Algiers wandten ficy dieſe 
Carawanen audfchlieplich nach Maroffo und Tripolis, wo fie für ihre Sclaven englifche 
Fabrikate eintaufchten. Der Süden Algierd ift daher für Frankreich veröbet und obne 
Verkehr geworben; es braucht gerabe jetzt Die Neger dringender als je, und es ſucht 
ſie nun auf ſeinen Expeditionen an der Oſt⸗ und Weſtküſte Afrika's zu erlangen, auf 
Erpeditionen, die zuletzt zu der unglücklichen Verwicklung mit Portugal geführt haben. 

In der Staatsform und Verwaltung Algiers trat in Folge der beiden 
Deerete vom 24. Juni und 31. Auguft 1858 eine beveutende Veränderung ein. Bis 
dahin war Die Colonie, unter einem General-Gouverneur ftehend, vom Kriegd-Rinifterium 
abhängig, mit der Ausnahme, daß feit dem Jahre 1848 daß Juftizwefen dem Juſtiz⸗ und 
dad Unterrichtöwefen dem Unterrichſs-Miniſterium anvertraut war. Nachdem aber nun 
bie Golonie durch die erwähnten Decrete der Leitung des Prinzen Napoleon, dem Eher 
des neu gebildeten Minifteriums Algierd und der Colonieen, überwiefen war, wurde das 
Amt des General-Gouverneurd ſammt dem demfelben beigegebenen Gubernialrath und 
General = Secretariat. aufgehoben. An die Stelle des General» Gouverneurs trat ein 
Ober⸗Befehlshaber des Landheeres und der Streitkräfte der Marine, doch waren feine 
Beziehungen zu dem Prinzen» Minifter umd zu deilen Minifterium durchaus ned 
nicht geordnet. Die ganze Rechtspflege ward unter gewillen Befchränkungen dem 
neuen Miniſterium zugewiefen; des letteren Chef entfcheivet über die militäri- 
fgen Operationen, ernennt zu Allem Verwaltungs » Beamte, vegelt das Budget, 
feßt gemeinfchaftlich mit dem Juſtizminiſter Richter ein und ab, zieht die arabifchen 
Bureaur in feine Verwaltung und überwacht die Angelegenheiten der einzelnen Culte. 
Zugleich bat man fich bemüht, die Trennung der Civilbezirfe von den militärifch ver- 
walteten Territorien weiterzuführen. Cndli wurde das Inflitut der Generalräthe für 
die bürgerlichen Diſtricte gefchaffen und in einige von ihnen auch ein paar Juden 
rufen, fowohl als, Demonſtration gegen die clericale Oppoſition in der Mortara⸗Ange⸗ 
legenheit, als auch um ſich der zweideutigen Treue der Judenſchaft zu verſichern. Die 
Entlaſſung des Prinzen Napoleon von feiner Miniſterſtelle ſtellte dieiſe neue Orbnung 
der Dinge wieder in Frage. 

Die Pariſer Journale verkündigten dieſe neue Organiſation als den Beginn der 
Aera der freien bürgerlichen Selbſtverwaltung der Colonie und fle ſtimmten in dieſem 
Preis mit der Proclamation des Prinzen und mit dem Lob überein, das er im Sommer 
1858 in feiner Rede von Limoges der bürgerlicden Selbftregierung und der Des 
sentralifation geſpendet hatte. Man kann indeß in allen jenen Maßregeln, abgeſehen 


— 


x 








Algier. (Stadt) | - 


davon, Daß ihre Ausführbarkeit nicht außer aller Frage ſteht, nur eine gefleigerte Gen- 
tralifation und die linterwerfung der Eolonie unter den Berwaltungs » Mechanismus 
des Mutierlandes fehen. 

Die Armee ift. und bleibt das Kauptmittel, um die Unterwürfigfeit der Einge⸗ 
borenen und die Sicherheit der wenigen Anſiedler zu bewirken. Geit 1834, wo jle 
aus 18,600 Wann beftand, ift fie von Jahr zu Jahr gewachſen; im Jahre 1854 ber 
trug fie 70,000 Wann. Auch nad) der Gefangennahme Abd⸗el⸗Kader's, die im Jahre 
1847 von zehnjährigen Kampf mit diefem tapferen Emir ſchloß, hat ed nicht an gefähr- 
lihen Auffländen der Eingeborenen gefehlt, die die franzoͤſiſche Herrichaft hoͤchſt proble⸗ 
matifch und fchwierig machten, und bis in die allerneuefte Zeit beweift die Inſurrection 
mehrerer cxebylenſtämme,/ daß die Unterwerfung und Treue derſelben noch lange nicht 
geſichert iſt 

Algier (Stadt). Auf der letzten Stufe des höchſten Gipfels des algieriſchen 
Sahel, des Bu⸗Zareah, erhebt ſich laͤngs des Meeres amphitheatraliſch Algier, nicht 
allein die Hauptſtadt der Provinz oder des Departements gleichen Namens, ſondern 
auch des ganzen franzöftfchen Afrika's, welche vom Meere aus geſehen auf eine Ent. 
fernung von 2 bis 3 deutſchen Meilen ald eine große weißfchimmernde Maſſe von dreieckiger 
Form erfcheint. Daher der Vergleich des Europäerd mit einem mit Grünem geſchmück⸗ 
ten Kreinebruch, während der Araber, viel poetijcher, fle einen in Smaragd und Saphir 
eingefaßten Demant nennt. Bei größerer Annäherung ſtellt ſich die Mafle der weißen 
Steinblöcke als flach bebachte, niedrige, weißbetündyte Häufer dar, über bie fchlanke 
Minaretd emporragen, und die weißen Punkte an den Berggehängen formen fich zu 
großen und kleinen Landhaͤuſern. 

Das regelmäßige Dreied, daß die Stabt bildet, wird von fünf Thoren unter- 
brochen, nämlich Dur dad Bab⸗el⸗Wed, d. 5. Thor des Waflers, durch das 
Hafenthor oder Porte de France, dad Fiſcherthor, dad Bab-Azun, daß 
feinen Namen einem jungen Ehalifen, Namens Azun, verdankt, der im Jahre 1522 auf 
dem benachbarten Plage auf das Ungerechtefte bingerichtet wurde, und durch das 
neue Thor, dur dad 1830 die Franzoſen in die eroberte Stadt einzogen. In 
dem höchften weftlichen Winkel, deffen gegenüberliegende Seite dad Meer begrenzt, liegt 
die Casbah oder Citadelle und eine Viertelmeile davon dad noch höher hinauf« 
gebaute und die, Gegend beherrichende Fort de l’Empereur, deſſen Zerftörung im 
Jahre 1830 die Einnahme Algierd entfchied. Die Stadt theilt fih in zwei Quar⸗ 
tiere, in daß europäifche und in dad maurtfche, die fi durch ihre von ein- 
ander abweichende Bauart unterfcheiden und von denen das erflere außer Durch viele 
Fleinere durch die drei Hauptſtraßen Bab-Azun, Babsel- Wed und de la Marine, 
alle drei auf den 480 Fuß langen und 220 Fuß breiten Gouvernements⸗Plat 
oder Blace Royale ausmüundend, durchſchnitten wird. Diefer mit Fontainen ge= 
fhmüdte Platz, ein unregelmäßiged Funfeck bildend, das Forum des alten Icaflum, 
das Herz des modernen Algiers, iſt deſſen fehönfte- Sierbe und der Sammelplag ber 
Bevölkerung. Er bat ungemein viel Anziehendes für einen Fremden, und zwar weil 
er bier Alles beifammen findet, was feinen Wünfchen zufagt, ſowohl bei Tag ald bet 
Naht; dahin gehört befonders die herrliche Ausſicht am Tage über dad weite Meer 
bin, bei Naht die kühlende Seeluft, die ihn bier anfächelt und bem Körper neues 
Leben nach einem heißen Tage giebt, und endlich das Anfchauen der verſchiedenartigſten 
Menſchen fo vieler Nationen, Meligionen, Karben und Trachten, die bier bunt durch⸗ 
einander ummbermandeln, wie auf einem Ball im Coſtume. Bon allen Ländern, ja 
von allen Welttheilen Tommen Menſchen bier zufammen: vie in den greltften Karben 
buntgefcehmädten Italienerinnen, die Spanierinnen mit den ſchwarzen Wantillen, die 
Undalufterinnen mit den zierlichen Füßchen, die ſchlanken Bewohnerinnen der Inſel Mi- 
norka, Franzoͤſinnen aller Klafien, jüdijche rauen mit ihren pyramidalifejen „ Sarmas“, 
andere, bededt mit Schmuck, Sammet und Seide, fehr graziöfe Raurinnen, welche 
Durch die vielen Kalten ihrer weiten Kleidung nicht8 von ſich bliden lafien, als das 
Glühen ihrer Eohlichwarzen Augen, überfchattet von Augenbrauen, die fle fünftlich im 
eine einzige verwandeln, dann die Bewohner Mahons mit den fpigen ſchwarzen Hüten, 
bie maltefer Frauen mit den fchürzenäbnlichen ſchwarzſeidenen Mantilien, die Matrofen 





1:74 Algier. (Stabt.) 


aller Häfen in vollem Staat, Europäer aller Länder, Neger aller Schattirungen, Ara: 
ber, Mauren, Kabylen, Syrier, Lande und See-Öffiziere, Soldaten, Beamte u. |. w. 
Gegen Abend werben zahlreiche Stühle zur Bequemlichkeit der Promenirenden auöge 
boten, und, erlaubt ed das Wetter, laſſen Wilitärmufifbanden die berrlichfien Stüde 
hören, die der Fremde, nach Belieben, auch in den beiden großen an diefem Blake 
liegenden Hotels, de Ta Negence uno de l'Orient, oder auch in den befuchtefen 
Kaffeehäufern Algierd, de Ia Bourfe und d'Apollon, mit anhören kann. Laͤngs 
der ganzen Oft» oder Meeresfeite dieſes Platzes zieht ſich eine fefte, mit zierlide 
Steinbaluftrade verfehene Mauer bin, welche 80 Fuß Höhe bat und den Plat vom 
Safen trennt. Wenige Schritte von dieſer Mauer entfernt, befindet fih die Reiter: 
fatue des Herzogs von Orleans, mobellirtt von Marschetti und von Song 
aus Bronce der in Algier eroberten Kanonen gegoffen. Der Prinz ift in der großem 
Generals Lieutenants » Uniform dargeftellt, das Geflcht nad) der Stadt gewendet, die er 
mit dem Degen gleihfam begrüßt. Das Piedeftal ift mit zwei bronzenen Basrelieft 
gezlert; das gegen Norden ftellt die Einnahme der Citadelle von Antwerpen dar, das 
gegen Süden den Durchgang des Pafles von Muzala; auf der Seite nach der Statt 
lieft man: „L'armee et la population d’Algerie au Duc d’Orleans, Prince Royal. 
1842.“ Die Süd- und Nordfeite des Platzes wird von großen modernen Häufen 
begrenzt, die wie die Häufer der Hauptftraßen in ihrem unteren Stockwerke Bogm 
gänge haben, eine Einrichtung, die in einem fo beißen Klima ald eine wahre Wohl 
that angefehen werden muß, da Die Fußgänger ſowohl gegen die Einwirkung de 
Sonnenftrahlen als gegen den oft beftig nieberfirömenden Negen gefchügt find. Im 
Hintergrunde dieſer Arkaden öffnen fich elegante und reich ausgeflattete Kaufläden, in 
welchen alle nur möglichen Waaren in größter Auswahl das Publicum zum Kauf 
einladen. Die Weltfeite des Plapes nimmt dad Palais de la Djenina ein, dm 
Die wenigen vergitterten Fenſter Dad Anfehen eines Gefängnifjes geben; dvieſer Palafl, 
nad) dem in feinem Innern befindlihen Garten (Dienina) fo genannt, war die Wob- 
nung aller Beherrfcher des berühmten Raubſtaates Algier. Er wurde im Jahre 1552 


von Salah⸗Rals gebaut und von defien Nachfolgern bis zur Nacht, in welder da 
Dei Ali den Sig der Regierung nach der Casbah verlegte, bewohnt. Diefes Gebäude, | 


defien ganze Pracht felt Ianger Zeit verfchmunden, enthält jegt die Bureaur dei 
Generalftabesd; einige weiße marmorne Säulen mit merkwürdig ausgehauene 
Gapitälern find die einzigen nachgebliebenen Spuren früherer Pracht. Die furchtbare 
Seuersbrunft, welche im Jahre 1844 in der Nacht vom 26. auf den 27. Juni in eine 
Stunde ein ganzes Stadtviertel, dad aus lauter hölzernen Häufern beſtand, vermichtete, 
bat auch einen großen Theil des Palaftes vermüftet. 


In der Straße de la Marine findet man, vom Place Royale an gerechnet, 


zuerft die Kaſerne Kemercier, die ihren Namen nach dem Ingenieure Oberflre 
Lemercier erhalten bat, die Bank Algiers, urſprünglich beflimmt zur Aufnahme drr 





Dffiziere des in der eben genannten Kaferne untergebrachten Militärs und die beiden 
Mofcheen Diemmäa-Kebir und die in der Form eined Kreuzed. von einem eure 
päifchen Architekten, einem algierifchen Sclaven, erbaute Djiemmän-Djedid. De 


Façade der erfieren Möfchee beſteht aus einer Galerie von 14 faracenifchen Arkaden | 


mit 9, Fuß Oeffnung eine jede, und ift von franzöflfchen Militärfträflingen mittels 
der Säulen errichtet, Die von der Mofchee herſtammen, welche im Jahre 1671 Paſcha 
Ismael auf dem jeßigen Gouvernementöplage erbaut hatte. Die andere Moſchee, an 
ber. Ede ver Aue de la Marine und der Place Royale, die Hauptmofchee von allen 
in Algier vorhandenen mufelmännifchen Tempeln, ſechszig an der Zahl, wurde 1858 
im Innern veftaurirt und in heilen Farben mit Arabesken, Sprüchen aus dem Koran, 
durch Stuffatur u. f. w. ausgeſchmückt. Cine nicht zu belle Beleuchtung, die durch 
die theilweife mit Glas gedeckte Kuppel flattfindet, milvdert die greifen Farben. Yon 
den beiden anderen in den Gouvernenentöplag ausmündenden Straßen enthält bie 
Rue Bab⸗el⸗Wed, nah dem Thore gleichen Namens führend, vor dem die Fried: 
böfe, das Hofpital des Dei, die Steinbrüche, die Dörfer Saint-Eugent, 
Bugeaud u. f.m. liegen, die großartigen Gebäude der Milttärbronbäderei, 
die des General-Serretariats, des Gerichtshofes und eine alte Moden, 








Algier. (Stabt.) 238 


die zu einer Eatholifchen Kirche umgeändert ifl. Außerhalb des Thores breitet 
der Troglodyten⸗Platz fi aus, ein ungeheures Mandverfeld, Tängs der Küfte des 
Meered gelegen, zwifchen dem Neuen Fort und den neuen Befefligungen, zwifchen 
der alten Straße nach Blivab und der See. Diefer Plag mar früher ein großer 
moslemitifcher Gottesader, in der Mitte deſſelben erhob ſich das Maufoleum der ſechs 
Dei's, die an einem Tage zu Herrfchern auögerufen und an demfelben Tage, am 23. 
Auguft 1732, maffafrirt wurden. Hier war ed, mo am 5. November 1839 der Herzog 
von Orleans nach der Rückkehr von feiner großen Erpebition nach den „Eijenpforten" 
feinen Soldaten ein glänzendes Feſt gab, und bier iſt auch der Hinrichtungsplak, auf 
dem am 13. Februar 1843 die Guillotine ftatt des ſtets üblich -geweienen Datagan 
zuerſt in Algier und fomit auch in ganz Afrika zur Anwendung kam. Der Play ftößt 
an dad Fort der 24 Stunden, fo genannt, weil bie Engländer 1816 dad Yort 
unter Lord Ermouth nur fo viele Stunden ime gehabt haben. 

Die Straße Bab-Azun ift unftreitig die fehänfte Algierd und führt, in die 
Vorſtadt gleihen Namens. Sie enthält Gebäude, deren Arditeftur Bewunderung 
erregt. Die alte Janitſcharen⸗Kaſerne, Karatin genannt wegen der vielen Buben von 
Drechölern, die fie umgeben, wurde anfangs in ein Civil- Hospital umgeftaltet, 
dient aber jegt einem andern Zwede. Die Bacade des Gebäudes tft nach franzöfifchem 
Gefchmad rveftaurirt, aber Das Innere, geräumig und Iuftig, hat nur wenige DBerände- 
rungen erlitten, die in dad urfprüngliche Ausfehen nicht mefentlich eingegriffen haben. 
Gegenüber diefem Gebäude liegt der alte Bagno der Chriſtenſklaven, der au 
unter dem Namen „Löwenquartier“, weil bier mehrere diefer DBeftien gehalten 


wurden, befannt ift. Unweit der früheren Kaferne iſt dad Lyceum, ebenfalls urſprüung⸗ 


li eine Ianitfcharen« Kaferne, die aber vollfommen den Anforderungen der großen 
Unterrichtsanftalt genügt. Diefes große Gebäude ift mit einem Dboppelten Periſtyl 
geichmüdt, wo ſich Weinreben an den Säulen und Bogen emporranken; ed enthält 
Säle mit Porzellan in allen Farben bekleidet, die Licht und Kühlung vom Meere aus 
empfangen, und bat eine Waflerleitung, die Wafler durch alle Räume des ganzen weit- 


läuftigen Hauſes vertheilt. Nahe dem Thore Azun fhuf man, indem man einen Theil 


des Gebirgsabhanges abtrug, einen freien Platz, auf welchem ſich jeht das im Jahre 
1853 beendigte Theater ‚erhebt. Diefes Gebäude, das nach den Entwürfen der beinen 
Architekten Ponfard und Chafferiau von dem „entrepreneur de travaux publics“, 
Sarlin erbaut ift und dem Plage Brefion gegenüberliegt, hat eine freie Ausficht auf 
den Hafen und foftete 820,000 Frs. Aus Stein und Eifen errichtet, erregt es durch 
feine Iuftigen $ormen, feine über einander hinlaufenden Arkaden und Die reiche Ausſchmük⸗ 
fung feiner Façade eine allgemeine Bewunderung. 

Die aus einer Reihe von Plägen, wie des Saramantes, de Bournou, 
0'389 beſtehende Vorſtadt Bab-Azun enthält durchgängig europäifche Käufer 
und hat den Vorzug, daß bei billigeren Wohnungen noch ein gefundes Klima berrfcht, 
was fie ihrer freien Lage, welche den Zutritt der Seewinde begünftigt, zu verbanten 
bat. Die Hauptflraßen find die des Aga, welche auf die Ebene von Muftapha. führt, 
und. die von Isly, an deren Ende ſich der Pla gleichen Namens, mit der Statue des 
Marſchalls Bugeaud geſchmückt, befindet. Auf diefem Pla wird jenen Morgen durch 
Araber ein großer Markt gehalten; diefe bringen hierher Orangen, frifche und getrod« 
nete Srüchte, Honig, Geflügel u. f. w., Alles in großer Menge. Die Vorſtadt Bab⸗ 
Azun iſt eine eigentliche europäifche Stadt und dad Entrepot eines großen Theild des 
Handeld der Colonie. Viele Kaufleute haben bereits das alte Warineviertel: verlaflen, 
um fich Hier anzufledeln, und in einigen Iahren, wenn die Hafen» und Kai- Bauten 
ee vollendet fein werben, wird dieſe Vorſtadt nur aus Kaufläden und Magazinen 

eſtehen. 

Eine andere bemerkenswerthe Straße des europälfchen Quartiers iſt Die Rue de 
Ehartres, an deren Ausgang der maurifche Bazar oder die Gallerie d'Or⸗ 
léans von befonderem Intereffe ift, ſowohl der darin aufgeftellten Landes⸗ und Kunft« 
erzeugniffe halber, als auch zur Erlangung eines Genrebildes maurifchen Lebens und Trei⸗ 
bene. Diefe Galerie befteht aus einem mit Glas bebedten Bogengange, in veffen Mitte 
fih ein großer runder Saal befindet; die Seitenwände find in vieredige Räume abgetheilt, 


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N 


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34 Algier. (Stadt.) 


deren Fußboden ungefähr 2 Fuß über dem Gange liegt und Die 10 Fuß im Geviert meſſen. 
Der Fußboden, fo wie die halbe Höhe der Wände find mit fchön gearbeiteten Strohmatten 
befleidet, auf welchen mit untergefchlagenen Beinen, mit echt orientalifcher Gravität eine 
lange Pfeife rauchend, die maurifchen Meifter fiben, ihre Gefellen überwachen, die mit 
Anfertigung allerhand nieblicher Gegenftände befchäftigt find. Der Bazar flößt an einm 
Plag, deſſen Weftfeite Die Kathedrale und der Palaft des biöherigen General: 
Gouverneurs einnehmen, während auf der Oftfeite der biſchöfliche Palaſt fd 
erhebt. Die Kathedrale war die frühere Mofchee, welche den Namen Sidi⸗Ali⸗Feſſi 
trug, fie war das reichite und elegantefte religiöfe Gebäude, deſſen Erbauung jedoch 
nicht über das vorige Jahrhundert binaufreicht. Eine Infchrift auf der Südfeite nennt 
das Jahr der Hedſchra 1210 d. 5. alfo 1795 bis 1796 n. Chr. ald das der Zeit ihn 
Erbauung. Ihre Form ift die eines Parallelogrammd, das in der Mitte eine von via 
großen Fenſtern erhellte Kuppel trägt. Leider ift die Umgeftaltung zur chriftlichen Kr 
thedrale, bei der auch alle die. früheren Zierden der Inneren Ausſchmückung zu Grunde 
gegangen, gänzlic, verfehlt, Indem man dem Außeren Bau eine der fonderbarften Ge— 
falten gegeben, die in Feine der gewöhnlichen Formen des Bauſtyls paßt, und de 
Façade mit einer breiten hoben Treppe Säulen wie an griechifchen Tempeln vorgefegt hat 
Das ehemalige Haus Haſſan Paſchas, eines der reichften Mauren Algiers, war bis zu 
der erwähnten Beränverung in der Berwaltung der Kolonie die Reſidenz des Ge— 
neral⸗Gouverneurs der Negentichaft, ein Gebäude, das im Innern ſowohl wie 
im Aeußern feinen maurifchen Typus unverändert beibehalten bat. Wie in allen mu 
rifchen Häufern nimmt auch bier ein geräumiger, mit Säulengängen umgebener Hof bi 
Mitte des Palaſtes ein. Don der Terraffe genießt man eine herrliche Ausſicht auf dat 
Meer und Die malerifchen Umgebungen der Stadt. Außer diefen öffentliden Gebaͤuden 
find noch das Hotel de ville, die Präfeetur und die proteftantifhe Kirde 
zu erwähnen, die, mit Ausnahme der leßteren, binfichtlich ihrer Architectur, fo mie 
inneren Einrichtung nichts Hervorragendes haben. Die proteftantifhe Kirche il 
eines von den wenigen modernen Gebäuden, die dem Architecten Ehre machen; leitn 
ift fle aber von beiden Seiten von höheren Käufern umgeben, wodurch ihr Ausfehm 
ſehr beeinträchtigt wird. Der Stil dieſer Kirche iſt ernft und einfach, fie Bilder cin 
laͤngliches Biere, ift bel, geräumig nnd voll Ebenmaß; fie bat ein ſchönes Portal 
das aus vier mit Schnitzwerk verfehenen Säulen von tosfanifcher Ordnung befeht; 
unter den Fronten lieft man: „Au Christ redempteur.” Das Innere ift ärmlih md 
kahl, allein man muß bedenken, daß eine in Afrika von einer franzöſiſchen Tatholifchen 
Colonie gebildete junge proteftantifche Gemeinde nicht viel Anfprüche machen darf. An 
drei Seiten ift eine Galerie, die von Säulen getragen wird; Feine ordentlichen Sik 
“ befinden fi darin, fondern nur elende Strohſtühle, der Altar fieht etwas vernachläfigt 
aus; eine ſchoͤne Bibel, ein Geſchenk der frommen Herzogin von Orleans, iſt die ein 
zige Zierde! 


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Aus dem Hafenthor gelangt man auf den das Fort de la Marine mit da 


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Stadt verbindenden Damm, welcher feiner Länge nach durch 14 Fuß hohe mit Caktul 


und Orangenbaͤumen beſetzte Terraffe in zwei Hälften getheilt wird, längs deren Sein 


Wege angelegt find, von denen der rlördliche nach dem Palaſt des Contre- Ami: 
rals und in dad Fort de la Marine, der fübliche hingegen dem Hafen entlang 
auf den neuen Molo führt. Durch ein Thor, das unter dem Palaft des Ami 
rald durchführt, gelangt man in das Wort de la Marine, welches die Zugang: 
zum Hafen und zu dem norböftlihen Theile der Stadt beherrſcht. Im ihm befinde 
ſich das Arfenalder Marine, das Hauptpulvermagazin und der Leudt: 
tburm. Lebterer unter dem Namen Begnon d’Alger befannt, ift wie das burd 
die heldenmüthige Vertheivigung Marlin de Vargas' fo berühmt gewordene ort, ein 
Werk Ferdinand des Katholifchen. Diefer Thurm, ) deſſen Dreblicht bei hellem Wet 
37/, deutſche Meilen weit fichtbar ift, erhebt fich 118 Fuß über den Meeresfpiegel un 


’) Außer diefem Leuchthurme find auf dem Molo noch zwei vorhanden, von benen ber eine | 


auf ber nördlichen Spike, der andere auf der fühlihen erbaut iſt. Der erfte, 35 Su hoch und = 
Jahre 1850 errichtet, hat ein rothes Licht, ver andere, 25 Fuß hoch, ein grünes und wurbe 185 
erbaut. Beide Leuchtfeuer find 4%, D. Min. weit fihtbar. 


% 








Algier. (Stadi.) 135 


hat feit feiner Errichtung mancherlei Veränderungen erfahren, die Ießte im Jahre 1845, 
wo derfelbe am 8. Mai durch die furchtbare Erploſion des Pulvermagazins theilmweife 
zerfiört wurde. Dies fchredliche Ereigniß berührte nicht allein diefen Thurm, fondern 
alle übrigen in der Nähe belegenen Gebäude, wie die Kaferne und den Palaft des 
Admirals, defien Gemahlin nebft vielen hundert andern Perfonen bei dieſer Kataftrophe 
ihren Untergang fanden. Die größere in diefem Magazine befindliche Bulverfanımer, 
die, wenn fie ebenfall8 erplodirt wäre, vielleicht einen Theil der Stadt fortgerifien hätte, 
blieb wie dutch ein Wunder unverfehrt. 

Die kleinen Infeln ), welche früher, ohne unter einander verbunden zu fein, Der 
Küfte vorlagen, wurden von Khair-ed⸗Din Barbarofia im Jahre 1519 durch den 
oben erwähnten Damm mit der Stadt vereinigt, wodurch er den erften Grund zu dem 
jegigen Hafen legte. Das Material zu diefem wichtigen Bau entnahm er den Ruinen 
der am Kap Matifu gelegenen römifchen, wahrjcheinlich gegen da8 Jahr 730 nach der 
Erbauung Roms oder 22 Jahre vor Chr. Geb. gegründeten Stadt Rusgonia, audı 
Nusgania, Auftonium, Ruſtifia genannt, und verwandte zu dieſer ſchweren Arbeit mehr 
wie 30,000 Ehriftenfflaven, von denen Hunderte theild den Strapazen, theild den 
Miphandlungen, denen fie ausgeſetzt waren, erlagen. Haſſan Dei, welcher ihm in der 
Regierung folgte, vervollfonmnete dieſes Werk noch mehr, indem er Batterieen anlegte, 
welche einen Theil der Rhede beherrfchten, durch Verſenkung großer Kelsftüde die Zwi⸗ 
fhenräume der Infeln ausfüllte und den Bau in der Verlängerung berfelben nach Süden 
vorfhob. Troß der darauf verfehwenbeten ungehbeuren Summen erlangte biefer Molo 
im Ganzen nur eine Ränge von 420 (preuß.) Fuß, und die meiften Schiffe mußten auf 
offener Rhede liegen bleiben, wo fle nur vor Süd⸗ und Südweſtwinden gefchüht waren. 
Nach der Einnahme Algierd durch die Franzoſen trachteten Diefe einen großen Hafen 
vor der Stadt zu fihaffen durch Aufwerfung von zwei Schußdämmen. Diefe beiden, 
von denen Der eine eine Länge von 2230 Fuß, der andere eine von 3820 Yuß ein- 


nehmen foll, trennen ein 1115 Buß breites Fahrwafler, zu einer vollkommen ruhigen. 


Waſſerflaͤche von 9,136,680 Duadratfuß führend, welche zum großen Kriegs⸗ und 
Handelöhafen dienen fol. Bid jegt iſt man indeſſen mit dieſen Arbeiten wenig vor⸗ 
gerückt, fo daß für's Erſte nur 50 Schiffe hinter den Schutzdämmen Plag finden. Es 
iſt unflreitig wegen der Tiefe des Meeres ein Niefenwerk, indem Berge von Felsbloͤcken 
erft ind Meer verfenkt werden müffen, um eine fichere Bafls für den Bau über dem 
Waſſer zu erhalten, und eine folche Arbeit kann nur langfam vorrüden, befonderd wenn 
nicht Die genügende Energie fie fördert. Die TotaleAusgabe ift auf 42 Millionen Fres. 
veranschlagt, von denen im Jahre 1855 bereits 26 Millionen verausgabt waren. 

Dad mauriſche Duartier giebt eine annähernde Vorftellung von dem, was 
Algier einft war, indeflen finden nur wenige Europäer Vergnügen daran, die dunfeln 
fteilen Straßen emporzuflimmen und fih in das bunte Gewühl der @ingebornen zu 
mifchen, die mit wachfender Unruhe und mit eiferfüchtigen Augen das Ueberhand⸗ 


nehmen der Bremden beobachten. Died Ouartier gleicht mit feinen winfelreichen 


Straßen und Engpäflen einem großen Labyrinthe, in dem Straßen von vier Fuß 
Breite, von oft noch weniger, felten mehr, in ihren mannichfachen Srümmungen, 
alles andere, nur Feine gerade Linie zeigen, für welche Die eingebornen Baumeifter 
eine erklärte Abneigung gehabt zu haben fcheinen. Die Häufer haben von außen 
feine Fenſter, wenn nicht etwa den einzeln angebrachten Auftlöchern diefer Name 
gegeben werden fol; oft ragen die oberen Etagen der Häujer über die der ents 
gegengefeßten Hiüuferreihe weit hinaus, zuweilen ftoßen fie, unten nur eben einen 
Raum zum Durchgange Laffend, in der Mitte an einander, oder find fogar in einander 
gebaut, um ihnen einen befferen Halt gegen Erdbeben zu geben, durch die Algier befon- 
ders in älteren Zeiten gar häufig heimgefucht wurde und große Zerftörungen erlitt. An 
vielen Stellen windet fich die Straße unter finfteren Bogengängen fort, in die nie ein 
Sonnenftrahl dringt, daher fle auch ſtets friſch und Fühl bei der größten Gige bleiben. 
Die Straßen find in Folge ihrer Enge unbefahrbar; e8 muß Alles auf Efeln herge⸗ 


bracht werden, und der Fußgaͤnger ift nicht felten in Berlegenheit, gertügenden Raum 


’) Nach diefen Infeln hat Algier (arab. al gezalr — die Infeln) feinen Namen erhalten, 


nn 
- 
" - 





738 Algier. (Stabt.) 


für feinen Körper zu finden, wenn ihm ein Zug dieſer beladenen Thiere begegnet, 
Außerdem ift das Steafenpflafter ſehr holperig, voller Löcher und oft nimmt nod ein 
Kloak die Mitte der Straße ein. Don der Straße Bab⸗el⸗Wed führen durch die 
Straße der Casbah 497 Treppenftufen zu der Casſsbah, feit dem 8. September 
1817 bis zur Einnahme Algierd die Nefldenz der Dei's. Dad Schloß, w welches 450 
Fuß über dem Meereöfpiegel liegt, beberrfcht die ganze Stadt, jo wie einen Theil 
ihrer Umgebung, wird jedoch von dem ſüdöſtlich von der Stadt fih auf einem Felſen 
erhebenden Fort de ’Empereur dominirt. Die alte Reſidenz der Dei’s ift nur eine Zw 
fammenhäufung von ineinander gebauten größern und kleinen Häufern auf einem un 
ebenen Terrain, die nach und nach ſich zu einer allgemeinen Maſſe mit innern Berbin- 
dungen gebildet haben, worin der Dei mit feinem ganzen Hofperjonal und dem Harem 
von 500 Weibern refidirte. Die Galerieen und Säle des Erdgeſchofſſes des eigenw , 
lichen Balaftes find jeßt die Speifefäle der 1300 Mann flarfen Garnifon, die fchöne 
Mofchee mit ihren eleganten Säulen, ihren Moſaiken und ihrer Kuppel dient ven 
Artilleriften ald Schlafraum ꝛc. Hiftorifch merfwürdig ift der Empfangsfaal, in mel 
chem der lebte Dei dem franzöftfchen Conful den berühmten coup d'eventail verfeßte. 
Konnte der Barbar die Folgen feiner That überfehben, fo-mwar diefer Streich vielleicht 
der klügſte feines Lebens; er Eoftete ihm einen Thron und gab ihm die Freiheit, denn 
“ feit der Emeute im Jahre 1820 war er ein jämmerlicher Sclave in feinem eigenen 
Kaufe und wagte während zehn Jahren die Casbah nicht zu verlaflen. Die Fran⸗ 
zofen fanden bei der Befignahme dieſes Reſidenzſchloſſes daſelbſt 1500 Kanonen, Pro: 
viant für drei Jahre, einen Schag von 50 Millionen Frs. und Magazine mit allerlei 
Waaren. 
Südöſtlich erhebt ſich, wie ſchon erwähnt, dad Fort de l’Empereur, auch 
das Fort Sultan Kaleſi genannt. Es verdankt feine Entſtehung und feinen 
Namen einem deutfchen Kaiſer. Karl V. wollte ſich von bier aus zum Herrn der Statt 
machen. Der damalige Beherrfcher von Algier, ein Mann, der feiner Zeit um mehrere 
Jahrhunderte voraudgeeilt, erkannte die Zweckmaͤßigkeit eined die KHauptfladt im Zaum 
haltenden detachirten Forts. Statt alſo das Werk Karl's V. zu zerſtoͤren, ließ er das⸗ 
ſelbe im Gegentheil in den Stand ſetzen, in welchem die Franzoſen es im Jahre 1830 
vorfanden. Es iſt ein laͤngliches Viereck von ſechs Baſtionen, mit 40 Fuß hoher und 
10 Fuß dicker, gemauerter Umfaſſung. ine Art Cavalier, der ein Reduit bildel, 
ſichert die weſtliche Seite. In der Mitte der Plattform erhob ſich ein ſtarker, runder 
Thurm. Das Fort war mit 120 Kanonen vom ſchwerſten Kaliber und einigen Wurf 
geſchützen verſehen. Es ift einer der wichtigften Punkte in der Bertheidigungslinie der 
Stadt, und die Branzofen unterliegen ed daher auch nicht, die Feſtungswerke, die ſchad⸗ 
haft geworben, jolider denn je wieder aufzuführtn. 

Der Handel und Wandel Algiers erlangte feit einigen Jahren und erlangt 
jeden Tag eine größere Wichtigkeit. Um eine Idee des biefigen Gefchäftslebens zu 
geben, genügt ed anzuführen, daß man innerhalb der Stabt ungefähr 2500 Einwohner 
zählt, die Gewerbefteuer entrichten und von denen mindeſtens 500 in die erfte Klaſſe 
gerechnet werden. Bine große Zahl von Kaufleuten oder Banquiers hat ein vollfommen 
prganifirtes Gefchäft mit einer meitverbreiteten Correſpondenz, und Comtoire mit mebt 
oder weniger Buchhaltern. Die Zahl der conceffionirten Makler ift beträchtlich; mehrer 
unter ihnen verſehen die Gefchäfte von Seemaklern und find beeidigte Dollmetjcher. 
Zu erwähnen ift, daB Algier ein Handelögericht, eine Handelskammer, eine 
Börfe, eine Bank und mehrere andere Geldinftitute befigt, fo wie jaͤhrlich 
eine Meſſe hat, auf der es ungemein lebhaft zugeht. Im Hafen herrſcht ein 
Treiben, von dem man ſich, wenn man nicht Zeuge deſſelben geweſen, keine Vorſtellung 
machen kann. Algier iſt für die ganze Colonie und für die Städte im Innern das 
Entrepot, das mit Allem verſehen iſt. Dieſes großartige Geſchaͤftsleben, das in keiner 
. andern franzoͤſiſchen Kolonie Statt bat und nur mit dem von Marſeille, Borbeam, 
Nantes, Rouen oder von Havre verglichen werben Tann, war auch die Veranlaflung, 
daß man die Handeldoperationen regulirte durch die Gründung einer Börſe in bear 
ganzen Bedeutung des Wortes, indem die frühere, geraume Zeit in ver Passage de 
la Bourse abgehaltene, weder ein Parket hatte, noch beeibigte Makler befaß. 

















En Algier. (Stabt.) 731 


Algier beflgt eine bedeutende Menge öffentlicher Wagen, mindeflens 200 
an der Zahl, die alle auf der Polizei einregiftrirt find, befonderd eine Art Omnibus 
von 6 bis 10 Sitzen, welche vom frühen Morgen bi fpät in die Nacht hinein befchäftigt 
find. Die größeren Wagen werden meiſtens mit großen fpanifchen Maulthieren oder 
fpanifchen Pferden befpannt, die leichteren aber, wie Kalefchen, Berlinen u. f. w., Die 
man auch Touren- und Stundenmweife miethen Fann, mit Eleinen arabifchen mageren 
Pferden, faft Iauter Schimmel, welche eine and Unglaubliche grenzende Ausdauer haben 
troß der fbärlichen Nation, die ihnen gereicht wird. Poſten gehen täglih nach allen 
Hauptorten der Colonie ab, und Baretboote und Dampfer nach den gröfern Kü- 
ſtenplaͤtzen derfelben und nad dem Mutterlande. Kür den renden ift in jeder Hin- 
ftcht geforgt. Als Hotels erfter Klaffe find das auf das Elegantefle eingerichtete 
Hotel de la Regence, das Hotel de l'Orient und das Hotel du Nord 
zu erwähnen. Als Hotel garni ift das Hotel’de la Pofte in der Straße Doria 
und dad Hotel d'Italie in der Rue de la Revolution zu nennen. 

Der kaiſerliche Gerichtshof hält einmal in der Woche Sigungen für Civil⸗ 
Hagen und zweimal für Griminalfachen ab, und der Gerichtshof erfter Inflanz, 
in drei Kammern zerfallend, an mehreren Tagen felbft zweimal. Das Handeldge- 
richt tritt an zwei Tagen in jeder Woche zur Beratbung und Entfcheidung zufammen 
und dad Friedendgericht hält jeden Tag Sigungen. Die Kadis, die nad einer 
Beflimmung der neueren Zeit mit Den Muphtis den Medjles oder den mufel- 
männifhen Gerichtshof bilben, find jeden Tag zur Annahme von Klagen bereit; 
eben fo hält der Mehakma der Amine oder Gelehrten, welcher die Procefie der Mu- 
bammebdaner, die in der Stadt Algier felbft nicht wohnen, zu erledigen bat, jeden 
Tag von 10 Uhr Morgens bis 5 Uhr Nachmittags Sitzung. Was die Central: 
polizei betrifft, fo ftehen den Commiſſarien eines jeden Staptvierteld diefelben Be⸗ 
fugniffe zu, wie den Polizeicommiffarien im Mutterlande 

Ein GRuptvergnügen der einheimifchen Bevölkerung befteht in Kaffeehduſern 
und Bädern, die fich in faft allen Straßen in großer Menge, mehr oder weniger 
ſchmutzig, mehr oder weniger luxuriös ausgeſtattet, vorfinden, ſich zu zerftreuen und zu 
erftifchen, weniger da8 Theater, von denen Algier zwei beſitzt, zu befuchen. In: 
dem einem, das den pomphaften Titel „Theätre Imperial" führt, giebt man 
große und komiſche Opern, Dramen, Quftfpiele, Vaudevilles und felbft Ballets. Außer 
den beiden Schaufpielhäufern tft noch zum Vergnügen der europäifchen Bevölkerung 
ein fogenanntes „ Cafesconcert" auf dem Gouvernementöplage liegend, vorhanden 
und zwei „ Eafes hantantd”, von denen das eine in der Paffage de la Bourfe, 
dad andere in der Straße Bab-Azun fich befindet, und welche Die mannigfaltigfte Un= 
terbaltung barbieten. 

Algier befist 5 Buhhandlangen, — in der der Gebrüder Dubos, befon- 
derö aber in der von Baftive, find mehrere wiffenfchaftliche Werke erichienen —, 4 
Drudereien, 4 Steindrudereien und 5 Papierbandlungen. Bon feiner Preffe 
find zuerft dad „Bulletin officiel des actes du Gouvernement“ und der „Woniteur 
Algerien” zu erwähnen. Erſteres erfcheint von Zeit zu Zeit, Ießterer, die offlcielle 
Zeitung der Colonie, ſechs Mal in jedem Monat. Der „Mobacher“, ein frangöftich- 
arabiſches Journal, das in beiden Sprachen erfcheint, wird alle vierzehn Tage aus— 
gegeben und fteht unter der Leitung des Bureaus der arabifchen Angelegenheiten. Der 
„Akhbar“ erfcheint dreimal in der Woche und die Sammlung algierifcher Nechts- 
fenntniß (Recueil de jurisprudence algerienne), von einem Mdvofaten redigirt, 
alle Monate. Zu erwähnen jind noch das „Bulletin ve Port”, das täglich den 
Safenverfehr, d. b. den Zu- und Abgang von Schiffen, und die Ein- und Ausfuhr 
mittheilt, und die „landwirthſchaftliche und induftrielle Zeitung”, die von einem Deut- 
Idien, Menner mit Namen, in deutfcher Sprache herausgegeben wird. Vom Novem- 
ber 1858 an erfcheint noch eine Zeitung, der man den Namen „L'Algoͤrie nouvelle* 
gegeben bat, und Die den Ideen des Prinzenminifterd in Bezug auf Colonifation und_ 
Verwaltung des Landes bei eBevölkerung Algierd Eingang verfchaffen fol. 

Außer der neu gegründisen uns theilweiſe noch im Entſtehen begsiffenm Aka⸗ 
demie bat Algier an dffentlihen Uinterrichtäanftalten das Lyceum, meb- 


Wagener, Staats u, Geſellſch.⸗Lex. 1. 47 








736 Algier. (Stadt.) 


für feinen Körper zu finden, wenn ihm ein Zug dieſer belabenen Thiere begegnet. 
Außerbem ift das Straßenpflafter ſehr holperig, voller Löcher und oft nimmt nod ein 
Kloaf die Mitte der Straße ein. Von der Straße Bab⸗el⸗Wed führen durch bie 
Straße der Casbah 497 Treppenftufen zu der Casbah, feit dem 8. September 
1817 bis zur Einnahme Algier die Reſidenz der Dei's. Das Schloß, welches 450 
Fuß über dem Meereöfpiegel liegt, beberrfcht die ganze Stadt, jo wie einen Theil 
ihrer Umgebung, wird jedoch von dem füddftlich yon der Stabt fich auf einem Felſen 
erhebenden Fort de ’Empereur dominirt. Die alte Reſidenz der Dei's ift'nur eine Zu 
fammenhäufung von ineinander gebauten größern und Eleinen Häufern auf einem un 
ebenen Terrain, die nach und nach fich zu einer allgemeinen Maſſe mit innern Berbin- 
dungen gebildet haben, worin der Dei mit feinem ganzen Hofperjonal und dem Haren 
von 500 Weibern refidirte. Die Galerieen und Säle des Erdgeſchoſſes des eigen _ 
lichen Palaftes find jeßt die Speifefäle der 1300 Mann flarfen Garnifon, die jchöne 
Mofchee mit ihren eleganten Säulen, ihren Moſaiken und ihrer Kuppel dient den 
Artilleriften als Schlafraum ꝛc. Hiftorifch merfwürdig ift der Empfangsfaal, in web 
chem ber letzte Dei dem franzöfifchen Conſul den berühmten coup d’eventail verfegte. 
Konnte der Barbar die Kolgen feiner That überſehen, ſo war dieſer Streich vielleicht 
der Elügfte feined Lebens; er Eoftete ihm einen Thron und gab ihm die Freiheit, denn 


“ feit der Emeute im Jahre 1820 mar er ein jämmerlicher Sclave in feinem eigenen 


Haufe und wagte während zehn Jahren die Casbah nicht zu verlaſſen. Die Fran— 
zoſen fanden bei der Beſitznahme dieſes Reſidenzſchloſſes daſelbſt 1500 Kanonen, Pro- 
Fu für drei Jahre, einen Schag von 50 Rillionen Frs. und Magazine mit allerlei 

aaren. 
Süpöftli erhebt fi, wie ſchon erwähnt, dad Hort de l'Empéreur, au 
dad Fort Sultan Kalefi genannt. ES verdankt feine Entſtehung und feinen 
Namen einem bdeutfchen Kaifer. Karl V. wollte ſich von bier aus zum Herren der Stadt 
machen. Der damalige Beherrfcher von Algier, ein Mann, der feiner Zeit um mehrer 
Jahrhunderte vorausgeeilt, erfannte Die Zweckmaͤßigkeit eined die Hauptflabt im Zaum 
haltenden detachirten Forts. Statt alfo dad Werk Karl's V. zu zerflören, ließ er das⸗ 
felbe im Gegentheil in den Stand fegen, in welchem die Sranzofen ed im Jahre 1830 
vorfanden. Es ift ein längliches Biere von ſechs Baftionen, mit AU Fuß Hoher und 
10 Fuß Dider, gemauerter Umfaſſung. ine Art Gavalier, der ein Reduit bildet, 
ficdert die mweftliche Seite. In der Mitte der Plattform erhob fih ein flarfer, runder 
Thurm. Das Fort war mit 120 Kanonen vom fehwerften Kaliber und einigen Wurf 
geſchützen verſehen. Es ift einer der wichtigften Punkte in der Vertheidigungslinie der 
Stadt, und die Franzoſen unterließen ed daher auch nicht, Die Feſtungswerke, die ſchad⸗ 
haft geworden, jolider denn je wieder aufzuführtn. 

Der Handel und Wandel Algierd erlangte feit einigen Jahren und erlangt 
jeden Tag eine größere Wichtigkeit. Um eine Idee des biefigen Geſchaͤftslebens zu 
geben, genügt ed anzuführen, daß man innerhalb der Stadt ungefähr 2500 Einwohner 
zählt, die Gewerbefteuer entrichten und bon denen mindeſtens 500 in die erfte Klaſſe 
gerechnet werden. Cine große Zahl von Kaufleuten oder Banquiers hat ein vollfommen 
organiſirtes Gefchäft mit einer weitverbreiteten Gorrefpondenz, und &omtoire mit meht 
oder weniger Buchhaltern. Die Zahl der conceffionirten Makler ift beträchtlich; mehrere 
unter ihnen verfehen die Gefchäfte von Seemaklern und find beeidigte Dollmetjcer. 
Zu erwähnen ift, Daß Algier ein Handelsgericht, eine Handeldfanmer, eine 
Börfe, eine Bank und mehrere andere Geldinftitute befist, jo wie jaͤhrlich 
eine Meſſe bat, auf der es ungemein lebhaft zugeht. Im Hafen berricht ein 
Treiben, von dem man fich, wenn man nicht Zeuge deflelben geweſen, keine Vorftellung 
machen Fann. Algier ift für die ganze Colonie und für die Städte im Innern Das 
Entrepot, das mit Allen verfehen iſt. Diefed großartige Gefchäftäleben, das in Feiner 


. andern franzöflichen Kolonie Statt hat und nur mit dem von Marfeille, Vordeam, 


Nantes, Rouen oder von Havre verglichen werden kann, war auch die Beranlaflung, 


daß man die Handeldoperationen regulirte Durch Die Gründung einer Börſe in ber 


ganzen Bedeutung ded Wortes, indem die frühere, geraume Zeit in der Passage de 
la Bourse abgehaltene, weder ein Parket hatte, noch beeidigte Makler befaß. 




















| j | Algier. (Stadi.) 731 


Algier beftst eine bedeutende Menge öffentlicher Wagen, mindeftens 200 
an der Zahl, die alle auf der Polizei einregiftrirt find, befonderd eine Art Omnibus 
von 6 bis 10 Sitzen, melche vom frühen Morgen bis fpät in die Nacht hinein befchäftigt 
find. Die größeren Wagen werben meiftens mit großen fpanifchen Baulthieren oder 
fpanifchen Pferden befpannt, Die leichteren aber, wie Kalefchen, Berlinen u. f. w., die 
man auch Touren- und Stundenmweife miethen kann, mit Fleinen arabifchen mageren 
Pferden, faft lauter Schimmel, welche eine and Unglaubliche grenzende Ausdauer haben 
troß der fpärlichen Nation, die ihnen gereicht wird. Poſten geben täglich nach allen 
Hauptorten der Eolonie ab, und Packetboote und Dampfer nach den größern Kü- 
ftenpläßen derfelben und nach dem Mutterlande. Für den Fremden ift in jeder Hin- 
jicht geſorgt. Als Hotels erfter Klaſſe find das auf das Elegantefle eingerichtete 
Hotel de la Negence, das Hotel de Orient und dad Hotel du Nord 
zu erwähnen. Als Hotel garni ift dad Hotel’de la Pofte in der Straße Doria 
und das Hotel d'Italie in ver Aue de la Revolution zu nennen. 

Der Faiferlige Gerichtshof hält einmal in der Woche Sikungen für Civil⸗ 
Hagen und zweimal für Griminalfachen ab, und der Gerichtshof erfter Inftanz, 
in drei Kammern zerfallend, an mehreren Tagen felbft zweimal. Dad Handeldge- 
richt tritt an zwei Tagen in jeder Woche zur Berathung und Entfcheidung zufammen 
und Das Friedensgericht hält jeden Tag Sikungen. Die Kadis, die nach einer 
Beflimmung der neueren Zeit mit Den Muphtis den Medfles oder den mufel- 
männifhen Gerichtshof bilden, find jeden Tag zur Annahme von Klagen bereit; 
eben fo hält der Mehakma der Amine oder Gelehrten, welcher Die Proceffe der Mus 
bammedaner, die’ in der Stadt Algier felbft nicht wohnen, zu erledigen bat, jeden 
Tag von 10 Uhr Morgens bis 5 Uhr Nachmittags Situng Was die Gentral- 
polizei betrifft, fo ftehen den Commiſſarien eines jeden Stadtviertels dieſelben Be⸗ 
fugniſſe zu, wie den Polizeicommiſſarien im Mutterlande. 

Ein Huptvergrügen der einbeimifchen Bevölferung beftehbt in Kaffeehaͤuſern 
und Bädern, die ſich in faft allen Straßen in großer Menge, mehr oder mweniger 


ſchmutzig, mebr oder weniger luxuriös auögeftattet, vorfinden, ſich zu zerftreuen und zu 
erfrifchen, weniger da8 Theater, von denen Algier zwei beftgt, zu befuchen. In: 
dem einem, das den pomphaften Titel „Theätre Imperial" führt, giebt man 


große und komiſche Opern, Dramen, Luftfpiele, Vaudevilles und felbft Ballets. Außer 
den beiden Schaufpielhäufern ift noch zum Vergnügen der europäifchen Bevölkerung 
ein fogenanntes , Café-concert“ auf den Gouvernementsplatze liegend, vorhanden 
und zwei „ Cafes chantants“, von denen daß eine in der Pafjage de la Bourie, 


das andere in der Straße Bab-Azun fich befindet, und welche die mannigfaltigfte Un= 


terhaltung darbieten. 

Mogier befist 5 Buchhandlungen, — in der der Gebrüder Dubos, befon- 
ders aber in der von Baſtide, find mehrere wiflenfchaftliche Werke erfchienen —, 4 
Drudereien, 4 Steindrudereien und 5 Papierbandlungen. Bon feiner Prefie 
find zuerft dad „Bulletin officiel des actes du Gouvernement“ und der „Moniteur 
Algerien” zu erwähnen. Erſteres erfcheint von Zeit zu Zeit, letzterer, bie officielle 
Zeitung der Colonie, ſechs Mal in jedem Monat. Der „Mobacher”, ein franzdftfch- 
arabifches Journal, das in beiden Sprachen erfcheint, wird alle vierzehn Tage aus— 
gegeben und fteht unter der Leitung des Bureaus der arabifchen Angelegenheiten. Der 
„Akhbar“ erfcheint dreimal in der Woche und die Sammlung algierifcher Rechts⸗ 
fenntniß (Recueil de jurisprudence algerienne), von einem Adookaten rebigirt, 
alle Monate. Zu erwähnen jind noch dad „Bulletin ve Port”, das täglich den 
Hafenverkehr, d. h. den Zu= und Abgang von Schiffen, und die Ein- und Ausfuhr 
mittheilt, und Die „lanbwirtbfchaftliche und induftrielle Zeitung”, die von einem Deute 
fyen, Renner mit Namen, in deutfcher Sprache berauögegeben wird. Vom Novem- 
ber 1858 an erfiheint noch eine Zeitung, der man den Namen „RP Algerie nouvelle* 


gegeben bat, und Die den Ideen des Prinzenminifters in Bezug auf Colonifation und. 


Verwaltung des Landes bei der Bevölkerung Algierd Cingang verſchaffen foll. 
Außer der neu gegründeten und theilmeife noch im Entftehen begsiffenn Aka⸗ 
demie bat Algier an öffentlichen Unterrichtsanftalten das Lyceum, meh⸗ 


Wagener, Staats u. Geſellſch⸗Lex. 1. 47 


’ 
Lu 


738 | Algier. (Stadt.) 


rere franzöflfche, eine ifraelitifche und eine arabiihe Schule, und zwei Seminare, 
die in der Stadt Algier felbit fich nicht befinden, aber in diefer fo nahen Orten, 
daß man fie unter ihren IUnterrichtöanftalten anführen muß. Dad große Seminar 
‚in dem reizenden, etwa 11, deutſche MI. entfernten Kuba, wird von den P. P. La— 
zariften ') geleitet, da8 Fleine Seminar, in dem nieblichften und hübſcheſten Derfe 
der ganzen Colonie, in der Sommerrefldenz des jetzigen Biſchofs, in dem weniger 
wie eine halbe Meile entfernten Saint» Eugene, fteht unter dem Bifchofe felbft um 
hat eine große Zahl Schüler. Zu erwähnen ift noch die Unterrihtsanftalt der 
Freres de la Doctrine retienne, die der Schweflern de Saint- Bin: 
cent de Paul, im Klofter Miſericorde, und die der Dames du Bon-Paftenr, 
die, wie ebenfalld Die Schweftern von Saint- Vincent, eine Kleinfinderbemahr: 
anftalt leiten. Die Damedreligieufespu Sacre-Eveur, im nahen Muſtapha, 
ftehen in einen ftattlichen Gebäude einer Mufteranftalt in jeder Hinſicht vor, in 
die man feine Töchter, der fchönen Umgebungen und der gefunden Luft wegen, vor: 
zugsweiſe gern aufnehmen läßt. -— 

_ In dem fchönften maurifchen Haufe Algierd, nur aus Marmor erbaut, mit Bild⸗ 
hauerarbeit reichlich verziert und mit herrlichen Säulen, in der Aue des Lothophage, 
unmittelbar au Meere, der Staatspruderei gegenüber, bat man eine Bibliothek 
und dad Mufeum angelegt. Man begann mit der Gründung der Bibliothek im Jahie 
1835, jedoch wurde fie erft 1838 förmlich eingerichtet, nachdem ihr von den veridhie 
denen Minifterien Werke zum Gefchent gemacht worden waren, zu Denen fich die von 
dem Bibliothekar Berbrugger gefammelten Manuferipte gefellten. Im Jahre 1846 be—⸗ 
faß die Bibliothet 1473 gebrudte Bände und 687 Bände Manuferipte, wobei jevot 
zu bemerfen: ift, daß nach der Sitte der Araber ſtets mehrere Werke in einem Band 
vereinigt find, fo daß jle 1250 verfchienene Werke enthalten. Bon diefen bebankeln 
450 tbeologifche Gegenftände, 200 die arabifche Gefeßgebung (Kommentare des Koran) 
und 600 die arabifche Sprache. Im Iahre 1854 belief ſich die Zahl dor Manuſctipu 
in Folge der unermüdlichen Bemühungen des gelehrten Bibliothefard auf 800 Bände. 
Den Hauptreichthum ded Muſeums, deſſen naturhiftorifhe Sammlungen wenig Inter: 
eife darbieten, bilden Alterthümer, von denen die meiften einen bedeutenden Werth haben 
und einige fich durch ihre Schönheit bemerkbar machen. Eine befondere Auszeichnun 
verdienen: ein Badeſtuhl (sella balnearis) von weißem Marmor; ein Sarkophaz 


nebft Deckel aus demfelben Material, der zur Auheftätte eined zehn bis zwoölfjährign | 


Kindes gedient zu haben ſcheint und deſſen Aeußeres mit ſchönen Skulpturen gejchmüd: 


ift, worunter fi zweimal das Portrait ded Kindes, von trauernden Genien umgeben, 


befindet; zwei Basreliefd, zwei mit der Toga bekleidete Männer darſtellend, vor 


1) Im Jahre 1648 hatte der heilige Bincens de Paul, felbft in die tunefifhe Sklaverei ge 
tathen, die Xeiden, denen die Gefangenen der algieriſchen Piraten ausgefegt waren, kennen gel 
Er erhielt zur Erleichterung der Lage biefer Unglüdlihen von Ludwig XIII. die Summe ve 
10,000 Fre. um in Algier vier Prieſter der Congregation von Saint⸗Lazare, deren Stifter er wi 
anftellen zu können. Die Nachfolger biefer einem fo edlen Zwecke fid, widmenden Männer warc 
bis 1830 unausgefegt thätig in ihrem fchönen Berufe, und während der erften Jahre der Eroberns: 
Algiers wurden ihre Predigten in ihrer Heinen Kapelle in der Rue de "Etat Major ungemein far 
beſucht. Schon vor den P. P. Lazariften glängte inmitten des Elendes der Ghriftenfelavere du 
fromme Wohlthätigfeit der ſpaniſchen Nation und verfchaffte Troſt ohne Unterſchied der Sprader 


und Geburtsländer. Die P. P. Trinitarier errichteten einige Kapellen, von weldyen die erfle mi 


der Zeit das fpanifche Hofpital wurde, dieſes befand fih in der Straße Bab⸗Azun. In die 
Kapelle gab man dem Kranten fo viel geiftlidhe und zeitliche Hülfe, als der Betrag der eingehent: 
Almoſen erlaubte, bis ac der Vereinigung aller ähnlihen Anftalten zu biefer einzigen die Kit: 
und die Bequemlicjleiten fd) vermehrten. Der Stifter war der B. Sebaftian del Puerto aus ME 
unbeſchuhten Trinitarierflofter von Burgos, ein eifriger Losfaufer der SHaven. Als er im Jah: 
1546 zum erften Male nad) Algier Fam, kaufte er 200 Sclaven los, und von dem Elend der Uern 
gen durchdrungen, fammelte er von Neuen Almofen und ftiftete im Jahre 1551 das Spital. % 
der Umgebung Karl’s V. lebend, ber ihn zun Rathe (consejero) ernannt hatte, fell er bei & 
legenheit der vorhabenven Belagerung von Algier ben Shifbrud, der Flotte vorausgefagt haber 
et ftarb voll von Jahren und Berdienften im Jahre 1556. Das Hofpital wurde 1612 faft ga 
neu aufgebaut durch die P. P. — Monroyo, Johann Aquila und Johann Palacios; int: 
Anftalt nahm man alle kranken Chriſten auf, die erkrankten Weiber erhielten Arzneien und wurde 
von einem Arzt befucht, aud) verfaufte man den Türken Arzneien, deren Ertrag die Einkünfte de 
Hofpitale vermehrte. " 











Algorithmus. A, Paſcha von Janina. 1739 


denen ein jeder Weintrauben in der Hand hält, Theile mehrerer Statuen, wahre - 
Meifterftüce in weißen Marmor; herrlihe Moſaiken, Ueberbleibfel von Berzterun- 
gen, Infchriften, phoenififhen Idolen u. f.w. Den wichtigfien Gegenftand, 
der eriftirt, um den Beweis zu liefern, daß Algler an Stelle des alten Icoſtum fteht, ift 
troß der eifrigen Bemühungen des Conſervators und Bibliothekars Berbrugger noch nicht 
gelungen, dem Muſeum einzuverleiben. Es iſt dies ein großer Grabſtein mit einer latei⸗ 
niſchen Inſchrift, der lange Zeit einem armen Nagelſchmied zur Unterlage ſeines Amboſſes 
diente, bis er von den Europäern weggenommen, dort, wo die beiden Straßen du Caftan 
und Bab⸗Azun zufammentreffen, in die Ecke eines Hauſes eingemauert wurde. Ueber dieſem 
Steine befindet fich eine Eleine Tafel der Feuerverficherungsgefellfhaft „La Paternelle*, 
und neben demſelben die fombolifchen Schlangen eines Apothekers. Eine Hebeamme, 
die, wie es feheint, mehr Sorge für die Erbdaltung der kommenden Generationen, als 
für die Confervation der Alterthümer trägt, hat die Haken, woran ihr Schild hängt, 
ruͤckſichtslos in dieſe Reliquie befeftigt. 

Algorithmus. Dieſer Ausdruck bezeichnet gemeinhin eine Rechnungsregel, auch 
wird zuweilen jede Vorſchrift mit dieſem Namen belegt, welche durch Zuſammenſtellung 
der betreffenden Formeln zu dieſem oder jenem Behufe eine gewiſſe Reihenfolge von 
Rechnungs operationen anordnet. 

Alguacil (vom arab. al ghazil, der Vollſtrecker), Name ſpaniſcher Unterbeamten, 
Gerichts- und auch Polizeidiener. Entſprechend der alten einfachen und freiheitlichen 
Berfaffungsanlage des Landes, in der das germanifche Element zu Tage tritt, war der 
A. zunächft überall Vollſtrecker des obrigfeitlichen Willeng, ob ledterer von einem reinen 
Berwaltungsförper oder von einem auch mit richterlichen Yunctionen bekleideten aus⸗ 
ging. Auch die Inquifltionen und die Ritter-Orden hatten ihre U. Gegenwärtig ver- 
fteht man unter U. wie unter Alcalde (f. dieſ. Art.) faft nur noch den gerichtlichen Un⸗ 
terbeamten, Gerichtsdiener, Executor. Doch bat fich dort, wo altfreied Städteleben in 
Spanien noch gewahrt wird, das alte Anjehen des A., das dort auch wohl ein erb⸗ 
liches Amt iſt, erhalten. 

Alhambra ſ. Mauriſcher Styl 

Ai, Paſcha von Janina 41822), - geboren zu Tebelen in Albanien, 
Sohn einer zum Muhamedanismus übergetretenen Klephthenfamilie, die ſchon feit laͤn⸗ 
gerer Zeit im Befig der Stadt und des Gebiets von Tebelen war. Bon Ehrgeiz ges 
trieben und menig um Mittel zur Erreichung feiner Zmede verlegen, nahm er frei- 
willig den Auftrag an, die Todesftrafe, die der Sultan gegen feinen Schwiegervater, 
den Pafcha von Delvino, verhängt Hatte, zu vollftreden. Zur Belohnung warb er 
zum Stellvertreter des Pafcha von Numelien, bald darauf zum Paſcha von Trifala in 
Ihefjalien ernannt, mit der befonderen Aufgabe, für die Sicherheit der Straßen zu 
forgen. Durch einen plöglichen Ueberfall bemächtigte er fich indeſſen des Paſchaliks 
Janina, und der Sultan vermochte nicht Andered zu thun, ald den Berwegenen in dieſer 
Würde (1788) zu beftätigen. Dadurch nur noch Fühner gemacht, riß er Dad ganze 
alte Epirus und. das eigentliche Griechenland an ſich. Jetzt begann der fcharfiin- 
nige Hann bereit8 europäifche - Kombinationen zu erproben. Die Franzoſen hatten 
ih damals in Illyrien feitgefet, und fogleich trat er niit ihnen in Verbindung; doch 
als fie feinen geheimen Planen nicht nach Wunfch entfprachen, Tieß er fie ohne Beden⸗ 
fen im Stich und wußte zur Belohnung dafür vom Sultan die Würde eines Vice» 
fönigd von ganz Numelien zu erhalten. Er gedachte nun wirklich einen Thron 
zu gründen, fammelte ungeheure Schäge, übte eine ftarfe Truppenmacht ein und wußte 
jeinen Sühnen die wichtigften Stellen im türfifchen Reiche zu verfchaffen. Das Mif- 
trauen gegen ihn Fonnte in Konftantinopel nicht höher fleigen; er entjchloß fich deshalb 
kurz, durch Ermordung des mächtigften Feindes, den er dort hatte, des Pafcha-Bel, 
dad ihn bedrohende Ungewitter abzuwenden. Doch mißlang ſein Anſchlag, und er 
ward deswegen zum Tode verurtheilt. Jetzt rief indeß Ali Paſcha, mit einem Schlag 
einen lange vorbereiteten, aber noch nicht reifen Plan auszuführen entfchloffen, alle 
riechen zu den Waffen, fich felbft auf feine griechifche Abftammung berufend und 
feinem DBaterlande die Unabhängigkeit in Ausficht ftellend. Der Krieg begann, ein 
Guerillakrieg von mehreren Jahren, ohne große Schläge und nur dadurch zu beendi⸗ 


47* 
- N - n 





140 . Alibi. 
gen, daß der Paſcha in und mit ſeiner Feſtung Janina den Türken anheimfiel. Doch 


er bielt ſich vortrefflich, und Kurſchid Paſcha, der ihn belagerte, konnte ſich ſeiner nur 


durch Meuchelmord (5. Febr. 1822) in einer Unterredung, die er ſich von ihm ausge— 
beten hatte, entledigen. Ali Paſcha gehört zu den begabteſten Männern des ſlawiſch⸗ 
griechifchen Miſchvolkes, und unter den neueren Feinden und Erfchütterern des türfi- 
ſchen Meiches fteht er oben an. In den albanefifchen Schluchten und Bergen ift fein 
Berfuch nicht vergefien, und vielleicht ift der Tag nicht fern, wo derſelbe mit größerem 
Glück wiederholt wird. (S. auch den Art. Albanien.) Ausführlicheres über A. finbei 
man in der Vie d’Ali Pacha de M. de Beauchamp. Paris 1822, und in der Histoire 
de la Regeneration de la Grece de Pouquerille. 4. vol. 1824. 

Alibi (alibi Tat. — anderswo) nennt man im Criminal-Proceß die Abweſenheit 
vom Ort einer ftrafbaren Handlung zur Zeit als dieſelbe begangen worden, fofern der 
Angefchuldigte dieſe Abweſenheit zum Gegenftand feines Entlaftungsbeweifed macht. Der 
Beweiß des Alibi ift von großer praftifcher Bedeutung, jedoch nur für eine gewiſſe 
Art von Ballen. — Einmal ift er nur fo weit verwendbar, ald der Vorgang, weldyer 
den Gegenftand der Anſchuldigung bildet, objectiv feftgeftellt und in Hinficht auf Raum 
und Zeit beflimnit ift; das „Wann”? und „Wo”? der That muß feftftehen, wenn dem 
Angefehuldigten der Beweis möglich fein fol, Daß er zu derfelben Zeit anderswo 
gewefen fei. Wegen dieſer wejentlichen Borausfegung ift der Alibibeweid in vielen 
Fällen unaudführbar und findet bei gewiffen Arten von Vergehen gar feine, Dagegen 
die haͤufigſte Anwendung in folcden Fällen, wo der objective Thatbeftand des Ver—⸗ 
brechend auf eine beflimmte Zeit und einen beflimmten Ort der Verübung deutlich 
binweift, wie Died bei Brandfliftung, Mord, Einbruch und anderen mit Gewalttbätig- 
feit und Zerſtörung verbundenen Verbrechen in der Hegel ftattfindet. — Andererfeite 
müffen die für die Schuld einer beftimmten Perſon angebrachten Beweiſe eine gewiſſe 
Möglichkeit der Nichtſchuld — noch außer der allgemeinen Trüglichfeit aller Bes 
weismittel — offen laffen. Der auf frifcher That ergriffene Verbrecher kann jein 
Alibi nicht beweifen, und überhaupt ift dieſer auf einem Umwege zu führende Beweis 
der Nichtfehuld in dem Grade unanwendbar, als die Anfchuldigung durch directe Be⸗ 
weismittel unterftügt wird. 

Daß eigentliche Gebiet des Alibibeweifes bleiben Diejenigen Fälle, wo bei objectivem 
Feftftehen der That ver fubjective Thatbeſtand durch Indicien bewiefen werden foll 
Hier, wo durch dad Zufammenftellen einzelner Thatſachen, deren jede nur mit mehr 
oder meniger Wahrfcheinlichkeit auf die Thäterfchaft des Angefchuldigten hindeutet, zu⸗ 
gleidy aber ein Fleinered oder größeres Held anderer Möglichkeiten offen läßt, dieſes 
Geld immer mehr verengt und fo ein Fünftlicher Belaftungsbeweis vielleicht fubjectio 
bis zur unabweislichen Ueberzeugung für den Michter, aber objectiv — bei der Ber- 
borgenheit ded unmittelbaren Hergangd — immer mit nur einer gewiflen Annäherung an 
eigentliche Gewißheit geführt wird, — bier muß ein einziger Umftand, welcher mit 
Beftimmtheit gegen die Thäterfchaft fpricht, von entfcheidendem Gewicht fein, und das 
ganze Eünftliche Beweisgebaͤude zertrummern. Ein ſolcher Umſtand iſt nun eben dag Alibi. 

Waͤhrend in der Regel beim Entlaſtungsbeweis gegenüber einer auf Indicien 
beruhenden Anſchuldigung ed ſich nur darum handelt, einzelne der angewandten Beweis⸗ 
mittel als unſicher, einzelne gravirende Thatſachen als unerwiefene erfcheinen zu 
laflen oder auf eine unverbächtige Weiſe zu erklären, alfo immer nur die — ohnehin 
ſtets denkbare Möglichkeit per Nichtſchuld mehr in’s Licht zu ftellen, wird mit 
dem Alibi geradezu die Unmöglichkeit der Schuld dargethan. Dort wird nur 
der Belaftungsbemweid befämpft, bier bie Anſchuldigung felbft mit Einem Schlage ver- 
nichtet. — 

Bei Diefer durchgreifenden Wirkung des Alibibeweifes darf ed nicht Wunder 
nehmen, wenn die Angefchuldigten in den geeigneten Zällen fo häufig dazu ihre 
Zuflucht nehmen. Verbrecher, die im Kampf mit der Criminaljuſtiz aufgewachſen ſind, 
nehmen häufig den Alibibeweis unter Die vorbereitenden Handlungen auf, ſei es daß 
ſie ſchon vorber falſche Zeugen werben, fei es das fie unnittelber vor und nad Der 
Verübung ded Verbrechens fih an belebten, vom Ort der That entlegenen LRocalitäten 
in oftenfibler Weife blicken laſſen. 














, 


Alicante. Alimente. Ä | A 


»Beſtrafte Subjecte, auf welche.immer der erfte Verdacht fällt, find, wenn ein. eben 
begangene8 DBerbrechen Aufieben erregt, emflg bemüht, ihren echten Alibibeweis zu 
fihern.. Denn Niemand fchwebt in größerer Gefahr und Furcht vor dem lnfchuldige. 
beftraftwerben, als der fchon früher Beftrafte. Aber auch einem Anderen, der unfchuldig 
in eine Unterfuchung verwidelt wird, erfcheint das Alibi als der nächflliegende und 
fürzefte Weg der Befreiung. Und doch wird fie auf diefem Wege jo felten erreicht; 
ein einfaches Zeugniß, welches in der Negel genügen würde, ift in der geeigneten 
Art ſehr ſchwer zu befchaffen: für den wirklich Unſchuldigen deshalb, weil für ihn 
der Fritifche Augenblick des Verbrechens nicht eher beachtendwerth erfcheint, als da er 
von der Anfchuldigung Kenntniß erlangt, und weil es dann in der Regel ihm nicht 
mehr möglich ift, fich felbft feinen Aufenthalt zur fraglichen Zeit mit völliger 
Beftimmtheit und in genauer Uebereinftimmung in’d Gedaäͤchtniß zurück⸗ 
zurufen; — für den fohuldigen Verbrecher ebenfalld, weil dieſer eines’ faljchen Zeuge 
niffeö bedarf und ein folches einmal nicht immer zu haben ift, andrerjeitd, auch wenn 
ed gefunden wird,, feine Wirkſamkeit leicht dadurch einbüßt, daß felbft der falfye Zeuge, 
um fein gutes Gedaͤchtniß für der Aufenthalt des Angefchuldigten zu einer an ſich 
ganz gleichgültigen Zeit nicht verdächtig erfcheinen zu laſſen, eine allzugroße Beftimnit- 
beit in feinen Angaben vermeidet. Fehlt es aber an Diefer Beftimmtheit auch nur im 
Geringften, fo wird die Wirkung des Alibibeweiſes nicht etwa nur gefchwächt, fondern ‘ 
geht ganz verloren; denn fobald für die Anmefenheit des Angefchuldigten am Orte 
der That auch nur die geringfte Möglichkeit offen bleibt, ift die Unmöglichfeit, 
aus welcher allein auf dieſe Weife die Nichtfehuld gefolgert werben kann, nicht be= 
wiefen. — Je häufiger es biernach vorkommen muß, daß der Alibibeweis, wenn er 
angetreten wird, mißlingt, um fo weniger berechtigt ein ſolches Nefultat zu irgend 
einer Folgerung zum Nachtbeil des Angefchuldigten, und ein Richter, namentlicdy aud) 
ein Gejchworener, hat fich deshalb in dieſem Fall wohl zu hüten vor dem ungünftigen 
Eindrud, welchen ein mißlungener Beweis gegenüber der beweisführenden Partei her⸗ 
vorzurufen ſtets geeignet if. In dieſem Ball befagt aber dad negative Nefultat des 
Beweiſes nur, daß die Unfchuld auf diefe Art nicht bewiefen werden: Eonnte; daß fie 
wirklich vorhanden fei, wird im Allgemeinen dadurch nicht ausgefchloffen. 

Alicante, fpanifhe Stadt und Hafen am Eingang der Bucht yon Alicante, 
zugleich Hauptfladt der Provinz gleichen Namens, mit 25,000 Einwohnern und einer 
weiten und ficheren Rhede; über ihr auf beherrichender Höhe ein feſtes Schloß. In 
ihrer Umgebung, die außerdem berühmte Weine (Vino tinto) liefert, finden ſich zwei 
Lagunen, in denen viel Salz gewonnen wird. Nach Cadir und Barcelona ift A. die 
bedeutendfte Handelsſtadt Spaniens, wenn ed auch feit Der Losreißung der fpanifchen 
Eolonieen in Amerifa und in Folge des zwifchen Gabir und Gibralta beftehenden 
Schmuggelhandeld viel von feinem Verkehr verloren bat. Die Araber bemädhtigten fich 
715 der Stadt; Ferbinand II., König von Eaftilien nahm fie im zwölften Jahrhundert 
wieder in Beſitz; 1709 wurde fie von den Franzoſen belagert, während die Engländer 
die Gitadelle befet hielten, und erobert. Alicante gehört außerdem zu den Mittelpunften 
der politifchen Bewegungen des Landes, 1844 brach in ihm ein Auffland aus. 

Alienbill ſ. Fremdenbill. 

Alighieri ſ. Dante. 

Alignement heißt 1) beim Militär die Richtungslinie der Fronte, welche bei 
ganzen Brigaden die Adjutanten, bei Bataillonen und Regimentern die Unteroffiziere 
bezeichnen. 2) Bei der Vermeſſung eines Terraind die gegebene Nichtlinie, in welche 
jelbft oder in deren Verlängerung das Meß» Inflrument eingefeßt wird. 3) In der 
Aftronomie wird die Poſition eined feiner Lage nach feftzulegenden himmliſchen Objects 
durch Aliguements beftimmt, wenn man folche gerade Linien auffucht, weldye das frag- 
liche Object treffen, während fie zwei andere ihrer Rage nach befannte Sterne mit ein- 
ander verbinden. Zwei folcher Alignements genügen im Allgemeinen zur Ortsbeſtim⸗ 
mung des fraglichen Gegenſtandes. 

Alimente nennt man im grammatifchen Sinne des Wortes dad zur Ernährung 
des Leibes Nothwendige. Der juriftifche Begriff aber ift weiter und umfaßt Alles, 
was die Erhaltung von Xeben und Gefundheit erfordert, aljo Nahrung, Kleidung, 


Mn. 





242 Alimente. 


Wohnung und Verpflegung in Krankheitsfällen, ja ungeſchickter Weife bat die Prarie 
mancher Ränder auch die Koften des Unterrichts und fogar den durch die Fichrung von 
Procefien veranlaßten Aufwand den Mlimenten beigezählt. Hiermit find jedoch nur die 
Umrifje defien beitimmt, was zu den Alimenten gehört. Denn im Xeben werden natür- 
‘lich Die bezeichneten Bebürfniffe In fehr verfchiedener Art befriedigt. Es fragt fich mit: 
hin, ob da, wo eine Verpflichtung zur Alimentation, d. i. zur Reihung von Ali- 
menten befteht, ein abfoluter oder relativer Maßſtab anzulegen fei. Jener würde das 
Minimum von Alinenten begreifen, ohne welches die Erhaltung des Lebens fchlechthin 
unmöglich wäre, Diefer fich der Verſchiedenheit der Verhältniffe accommodiren und die 
Art der Alimentation nach den in der Individualität und Lebensſtellung der zu ali- 
mentirenden Perſon begründeten Anforderungen: bemefjen. Und Diefer freieren Auf: 
foffung bat das gemeine Recht den Vorzug gegeben. So oft daher auf Leiſtung von 
Alimenten geklagt wird, ift dem Richter die freiefte Berüdfichtigung der mannichfach 
wechfelnden perfünlichen DVerhältniffe zur Pflicht gemacht, und feine Beurtheilung mehr 
auf factifche, ald auf rechtliche Geſichtspunkte verwiefen (in facto polius, quam in Jure 
consistit.) Hiermit hängt es zufammen, daß die Alimentenklage nicht ald Beſtand⸗ 
theil ded Vermögens angefehen wird. Sie foll nicht dad Vermögen vermehren, fon- 
dern einem Bebürfrtiß der natürlichen Perſon Genüge verichaffen, und da letztere nad 
dem Tode aufhört, eine Begleiterin der rechtlichen Perfünlichkeit zu fein, fo Fönnen die 
Erben die dem Erblafler gefchuldeten Alimente auch nicht einmal, fo weit jle rüudfländig 
find, nachforbern. 

Die Alimentationspfliht nun beruht entweder auf einem Act des Willens 
(Vertraͤg, legtwillige Diöpofltion) oder fle ift eine geſetzliche, oder endlich fie ent 
fteht Durch Delikt. Im erften Kal bat fie, abgefehen von der Eigenthümlichkeit ihres 
Gegenſtandes, nichts Beſonderes. Nur ift die Dispofition über vermachte Alir 


mente beſchraͤnkt. Da nämlidy bei deren Zumendung die Bewahrung des Bedadhten - 


vor Noth und Elend bezwedt zu werben pflegt, fo würde biefer Die wohlmeinende Ab: 
ſicht des Teſtators Dadurch vereiteln Eönnen, daß er fich mit dem zur Leiftung ber 
Alimente Berpflichteten über eine Abfindungsfumme einigte, und über dieſe dann fchal: 
tete und waltete, wie ihm beliebte. Um ſolchem Leichtjinn vorzubeugen, ift Die Bor 
fchrift getroffen, daß der Vergleich über Iegirte Alimente ungültig fein fol, fofern er 
nicht gerichtlich geprüft und vortheilhaft befunden worden iſt. — Die geſetzlich e Alt 
mentationspflicht gründet fich auf Verwandtſchaft. Sie ift nach gemeinem Recht auf 
Afcendenten und Defcendenten beichränft und ſetzt Hülfsbedürftigkeit auf der einen, eine 
gewiſſe Zulänglichkeit des Vermögens auf der andern Seite voraus, Vorbedingungen, 
deren Vorhandenfein der Kläger zu erweifen hat, und denen der Verpflichtete mit Er- 
folg nur den einen Einwand entgegenfegen darf, Daß der Berechtigte auf gröbliche 
Weiſe durch fein Verhalten die verwandtfchaftlihe Verbindung verleht babe. ') 

Die Particularrechte haben die Alimentationspflicht meift auch auf Geſchwiſter 
außgebehnt. So das preußifche Landrecht, welches fogar entfernte Seitenverwandte 
indireet und moralifh zur wechjelfeitigen Alimentation verpflichtet, fofern es die 
Verweigerung der Alimente unter ihnen mit Verluft des gefetlichen Erbrechts beftraft. 9 

Was die Befchaffenheit ver gefelichen Alimente anlangt, jo forderte Das ge- 
meine Recht, wie ſchon oben erwähnt, ftandesgemäßen Unterhalt. Das preußifche Land— 
echt unterfcheidet Die Alimente zwifchen Gefchwiftern und bie zwifchen Afcendenten und 
Deſcendenten. Gefchwifter können nur nothbürftigen Unterhalt verlangen, während Die 
Alimentirung zwifchen Ufcendenten und Defcendenten eine flandeögemäße jein muß, 
Boten nicht der Berechtigte fich Durch eigene Schuld in die hülfsbedürftige Lage ge 

acht Hat. 

In welchen Fällen die Alimentation Seitend der Armenverbäande eintritt, dar⸗ 
über wird an einem andern Orte gehandelt werden müflen (f. Armenweien). 

Aus dem Delikt entfpringt die Verbindlichkeit des Schwängererd zur Alimen⸗ 
tation unehelicher Kinder (ſ. Schwängernngsflage, Findelhäufer). 


— — rn 








1) Puchta, Pandekten, $ 316. 
m) A. L. R. Tit.2 Th. 1.55 22, 23. 














Aliſon. Aljaska. (Ruſſ. Amerika.) 743 


Ebenſo die aus der gemeinrechtlichen Praxis in das preußiſche Landrecht und 
andere Particularrechte übergegangene Verpflichtung zur Alimentation der Hinterbliebe— 
nen eines Getödteten Seitens des Delinquenten. 

Aliſon, Archibald, ſtammt aus einer alten und angeſehenen Familie Schottlands. 
Sein Vater (Archibald), Rector von Kenley, hatte ſich durch eine moralifc) = äfthetifche 
Schrift: „Essay on the nature and principles of taste* (Edinburg 1790) einen Ranen 
gemadt. Archibald, der ältefle Sohn defjelben, geboren ven 29. December 1792 zu 
Kenley, widmete ſich nach dem Studium der NRechtöwiffenfchaft der Apvocatur. Durch 
Reifen auf dem Eontinent fuchte er feine Neigung, das praftifche Leben nach allen 
Seiten zu beobachten, zu befriedigen. Seit dem Jahre 1828 Mitglied des Königlichen 
Rathes, erhielt er 1834 das Amt eines Sheriffs von Lanarkſhire, ein wichtiges rich⸗ 
terliche8 Amt in Schottland. Nachdem er fich durch feine Werke über das fchottijche 
Recht (The principles of the crimineal law of Scotland (1832); A praclice of the 
criminal law, 1833) zur Autorität Der ſchottiſchen Barre gemacht hatte, begann er 
1833 die Herausgabe feined großen Geſchichtswerkes: History of Europe from 
ihe commencement of the French revolution to the restauration of the Bourbons 
(Edinburg 1833— 1842. 20 Bünde, 1853 in der 9. Auflage). Durch dieſes Werk, 
welches in Paris, Brüflel und Amerika nachgedruckt wurde, und felbft ind Arabifche 
(Malta 1846) und ind Hindoftanifche überjegt worden iſt, begründete er feinen euro- 
päifhen Auf. Er bat in demfelben die Gefchichte Der Nevolution vom Standpunkt 
des Tory aus gefchrieben; er ift ein Anhänger der altenglifchen Berfaflung und fleht 
in deren Neform eine Einwirkung der franzöflfchen Revolution. Eine Fortfegung dieſes 
großen Werkes begann er 1852 unter dem Titel: „History of Europe from the fall . 
of Napoleon to the accession of Louis Napoleon in 1852°, doch ift von diefem mit 
getbeiltem Beifall aufgenommenen Werke bisher erft ein Band erichienen. Auch ein 
Xeben Marlboroughs gab er 1847 heraus. Seine confervative Anfchauung bat er 
auch ald Kritifer in Blackwonds Magazine vertreten. 

Der Gefchichtsfchreiber ftebt in England feinem Bolfe nicht fo theilnahmlos und 
in fo abftracter Haltung gegenüber, wie in Deutfchland, und fo ift ed natürlih, daß 
A. quch auf dem Gebiete der Nationalökonomie eine ſehr entſchiedene Stellung ein« 
nahm, um feinem Gefchichtöfchreiberberuf ganz zu entfprechen. Alttory Durch und durch, 
vertheidigte er in feinem 1844 zu London erfchienenen Buche „Free trade and pro- 
teclion“ die Schußzölle zu Gunften des englichen Aderbaued. Er fucht in diefem 
Buche nachzuweifen, Daß der Verfall des römischen Aderbaued unter den Kaifern durch 
die maflenhafte Korneinfuhr aus Aegypten, Bauritanien x. bewirkt wurde. &8 wurbe 
Maculloch nicht ſchwer, dieſe Anführung zu widerlegen, indem er darauf hinwied, daß 
die Kormeinfuhren in Rom zu umfonftigen Vertheilungen an’8 Volk benugt, ein Ver⸗ 
gleich alſo nicht flatthaft fe. In einem andern (fchon 1844) erfchienenen Werke: 
„Ihe principles of population“ tritt A. der Malthus’fchen Theorie entgegen und weit 
an der Hand der Gefchichte nach, daß das Wachfen der Bevölkerung regelmäßig ber 
Menge der vorhandenen Nahrungsmittel entfpräche. Man tadelt an Diefem Buche, was 
auch von einzelnen Theilen der Gefchichte A.’S gilt, Die declamatoriſche und etwas ver⸗ 
wirrte Entwidlung, doch erkennen auch die Gegner den Werth der biftorifchen Aus- 
führungen bereitwillig an. Auch eine Schrift über die Umlaufömittel hat er unter dem 
Titel: „England in 1815 and 1845, or a sufficient and contracled currency“ vers 
faßt; fle machte vier Auflagen nöthig. Die praftifche Betheillgung an der Politik wies 
er nicht zurüd, und noch zur Zeit des orientalifchen Krieged trat er ald Redner in 
Öffentlichen Meetings auf, damals fchon voller Beforgniffe wegen Frankreichs. 

Alaska (Alaska, Alaſchka, Alaska und durch Verftellung der Buchflaben zu» 
weilen Aljaffa genannt) ift der Name einer Halbinjel Amerika's, die fich im nordweſt⸗ 
lichen Theile, ungefähr unter dem Parallel von 58Y,0 N. Breite, vom Gontinente. ab- 
fondert und in ihrer größten, gegen S.⸗W. flreichenden Ausdehnung eine Länge von 
110 d. Meilen bat, wo die Infelreipe der Aleuten (ſiehe dieſen Art.) in ihrer Ver⸗ 
lingerung liegt. An ihrem Stamm, ungefähr 40 Weilen breit, Läuft fie, immer fchmaler 
werdend, gleichſam in eine Spige zu, die, nur 3 Meilen breit, der Infel Unimak gegen- 
überſteht, der erſten der Alenten⸗Reihe, von der fie durch die ſchmale Meerfiraße Sha- 








144 Ä Aljadka. (Ruf. Amerika.) 


f | 
nozky getrennt iſt. In ihren Küftenformen bietet die Halbinfel den feltfanften Gegen⸗ 
fag dar. Die gegen das offene Meer des Großen Oceans gerichtete Süpoflfüfte ifl 
fteil und fchroff, von unzähligen Bufen und Buchten zerfchnitten, befeßt mit eben fo 
unzähligen Infeln, Zelfen, Klippen und Niffen über und unter dem Waſſer, zwifchen 
denen dad Meer oft eine unergründliche Tiefe hat; die nordweſtliche Seite Dagegen, 
zu demjenigen Meertheil gewendet, welcher den Namen der Briftol-Bai führt, ift gleich- 
förmig platt und endet an der See mit einer niedrigen, flachen Küfte, Die nur wenige 
ganz unbedeutende Buchten bat. Doch ift dieſe Küfte gefahrlos für die Schifffahrt, 
denn nirgendd zeigen ſich Untiefen, überall mäßige Tiefen zum Ankern. Gleich— 
laufend mit dieſer Küfte, faft längs der ganzen Halbinfel, erftredt fih eine Gebirge: 
fette, die an ihrem Sübweftende hoch, mit mehreren Bergen, welche die Grenze des 
ewigen Schnee's überfleigen, gegen Rorboften bin an Höhe abnimmt und immer mehr 
von der Küfte fich entfernt, je breiter die Halbinſel wird. Ueber die abfolute Erhebung 
diefer Kette fehlt e3 durchaus an Nachrichten, doch iſt es gewiß, daß fle nicht einen 
fortlaufenden Kamm ausmacht, fondern an mehreren Stellen jo bedeutende Erniedri- 
gungen und Linterbrechungen erleidet, daß man auf ſchwach gehobenen Tragplaͤten 
von Küfte zu Küſte gelangen kann. Dies iſt namentlich im Meridian von 1630 W. 
Länge von Paris der Fall, wo die Mollerd- Bucht der nördlichen Seite von der Baule- 
Bucht (Pawlowskaja Guba) der füdlichen Seite durch eine niedrige Landenge getrennt 
if, welche nur %, b. Meilen Breite hat, und über die die Eingeborenen ihre Baidaren, 
d. 5. Iandesüblichen Boote, zu fchleppen pflegen. Ein ähnlicher Tragplag iſt zwifchen 
der Bucht Pualo der Südküſte und dem See Nanuantughat, der fein Wafler durch den 
Fluß Nuanguf in die Briftol- Bai 'fendet. Noch von zwei oder drei anderen Seen, 
die gleichfall3 zum Gebiet der gevachten Bat gehören, hat man Nachricht. Aljasfa 
liegt in der Verlängerung der Bulfanreihe der Aleuten. Die Feuerberge der Halb» 
infel aber, die bis jeßt wenig unterfucht worben find, fcheinen auf den fübmef- 
lichften, d. i. den böchften Theil, beſchraͤnkt zu fein und nicht den Meridian 
von 1649 W. Länge von Paris zu überfchreiten. Man weiß von vier Vulkanen. 
Der erfte, von Südweſten ber gerechnet, ftebt nicht auf dem feften Lande, fondern auf 
der kleinen Infel Amaf, die der nordweſtlichen Küfte von Aljasfa, infonderheit, der 
Bucht, gegenüber liegt, Die den Namen des Grafen Heyden, eines ruſſtſchen Abmirals, 
führt. Bon einem Ausbruche dieſes Feuerbergs weiß man nichts, weshalb man ihn 
für erlofchen erachtet. Vulkaniſche Producte, womit dieſes Eiland überfchüttet ift, fin- 
den ſich auch um die Moller- Bucht, wo heiße Quellen fprudeln. Auf der Halbinjel 
ſelbſt, und zwar an ihrer Südküſte, nicht auf dem Gebirgskamm, werden drei noch 
immer brennende Bulfane genannt. Sie liegen dicht bei und neben einander: Mor— 
ſchewskaia Sopfa, Pawlowskaja Sopka, Madwednikowskaja Sopfa. Der mittlere Feuer: 
berg, mit, zwei Kratern, ift der hochſte; vom dritten weiß man, daß er bei einem Aus⸗ 
bruche, 1786, in fÜH zufammengeftürzt iſt. Auch die, an der Oftfeite von Aljaska 
liegende Inſel Unga joll ehedem vulfanifche Erfcheinungen gehabt haben. Die Be- 
wohner der Halbinfel Aljaska gehören zu der über alle Polarküften Nordamerika's 
verbreiteten Familie der Eokimos, haben dich aber in ihren Idiomen von dem allge 
meinen Sprachftamm jo entfernt, Daß fie ihre nördlich wohnenden Brüder nicht mebr 
verftehen. Selbft die Bewohner der Norbküfte, etwa 400 an der Zahl, fprechen eine 
Mundart, die von der der Bewohner der Sübjeite von Aljaska verfchleden if. Diele 
nähert ſich dem Dialeft der Einwohner von Kabjaf, welcher aber wiederum von den 
Aleuten auf Unalaſchka nicht verftanden wird. Die Anzahl der Bewohner der Süb- 
füfte fchägt man auf 1600 Köpfe. Im ihren Fleinen Baidaren fteben fie in ewigen 
Kampfe mit den Seelöwen, Seebären, Wallfifchen und Seeottern und Fleiden ſich nicht 
in Rennthierhaͤute, wie andere Völkerfchaften Diefer nordifchen Gegenden, fondern nähen 
ihre Banken, d. i. Winterfleiver, aus Vogelhäuten und ihre Kamleien, d. i. Sommer 
Fleiver, auß den Gedaͤrmen der Wallfifche und Robben. Salzfiſch ift während vier 
Monate, und frifcher Fiſch während der anderen acht Monate des Jahres faft die einzige 
Nahrung diefer Menfchen, für die gefalzenes Fleiſch und Butter, aus, Californien, und 
Brot, ebenfalld aus californifchem Mehl zubereitet, Zurusartifel find, die ſie felten befrie⸗ 
Digen fünnen. Aljaska gehört zu den rufflfchen Eoloniern in Amerifa; die weſtliche 


x 











Alkalien. alteleide. 


Hälfte der Halbinſel iſt dem Verwaltungsbezirk von Unalaſchka, die öſtliche aber dem der 
Infel Kadjak zugetheiltl. Im Hintergrunde der BrikolsBay haben die Ruſſen ein Fort 
angelegt und nad ihrem Kaifer Alerander I. genannt. Das Klima von Aljaska if 
dem von St. Peteröburg ähnlich, fo weit es fih um die mittlere Temperatur handelt; 
aber es findet ein viel häufigerer und fchnellerer Wechſel flatt, und ein’ faft beſtaͤndiger 
Nebel rubt auf dem Lande, das ſich glüdlich fchakt, wenn es im Lauf eined ganzen 
Jahres vier heitere Tage bat. Tannen, Erlen und Bachweiden find Die einzigen Holz- 
gewächfe, die hier fortkommen. Südlich von Aljaska liegt Die Infelgruppe Schumagin, 
alfo genannt von einem Watrofen der Beringejchen Entdedungd- Expedition, der bier 
beerdigt wurde. Alle diefe Injeln, 20 an der Zahl, darunter dad fchon genannte 
Unga, das größte der Eilande, find felfig, mit Gras beveckt und beſonders reich an 
Robben und verfchiedenartigen Vögeln. Ehedem zählte man auf ſechs Infeln dieſer 
Gruppe zufammen 20 Wohnpläge, die aber nach und nach in Folge innerer Zwiftig- 
keiten der Einwohner, auch durch feindliche Angriffe der Kadjafer, zerflört worden ſind. 
Bon den Einwohnern der Halbinjel rühmt man, daß fie in Arbeiten aus Knochen 
ſehr gefchickt feien. Auf Unga, wo man jonft wohl an 200 Hirſche erlegte, erlegt 
man jest Faum 10, und auch die Büchfe, Wölfe und andere Säugethiere des Landes 
und des Meeres haben fehr abgenommen, damit alfo auch die Jagd der Pelzthiere, 
die mit zu den Erwerbszweigen der Bewohner yon Aljaska gehört. 

Altalien — Alkaloide. Aus’ den arabifchen Namen Al und Kali (AI iſt ver 
Artikel) eine Pflanze, aus deren Aſche eine Art der alfalifchen Subſtanzen gewon- 
nen wird, Mit dieſem allgemeinen Namen bezeichnet man diejenigen Körper, welche 
aus einem Metalloid und aus Sauerftoff beflchen, ausgenommen Das Ammonium, 
welches eine Verbindung von Stidftoff und Wafferftoff if. Humphry Davy zerlegte 
zuerft durch Hülfe der. Volta'ſchen Säule die biöher für Elementarfloffe gehaltenen Alfalien 
und Erden in Metalloide, Natriun, Lithium, Calium, Calcium, Magneflum, Stronctum 
und Sauerftoff, und nannte fie alkaliſche Metallorgde. Die Alfalien haben einen fchars 
fen, äßenden Geſchmack, Löfen fich leicht in Waller auf, bilden mit Fett und fetten 
Delen Seifen und liefern durch ihre Verbindung mit Säuren neutrale Salze. Sie 
haben das Eigenthümliche, die blaue Farbe des. durch Säure gerötheten Ladmuspapierd 
wieder berzuftellen und viele Vflanzenfarben, die der Veilchen, Malven, Roſen ımb 
Heibelbeeren, grün zu färben, gelbe Barbe dagegen in rothbraune zu verwandeln. Man 
theilt die Alfalien ein in reine oder äßende, in Foblenfaure ober milde, 
in flüchtige, ſchon in der gewöhnlichen Temperatur gasförmig erfcheinenn (— dad 
Ammonium —) und in fire, erft in der Glühhige fich verflüchtigenne. Bon den 
Alkalien unterfcheiden fich die alkalifchen Erben nur durch ihre Schwerlößlichkeit in 
MWafler, auch bilden fie mit der Kohlenfäure im Waller unlösliche und geſchmackloſe 
Verbindungen. Die Alkalien wirken in der Mebicin rein angewendet. als Aegmittel 
zerflörend auf den Organismus; die milden ald auflöfende, fchmelzende Mittel für feſte 
und weiche Gebilde; ald Gegenſätze der Säuren, ald fäuertilgende Mittel. Die Mag- 
nefla ift als ſolches ein Bolfemittel geworden. Namentlich durch die Alkalien und 
ihre Verbindungen als beroifche, tief eingreifende Mittel befannt, nennen wir die Wafler 
von Ems, Garlöbad, Teplig, Schlangenbad, Bilin, Marienbad, Vichy u. ſ. w, 

Die vorzüglichen Wirkungen des Ober-Salzbrunnen, des Selters und beſonders 
des Soda⸗Waſſers find ja hinlaͤnglich erprobt und bekannt. Aber wie in der Medicin, 
jo fpielen auch im Handel und Verkehr die Alkalien eine bedeutende Rolle. Es ger 
hört nicht Hierher, die Einzelnheiten ihrer Verwendung zu befprechen, und machen wir 
nur darauf aufmerkſam, daß Die Bereitung der Seife einzig und allein anf einer Ders 
bindung der Alfalien mit Thier⸗ und Pflanzenfloffen beruht. 

Alkaloide. In manchen Pflanzen findet man Stoffe, welche ſich in ihren Eigen 
ſchäften eng an die Alkalien anſchließen. Dies find die Alkaloide. Auch fie reagiren 
alkaliſch auf Pflanzenftoffe, neutralifiren Die Säuren und Bilden mit ihnen Salze. 
Sie befigen außerdem in den meiften Fällen Griftallifations - Fähigkeit, ausgenommen 
das Coniin und Nicotin, haben eine weiße Farbe, fcharfen Geſchmack und find ſchwer 
im Wafles, leicht im Alkohol löslich. . 

Im Jahre 1816 fand Sertürner zuerfi dad Morphium und Codein im Mohn« 


146 | Alkali⸗Meter. Alkmaar. (Geogr.) 


ſaft (Opium); fpäter andere Alkaloide in vielen, namentlich narkotiſchen Pflanzen⸗ 
floffen; das Chinin, Ginchonin und Aricin in der Chinarinde,; das Atropin in der 
Belladonna; das Nicotin im Tabad; das Brucin und Steychnin in verfchienenen 
Strychneen (nux vomica). Das Hyoscyamin im Bilfenfraut; das Solanin in ver- 
fhiedenen Nadıtfchatten; das Daturin im Stechapfel; das Colchicin in der Zeitlofe 
und endlid dad Emetin in der Brechmwurzel (Ipecacuanha). 

Alle diefe Alkaloide ftammen aus fehr wirkjamen Bflanzenftoffen und legtere ver- 
danfen ihnen vorzugsweife ihre Wirkſamkeit. Die Alfaloive werden in der Mebicin 
häufig und mit dem größten VBortheil angewendet; befonders das Morphin, Chinin 
und Strychnin. Bei fehr Fleinen Gaben äußern fie diefelbe Wirkung, wie die Pflan- 
zenmittel, aus denen fie entnommen find, werden leichter als dieſe vertragen, empfehlen 
fih bejonders durch ihre gleichmäßige Zufammenfegung und daher auch gleichmäßige 
Wirkung und find dem Kranken in ihrer ſcheinbar homöopathiſchen Darreichung und 
Dabei großartigen Wirkſamkeit ein willflommenes und bewundertes Heilmittel. 

Alkali-Meter. Die Soda oder Pottafche, das fchärfftie aus der Meihe der 
Alkalien, ift eine Subflanz, welche zu einer Menge von Kabrifartifeln verwendet 
wird. Um den Gehalt an Natron oder Kali in vderfelbe® zu beilimmen, wendet 
man den Alkali Meter an. Der von Gay⸗vLuſſac angegebene ift der gebräuchlichke, 
und wird mit demſelben folgendermaßen verfahren: Man gießt zu einer beftimmten 
Menge Pottafche fo viel mit Waller verbünnte Schwefeljäure aus einer grabuirten 
cylinderförmigen Glasröhre, bis die alfalifchen Eigenfchaften verfehwunden find. Aus 
der Menge der verbrauchten Säure, welche durch die Grade der Blasröhre angegeben 
wird, läßt ſich dann leicht auf die Menge des Natron vder Kali in der PBottafche 
fehließen. 

Alkmaar, oder Alkmaer (mas aber nicht Alfmär auszuſprechen iſt, da das e 
nad) Älterer niederdeutfcher Schreibart ein Dehnungszeichen für a if) iſt eine ber fchö- 
nen, reinlichen Städte des Königreich der Niederlande, und zwar belegen in der Pro- 
vinz Nord-Holland, in Der fie der Hauptort eines Kreifeß oder Arrondiffements ift, zu 
dem drei Bezirke oder Cantone, nämlich Alkmaar, Schagen und der Helder gehören. 
Zur Zeit der Republik war fie die Erfle Stadt in Nord⸗Holland. Alfmaar liegt am 
großen Nordfanal, der die Stadt an der Oftfeite berührt. Diefer Kanal ift ein Bau- 
werk der neueren Zeit, unter König Wilhelm 1. angelegt zur Berbindung des Helberg, 
wo der Kriegähafen der nieberländifchen Flotte an der Spike der Provinz Norde 
Holland liegt, mit Amſterdam, Behufs Umgebung der bejchwerlichen Schifffahrt durch 
die Süberfee (Zuifderzee). Die größten Oftinbienfahrer, felbft voll ausgerüftete Fre⸗ 
gatten, kann der Kanal aufnehmen. Alkmaar, defien Einwohnerzahl ſich auf 10,000 
beläuft, ift der Haupt» Marktplag für den Handel mit nordhollaͤndiſchem Käfe. Bier 
Millionen Pfund Käfe werden auf der Stadtwage jährlich gewogen. Auch Butter und 
Korn gehören zu den Handeld-Begenftänden der betriebſamen Stadt, die auch mit ber 
Stadt Hoorn und deren Hafen an der Sübderfee durch einen Kanal in Berbindung 
ftebt, welcher im Anfange des 17. Jahrhunderts angelegt worden ifl. Die dem refor- 
mirten Gottesdienſt gewidmete Laurentinsfirche ift ein großer, fchöner, gotbijcdher 
Prachtbau mit Kreuzfhiff und hohem Holzgewölbe, doch ohne Thurm, da der vor 
handen gewefene im -15. Jahrhundert eingeftürzt und nicht wieder aufgebaut worden 
if. Wie er auögefehen, zeigt eine Abbildung an der Chorwand der Kirche, die auch 
ein, aus fieben Tafeln beftehendes Bild von einem unbekannten niederländifchen Meifter, 
1506 gemalt, beflgt; es ftellt die fleben Werke der Barmherzigkeit dar. Auf dem 
Grabe des Grafen Floris V. von Holland, F 1296, liegt noch der Grabſtein mit dem 
Wappen. Auch die römifchen Katholifen haben bier ein Gotteshaus, und ihr Pfarrer 
iſt Land» Dechant fir einen anfehnlichen Theil der übrigen römifchen Gemeinden in der 
Provinz. In der Nähe von Allmaar find einige hübfche Spaziergänge, befonderd der 
Buch, woſelbſt Wettrennen abgehalten zu werben pflegen, bei denen aber Trab der 
Pferde Geſetz if; darum nennt man fie Harobravery, d. h. Schnelltraben; der Sieger 
erhält von der Stabtbehörde eine filberne Kaffeefanne als Breis. An ver Weftfeite 
des Bufches gleicht der im Jahre 1829 angelegte Friedhof einem Fleinen Park. Der 
Weg nach der Bemſter iſt fehr angenehm. Ban kommt gleich vor der Stadt in eine 





Alkmaar. (Befchichte). | er 


ſchnurgerade Allee, die ſich drei Biertelftunden weit erfiredi. In der Mitte if 
ein „breiter Kanal, und an beiden Seiten beflelben find ebene Wege, deren jeder 
an der äußeren Seite mit Bäumen und einem Graben eingefaßt if. Hieran grenzen 
auf beiden Seiten die fhönften Wiefen, auch viele Schmudgärten mit Landhäufern, 
ſ. 9. Buitenplaatfen, der reichen Butter- und Küfehindler der Stadt. 1973 
wurde Alkmaar von den Spanien unter Ferdinand von Toledo 7 Wochen 
lang vergeblich belagert: Die Einwohner, Mann und Weib, faft ohne Waffen, 
ftritten auf den Stadtmauern wit fiedendem Waller, ungelöfchtem Kalk, brennenden 
Scheiten, Steinen, Kugeln und Schrot gegen das flürmende Kriegsvolk. In der Ges 
fchichte der Kriege zur Bekämpfung, nicht mehr der franzöftfchen Revolution, wohl aber 
des Uebermuths und der Gewalttbaten ihrer Führer und Ausbeuter bat Alfmaar einen 
Namen erlangt, der einen ſehr dumpfen Klang bat: Im Monat Auguft ded Jahres 
1799 machten die Engländer, in Verbindung mit Ruſſen, an den Küften von Holland 
eine Diverfion, welche die wichtigften und entſcheidendſten Folgen hätte haben koͤn⸗ 
nen, wären nicht Fehler über Fehler begangen worden. Es hanbelte fi darum, 
die Sranzofen aus den fieben vereinigten Provinzen zu vertreiben und Niederkand 
von dem Joch zu befreien, unter dem es ſchon fo lange ſeufzte; fo wenigftend 
bieß e8 in dem Bertrage, der zwifchen England und dem Kaifer Baul am 22. Juni 
1799 zu St. Petersburg abgefchloffen wurde. Gegenmwinde -verzögerten die Abfahrt 
des ruffifchen Gefchwaders, welches die aus 17600 Mann beftehbenden Hülfsvölfer nach 
Holland überführen follte, jo, daß es erft im September an dem Orte feiner Ber 
ſtimmung anlangte. nglifcher Seitö waren nicht genug Transportſchiffe in Bereit⸗ 
fchaft gelegt worden, um das auf 25,000 Mann beftimmte englifche Heer mit einem 
Male überzuführen. Dem Londoner Cabinet machte man noch einen andern Vorwurf, 
den nämlich, für den Einfall in Holland den ungünftigften Punft gewählt zu haben, 
ausschließlich deshalb, weil er in der Nähe der Station der bolländifchen Flotte lag, 
deren man ſich zu bemeiftern hoffte. Gelang dies, fo ließ fich das englifche Volt ſchon 
beruhigen, wenn auch die Land»Erpeditionmißgeglüdt war. Am 27. Auguft erfchien 
Sir Ralph Aberrromby vor dem Helder, an der üußerflen Spike von Nord⸗Holland 
und fette feine 12,000 Engländer an’d Land. Zwar wehrte die bolländifche Armee 
unter General Daenbeld der Landung, allein fie konnte dem Ungeflüm der Rothrbde 
nicht widerftehen und mußte fich auf Alkmaar zurüdgiehen. Der englifche Anführer erließ 
eine PBroclamation, worin er erklärte, daß er ald Befreier der Niederlande komme. Diefer 
Bekanntmachung war eine Anſprache des Fürften von Orange, aus Hampton » Koınt 
von 28. Juli Datirt, binzugefügt, worin er verfprah, Daß er feinen Sohn, den 
Erbprinzen, unverzüglich fenden würde, um fih an die Spige feiner Landsleute 
zu fiellen; endlich auch eine Kundmachung des Erbprinzen ſelbſt, worin er alle 
Perfonen, die vor dem Einfall der Franzoſen Die öffentlichen Gefchäfte in den 
fleben Brovinzen geführt hatten, aufforderte, ihre Amtöverrichtungen wieder aufe 
zunehmen. Am 30. Auguft lief die englifche Flotte, unter dem Admiral Mitchell, 
in den Vlie ein und forderte den bolländifchen Admiral Story auf, fih zu ergeben. 
Des Letztern Schiffsvolk hißte die oraniſche Flagge auf, fihrie Oranfe boven! nahm 
die Offiziere gefangen und übergab fi den Engländern. Eine zweite Abtheilung der 
holländiichen Flotte, die im Neuen Tief vor Anker lag, folgte diefem Beifpiele und 
übergab ſich vem Capitän Winthorp, 12 ausgerüftete und bemannte Kriegsfchiffe und 
13 kleinere Fahrzeuge fielen fo in Die Gewalt der Engländer und wurden nach Dat- 
mouth gefchicht. Abercromby, der die zweite Diviflon des englifchen Heeres erwartete, 
die mit den nämlichen Schiffen herüber geholt werden mußte, die ihn felbft nach Hol⸗ 
land gebracht hatten, hielt fich auf der Defenfive. Allein an 10. September wurde et 
in feiner Stellung binter der Zijp von der franco=batapifchen Armee, unter Daendels 
und 16,000 Mann ftarf, angegriffen. Er wies dieſen Angriff mit großem Verluſt 
auf Seiten des Feindes zurück, Fonnte aber den Sieg, wegen Mangels an MReiterei, 
nicht verfolgen. Zwei Tage fpäterr Fam der Herzog von Dorf mit den Net 
der engliſchen Völker; der Herzog übernahm nun den Oberbefehl. Die Ruſſen aber 
fonnten erſt zwifchen dem 14. und 21. landen. Diefe Verzögerungen: gaben dem Frans 
zofen- Anführer Brune Gelegenheit, fich zu verflärken und das Land, welches die Alltirten 


‘ 








148 | Alkohol — Alkohol⸗Vergiftung. 


durchſchreiten mußten, unter Waſſer zu ſetzen. Am 19. griff der Herzog Pelten an; 

afein linker Flügel unter Abercromby beſetzte die Stadt Hoorn, ohne einen Feind ge⸗ 
ſehen zu haben; das Centrum, bei den der Herzog in Berfon war, errang einen glin- 
zenden Sieg bei Alten-Karöpel; der rechte Flügel aber, faft ganz aus Ruſſen beſtehend, 
lieg fich bei Bergen umgehen, und mußte ſich mit jeinem Anführer, dem General 
Hetwann, den Franzofen ergeben. Das bielt aber den Herzog von Dorf nicht 
ab, den General Brune wieberholt anzugreifen; am 2. Dectober fam es vor Alkınaar 
zu einem beftigen Gefecht, in Folge defien Brune gezwungen würde, in die Stellung 
von Beverwiff am D zurüdzugehen. Hätte der Herzog nun nicht gezögert, feinen Vor 
theil zu verfolgen, fo würde er ohne Zweifel die Franzofen aus Holland hinausgetrieben 
haben; alfein das Zaubern brachte ihm Unheil; und ald er dad Verſäumte am 6. Dr: 
tober durch einen Angriff bei Gaftricum mit ſchwachen Kräften nachholen wollte, erlitt 
er einen fo empfindlichen Verluſt, daß er ed für das Beſte hielt, in die Stellung der 
Zijp zurückzugeben und an die Raͤumung Hollands zu denfen. Er ließ fich mit Brune 
in linterhandlungen ein, die zu einer Gapitulation, führten, welche am 18. October 
179 in der Stadt Alkmaar unterzeichnet wurde. So endigte ein Unternehmen, dad - 
England ungebeure Summen gefoftet hatte. Die Nation tröftete ſich mit der Beſih⸗ 
nahme der holländifchen Flotte! 

Alkohol — Alkohol - « Vergiftung. Mit dem Ausdrucke Alkohol begreift bie 
Wiffenfchaft eine ganze Reihe von Körpern verfchiedenen Urfprungs, aber gleicher Be 
ſchaffenheit und gleichartiger Zufammenfegung. Der Alkohol ift das Product verſchie⸗ 
dener, der geiftigen Gaͤhrung und Deftillation unterworfener Subftanzen. Um ihn 
möglichft rein und waflerfrei (abfoluter Alkohol) zu erhalten, ift eine oft wiederholte 
Deftillation und ein Zuſatz von Waller einfaugenden Subftanzen ndthig, und enthaͤlt 
er dann in hundert Theilen: 

52,23 Kohlenſtoff, 
13,21 Waſſerſtoff, 
34,4 Sauerftoff. 

"ge nachdem der Alkohol aus dem Weine, den Weintreftem, dem Honig, dem 
Zuckerſyrup, dem Neid, dem Getreide und den Kartoffeln gewonnen wird, heißt er 
Sranzbranntwein (Cognac), Rum, Arac, Korn und Kartoffelbranntmein. Der Alkohol 
ift die Baſis aller beraufchennen Getränke, wer Bier oder Wein trinkt, genießt ebenio 
gut Alkohol als der, welcher Meth und Branntwein zu fich nimmt, und entfernt man’ den 
Alkohol aus dem Safte der Neben, aus dem gegohrenen Malzgebräue, fo haben jie 
alle Kraft verloren und find ein ſchales Gemenge, nicht vergleichbar dem Trunke aus 
‚fprudelnder Felfenquelle. Zu allen Zeiten, bei allen Völkern, unter allen Himmeld- 
fteichen ſuchte und fand der Renſch geiftige Getränke. Die Tartaren beraufchten fd 
in gegehrener Stutenmilch, die Babylonier und Indier beuteten die Palme und Kofod- 
nuß zur Erzeugung von Alkohol aus. Der Deutfche ertrank fi Muth und Kraft 
aus dem mit Bier und Meth gefüllten Trinkhorn; der fein gebildete Roͤmer und Grieche 
ergögte fi) an dem clafflfchen Blute der Balerner- und. Eypern- Traube, aber Ale 
tranken — dem Alkohol zu Liebe. Um diefen Stoff aus rein zuderhaltigen Flüſſig⸗ 
feiten, fpäter aus flärfemehlhaltigen Stoffen zu ziehen, bedurfte ed der Kenntnignahme 
der Gährung und Deftillation. Die erften Spuren diefer Wiffenfchaft finden fich bei 
den gemerbfleibigen Mauren. Albukafen (1122), ein maurifcher Chirurg md Arzt, 
binterlieh ein Werk, in welchem eine Beichreibung der Deftillation enthalten if. Er 
erzählt, daß Die durch Hitze erzeugten Dämpfe aufgeftiegen und durch falte Röhren 
geleitet fi wieder zu Flüſſigkeiten verdichtet hätten. Urſprünglich wurde dieſer nur 
aus Wein erzeugte Alkohol zur Bereitung von Mebicamenten, Tineturen benugt und 
acqua di vite (Wafler des Weinftods) genannt. Erſt fpäter, ald man ihn aus ver- 
ſchiedenen anderen Stoffen zu bereiten verftand, als die eine Erfindung immer neue 
bervorrief, ale man vom Weine zur Traube, von der Traube zur Bierhefe überging 
und ed verftand, aus legterer Alfohol zu produciren, wurde die Bierhefe Die Brüde, 
auf welcher man zur Gewinnung des Alkohol aus Getreide, der Kartoffel ꝛc. gelangte. 
Deutichland, die Heimath der Biere, ift das eigentliche Geburtsland der Hefe, und zu 
der Zeit, ald man letztere behufs der Darftellung des Alkohol benugen lernte, erfchienen 








Altehel — Alfohol-Bergiftung. 4I 


in unferem Baterlande die gebrannten Wafler in den verfchiedenften Formen, je nadh= 
dem fie mit Gewürzen, Anied, Kümmel u. f. w. verfegt waren. Auch bier jpielte der 
Alkohol zuerft ald Medicament cine Rolle und bedurfte der Anpreifung als Heilmittel, 
um fich neben dem beliebten Bier und Wein Geltung zu verſchaffen. Es iſt unglaub⸗ 
lich und wir müſſen es zur Schande der Aerzte geſtehen, wie der Alkohol gerade von 
dieſen allgemein als Univerſalmittel angeprieſen wurde. Wir beſitzen Gedenkblatter 
aus den Jahren 1483—84, welche documentiren, daß dad Volk von den Aerzten 
gradezu zum Genuffe des Alkohols verführt wurde. Aber auch von anderer Geite 
wurde in ungebundener Rede und Verſen das Lob des Branntweins geſungen. Aus 
einem Schriftchen dieſer Zeit erhalten wir die traurige Gewißheit, daß „ſchier Jeder⸗ 
mann viel Branntwein trank.“ Es gab Branntweinbuden und Schenken, und man 
war int Verbrauche deſſelben unmäßiger, wie jetzt irgendwo. Dieſer tollen Wirth- 
fchaft verfuchte zuerfi ber Landgraf Moritz von Heſſen (1601) durch einen Orden der 
Mäßigkeit Schranken zu ſetzen, wie wir hören, mit geringem Erfolge, aber auch andere 
verſtaͤndige Fürſten fanden ſich veranlaßt, Geſetze für, die Beförderung der Mäßigkeit 
und beſonders Beſchraͤnkung des Brannweingenuſſes aufzuſtellen. Die- Frankfurter 
verboten die Verfaäͤlſchung des Weines mit gebranntem Wafler bei ſtrenger Strafe; in 
Augsburg, Köln, Wien, Regensburg ıc. durfte Fein Bürger Wein verzapfen, ber nicht 
vorher durch beeidigte Sachverftändige auf Alkoholzufag geprüft war. 

In unfern Tagen wird der Alkohol aus fo vielfachen Stoffen bereitet, er wird 
in jo mannichfacher Form confumirt, daß es unmöglich ift, feftzuftellen, welche Mengen 
defielben in einer Provinz, gar in einem Lande alljährlich verbraudjt werben. Aus ber 
Kenntnißnahme der interefianten Skizzen Schadeberg's, beſonders des Artikels über 
Brauntwein und Brennereien, find wir in den Stand geſetzt, anzugeben, wie viel uns 
gefähr Alkohol von den Bewohnern Europa's in dem Weine allein conjumirt wird. 
Die Weinernte Europa’ Tiefert ungefähr 113 Millionen Eimer oder 6780 Millionen 
preußifche Quart Wein. 

Europa zählt 276 Millionen Seelen. Die Stärke der europäifchen Weine und 
san ihr Alkoholgehalt ift nach dem Gewächfe fehr verfchieden und variirt von 6 bis 

20 pCt. Rechnen wir 10 pCt. ald das Mittel, fo trinkt Europa nur.im Weine 678 
Millionen Quart waflerfreien abfoluten Alkohol, macht auf den Kopf 24—25 Quart. 
— Bir find ohne allen Vorbehalt die ausgefprochenfien Feinde der befonderd in 
großen Städten, aber auch nicht felten auf dem Lande herrichenden Branntweinpeft, des 
Mißbrauchs aller Spirituofen, wir bedauern, daß unfere Mäßigkeitövereine nicht mehr 
auszurichten im Stande find, aber wir fönnen es auch nicht unterlaflen, allen Denen, 
welche den Schnaps, den der Holzhauer des böhmifchen Urwaldes, der Eichäfelber 
ne überall trinkt, verfluchen, recht eindringlich zuzurufen: „Bedenkt, daß ihr 

den Alkohol im perlenden Champagner, im feurigen Tokayer ebenfo gut und ſchlecht, 
nur in eimer gefälligeren Form, in lieblicherem Gemifch zu euch nehmt und Herz und 
Sinn daran erfreut.“ 

. Der Alkohol ift der Vertreter der fpirituofen Mittel in der Mebicin überhanpt. 
Daß er in mäßiger Weiſe und verdünnter Form anregend und belebend auf den Or 
ganismus wirkt, ift hinlänglich bekannt. In großen Gaben dagegen auf einmal ge- 
nommen, zerflört er das organifche Gewebe, er entzündet die Theile, auf die er direct 
einwirkt, den Mund, die Speiferöhre und den Magen, oder tödtet durch Ueberhäufung 
des Gehirnd mit Blut, indem er fchlagflugähnliche Zuftände herbeiführt. Eine gerin» 
gere Form der Vergiftung (Torication) beobachtet man bei Eleineren Gaben des Als 
fohol, in Kolge deren der Zuftand des Rauſches eintritt, welcher fich in potenzixter 
Weile zur Trunfenheit geftaltet. Die Symptome des Rauſches find verfchieden, je nah 
der Goncentration der fpirituöfen Flüffigfeiten, der Gewohnheit an dieſelben, der Zeit- 
dauer, in welcher ſie genoſſen werden, und ber jedesmaligen Beichaffenheit des biefelben 
aufnehmenden Magens und feines Inhaltes. Die allgemeine Belebung, die Gemüths⸗ 
erbeiterung und Steigerung der Phantafle, welche bei mäßigem Genuß fpirituöfer Ges 
tränfe vorwaltend waren, nehmen beim Raufch die Form der Eraltation und Sinnedauf- 
regung an. Die Bernunft tritt unter die Herrfchaft der thierifchen Begierden, Die 
Ideen und Gemüthöftimmungen ändern ſich raſch und ohne Conſequenz; Heiterkeit 


N 








730 Alforan und Allah. Allahabad. (Provinz.) 


wechfelt mit Trübfinn, Zuneigung mit Haß, Singen und Lachen mit Jammern und 
Weinen. Das Geficht ift geröthet, das Auge häufiger trübe und gläfern, als lebenbig. 
Die Sinneöwerfzeuge fungiren mangelhaft und nehmen äußere Eindrücke unvollfonmen 
und verworren auf; der taumelnde Gang, die Iallende Sprache documentirt eine der 
Aufregung folgende Erfchlaffung‘ der Müdenmarkänerven. — Wenn fi alle diefe Er: 
fcheinungen fteigern, fo tritt die Trunkenheit mit vollfommener Depreifion und Apatbie 
ein, die Gefichtöfarbe wird bleich, die Sinne find vollftindig gegen äußere Eindrüde 
empfindungslog, die willführlichen Muskeln verfagen ihren Dienft, und der fo Bergif- 
tete flürzt regungdlos zu Boden. In der That ift jeder Rauſch eine acute Alkohol: 
Vergiftung, und wird als folche viel zu wenig gewürdigt, weil der Organismus 
bie Fähigkeit beftgt, fie oft und mit geringen, Turz anhaltenden Störungen zu ertragen. 
Wenn fich diefe acuten Toricationen häufig wiederholen, wenn der Orgamismus dieſer 
Attaquen müde zu fein ſcheint und ihnen nicht mehr widerfteben Tann, fondern dauernd 
erfrantt, fo’ tritt die chronifche AlfoholsVergiftung, die Alkohol⸗, Säufer-Dyscrafte ein. 

Durch die anhaltende Einwirkung des Alfohol= Giftes werden die Schleimhäute 
des Magens entzündet, verdickt und entartet (Magenkrebs). Der Appetit liegt gan 
Darnieder, es erfolgt des Morgens bei Wüftheit des Kopfes Schwindel und Wagen: 
frampf, ein reichliched Erbrechen von Wafler (vomitus matulinus), nach weldyem ſich 
der Kranke zwar etwas befler fühlt, aber nicht eher alle linbehagliäihkeit verliert, ala 
bis er wieder alkoholifche Getränke zu fich genommen hat. Später ‚geiellen fich krank⸗ 
bafte Veränderungen der Unterleibs » Organe hinzu, die Leber und die Nieren entarten, 
(die Fettleber der Säufer ift felbft dem Laien befannt), es bildet fich Waflerfucht aus, 
und mit dem Abnehmen aller intellectuellen Fähigkeiten ſchwinden die Kräfte, allgemeine 
Muskelſchwäche tritt ein und es erfolgt der Tod. 

Das durch Alkohole Bergiftung beobachtete eigenthbümliche Gehirnleiden, welches 
als Delirium tremens (Säuferwahnſinn) (ſiehe dieſes) beobachtet wird, iſt immer bie 
Folge chroniſcher Alkohol-Vergiftung und wird mit ſeltener Ausnahme nur bei denen 
angetroffen, welche ſich dem Branntwein, namentlich der Sorte ergeben, welche 
Fuſeldl enthaͤlt. 

Wir haben erwähnt, daß der Alkohol in concentrirter Form zerflörend auf die 
Gewebe einwirkt; deshalb ſah man bei Einfpribungen dejjelben in den Magen eine 
Entzündung des Letzteren erfolgen, welche töbtlich verlief, ohne eine Spur von Auf 
segung und PVBeränderung im Gehirn, ohne die Symptome des Rauſches zu entbeden. 
Der Rauſch in allen feinen Graben und Folgen dagegen, und mit ihm die acute und 
chroniſche Alkohol- Vergiftung, beruht auf Der Aufjaugung des Alkohole in das Blut. 
Wenn derſelbe fo verdünnt in den Magen gebracht wird, daß er dad Gewebe des Ley 
teren nicht augenblicklich zerflört, fo gebt er direct in das Blut über, circulirt mit 
demſelben und kann durch Deftillation, im Blut, dem Urin, der Galle deutlich nachge⸗ 
wiefen werden. Ogſton fand bei Der Section einer Frau, welde fih im Rauſch 
ertränft hatte, in den Gehirnhöhlen eine Menge von 4 Unzen, faft ein Tafſenkoͤpfchen 
Flüffigkeit, welche alle phnflkalifchen Eigenfchaften des Alkohole an ſich trug. Die 
Ausscheidung des den fpirituofen Flüffigkeiten beigemengten Alkohols aus dem Orga 
nismus erfolgt verhältnigmäßig fehr fchnell und auf verfchiedene Weiſe. Größtentheild 
durch die Runge und durch die Nieren. Der Geruch nad Branntweingenuß beim Aut 
athmen ift befannt und Tann felbft noch nach längerer Zeit, wenn bie ſpirituoſen Flüſſig⸗ 
„keiten längft den Magen vpaſſirt haben, wahrgenommen werden, und wenn man Thieren, 
welche nicht brechen, (Kanindyen) Alkohol in den Magen fpribte, jo Eonnte noch Tag 
lang darauf eine Alkohol-Ausdünſtung aus den Lungen wahrgenonmen werden. 

an oran und Allah f. Koran. 

Allahabad, eine von den nordweſtlichen Provinzen ber Präfidentfchaft Bengalen, 
liegt öflfich der Provinz Agra und zerfällt in die fünf Diftricte Allahabad, Caunpur, 
Futtehpur, Humirpur und Banda, die zufammen einen Flaͤchenraum von 564 Deutſchen 
Geviertmeilen und eine Bevölkerung von 4,526,000 oder eine relative von 8022 Seelen 
haben. Die Hauptftabt diefer Provinz und der Sitz der unter dem Lieutenant⸗Governor 
von Bengalen ſtehenden Berwaltungsbehörden der Nordweſtprovinzen dieſer PBräfldent- 
Ichaft, welche ſich bis vor Kurzem in Agra befanden, ift 

















Allahabad. (Skabt.) | 751 


Allababad, das feinen Namen von den mufelmännifchen Eroberern Indiens er- 
bielt, welche Hier ald Denkmal ihres Glanzes eine an Schönheit faft unvergleichliche 
@itadelle, mehrere durch ihre zierliche Bauart bewunderungswürdige Gräber und einen 
Garten ſammt dem Serail der Kaifer hinterlaffen haben. In der Stadt felber finden 
fich Feine Ueberreſte jener Pracht, Die ein Reſidenzort erwarten ließe, der außerdem fo- 
wohl für den Handel der neuen Befiger, als für die Befefligung ihrer Herrſchaft in 
Hindoftan, fo gut gelegen war. Außer dem Namen und den gedachten Bauten ent- 
hält fle wenig Spuren der mongolifchen Kroberung, und die mubhamebanifchen Ein- 
wohner find gering an Zahl und ebenfo unbedeutend binfichtlich des Reichthums, des 
Ranges uud der Talente. Die Stadt ift faft gänzlich dem Heidenthum anheimgefallen, 
wie fie denn von jeher ein weitberühmter Wallfahrtdort der frommen Hindus war, Die 
hierher wegen der Bereinigung zweier heilig: gehaltenen Ströme zu pilgern pflegten. 
Allahabad liegt auf der äußerften Spike ded Doab, jener fruchtbaren Erdzunge, die 
den Ganged von Diumna trennt; die Stadt wird daher von allen Kaiten für heilig 
gehalten, und find fchon andere liferfireden längs ver beiden Flüffe, hunderte von 
Meilen weit, jeden Morgen und Abend, bei Sonnenauf» und lintergang, voll betender 
und fich badender Hindus, und an allen Pilgerörtern die Braminen. bereit, möglich 
viel Geld einzutreiben, indem ſie lehren, daß die Wirkſamkeit des Bades ſich nah der 
Größe des ihnen dargebrachten Opfers richtet, und indem fie mit Strafe flatt Ber 
gebung der Sünden drohen, wenn man ihnen zu wenig giebt: jo ift dennoch Feine 
Ufergegend von diefen Pilgern fo zahlreich und fo mafjenhaft befucht, als die des 
Ganges bei Allahabad. Hier, wo diefer Fluß, die Tochter Siwa's, die Göttin der 
Reinheit vepraäfentirend, durch die Vereinigung mit dem Djumna, einer Tochter Der 
Sonne, doppeltes Anfehen erlangt, flürzen fich jährlich Hunderttaufende von Pilgern 
in feine Sluthen und tragen mit feinem Waſſer gefüllte Gefäße jn ihre Heimath zuräd. 
Der heilige Ort, wo die beiden Klüffe ſich vereinigen, dient. gemeiniglich zur Vollziehung 
mehrerer ſchrecklicher Gebräuche, befonderd des Mordes an Kindern und an erwachfenen 
Perfonen. Während der erflere Mord, lediglich um die Koften der Auferziehung von 
Töchtern zu vermeiden, bei vielen Klaffen der Hindus früher öffentlich im Schwunge 
war, jegt aber heimlich verübt wird, betrachtet man allgemein den Yluch der Unfrucht⸗ 
barkeit ald das größte Mißgefchic der Ehe. Sind Gebete und Gefchenke an die Bra⸗ 
minen ohne Wirkung geblieben, fo verfprechen die Eltern nicht felten der blutdürſtigen 
Göttin Durga das erfigeborene Kind zum Opfer, und wenn ihr Wunfch in Erfüllung 
gegangen ift, halten fie fich auch zur Vollziehung ihres Gelübdes verpflidtet. Ob⸗ 
glei nun diefer Mord, unter weldyen VBorwande er auch immer vollbracht werden 
mag, von der Englifchen Regierung fireng unterfagt ift, fo wiſſen die Eingeborenen 
ihn dennoch indgeheim zu begehen; eine kleine Gabe Opium, die dem neugeborenen 
Kinde beigebracht wird, reicht bin, es zur ewigen Ruhe zu befördern, ohne Daß über 
den fcheinbar natürlichen Tod bei dem Mangel einer äußerlichen Verletzung eine Unter- 
ſuchung angeftellt wird. Auch bäalt es nicht fchwer, wenn die breite Stromfläche des 
Ganges bei der Diumnamündung mit zahlreichen Booten bededt iſt, das Schlachtopfer 
in das Wafler zu werfen und das Greigniß alddann für einen Zufall auszugeben; die 
religiöfen Borurtheile der umgebenden Menge verhindern meijtend, daß die öffentlichen 
Behörden Kunde davon erhalten; zugleich ift der Fatalismus, welcher die Hindus in 
der Gefahr für fi und für Andere unthätig macht, zu groß, ald daß fie verfuchen 
würden, einen im Ertrinken begriffenen Menfchen aus dem Wafler zu ziehen und zu 
retten. — Wan jagt, die Braminen hielten fih, in der Vorausſetzung, die Göttin 
Durga könne ſich verfühnen und geneigt machen lafien, auf das Dargebrachte Opfer zu 
verzichten, etwas weiter unterhalb des Stromes in Booten bereit, Kinder, die ins 
Waſſer geworfen wurden und nicht gleich ertranten, herauszuziehen, doch werben Diefe 
nicht ihren Eltern wieder zurückgegeben, fondern von ihren Rettern behalten und zur 
Berrichtung religiöfer Dienfte auferzogen. Haben die Eltern ihr neugeborened Kind zu 
lieb, um es den Wirkungen eines übereilten Gelübdes preiözugeben, fo ſtürzt ſich Dies 
beabfichtigte Opfer, wenn es zu reiferen Jahren fommt, aus Gewiſſensſerupel, zumal 
wenn die Familie Unglüc hat, nicht felten jelbft in den Strom. Wie nun die Bemühungen, 
dem Kindermorde zu fleuern, Seitens der Engländer, denen man gern einen Vorwurf dar⸗ 





2 Allahabad. (Stabt.) 


aus macht, daß fie nicht genug Gewalt anwenden, um diefem auf der ausfchweifendſten 
religiöfen Schwärmerei beruhenden Morde gänzlich Einhalt zu Thun, im Ganzen dennoch 
mit einigem Erfolge gekrönt find, fo daR diejer Mord gegen früher weniger häufig vor: 
kommt, fo haben ſie auch Die Genugthlung, daß die in älteren Zeiten ebenfalld bier, an 
der Mündung der Djumna in den Ganges, dargebrachten Opfer an erwachfenen Perfonen, 
ebenfo graufam als unfinnig in einer Religion, Die gegen die unvernünftigen Thiere 
fo große Menfchlichfeit vorjchreibt, gänzlich unterbrüdt find. @in Jüngling und ein 
Mädchen, welche die zwei vornehmften Gottheiten des Hinduhimmels vorftellen follten, 
wurden von der Volksmenge zuerft auf einem Wagen umbhergefahren und wie Gott 
beiten verehrt, dann aber ind Wafler geftürzt, in dem Glauben, daß das gfüdlide 
Baar auf dem heiligen Strome geraden Weges in das Paradies der Seligen binüber- 
getragen werde. Gegenwärtig nimmt man zu dieſer gößendienftlichen Feier ftatt der 
Menſchen Figuren aus Thon, wodurch jedoch das große Feſt ziemlich in Mißachtung 
gekommen ift, da es jet nur noch in einer Mummerei befteht, die in einer gewiſſen 
Zeit des Jahres zur Beluftigung des Pöbels dient. Ein anderes furchtbares Schaus 
fpiel dieſer Art pflegte zum Andenfen des Sieges, den Rama und fein Waffengenofle 
Hunaman mit Hülfe eined Heeres von Affen über den Niefen Ravana davon trug, 
aufgeführt zu werden. Die unglüdlichen Gefchöpfe, Die gemählt wurden, die Haupt 
rolle 'zu fpielen, verfchwanden am Ende des Feſtes und famen nie wieber zum Bor: 
fehein. Das uneingeweihte Volk hegte Den Glauben, ſie feien von dem göttlichen Sein 
abforbirt und von den Gottheiten abberufen, die fie vorgeftellt Hatten; das Geheimmiß 
war nur den Prieftern bekannt, die zu Ende des dabei ftattfindenden Mahls ihnen ver- 
giftete Speifen reichen und fie in den Ganges werfen ließen. Die Mongolen hatten 
fih ſchon dieſen barbarifchen Gebräuchen widerfeßt, Tonnten fie aber-nie dauernd unter 
drüden; hierin find Die Briten glüdlicher gewefen, denen es aber, aller energijchen 
Maßregeln ungeachtet, bie jetzt noch nicht gelungen ift, den fo häufig vorkommenden 
Selbſtmord fanatifsher Hindus an der Stelle des Zufammenflufies der beiden gropen 
Ströme zu verhindern. Solchen, die fich dem Dpfer-Tode weihen, werden, nachbem fle 
von den Prieitern gefegnet find und. fie diefen den größten Theil oder das Ganze ihn 
Habe vermacht haben, an Hände und Füße, fo wie an den Leib große irdene Gefäße 
gebunden, deren Boden fein durchlüchert ift, und fie dann in den Fluß gehoben. Heilige 
Gebete und Gefänge anflimmend, envarten fie „ohne fcheinbare Erregung”, wie von 
Mugenzeugen behauptet wird, den gewiffen, langfam fich nähernden Tod. Sobald jene 
Gefäße voll Wafler find, verfinken fle. 

Das merfwürbigfte Gebäude in Allahabad ift Die Citadelle, welche auf einer in 
die beiden Ströme bineingehenden Landzunge gebaut ift und ungeachtet der Aenderun⸗ 
gen, die mit ihr aus Rückſicht der wirkffameren Befefligung vorgenommen wurden, noch 
Einiges von ihrem orientalifchen Charakter beibehalten bat. In majeftätifcher Groͤße 
erhebt fie fi aus dem Strome, in beträchtlicher Entfernung fchon fichtbar, und wäh 
rend der Megenzeit erlaubt der reißende Lauf der Gewäller feinem Boote, bei ungün 
figem Winde den Ganges hinaufzufahren. Dies trägt zur Feſtigkeit des Ortes weient- 
lich bei. Der Haupteingang zum ort ift von der Randfeite und von großer Pradt: 
eine gemwölbte Halle in gothifcher Bauart, über Die ein Dom bervorragt, erfcheint, mit 
—— von Blumen und Gold verziert, über dem weiten Portal und bilder ein? 

der fihönften Feſtungsthore. Das Fort William in Calcutta hat nichts, was fh 
damit vergleichen ließe, und auch das Hauptthor von Agra Tann fich mit ihm nicht 
meflen. Das Innere der Gitadelle enthält eine Neihe von Gebäuden, die nicht ganz 
ihrer urfprünglichen architektoniſchen Schönheit beraubt find und die, wenigſtens in 
zwei Jahreszeiten, einen ſehr angenehmen Aufenthalt gewähren. Von einem Balcon, 
der hoch aus einem Thurme hervorſpringt, genießt der Beſchauer eine Ausſicht von 
ſeltener Schoͤnheit auf vie reizende Umgebung, die eine größere Abwechſelung wohlbe⸗ 
wachfener Hügel und Thaͤler bietet, als gewöhnlich in den Ebenen Indiens zu finden 
if. Die Garnifon felbft ift ziemlich bedeutend und befteht in der Regel aus "mehreren 
Regimentern Gingeborener, fammt der zum Feſtungsdienſt erforderlichen Anzahl von 
Artileriften und Pionieren. Die Kafernen der Garnifon, fünf an der Zahl, wurden, 
wahrscheinlich angeftedt, ain 3. Juni 1858 ein Raub der Klammen. 














“= 


Allahabad. (Stadt.) _ 753 


Es giebt für den Europäer in Allahabad wenig Unterhaltung; die Mäßigeren 
nehmen ihre Zuflucht zum Billard, die Lefeluftigen finden in einem Bücherclub einige 
Zerfireuung. Den Geologen bietet DaB fellige Bett des Djumna ein Feld für feine 
Unterfuchungen dar, das er in dem mürben Boden der Gangesufer umfonft fuchen 
möchte. - Unter werthlofen Kiefeln findet man dort gelegentlich merfwürbige Stüde von 
Karneol und feldft noch Eoflbarere Steine. Das gegenfberliegende Gebiet von Bun=- 
delfund ift wegen feiner Diamanten "berühmt, die an einigen Stellen in beträchtlicher 
Menge gefunden werden und an Werth und Feuer denen auf dem Nella-Mella-Gebirge, 
an beiden Seiten des Kiſtna und am Pennair vorfommenden, nach ihrem Schleiforte, 
dem alten Golfonda, allgemein Diamanten von Golfonda geheißen, nicht nachftehen. 
Die Schifffahrt auf dem Djumna war früher fehr durch Hinderniffe unterbrochen und 
wegen der Menge von Felfen, die über die Oberfläche fich erhoben und tüdifch unter 
dem Waffer Tauerten, fehr gefahrvoll. Die Befeitigung diefer Hinderniffe wurde einigen 
Ingenienr-Offizieren übertragen, die fi, von Allahabad aus nach verfchtedenen Bunften 
des Fluſſes begaben, die Felſen in allen Richtungen fprengten und die gefährlichen 
Untiefen des Fluffes ausgraben ließen, fo daß jegt Die größten Boote, deren man fich 
zur Binnenfchifffahrt bedient, Die reißende Strömung auf- und abfahren fünnen. Der 
Handel auf dem Djumna ift bebeutend; große Ladungen von Baumwolle, das Erzeugniß 
der anftoßenden Gegenden, werden auf dieſem Strome nach Humirpur, Etaweh, Agra 
u. ſ. w., und auf dem Ganges, der bier, in einer Entfernung von 140 deutſchen Meilen 
vom Meere, beim niebrigften Waſſerſtande noch eine Tiefe von 34, beim höchften aber 
eine von 45 Fuß bat, nach allen unterhalb Allahabad Tiegenden Orten und nach dem 
Meere zu verfchifft, um nach Englands Fabriken übergeführt zu werben. Zur Fahrt 
zwiſchen Allahabab und Galcutta gebraucht man jept für Die Berg-, alfo für die lang⸗ 
famere Fahrt im Durchſchnitt 14 Tage; vor Einführung der Dampffchifffahrten zwifchen 
diefen beiden Orten, deren Bewohner dieſe fchnelle Verbindung den Bemühungen Lord 
. Williom Bentinck's zu verbanfen haben, waren zur Flußreiſe von Allahabad nach der 
Hauptſtadt des Indo-britifchen Neiches gewöhnlich 82 Tage nöthig, d. 5. fo viel Zeit, 
wie man zu mancher Fahrt von Portsmouth nach dem anglosindifchen Emporium be= 
darf. Troß der günftigen Lage Allahabad's an zwei Flüffen und den hierdurch nach 
den entfernteften Gegenden Indiens geöffneten Verbindungswegen ift der Handel, den 
feine Einwohner treiben, dennoch ein unbebeutender und befchränft fich, Die Baumwolle 
ausgenommen, nur auf wenige Artikel. Allahabad ift daher Feine reiche Handelsſtadt 
geworden, fondern ift ein veröveter Trümmerhaufen geblieben, von einem armen Volke 
bewohnt, defien Menge und Dürftigkeit der Stadt den Namen Fakirabad oder Bett- 
lerftadt zugezogen hat. Läßt fih auch nicht läugnen, daß in den beiden letzten Jahr- 
‚zehenten Allahabad ein günftigered Ausfehen gewonnen md die Einwohnerzahl fi 
bedeutend vermehrt hat, fo daß fle jebt 72,000 Seelen unfaßt, fo ift Diefer militärifch 
jo wichtige Ort doch noch keineswegs eins ber großen Emporien für den Kandel in 
den oberen Provinzen Hinduftand geworden. Sind die profectirten und im Bau be- 
griffenen Eifenbahnen erft dem Verkehr übergeben, die Allahabad ebenfalls in ihr 
Neb aufnehmen werben, fo laſſen fich für die heilige Stabt günftigere Berhältniffe 
erwarten, doch haben in Indien die Anlegung von Eifenbahnen und deren Bau, wenn 
man auch von Bodenverbältniffen, Klima und Kaftenunterfchieden abftrahirt, — man 
erinnere fi nur, wie der Eifenbahnbau in dem cultivirten und mit allen Hülfsmitteln 
audgerüfteten England noch in den dreißiger Jahren kaum eine National-Angelegenheit 
war, wie er fich erft im Anfange der vierziger Jahre rafch entwidelte und dann zur 
Speculationsmanie wurde, die ungeheure Verluſte herbeiführte — mit zu vielen Schwie- 
rigfeiten zu kämpfen, als daß nicht manches Jahr dahinſchwinden follte, ehe Allahabad 
den großen Vortheil genießen wird, mit dem Nord» und Südweſten, fo wie dem Often 
des oftindifchen Reiches mittel8 Cifenbahnen in: Verbindung zu- ftehen. 

Die Rage 'Allahabad's wird für gefund gehalten, indeſſen iſt e8 dort feuchter, 
als an irgend einem anderen Orte des Doab. Nach den auf PVeranlaffung der eng- 
liſchen Regierung angeftellten wmeteorologifchen Beobachtungen beträgt die mittlere 
Temperatur des Mai, als des heißeften Monats im Jahre, 30,0 R.; April, Juni 
und Juli haben eine faft gleiche Durchfchnittö » Temperatur, 26,9, 26,0 und 25,5 °, 

Wagener, Staate- u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 48 


— 


E 


754, Allahabad. Provinz.) 


und im Januar, als der Fälteften Periode des Jahres, beläuft fich Die Monats » Tem 
peratur auf 15,8 °. 

Die reichen Modlemd ſowohl als Hindu's werden von ihrer Neligton aufgefor 
dert, Bäume zu pflanzen, Brunnen zu graben und öffentliche Gebäude aufzuführen, — 
Liebeswerke, die für ein Voll Bedürfniß find, das in einer Gegend lebt, wo Wafle, 
Schatten und der Schuß eined Daches unberechenbaren Werth haben. Der Buchſtabe 
diefer religiöfen Vorfchriften wird von vielen reichen Leuten auf dad Genauefte erfüllt, 





allein der Geift des Geſetzes zu wenig beachtet. Lngeheure Summen werden auf nu 
Gebäude verfchwendet, durch welche die Stifter ihre Namen auf Die Nachwelt zu bein 


gen hoffen, die aber, wenn fie nicht bei Lebzeiten des frommen Gründerd vollendet 
werden, nach feinem Tode frühzeitig in Trümmer fallen, da der Erbe lieber felbft einem 
neuen Bau unternimmt, flatt den feined Vorgängers zu vollenden, oder ältere Gebaͤude 


auöbeffern zu laflen, jo jchön und nüsßlich fie auch fein mögen. Die Ufer des Diumm 


bieten mehrere prachtvolfe Ghat's, d. h. Treppen oder Rampen, die an die Flußufer 
führen und die Wafchungen in den heiligen Strömen ermöglichen, auf deren Bau 


der Hindu einen ungemein großen Lurus entwidelte; fie fallen aber, indem bie zu 


naͤchſt am Waſſer befindlichen Stufen mweggeriffen find, immer mehr und mehr in Trüm—⸗ 
mer, was anfänglicdy Durch eine geringe Ausbeſſerung würde verhindert worden fein. 
Die Provinz Allahabad fpielte eine bedeutende Holle in dem Kriege, der, be 
gonnen durch die in Mirut am 10. Mai 1857 audgebrochene Empörung unter dem 
3. leichten Gavallerie- und dem 11. und 22. Infanterie» Megimente, die britiſche 


Herrfchaft in jenen unermeßlichen Länverftreden dem Untergange nahe brachte. Ben 
“auch die Stadt Allahabad felbft im DBergleich zu anderen Orten geringeren Antbeil an 


den Schauderfcenen der weitverzweigten Meuterei genommen, wodurch ſich dieſer Auf: 


ftand fennzeichnet, indem von bier das 6. Infanterie» MNegiment gleich nach fein 
Empörung am 4. Juni 1857 und nach Ermordung feiner Offiziere fo wie einigem 


anderen Ercefien nach Delhi aufbrach, jo war und bleibt viefe Stadt bei den Be— 
mühungen zur Niederwerfung der Empörung ungemein wichtig als Stütz⸗ und Aut 
gangspunft für militärifche Maßnahmen ſeitens der britifchen Regierung. Kein Or 
der Provinz, ja jogar des ganzen Gebietes, auf dad fich der Aufftand (ſ. darüber den 
Art. Indien) bis jet erftredte, nur vielleicht Delhi und Lacknow ausgenommen, hi 
ein Mal durch die Beftialitäten der entmenfchten Sipahi's, ein ander Mal durch jm 
MWaffen- und Heldenthaten der 1300 Hochländer unter dent leider zu früh verblichenen 


Havelock eine ſolche Berühmtheit erlangt ald Caunpur, eine der größten oſtindiſchen 
Militärflationen, am rechten Ufer des Ganges liegend, mit einer Befagung von ges 


wöhnlih 8000 Mann und einer Bevölkerung von 108,800 Seelen. 

Caunpur ift eine bedeutende Handelsſtadt und alle europäischen Artikel der de 
quemlichkeit und des Luxus findet man, freilich zu etwas hohen Preifen, hier. Die 
Bazard ftehen denen Feiner Stadt in Indien nah. Mind» und Hammelfleiſch, Zilk: 
und Geflügel find von vorzüglicyer Güte, und Vegetabilien jeder Art kann man äufali 
wohlfeil haben, da die Eingeborenen bei der großen Nachfrage ausländifche Gewätlt 
für den Markt ziehen. Außer den europäifchen Buden und Waarenlagern, die mit 








englifchen und franzöfifchen Handelsartikeln angefüllt find, gehören auch einige Rage 


zine den Hindud und Muhamebanern, und die Jumeliere zu Gaunpur geben denen ben 


Delhi in Nichts nach. Caunpur ift auch wegen feiner Sattelgeuge, Pferbegefhim 


und Handſchuhe in Indien berühmt. 

Unter den andern Orten der Provinz Allahbabad, wie Banda mit 33,50 
Einw., Futtehpur mit 21,000 € und Humirpur am Djumna, eigentlid . au 
mehreren neben einander liegenden Dörfern beſtehend, haben die beiden leßteren erſt Wid- 
tigfeit dadurch erlangt, daß fle in dem jegigen Aufftande der Schauplag von Schlachten 
geworben find. Nörblich von Caunpur liegt Bithur. In die Nähe dieſes Ortes battt 
ſich Nena Sahib, der furchtbgrfte und gefährlichfle Feind der Engländer, ein Mahratt 


der Bramanenkafte, welchen der letzte Indifche Peiſchwa⸗-Fürſt dem Landeögebraud ge 


mäß aboptirte, ohne daß feine daraus folgenden Berechtigungen von den Engländen 
anerfannt wurden, nach der Ermordung der Befagung und der europälfchen Einwohn 
Gaunpur’3 zurüdgezogen und erwartete den General Havelock, der am 16. Juli 





Allahabad. (Kriegsfchauplag.) | 255 


bei Tagesanbruch mit feinen Truppen zwei (englifche) Meilen „vor der feindlichen Po⸗ 
fition anlangte. Nach dreiſtündiger Raſt rüdten die Briten zum Angriff vor. Ihre 
Stärke belief ji auf 1300 Europäer und etwa 700 bis S00 Siehe, — von den 
Hindus in Sprache, Religion und Sitte verfchiedened Miſchlingsvolk Des nordweſt⸗ 
lichen Indiens —, während Nena Sahib 13000 gut bewaffnete, von ihm felbft be⸗ 


fehligte Sipahis zählte. Der General beſchloß, als er die Pofltion der Rebellen ge⸗ 


wahrte, fle in der Flanke zu faflen, ſchob feine Hochlänver gerade vor, auf der Linken 
gededt durch die Madras- Füflliere und‘ die vom 64. und 84. Königlichen Infan⸗ 
terie - Reginiente mit den Kanonen rechts außer Sehweite ded Feindes. Die Hoch⸗ 
länder gingen durch Kartätfchen-, Bomben- und Flintenfeuer ruhig und Taltblütig por 
und feuerten Eeinen Schuß, bis fie dem Feinde auf 50 Darbs. (145 preuß. Fuß) nahe 
waren, dann Frachten ihre Gewehre, und in unaufhaltjamem Sturmlauf nahmen fie die 
drei im Beſitz des Feindes befindlichen und eben wieder geladenen 24=Pfünder. Gleich- 
zeitig erflürmten Die Füſiliere vom 78. Negimente ein Dorf mit dem Bajonett; dies lag 
rechts von der feindlichen Poſition, und fo war Sahib’8 Flanke umgangen. Wie die 
Engländer durch das Dorf auf die rechte Flanke des Feindes zuftürzten, eröffnete dieſer 
von Neuem ſein Feuer aus einem großen Geſchützſtück, das ihm geblieben war, und 
die Engländer mußten Halten und auf ihre Artillerie warten; allein ihre Zugochfen 
waren fo lahm und abgematiet, daß nur eine kleine Feldkanone, die gegen die große 
des Feindes nicht auffam, in Pofition gebracht werden Fonnte. General Havelod, raſch 
entjchloflen, gab Befehl zu flürmen, und eine Compagnie des 79. leichten Infanteries 
Regiments nahm die Kanone, ehe man die Hand umdreht, troß ihres heftigen Feuers. 
Damit war der Sieg entfchieden. In Ermangelung von Bavallerie aber machten die 
Truppen Halt und lagerten dieſe Nacht außerhalb der Stadt. Leber den Berluft der 
Engländer waren die Angaben ſchwankend. General Havelod jagt in feiner Depeſche 
vom 17. Juli: „Der Feind war hinter einer Reihe von Dörfern flarf poftirt und bes 
firitt 140 Minuten lang hartnädig jeden Zoll breit Boden. Nena Sahib hat vor dem 
Gefecht alle gefangenen Weiber und Kinder barbarifch ermordet und heute Morgen vor 
feinem Rückzug nach Bithur das Pulvermagazin von Raunpur in die Luft gefprengt. 
»Ich konnte noch feinen Ausweis der Todten und Verwundeten zufammenftellen, aber 
ich veranfchlage meinen Berluft auf ungefähr 70 Mann, die großentheild vom Kartät- 
Schenfeuer fielen.“ Am 17. Morgens rüdten die Engländer in Baunpur ein; und ihr 
erfier Gedanke war, wie man fich denken kann, ihre gefangenen Landsleute zu retten. 
Man eilte nach den fogenannten Aſſembly⸗Rooms (Derfammlungsfaal), dem Haupt» 
quartiere .Nena Sahib's, wo, dem Gerüchte nach, 175 Brauen und Kinder eingefperrt 
jein follten. Uber zu fpat* Es war ein Anblid zum Berfteinern und Sterben. Ab⸗ 
gehärtet, und auf alle Schreden gefaßt, wie Die Sieger waren, — was ſich da ihren 
Blicken bot, übermannte fle; die Leute weinten wie die Kinder und brachen in verzweis 
felte Wuth aus. Der Hofraum von den Alfembly - Rooms ſchwamm in Blut, und 
darin bier und da ein zerrifiened Seidenkleid, ein Atlastuch, eine Haarlode! Nach der 
Ausfage der Einwohner hatte Nena Sahib den Tag vorher alle Gefangenen — außer 
den Weibern und Kindern 88 Offiziere, 190 Soldaten und eine Menge europsifcher 
Einwohner, im Ganzen gegen 400 Berfonen — fchlachten laſſen, die Frauen ließ er 
nadt audziehen, Föpfen und in einen Brunnen werfen, die armen Kleinen aber lebendig 
unter die verflümmelten Leichen der Mütter jchleudern. An einer der Wände des Haufe, 
worin die Gefangenen kurze Zeit verwahrt wurden, fand man einige Infchriften, angeblich 
von der Hand der Befangenen. Sie Tauteten: „Landsleute und Frauen, vergeßt nicht den 
15. Iuli 1857. Weiber und Kinder find bier im Elend, in der Gewalt von Wilden, 
welche weder Jung noch Alt fchonen. Mein Kind! Mein Kind! Landsleute, rächt 
es!“ Eine andere Infchrift enthielt Die Worte; „Wir find bier 250 Perfonen in die⸗ 
fem Kleinen von Schniug flarrenden Raume. Wir follen fämmtlich binnen zwei Tagen 
getöbtet werben. Gott räche unfer unfchuldig vergoffenes Blut. O Gott, nimm uns 
auf in dein heilige Reich. Miß C. ©., alt 183 Jahre. Rache, Rache, Landsleute, 
für die Leben Eurer Frauen und Kinder — unfer Blut wird zum Himmel fohreien, fo 
lange noch diefer Nena Sahib athmet!“ ) 

i) Belanntlid) rüdte Nena Sahib, fobald er von ber in Caunpur ausgebrochenen Empoͤ⸗ 

48* 








1) 





796 Allard. 


Herrſcht auch über jene Kataftrophe in Caunpur noch manches Dunkel und wird 
unter Anderm behauptet, daß Nena Sahib nicht Befehl zu dem entjeglichen Morde 
gegeben habe, fondern ihn zu verhindern bemüht gemefen fei, und iſt von den anges 
führten‘ Infchriften nur eine als echt anerkannt worden, fo fleht aber fo viel feit, daß 
die bier flattgefundene Metzelei, ob fle Sahib befohlen hat oder fie zu hintertreiben 
gefucht, unter den englifchen Truppen eine Empfindung, fehredlicher als Rachedurſt, 
wach rief. Wuthentbrannt eilte Havelock's Heldenfchaar nach einer Raſt vom 2 Ta 
gen nach Bithur, fand aber Nena Sahib nicht mehr anmwefend in feinem Schlupfwin- 
£el; fle brannte und jchleifte den Ort in Grund und Boden und führte 15 Kanonen 
mit fich fort. — In Verfolg der ferneren Operationen Seitens der Briten und de 
rebellifchen Sipahid wurde die Provinz Allahabad oft durchzogen mit einzelnen Heeres⸗ 
abtheilungen und in ihr verhältnißmäßig eine große Wahl Gefechte geliefert. Aubh, 
Gwalior, Kalpi, wo der Aufftand theil® eben unterbrüdt, Feineswegs völlig erſtickt if, 
theil8 noch in jeiner ganzen Gräßlichfeit wüthet, find unmittelbar angränzende Gebiete. 

Allard. Einer der zahlreichen unzufriedenen Militärd der napoleonifchen Armer, 
welche nach den Ereigniffen von 1815 Branfreich verliefen, um unter andern Führetn 
zu fechten, hatte fi der Bapitain Peter Allard, geb. 1783, der in allen Kriegen des 
Kaifers Napoleon gefochten und Adjutant des Marfchalld Brune geweſen war, nah 
Livorno begeben, um ſich dort nach Amerika einzufchiffen. Ein Zufall entſchied ihn, 
fih nach Oſten ftatt nach Welten zu menden; er ging nach Perflen, mo Abbad-Rirza 
damals ſich noch im vollen Glanze eines Neformatord fonnte, der freilich bald genug 
fih als eitel Dunft und Schein zerreißen ſollte. Dem jcharfen Blicke Allard's, der 
eine tüchtige Natur war und wider Willen Abenteurer, der dad wirklich hatte, wat 
dem Abbas-Mirza ganz fehlte, organifatorifches Talent, konnte die Hohlheit und Nichtig⸗ 
feit der Reformen des Abbas⸗Mirza nicht entgehen, er verließ Perfien nach kurzer Zeit, 
obgleich ihn Abbas - Mirza als Oberſt angeftellt hatte. Nach einem kurzen YAufent- 
halte im Afghanifchen Fam U. 1820 nach Lahore, wo er al& militärischer Lehrmeiſter 
in die Dienfte Rundſchid-Sings, des Maharadſchah der Sikh's trat. Er organifiete 
nun nach und nad) die Sifh- Armee nach dem Muſter der napoleonifchen und flieg von 
Würde zu Würde. Er war bereits commandirender General, ald er im Jahre 1835 
in Frankreich einen Befuch machte. Cr hatte ſich in Lahore verheirathet, brachte feine 
Familie mit ſich und ließ Diefelbe in Paris, als er 1836 nach Lahore zurückkehrte. Er 
wäre viel lieber in Frankreich geblieben, er ging aber zurüd, weil er dem Maharadfchah 
fein Wort gegeben. Die franzöftfche Regierung ernannte ihn zu ihrem @efchäftäträger 
am Hofe zu Lahore und fnüpfte durch ihn Verbindungen aller Art in Oſtindien an. 
rung Kunde erhalten, mit feinen 6 Kanonen, die er mit Grlaubniß der indifhen Regierung immer 
in einem Sätofe u Bithur gehalten hatte, dorthin, vereinigte fih mit den Nebellen und übt: 
nahm den Ober eich! in Perfon. Der Kommandant Caunpur’s, Generalmajor Sir Hugh Wheeler. 
30g fich mit der europäiſchen Beſatzung und den europäiſchen Einwohnern in eine Stellung zurüd, 
bie faum zur Hälfte befefligt und vielfach, dem feindlichen Feuer ausgefeht war. Unter den 9 
Menfchen, die bei ihm waren, befanden fi 330 Frauen und Kinder und 120 eingeborne Diener, 
und franfe Sipahise. Nena Sahib begann feinen Angriff am 6. Juni mit mweitüberlegenen Kräften 
an Mannſchaft und Gefhüg. Bloß zwei Stunden täglich fchwiegen feine Kanonen, und bicje Zeil 
benugten die Belagerten, um aus ihren einzigen Brunnen, den die Kugeln frei beftrihen, Waller 
zu holen. Viele Karben am Sonnenftidy, andere, befonders rauen und Kinder, an Nahrungt: 
mangel, bie meiften töbteten die Kugeln und Bomben, gegen die nur die ausgehöhlten Erdlocher 
hinter den Schanzen Schuß gewährten. Es wäre den Sipahis ein Leichtes geweſen, dieſe ſchwa⸗ 
hen Schugmauern nit Sturm zu nehmen, aber die Kartäiſchen und mehr.nod) das Bajonett fleß⸗ 
ten ihnen Reſpect ein. Obgleich Wheeler ſchon in den erften 14 Tagen, in benen er belagert 
wurbe, ein Drittel der Befagung einbüßte, fo verlor er dennoch nicht den Muth, fondern machte 
einen Ausjall nad) dem andern md trieb den Feind immer vor fid) her. Wäre nicht eine fo gre 
Anzahl Damen unter feiner Obhut gewefen, er hätte fid) leicht nad) Allahabad durchſchlagen fon: 
nen. Am 20. war nur noch für einige Tage Proviant vorhanden, und die Munition fing an zu 
jehlen. Am 24. bot Sahib eine Kapitulation an: ‚bie Engländer follten unbehelligt mit Frauen 
und Kinder nad) Allahabad abziehen. Nad den militärischen Regeln durfte General Zpeelec viel 
Kapitulation annehmen. Am 27. gingen die Engländer zum Ganges hinab, wo Boote für 
bereit waren. Gin Theil hatte ſich eingefchifft, ein anderer war noch am Ufer, als brei Kanonen: 
jhüffe fielen. Auf diefes Signal feuerten bie Meuterer von allen Seiten und bieben alle RA 
länder nieder, die den Kugeln entgangen waren. Die Frauen, die man mit den Kindern vorläung 
verſchonte, wurden nad) Caunpur zurüdgebradht, um ſie noch drei Wochen für das ſchreclliche 
Schickſal, am 15. Juli von den wilden Rotten erſchoſſen und niedergehauen zu werden, anjzufpaten. 








Alleghany. Alleinhandel. J 757 


Allard führte 1837 die Sikh's ſiegreich im Afghanenkriege, warf die Afghanen am 
12. Juli 1837 in ihre Berge zurück, ſtarb aber 1839 zu Peſchaver und wurde zu 
Lahore mit großem Pomp begraben. In fpäteren Kämpfen haben die Sikh's gezeigt, 
daß fie nicht umfonft in der Schule Allard's gelernt. Die Barifer Bibliothek Hat ale 
Gefchent Allard8 eine reihe Sammlung von merkwürdigen indifchen Münzen. 

Alleghany ift ein Der Geographie von Amerika angehöriger Name, der da ber 
zeichnet: — 1) das langgezogene Gebirgsſyſtem im öftlichen Theil von Nordamerika, 
welche von der Mündung ded St. Lorenzſtroms in füdweftlicher Richtung und gleiche 
laufend mit der Küfte des Atlantiſchen Dceand bis zu den Quellen des Alabama und 
deffen Nebenflüffe ungefähr 350 deutſche Meilen weit flreicht, gegen Abend in jeinen 
legten Audläufern und Hängen vom MififfippisThal begränzt wird, und im Wafhington- 
Berge, der im Staate NeusSampibire liegt, feinen Scheitelpunft mit 6240° Höhe über 
der Meereöfläche erreicht, indeß die mittlere Höhe des ganzen Bergzuged zu 3400’ an⸗ 
genommen werden Tann, was die DurchfchnittdsHöhe auch des Schweizer Jura ift, mit 
dem, mindeftend in der äußern Gebirgsgeftaltung, des Alleghany-Syftem große Achn- 
lichkeit hat, indem es eben fo langgeftredte Bergkaͤmme und zwifchen inne liegende 
Bergebenen aufmeift, wie der genannte Jura, (jiehe den Art. Amerika); ; — 2) einen Fluß, 
aus defien Bereinigung mit der Monangabela bei Pittöburg, im Staate Penniylvanien, 
derjenige Fluß entfteht, welchen die erften franzöfifchen Anſiedler in dieſer Gegend ben 
„ſchönen“ nannten, der-feit langer Zeit aber unter dem Namen Obio bekannt iſt, ent- 
fpringend in den nördlichen Gegenden von Pennfylvanien, dann aber durch ein Stüd 
vom Staate Neu⸗NYork fließend, der fchiffbar ift und durch Kanäle mit dem Erie⸗See 
ſowohl als mit dem Outario⸗See in Verbindung fieht. Alleghany iſt aber auch der 
Name — 3) von vier- Grafſchaften over Bountied in den Vereinigten Staaten 
von Nordamerifa, und zwar im Staate Neu-Mork, mit dem Gerichtsfig in Angelica ; 
im Staate Pennfylvanien mit dem Gerichtöflg in Pittäburg, Dem „Birmingham von 
Amerika“, wie Bruder Jonathan dieſe Stadt prahlerifch zu nennen liebt, mit 150,000 
Einwohnern; im Staate Maryland, mit dem Gerichtöflg zu Cumberland, auf dem 
Rüden und in den Thälern der Alleghanies, in einem der Mittelpunfte des Stein- 
kohlen⸗Bergbaus; und im Staate PVirginien, und zwar in deſſen Thal-Diftrict, womit 
ebenfall8 Die Lage auf Den Bergebenen zwifchen den Alleghany= Ketten bezeichnet ift, 
mit dem Gerichtsſitz in Covington, im Quellbezirk des James⸗Flußes, der zur Che⸗ 
ſapeake Bucht fließt; endlich auch — 4) einer Stadt, Alleghany⸗City, die mit der 
oben genannten Stadt Pittsburg zuſammenhängt, gleichfalls im Gebiet der Steinfoplen- 
Formation. 

Alfegiance (Oath of) f. England (Berfaffung). 

—355— ſ. Corregio. 

Alleinhandel. Ein Handelözweig wird zum Alleinhandel, wenn fein Betrieb das 
ausfchliepliche Necht einer Perſon oder Körperfchaft oder auch des Staates if. Dies 
Recht, mit einem Gegenftand Alleinhandel zu treiben oder den Transport von Gegen- 
fänden nach gewiffen Orten mit Ausfchluß jeder Concurrenz zu beforgen, beißt Mo⸗ 
nopol. Die Gewährung von Monopolen, wie auch Die Ausbeutung derfelben von 
Staatöwegen bildete ſich feit Ausgang des 16. Jahrhunderts fürmlich zu einem Sy⸗ 
fleme aus, deſſen ueberreſte ſich fortgepflanzt haben bis auf unſere Zeit. Man kann 
die Monopole füglich in zwei Gruppen ſcheiden; die erſte umfaßt den Alleinhandel mit 
einzelnen Waarengattungen, bisweilen ſelbſt verbunden mit deren Hervorbringung — in 
die andere der beiden Gruppen fällt die monopoliſtiſche Ausbeutung von Handels- 
wegen und Trandportmitteln, wie ſie namentlich durch die Altere Eolonialpolitit der 
europälfchen Eulturvölfer zur vollen Blüthe gekommen war. 

Der Alleinbandel mit Waaren wird zunteift im Intereſſe der Staatsfinangen bes 
trieben ; felten entäußert fich die Staatsgewalt eined derart ausgeübten Vorrechted zu 
Bunften von Privaten oder Gefellfchaften, und wenn fie dies thut, gefchieht es in der 
Regel bewußtlo8 und auf indirectem Wege. Prohibitionen oder hohe Schupzölle z. 3 
laufen factifch auf ein Monopol der Befchüpten hinaus und gehören demnach zu jenen 
Ausnahmöfällen, in denen der Staat die Production und den Abfa einer Waare 
monopolifirt, ohne felbft etwas davon zu haben. Abgeſehen von derartigen Ausnah- 





158 | Alleinhandel, 


men, gilt von Monopolen die Negel, daß nur das Intereffe des Staatäglüdes ihre 
Entftehung und Ausübung motiviren folle, Daß der Erlös aus berfelben zur Ergänzung 
der Steuer in den Staatsſchatz fließe. In mehreren Staaten Europa's bildet jo das 
Einfommen aus Monopoleu eine anfehnliche Ziffer des Einnahme» Budgetd, die nur 
durch hochgehende Befteuerung des monopolifirten Gegenftandes erſetzt werben könnte, 
Der Uebergang vom Monopol zum freien Handel mit der betreffenden Waarengattung 
bat daher Die Schwierigkeit, daß er beinahe jederzeit auf den Widerfland der Routiniers 
im Finanzminifterium ftößt; denn dieſe geben gewiß der Beibehaltung des Alleinhanbels 
den Vorzug vor der Einführung einer neuen Steuer, deren Umlage Nachdenken er⸗ 
fordert. Monopole haben fo — nebit anderen weiter unten erwähnten Uebelftänden — 
auch den wefentlichen Nachtbeil, daß le den Schlenprian in einer Finanzverwaltung 
begünftigen und die Erhebung eined großen Theild der Stantd-Einnahmen der Regie 
rung leicht machen. Nichtd verberblicher, als dieſe LKeichtigfeit, welche der Schonung 
der Steuerkräfte keine Nechnung zu tragen braucht, welche alle Früchte und Foriſchritte 
einer Productiondart für unbeftimmte Zeitläufe zum unumfchränktten Eigenthum de 
Fiscug macht, der dieſe Fortſchritte aufhalten, Diefe Früchte vor der Reife pflüden 
fann. Wie fehr ein Monopol dem Gemeinwefen fchaden Fönne, Hat erft vor Kurzem 
das Beifpiel Defterreichd gezeigt. Hier lag dringend die Nothwendigkeit vor, das 
Tabad-Monopol, welches vor der Revolution nur außerhalb der ungarifchen Provinzen 
beftanden bat, über die letzteren nicht außzubehnen. Der Tabad«» Production Ungarns 
ftand eine glänzende Zukunft bevor, und diefe hat man um der Bequemlichkeit dei 
Monopold willen in die Schanze gefchlagen. Es blieb der Negierung die Wahl, dad 
Taback⸗Monopol in ganz Defterreich abzufchaffen, oder den Gentralifationsprincip, mit 
welchem die Freiheit des Tabadhandeld in einem Theile der Monarchie unverträglih 
war, zu entfagen. Beides wäre ebenfo weife, als beilbringend und erfprießlid ge 
wefen. Aber man wählte ein drittes, nämlich die Ausdehnung des Monopols übe 
Ungam, weil eine folche ber gewohnten dfterreichifchen Finanzwirtbfchaft nicht minder 
zufagte, als fle den beliebten Centralifationd-Schablonen vollfommen entfprach. 

In volföwirthfchaftlicher Beziehung bat das Monopol die verhängnißvolle Eigen: 
ſchaft, daß es fo zu fagen einer progrefiiven Steuer nach unten gleichfommt. Died 
muß befonderd bon der modernen Form der Monopole gelten, welche ſich zumeift übe 
diejenigen Genußmittel, die in großer Maffe gangbar find und einem allgemein gefühlten 
Lebensbedürfniß entfprechen, zu erſtrecken pflegen. Die Summen, welche eine reicher 
Samilie für Salz und Tabaf 3. B. audgiebt, bilden nur einen geringen Procentſah 
ihre8 Gefammteinfommend, um fo geringer, de höher das Einkommen ifl; denn ber 
Bedarf von Salz und Tabak ift felbft für den Meichften ein gegebener und Tann au 
nicht durch den ärgften Luxus über ein gewiſſes Maß erhöht werden. Nehmen wir an, 
eine wohlhabende Familie, die jährlih 10,000 Thlr. Rente bezieht, gebe für die ge 
nannten zwei Artitel 400 Thlr. aus, was gewiß ſehr Hoch angefchlagen ift und 4 pt. 
des Geſammteinkommens der Yamilie ausmacht. Bergleichen wir damit Die betreffende 
Rage einer Fleinen, etwa auf«1 Thlr, per Tag angemwiefenen Hauswirthſchaft; wenn in 
diefer auch nur 2 Sur. täglih auf Einkauf von Salz und Tabak verwendet werd 
— und mit weniger ‚tft unter der Herrſchaft des Monopols faum auszufommen — 
fo macht dies bereits 7 pCt. der Jahreseinnahmen unferer ärmeren Familie and. 


Wie viel fällt unter Beftehen eines Monopols von den beiden Procentfägen in den 


Staatsſchatz? — gewiß nicht weniger als die Hälfte, indem der Nettogewinn aus Ber 
fauf eines monopolifirten Artikels nirgends weniger als 50 pCt. des Brutto-Ertragd 
ausmacht.) Der Neichere zahlt fomit die Hälfte von 4 pCt. feines Jahres⸗Einkom⸗ 
mens, daher 2 p&t. deſſelben, der Arme die Hälfte von 7 pCt. feiner viel geringere 
Einkünfte an den Staat, und durch das Monopol ift auf diefe Weife ein Unterſchied 
von 1%, pE&t. im Steuerfage zu Gunften des Meicheren gegeben. Und bier fragen 
wir, ob berartige 3 Monopole den Steuerdruck auf die unteren, unbemittelten Volksklaſſen 


N) Die 0 pEt. im Texte find blos der leichteren Verftändlicgleit wegen angenommen. In 
Wirklichkeit iſt der Profit aus einem Monopol viel höher! — In Frankreich werden am orbinären 
Tabat 600 pCt. des Binfaufpreifes, am feineren 1100 p@&t. durdy die Regie aufgefchlagen. Bal 
Hod, die Finanzverwaltung Franfreihe. Stutig. 1857, p. 355. 














Alleinſeligmachende KRirche 759 


nicht vermehren, nicht ganz unverhaltnißmaͤßig und progreſſiv zunehmend vermehren, ie 
ärmer die Volksklaſſe ift, die ſich dem Monopol unterziehen muß? 

Abgeſehen davon, daß der Betrieb eines Alleinhandels von Seiten des Staates 
in Die fohlechteftle Urt der Befteuerung fällt, die e8 überhaupt geben Tann, ift derfelbe 
noch mit anderweitigen volkswirthſchaftlichen Uebelfkänden verbunden. Sollen wir uns 
über dieſe des Weiteren audlaffen? follen wir bier anführen, wie die Sicherheit des 
Abfapes, die dem Monopoliften zu Statten fommt, der Einführung von Berbefjeruns 
gen in der Production ſtets im Wege tft und zur Berfchlechterung der Qualität der 
Waare antreibt? wie die Feſtſetzung der Preife in die Willfür des Monopoliften ges 
ſtellt ift, eine Willlür, die um fo freier, um fo fihrankenlofer thätig fein Tann, je 
nothmendiger die dem Alleinhandel unterworfenen Gegenftände für's Leben ſind, je 
mächtiger die Gewohnheit, die nach Erlangung verjelben ſtrebt? — Ban vente ſich den 
Fall, daß die Luft zum verkäuflichen Gut werde und der Debit dieſes uneutbehrlichen 
Mediums, in dem wir leben, Monopol des Staates ſei.) Wäre irgend ein Preis, 
den man auf den nothwendigen Vorrath Luft fegen möchte, zu hoch! gäbe ed irgend 
ein Bermögen im Lande, Das nicht jederzeit und unter allen Umftänden dem Mono: 
poliften trihutpflichtig wäre! So auf die äußerftle Spige der Vollendung getrieben, 
iſt das Monopolſyſtem der Gegenwart freilich nicht; immerhin aber find in mehreren 
Staaten — Preußen und der Zollverein bilden eine löbliche Ausnahme — noch fort- 
während die nothwendigften Genußmittel dem Monopol unterworfen. Wir nennen 3.2. 
Tabak und Salz in Defterreich, erfteren Artifel in Frankreich, den italienifchen Staaten, 
in Spanien und Portugal; Salz und Opium in britifch Indien u. f. w. 

Die zweite der oben erwähnten Gruppen der Monopole, die exclufive Ausbeutung 
von Handelömegen und Trandportmitteln umfaflend, ift beinahe gänzlich au der Mode 
gekommen. Diefe Art des Alleinhbandeld war durch Die große Menge von Beſchraͤn⸗ 
fungen gegeben, denen früher Schifffahrt und Handel nach entfernteren Gegenden, 
befonder8 nach Colonieen eined europäifchen Mutterlandes, unterworfen waren. Es 
galt in dieſer Beziehung vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis in eine Zeit, die der 
Erinnerung der Mitlebenden noch nicht entfchwunden ift, der allgemeine Grundfag, daß 
nur das WMutterland allein den Handel und Verkehr feiner Golonieen zu verforgen 
habe, daß Demgemäß die Angehörigen fremder Staaten von allen Handelöbeziehungen 
mit den eigenen Pflanzungen auszuſchließen fein. Spanien gipfelte dann dieſen Grund⸗ 
faß zu der Marime aus, daß felbft den eigenen Staatöbürgern der Verkehr mit den 
weftindifchen &olonieen und jenen des amerikaniſchen Feſtlandes nur unter Einholung 
königlicher Licenzen zuſtehe. Es wurde ſtrenge darauf geſehen, daß der weſtindiſche 
Handel ein Hoheitsrecht der Krone bleibe, deſſen Ausübung nur momentan und zu 
beſtimmten Zwecken auf Private übergehen könne. Demzufolge konnten ſpaniſche Han⸗ 
delsleute nur von Sevilla, ſpäter von Cadiz nach Weſtindien auslaufen; ihre Schiffe 
mußten ſich an den vorgezeichneten Cours halten, nur die erlaubten Waaren aufladen 
und wurden durch königliche Licenz zu jeder Fahrt beſonders privilegirt. Durch ſolche 
und anderweitige Beſchraͤnkungen brachten es die Spanier endlich dahin, daß das ſo 
heiß erſehnte Monopol des weſtindiſchen Handels — den Englaͤndern zufiel. Dieſe 
haben naͤmlich ſeit Anfang des 18. Jahrhunderts auf dem Wege des Schmuggels mehr 
Antheil genommen am ſpaniſchen Colonialhandel, als die Spanier auf erlaubte Weiſe. 
So verurtheilte ſich das Syſtem der Monopole auch auf dem Gebiete der Colonial⸗ 
politik durch ſich ſelbft und gereicht denjenigen, ſo ihr Heil darin ſuchen, zum eigenen 
Verderben. — Man vergleiche übrigend über den zuletzt berührten Punkt die Artikel 
Colonieen und Mereantilinftem 

Alleinfeligmachende irhe Bedarf Der Menſch einer Meltgion, bedarf er der 
chriſtlichen Religion, um fein Ziel zu erreichen? Wo dieſe Brage verneint wird, kann 
das Intereſſe an der Unterfuchung über die alleinfeligmachende Kirche fein perfönliches 
fein.- Bantheiften, Atheiſten, WMaterialiften haben die ewige Seligfeit daran gegeben, 
ba ihr Dafein ſich in den endloſen wohl gar zweckloſen Wiederholungen der Zeitlichkeit 


J um nicht den Vorwurf des Plagiats pernorzurufen, fei hier bemerkt, taß das oben gege: 
Eesung | eg . St. Mill entlehnt iſt. Bergl. deflen pol. Oekon. in der Eoetbeer' ſchen Leber: 
bung 1. 





760 MW icinfeligmadenbe Kirche 


anfängt und vollendet. Bon ihrem reflgnirten Standpunkt aud müflen fie unter mit- ’ 
leivigem Achfelzuden die objectölofen Bemühungen derjenigen belaͤcheln, meldye ihre 
Blide auf ein Leben in der Ewigkeit richten. 

Ein anderes tritt ein, wo das Ehriftenthum nicht bloß ald eine Entwicklungs⸗ 
phafe des menfchlichen Geſchlechts angefehen wird, die entweder Durchgang für eine 
wahrere Auffaflung unferer Eriftenzg wäre, oder die Befland hätte ald in dem Stifter 
diefer Religion zum Durchbruch gefonmene Klarheit über unfer Verbältnig zum Gött- 
lihen. Bleibt das Chriſtenthum, wofür es fich felbft ausgiebt, die Religion, in welcher 
der von Gott abgefallene Menſch auf's Neue ewiges Heil unter perfönlider Fort⸗ 
dauer erlangt, fo müffen audy die Bedingungen erörtert werden, an welche die Ber: 
heißungen diefer Religion geknüpft find. Ueber viele diefer Bedingungen ift in Der 
Ehriftenheit niemald Streit gemefen. Auf dem Gebiete des Chriſtenthums bat es als 
etwas durchaus Wefentliche8 und Unzweifelhaftes ſtets gegolten, daß auf Pfingfien 
dur Ausgießung des heiligen Geiftes von Chriſto dem Herrn eine Kirche ald Säule 
und Grundveſte der Wahrheit geftiftet fei. Ohne diefe Kirche, welche feit Pfingften in 
ewiger Dauer auch den Pforten ver Hölle trogen werde, koͤnne auch der Einzelne Das 
zugefagte Heil nicht erlangen. Und ‚diefe Kirche trat Anfangs aljo fichtbar in Die Er- 
fcheinung und in die Wirklichkeit, daß die erften Bekenner Ehrifti Eeinen Zweifel und 
Zwielpalt haben Eonnten, wo diefe Kirche ſei. Wußten fie, daß Chriftentbum und 
Kirche eind ohne Die andere nicht fein Eönne, fo war klar, ihre durch keinen Rif 
getrennte Gemeinfchaft mit dem Haupte Ebrifto und unter einander war im Gegenſatze 
gegen die Welt, die alleinfeligmachende Kirche. Es hatte der Sag volle Wahrheit: 
extra ecclesiam nulla salus, anßer der Kirche Fein Heil. 

Schon ein andered Verhaͤltniß trat ein, als das Heidentbum und pharifäifches 
wie ſadducaͤiſches Judenthum feine Impotenz dem Chriftenthume gegenüber zu fühlen 
. begann und ſich durch chriftliche Ideen und Elemente zu verjüngen fuchten. In dem- 
felben Grade ald der Gnoſticismus in allen feinen Spielarten Die Grenzen der Kirche 
und der Welt zu alteriven, zu verdedien und zu durchbrechen firebte, mußte die Kirche 
diefelbe deſto erfenntlicher marliren. Noch mehr, als in der Kirche felbft Die natürliche 
Art und Weife des Menfchen fi als nicht völlig beflegt durch das neue Leben aus 
Gott erwies. Um ihrer felbft gewiß zu bleiben trat die Kirche in Gegenfag gegen Alles, 
was chriftlich und kirchlich fein wollte, ohne doch in völliger Bleichartigfeit mit dem 
auf Pfingften begonnenen Anfange dazuftehen. Als Die eine, heilige, allgemeine, apo⸗ 
ſtoliſche Kirche befämpfte fie, zerfplitterte oft ethifch anrüchige, in Kleinen Kreifen beſchloſ⸗ 
fene, in Willfürlichkeiten fich ergebende Secten. „Die Einheit und Allgemeinheit der 
Kirche ſtand noch unzerftört und wenn auch die Heiligkeit feit den Zeiten Gonflantins 
bereitö febr verbunfelt worden war, fo konnte doch die Kirche in ihrer Gefammtheit 
und feine Secte neben ihr fich apoftolifcher Stiftung rühmen.“ 

Es follte und Fonnte nicht fo bleiben, als die morgenländifeje und die abenblän- 
difche Kirche audeinandertraten. Einer bloß das eigene Heil fuchenden Seele Eonnten 
‚die Differenzen fo gering erfcheinen, daß fie die Spaltung nur ald eine Folge der per- 
ſoͤnlichen Rivalität zwifchen den beiden Patriarchen anſah. Da aber beide Kirchen ein- 
ander negirten, fo mußte ed fchwer fein, einzufehen, warum bie eine neben der andern 
nicht das Hecht der andern haben ſollte. Es mußte ſchwer fein, zwijchen beiden Kir- 
hen zu wählen und nicht bloß einzelne Perfönlichkeiten, fondern ganze Völker wurben 
vor Diefe Wahl geftellt. Die Weltbegebenheiten ließen die beiden Kirchen mehr indo- 
lent neben einander hergeben, ließen die Controverſe nicht recht zum Austrag Tommen. 
Mehr durch Mittel politifcher Klugheit fuchte man fich Abbruch zu thun, als daß die 
Frage: was muß ih thun, daß ich felig werde? den Cardinalpunkt des Streites aus⸗ 
gemacht hätte. Aber wie matt Morgenland und Abendland fich auch gegenüber ftan- 
den, eine Schwächung der äußerlichen Aurtorität lag dennoch in der Spaltung. Es 
war nicht mehr fo zweifello8 gewiß, wo die eine beilige allgemeine apoftolifche Kirche fei. 

Mit weit intenfiverer Kraft wurde die Frage nach der Kirche aufgeworfen, als 
im 16. Jahrhundert die Kirchenfpaltung des Abendlandes eintrat. Die Gejchichte der 
Neformation ift befannt. Das Großartige in dieſer Bewegung war, daß fle ohne alle 
Nebenrüdfichten aus der Sorge um das eigne Seelenheil hervorging. Begann nun . 








Alleinſeligmachende Kirche. on Fäl 


der Angriff nad die Neugeflaltung von diefem Punkte aus, jo war es faft nothwendig, 
- daß auch die Vertheidigung bier einfeßte. Die in: der Obedienz der Paͤpſte verharrende 
Kirche fuchte nachzumweifen, wie das Seelenheil grade abhängig wäre von der Zugehörig- 
keit zur römifchen Kirche. Es wurde die Lehre von ber allein feligmachenven Kirche 
ausgebildet. Im der Zeit ihrer Machtfülle Hatte die abenpländifche Kirche feinen Trieb 
gehabt, ſich Dogmatifch über fich felbft auözufprechen. Bei den großen Dogmatikern 
des Mittelalterd, einem Thomas und einem Bonaventura, findet man Feine theoretifche 
Erpofition über die Kirche, keinen locus de ecclesia. Uber feit der: Reformation mit 
dem- tridentiner Concil warf man fi mit aller Macht auf diefen Punft.- Zwar das 
Concil ſelbſt ftellte in vorfichtiger Weisheit Fein Decret bjerüber auf, aber in dem 
Catechismus romanus finden wir nicht bloß die Dogmatifche Erplication der Lehre von 
der Kirche, ſondern ſie wird mit der Auseinanderſetzung eröffnet: quibus de causis hic 
articulus omnium frequentissime populo inculcandus. !) Die Xehre von der Kirche 
wurde dem römifch- Tatholifchen Chriften Die Hauptfache. Nicht die Grundlehren bes 
Ehriftentbums von dem dreieinigen Gott, von der Menjchwerdung des Sohnes 
Gotted, von der Ausgießung des heiligen Geiſtes, von der Buße und Glauben und 
von der Heiligung, ſollten das Dogma von der Kirche ſtützen und tragen, ſondern 
vielmehr dad Dogma von der Kirche ſollte alle andern verbürgen und ſichern. Und 
weil die Zerriffenheit der abenbländijchen Kirche aus einer geiftigen Bewegung hervor. 
gegangen war, die ihre Kraft hatte in den verborgenften Tiefen der perjünlichen Ge⸗ 
meinfchaft mit Gott durch Chriſtum, fo fjollten Die Kennzeichen der Kirche dieſem in 
Discuffion gefommenen Gebiete entzogen werben. Lag Die Kraft des Angriffes im 
Innerlichen, jo warf man fich zur Vertheidigung auf das Aeußerliche, wo man bie 
Schwäche des Angriffes vermuthete. Die Kirche müffe ebenfalls eine äußerliche Monarchie 
fein, fihtbar und greifbar als die Republik Venedig. Und eine ftattliche Aeußerlichkeit 
Hatten Die Kirchen der Mefgrmation nicht entgegenzufeßen. Als dann der große Dog⸗ 
matiker Bellarmin die 15 Kennzeichen der Kirche erfunden hatte, die nach ſeiner An⸗ 
wendung nur auf die römifche Kirche paßten, glaubte man in völliger Zuverſicht ſich 
als die allein Iegitime Entwidlung des mit Pfingften geiegten Unfanges anfehen zu 
fönnen. Ban fprach es ohne Bedenken aus, daß nur. ein Glied der römifchen Kirche 
felig werden könne. Die Härte dieſes Dogma erweichte fich, ald Fromme Katholiken, 
welche die Gottfeligkeit über zelotifchen Eifer fegen, auch in Proteftanten ungefärbte 
Frömmigkeit anerkannten. Sie limitirten das Dogma, indem fle in einzelnen Faͤllen 
die äußerliche Zugehörigkeit daran gaben und forderten, Daß jemand wenigftens de 
aniıma ecclesiae fein müſſe, den Sinn der Kirche haben, in ihrer geifligen Subflung 
fein Weſen haben müfle. Einen Begriff, den der Rutheraner nicht zurückweiſen Tann, 
denn auch nad feiner Auffaflung muß die lebendige Nebe de anima ecclesiae fein. 
Die Intherifche Kirche bat ſich, wie jede wirklich andere Kirche, fletd nothwendig für 
die wahre Kirche gehalten, fonft hätte fie fich felbft aufgeben müflen, d. h. für die 
Kirche, in welcher die Abflchten Ehrifli bei Stiftung und Gründung derfelben auf 
Pfingften am meiften zu ihrer Verwirklichung gelangten. Sie hat nicht behauptet, die 
allein felig machende Kirche zu fein. Weber Luther noch Melanchthon haben es je 
geleugnet, daß im Schooße der römifchen Kirche wahre Ghriften fein. Waren fie felbft 
ja bervorgegangen aus dem Schooße diefer Kirche. 


‘ 


Dem Reformirten Hat die Kirche mehr Bedeutung für das Diefleit als. für das _ 


Jenſeit. Auf der Erde ift Zucht an allen zu üben, felig werben aber nur die Präde⸗ 
ftinirten. Daher kann es ihm Feine allein felig machende Kirche geben, fondern nur‘ 
eine allein felig machende Präbeftination. 

Zum- Schluß faflen wir zufammen. Der Gegenfaß bei der Lehre von ber allein 
felig machenden Kirche ift nicht der: Kirche gegen Welt: Bei dieſem Gegenſatze wird 
es ftetö wahr bleiben, daß außer der Kirche Fein Heil fei. Vielmehr foll die roͤmiſch⸗ 
katholifche Kirche gegenübergeftellt werden allen andern Kirchen. 

Je wahrer der Sag ift: ubi ecclesia, ibi spiritas 2), deſto wahrer ift auch die 
Umkehrung dieſes Saped. Nur Armuth am Geifte Gottes kann es verſchulden, daß 


) Warum dieſer Artikel vor allen am häufigſten dem Volke beigebracht werben müſſe. 
2) Wo die Kirche iſt, da iſt der Geiſt Gottes. 














262 Altenburg. Allerchriſtlichſter Allergetreueſter. 


man Chriſtum in den Gemeinſchaften nicht anerkennt, zu welchen dennoch der Herr ſich 
bekennet. Aber es ſollten unſere Spiritualiſten ſich nicht alſo gebahren, daß die Mei⸗ 
nung ſich verbreiten koͤnnte, wir Proteſtanten ſeien zufrieden mit luftigem Aether, oder 
reſignirten bis zur Erfüllung unſerer Wunſche in einem zeitlichen oder begrifflichen 
Jenſeits. Wir trachten auch nach der Verwirklichung der Principien unferes Glaubens 
fhon in diefer Welt. Wahr ift ed, wir fehen den Geift ald den Factor des Leibes 
und nicht den Leib ald den Factor des Geiſtes an, aber dennoch willen wir, daß bie 
Leiblichkeit, die fichtbare und fühlbare Wirklichkeit, daB Ende der Wege Gottes ifl. 
Nur daß wir eine einfeitige, mit der urbildlichen Idee und Geftalt in mannichfachem 
Widerfpruche ftehende Geftaltung nicht als die einzige, ausfchließende Benwirklichung 

des fchöpferifchen Geiftes zu faflen vermögen. (Siehe übrigens den Artikel Rirhe) 

Allenburg, preuß. Stadt am Einfluß ver Ilme in die Alle (Nebenfluß des 
PregeD, zählt 2219 Givil-Einwohner; im Kreife Wehlau, Neg.-Bez. Königsberg. Sie 
erhielt im Jahre 1400 vom Hochmeifter Konrad von Jungingen ihre „Handfeſte“, d. h. 
ihre beftätigte Verfaflung. (Tdppen. Hifl.ccomp. Geogr. von Preußen. Gotha 1858, 
nach einer Notiz in dem noch ungebrudten Privil. des Bisthums Samland.) 

Allenftein, preuß. Stabt an der Alte, zählt 3,717 Eivil-Einwohner; im Kreife 
Allenftein, Reg.⸗Bez. Königöberg; zur Zeit der Orbensherrfchaft eine der drei Gapitel« 
fädte des Bisthums Ermland, gegründet von Propft Hartmuth im Jahre 1353 Durch 
Johann von Lenfen; die Neuftadt fügte Propft Heinrich 1378 Hinzu. 

Aller, Nebenfluß auf der rechten Seite der Wefer, entipringt wefllih von 
Magdeburg am Fuße der Alvenslchener Höhe bei Goͤhringsdorf, unmeit Seehaufen, 
Kreis Wanzleben, fließt auf ihrem nordweftlichen Laufe, faft parallel mit der Ohre, 
eine Strecke öftlid von Helmftädt Her, tritt fobann, nachdem fie den Drömling rechts 
gelafien, unterhalb Debisfelde nach Hannover über und berührt bie Städte Gifhorn, 
Gelle und Berden, wo fie in die Weſer fällt. Sie ift gänzlih ein Fluß der Tief 
ebene und hat außer einer Strede bei Walbe, wo fie bald nad ihtem Urfprunge 
zwifchen waldigen Höhen fließt, ſtets feichte, oft fumpfige Ufer. Ihr Lauf ift 33 
Meilen lang, an der Ocer- Mündung 100°, von der Leine» Mündung an 200° breit; 
bei Celle wird fle nah Aufnahme der Zufe fchiffbar. Am Linken Ufer find ihre be- 
trächtlichften Nebenflüffe die Ocker und Leine, erftere vom Harze gegen Norden fließend, 
mündet zwiſchen Gifhorn und Eelle, Tegtere unterhalb Elze in die Ebene tretend, mün- 
det zwifchen Eelle und Verden. Die Aller nimmt noch: die Speße und einige andere 
Bäche auf, fleht mit dem Drömling in Verbindung, weldher im vorigen Jahrhundert 
entmäflert wurde und beide Ylußgebiete verbindet, obwohl er feinen eigentlichen Abflug 
durch Die Ohre bat. Wegen Eorrigtrung der oberen Aller find neuerdings zwifchen 
den Uferftaaten Verhandlungen eingeleitet. 

Allerchriſtlichſter — Allergetrenefter König und andere von der römijchen Curie 
verlieben Präpdicate. Die päpftliche Eurie liebte ed, den Fatholifchen Souveränen Titel 
zu geben, die eine Beziehung auf die Kirche haben. So gab fie dem König von 
Srankreich den Titel „Allerhriftlihfier König”, rex christianissimus; es if 
aber nicht bewiefen, daß fie bereitd dem Frankenkönige Chlodwig bei feiner Taufe dieſen 
Titel gegeben. Urkundlich bat ihn erfi Ludwig XI. 1469 erhalten. Seitdem bießen 
die Könige von Frankreich in Staatsjchriften Sa Majeste tres-chretienne. Unter Louis 

Philipp's Bürgerfönigthum wurde diefer Titel umgangen, und auch das neue Kaijer- 
thum bat ihn wicht wieder aufgenommen, wenn auch etwas dem Aehnliches wieder ein- 
geführt wurde, indem der Papft dem Kaiſer Lonis Napoleon den Titel eined „älteften 
Sohnes der Kirche" gab, welchen mehrere der früheren Könige Frankreichs ebenfalls 
geführt hatten. „Allergetreuefter König“, rex fidelissimus, iſt der Titel des 
Königs von Portugal, zuerft 1748 von Papft Benebict XIV. dem König Johann V. 
verkiehen und zugleich mit dem Recht verfnüpft, alle Bisthümer und Abteien des Kb» 
nigreich8 zu beſezen. „Katholiſcher König“, rex catholicus, beißen Die Könige 
von Spanien, felt Don Bernando IV. die Mauren aus Spanien vertrib. „Apofto- 
lifhe Majeftät”, rex apostolicus, ift gegenwärtig der Titel der Kaifer von Oeſter⸗ 
reih. Das ift der ältefte dieſer Titel; derfelbe wurde im Jahre 1000 Stephan I. von 
Ungarn vom Papft Spyivefter 11. verliehen, Papſt Elemens XII. erneuerte denfelben 








Allerheiligenfeſt. Allgemeine deniſche Vibliothek. 263 


1758 für Maria Therefla und ihre Nachkommen. „Vertbeidiger des Blau« 
ben”, defensor fidei, iſt ein immer noch gebräuchlicher Titel der Könige von Eng⸗ 
land, den Papft Leo X. 1522 dem Könige Heinrich VII. für feine Schrift gegen Lu⸗ 
ther verlieh. Uebrigens war verfelbe Titel bereit8 1412 der Verbindung der ſchweize⸗ 
riſchen Eantone verlieben, weil fle den Papſt gegen die Franzoſen flegreich vertheidigt 
hatten. Die Schweiz foheint gar nicht oder nur wenig von diefem Titel Gebrauch 
gemacht zu haben. Noch haben verfchiedene. andere Souveräne und Staaten ähnliche 
Titel von der römifchen Curie empfangen, doch find dieſelben nicht zur allgemeinen 
Geltung gelangt. 

Auerheunenen Festum omnium Sanctorum. Die griechiſche Kirche 
feierte nach dem Zeugniffe des Chryſoſtomus ſchon im vierten Jahrhunderte in der 
Pfingftoctav ein Fe aller Märtyrer. Eine folche Collectivfeter zu Ehren der Maͤr⸗ 
tyrer finden wir dann zunähft auch in der abendländifchen Kirche am 13. Mai, 
dem Tage an welchem 609 Papft Bonifaz IV. das Pantheon als Kirche zur Ehre der 
Jungfrau Maria und der Märtyrer eingeweiht hatte. Wahrfcheinlih bat es eben 
Durch diefen Vorgang feinen Anfang genommen. Später wurde diefes Feſt als Feft 
aller Heiltgen auf den erflen November verlegt und zugleich als allgemein zu 
feierndes vorgefchrieben. An dieſem Tage wird es gegenmärtig in der Tatbolifchen 
Kirche als Feſt erfien Ranges mit Bigilie und Octav (duplex primae classis cum 
vigilia et octava) gefeiert, zur Verehrung aller aus ihrem Schooße hervorgegangenen 
Heiligen. Die Tatholifche Kirche fucht in Diefem Weite zufammenzufaflen: die Lehre 
von den Zufammendhange und der Gemeinfchaft der „ftreitenven” und ber „triumphiren⸗ 
den” Kirche. 

ee ale ſ. Tempel. 

Allerteelentag, Commemoratio omnium fidelium defunctorum. 
Dem Ullerheiligenfefte läßt die Fatholifche Kirche unmittelbar, am zweiten Novem⸗ 
ber, einen Tag des Gedaͤchtniſſes aller verftorbenen Katholiken folgen, nicht wie jenes 
einen Tag der Verehrung und der Anrufung um Fürbitte, jondern einen Tag bed An⸗ 
denkens, einen Tag der Fürbitte für die Hingeſchiedenen. Daher ift die ſchwarze Farbe 
der priefterlichen Gewänder angewandt; Dad „requiem aelernam dena eis Domine et 
lux perpetua Inceat eis* der Grundton der Mefle des Tages; daher an diefem Tage 
die ergreifende Sequenz „Dies irae, dies illa. In dieſem Feſte der katholiſchen Kirche 
foll der Glaube von dem Zufammenhänge und der Gemeinſchaft der auf Erben 
ftreitenden und der im „Neinigungsorte (f. den Art. Fenefeuer) leidenden Kirche zum 


Ausdruck kommen. Es knüpft fich daran die Fürbitte für die Verſtorbenen. Seinen. 


Urſprung verdankt dieſer Gedaͤchtnißtag, mögen auch einzelne Spuren früher vorfomnen, 
wohl befonderd dem Abt Odilo von Glügny, der ihn 998 für die Klöfter der Clunia⸗ 
cenfer Congregation vorfchrieb. 

Allgemeine deutſche Bibliothef. (1765 — 92. Berlin. 106 Bände.) Lavater 
und Mendelöfohn, die enthufiaftifche Erneuerung des Chriftentyums und die deiftifähe 
Aufflärung, das waren die beiden Gegenfähe, zwifchen denen fih Nikolai (1733 
bis 1811), der Stifter der allgemeinen deutſchen Bibliothek mit feinen zahlreichen 
Mitarbeitern bewegte. Dort bei Lavater jahen file nur die Finſterniß, bier bei Men- 
delsfohn das reine Licht, dort die Verſchwoͤrung gegen Bildung und Proteſtan⸗ 
tismus, bier die reine DVerhunftlebre, gegen die die Angriffe Der vermeintlichen 
Seinde der Menſchheit ohmmächtig feien. Sie nannten fih die Wächter des Pro- 
teftantismuß, bielten ſich wirklich für berufen dazu, Tag für Tag vor den Gefahren 
zu warnen, mit denen Katholicismud und Jefuiterei Die proteflantifche Kirche bedroh⸗ 
ten; aber Hamann in Königsberg Hatte Recht, als er Nikolai den Nehemias beim 
Bau des deiftifchen Tempel nannte. Wenn Nikolai und feine Mitarbeiter in den 


rechtgläubigen Proteftanten nur die Alliirten des Katholicismus faben, ſo waren fie 


felbft Die eifrigften Verbündeten der Juden. Xavater war ihnen wegen der Sympathie, 
mit der er ſich für die Fatholifche Kirche und ihre chriftliche Ueberlieferung ausfprach, 
verdächtig und fie Plagten ihn geradezu an, daß er fih im Geheimen mit der Idee 


einer Bereinigung der Eatholifhen und proteftantifchen Kirche trage, und fie felbft 


hoben das aufgeflärte Judenthum auf den Schild. Lavater war ihnen mit feiner enthus 





764 Algemeine dentihe Bibliothek, 


ftaftifchen Theologie der Inbegriff aller Schreien, die den Fortbeſtand des Pro⸗ 
teftantismu8 bedrohten; Mendelsfohn dagegen galt ihnen ald der „erſte Lehrer” des 
Daſeins Gottes, ald der Xehrer der Unfterblichkeit, feine „Morgenftunden“ hießen ihnen 
das fchönfte Vermächtniß, das er.der Welt Hinterlaffen bat, feine legten geheiligten 
Worte, und mit einem wahren Despotismus wollten fie ihn ald den Lehrer der Menſch⸗ 
beit jchlechtweg zur Anerkennung bringen. Kampf gegen Lavater war heilige Pflicht, 
ein Zweifel an Mendelsſohns Autorität und unſterblichem DVerbienft ein Frevel gegen 
die Menſchheit. | 

Die Bibliothek verdachte e8 Dohm, ald er in feiner Schrift über Die bürgerliche 
Verbefferung der Juden den Borfchlag machte, den Belennern eineg reinen Bernunft- 
Religion die Freiheit eines eigenen Gotteöbienftes einzuräumen; fie fand dieſen Bor- 
ſchlag unter Proteftanten unpaflend; fie wollte nämlich yon dem Unterfchied des Pro- 
teftantigmus und der Dernunft-Religion Nichts wiſſen und ihre Verbündeten, die 
aufgeklärten Juden, aus dem neuen proteftantifchen Bund nicht ausgeſchieden fehen. 

Mendelsfohn ſchrak anfänglich vor dem Gedanken der allgemeinen deutſchen 
Bibliothek zurüd. Erfindung und Plan gehörten Nikolai an. ALS derfelbe feinem Freunde 
die Idee mittheilte, entfegte fich vderfelbe faft vor der Größe des Unternehmens und 
hielt er die Schwierigkeiten, mit denen e8 zu Tämpfen haben würde, für unübermwind- 
lich. Da er aber den proteftantifchen Aufklärer entfchloflen fahb, den Kampf mit Ge 
fahren und Schwierigkeiten aufzunehmen, fagte er ihm feine Unterſtützung zu. 

Der Gedanke, vor deflen Größe Mendelsſohn Anfangs erfchredt zurücdfuhr, war 
nicht Geringered, ald der einer allgemeinen Weltreformation. In den Schulen follte 
nur die Weltbürger- Religion gelehrt und Synagogen und Kirchen in Providenz⸗ 
Tempel verwandelt werden. Ale bisherigen Autoritäten follten der philoſophiſchen 
Doctrin weichen, und endlich auch im bürgerlichen Leben die reine Menfchheit in ihre 
Rechte eintreten. Ä 

Ein allgemeines Iournal, welches alle Wiflenfchaften in. feinen Bereich und die 
beften Köpfe ald Mitarbeiter heranzog, alle deutfche und in das Deutfche überfegten 
Schriften anzeigte, feine Empfehlungen und Warnungen über ganz Deutfchland ver 
breitete, ein Iournal, welches mit Behutſamkeit vorfchritt und indem es ſich den Schein 
gab, nur die Auswüchfe einer enthuflaftifchen, fchwärmerifchen Theologie zu bekämpfen, 
endlich das Kirchliche Syſtem felbft dem allgemeinen Gelächter preisgab — ein foldeb 
Journal mußte allerdings das gefchictefte Mittel zur Ausbeutung der Aufklärung fein. 
Gegründet im Jahr 1765 nahm es unter der Leitung Nikolai's bei feiner außerordent- 
lichen Arbeitſamkeit fehr bald einen beveutenden Aufſchwung; Nikolai's buchhändleri- 
fhe Erfahrung und feine Verbindung mit dem ganzen deutſchen Buchhandel, fein 
Zufammenhang mit den kleineren literarifchen Tribunalen trugen auch noch zum Gr 
lingen bei. | 

Den Eindrud, den die Bibliothek auf einen großen Theil ihrer Zeitgenofien 
machte, Iehrt und unter Anderm das Bekenntniß, ‚welches der Verfaſſer der Schrift 
„Apglogie der Vernunft“ ablegt. „Beſonders, fchreibt er, begann die allgemeine 
deutfche Bibliothek mir dad zu werden, was fle vielen Taufenden in Deutichland ge 
worden ift, eine elektrifche Majchine für die Seele. — Ein Stoß und milder einm 
und ſchon wieder einer — und flehe, fo warb der Verſtand aufgeregt, der Blick fchärfer, 
der Muth ſtaͤrker, die Entfchlofienheit fefler, das Bedürfniß, angefangene Unterjuchun 
gen zu vollenden, dringender, das Gewiſſen ruhiger, die Scheu gegen gewiſſe philo⸗ 
fophifche Secten gemilverter, und ich fand endlich — Wahrheit und bei der Wahrheit 
Sreude und Beruhigung." 

Die Bibliothek richtete fi Anfangs gegen die Dogmatif der Schulcompenbien, 
dann gegen die ſymboliſchen Bücher, endlich gegen das Pofltive der Eirchlichen An 
Schauung, dann Fam die Schrift an Die Meibe, das Ende war der Deismus. Die 
fombolifchen Bücher fielen der Schrift zum Opfer, viefe felbft wieder der aufgeflärten 
Vernunft. Die Kritif der Schrift wurde Durch einen einfachen Proceß vollzogen, indem 
man zwifchen deutlichen und dunkeln Stellen unterſchied, — jene find folcye, die mit 
auögemachten Bernunftwahrheiten übereinftimmen, die dunkeln aber find, welche vielen 
Wahrheiten zu widerfprechen fcheinen und demnach ohne Bedenken aufzuopfern find. 








Allgemeine dentſche Vibliothek | 765 


Die Werke, die von der Bibliothek als ihre bedeutendſten Hilfägenofien betrachtet 
wurden, waren des Meimarud Bragmente und Tellers biblifches Wörterbuch; der Horus 
und Hierokles wurden auch nicht verfchmäht, zulegt Kamen ihr Bahrdt's Schriften über 
die Bibel zur Hilfe. Diefe eingreifenden Werke fchienen den Gegenfaß der proteftan- 
tifchen Kirche, gegen das Pabſtthum zu fehärfen und zugleich den Proteſtantismus von 
den „Menfchenfagungen” zu befreien. Die Agitation ward befonders durch Warnungen 
vor Fatholifchen Verſchwoͤrungen gegen die proteftantifche Kirche und vor der Erneue- 
rung des Jefuitenordend unterhalten. Wer an jene Gefahren nicht unbedingt glauben 
wollte, war des Krypto-Katholicismus und des geheimen Jefuitiömus verbächtig und 
die Zielfcheibe der heftigften Bolemit. So wurde z. B. Garve, der in Breslau in 
Fatholifchen Zufammenhängen lebte und in feiner fanften und befcheidenen Weife fich 
durch diefe Lärmrufe unangenehm berührt fand, von Nikolai auf das Schärffte angegriffen. 

Nikolai unternahm und befchrieb feine Reiſe durch Deutſchland in der ausdrück⸗ 
lichen Abficht, um Diejenigen zu widerlegen, die an die wachſende Allmacht, zu der die 
Jeſuiten nach ihrem Sturze wieder auffliegen, nicht glauben wollten und um Die ver- 
ſchwoͤreriſchen Zufammenhänge zwifchen den proteftantifhen Reflaurationd » Verfuchen 
und der Fatholifchen Kirche nachzuweiſen. 

Einen eigenthümlichen Wendepunft in der Entwidelung der Bibliothek bezeichnet 
im Anfang der achtziger Jahre ihr Auftreten gegen Semler. Früher waren fie mit 
demjelben einverftanden geweſen, ald er jeine Kritif gegen die hergebrachte Theologie 
richtete. ME er fich aber jegt gegen Bahrdt und Baſedow erflärte und feinen biöheri- 
gen Liberalismus mittelft der Unterfcheidung zwifchen Lehre und Lehrart zu entſchul⸗ 
digen und zugleich zu retten fuchte, griffen fle ihn rückſichtslos an und fragten ihn, 
wie man wohl die Lehrart in Bezug auf ein Dogma ändern oder verbeflern fünne, 
ohne die Lehre felbft zu mohificiren. 

Semler verfchanzte fich hinter dem Unterſchied von Theologie und Religion; nur 
in jener wollte er biöher gearbeitet und Eritifirt, dieſe aber unverfehrt gelaflen haben. 
Hinge aber Beides nicht zufammen, antwortete darauf die Bibliothek, fo wäre das 
theologifche Studium dad undankbarſte und unfruchtbarfte von der Welt. Haͤngt da= 
gegen Beides zufammen, fo wirb die erweiterte und berichtigte theologifche Gelehrfam⸗ 
feit, die doch Nichts ald tiefere Erfenntnig und Ergründung der Religion ift, auch 
eine Veraͤnderung der Lehre herbeiführen. 

Die Mitarbeiter der Bibliothek waren zu fehr Dilettanten oder bloße Plänkler, 
die in des Gegners Land Unruhe und Verwirrung brachten, e8 aber nicht beherrfchen 
und bearbeiten Tonnten, ald daß fie die in dem letzten Sag enthaltene Drobung hätten 
ins Leben und der biöherigen proteflantifchen Theologie ein geſchloſſenes Syſtem der 
neuen Lehre enigegenfeßen föünnen. Sie mußten den Verſuch den fpäteren beutichen 
Philoſophen überlafien, freilih auf die Gefahr Hin, daß auch diefe in ihrem Unter⸗ 
nehmen fcheiterten. 

Indefien wurden fle durch dieſe fpätere philofophifche Entwidelung geftürzt. Kant 
machte diefer Art der Aufklärung ein Ende und das Interefle, welches der Kampf der 
folgenden Syſteme gegen Kant und gegen einander erweckte, entzog enblich der Bibliothek 
bie öffentliche Aufmerfjamkeit. Ende der achtziger Jahre war das Schidjal der Bibliothek 
entfchieden, wenn fie ihre Eriftenz auch noch längere Zeit friftete. Schon Menvelsfohn 
hatte den Verfall der wolfifchen Schule anerkennen und eingefteben müflen, daß die 
beften Köpfe Deutfchlands von aller Speculation (d. 5. der wolflfchen) mit fchnöder 
Verachtung fprachen. Er Elagte und jammerte zulegt darüber, daß Kant Die ganze 
Metaphyſik zermalmt babe. Die Wiedererwelung Spinozas durch Jacobi, die Ent- 
derung, daß Leifing, deſſen vertrauter Breundfchaft er fich vor dem deutfchen Publicum 
rühmte, ihm von feinen fpinoziftifchen Ueberzeugungen Nichts mitgetheikt hatte, die Ent« 
hüllung der falfchen und gewundenen Wege, auf denen er Jacobi und deſſen Darlegung 
der Streitfrage zuvorzufommen und ihm durch die Beröffentlichung feiner deiftifchen 
Weisheit im Voraus zu entwaffnen fuchte — alles das Hatte ihm dad Herz gebrochen. 
In dem Tebhaften Streit, der noch über feinem Grabe wegen der, Lefjing = Jacobifchen 
Streitfache geführt wurde, Fam ed endlih an den Tag, daß er bei aller feiner ver- 
meintlihen philofophifchen Weisheit ein Jude, ein fehr ſtrenger, ein rabbinijch gefinnter 


=: Allinmee, Evangelieal, (Geſchichte.) 


Yute geblieben war. Damit war aber der Bibliothek ihr Ideal geraubt und fie ſiechte 
indem ihrem Tode entgegen. 
Alliance, Evangelical (Evangelifcher Bund), ein außerficchlicher Verein von 
Chriſten aller Lande, der, wie ſchon fein Name anzeigt, von England ausgeht. 
Der Gedanke zu einer religiöfen Verbindung der evangelifchen Chriſten verſchiedener 
Länder if alt; fhon Cromwell hegte ihn und fchlug 1655 in Verfolgung deſſelben 
u U dem König von Schweden ein allgemeines Bündniß aller Proteftanten der Weli 
vor: ') auch Leibnig 2) intereffirte fich für dieſen Gedanken, und er arbeitete beſon⸗ 
vers auf eine DBerbindung der Lutheraner und Meformirten in Deutichland mit ben 
Reformirten in England hin, ſetzte fich auch zu dieſem Zweck mit dem englifchen Ge 
tamdten in Zelle, Herrn von Erefiet, in Briefwechfel, und fand ſowohl in Berlin kei 
ker Ehurfürkin Sopbie Charlotte und ihrem gelehrten Hofprediger Jablonsky, als in 
Daunsver rege Theilnahme; Doch fehlte jeber fichtbare Erfolg. Die gegenwärtige 
.Alliance“ iR zunächſt durch die Anregungen norbamerifanijcher, fehottifcher und eini- 
zer engliſcher Sekten⸗Elemente entſtanden. Schon Dr. Nevin, der Gründer der (deut 
en) „bedlirlichen Theologie von Merkersburg“ (j. Amerika, Religion), hatte auf 
me Viſdung ſolch einer Gemeinſchaft hingewirkt; einen weiteren Anſtoß, freilich im 
auberem Geißie, batte bereits 1842 Dr. Kniewel zu Danzig und Dr. Schmuder in 
Surtemerila gegeben: Dazu bemühte fich der Schotte Dr. Ehalmers, für den unheil⸗ 
sure Drmch immerhalb der jchottifchen Nationalfirche auf einem neutralen Boden eine Ent⸗ 
‚delagmnz zu gewinnen, einen Bund der Evangelifchen zu fliften, „der gegen den Antichrift 
weus suche‘. mm endlich zeigten bie englifchen Baptiften einen ganz bejonveren Eifer für 
erer Bam Ueber Die Entftebung des Bundes fagt ein Mitglied des Vereins (der Paftor 
5 mmge: me mer Gelegenbeitöfchrift: Angeregt durch Aufforderungen des In⸗ und Aus⸗ 
auere ran oe Yuyu 1545 Beiftliche und Laien auß fieben verſchiedenen Kirchengkmein⸗ 
nme u Badge in Schottland zufammen, um eine Einigung, abgefehen von ihren 
mmgermee Tufferenzem. zum veriuchen. Punkte Der Bereinigung ftellten fich heraus. Sie 
mama iur werl. daß wenn Das Ganze nicht auf Schottland beſchraͤnkt bleiben 
Sir. me itonere Anzubi Die Angelegenheit noch reiflicher erwägen müßte, damit wirt 
me Serchlume zeragr werben fönnten. Sie erließen deshalb eine Einladung an Geil- 
ae. urie ui Trukemen und Inden Alle, welche Die Hand zu einer allgemeinen 
Srermierumg er Slaudtgen zu bieten bereit wären, zu einer Verſammlung im October 
5 = Teereei cm. Dieter Aufruf fand in allen Kirchengemeinfchaften Anklang, 
mr > Tide ur egeregten Tage in Liverpool 216 Geiftlidye und Laien aus 20 
sure vangenicten Nırckengemeinfchaften. Die erfte Sitzung wurde dem Leien 
ne en Sek Teer Weber uud der Grbauung gewidmet. Als ed nun zu den Ber 
ablungse "sun. :cume ih eime große Zurudbaltung; jeder fuchte fich gegen bie Zu⸗ 
waste er Interne :u vermuhren. Keiner wollte ſich und feiner Kirchengemeinſchaft 
u rgre 18 man ich Duden vereinigte, daß nicht Die Mede fein koͤnne von Ber- 
umge werdesser ünsengemerimfchaften, noch von Anerkennung anderer Glaubent- 
me iur ee ie einlich als einzelne Chriften zufammenfämen und daß ft 
m wer 32 onen sat rem Belenntni dad Allergeringfte aufgeben, nod 
Zur Sur Semi nmeirmer jollten, fondern Daß Jeder vor wie nach frei 
nr eu > az Sauter m Welemuinig. — Der Allen abs nothwendig gemein 


Zar > Suume-me Sumire werten kurz bezeichnet, zugleich auch befchloffen, dab 
"m me ‚mer rum 5 Semmart 1846 veranlaßt werben follte. Zuvor aber 
2 er zur im April zu Birmingham vorbereitendt 
n wen "tere Sepenflände noch einmal Durchgefprocdhen wur- 
m = mm, wir ser Ten ame andere Verfammlungen in allen Theilen 


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= ana Ideen 2 vr argernee Berl ‘egt. Fremde waren 
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Allanee, Evangelical. (Princip und Zweck.) 767 


verfchiedenen Ländern Europa's eingetroffen und wurden gaftfrei aufgenommen. Es war 
eine Kirchenverfammlung eigenthümlicher Art, wie fie noch nie auf Erben flattgefunden. 
Da faß ein Eupferrother Häuptling der Nord» Amerikanijchen Indianer neben einem Neger« 
prediger aus Weſtindien, ein Miſſionar aus Süd. Afrika neben dem Bruder von OÖft- 
indien, Engländer, Franzoſen, Deutjche, Holländer, Schotten, Iren, aus den entlegen- 
ſten Gegenden der Erde, und von den verfchiebenften evangelifchen Bekenntniſſen hatten 
fi 920 Berfonen aus 50 verfchiedenen evangelifchen Kirchengemeinfchaften verfammelt. 
Man erklärte von Neuem, daß man richt erft eine Bereinigung gründen, fondern bie 
ſchon vorhandene Einheit ausfprechen und fich dazu befennen wollte. In folgenden 9 
Punkten fand man die Vereinigungd- Grundlage: 

1) Die göttliche Eingebung, Autorität (Unfehn) und Zulänglichkeit der beiligen 
Schrift. 2) Die Einheit des göttlichen Weſens und Die Dreieinigfeit der Perſonen. 
3) Die gänzliche Berberbtbeit Der menfchlichen Natur in Folge des Sündenfalls. 
4) Die Menfchwerdung ded Sohnes Gottes, fein Erlöfungswerf für Die fündige 
Menfchheit und fein Mittleramt als Zürfprecher und König. 5) Die Nechtfertigung 
des Sünderd allein durch den Glauben. 6) Das Werk des heiligen Geifted in der 
Belehrung und Heiligung des Sünder. 7) Das Necht und die Pflicht des eigenen 
Urtheils in Erflärung der heiligen Schrift. 8) Die göttliche Einfegung des chriftlichen 
Predigtamts, und die Autorität und Dauer der Stiftung der heiligen Taufe und des 
beiligen Abenpmahle 9) Die Unfterblichkeit der Seele, die Auferftehung des Leibes, 
dad MWeltgericht durch unfern Herrn Jeſum Chriſtum mit der ewigen Seligfeit der 
Gerechten und der ewigen Verdammniß der Ungerechten. Mit diefen neun Punkten 
bezeichnete man die Grenzen, innerhalb welcher man „wünfchte”, daß alle Glieder des 
Bundes mit ihrem Glauben ftänden. (Die Punkte 8 und 9 Hatten in dem urfprüng«- 
lichen Programm gefehlt und wurden erft nachtraͤglich in Berüdfichtigung englifcher 
Berhältniffe beigefügt. Punkt 9 mar gegen die amerikanifche Sekte der Univerſaliſten 
gerichtet; u. A. aber nahmen auch die württembergifchen Pietiften Anſtoß an der 
„ewigen Verdammniß“, und ed wurde darum Die Aenderung „ewige Pein“ beliebt. 
Punkt 8 ift der Baptiften wegen in auffälliger Weife unklar gehalten; dennoch hatte 
diefe Sekte dagegen noch immer Einwendungen zu machen.) Hier wurde num aud 
der Zweck des Bundes Flar außgefprochen, nämlich brüberliche Liebe und Eintracht 
unter den verfehiedenen Abtheilungen der chriftlihen Kirche zu fürbern; ferner, daß 
jedes Glied des evangelifhen Bundes fi des Haderd und Streits enthalte, und 
daß, wo er fih in feinem Gewiſſen gebunden fühlte, gegen Irrthum zu zeugen, 
diefes ohne Bitterfeit ganz im Geiſte chriftlicher Liebe gefchehe. Außerdem wurde feſt⸗ 
geftellt, Daß auch ferner perfönliche Zufammenfünfte und Briefwechfel ftattfinden follten, 
damit den Bebrängten Theilnahme und Fürbitte zu Theil werde. Es follten nament⸗ 
lid, über den Stand des Unglaubens und feine gegenwärtige Form Mittheilungen ge⸗ 
macht werben; man münfchte die chriftliche Sonntagsfeier und eine chriftlicye Erziehung 
der Iugend zu fördern und ben Eingriffen des Papſtthums entgegen zu treten, überall 
die Ausbreitung der evangelifchen Kirche zu fördern und alfe Erfcheinungen des Uns 
glaubens, Aberglaubens, des Irrthums und der Gottlofigkeit zu befämpfen. &8 wur⸗ 
den zu dem Ende Zweigvereine gebilbet 1) für Groß- Britannien und Irland, 2) für 
die vereinigten Staaten von Amerika, 3) für Frankreich, Belgien, 4) Nord⸗ und 5) 
Süd⸗Deutſchland, 6) britiſch Nord-Amerifa und 7) Weft-Indien, dazu kam fpäter noch 
8) Schweden. MUeberall ging man nun an die weitere Ausführung des großen Plans, 
voran Groß» Britannien, wo faft an jedem Orte größere und Fleinere Berfammlungen 
gehalten wurden. Bei dem großen Zufammenfluß von Ghriften aller Nationen zu der 
Welt Audftellung, die 1851 in London ftattfand, hielt es der englifche Zweig bes 
Evangelifhen Bundes für zwedmäßig, auch eine Berfammlung von Chriften aller 
Völker zu veranftalten, die vom 19. Auguft bis zum 3. September flattfand. Jedem 
Volke war ein Tag befonders gewidmet. Vieles, was bisher nur in Eleineren Kreifen 
eined einzelnen Volkes bekannt war, wurde bier in bie Deffentlichkeit geführt und 
man erwies fich gegenfeitig herzliche Theilnahme in Leid und Freude. 

In Frankreich hatte die politifche Bewegung von 1848 der Entwidelung bes 
Evangelifchen Bundes große Hinderniffe in den Weg gelegt, doch Hatten fich Zweig⸗ 





768 Allianee, Evangelical, (Geſchichte.) 


Jude geblieben war. Damit war aber der Bibliothek ihr Ideal geraubt und ſie ſiechte 
ſeitdem ihrem Tode entgegen. 

Alliance, Evangelical (Evangeliſcher Bund), ein außerkirchlicher Verein von 
Ehriften aller Lande, der, wie fchon fein Name anzeigt, von England. ausgeht. 
Der Gedanke zu einer religiöfen Verbindung der evangelifchen Ehriften verfchiedener 
Länder ift alt; ſchon Cromwell begte ihn und ſchlug 1655 in Verfolgung befielben 
u. U. dem König von Schweden ein allgemeines Bündniß aller Proteftanten der Welt 
vor; ) auch Leibnitz 2) intereffirte fich für diefen Gedanken, und er arbeitete bejon- 
derd auf eine Verbindung der Qutheraner und Meformirten in Deutfchland mit den 
Neformirten in England hin, ſetzte fich auch zu Diefem Zweck mit dem englifchen Ge 
fandten in Zelle, Heren von Erefjet, in Briefmechfel, und fand ſowohl in Berlin bei 
der Churfürftin Sophie Charlotte und ihrem gelehrten Hofprediger Iablonsfy, als in 
Hannover rege Theilnahme; doch fehlte jeder fichtbare Erfolg. Die gegenwärtige 
„Alliance“ ift zunächft durch die Anregungen norbamerifanifcher, fehottifcher und einis 
ger englifcher Seftens&lemente entflanden. Schon Dr. Nevin, der Gründer der (Deuts 
ſchen) „hochkirchlichen Theologie von Merkersburg“ (ſ. Amerika, Religion), hatte auf 
die Bildung folh einer Gemeinfhaft bingewirkt; einen weiteren Anſtoß, freilid in 
anderem Geifte, hatte bereits 1842 Dr. Kniemel zu Danzig und Dr. Schmuder in 
Nordamerika gegeben; dazu bemühte ſich der Schotte Dr. Ehalmers, für den unheil⸗ 
baren Bruch innerhalb der jchottifchen Nationalkirche auf einem neutralen Boden eine Ent 
ſchaͤdigung zu gewinnen, einen Bund der Evangelifchen zu ftiften, „Der gegen den Antichrift 
Front mache“, und endlich zeigten Die englifchen Baptiften einen ganz befonderen Eifer für 
diefen Plan. Lieber die Entftehung des Bundes fagt ein Mitglied des Vereins (der Paftor 
€. Runge) in einer Gelegenheitöfchrift: Angeregt durch Aufforderungen des In⸗ und Ans⸗ 
landes traten im Auguft 1845 Geiftliche und Laien aus fieben verfchiebenen Kirchengtmein- 
fhaften zu Glasgow in Schottland zufammen, um eine Einigung, abgefehen von ihren 
einzelnen Differenzen, zu verfuchen. Punkte der Bereinigung ftellten fich heraus. Sie 
erkannten aber wohl, daß wenn das Ganze nicht auf Schottland befihränft bleiben 
jollte, eine größere Anzahl die Angelegenheit noch reiflicher erwägen müßte, Damit wirh⸗ 
liche Befchlüffe gefaßt werden fönnten. Ste erließen deshalb eine Einladung an Geil 
liche, Aelteſte und Diafonen und Inden Alle, welche die Hand zu einer allgemeinen 
Verbrüderung der Gläubigen zu bieten bereit wären, zu einer Verſammlung im October 
1845 zu Liverpool ein. Diefer Aufruf fand in allen Kirchengemeinfchaften Anklang, 
und es erfihienen am feftgefeßten Tage in Kiverpool 216 Geiſtliche und Laien aus 20 
verfchienenen evangelifchen Kirchengemeinfchaften. Die erſte Sitzung wurbe dem Leim 
der heil. Schrift, dem Gebete und der Erbauung gewinmet. Als es nun zu ben Ver—⸗ 
handlungen Fam, zeigte fich eine große Zurückhaltung; jeder fuchte fich gegen die Zu⸗ 
muthungen ber Andern zu verwahren. Keiner wollte ſich und feiner Kirchengemeinjdaft 
etwa8 vergeben, bis man fich dahin vereinigte, Daß nicht Die Rede fein konne von Ver— 
einigung verfchiedener Kirchengemeinfchaften, noch von Anerkennung anderer Glauben‘ 
befenntmiffe, fondern daß ſie Lediglich als einzelne Ehriften zufammenfämen und daß ſie 
weder von ihrer Ueberzeugung und ihrem Bekenntniß das Allergeringfte aufgeben, noch 
irgend etwas ihnen Fremdes annehmen follten, fondern daß Jeder vor wie nad frei 
bleiben follte in feinem Glauben und Bekenntniß. — Der Allen add nothwendig gemein 
fam bezeichnete Lehrgrund war vorläufig in 8 Punkte kurz zufammen gefaßt, und bie 
Zwede des Evangelifchen Bundes wurden kurz bezeichnet, zugleich auch befchloflen, bar 
eine noch größere Berfammlung im Sommer 1846 veranlaßt werden follte. Zuvor aber 
wurden noch im Januar zu Liverpool und im April zu Birmingham vorbereitende 
Berfammlungen gebalten, in denen diefe Gegenftände noch einmal durchgeſprochen wur⸗ 
den. Die Theilnahme, welche durch dieſe und andere Verfammlungen in allen Theilen 
Englands, Schottlands und Irlands erregt wurde, war groß. 

Der 19. Auguft 1846 war zu der größeren Verfanmlung feftgefegt. Fremde waren 
aus allen Theilen Englands, Nord⸗Amerika's, Weite und Oſtindiens, fo wie aus ben 

1 icht ) Paris 
1839. 2, Gyfi gie Englande von D. Hume. (Franzoͤfiſche Ueberſetzung Campanons.) P 

2) G. W. Freih. v. Leibnig, von Guhrauer. Breslau, II. S. 179. 











.Allance, Evangelical. (Princip und Zwei.) 167 


verfchiedenen Ländern Europa's eingetroffen und wurden gaflfrei aufgenommen. Es war 
eine Kirchenverfammlung eigenthümlicher Art, wie fie noch nie auf Erden flattgefunden. 
Da ſaß ein Eupferrother Häuptling der Nord Amerikanifchen Indianer neben einem Neger⸗ 
prediger aus Weftindien, ein Wifflonar aus Süd⸗Afrika neben dem Bruder von Oſt⸗ 
indien, Engländer, Franzoſen, Deutjche, Holländer, Schotten, Iren, aus den entlegen- 
fien Gegenden der Erbe, und von den verfchiedenftien evangelifchen Bekenntniſſen hatten 
ih 920 Berionen aus 50 verfchiedenen evangelifchen Kirchengemeinfchaften verfammelt. 
Man erklärte von Neuem, daß man richt erfi eine Bereinigung gründen, fondern bie 
fhon vorhandene Einheit auöfprechen und fich Dazu befennen wollte. In folgenden 9 
Punkten fand man die Vereinigungd-Grundlage: | 

1) Die göttliche Eingebung, Autorität (Anfehn) und Zulaͤnglichkeit der heiligen 
Schrift. 2) Die Einheit des göttlichen Weſens und Die Dreieinigfeit der Perſouen. 
3) Die gänzliche Derberbtheit der menfchlichen Natur in Folge des Sündenfalle. 
4) Die Menfchwerbung des Sohnes Gottes, fein Crlöfungswerkt für Die fündige 
Menfchheit und fein Mittleramt als Fürfprecher und König. 5) Die Hechtfertigung 
des Sünders allein durch den Glauben. 6) Das Werk des heiligen Geifled in der 
Belehrung und Heiligung des Sündere. 7) Das Recht und die Pflicht des eigenen 
Urtheils in Erklärung der heiligen Schrift. 8) Die göttliche Einſetzung des chriftlichen 
Predigtamtd, und die Autorität und Dauer der Stiftung der heiligen Taufe und de 
beiligen Abendmahls. 9) Die Unfterblichkeit der Seele, Die Auferftehung des Leibes, 
das MWeltgericht durch unfern Herren Jeſum Chriſtum mit der ewigen Seligkeit der 
Gerechten und der ewigen Verdammniß der Ungerechten. Mit biefen neun Punkten 
bezeichnete man die Grenzen, innerhalb welcher man „würfchte”, daß alle Glieder des 
Bundes mit ihrem Glauben fländen. (Die Punkte 8 und 9 hatten in dem urfprüng« 
lichen Programm gefehlt und wurden erft nachträglich in Berüudfichtigung englifcher 
Berhältniffe beigefügt. Punkt 9 war gegen die amerikanifche Sekte der Univerfaliften 
gerichtet; u. A. aber nahmen auch die württembergifchen Pietiften Anſtoß an ber 
„ewigen Verdammniß“, und es murbe darum Die Aenderung „ewige Bein“ beliebt. 
Punkt 8 ift der Baptiften wegen in auffälfiger Weife unklar gehalten; vennoch hatte 
Diefe Sekte dagegen noch immer Einwendungen zu machen.) Hier wurde num aud 
der Zwed des Bundes klar außgefprochen, nämlich brüberliche Liebe und Eintracht 
unter den verfehiedenen Abtheilungen der chriftlichen Kirche zu fürbern; ferner, daß 
jedes Glied des evangelifchen Bundes ſich des Haders und Streits enthalte, und 
daß, wo er fich in feinem Gewiſſen gebunden fühlte, gegen Irrtum zu zeugen, 
diefes ohne Bitterfeit ganz im Geiſte chriftlicher Liebe geſchehe. Außerdem wurde feſt⸗ 
geftellt, daß auch ferner perfönliche Zufammenfünfte und Briefwechfel flattfinden follten, 
damit den Bedraͤngten Theilnahme und Fürbitte zu Theil werde. Es follten nament- 
lich über den Stand des Unglaubens und feine gegenwärtige Form Mittheilungen ge« 
macht werben; man wünfchte die chriftliche Sonntagsfeier und eine chriftliche Erziehung 
der Jugend zu fördern und den Eingriffen des Papftthums entgegen zu treten, überall 
die Ausbreitung der evangelifchen Kirche zu fördern und alle Erfcheinungen des Un⸗ 
glaubens, Aberglaubens, des Irrthums und der Gottloflgkeit 34 bekämpfen. Es wur- 
den zu dem Ende Zweigvereine gebildet 1) für Groß- Britannien und Irland, 2) für 
die vereinigten Staaten von Amerika, 3) für Frankreich, Belgien, 4) Nord» und 5) 
Süd-Deutfchland, 6) britifch Nord-⸗Amerika und 7) Weſt⸗Indien, dazu Fam fpäter noch 
8) Schweden. Veberall ging man nun an die weitere Ausführung des großen Plan, 
voran Groß - Britannien, wo faft an jedem Drte größere und Fleinere Verſammlungen 
gehalten wurden. Bei dem großen Zufammenfluß von Chriſten aller Nationen zu ber 
Welt- Ausftellung, die 1851 in London flattfand, bielt es der englifche Zweig bes 
Evangelifhen Bundes für zwedmäßig, auch eine Berfanmmlung von Chriſten aller 
Völker zu veranftalten, die vom 19. Auguft bis zum 3. September ftattfand. Jedem 
Volke war ein Tag befonderd gewidmet. Vieles, was bisher nur in Fleineren Kreifen 
eined einzelnen Volkes bekannt war, wurde bier in die Deffentlichkeit geführt und 
man erwies fich gegenfeitig herzliche Theilnahme in Leid und Freude. 

In Frankreich hatte Die politifche Bewegung von 1848 ber @ntwidelung des 
Goangelifchen Bundes große Hinderniſſe in ven Weg gelegt, doch hatten fi Zweig⸗ 





768 Allllauce, Evangellcal. (Berliner Bel.) - 


vereine in Lyon, Laufanne und Drüffel gebildet. Diefer Zweig bielt e8 für nothwen⸗ 
dig, Die Baſis des Evangelifchen Bundes „kürzer und weiter” zu faflen, um alle die 
darin zu vereinigen, von denen ed ihnen wiünfchendwerth war, fle ald Glieder auf- 
zunehmen. (Einer der bervorragendften Sprecher des franzöflfchen Zweiges, Herr von 
Preſſenſé, erklärte fich dabei freilich gegen alle abgefchloffenen Formulare und Befenntnig- 
ſchriften al8 bedeutenden Hemmfchuh des Kortjchrittö der Wahrheit, empfahl „die Bibel 
allein ‘mit zeitgemäßer Entwidelung der Dogmen und fehärfte die unerläfliche Pflicht 
ein, die formulirte Lehre, die ſich zwiſchen Gott und uns ftelfe, zu befeitigen“'!) In 
Paris wurde 1855 nach dem Vorbilde von London bei Gelegenheit der allgemeinen 
Induftrie= Ausftellung ebenfall8 eine große DVerfammlung gehalten, wo die Zuftänte 
der evangelifchen Chriſtenheit auf’8 Neue vorgeführt und namentlich Einblicke in das 
religiöfe Leben Schwedens, Italiens, Defterreichd, Ungarns und der Türkei gewährt 
wurden. 
Der Evangelifche Bund verfolgte gleich anfangs nächlt dieſen Verfammlungen 
„zur Erweckung brübderlicher Liebe und berzlicher Theilnahme der &vangelifchen unter 
einander”, auch noch andere Zwecke, namentlich den, „fi der Verfolgten um des 
Slaubend willen anzunehmen“. So ift ed ihm gelungen, den Dr. Achilli, freilich 
einen Unwürdigen, aus dem Gefängniffe in Rom zu befreien und ven Eheleuten 
Madiai in Florenz den Kerker zu öffnen, und in Schweden wie an anderen Orten 
die Orundfäge religiöfer Freiheit geltend zu machen. So veranlaßte derfelbe die 
Homburger Gonferenz, wo diefe Grundfäge der religiöfen Freiheit in ausführlicher 
Weiſe befprochen wurden, was auch bei der großen Berfammlung in Paris gefchab. 

Ferner veranlaßte derfelbe Preisfchriften, über Die Sonntagdheiligung nach ber 
Eigenthümlichfeit der verfchievenen Länder, über den linglauben, das Papſtthum und 
die Arbeiter- Bevöllerung. Er wirkte dazu mit, daß 100 Prediger aus Schottland 
und. England auf furze Zeit nach Irland gingen, um dort unter Katholifchen und 
Esangelifchen die großen Thaten Gottes zu verfündigen; auch find die Gottesdienſte 
in nicht kirchlichen Gebäuden und im Freien, die jetzt vielfach von hriftlichen Gemein 
fohaften gehalten werben, von ihm in's Reben gerufen, um den Verkommenen im Volle, 
die in feine Kirche geben, den Weg des Heild nahe zu bringen. 

Auch in Berlin hatte fich ein Zmweigverein des. Evangelifchen Bundes gebildet, 
der zunächſt nur eine geringe Anzahl von Mitgliedern umfaßte. Diefer Zmeigverein 
brachte im September 1857, nachdem König Friedrich Wilhelm IV. bei, Gelegenheit 
gegen Die Deputation der Parifer Eonferenz den Wunfch audgefprochen batte, daß 
nah dem, Vorgange von London und Paris auch in Berlin eine folhe Verſammlung 
von evangelifchen Ehriften aus allen Kändern gehalten werden möchte, eine Verſamm⸗ 
lung nicht bloß von Gliedern des Evangelifchen Bundes, fondern auch derer, Die dem 
Evangelifchen Bunde nicht beigetreten, die aber innerhalb der durch die 9 Lehrpunkte 
gezogenen Grenzen ftehen, zufammen. 

Die Berliner Berfammlung, deren Urheber neben dem Baftor Kunde zu fein, 
ſich der Berliner Baptiftenprediger Lehmann beſonders rühmte, hielt vom 9. bis 17. 
Sept. 1857 ihre Sitzungen, und zwar zumeift in der ihr von Staats wegen einge 
räumten Garnifonfiche. Die Zahl der Theilnehmer ift nicht genau feftgeftellt worden, 
doch nahmen an der Vorſtellung vor dem König, welche am 11. Sept. ftattfand, 
gegen taufend Perfunen Theil. Bon vornherein war die Befürchtung laut geworben, 
es möchte in der Verfammlung ein Ton der Bitterkeit und Gehäffigfeit in Bezug auf 
die Firchlichen Gegner der Allianz (Stahl, Sengftenberg 20.) laut werden, und Hof 
prediger Krummacher aus Potsdam nahm darum gleich in der erften Sitzung Veranlaffung, 
nachbrüdlich zu erflären, „unter den Gegnern ftänden Männer, Die auch ferner in Ehren zu 
halten feien.“ Es war indeß voraudzufeben, daß fein mahnendes Wort nicht auf alle Ele⸗ 
mente der ſtark gemifchten Vereinigung, in der u. U. auch der Haß der englifchen Breis 
Eichler gegen alle biftprifchen hochkirchlichen Elemente ſtark vertreten war, Einfluß ausüben 
werde. In diefer Berfammlung, die in den kahlen Räumen des fehlichten und wenig feier⸗ 
lichen Gotteshaufes vor einer bühnenartig breit und hoch, aber fehr leicht und aͤrmlich 
drappirten Mebnertribüne auf den weit ausgedehnten Kirchenbaͤnken faß, fanden fd 
außer den verſchiedenſten Nationalitäten auch die veligidfen Standpunkte vom englifthen 














Alliance, Evangelieal: (Berliner Verf.) 769 


Pufegiten und bifhöflichen Methopiften bis zum amerikaniſchen Indepenbenten und 
bi8 zum Deennoniten und Baptiften. ) Kaum fehlte eine chriftlicde Secte, außer 
der der Qudfer, die nach ihrem Grundgefeß fich felbft der Anerfennung der neun 
Artikel weigerten. Auch war die wiflenfchaftliche Theologie in mannichfachen Nuan⸗ 
cen vertreten, und wenn allerdings . die rabicale Tübinger Schule fehlte, fo fand 
bob, Dem Anfcheine nach, die bei einer Gelegenheit gegen dieſelbe gerichtete firenge 
Abweifung nicht, allfeitige Zuſtimmung. Don den theologifchen Profefforen mach- 
ten ſich bemerflich Brofeflor Nitzſch aus Berlin, die Profeſſoren Moll und Jacoby 
aus Halle (Lepterer ein Schüler Neander'3), Schenkel und Plitt aus Heidelberg, 
Schlottmann aus Züri, Merle D’Aubigne, der Gefchichtäfchreiber der Neforma- 
tion, aus Genf. Auch der Präfldent des Evangelifchen Kirchentage, v. Bethmann⸗ 
Hollweg, nahm an der Debatte Theil und bob „die Einheit und Verſchiedenheit der 
Ey. Alliance und des Ev. Kirchentags* hervor. Der zeitige Gefandte der norbameri- 
fanifchen Preiftaaten in Berlin, Wright, ein eifriger Methodiſt, war ebenfalls Mit- 
glied und trat als ſolches redend auf. Neben den Berichten über den Zuſtand der 
evangeliſchen Kirche in allen Laͤndern Europa's und vielen Theilen der anderen Erd⸗ 
theile gingen Eroͤrterungen über große Principienfragen einher, aus denen bie Ver⸗ 
handlungen über das allgemeine Vrieſterthum der evangel. Chriſten, neben dem aber 
doch Die Amtsordnung beftehen könne und müſſe (Nipfch), dann die über religiöfe 
Freiheit und die über die Unnäherung deutfcher und englifcher tbeolog. Wiſſenſchaft 
hervorzuheben find. Meber den zweiten Punkt ſprachen ausführlider Plitt und 
Schenkel, Beide in einer ziemlich bebenflichen abftracten Richtung. Aus der Rede 
Plitt's heben wir folgende wichtigere Säte hervor: 

„Jedes menfchliche Individuum fteht in abjoluter Abhängigkeit von Gott und 
wird fich derfelben durch das Gewiſſen bemußt. Balls ich gewiflenhaft bin, werde ich 
lieber. fterben, als etwas gegen mein Gewiflen thun. Da ich es mit Gott zu thun 
babe, fo fann ich keine menfchliche Autorität anerkennen; ich Tann ed nicht, eben weil 
ich mich abfolut abhängig von Bott weiß. Es handelt fi Demnach bier nicht um 
diejenige Freiheit, die der Unglaube für fich in Anſpruch nimmt, die da in einer Gleich“ 
gültigkeit Gottes gegen religtöfe Meinungen, in einer Nichtabhängigkeit von ihm wurzelt 
‚und nicht ſowohl eine Freiheit ift, ihm in einer vom Gewiſſen gebotenen Art, fondern: 
ihm gar nicht zu dienen....*” Und ferner bemerkte Plitt: 

„Keiner darf verfolgt werden, Allen ift unbefchränkte Neligiondfreiheit zu ge⸗ 
währen." Damit man aber diefen abflracten Sag nicht fo andbeute, daß an bie 
Stelle eined Societaͤts⸗Organismus eine Maffe von Atomen trete, fügte er den Canon 
bei: „die Freiheit der Individuen in der religidfen Sphäre involoirt nicht eine Freiheit 
in der bürgerlichsfocialen Sphäre, wodurch das Wohl und Beftehen Anderer geführbet 
werden Fönnte. Artet fie dahin aus, fo übt der Staat, wenn er einfchreitet, Noth⸗ 
wehr: jns inspeetionis saeculare muß ihm bleiben, nur bedarf e8 bier von Neuem 
eined bejchränfenden Canons. Staatögefährlich wird eine religiöfe Ueberzeugung und 
zum Einjchreiten berechtigt fle den Staat erfl dann, wenn fie zu Handlungen führt, die 
der allgemeinen Moral oder den befonveren Geſetzen des Staatd zumiber find. Ganz 
jo fpricht fich die belgifche Verfaflung (!) aus." 

Hofprediger Krummacher bemerkte dazu und zum Theil dagegen bald darauf, in 
tüchtigerem Inftinet auf die Wirklichkeit eingehend, Folgendes: „Der preußifche Staat, 
ald ein gut evangelifcher, werde es fich nicht nehmen laflen, die Kirche zu beſchirmen; 
er werde Legitimation fordern von denen, die neue Lehre brachten, und gegen Alle 
jein, welche Moralität oder Erziehung gefährbeten. Gerade diefen Grundſaͤtzen babe 
Preußen die PVorzüglichkeit feiner Schulen zu verdanken. Eine Angliflrung ober 
Amerikaniftrung fei vom Uebel. Uebrigens werde der preußiiche Staat die größte 
Toleranz üben, und auch die Baptiften würden längft anerkannt fein, wenn ſie ſich 
nicht jo mannichfache Uebergriffe Hätten zu Schulden kommen laſſen.“ (Die Baptiften, 
welche fich in der Verſammlung befanden, fuchten übrigens die Ueberzeugung zu ver- 


n) Es ift wohl bezeihnend, da gleich, in der erften Sitzung, in welcher die Bertreter ber 
toßen Kirchen ihre Anfprachen hielten, erklärt wurde, wegen Mangel an Zeit könnten die Begrüs 
Fungen ber Baptiften, Mennoniten, Mitglieder der Brüdergemeinde, nicht gehört werben. 
Wagener, Staats u. Geſellſch.Lex. I. 49 


N 


70 Allianee, Evangelical. (Kritit des Bunbes.) 

breiten, daß fle ihre Wirkſamkeit fo gut wie ganz auf die religionslofen Kreife bes 
Volkes richteten, kaum fünf Procent derer, die ihrer Gemeinfchaft zugeführt würden, 
gehöre den ſchon Gläubigen an. Indeſſen gab ſich doch Mißtrauen gegen die Ber 
fiherungen der Baptiften fund, denen vorgeworfen wurde, in die evangelifchen Gemein 
den einzubringen und ihren Frieden zu flören.) Died find Die weſentlichen Borgänge 
der Berliner Verſammlung. 

Wenn wir auch nicht läugnen wollen, daß dieſe Verfammlung in manden 
Stücken Nutzen geftiftet bat !), fo dürfen wir Doch auch nicht verjchweigen, daß tie 
Unflarbeit, welche vielfach die Entwidlung ihrer Verhandlungen trübte, das Zuftande- 
fommen beftimmter Nefultate verhindert hat. Diefe Unklarheit tft zur Hälfte aus eine 
pietiftifchen Strömung berzuleiten, welche große Kreife der Verſammlung beberrichte 
und bie chriftliche Freiheit zu fehr Der chriftlichen Brüderlichkeit unterorbnete, zur andern 
Hälfte aus einer wiffenfchaftlihen Weitherzigkeit, welche ftetS geneigt war, die Bern 
gung der chriftlichen Entwicklung im Individuum, wie in der Secte, dem realen, hiſto⸗ 
riihen Gewinn folder Entwidlungen, wie er in feften Kirchen, Symbolen und Orb 
nungen zu Zage- tritt, vorzuziehen. In legterer Richtung ging wohl Prof. Schlott- 
mann aud Zürich, ein preuß. Weftfale, der früher preuß. Gefandtichaftäprediger in 
Konftantinopel war, am meiteften. 

Die Verfammlung fand übrigens auch weder im PBublicum noch in ber deutjchen 
Prefie eine befondere Würdigung, gefchweige denn Anerkennung. Die Gegenfäge inner 
halb der Verſammlung zeigten fi dem Auge auch der religidd Gleichgültigen zu beut- 
lich, und der Mangel an beftimmten praktiſchen Zweden und Zielen gab dem Ganzes 
einen unrubigen verichwommenen Charakter, der dahin führte, an bie Stelle realer 
evangelifcher Thaten allgemeine Angriffe, Verbächtigungen u. dgl. zu fegen. Das 
Wort, das einft ein franzöftfcher Publicift Zurz vor der Nevolution den Verbindungen 
der Gonfervativen zurief: „Wenn der Dampflefiel fpringen will, fo hilft es nichts, daß 
fih alle Paſſagiere die Hände reichen,“ empfahl fich zu einer nochmaligen Anwendung, 
und auch diejenigen Proteftanten, welche in der augenbliclichen Machtftellung Der roͤmiſch⸗ 
Fatholifchen Kirche vollen Grund fanden, eine auf einen beſtinmten Zweck gerichtete 
Bereinigung evangelifcher Chriften zu billigen und zu fördern, mußten fich geſtehen, 
daß der Evangelifche Bund in feiner zeitigen Geftaltung eine fehr nebelhafte und 
fraftloje Erfcheinung fei, weſentlich ähnlich einer anderen aus gleich hochachtbaren 
Willensmeinungen hervorgegangenen evangelifchen Bereinigung, dem Evangeliſchen 
Kirchentag (f. Kirhentag). Beides gleihmäßig Berfammlungen, die eine kirchliche 
Bedeutung und Autorität in Anſpruch nehmen, ohne dergleichen zu befiten, können fr 
beide, wenn in ihren Zielen nicht bald genauer beflimmt, nur gleichmäßig die Wirkung 
haben, die noch vorhandenen kirchlichen Autoritäten und Behörden des letzten Reſtes 
ihres Eirchlichen Anfehens zu entkleiden und demnächſt die weitere Entwickelung und 
Entſcheidung auf ein Gebiet zu verlegen, auf dem die Wahrheit fich immer in bet 
Minorität befindet, auf das Gebiet der Agitation und des kirchlichen Elubbiämus. 

Wenn wir aber ungeachtet deſſen Die „Evangelifche Allianz“ nicht völlig und 
unbedingt verwerfen, fo gefchieht dies um ihres relativ berechtigten Strebens und in 
befondere um ihrer politifhen Bedeutung willen, welche letztere bis dahin nad 
nirgend genügenn berüdfichtigt zu fein fcheint. Entſtanden und erwachfen in England, 
Hatte fle dort von Haufe aus den Sinn und Zwei, einmal dem auf die Spike ge 
triebenen Independentiömus ein Surrogat für den verlorenen Begriff Kirche zu ge 
währen und zugleich Die damals noch vorhandene Firchliche und politifche Spannung 
und Feinbfchaft zwifchen Staatöfirche und Diffentertfum, beſonders im Hinblidk auf 
den gemeinfchaftlichen Gegner im Papſtthum auszugleichen und zu verfühnen, felbil 
redend freilich in ächt englifcher Weiſe. echt englifch ift es nämlich, nicht allein jeben 
Streit möglihft durch Compromiſſe zum einftweiligen Abſchluß zu bringen, ſondern 
auch der Praxis und befonders praftifchen Zweden und Vortheilen gegemüber bie 
Theorie und theoretifche Bedenken — feien dies auch Slaubendartifel und kirchliche 

’) Wir erinnern z. B. an den Vortrag des Prof. Kraft ans Bonn über bie Frage, warum 


trog der Nüdtehr der Theologie zum Glauben fo wenig geiflliches Leben in der evang. Gemeinde 
herrſche, und an bie daran ſich anſchließende allerdings nicht allfeitige Debatte, 











Alliance, Evangelical. (Poltt. Bedeutung.) 7TNl 


Differenzen — relativ gering zu achten und in den Hintergrund zu ſtellen, eine Eigen⸗ 
thümlichkeit, die wiederum mit dem Charakter und ber Geſchichte der engliſchen Re⸗ 
formation und des engliſchen Staatskirchenthums in dem engſten Zuſammenhange ſteht. 
Erwachſen aus wenig lauteren Motiven, urſprünglich das politiſche Werk eines, wenn 
auch einſichtigen und Fräftigen, doch weniger durch die Macht der Wahrheit, als durch 
Willkür und Ehrgeiz bewegten Fürften, bat das englifche Kirchenweſen jederzeit eine 
überwiegend politifhe Färbung und Bebeutung gehabt, fo daß felbft der Kampf 
zwifchen Staatskirchenthum und Diffentertbum mehr in politifchen ald firchlichen Gegen⸗ 
fägen verlief und die kirchliche und religiöfe Berechtigung des Individuums gegenüber 
dem Firchlichen und politifchen Organismus faft die einzige brennende Frage war, 
während von einer englifchen Theologie bis auf die neuefte Zeit kaum die Rede fein 
fann, und nah der gelkioen Befefligung der Kirchen⸗Syſteme Kampf und Ent. 
wickelung auf dem Gebiete des Geiftes mehr oder weniger überall einem Zuſtande der 
Abſpannung und dumpfen Stillſtandes Platz gemacht haben. 

Unmoͤglich daher, einen ſolchen Zuſtand und deſſen Conſequenzen auf Deutſchland 
zu übertragen, unmöglich, die Tiefe und das Streben des deutſchen Geiſtes auf das 
Armenrecht des engliſchen Diſſenterthums zu ſtellen; unmöglich, das neu erwachte 
Arbeiten und Ringen auf dem Gebiete des Geiſtes durch ein Compromiß der Abſpan⸗ 
nung und Stagnation zu befriedigen und zu ſchlichten, unmöglich, die Reſultate und 
Gegenſuaͤtze einer faſt zweitaufendjährigen Kirchengeſchichte und eines mehr als dreihundert⸗ 
jährigen reformatoriſchen Lebens und Strebens in Deutſchland zu ignoriren, unmöglich 
die theologiſche und wiſſenſchaftliche Fülle des deutſchen Kirchenthums auf das Katechu⸗ 
menenniveau jener neun Artikel herunterzudrücken, unmoͤglich, die Verſchleierung der 
Uneinigkeit zur Baſis der Gemeinſchaft zu erheben. 

Wenn wir nichts deſto weniger der „Evangeliſchen Allianz” eine politiſche Bedeu⸗ 
tung auch für Deutſchland vindiciren, fo "heilen wir doch die Beforgniffe derer nicht, 
welche das Princip der Allianz als den religiöfen Freihandel bezeichnen Chefanntlich con⸗ 
ftituirte fich der evangelifche Bund. in London in demfelben Jahre — 1846 definitin — 
in welchen ſich das englijche Parlament für den Freihandel erklärte) und welche bie 
Allianz felbit betrachten wollen, wenn nicht als den Hebel, mit welchem England die 
Kirchengefellfchaften des Continents zu erfchüttern und feine Hegemonie auch auf: dem 
firchlichen @ebiete zu vollenden gedenkt, fo doch mwenigftend ald vie. Anfrage an die 
Kirchen des Feſtlandes, ob fie felbft fchon in dem Grade an fich irre geworden find, 
um ihre Eigenthümlichkeiten und Errungenfchaften als etwas Gleichgültiges zu betrachten . 
und ihren Nüdhalt und ihre Stüge an dem feften Bau der engliihen Stantslicche zu . 
ſuchen. Die vorfichtige Zurückhaltung der meiften Häupter und Vertreter der englifchen 
Staatöfirche dürfte eher für das Gegentheil fprechen, um jo mehr, ald bei ernftlichem 
Geltendmachen des Princips der Allianz auf dem kirchlichen Gebiete das Kirchenthum 
in England ſelbſt ſich der Mitleidenſchaft ſeiner Schweſtern auf dem Continent ſchwerlich 
zu entziehen vermöchte. 

Die politiſche Bedeutung der Allianz, oder genauer ausgedrückt, die Möglichkeit 
einer ſolchen für Preußen, ſcheint uns vielmehr in der Anbahnung einer größeren kirch⸗ 
lichspolitifchen Annäherung zwifchen Preußen und England überhaupt und ſodann bes 
jonderd darin zu beſtehen, daß gegenüber ber politifchen Action der römifchen Kirche 
innerhalb der äußerften Ningmauern der evangelifchen Kirche, und was fich felbft noch 
dahin zählt, ein politifched Gegengewicht gewonnen und organifirt und Preußen als 
deffen Haupt und Gentrum gefennzeichnet und etablirt werde. So angefehen und be= 
banbelt, würde man bald über manche fonft ſchwer lösbare Widerfprüche hinweg und 
in’d Klare gekommen jein. Man würde es alddann leicht verflanden haben, daß und 
warum das Ganze einen weſentlich polemifchen Charakter in Bezug auf die römijche 
Kirche an ſich trägt; man würde es leicht verſtanden haben, daß und warun man fidh 
Eirchlich der katholiſchen Kirche näher fühlen und Doch mit proteflantijchen Secten eine 
Allianz gegen die politifche Action der römijchen Kirche jchließen fann; man würde es 
alddann leicht verflanden haben, daß und warum die fog. neun Artikel nichts fein 
fönnen und nichts fein follten, ald auf einer Seite eine Art von Sicherheit! > Ventil 
gegen allzu krauſe proteftantifche Geiſter und auf der anderen ein naturgemäß ſich mehr 


49* 





mn AHlance, Evangelical. . @Bolit. Beveutung.) 


in der Negative haltendes Feldgeſchrei gegen den politifchen Kirchenfeind; man würde 
es alsdann leicht verftanden haben, daß und warum dad Band, Das bie zerftreuten 
Glieder der evangelifchen Kirche zu einer politifchen Action vereinigen follte, yon den 
firchlichen Befonverheiten nicht nur abfehen Eönne, fondern auch müfle, fo lange nur 
überhaupt noch in der ‚Gemeinfamfeit des Gegenſatzes die Möglichkeit der gegenjeitigen 
Anerkermung der Duldung ihre Stelle behielt. | 

Sp aber hat man die politifche Bedeutung der Firchlichen Unflarheit und Rübs 
sung zum Opfer gebracht und anftatt eined proteftantifchen Principats Preußens auf 
dem Continent ſchaͤtzbares Material und Firchliche Confuflon zu Stande gebradyt. Und 
doch dürfte Preußen auch rein vom politifchen Gefichtöpunfte aus nicht wohl daran 
thun, den dfterreichifchen Goncordate gegenüber die Hände in den Schooß zu legen 
und Angefichts der nachweisbar vorhandenen politifchen Action der römifchen Kirche 
die Elemente der evangelifchen Gegen-Action fich immer mehr zerfplittern zu laſſen. 

Der König von Preußen zeigte für ‘die Berfammlung des Evangelifchen 
Bundes ein großes und tiefes Intereſſe. Schon unter dem 6. Mai 1857 batte der 
Praͤſident der Englifhen Ev. All., Sir Eulling-Earbley, der auch auf der Berliner 
Perfammlung anwefend war, im Namen diefer Vereinigung an Ihn eine bemerfend: 
werthe Adreſſe gerichtet, in der befonder8 folgende Stelle Aufmerkſamkeit verdient: 

„Blei im Jahre 1857 beichloß das englifche Comite, die britifchen Ehriften zur 
Kundgebung ihrer Empfindungen über das Vorhaben (die nächfte Berfammlung de3 
Bundes in Berlin zu halten) zu veranlaflen, indem es venfelben eine Schrift zur Un: 
terzeichnung vorlegte, welche den gemeinfamen Stanppunft ihres Glaubens und ben 
Wunſch ausdrüdte, daß die Berliner Verfammlung daB gefegnete Mittel zur Verbrei⸗ 
tung deffelben durch die Welt und zu einer engeren, glüdlicheren und beilfameren Ver⸗ 
einigung von Chriften aller Nationen, vorzugsmeife aber in Großbritannien 
und Preußen werden möchte. Wir fchäßen und glücklich, Ew. WMajeftit zu erkennen 
zu geben, daß dieſes Schriftftüd, welche wir Ew. Mafeftät im Abbrude und mit den 
verfchiedenften Upterzeichnungen verfehen und zu überreichen erlaubten, fich allgemeine 
Zuftimmung unter allen Klaffen britifcher Chriften zu erfreuen gehabt hat, welche ven 
gemeinfamen Glauben für mächtiger halten, ald Kirchen» Orbnungen und Verfaſſung. 
Ohne daß daffelbe veröffentlicht worden, haben daſſelbe zwiſchen 2000 und 3000 
Männer von Einfluß unterzeichnet, von denen nahe an taufend Geiftliche Der bi» 
ſchöflichen Kirhe von England und Irland, eine etwas Fleinere Zahl Geiſt⸗ 
liche der bifcgöflicden Kirche von Schottland und anderer evangelifchen Kirchen von 
Großbritannien und Irland und die übrigen Laien find. Sire! wir wollen Em. Ra 
jeftät nicht mit weiteren Einzelnheiten beläfligen. Die Zeit, in der wir leben, ift eine 
bewegte, und die Abhülfe für alle Gefahren liegt in dem Evangelium Jeſu Chriſti. 
Neligiöfer Dedpotismud auf der einen und anarchifche Zügelloflgkeit auf der anderen 
Seite bedrohen die europäifche Geſellſchaft. Wo ift unfere Hoffnung anders, als in 
dem Glauben an den, welcher den Ehrgeiz der Pharifder beugte und die Freigeifterei 
der Sapducder durch die Macht der göttlichen Wahrheit übermwältigte? Sollen bie 
bevorftehenden Iahre gebeuer fein, fo kann es nur dadurch gefchehen, daß jie von den 
lebendigen Einflüffen wahren Ehriftentbums durchdrungen werben.” . 

Der Koͤnig, der mehrere Male den Verhandlungen des Evangelifchen Bundes bei: 
wohnte, (auch ber Prinz von Preußen, der Prinz Carl und andere Mitglieder des Fön. 
Haufes erfchienen in der Berfammlung) berief am 12. Sept. fämmtlicdye Mitglieder bed 
Bundes zu Sich nach dem neuen Palais bei Potsdam, wo Er die BVorffellung „der 
jelben entgegennahm und von Neuem Sein hohes Intereffe an dem Werke ausdrückte. 
Dort befand fich auch der Ritter von Bunfen, früher preuß. Geſandter in London, in 
Seinem Gefolge, ein fonft allen englifch = deutfchen Verbindungen fehr geneigter Rann, 
der ſich indeß von der Berliner Verſammlung des Bundes fern gehalten hatte. Cine 
freundfchaftliche und etwas flarf hervortretende Annäherung Bunfen’8 an Merle d'Au⸗ 
bignoͤ erregte die befondere Aufmerkfamfeit der bei jener königlichen Audienz Anweſen⸗ 
ven, und ed Fam bei ihrer Rückkehr nach Berlin zu öffentlichen Aeußerungen der Ver 
wunberung darüber, wie Merle mit einem Manne, der neuerdings zum Theil in Die 
Irrthümer des Nationalismus, zum Theil in Die des Romanismus verfallen fei, brü⸗ 





— 





) 


Alliance; Evangelical. Bar zu Liverpool.) 113 


berlich umgeben könne. Merle erkannte an, daß er in religiöfer und theologifcher Be⸗ 
ziehung dem Ritter v. Bunſen fehr fern flände, in ihm aber den eblen und aufopfe- 
rungsfaͤhigen Menſchen liebe. Schlottmann benugte die Gelegenheit, um zu erklären, 
daß auch diejenigen, die die neun Artikel nicht annähmen, fehr wohl noch Ehriften 
fein fönnten. Ein preußifcher Geiftlicher (Provinz Sachen) äußerte in ähnlichem 
Sinne, zwar fihon fünf und zwanzig Jahre im Amt, müſſe er doch noch der Zeit 
barren, wo fein Glauben Diefe Artikel umfaflen Tönnte. Die Verfammlung wurde am 
17. Abend dur den im Saale der Berliner Brüdergemeinde gemeinfam gefeierten 
Genuß des heil. Abenpmahls befchloffen. 

Im Jahr 1858 fand wieder eine Generalverfammlung‘, Die des englifchen 
Zmeiges der Evangelifchen Alltanz, und zwar vom 26.—29. October zu Liverpool 
flatt. Sir C. Eardley führte wieder den Vorſitz, und-man nahm zunäcft, im Hin⸗ 
blick auf die Berliner Verſammlung, folgende Refolutionen an: 

„1) Da wir die innige Vereinigung der Ehriften in den verſchiedenen Laͤndern 
als eine Pflicht vor Gott anſehen, ſo begrüßen wir mit herzlicher Freude die von der 
Allianz in Berlin erzielten Erfolge, insbeſondere die im vorigen Winter zwiſchen England 
und Deutſchland begründete Correſpondenz. 

2) Nach den neuerdings erhaltenen Nachrichten betrachten wir den Guſtav⸗Adolph⸗ 
Verein als der Theilnahme und Freigebigkeit engliſcher Chriften in beſonderem Maße 
würdig. 

3) Während in fämmtlichen proteſtantiſchen Staaten religiöſe Intoleranz immer 
mehr mißbilligt wird, richten wir unfere Blicke mit tiefem Schmerz auf Mecklenburg⸗ 
Schwerin, wo trotz unſerer wiederholten, an die Megierung gerichteten Adreſſen ver 
freien Ausübung des religiöfen Bekenntniſſes ſtets noch bie flürkften Hinderniſſe ent- 
gegengeftellt werden. Wir wagen noch einmal, an den Großherzog felbft und mit 
einer auf Befeitigung derſelben gerichteten Bitte zu wenden und beordern deshalb eine 
befondere Deputation, um ihm dieſes unfer Gefuch vorzutragen. 

4) Wir gedenken mit tiefer Theilnahme unferer unterdrüdten Glaubendgenoffen 
in Ungarn, Böhmen und allen anderen katholiſchen Ländern und reichen ihnen im 
Geifte die Bruderhand, ermuntern fe zur Standhaftigfeit und Geduld unter der Trübfal 
und erinnern fle an die Verheißung bes göttlichen Worte, daß der Tag ihrer Erlöfung 
ſich nahe. 


Die Nachricht von der fchweren Krankheit Sr. Majeftät des Königs von Preußen. 


hat unfer Aller Herzen mit dem innigſten Schmerz erfüllt, und wir fönnen nicht umhin, 
Sr. Majeftät dem König und Ihrer Majeftät der Königin unfere wärmfte Theilnahme 
auszudrüden. Wir hoffen, daß Se. Königl. Hoheit der Prinz-Regent, welder 
ſich bereit .bei feiner Anwefenheit in London in Bezug auf den Gegenftand dieſer 
Unterredung mit vieler Wärme gegen Sir Eulling Eardley audgefprochen hat, Dielen 
Gedanken bald in Ausführung bringen werde.“ 

Darauf berieth ‘die Verfammlung die Angelegenheiten des Chriſtenthums in an- 
dern ferneren Rändern: der Präfident wird beauftragt, dem Lord Stanley, Minifter für 
Indien, zu erklären, „Daß das religiöfe Publicum Großbritanniens niemald mit der 
Berwaltung Indiend zufrieden fein wekde, wenn nicht Die Regierung ihren religiöfen 
Charakter offen befenne und fich bei Durchführung ihrer Mafregeln nur rein chriftlicher 
Mittel bediene (e8 wurde Dabei auf Die unter den indifchen Mifflonaren längft that- 
füchlich vorhandene Allianz bingewiefen); die Verfammlung befchließt, ed zum Gegen⸗ 
ftand ihres Gebetes zu machen, daß das Wunder der norbamerifanifchen Ermwedung 
fih aud in England wieberhole ; ; die dritte Nefolution lautet: „Die Chriften aller 


Länder Europa’ follten fih im Namen Jeſu Ebhrifti vereinigen und Lord John Ruſſell 


als Werkzeug der Befreiung des wider Willen ſeiner Eltern in Rom getauften Juden⸗ 
knaben Mortara benutzen;“ endlich wird auch an den Kaiſer von Frankreich ein Geſuch 
aus gefertigt, des Inhalts, er möge das Geſetz (23. Februar 1852), nach welchem ber 
Maire religiöfe Zufammenfünfte der Proteftanten zn fprengen bevollmächtigt fei, abändern. 
. Die englijche Eigenthümlichkeit verräth fich in jedem dieſer Befchlüffe, und wenn 
man auch zugeben muß, daß ihnen in der Evangelifchen Allianz die rechte Grundlage, 
und dadurch die Garantie ihres Erfolges fehlt, fo Fann man doch nur mit Theile 


- 








m Alllance, Evangelical. (Verhaltniß zu. England.) 


nahme die gerade darauf Iosgehende Energie und den männlichen Eifer, ber in ibnen 
hervortritt, betrachten. 

Die Liverpooler Verſammlung hatte die nicht unwichtige Folge, daß ſechszehn 
Geiftlihe der Englifhen Hochfirhe, voran der hochbegabte Hughes Mac Neile, ſich 
der Ey. AU. näberten und den Wunſch ausfprachen, daß im März 1359 zu London 
eine neue Berfammlung abgehalten werden möchte, „in der den Angehörigen der Staatd- 
(Hoch⸗) Kirche Die Sache der Ev. A. recht Far dargelegt und an's Herz gebradt 
werde." Sir Eulling Eardley veröffentlichte ald Vorbereitung zu dieſer Verfammlung 
eine Schrift, betitelt: The testimony to Christian Union of Australia, France and 
Germany, with a letter to the Rev. H. Mac Neile, London 1859, in welcher er als 
„Zeugniß aus Deutfchland* nichts bringt, als das Progranım der Berliner Neuen Evang. 
Kirchenzeitung (f. unten) fammt den Namen der Unterzeichner deflelben, von denen er 
in derber Zuverfichtlichkeit jagt, es feien das „faft alle rechtgläubigen Theologen Deutſch⸗ 
lands außer denen, die wie Prof. Hengftenberg Firchliche Sonderbefenntniffe über den 
gemeinfamen Glauben (mohl richtiger die Kirche über mehr zufällige Berfammlungen) 
ftellen, oder wie Sydow nur von der fubfectiven Religion ohne die obfective wiſſen 
wollen.” 

Diefe Berfammlung, zu welcher u. U. der Primad der Hochkirche, der Erzbiihet 
von Eanterbury und der Bifchof von Kundon ihre Zuſtimmung' gegeben hatten, findet 
in Juni 1859 gu London flatt, und es erwarten die Mitglieder des Bundes von 
ihren Erfolgen eine bebeutende DVerftärfung ihrer Macht und ihres Anfehens, wenn 
auch freilich die anglikanifche Kirche ſich niemals dazu verftehen wird, den Fleinften 
Theil ihres Bekenntniſſes und ihres Firchlichen Bewußtſeins der Ev. AU. zum Opfe 
zu bringen. 

Dennoch darf uns folche lebhaftere Betheiligung der Hochfirche an der Ev. 1. 
nicht Wunder nehmen, weil wir bei bochfirchlichen mie bei diffidentifchen Engländern 
ftet3 daffelbe politifche Intereffe vorausfegen Dürfen. Died Intereffe durchzieht 
— und e8 ift das ein Zeichen von der Fräftigen Nationalität der Engländer — mie 
ein rother Faden ihre religiöfen wie ihre wiffenfchaftlichen Beftrebungen, und bereitt 
jebt läßt fi aus einer Reihe von Zielen, die die Ev. U. im Auslande verfolgt, ein 
„friedlicher Eroberungsplan” conftruiren, der mit dem der englifchen Diplomatie, bei 
englifhen Handels und der englifchen Schifffahrt genau übereinftimmt. Die Ev. 1. 
bat es fich neuerdings zur Aufgabe gemacht, „Die evangelifche Miſſton in der Türkei 
durch einen eignen DBerein in den Vordergrund der chriftlichen Thätigkeiten der eng 
lifchen Proteftanten zu bringen,“ fie bat eine „Geſellſchaft für engliſch⸗türkiſche 
Literatur“ errichtet, welche durch Herausgabe von Wörterbüchern, Sprachlehren ze. ben 
Türken bie Erlernung des Englifchen erleichtert; daſſelbe thut Die Ev. A. aber au 
für die Araber und „auch die übrigen Sprachen des osmanifchen Reichs“ (alfo die 
Sprachen bi8 zum Euphrat und wohl auch darüber hinaus an die Grenye Indiens) 
„werben an die Reihe kommen“. (Worte einer vor Kurzem erjchienenen Bekannt⸗ 
machung Des engl. Büreaus der Ev. AU) Endlich ift der Plan genehmigt und int 
Merk gerichtet, Schulen in den dreizehn Randesfprachen Indiens zu gründen. Ba 
erkennt in diefen kühnen und großartigen Beftreßingen nicht auch eine Thätigkeit, melde 
det weitausfehenden, nach dem Orient begierigen Politik des Vaterlandes dient md 
welche zu gleicher Zeit dem englifchen Handel und der Herrjchaft Englands über Indien 
die große Heerftraße durch Die Levante und bis an den Kauf der großen nach Süben 
führenden Flüſſe fichern möchte. Doch erfehen wir nicht, warum bloß Deshalb dad 
‚ hriftlicye Intereffe der Engländer verbäcdhtigt werden koͤnnte? 

" Die nächfte (vierte) allgemeine (die Mitglieder nennen fle „öfumenifche”) Ber: 
fammlung der Evangelifchen Allianz wird einer von Dr. Merle d'Aubignoͤ ergan⸗ 
genen Einladung zufolge 1861 zu Genf flatifinden. > 

Die Evangelifge Allianz bat beteitö eine fehr umfafiende Literatur hervor 
gerufen, indeß find die meiften der betreffenden Bücher ohne Bedeutung. Zu erwähnen 
iſt Bonnet, „Der Evangelifche Bund, feine Grundfäge und Gefchichte. Frankfurt a. R. 
Bröoͤnner 1857*; außerdem Reineck, „Verhandlungen der Berfammlung evangelifcher 
Chriften Deutfchlande und anderer Länder vom 9. bis 17. Septbr. 1857 in Berlin 








Ä Alance, Evangelical. (Briebr. Wilh. IV. u. Die Ev. ©.) 105 


Authentliche Ausgabe. Im Auftrage des Eomites des evangelifchen Bundes." Zur 
Kenntnig Des Eatholifchen Urtheild über Die Evangel. Allianz dient Idrg, „Gel. des 
Preteftantismus. Freiburg 1858. I ©. 335 —350.* Seit dem 1. Januar 1859 
erfheint auch in Berlin. ein eigenes Organ des Deutjchen Zweige der Ev. A., die 
„Neue Evangelifhe Kirchenzeitung, heraudgegeben von Lic. H. Mepner (Ders 
lag von Br. Schulze).” Neben Kunge und Krummacher, welche das „Central« 
Comité des deutichen Zweiged des Ev. B.“ bilden, betheiligen fih daran Gen.⸗ 
Sup. D. Hoffmann, D. Ritzſch, Snethlage, Brof. Carl Ritter zu Berlin, die Prof. 
Tholuck, Müller, Hupfeld, Mol und Jacoby zu Halle, Prof. Iacobfon in Könige- 
berg, Prof. Voigt in Greifswald, Gen. Maj. v. Rudloff zu Niesky, Prof. Krafft 
zu Bonn, Brof. Dorner und Heinze. Ritter zu Göttingen, die Prof. Henke, Heppe 
und Weißenborn zu Marburg, die Prof. Schendel, Hundeshagen und Plitt zu Heibel- 
Berg, Ullmann zu Karlörube, Prälat v. Kapff ꝛc. Diefe neue Zeitung foll übrigens 
auch „Die gefammte chriftliche Kirche in allen ihren Intereffen umfaflen.” Schon ihre 
erfte Nummer enthielt einen höchft interefianten Beitrag zur Gefchichte der Ev. U. 
im dem Artikel, überfchrieben: „Unterredung Sir Culling Eardley's (Praͤſident der 
Ev. U. in England) mit Sr. Maj. dem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen” 
(am 1. Oct. 1857, alfo fur; vor der Erfrankung des Könige). Bei der Wichtigkeit 
der Angelegenheit und da die von. Eardley felbft herruhrende Nelation eine tactoolle 
und gehaltene if, folgt bier ein Auszug aus dieſem Artikel: 

n (Briedrih Wilhelm IV. und die Evangelifhe Allianz.) De 
König begann die Unterrevung mit der jüngft zu Berlin flattgefundenen Verſamm⸗ 
lung evangelifcher Ehriften. Er fagte, nad Allem, was er von. verfihiedenen Sei⸗ 
ten über viefelbe höre, fei dad Mefultat fehr Befriebigend; feit diefer Verfammlung 
fei ein neues Licht über die wahren Orundlagen der Kirche verbreitet worden. Daß 
fie zu gleicher Zeit beftigen Widerfpruch hervorgerufen babe, thue der Wahrheit diefer 
Behauptung feinen Abbruch. Diejenigen, welche nur in der lutheriſchen Kirche Wahr- 
beit zu finden glauben, feien voll Entrüftung, fle hätten alle Mäßigung verloren. Ich 
bemerkte, was mir über den günftigen Eindruck, den die Berfammlung hervorgebracht 
babe, fo wie auch .über den heftigen Widerfpruch, ven fle gefunden, befannt geworden 
fei, flimme mit dem, was Sr. Majeftät berichtet worben, überein, und Ich fei feft über- 
zeugt, daß bie durch Die Verfammlung bervorgerufene Stimmung zu großen Hoffnun⸗ 
gen für die Chriſtenheit bexechtige. Um fo wichtiger fei es daher, daß fogleih Maß⸗ 
regeln ergriffen würden, in welchen fich diefe Stimmung gleichfam verkörpere und durch 
welche ihre Fortdauer gefichert werde. Wit Sr. Majeftät Erlaubnig wolle ich einige 
Wege bezeichnen, auf welchem nach dem Wunſche Vieler dies geſchehen Eönne: 

Als der König dies geftattete, erwähnte ich zuerfi den Plan, denjenigen Prie⸗ 
— die aus der katholiſchen Kirche auszutreten geſonnen ſeien, ein Aſyl zu eröff- 

Ich theilte Sr. Majeſtaͤt mit, daß vor unſrer Abreiſe aus England einige meiner 
Banbelzute ein gebrudtes Geſuch in Umlauf geſetzt hätten, welches dahin gegangen ſei, 
daß dieſe Angelegenheit in Berlin näher erwogen werden möchte. Wir hätten jedoch 
den Eindrud gehabt, als wärden die Deutfchen dieſe Sache nicht mit großer Wärme 
aufnehmen. Unſre Freude und Ueberrafchung ſei daher groß geweien, ald wir es 
anderd gefunden hätten. Es fei in der Heiligen - Geiftliche unter dem Vorſitz Des 
Brälaten von Kapff in deutfcher Sprache eine der gebrängteften und begeiftertfien Ver⸗ 
fammlungen gehalten worden, denen ich je beigemohnt habe. Ein Eomite fei nieder 
gefegt, zu dem einige einflußreiche Maͤnner Deutfchlands neben folchen aus Frankreich 
und der Schweiz gehören. Died beweife, daß Diefer Gegenfland eines der tiefgefühl- 
teften Bebürfniffe in der evangelifchen Kirche fe. Das Comite habe einen Plan ent- 
worfen, Dad Reſultat werde wahrfcheinlich die Errichtung einer erften Zufluchtöftätte 
in der Schweiz jein und weiterhin die Eröffnung von Afylen in Deutichland für 
den gleichen Zweck, je nachdem fich das Bedürfniß herausſtelle. Ich müfle glauben, 
wenn dieſer Plan bekannt werbe, fo würden viele Priefler ‚offen hervortreten, nicht 
jo fehr wegen dieſes Unterfommend, als vielmehr wegen der Theilnahme, die man 
ihnen beweiſe. Wie ich böre,_feien die Erimmerungen an Huß in Böhmen noch weit 
verbreitet. Mehrere Prieſter feien bereits in, die Schweiz entflohen. Vor einigen Tagen 





⸗ \ 


776 'Allianee, Evangelieal. ($rievr. With. IV. u. die Es. X.) 


fei mir von einem audgezeichneten Docenten in der Rheinprovinz gefagt worden, der 
auszutreten beabfichtige. Se. Majeflät jagte, er babe auch von dieſem Falle gehört, 
könne fich aber nicht gleich auf den Namen des Mannes befinnen. Es ſcheine ihm dies 
eine Angelegenheit von großer Bedeutung. Ob ich ihm etwa fagen fönne, wie das 
Gleiche in England gelungen fei. Ich erwiederte, in Irland, wo man allein bisher bie 
Sache verfucht habe, fei nad den vom Grafen Noden gemachten Mittheilungen das 
Refultat Fein befrievigendes gewejen. Der Grund diefes Miplingens liege auf der Haut. 
Man babe als felbfiverftändlich angenommen, daß Priefter, die aus der römifchen Kirche 
austreten, wieder Geiftliche werden oder fonft irgendwie in eine kirchliche Thaͤtigkeit 
übergehen. Es jet aber irrthümlich zu meinen, daß ein gewefener Priefter fchon des⸗ 
balb auch geiftlichen Sinn und Gaben für das geiftliche Amt beflgen müſſe. Hiermit 
erflärte fi der König eimverflanden und fagte: „Wie können Leute zur Unterweifung 
Anderer ſich eignen, von denen Manche von den eriten Elementen der Theologie nichts 
wiflen.” Ich erwiederte, daß es immerhin Ausnahmefälle geben möge, aber vor allem 
müffe man es doch darauf abfehen, genan zu ermitteln, für welches Fach jeder einzelne 
fih am beiten eigne, ob zu einem Handwerker, Handlungsgehülfen, Lehrer oder zu ſonſt 
etmad. Ich babe Grund zu glauben, daß nichtd in höherem Grabe die Theilnahme 
der Ehriften in England und Amerika erweden und ihre Kreigebigfeit hervorrufen und 
fie mit Deutfchland enger verbinden würde, als dieſes. Se. Wajeftät ſprach darauf 
noch einmal feine lebhafte Hoffnung aus, daß der Plan gelingen werde. 

Ih fragte den König, ob ibm befannt fei, daß die Fatholifchen Prieſter biejer 
Tage eine mit der unfrigen gewiffermaßen rivaliftrende Verſammlung in Salzburg 
gehalten hätten, auf der man um die Belehrung von ganz Deutfchland zum katholiſchen 
Glauben gebetet Babe. Ihr Organ, Die Wiener Kirchenzeitung, babe einen heftigen 
Artikel gegen die Allianz gebracht, worin fie fage, die, Eatholifche Kirche fürchte ihre 
Wirkungen nit. Ich hätte Dabei an das Sprüchmort denken müffen: qui s excuse 
S’accuse; man fürchte bie Vereinigung evangelifcher Ehriften in Wahrheit mehr, al 
man geftehe. 

Sodann, ging ich zu der Frage über, ob und unter welchen Bedingungen die 
Kanzeln der englifchen Kirche für evangelifche Geiftlide Deutſchland s geöffne 
werden fönnten. Sr. Majeftät, fagte ich, fei es befannt, daß die Engländer ein Bolt 
feien, welches große Liebe zum Gefeg babe und nur fehr ſchwer ſich zu einer Aenderung 
ſeiner Geſetze entſchließe. Die dortige kirchliche Geſetzgebung ſei im Weſentlichen noch 
dieſelbe, wie vor zwei oder drei Jahrhunderten. Bis vor Kurzem ſei man der Meinung 
geweſen, daß durch dieſelbe alle Geiſtlichen, bie nicht die biſchoͤfliche Ordination empfan⸗ 
gen haͤtten, Yon den Kanzeln ausgeſchloſſen ſeien. Aber durch Forſchungen, die man 
jüngſt angeftellt habe, ſei das Unbegründete dieſer Annahme erwieſen worden. Prediger 
Henry Venn, der Sekretär der kirchlichen Mifflonsgefellichaft in London, habe ein 
Schriftchen in einigen wenigen Exemplaren bruden laſſen, worin er feine Freunde mit 
Diefer Thatſache bekannt mache. Er babe einen englifchen Geiftlichen beauftragt, bie 
Sache bei Gelegenheit der. Allianz Berfammlung angefehenen deutfchen Geiftlichen vor- 
zulegen und nächfte Woche werde dieſelbe der oberften Behörde der evangeliſchen Kirche 
Preußens förmlich vorgelegt werden. Her Venn beweife in jenem Schriftchen, dbaf, 
wenn Geiftliche fremder Kirchen fich zu den neunundbreißig Artikeln der englifchen Kirche 
befennen, die Bifchöfe die Vollmacht haben, ihnen das Predigen in den englifchen 
Kirchen zu geflatten. Man werde nun dem evangelifchen Ober⸗Kirchenrathe Die Frage 
vorlegen, ob nach feinem Dafürbalten die Mehrheit der gläubigen Geiftlichen auf dieſe 
Bedingung eingehen werde, oder wenn nicht, zu welcher anderen Erklärung, welche eine 
Bürgfchaft gefunder Lehre gebe, man fich wohl verftehen wärbe. 

In Diefer Sache könne ich ebenfowenig als in Sachen weltlicher Diplomatie 
erwarten, Daß fchon durch die erfte Anfrage und Antwort dieſelbe ganz in’s Heine 
fommen werde, aber bie Beiprechung fei Doch eröffnet. Und das wifle ich gewiß, 
wenn die Eriftenz gewiffer annehmbarer Beringungen, unter denen beutfche Geiſtliche 
auf den Kanzeln Englands ypredigen dürfen, bekannt werde, jo würde die öffentlide 
Meinung fich fo ſtark dafür erklären, daß man nicht nachlaffen würde, bis die Sache 
gefeglich erleichtert fe. „Welch ein Segen wäre ein folcher Yustaufch, fagte ber 

\ 











AHiance, Evangelieal, (SFriedr. Wild. IV. u. die Eu. 9.) 77 


König, „aber ed follte Gegenſeitigkeit flattfinden.” Ich fagte, ich fei ſchon dafür 
danfbar, daß die Kanzeln Berlins während der Allianzg-Berfammlung englifchen Geift- 
lichen mit fo vieler Bereitwilligkeit geöffnet worden feien, und ich fühle mich bei dem 
Gedanken befhämt, dab wir in England darin noch fo zurüd fein. „Allerdings“, 
fagte Se. Majeftät, „aber auf unferer Seite follte noch mehr gefchehen. Ich babe 
viel über die Sache nachgedacht und glaube, daß, wenn ein fremder Geiftlicher vom 
Conftftorium auf einer preußifchen- Kanzel einmal zugelafien worben ift, es für ihn 
einer zweiten Grlaubniß nicht wieder bebürfen follte. Einem Geiftlichen, der fich zu 
den Grundfügen des Evangelifchen Bundes befennt, follte e8 nach einmaliger Zulafs 
fung für immer geftattet fein. Und, fügte Se. Majeftät hinzu, ich Hoffe es noch zu 
erleben, daß es jo kommt.“) 0 
Ich bemerkte, Alles dieſes Habe vornehmlich darum Werth in meinen Augen, 
weil es zur Verherrlichung Chrifti gereiche, aber ich hoffe, daß es auch zeitliche Seg⸗ 
nungen in feinem Gefolge haben werde. Ich fei der Anficht, Daß, wo Einheit des 
Glaubens flattfinde, auch joriale und ſelbſt politifche Einigung fi daraus entwideln 
würde. Habe ich eined Menfchen Herz, fo babe ich feinen Xeib, babe ich eines Volkes 
Glauben, fo babe-ich feine Politif. „Aber wie kommen Sie, fragte der König, über 
Die Borurtheile der Diplomaten hinweg? * indem er dabei Aeußerungen großer politi⸗ 
ſcher Gereiztheit gegen Preußen englifchesfeitd anführte. Ich bemerkte, die veligiöje 
Stimmung made fid in England immer mehr geltend, weil fie immer mehr an Ein- 
t gewinne und zugleich immer bochherziger werde. Don Männern in öffentlichen 
tellungen werde te beachtet und refpectirt, auch wo ſie dieſelbe nicht theilen. Ich 
fei der lieberzeugung, die politifche Entfremdung zwifchen England und Deutfchland, 
wo fie flattgehabt habe, rühre vorherrfchend von dem Mangel an religidfer Sympathie 
ber. Wenn aber durch gemeinfchaftliche veligiöfe Unternehmungen und durch Predigen 
der einen auf den Kanzeln der andern dieſes letztere Uebel bejeitigt werde, fo fei ich 
gewiß, daß bezeichnete Uebel auf politiichdem Gebiet werde gleichfalld verfchwinden. 
Den naͤchſten Punkt, den ich berührte, betraf die Miflion unter den Juden. 
IH Außerte gegen Se. Majeftät, man babe in England den Einprud, als widmeten 
die gläubigen Chriften in Deutfchland den Juden wenig Theilnahme, ich hätte es 
jeboch anders gefunden und der Grund von dem geringen Erfolg, den Die Arbeit un« 
ter ihnen bisher in Deutichland gehabt habe, liege in dem Mangel an vereintem Wir- 
Een emglifcher und deutfcher Kräfte. Wir ſchicken von England Wifftonare nach Deutfch- 
land, zwiſchen diefen und den gläubigen Chriſten, in deren Mitte fie arbeiten, finde 
Eeine Gemeinfchaft flatt. Die Juden betrachten jene als die Repräfentanten einer frem- 
den fernen Kirche, nicht aber ald den Ausdruck der Gefinnung bed Chriſten des eig⸗ 
nen Landes. Die Ehriften in Deutichland fühlen fich übergangen, grade wie ich glaube, 
daß es und gehen würde, wenn man von Preußen aus Wifftonare unter Die Juden 
in London ſchicken würde, ohne einen Plan des Zuſammenwirkens vorzufchlagen. Es 
fheine mir, wenn wir im Geift des Neuen Teftamentes handeln mollten, fo wäre «8 
naturgemäß, daß wir Engländer unſre deutſchen Freunde zu größerer Thaͤtigkeit er⸗ 
munterten und die damit verbundenen Ausgaben mit ihnen gemeinfam trügen. So 
würde unfer Geld weiter zeichen, die Mifflonare wären umgeben von der Theilnahme 
chriſtlicher Freunde an Ort und Stelle, der Eifer für Iſrael würde hervorgerufen, wo 
ee ſich noch nicht finde und flatt der jegt vorhandenen Mißſtimmung würben die Bande 
der Freundfchaft zwifchen England und Deutichland hierdurch fefter gefnüpft werben. 
Se. Majeftät bemerkte, wenn er eine Anſicht Darüber. auöfprechen folle, fo fei ed dieſe: 
man möge daß fchon Beſtehende nicht überflüfftg machen, fondern vielmehr beide Pläne 
mit einander verbinden. Die deutſchen Chriſten follten ſich auch in die nicht ganz auf 
ihre Art getriebene Ihätigkeit ihrer Mitchriften finden Iernen. Wenn aber neben dem, 
was fchon beftehe, die Ehriften in England geneigt ſeien, Subſidien zu geben, fo werde 
ed gewiß die Einigkeit fördern, dies wäre natürlich an die Bebingung zu fnüpfen, daß 


1) Was dem Könige hinſichtlich dieſes Punktes in den Mund gelegt wird, hat fid) offenbar 
auf die Ordination bezogen, welche nad) feiner Anſicht die evangelifchen Kirchen einander gegenjeitig 


anerkennen follten. 
Anm. der Ned. der N. Ev. 8.3. 


! 





J 


TIB Alllance, Evangelical. (Friebe. Wild. IV. u. bie &v. A) 


vr deutſche Comite dem englifchen über bie gemeinfam geführte Thaͤtigkeit Bericht 
tte 9. 

Se. Majeflät waren durch ein Schriftflück, welches ich dem Ritter Bunfen über 
geben hatte, darauf vorbereitet worben, fich mit mir über die Baptiften zu unterreden, 
und Nitter Bunfen hatte mir gefchrieben, daß der König bereit fei, mit mir baräber 
zu fprechen. Ich fagte, ed liege mir am Herzen, Daß den wohlmollenden Geftnnungen, 
welche bei der Allianz VBerfammlung zu Berlin von beiden Seiten auögefprochen feien, 
eine praftiiche Maßregel folgen möchte. Wenn die Baptiften ein Central» Gomite m 
Berlin ernennen dürften, dad vom König bevollmächtigt werde, mit dem Winifter der 
geiftlichen Angelegenheiten zu verhandeln, jo würbe das vielen Uebelftänden abhbelfen, 
und eine in dieſem Sinne an die Baptiften erlaffene Eabinetö-Orbre würde gerade jegt 
auf Die öffentliche Meinung einen fehr günftigen Eindrud bervorbringen. Des König 
bemerkte, er habe vor zmei Jahren ſchon gewünſcht, daß dies gefchehen. möchte, babe 
aber vernonmen, Daß es von den Baptiften abgelehnt worden ſei. Ich fagte, ic je 
gewiß, Se. Majeftät feien hierin nicht recht berichtet worben, dieſes Anerbieten fei den 
Baptiften nie gemacht worden. Was man ihnen zu thun anheimgegeben habe, jei bie, 
einige da und dort in Deutjchland wohnende einflußreihe Männer ihrer Partei nam 
haft zu machen, worauf fle in Hamburg, Bremen, Berlin und andern Orten lebende 
Männer genannt hätten. Jeder Gefchäftsmann aber wifle, Daß jolche zerftreut woh⸗ 
nenden nicht im Stande feien, mit den Minifter in Berlin zu verhandeln. Sch möchte 
wäünfchen, daß fle in Berlin ein Eleined Comito hätten, welches in wenigen Stun 
zufammengerufen werden Fönnte, und dieſes follte verpflichtet fein, wenn die Negierung 
Klagen zu führen hätte, diefe zu beantworten, und wenn fie ſelbſt Beſchwerden vorzu⸗ 
bringen hätten, in der Lage feien, Diefe anzubringen. Der König fagte, er billige bie 
fen Plan gang und babe nur geglaubt, daß Died jchon gefcheben ſei. Er fragte 
mich, ob ich wohl noch etwas in der Sache thun koͤnne, er höre ja, daß ich morgen 
ſchon abreifen wolle. Ich erwiederte, wenn ich glauben dürfte, daß mein Bleiben etwas 
dazu beitragen koͤnne, das Band zwifchen England und Preußen feiter zu Fmüpfen, jo 
wollte ich lieber Monate lang bleiben, als irgend etwas ungethan lafien. Bei dieſen 
Worten wandte fich der König. auf dem Sopha zu mir herüber und drückte mir bie 
Hand mit geoßer Wärme, indem er mir für mänen guten Willen dankte. „Schon 
lange war ich, fagte er, von Der großen Bereutung einer Einigung zwifchen biejen 
beiden Kirchen durchdrungen, aber ich Eonnte feinen finden, der mich hierin unter 
flügt hätte. * | 

Endlich erwähnte ich gegen den König einen Auftrag, der mir von unfern Freun⸗ 
den in Berlin gegeben worden war, nämlich Se. Majeftät zu erfuchen, daß er gnäbigk 
erlauben möchte, ihn ald Protector des deutſchen Zweiged des Evangelifchen Bundes 
zu bezeichnen. „Bon ganzem Herzen," fagte der König... „Was habe ich während 
diefer ganzen Zeit für die Sache gethan? Ich fühle das tiefſte Interefie an be 
Allianz, und wenn burch meinen Namen der Sache ein Dienft geleiftet werben fan, 
fo gebe ich Ihn mit Vergnügen. Sagen Sie denen, die die Bitte ftellen, meine Aut 
wort Eomme von Herzen.” Ich dankte dem König aufs Wärmfle; er aber fagte,'eh 
fei fein Grumd, zu danken. „Glauben Sie mir, als diefe Herren von verfchiebenen 
Nationen in Potsdam neulich fo freundlich zu mir fprachen, fühlte ich mich wahrhaft 
gebemüthigt. Sch verfichere Sie, es ift Dies Feine bloße Phraſe, wenn ich jo ſpreche. 
Da, wo Alle um. den Einen Heiland als Mittelpunkt ſich ſchaarten, fühlte ich jeden 
Dank gegen meine Perſon als ungehörig.“ Ich erwieberte, ich könne Sr. Majeſtät 
Empfindungen ganz veritehen, aber die Schrift verbiete und nicht, denjenigen Ehre zu 


) Noch am gleihen Abend fprad, ich mit dem General-Adjutanten Sr. Majeität, dem Ge 
neral= Lieutenant v. Gerlach, dem Präfidenten ber Berliner Juden-Miſſions-Geſellſchaft. Ant 
dem mit ihm und fpäter mit dem Vice-Praͤfidenten dieſer Geſellſchaft, Kammergerichtsrath gode, 

erührtem Gefptäd, wurbe mir flar, daß der oben bezeichnete Plan ſehr verföhmend wirten würde. 
Die ſchottiſche Freitiche hat ihn bie auf einen gewillen Grab zu bem ihrigen gemacht. Ich fand 
auch, daß an Orten, bie ic, nennen fönnte, wo eine engliſche und eine deutſche Geſellſchaft neben 
einanber arbeiten, es auf die befehrien Juden IHädlih wirkt, fie betrachten ſich ale einen Gegen⸗ 
ſtand der Concurrenz und gehen je nad) den Umſtänden von dem einen Miſſionar zum aundern. 
Anm. des Berichterſtatters. 











Alllanz. (Begriff und Wefen.) 199 


erweiſen, welchen Gott eine hervorragende Stellung habe zu Theil werden laſſen, und 
welche fi von dem Berlangen befeelt zeigen, fie zu feiner Ehre zu gebraudien. 

Als ich mich erhob, um mich zu verabfchieden, drüdte mir der König in der 
wdärmften und freundlichften Weiſe die Hand und wiederholte, daß ed ihn gefreut habe, 
mich bei ſich zu fehen, mobei er den Wunfch ausfprach, daß ich wieberfommen möchte. 
n Wir bebürfen Ihrer," fagte er, „Ihre Gegenwart wird hier von großem Nuten fein. 
Ich hoffe, Sie kommen wieder.” Ich verficherte Se. Mafeftät, ich wolle thun, was ich 
köonne, um dieſen Wunfch zu erfüllen. Er ergriff noch einmal meine Hand und fagte 
in englifcher Sprache (unfre Unterhaltung war in franzöflfcher geführt worden): „Gott 
fegne Sie, Lieber Herr!" — Gott fegne Ew. Wafeftät an Leib und Seele! ermieberte 
ich und verabfchiedete mich, indem ich den Adjutanten folgte, welcher den Befehl er⸗ 
dalten Hatte, mich zu dem Gemach des Generalskientenants v. Gerlach zu führen, - 

Vielleicht ift es mir nicht geftattet, dieſen edlem Fürften auf Erden Gwisberzufehen; ; 
aber das ift mir gewiß, daß er im Himmel einen Ehrenplat einnehmen wird. Und 
wenn ihm Gott ein langes Xeben befchert hat, fo fage ich mit Zuverflcht voraus, daß 
er der Kirche noch große Dienfte leiften wird. Gott fegne ihn und erhöre die Gebete 
der vielen Ehriften, welche fih ihm für Alles, was er zur Förderung des Evangeliums 
sechan hat, zu großem Danke verpflichtet fühlen! 

Sir Culling Eardley.“ 

Der engliſche Verfaſſer dieſer Relation, ein Mann von politiſchem Einfluß in 
England, gehört übrigens keiner entſchieden kirchlichen Richtung an, ſondern hält daflır, 
wie wir aus einem fraͤnkiſch⸗bairiſchen Kirchenblatte („Fretmund,“ 18. Mai 1857) er⸗ 
feben, daß „der erſte Schritt gegen das Papſtthum darauf gerichtet fein muß, Deutſq 
lands Proteſtantismus zu reinigen, daß alte Lutherthum bahne dem Papftthum den Weg.“ 

Allianz (Breundfchafts-Bündnig) ift in des Wortes engerer und urfprünglicer 
Bedeutung ein Befellfchaftövertrag, wodurch das politifche Verhalten und Handeln 
mehrerer Staaten und Spuveräne entweder unter fich oder gegen andere Staaten, fe 
ed in gegenfeitigem oder einfeitigem Intereſſe, mit gleichen oder ungleichen Mitteln, 
allgemein oder nur auf gewiſſe Fälle und zeitweife beftimmt wird. (Definition Heffter's 
in feinem „Europäifchen Völkerrecht, der Gegenwart" ©. 167. 3. Ausg. Berlin. 
Schröder. 1855.) Die Allianz ift darum mehr, ald ein Bertrag, den Staaten über 
ihr bloßes Verhalten unter einander in einzelnen ſtaatlichen Thaͤtigkeiten ſchließen, (z. B. 
als ein Handels⸗, Schifffahrts⸗, Poſt⸗, Eiſenbahn⸗ Paß⸗, Auslieferungsvertrag) und 
weniger als eine Confoͤderation, welche „die fortgeſetzte Erreichung eines oder mehrerer 
gemeinſamer Zwecke mit gemeinſamen bleibenden Anſtalten“ (z. B. einem Bundestage) 
zum Zweck haben. Heffter zählt vier Arten der Allianzen auf: 1) Vertraͤge, welche 
lediglich ein friepliches und freundfchaftliched Verhalten der Staaten gegen einander 
zum Zweck haben und ausdrücklich oder ſtillſchweigend bie gegenfeitige Gewährung 
einer friedlichen rechtlichen Entfcheivung nach den Grundfügen des Völkerrechtes in 
Streitfachen feftfegen; 2) Verträge, wodurch man fich einen beftimmten Verkehr oder 
gewiffe Begünftigungen deffelben oder Gemeinfamfeit gewiffer Rechte einräumt; 3) Buͤnd⸗ 
niffe wegen eines gewiſſen politifchen Verhaltens gegen Dritte; 4). Verträge, welhe 
‚die Aufrechterhaltung eines gewiſſen Rechts- oder Beſitzſtandes zum Zwed haben. Doc 
möchte dieſe Eintheilung fich vereinfachen laſſen, da die unter 2) aufgeführten Verträge 
(Handeld- und Schifffahrtöverträge, Münze, Maß» und Gewichts» Conventionen) wohl 
kaum zu den eigentlichen „Geſellſchaftsvertraͤgen“, ſondern vielmehr zu denen gehoͤren, 
die Behufs „beſtimmter Leiftungen einer Sache oder eines Rechtes“ gefchloffen werden, 
und da ferner die zulegt (unter 4) aufgezählten Verträge (Schutverträge und Barantie- 
verträge) ausbrüdli ober ftillfchweigend auch ein beftimmtes Verhalten gegen Dritte 
in nähere oder entferntere Ausficht ftellen. Ja e8 bliebe, wenn man von der „heiligen 
Allianz" und der fich ihr anfchliefenden Aachener Gongreß « Erklärung von 1818 ab— 
ſteht, welche Heffter unter die erfte Art der Verträge rechnet, nur die von ihm unter 
3) aufgeführte Art, das Bündniß zweier oder mehrerer Staaten wegen 
eined gewiffen politifhen Verhaltens und Handelns gegen Dritte, 
ald eigentliche Alltanz übrig. 

Die Allianzen find eine nothwendige Folge der Unvollkommenheit in der Anwens 


‚788 Allianz. (Begriff und Weſen.) 


dung und Bollfiredung des Völkerrechtes. Zwar brachte das Chriftentbum den Staa- 
ten und Voͤlkern das Bewußtfein ihrer Zufammengehörigkeit und ihrer gegenfeitigen 
Pflichten, aber die Verlockungen der Macht und der Mangel eines internationalen 
Tribunald bewirkten doch durch alle Jahrhunderte Friegerifche Verwiclungen, die, wenn 
in ihnen auch gewifle Bedingungen ver chriftlichen Geflttung von beiden Seiten ancı- 
fannt wurden, doch den Charakter der neueren Staaten- und Weltorbnung als einen 
wirklich chriftlihen in Frage ftellten. Gerade im Beginn der neueren Zeit, nachdem 
der weltbeberrjchende und einem edleren Voͤlkerverkehr vielfach günftige Einfluß der 
römifchen Kirche geſunken war, fehien eine in Italien erzeugte und in Spanien mit 
Erfolg geübte Politik, die in Wirklichkeit jeden Grundfaß des Nechted läugnete und 
den Vortheil für ihren einzigen Leitftern erklärte, eine Politik des Ueberfalls und dei 
Meineids, in ganz Europa Fuß zu gewinnen. Ihr trat die Politif des Gleichgewichts 
entgegen, eine Politik, fümmerlih und mechanifch, die dadurch dem einzelnen Staate 
Belle und Frieden zu erhalten fucht, daß fe ihn beflimmt, allein, meift aber durch 
Allianzen jede andere Macht ander Gewinnung einer Mebergewalt zu hindern. 

In der heiligen Allianz (f. unten) und in der Aachener Congreßerflärung !) 
liegt ein edler, aber unklarer Verſuch vor, eine höhere, freiere und dem Chriftenthum mehr 
entjprechende Ordnung den Beziehungen der einzelnen Staaten zu Grunde zu legen, 
aber jene Allianz und diefe Erflärung haben nur das Eine erreicht, den Widerfprud 

zu reizen und die alte melfche Politik des Vortheils und der Ueberliftung zu neuen 
Anftrengungen und leider auch Siegen zu bewegen. Diefer Politik ift es gelungen, 
den loderen, aber Immerhin doch den Frieden verbürgenden Bund zu zerreißen, der die 
drei Hauptmächte des Kontinents feit 1815 zufammenbhielt, und indem fie dahin ftrebt, 
ſich felbft in einer Staatenallianz die nöthige Kraft’ zu jichern, wird fie über kurz oder 
lang die übrigen Staaten nöthigen, der Allianz der Eroberungsfädtigen 
gegenüber eine Allianz zur Erhaltung des Gleihgewihts Europa’ 
zu fchließen, \ 


) Declaration (sanctionnee par le protocole sign& à Aix-la-Chapelle, le 15 Nov. 
1818 par les lenipotentiaires des cours d’Autriche, de France, de Er. Bretagne, de 
Prusse et de Russie):... L’Union intime &tablie entre les Monarques associes A ce sy- 
steme (politique destine à assurer la solidit& de l’geuvre de la paix), par leurs prin- 
cipes non moins que par Tinter&t de leurs peuples, offre à l’Europe le gage le plus 
sacre de sa tranquillit& future. ‚ . 

L’object de cette union est aussi simple que grand et salutaire. Elle ne tend ä 
aucune nouvelle combinaison politique, A aucun changement dans les rapports sant- 
'tionn6s par les traites existans. Calme et constante dans son action, elle n’a pour 
but que le maintien de la paix et la garantie des transactions qui l’ont fondee et 
consolidee. 

Les souverains, en formant cette union auguste, ont regard6 comme sa base 
fondamentale, leur invariable resolution de ne jamais s’ecarter ni entr’eux, ni dans 
leurs relations avec d’autres états, de l’observation la plus striete des principes du 
droit des gens, principes qui dans leur application à un état de paix permanent, peu- 
vent seuls garantir eflieacement l’independance de chaque Gouvernement et la stabilite 
de l’association generale. 

döles a ces principes, le Souverains les maintiendront &galement dans les reu- 
nions, auxquelles ils assisteraient en personne, ou, qui auraient lieu entre leurs Mini- 
stres, soit qu’elles ayent pour objet de discuter en commun leurs propres interöts, soit 
qu'elles se rapportent A des questions dans lesquelles d’autres Gouvernements auraient 
ormellement reclame leur intervention. Le me&ıne esprit, qui dirigera leurs donseils et 
qui regnera dans leurs communications (iplomatiques, presidera aussi à ces Wunlons 
et le repos du monde en sera constamment le 'motif et le but. nn 

est dans ces sentimens que les Souverains ont consomme& l’ouvrage a 


L 





etaient appeles. Ils ne cesseront de travailler à l’affermir et ä le berfectionn . is 
reconnaisent solennellement que leurs devoirs envers Dieu et envers les peuplesiüs 
ouvernent leur prescrivent de donner au monde, autant qu’il est en eux, l’exempfs#® 
a justice, de la concorde, de la moderation; heureux ‘de pouvoir consacrer desorn 
tous leurs efforts ä protöger les arts de la paix, à accroitre la prosperits interieure 
leurs 6tats, et à r&veiller ces sentiments de religion et de morale dont le malheur' de: 
temps n’a que trop affaibli l’empire. "4 
‚  Aix-la-Chapelle, le 15. Novembre 1818. 
Metternich. Castlereagh. Hardenberg. Nesselrode. Richelieu. Wellington. Bernstorff. 
Capo d’Istria. Par Mrs. les Plenipotentiaires: Gentz. 





Allianz. (Eintheilung.) 781 


Es laſſen fich hiernach — abgefehen von der reinen Theorie und in Bezug auf 
die wirkliche Lage der Welt, wie fie Durch Jahrhunderte gemorden ift — die Allianzen 
in zwei Klaffen theilen, in folche, die zur Bewahrung des gegenwärtigen Recht» und 
Beitgflandes, reſp. zur Herftellung eines unterbrochenen wirklichen Zuftandes diefer Art 
geſchlofſſen werben, und in folche, welche die Vernichtung des allgemein anerkannten 
Rechts⸗ und Bellgftandes und die Erlangung von Vortheilen, für welche fein Rechts⸗ 
titel vorhanden ift, zum Zweck haben. Diefe Eintheilung fallt mit der gewöhnlichen 
(Defenfiv- und Offenfiv- Allianz) natürlich durchaus nicht zufammen, wird 
vom außfchließlich theoretifhen Standpunft aus auch Bedenklichkeiten erregen, möchte 
fiy aber aus anderen Gründen Dennoch empfehlen und follte wenigftend von ben 
Völferrechtslehrern jelbft, die dieſe ihre Wiffenfchaft für wohl befähigt halten, eine 
Entfcheidung über Necht und Unrecht in internationalen Bragen herbeizuführen, nicht 
bemängelt werden. Zunächft find wir dadurch der müßigen Streitfrage enthoben, in⸗ 
wiefern Allianzen rechtlich erlaubt find, und ob eine Allianz zur WMitrealiftrung des 
Zweckes verpflichte, der von dem Allürten ald ein unrechtmäßiger erfannt werden muß.) 
(Das Bölkerrecht zählt unter die ungerechten Allianzen diejenigen, welche einen Angriff 
obne Kriegderklärung veranlaffen, ferner Die, welche jede gütliche Auögleichung ober die 
vom Gegner angetragene Unterwerfung unter ein fchiedsrichterliches Erkenntniß unbedingt 
ablehnen 20.) Neben den beiden Hauptarten der Allianzen läßt fich übrigens noch eine 
Nebenart derjelben aufführen, die A. Schwacher mit ftarfen Ufurpatoren, wie es die 
A. der Nömer und die der Sranzofen in der republifanifchen und Faiferlichen Zeit waren, 
doch iſt diefe Art der Allianz, wie Heffter bei Bluntfchli (I., 428) mit Recht fagt, 
eher ein „Dienftbarkeitd-, gewiſſermaßen ein Unterwerfungdvertrag.“ 

Eine Reihe anderer Eintheilungen erwähnen wir im Vorübergehen. Man unter- 
fcheidet zwijchen gleichen und ungleichen Allianzen, je nachdem in ihnen die Stel- 
lung der Alliirten zu einander beflimmt wird; ferner allgemeine und befondere 
A., je nachdem fle im Hinblick auf einen beftimmten Zwed oder in Berückſichtigung 
der gefammten Weltlage ꝛc. gefchloffen find; ferner einfache A., Kriegsgemein⸗ 
[haften und bloße Subfidientractate. Lebtete Eintheilung wird auf das 
Map der Verpflichtungen, die die Alliirten gegen einander übernonmen haben, begründet. 
Ein bloßer Subfidientractat ift ein folcher, in welchem ein Staat Finem anderen gegen 
baare Bezahlung Truppen überläßt, ohne felbft am Kriege theilzunehmen. Solche 
Tractate werden mit Necht veriworfen, und der Durch ſolche Miethötruppen angegriffene 
Staat Tann mit Grund den Staat, dem diefe Truppen urfprünglich angehören, als 
einen angreifenden Feind betrachten. Für Die Schweiz, deren Truppen in Dienften 
italienifcher Fürften ftehen, Fönnte im Fall eines italienifch-franzöftfchen Krieges dieſer 
Umftand verhängnißvoll werden. Dagegen ift natürlich gegen Subfldientractate, die 
jwifchen bereit Kriegsverbündeten beſtehen (3. B. gegen die Subjidientractate, Die 

2 Das Bluntſchli'ſche Staatswörterbuch bringt in Bezug darauf in feinem, (von Heffter 
unterzeichneten) Artikel „Allianz“ folgende gedehnte Ausführung: „Hingefehen auf die Zwecke ber 
Allianzen, fo giebt es deren feine geichloffene Zahl; das ganze Gebiet der erlaubten politifchen Ins 
tereſſen beflimmt aud) den Kreis der giltigen Allianzen. Allerdings aber verbietet die Sittlichkeit, 
dem Unrecht gegen das Recht Hilfe und Beiftand zu leiften, fo lange nicht die Verfolgung des 
echtes in Unrecht umſchlägt. Mit vollem Grund behauptet man daher, dag feine Allianz zur 
Mitrealifirung des Zweckes verpflichte, der von dem Alliirten als ein unrechtmäßiger erkannt werden 
muß. Die Eingehung der Allianz wird aber die Ueberzeugung des Alliirten von der Rechtmäßig⸗ 
teit des Zwedes vorausjehen und bis auf Weiteres als Anerkennung en zu gelten haben. 
Ohne zureihenden Grund haben wohl Bubliciften der extremften Seite behauptet, baf es niemals 
berechtigt jei, einem Souverain, der in feinem eigenen Lande durch Factionen oder durch Praͤten⸗ 
denten beeinträchtigt wird und diefelben zu befämpfen hat, Beiftand zu leiften. Schon die Analogie 
des privatrehtlihen Sapes, dag man einem in Nothſtand rücfihtlid feiner Perfon oder Rechte 
befindlichen Mitmenſchen zur Belampfung der Gefahr beifpringen darf, führt zur Annahme des 
Gegentheils, und die Geſchichte der Staatsverträge liefert davon zahlreiche Beiſpiele, namentlid) 
nod in den Gorporationsverträgen ber Krone Frankreichs und Großbritanniens mit Königin Jfabella. 
Rechtswidrig und verwerflih wäre ohne Zweifel eine Allianz zur Unterftügung einer Ufurpation 
gegen die Rechte oder den Beflsfland einer anerlannten Macht. In wiefern es nadı gelungener 
Ufurpation gerechtfertigt jet, mit dem Ufurpator Allianzen einzugehen, hängt, mit I. I. Mofer zu 
reden, ganz und gar von den Umſtänden ab, auf deren Erörterung hier nicht, fondern nur in dem 
Artikel von der Ufurpation felbft eingegangen werben könnte. Schwerlich möchte aber etwas ent: 
' “genftehen, einen Ufurpator zum Defenfiv » Gehilfen anzunehmen.“ 


- 
® 


x 


182 Allianz (Triple, Quadruple⸗). 


- England mit Staaten des Continentes gegen Napoleon einging,) nichts zu ſagen. Im 


der einfachen Allianz erfcheint einer der Alliirten als beſonders thätig im Kriege, 
der andere bloß als hülfeleiftend,; die Kriegsgemeinſchaft, der höchſte Ausdruck 
eined Allianzverhältniffes, bildet Dagegen aus den Derbündeten eine neue Einheit, eine 
friegführende Sefammtperfönlichkeit mit einbeitlichem Plan, einheitlichen Gewinnen und 


‘ Berluften. 


Die Auflöfung der Allianzen kann erfolgen, fobald der von ihnen angeftrebte 
Zweck erreicht if, ebenfo auch, wenn der eine Alliirte fi von der lingerechtigfeit des 
Zweded der U. überzeugt, oder wenn die A. in ihrer friegeriichen Bethätigung in eine 
ungerechte umfchlägt; als eine „ftillſchweigende Bedingung beim Abſchluß der Allianz 
mag auch dad Recht des Rücktritts im Fall einer ſonſt drohenden Gefahr des völligen 
Unterganges, einer äußerftien Bebrängniß betrachtet werden“ (Heffter). Aber dieſe 
Gründe find in Wirklichkeit bei Löfungen von Allianzen bisher weniger wirkſam ge» 
weien, als eigennügige Abflchten, Ehrgeiz und Habfudht. 

Die unter dem Namen U. befannten wichtigften Bündniffe der neueren Zeit find: 
die Triple» Allianz, die Quadruple- Allianz und die Heilige Allianz 
($. den Artikel). 

Triple- Allianz wurde genannt 1) das 1668 zur Vertheidigung der Nieder⸗ 
lande gegen Ludwig XIV. von England, den Generalftaaten und Schweden gefchlofiene 
Bündniß, 2) die große norbifche Allianz zwifchen Friedrich IV. von Dänemark, Peter 
dem Großen yon Rußland und Auguft II. von Polen gegen König Karl Xll. von 
Schweden, unterzeichnet zu Kopenhagen 1697, gebrochen Durch den Sieg Karl XU. über 
Dänemark 1700 und über Polen 1706, erneuert 1709 nach der Niederlage des Sieger 
bei Bultawa, 3) die 1717 im Haag zwifchen den Generalitaaten, Georg J. König von 
England, und dem Negenten Frankreichs, Philipp von Orleans, gegen die ehrgeizigen 
Projecte des fpanifchen Minifterd Alberoni gefchloffene, A. 

Quadruple.- Allianz wird 1) das 1718 zu London zwifchen England, 
Frankreich, Holland und dem Deutjchen Reiche zur Aufrechterhaltung des Friedens von 
Utreht und von Baden und zur Pacification Italiens gefchloflene Buͤndniß genannt. 
Der Kaifer willigte dabei in die Anerfennung des Königs von Spanien, unter der 
Bedingung, daß er ihm Sicilien zurüdgäbe, und daß Sardinien an Savoyen käme. 
Man kam dort auch darüber überein, die Nachfolge in Barma, Piacenza und im Groß⸗ 
berzogthbum Toskana dem Don Carlos zu ſichern. 2) wird die Offenfiv- und Defen- 
ſiv⸗A., welche 1834 zwifchen England, Frankreich, Belgien und Spanien zur Sicherung 
der Unabhängigkeit Belgiens und des Thrones der Königin Ifabelle von Spanien ge⸗ 
fchloffen wurde, Quadrupel⸗A. genannt. 

Allianz, Heilige, oder Heiliger Bund. Zmei Monate vor dem zweiten Parifer 
Frieden, am 26. Septbr. 1815, wurde Diefer Bund von den Kaifern von Defterreich 
und Rußland und dem König von Preußen perfünlih und ohne fchtbare oder offi« 
cielle Theilnahme ihrer Minifter gefchloffen. Den äußern Anftoß zu diefem religidfen 
Anhang zu den Parijer Sriedendverhandlungen hatte Frau v. Krübener, eine geborene 
Auffin aus einer angefehenen Familie der Oſtſeeprovinzen, gegeben. Sie hatte fi 
ſchon feit Tängerer Zeit mit dem Gedanken getragen, allem Krieg und Unrecht unter 
dem Menfchengefchlecht durch ein Buündniß der Fürften, das auf den Vorjchriften des 
Chriſtenthums beruhen ſollte, ein Ende zu machen. Ihr Plan traf auf verwandte 
Saiten im Innern des Kaiſers Alexander. Die liberale und philanthropiſche Ezie⸗ 
hung, die er unter Laharpe genoſſen hatte, machte ihn für eine kosmopolitiſche Idee 
zugänglich, vor der der Unterſchied der Nationalitäten, der geiſtigen Richtungen der 
Völker und ihrer kirchlichen Bekenntniſſe verſchwand. Der plögliche Umſchwung, den 
die Angelegenheiten Europa's durch den Untergang der großen franzöflfchen Armee in 
Rußland erhalten Hatten, hatte ihn tief erfchüttert und fein lebendiges religiöfes Gefühl 
erregt. Die Lüde, die der Sturz der napoleonifchen Herrihaft in Europa gelaflen 
hatte, empfand er lebhaft, und er fuchte nad) einer pofitiven Idee, um fle wieder aus⸗ 
zufüllen. Endlich regte fih in ihm auch das ruffifche Selbfigefühl und ruſſtſches 
Verlangen nach univerfellem Einfluß. Derjenige, der an der Spite feiner Armee, als 
er die Reſte des franzöfifchen Heeres nah dem Moskauer Strafgericht vor ſich her⸗ 














Allianz, Heilige. | 233 


trieb , an der Grenze Deutſchlands verfprach, über daſſelbe feine „Beichügende Hand“ 
auszuftreden, fühlte in fich auch den Beruf, feinen Schut und ordnenden Einfluß auf 
ganz Europa zu.erweitern. !) In einem fpätern Streit zwifchen der Krüdener und bem 
philanthropifchen ‚Lehrer des Zaren kam auch diefe rufflihe Auslegung der. heiligen 
Allianz in einer zarten Andeutung zu Tage. Die Krüdener lichte ed nämlich, ſich 
Das Hauptverbienft an der Stiftung dieſes Bundes zuzufchreiben; nicht nur, Daß 
fie nach ihrem Borgeben mit der vorfichtigen und Falten Zurückhaltung Friedrich 
Wilhelm Hl. und mit der Behutfamfeit des Kaiferd Franz, der durchaus feinen Rath⸗ 
geber Metternich befragen wollte, einen harten Kampf beftanden haben will, — nicht 
nur, daß es ihr nach ihren Ausfagen viele Mühe gefoftet haben foll, „die Sache vor 
den uneingeweihten Händen der Diplomatie zu bewahren“, — fpndern fie legte ſich 
auch das Hauptverbienft bei, den Kaifer Alerander durch Ihre Borftellungen und durch 
ihr Zureden für die hohe Idee gewonnen zu haben. Dagegen behauptete der Repu⸗ 
blifaner Zaharpe, daß feinem Zöglinge Die alleinige Urheberfchaft des heiligen Bundes 
zuzufchreiben fei. Mit unverfennbarem Stolze deutete er jedoch damit an, daß ber 
ausschließliche Autor der Idee auch zum Leiter in der Ausführung und zum Protector . 
rat in dem neuen Bunde berufen geweien fei. Im Geheimen mag er aber auch das 
mit den Gedanken verbunden haben, daß die Idee feines Schülers und feines philan⸗ 
thropiſchen Uinterrichtd würdig war. 

„Die drei Monarchen, heißt es in der Urkunde des Bunded vom 26. Sept. 1815, 
find durch Die Ereigniffe der jüngft vergangenen - Jahre zu der Ueberzeugung gelangt, 
daß nur die göttliche Borfehung den glüdlihen Ausgang derfelben herbeigeführt Hat. 
Sie haben nun beichlofien, von jegt an ſowohl in der Verwaltung ihrer Länder als 
auch in ihren gegenfeitigen Beziehungen zu einander, fich allein von den Borfihriften 
der chriftlihen Neligion, nämlich der Gerechtigkeit, der chriftlichen Liebe und des Frie⸗ 
deng, leiten zu lafien — Borfchriften, Die meit entfernt, nur auf das Privatleben an« 
wendbar zu fein, im Gegentheil direct Die Entſchlüſſe und Maßregeln der Fürften lei⸗ 
ten müflen, als die einzigen Mittel, die menfchlichen Einrichtungen zu befefligen und 
Unvollkommenheiten abzuhelfen. Da nad der heiligen Schrift alle Menfchen Brüber 
find, fo wollen fle ſich nicht nur felbft ald Brüder anfehen und einander daher bei 
jeder Gelegenheit unterftügen, — fondern fie wollen auch ihren Unterthanen und Ar 
meen gegenüber al8 Bamilienväter handeln und fle nach dem Geifte der Bruderlicbe 
leiten. So ſollen fi denn auch die Untertbanen ber verbundenen Monarchen als 
Glieder Einer chriftlichen Nation betrachten. Die Monarchen fehen fih nur als Be⸗ 
vollmächtigte der göttlichen Vorfehung an, um die drei Zweige derfelben Kamille zu 
regieren, und erkennen feinen andern Souverän an ald Gott, Chriſtus, dad Lebens⸗ 
wort: des Allerhöchften. Sie empfehlen auch ihren Völkern, als das einzige Mittel, 
den rechten Frieden zu genießen, fich täglich mehr in den Grundfägen ber chriftlichen 
Religion zu beftärken. Endlich fordern le alle übrigen chriftlichen Monarchen auf, dies 
fem heiligen Bund beizutreten.“ 7 

Die Völker des Feſtlandes, beſonders Deutſchland, nahmen dieſe Bundedurfunde 
mit Begeiſterung auf. So eben noch hatte man unter gemüths⸗ und rechtsloſer Ge⸗ 
walt geſeufzt und begrüßte nun um ſo freudiger eine Allianz, die ſich auf die edelſten 
Grundſätze des Glaubens und der Politik ſtützte. Das Feſtland war durch ſeine 
Spaltungen und Theilungen die Beute Frankreichs geworden, man begrüßte daher die 
Verſicherungen der drei Fürſten, ſich gegenſeitig als Brüder anzuſehen und ihre Ange⸗ 
legenheiten als allgemeine zu betrachten, als die Bürgſchaft einer friedlichen und ge⸗ 
ſicherten Zukunft. 
Auch der Aufforderung, welche die drei Monarchen laut der Ankündigung der Ur⸗ 


y In St. VBetersburg wurde auch, fo viel wir willen, die Acte der heil. Allianz zuerfl 
(am erſten Weihnachtsfeiertage 1815, alfo wenige Monate nach der Gntftehung) veröffentlicht und 
jwar zufammen mit einem bemerfenswerthen Manifefle des Kaiſers Mlerander, in welchem u. 9. 
geboten wurde, die Bünbniß » Urkunde in allen Kirchen der ruffiihen Staaten zu verlefen. Am 
Schluß diefes Manifeftes finden ſich bie eine halbe Drohung enthaltenden Worte: „puisse cette 
alliauce sacr6e entre toutes les puissances s’alfermir pour leur bien — éêtro general, 
et qu’aucune de eelles qui sont unies avec toutes les autres, n'ait la tömerit& de 
s'on detacher!* 














784 Mlianz, Heilige. 


Funde an die Fürſten Europa's erließen, genügten biefelben ſaͤmmtlich, mit Ausnahme 
des Prinz » Negenten von Großbritannien, der ſich zwar mit den Grundfäßen der Al- 
lianz einverflanden erflärte, aber an einem rein perfünlichen Bunde der Monarchen, 
ohne Zuziehung eines verantwortlichen Minifters, nicht theilnehmen konnte. ) 
‚Nur Ein Monarch blieb völlig draußen — der Papſt. Ihn hatte man auch, 
'als einen mehr geiftlichen Herrfcher, bei jener Hindeutung der Urkunde auf eine Aus- 
breitung der Allianz über ganz Europa eigentlich ſchon ausgefchloffen. Aber hier bes 
ginnt auch ſchon die ſchwache Seite der Allianz und ihr Widerſpruch mit ben beftehen- 
den Verhaͤltniſſen 'hervorzutreten. 

Die gewaltige Erfchütterung, Die der enbliche Sturz des fremden- Unterbrüderd 
in den Gemüthern der Völker hervorgerufen hatte, wie Die Freude über das Ende einer 
Herrichaft, die, auf rüdfichtslofe Gewalt gegründet, jede geiſtige Regung nieverhalten 
mußte, erklären binlänglih die Genugthuung, mit der die Völker die Ankündigung 
eines auf Gerechtigkeit und Religion errichteten Regime aufnahmen. In der erften 
Begeifterung überfab man die ſchiefe Stellung, die ſich die Allianz zu der ganzen 
Vergangenheit Europa’d gab, überfab man namentlih die unhaltbare Voraudfegung, 
die fi aus jener Urkunde ergab, wonach das Bölfer- und Staatdleben Europa’s feit 
dem Mittelalter nicht auf Recht und Glauben beruht habe. 

Allerdings wollte Die Allianz etwad Neues gründen. Die Kirche war mit dem 
Kaifertbum die Lebendordnung des Mittelalter geweſen. Das kirchliche Bekenntniß 
war feit der Meformation dad Panier, um welches fich die Völker jammelten. Aber 
waren Kirche und Befenntniß durch Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts 
und durch Die Revolution in der That fchon fo fehr in Vergefienheit gerathen, daß 
eine Religion, die von ihnen völlig abſah, Die Herrfchaft über Europa’ vertreten 
fonnte - 

Die drei Monarchen glaubten den Papſt, der hauptſaͤchlich den Waffen ver Ketzer 
und Schismatifer feine Wiedereinfegung verdankte, außerhalb ihrer Berechnungen ſtehen 
Iaffen zu bürfen. Indem die Urkunde ver heiligen Allianz die Religion unter bie 
Obhut der Monarchen flellte, nahm fie gleichfam an, daß der bisherige Streit zwifchen 
der geiftlichen und weltlichen Gewalt zu Gunften der Ießteren entſchieden fei und bie 
Aera eines univerfellen Gäfareopapismus angebrochen fei. 

Allein wenn auch der Dreizad der ketzeriſchen Infel, der Opferbrand des ſchis⸗ 
matifchen Modfau und das proteftantifche Schwert Preußen das Papſtthum ber 
napoleonifchen Herrſchaft entriffen hatten, fo lebte e8 Doch nicht bloß durch die Gnade 
der Ketzer und Schiömatiker und hatte es noch nicht Grund dazu, auf alles Anfehen 
in Europa DVerzicht zu leiften. Die Zeit der befenntniplofen Neligiofität war keines⸗ 
wegs gefommen. Das Fatholifche Spanien hatte durch feinen Aufftand gegen bie 
franzoͤſtſche Gewaltherrſchaft den romanifchen Katholicismus gerächt nnd zur Anerken⸗ 
nung gebracht, und in den Heeren, die Oeſterreich eines nach dem anderen nach 
Italien geſchickt hatte, die es im Feldzuge von 1805 aufſtellte, und die im Jahr 1809 
die deutſche Nationalkraft zum erſten Male wieder die Franzoſen fühlen ließen, hatte der 
deutſche Katholicismus für ſeine Zukunft gekaͤmpft. 

Die heilige Allianz war, wenn es auch ihre Urkunde nicht klar ausſprach und 
ihre erhabenen Stifter ſich nicht mit Bewußtſein eingeſtanden, der Sturz des paͤpft⸗ 
lichen Syſtems und die Herabſetzung des Papftes zu einem Biſchof in parlihus in- 
fidelium. Aber der Papſt antwortete auf dieſe Kriegs⸗Erklaͤrung, indem er den neu 
erweckten Jeſuiten⸗Orden in's Feld fchickte und ſeihe alten PBofltionen in den roma⸗ 
nifchen Völkern und in Deutfchland wieder erobern lieh. 

Es war ferner eine für die heilige Allianz fehr bedenkliche Frage, ob das ruſſiſche 
Bolt für dad Regime einer Tirchen- und befenntnißlofen Religion empfaͤnglich war. 
War dies bei den Zufunftspläanen der ruſſiſchen Kirche, Die auf große Eroberungen 
unter den Slawen der Türfei und unter den Leibeigenen des polnifchen und des 


.. . ). Die Mitglieder des deutſchen Bundes find ber heil. Allianz in Folge der von ben 
Stiitern ihnen zugegangenen Ginlabungen in den Jahren 1816 und 1817 einzeln beigetreten. 
* Fe suppl. Tom VI. pag. ift eine Acceffions «Urkunde abgedrudt und auf andere 

gewiefen. \ 





Allan, Heilige. 788 


deutfchen Adels in den Oſtſeeprovinzen gerichtet waren, unbedingt zu verneinen, fo 
batte die Idee Alexander's in feinem eigenen Reiche Feine Bafld. Sie fehwebte in ber 
Zuft, was um fo Schlimmer war, da Alerander fich die Führung des Bundes zugedacht 
und mit feinem religiös» politiicgen Ideal ſich unwillfürlich ein unbeflimmtes Bild ber 
ruſſiſchen Suprematie verbunden hatte. 

Hinter der Courtoiſte, mit der der Prinz⸗Regent von’ Großbritannien Die Ein- 
ladung zum Beitritt zur Allianz ablehnte, fland der Stolz der anglifanifchen Kirche, 
die nicht im entfernteften dazu geneigt war, ihre felbfiftändige Bedeutung aufjnopfern, 
vielmehr im Beſitz der größten Eolonialmacht ein‘ eigened Weltreich beherrfchen wollte, 
das fämmtliche Welttheile umfaßte und den europäiſchen Gontinent zunaͤchſt feinem 
eigenen Schickſal überließ. 

Auf dem Eongreß zu Troppau (1820) und auf dem gu Laibach (1821) 
erprobten die drei Häupter der Allianz, wie fie ſich u. A. in der Circular⸗De⸗ 
peſche an ihre Gefandten vom 8. December 1820 ausdrückten, die Kraft ihres Bun- 
des zur Sicherftellung der Staaten gegen innern Aufftand. Aber wem fam Die Bafelbft 
befchloffene Intervention in die Angelegenheiten Neapels zu Gute? Nur Deflerreich, 
deflen Stellung im Süden. gleihfalld nur gewann, ald der Gongreß zu Berona 
(1822) die franzöfifche Armee über die Pyrenäen zu gehen zwang umd mittelft biefer 
Intervention die Herrfchaft der Eatholicität und des Abſolutismus in Spanien wieder 
berftellte. Defterreich gewann auch hauptfächlih, als es die Furcht, Die zur Zeit des 
Aachener Congreſſes das Memoire Stourdza’8 über die deutſchen Univerfitäten in 
der Seele Alerander'8 erwedt hatte, dazu benugte, um auf dem Gongreß gu Karlsbad 
im Sabre 1819 die Deutfche landſtändiſche Verfaſſung gegen dad Repraͤſentativſyſtem 
zur Anerkennung zu bringen, die unbeftimmte Aufregung der Geifter auf den Univer⸗ 
fitäten zu dämpfen und feine eigene Stellung in Deuticyland zu hefefligen. 

Während die Brüchte eines Bundes, als deſſen natürliche Haupt fi Alexander 
betrachtete, faft ausjchlieplich Defterreich zufielen, fab Rußland mit Schmerz, Daß bie 
liberale oder philanthropifche Weltanfchauung feines Herricherd ihm allen Einfluß auf 
ein Reich, als defien Erben es ſich betrachtete, abſchnitt. Als Die Urkunde der heiligen 
Allianz in der erſten Begeifterung nach den Freiheitskriegen von den Völkern freudig 
willfommen geheißen wurde, ſah man in ihrem Stilljchweigen über die Hohe Pforte ' 
und in ihrer Brorlamation einer chriftlichen Aera gleichfam die Achtserklaͤrung gegen 
die Türkenherrſchaft. Dan war daher allgemein enttäufcht, als Rußland, wenigſtens 
das officielle Rußland, den Jubel der Völker über den griechifchen Auffiand nicht theilte 
und die Griechen ihrem Kampfe und ihrem linglüde überließ. Am meiften aber war 
die ruſſiſche Kirche verftimmt. In der kirchen⸗ und bekenntnißloſen Religion, bie der 
Zar den Voͤlkern ald den Hort ihrer Zufunft aufgeftellt hatte, war für die Anfprüche 
und Forderung einer Kirche fein Raum mehr gelafien. Alexander war durch feine eigene 
Schöpfung gefeffelt und er mußte fich die legten Jahre feiner Regierung toödtlich ver- 
bittern, indem er die lingebuld der rufflfchen Kirche, die der Schwefterfirhe im Süben 
des Balfand Die Hand reichen wollte, zügeln mußte und zugleich die Hoffnungen Der 
Griechen täufchte. 

Wiederum war es allein Defterreih, das gewann; fein Katholieismus war 
noch einmal gerettet; die orientallihe Kirche blieb getrennt und konnte noch nicht als 
geſchloſſene Macht mit der lateiniſchen Kirche ihre Kraft meſſen. 

Preußen, und auf ſeinen Anſtoß die kleineren proteſtantiſchen deutſchen Staaten, 
brachten die Idee Alexanders in ihren Landeskirchen wirklich zur Ausführung, aber 
zeigten auch durch die Union die noch lebendigen Kräfte der Bekenntnißkirchen und 
erweckten dadurch in ihrer Mitte einen für die Megierungsmacht bedenklichen Streit 
über Die Grenzen des Staats» und Kirchenregiments. 

Defterreich wußte auch aus Diefen Wirren feinen Bortheil zu ziehen. Mit ges 
wandter Politif benußte es die Iofephiniichen Traditionen, um die Staatöleitung für Die 
Firchlichen Angelegembeiten zu behaupten, und zugleich gab es der katholiſchen Kirche fo 
viel Schuß und Wreiheit, daß es als der Hort derfelben in Mitteleuropa gelten konnte. \ 

Die unglüdliche Mißſtimmung der legten Jahre Alexander kann man ald das- 
Grab wer Heiligen Allianz betrachten. Der Krieg, den fein Nachfolger Nicolaus im 

Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. 1. 50 





736 Allianz, bellige. 


Namen ber griechiſchen Kirche gegen die Pforte fogleich nach feinem Regierungs antritt 
vorbereitete und nach der Feffelung Englands durch das Londoner Protocoll zur Aus⸗ 
führung brachte, drüdte auf dies Ende der Allianz das Siegel auf. Die Billigung, 
die England und Canning dem entfchlofjfenen Auftreten des Kaiferd Nicolaus für die 
Sache der fünlichen griechifchen Kirche gewährten, und die hartnädige Theilnahmelofig- 
feit Defterreich® enthielten die Erklärung, daß. die heilige Allianz unbaltbar geweien 
und ihre idealeteligiöfe Baſis eine Uebereilung war. 

Defterreich und der Katholicismus benugten auch die Erfolge Rußlands gegen 
die Türkei zur Orientirung über ihre Stellung gegenüber der orientalifchen Kirdye und 
in Europa überhaupt. Während Ganning an gebrochenem Herzen und zerrifien vom 
Schmerz über die Erfolge ftarb, die feine Liberale und philantbropifche Politif Ruß⸗ 
land gefichert Hatte, Datirt feit jener Zeit ber feite Entfchluß Oeſterreichs, den Katho⸗ 
liecismus gegen die orientalifche Kirche zu vertheidigen, — ein Entfchluß, der im letzten 
orientalifchen Krieg ſchon einen Theil feiner Früchte getragen bat. 

Man hat es oft ald ein europäifches Unglüd beklagt, ‚daß die Heilige Allianz 
fih beim Sturz der Legitimität in Frankreich durch die Juli» Revolution und bei ber 
_ Erhebung des Haufes Orleans, welches den Thron einnahm, obmohl er der Familie 
Bourbon angehörte, fich wenig bewährt habe. Noch mehr beklagt man es in dieſem 
Sinne, daß jle ſich beim definitiven Sturz des franzöftfchen Königthums durch die 
Februar⸗Revolution und bei der Nebabilitirung der Revolution durch dad Napoleoni- 
ſche Kaiſerthum völlig ohnmächtig bewiefen hat. 

So gerecht dieſe Klagen zu nennen find, wenn man Die eigentlihe Tendenz und 
Abſicht, Die der Heiligen Allianz zu Grunde liegen, allein im Auge behält, fo muß 
man doch auch zugefleben, daß file Angeſichts der Ausarbeitung und Heife, in ber 
diefe Abſicht im Bunde der drei Monarchen Oſteuropa's auftrat, nicht ganz gerecht: 
fertigt find. 

Es war ein enropäifche® Bedürfniß und eine richtige Idee, was ben beiligen 
Bund Hervorrief. Der Sieg der Waffen, denen Napoleon und fein Heer, der bewaff- 
nete Träger der Mevolution, erlagen, hatte den Sturz der leßteten noch nicht entfchei- 
den oder vollenden Eönnen. Im Felde gefchlagen, lebte fle noch in den Gemüthern, 
in der Erinnerung und in den Parteien Frankreichs fort, Es war zu erwarten, daß 
fie in einem Lande, in dem das Gefühl für das hiftorifche Recht tödtlich gefchwädht 
war, wieder aufleben und dahin trachten werde, den Gegenfaß, den zu ihr die hiſto⸗ 
riſche Rechtsordnung Curopa's bildete, zu überwältigen und zunächſt durch die Agita⸗ 
tion der Parteien die Alleinhesrichaft zu gewinnen. Es war daher eine gerechte Defen- 
five, zu der ieh die Monarchen des mittleren und öſtlichen Europa vereinigten, als fie 
fih gegenfeitig verpflichteten, ihre und ihrer. Völker gemeinfame Intereffen zu vertreten. 

Kann man e8 aber auch richtig und zeitgemäß nennen, daß fie die Solibarität 
der legitimen Intereſſen auf eine Idee der Aufflärung, auf die kirchliche Indifferenz 
gründeten, der ein großer Theil der Völker noch widerfprach? 

Entlieben fie damit nicht der Mevolution, die fie befämpfen wollten, die Haupt- 
waffe? 

Und wenn nur diefe Waffe, zu der fle ihre Zuflucht nahmen, braucybar und 
tuchtig geivefen wire! Wenn nur Die revolutionäre Idee, die fie fich aneigneten, einen 
wirflichen pofttiven Gehalt, fo viel Pofltives enthalten hätte, daß fie den ferneren Re⸗ 
gungen und Verwüſtungen der evolution einen Damm entgegenfegen Fonnte! 

Aber hat denn die Nevolution außer der Bleichberechtigung, in die fle die frü- 
here Lebendordnung mit ihren befonderen Nechten und Freiheiten aufgelöft hatte, außer 
der nadten Gewalt, die fle über dem allgemeinen Stimmrecht aufrichten mußte, einen 
pofitiven Gehalt erzeugt? Hat fie nad ihrem Angriff auf die Kirchen die allgemeine 
chriſtliche Idee, Die den Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts vorſchwebte, ſo ſicher 
definirt, ſo gründlich ausgearbeitet, fo tief in das Staatdleben, in die bürgerliche Ge⸗ 
fellihaft und in das Privatleben eingeführt, daß fie die Baſis für eine große poli⸗ 
tiſche Berechnung, oder gar für eine neue europälfche Ordnung abgeben Tonnte? 

Die Gefchichte muß dieſe Frage noch verneinen. Allüürte der Nevolution, konnten 
die Haͤupter der heiligen Allianz dieſelbe nicht ernſtlich und rückſichtslos bekämpfen; 


1 














Aller. | | 187 


Alliirte eines unbeftimmter revolutionären Grundfage® und auf benfelben ihren Plan 
gründend, Fonnten fie der fortfchreitenden Verwirrung feinen Widerftand leiften. Da- 
ber ihre Anerkennung der Quaftskegitimität nach der Julirevolution, Daher ihre Paf- 
floität der Februarrevolution gegenüber und ihr fchleuniged Arrangement mit Louis 
Mapoleon! Sie waren froh, daß an die Stelle des Rechts wenigſtens der Beſitz ge⸗ 
treten war, umd zufrieden, wenn die neue Gewalt ftarf genug war, um den Beflg zu 
fichern und. fernere Convulſtonen zu verhüten. 


Außer der Niederlage, die fich die heilige Allianz durch ihre Paſſtvitaͤt gegen- 


über der Julirevolution bereitete, erlitt ſie jedoch eine noch bedeutendere durch den 
poſitiven Gewinn, den wiederum der Katholicismus aus dieſer Revolution zu ziehen 
wußte. Die Losreißung Belgiens von Holland und feine Erhebung zu einem eigenen 
Königthume war in fofern ein äußerft michtiged und folgenreiches Ereigniß, als fie der 
Tatholifchen Kirche eine faft unbefchränkte Autonomie in dem neuen Königreiche ver- 
fchaffte. Die Nachwirkung dieſes Ereigniffes zeigte ſich in einer bis dahin unerwarteten 
Stärkung der Tatholifchen Propaganda in Holland, England und dem deutfehen Nor- 
Den; Preußen fühlte den Einfluß dieſer neuen Pofttion des Katholicismus in den 
Kölner Wirren; jelbft in Rußland Fonnte fich Die orthodore Kirche in Ihrer Weife nur 


durch Gewaltmaßregeln gegen die Erneuerung des katholiſchen Geiftes fichern; Durch. 


Belgiens Vorbild angeregt und unter der unmittelbaren Einwirkung von deſſen Bifchö- 
fen entfchädigte jich die franzöftfche Kirche für den Verluſt des Staatsfchuges, den fte 
nnter der älteren Linie der Bourbons genoffen hatte, durch die größere Selbftftändigkeit, 
die fle der Juli-Monarchie abzugewinnen mußte, und bis zur Februarrevolution war 
fle in ihrer Autonomie fo weit gebiehen, daß fie neben dem Militär-Ötegiment des 
neuen Kaiſerthums eine Art von Gegengewicht bilden und Louis Napoleon durch 
2. Vertretung ihrer Interefien im Orient fogar in den orientalifchen Krieg treiben 
onnte. 

Diefer Krieg Tann das eigentliche Ende der Heiligen Allianz genannt werben, 
nicht nur weil er den Bruch Defterreichd mit Rußland verurfachte, fondern auch weil 
in ihm die Großmaͤchte des Abendlandes eingeftandenermaßen gegen die Propaganda 
der ruſſiſchen Kirche auftraten und die Incorporation der Südſlawen in den Macht- 


bereich des heiligen Synod von Peteröburg verhindern wollten. Der Krieg war zus 


gleich ein Defenflofrieg des Anglicanismus und des Katholicismus gegen die orienta- 
liſche Kirche. Der Gewinn, mit dem die Fatholifche Kirche aus dieſem Krieg hervor- 
ging, war dad Concorbat Defterreich mit dem beiligen Stubl. Preußenrallein, welches 
in dieſem Kriege feine Neutralität bewahrte, hielt in feiner Union und in deren Schwie- 
rigfeiten und Zerwürfniſſen die urfprüngliche Idee der heiligen Allianz feft, und es 
feheint feine Beſtimmung zu fein, die Idee, die im Jahre 1815 noch unreif genannt 
werben mußte, gründlich und pofttiv für die Welt Durchzuarbeiten. 

Literatur. Bon Wichtigkeit für Die Kenntniß der Berhältniffe, unter denen 
die heilige A. gefchloffen ward, find vier Werke: Die Sammlung der amtlichen Brief- 
fchaften des Herzogs von Wellington (The Dispatches of F. M. the Duke of 
W. from 1789—1815. London 1838); Cretineau-Joly, Histoire des traites 
de 1815. Paris 1842; Gagern, $. €. Freih. v., Der zweite PBarifer Frieden. 1. 1. 
Reipgig 1845, und Schaumann, Geſch. des Aweiten Pariſer Friedens für Deutſch⸗ 
land. Aus Artenftüden. Göttingen 1844. 

Ueber die Gongreffe der beil. a iſt viel geſchrieben worden (von de Pradt, 
Bignon ꝛc.), aber es fehlten den meiſten Büchern gute Quellen. Nur zwei Schriften 
über den Beronefer Gongreß verdienen größere Beachtung: Chateaubriand, Con- 
gres de Verone, Guerre d’Espagne, Negocialions; Colonies Espagnoles. I. II. Paris 
1838, und Schaumann, U. F. H., Gefchichte des Eongreffed von Berona (in 
Raumer’s Hiftor. Taſchenbuch für 1855 ©. 8 ff.). 

Allier, der, ein Hauptnebenfluß der Loire, welche ihn etwas unterhalb der Stadt 
Neverd links aufnimmt. Er wurde im Altertbum Elaver genannt und entfpringt 
im füböfllichen Theile des franzöftfchen Mittelgebirges in der Nähe des Rozere im Lo— 
ziresDepartement Languedoc's. Er hat eine wefentlich nörbliche Richtung, fließt, nach⸗ 
dem er dad genannte Departement verlafien hat, durch Da8 Puy de Döme-Departement 


50* 











‘ 


- 


788 “  Mlier : Departement. Allioli. 


der Auvergne und eilt dann durch Bourbonnais oder das jetzige Allier⸗Departement der 
Loire zu, die er nach einem Laufe von mehr als 40 Meilen erreicht. 
llier-Departement, das, in Frankreich, iſt nad) dem vorſtehend beſchriebenen 
Fluſſe benannt und aus dem ehemaligen Herzogthume Bourbonnais gebildet wor= 
den. €8 liegt an der Südweſtgrenze der Bourgogne vder des alten Herzogthums 
Burgund und etwa 12 Meilen in norbweftliher Richtung von yon, ift 135 O.-M. 
groß, hatte bei der neueiten Zählung von 1856 eine Bevölkerung von 352,241 Ein= 
wohnern, und befteht aus einer von Hügeln und Thälern durchfchnittenen Ebene. Es 
werden bier außer Eifen viele Steinkohlen gewonnen, auch ift die Viehzucht bedeutend, 
in Bourbon l'Archambault oder Bourges led Bains find berühmte” und ftarf befuchte 
warnte Mineralbäder, in dem Dorfe Commentry ift eine große Spiegelfabrif und in 
der Hauptſtadt Moulind, am Allier (über den bier eine 1080 F. lange und 78 F. 
breite Brüfe von bewundernswerther Bauart führt) find Eiſen- und Stahlmaarenfabri« 
fen. Bourbonnais hatte vor Zeiten feine eigenen Dynaften oder Sired, Die bald den 
fürftlichen, bald den gräflichen oder freiberrlichen Titel führten, bis es 1327 zu einem 
Herzogthum erhoben wurde, zu Gunſten der Nachkommen eined jüngern Sohnes Lud⸗ 
wigd IX. von Frankreich (der befanntlich von 1226 — 1270 regierte). Unter ihnen 
binterlieg Herzog Ludwig von Bourbonnais oder von Bourbon zwei Söhne, von denen 
der ältefte, Peter, der Stammvater des, nach dem Ausfterben der Valois zur” Negies 
rung gelangenden Haufe Bourbon, Jacob aber der Stammvater der übrigen Herzoge 
von Bourbon wurde, unter denen Karl, Connetable von Frankreich, fly wider feinen 
König Branz J. (1515— 1547) empörte, der hierauf das Herzogthum einzgog und mit 
der Krone vereinigte, Die Stammburg der Bourbond war in ber oben genannten 
Stadt Bourbon l'Archambault, und es find dafelbft noch Trümmer davon vorhanden. 

Alligationd - Rechnung, oder DVermifchungsregel, ift diejenige Rechnungsart, 
welche die bei Miſchungen vorkommenden Aufgaben zu erledigen lehrt. Sie beantwortet 
z. B. Die Frage, in welchem Verhältniß zehnlöthiges und funfzehnlöthiges Silber mit 
einander zu verbinden find, wenn man durch dieſe Verbindung dreizehnloͤthiges erhal⸗ 
ten will ıc. 

Alliofi, Joſ. Franz, Dr. der Theologie und Domprohſt in Augsburg, Mitglied 
der K. baieriſchen Akademie der Wiſſenſchaften, iſt zu Sulzbach in der Oberpfalz am 
10. Auguſt 1793 geboren. Er ſtudirte zu Münden, Amberg und Landshut, erhielt 
1816 zu Regensburg die Priefterweihe, promopirte .in demselben Jahre zu Laudöhut, 
lebte 1818 und 1819 ſeines Lieblingsftudiums, der prientalifchen Sprachen, wegen in 
Wien und ging dann nah Rom und Parid. Er habilitirte fich darauf i. 3. 1821 
an der Univerfltät Landshut, ward daſelbſt 1823 außerordentliher und 1825 ordent⸗ 
licher Profeflor der Eregefe, 1826, nad) DBerlegung ber Univerſität nach München, 
geiftlicher Rath daſelbſt. Er blieb im dieſer Stellung, Rufe an andere Hochfchulen 
ablehnend, bi8 zum Jahre 1835, wo er zum Domherrn in Regensburg ernannt ward; 
am 12. Sept. 1838 verlieh ihm der Papſt die Propſtwürde im Kapitel von Augsburg. 
Unter ſeinen wiſſenſchaftlichen Arbeiten nimmt die Ueberſetzung der ſaͤmmtlichen heiligen 
Schriften (5. Aufl., Landshut 1844) den erſten Platz ein. Dieſelbe iſt eine Fortſetzung 
der von Dr. Heinr. Braun begonnenen Bibelüberſetzung und, wegen der geſchätzten 
Anmerkungen, päpftlicd approbirt. Was aber Genauigkeit der Meberfegung, Wohlklang 
der Sprache, Lebendigkeit des Ausdrucks anbelangt, fo fteht die Allioli’fche Ueberfegung 
weit zurüd Hinter der Iutberifchen und felbft den älteren Fatholifchen Ueberfegungen. 
Damit fol jedoch dem Altioli’fchen Internehmen fein überaus großes Verdienſt, ein 
bahnbrechendes für die Verbreitung der Bibel unter den deutſchen Katholiten geweſen 
zu fein, nicht beftritten werben, und wenn die neueren Ueberfegungen des N. T. 
von Kiftemmafer, des A. T. von Koch und Reiſchl vor den Alliolifchen lieber» 


- fegungen praftifche Vorzuge voraus haben, fo waren dieſe vielleicht nur erreichbar erft 


nach dem Borgange des Allioli’fchen Unternehmens. Mit demfelben begann eine neue 
Aera des Bibelverftänpniffes für die deutſchen Katholifen, welchen vie Derefer- 
Scholz'ſche Leberfegung nicht mehr genügen konnte. — An diefed Unternehmen WS. 
ſchloß fich fein vortrefiliched „Handbuch der biblifhen Altertbümer" (2 Bde., Landshut 
1844). Früher find erfchienen: „Aphorismen über den Zufammenhang der heiligen 











Alliteration. 78 


Schriften (Hegendburg, 1818); „Biblifche Alterthumer“ (Landshut, 1825); „Akademiſch 
Meden an angehende Theologen“ (Nürnberg, 1830) und einzelne Predigten. Ei 
wichtiger Beitrag zur altveutichen SKunftgefchichte ift die Gelegenbeitöfchrift: „Di 
Bronzethüre ded Domes zu Augsburg, ihre Deutung und ihre Gefchichte” (Angsburg 
1853). Allioli ift jevenfalld einer der bervorragendften Schüler Des unvergeßliche 
Sailer (8. d.) 

Alliteration oder Buchſtabenreim. Formell unterſcheidet ſich Dichtung vo 
Vroſa dadurch, daß fie ihre Säge shhthmifch gliedert. Hauptfächlich und in den meiſte 
Sprachen wird zu dem Bane diefer Gliederungen der Wechfel entweder langer und kurzı 
oder betonter und unbetonter Sylben benugt. Daburch entflehen f. g. Versfüße — 
" Die Mittel aber dieſe Versfüße zu größeren Versgliedern oder auch Strophen zu vei 
binden Aind jehr verſchieden — theild dient die Cäfur dazu, theils die unter dem Aut 
drude Reim bekannte Bonfonanz der Berdenden u. f. w. Eines biefer Mittel, welche 
bauptfähli von den deutſchen und von den Eeltifchen Stämmen bei ihrem Versba 
benußt worden tft, ifl der ſ. g. Buchflabenreim oder die Alliteration. Die Alliteratio 
beftebt in der Wiederholung deſſelben anlautenden Buchſtaben bei mehreren in nid 
zu großer Entfernung ſich folgenden "betonten Sylben — dadurch aber werben die 
Spiben vor der übrigen Rede noch flärfer hervorgehoben und: gewiffermaßen mit eine 
fittliden Accente verfehen. Diefen Dienft leiftet die Alliteration auch ſchon in d 
Profa. „Feuer und Flamme“ oder „Haus und Hof” find nachdrüdlicher ald „Weuer 
oder „ Haus” allein. Der Nachruf wird nicht fowohl durch die Tautologie ald dur 
ben bei der Tautologie wiederholten Anlaut hervorgebracht, wie man deutlich fleht an de 
viel vorkommenden Beifpielen, wo daß zweite Glied gar Feine Tautologie enthält, fonder 
eigentlih ein an diefer Stelle unfinniges Wort und wo doch die Wirkung bdiefelbe ij 
wie. 3. B. in „Mann und Maus", „Kind und Kegel". — Es iſt ganz deutlich, daſ 
wenn: zwei durch den Wechſel von betonten und unbetonten Syiben gebildete Versfüj 
beide ihre Tonſylben mit dem gleichen Anlaute” beginnen, dadurch zwifchen ihnen ei 
Bindung entfiehbt; — würde diefe Art Bindung aber in's unendliche fortgefeßt, | 
würde (ganz abgefehen von der Schwierigkeit fo viele gleiche Anlaute zu finden) ei 
arge und alle Poeſie aufhebende Monotonie entfliehen. Nicht einmal zmei folche zwe 
füßige Glieder können in gleicher Weife verbunden werden, ohne dem Ohre ein Zuvi 
vernehmen zu laſſen — und fo hat ſich als die angemefjenfte und fehönfte Orbnur 
viefer Verbindung beraußgeftellt, daß zuerft zwei Versfüße ihre Haupttonfpiben glei 
anlauten; daß dann am Schluffe dieſes Versgliedes eine leichte Sinncäfur ftattfinde 
und dann ein zmeited Versglied folgt, ebenfalls aus zwei Füßen beflehend, von den 
aber nur die Tonſylbe des einen (am fchönften Die Tonſylbe des erfien) den gleich 
Anlaut wiederholt z. B. 

— den geift er aufgab; gottes Ticht er erfohr — 
ober: — in einer wüfte erwachſen; da wohnte fonft niemand — 


Dies alfo Mn das Grundfchema des beutfchen alliterivenden Berfes: |- - IH 


1- - -- doch können auch die zweit betonten Sylben, die hier — bezeichnet fin 
zum Theil namentli am Schluffe der einen Vershälfte oder beider wegfallen, wodur 
alfo ſolche Schemata entftehen: |’- + | I JP’- -“- -- -— und einzelne ganz tonlo 
Sylben können zwifchen die Tonſylben treten — eine oder zwei zu ihnen auch a 
Borfchlag. der erften Tonſylbe des Verſes borangehen, wie in den obigen Verſen: 


einer Wüfte erwachfen; da wohnte fonft niemanb — oder: den Geiſt er aufgal 


Gottes Licht er erkohr. Von den drei Anlauten, bie fo den Vers vergliedern, foll 


der dritte im Grunde immer bei einem Worte flattfinden, welches einen ganz befonder 
Nachdruck Hat, denn die beiden erften Anlante bilden einen Anlauf und wenn dem dritt: 
Anlaute nicht ein mächtigerer Sinn verbunden ift, entfleht der Eindrud eines in komiſch 
Weiſe zu flarken Anfaufed. Die alten Norvländer, welche unter den deutſchen Stänm 
die alliterirende Versbildung am feinften entwidelt haben, nennen deshalb den dritt 
anlautenden Buchflaben den Hauptſtab und die beiden erften deſſen Stügen. 7 


1 1" 


es oft außerordentlich fehwer war, drei paflend anlautende Sylben zu finden, iR es 
geftattet, flatt zweier Stügen in Der erften Vershälfte, nur eine zu baben und die andere 
hauptbetonte Sylbe derſelben abweichend anzulauten; doch gilt dies mit Necht Den 
Norbländern als unfhön — alle vier Saupttonjilben des Verſes mit demfelben Anlant 
zu beginnen, tft in der feineren nordifchen Dichtung nicht geflattet; Die unausgebildetere 
Verskunſt der Altfachfen und Angelfachjen geftattet aber auch dies ausnahmsweiſe, fo 
wie fie auch die Zahl der ganz unbetonten Sylben mehr anzubäufen geftattet als Die 
nordifche. Alle Bocale gelten für die Ulliteration gleih, und es wird für fchöner 
gehalten die alliterirenden Sylben, wenn fle dur vocaliſchen Anlaut bezeichnet fin, 
mit verfehiedenen Vocalen anzulauten ald mit denfelben; dagegen bei den confonan» 
tifchen Anlauten nıuß immer verfelbe Buchftabe widerfehren, ja bei gewiflen mädhtigeren 
Eonfonanten » Verbindungen z. B. fp und ff gilt es jogar für unfchön, wenn fie mit 
bloßem ſ abwechjeln und nicht Diefelbe Conjonanten- Verbindung in allen Fällen wiber- 
kehrt. — Die Kelten haben bie Alliteration in ‚weniger audgebilveter Weife; in ber 
Regel ift nur die eine Haupttonjylbe der einen und ebenfo eine ber zweiten Vershälfte 
mit einander durch Alliteration gebunden, und die Kelten koͤnnen das, weil fie zugleich 
mit und neben der Alliteration Die Affonanz oder den inneren Heim und den Endreim 
zur Versbindung benugen. Die alten Norblinder haben (da ja Normannen eine Zeit 
lang Irland faft ganz erobert hatten, und Jahrhunderte lang neben den Irländern irijche 
Städte bewohnten) fpäter von den Irländern die Benugung der inneren, endlich auch 
ber Endreime aufgenommen und befonderd für den fünftlicheren Strophenbau ber 
fpäteren Zeit benugt. Altfachfen und Angeljachfen haben dies nicht; ftrophifche Gedichte 
haben wir von Altfachfen gar nicht; von Angelfachfen haben wir Anfänge zu firophifcher 
Bildung, aber es ift faft nur der widerkehrende Refrain, der Die aus einer nicht immer 
gleich gehaltenen Zahl Verszeilen beitehenden Strophen: abtheilt. Altveutiche allite- 
rirende Gedichte haben wir zu wenig, um über die Bersfunft unferer nächften Vorfahren 
ein vollfändiges lirtheil zu Haben; das was wir befißen, ftellt ſich mehr der noch 
weniger ausgebildeten Kunſt des alliterirenden Versbaues bei den Sachſen an die Seite. 
— In der Dichtung anderer Völker begegnen ſich wohl einzelne Alliterationen, ſei es 
zufällig, fe es um einzelne Wirkungen dadurch hervorzubringen; aber großartig als 
Mittel der Dichtung angewendet und ausgebildet findet ſich die Alliteration nur in der 
deutjchen und EZeltifchen Dichtung. 

Allir, Jacob Alerander Franz, am 27. September 1776 zu Percy in der 
Normandie geboren, war, einer jener begabten Söhne der Revolution, bie. darum unter 
den Kaifertbum des erften Napoleon nicht das volle Glüf machten, weil fie es nicht 
vermochten. oder den günftigen Zeitpunkt verfäumten, ihre Mutter zu verläugnen. Der 
Sohn eined Profefford der Mathematif war U. einer der unterrichtetften Ofſtziere ber 
Republik, die ihn 1796, noch nicht zwanzig Jahre alt, zum Oberſten ernannte. Er 
focht in Italien und auf San Domingo mit Auszeichnung, aber er verfäumte es, ſich am 
18. Brumaire dem Sieger gefällig zu zeigen und blieb feitdem ohne Befchäftigung. 
1808 erhielt er Erlaubniß, in die Dienfte Des Königs von Weſtphalen zu treten, 1812 
war er als weftphälifcher Divifiondgeneral wit in Rußland. Im September 1813 
fämpfte er in Heflen flegreich gegen den ruflifchen Barteigänger Grafen Czernitſcheff 
und es gelang ihn, den geflüchteten König Ieröme, auf einige Zeit wenigftens, nad 
Kaſſel zurüdzuführen. Ieröme wollte fich dankbar zeigen und ernannte den alten Re 
publifaner zum Grafen von Freudenthal, was diefer mit Ironie ablehnte, während das 
weftphälifche Volk fpöttifch fang: 

Macht einen neuen Grafen, 
Nennt ihn von Breudenthal, 
Vollzog noch Todesſtrafen 
Und macht die Kaſſen kahl. 

Mit dem Koͤnigreich Weſtphalen war es zu Ende, Napoleon aber ſah jetzt über 
den Mepublifaner hinweg und gab U. eine Brigade, ernannte ihn auch, wegen Der 
muthigen Vertheidigung des Waldes von Fontainebleau und der Stadt Sen; 1814 
zum Diyifionägeneral. Da es ſich während der hundert Tage Napoleon wieder an 
geichloffen hatte, wurde U. nach der zweiten Reſtauration der Bourbonen verbannt und 


a 











Alloeution. Alod. . 1 


l 

Le Bte bis 1819 in Deutfchland. Im genannten Jahre amneſtirt, Tehrte er nach Frank⸗ 
reich zurück und that mit dem Hange eines Generallieutenants Dienfte im Generalſtab. 
Er konnte es aber nicht laſſen, ſich in Politif zu mifchen und fehrieb, — der alte Repu—⸗ 
Blitaner ftellte fich zärtlich beforgt für die Bourbonen, — eine Denkſchrift über die Ge⸗ 
fahren, die das Miniſterium Billele und die Sefuiten dem Königähaufe bereiteten. 
1826 überreichte er dieſe Schrift beiden Kammern. Nicht zu verwundern, Daß er ſich 
in den Sulitagen 1830 fofort den Auffländifchen anſchloß; ſeitdem war er politifch 
Befriedigt, mwenigftend hörte man nichts weiter von ihm, vielleicht ſah er, wie Bafayette, 
in Louis Philipp „die befte der Republiken“. Er flarb 1836. Man bat von ihm ein 
systeme de l’arlillerie de campagne, da8 1827 zu Barid erfchien. 

Allocution, päpftliche, ift die feierliche Anrede des Bapftes In einem öffentlichen 
Caußerordentlichen) Eonfiftorium, zu dem außer den Cardinaͤlen auch andere Prälaten 
und die beim päpfllichen Hofe accrebitirten Gefandten Zutritt haben. Meiftens werben 
bier die früher in geheimen (ordentlichen) Gonfiftorien gefaßten Befchlüffe mitgetbeilt; 
außerdem werben namentlich die öffentlichen Firchlichen Zuftände der einzelnen Länder 
beſprochen und dadurch haben fie in neuerer Zeit größere Bedeutung gewonnen. Wan 
kann fle den Manifeften anderer Höfe vergleichen. | 

Allopathie ſ. Arzt und Arznei. 

Alod. Das Uebergewicht der dffentlicden Verhaͤltniſſe einer Perfon über ihre 
privatrechtlichen Zuftände und Interefien in dem älteren deutſchen Mechtsleben und bie 
altmähliche Ummandlung des Berhältniffed der politifehen und focialen Beziehungen 
eines Menfchen zu einander: diefer Gang der deutſchen Mechtögejchichte ſpiegelt ſich 
recht anfchaulich in der ‚Gefchichte der beiden Nechtsinftitute „Alod und Lehen“ wieder. 

Der Name „Alod“ (nicht Allen zu fchreiben) begegnet und fehon in fämmt- 
lichen alten Volksrechten und bat derfelbe ſchon früh mehrere Kreife vermögendrecht- 
Ticher Verhaͤlmiſſe repräfentirt. Nah Grimm (Deutfche Nechtdalterthinmer, 2. Aufl, 
©. 492) ift Alod aus al (totus, integer) und öd (bonum) zufammengefegt und bee 
Dentet fo viel wie al-eigen oder mere proprium (volled Eigenthum) Das Wort foll 
fih aus dem fränkifchen in. das tbüringifche, baierifche und alemannifche Geſetz ver- 
breitet haben. In feiner weiteflen Bedeutung bildete Alod eben den @egenfag zu 
Beneficium oder Lehen, fo daß alled Vermögen, weldyes nicht Zehen im eigentlichften 
Sinne war, als alodiales bezeichnet wurde; diefe Bedeutung kann Indefien nicht die 
ältefte fein, da das Wort felbft: Alter als jener Gegenſatz ift und feinen Urfprung in 
jener Zeit bat, wo noch die vollfonımene Freiheit und Zugehörigkeit zu einer freien 
Bollögemeine die weſentlichſte Borausfegung für Die nach allen Seiten bin vollkone 
mene Retöfähigkeit einer Berfon war. Damals bezeichnete Alod wohl nur das ger 
fammte Bermdgen einer freien Perfon, wie fih 3. B. in ver L. Bajuvario- 
rm Tit. 2 Gap. 1 6 3 der einfache Gegenfag „DBermögen oder Leben" eines Freien 
findet (ut mullus liber Bajuvarius alodem aut vitam sine capitali erimine perdat). 
Mit diefer Bedeutung flimmte dann auch Die, in welcher Alod eine Bezeichnung des 
vollen Eigenthums (echted Eigen) im Gegenſatze zu bloßen Beſitze und Nutzungs⸗ 
rechten war, da volles, auch im feiner gerichtlichen Geldentmachung unbehindertes Eigen- 
thum nur in den Händen freier Berfonen fein Eonnte. Nicht felten wird ferner in den 
deutfhen Rechtsbüchern mit der Bezeichnung eines Gutes ald Alod auf den Erwerb 
Defielben durch Erbgang (ererbtes oder nachgelaſſenes Gut) bingedentet. Wenn 
endlich der Name Alod von dem vollen Eigentbumsrechte auf den Gegenſtand 
deflelben (dies Gut ift Alod) übertragen iſt, fo folgte darin die deutſche Rechtsſprache 
nur einer natürlichen Denk- und Sprachweiſe aller Völker (possessio-Beflg und Be⸗ 
fitzung, Eigentbum- Hecht und Gegenfland deſſelben). Exiſtirten nun aber Wort umd 
Begriff „Alod“ fon in dem erſten Stadium bes fich bemußten Rechtslebens wer 
Deutfchen, fo gewannen fie doch erft feit der Neception des Kehnrechtes in den leben- 
digen Rechtsverkehr und feit der Anerkennang einer Doppelgeflalt de Vermögens 
einer freien Perfon eine ſcharfe Abgrenzung ihrer wahren Rechtsbedeutung. Alod 
war eben das volle Eigenthbum des deutfchen Rechtes und ſchloß fi auf der 
einen ‚Seite gegen die bloßen Nugungsrechte der freien Berfonen, wie fle daB Lehnrecht 
gab, andererfeitd aber auch gegen den Kreid ver Rechte, welche den unter Hofrecht und in 


72 | Alod. 


allerlei Hoͤrigkeits⸗ und Schußverhältniffen Lebenden an Sachen zuitehen Eonnten. So war 
Alod vor allen Dingen das Eigentbum an Srundftüden, meil dieje nur der Herrichaft 
völlig freier Menfchen unterworfen fein konnten, während die Bezeichung eines beweg- 
lie Sachen umfaflenden Vermögend als Alod nicht auf eine befondere Eigenfchaft des 
Rechtes, fondern nur auf. Die feined Beſitzers deutete: denn bewegliche Sachen duldete 
das deutſche Recht auch in dem Eigenthume des Unfreien. Wenn man nun auch bier 
von dem Begriff des Eigentbums im deutfchen Rechte gegenüber der Auffafiung des 
römifchen abfteht, je befchränfte doch jenes grundfäglich Die Dispoſitions befugniſſe 
des Eigenthümers in einer dem römifchen Mechte völlig unbekannten Weile. Dem 
männlichen Erben eined Freien lagen nämlich dort beidnifch = heilige Verpflichtungen 
gegen den Erblaffer ob, deren Erfüllung er ſich nicht entziehen Fonnte: jo waren ibm 
auch Rechte (wenigſtens) an dem unbeweglichen Vermögen deſſelben gegeben, welche gu 
vernichten oder zu verkürzen dieſem auch nicht bei jeinen Lebzeiten zufland. Denn um 
dem zur Blutrache Verpflichteten auch den Vortheil der Erbfchaft zuzuwenden, war 
„Eeinem Eigenthümer“ das Recht gegeben, das Alod feinem nächften zur Blutrache 
Berpflichteten, alfo männlichen Erben, durch Rechtögefchäfte unter Xebenden oder von 
Todes wegen zu verringern oder ganz zu entziehen, einige befondere Bälle (der Noth) 
audgenommen. Die Unterfuchung der noch immer beftrittenen Brage aber, in welchen 
Ballen der Allodialbefiger zur Veräußerung feines Gutes berechtigt, wann der nächte 
Erbe zum Widerfpruche gegen eine Veräußerung befugt gemwefen, und wie weit dieſes 
Recht ſich erſtreckt habe, gehört jegt nur noch in dad Gebiet der Rechtsgeſchichte. ') 
Daſſelbe gilt auch von der Darftellung der befonderen Erbfolge, welche aus dem bereits 
genannten Grunde in den Beſitz des Alods nur den Mannesſtamm rief und nur felten 
den Töchtern des letzten Befigers, falld Diefer ſohnelos verftarb, den Vorgang vor deſſen 
männlichen Agnaten oder ein gleiches Recht mit dieſen, noch feltener aber ein gemein- 
ſchaftliches Erbrecht mit den Brüdern (fo im Frieſiſchen Volksrechte) geftattet.. In der 
Gegenwart finden fich freilich nicht minder gefegliche Beſchraͤnkungen der Dispofltiong- 
befugniffe über eigenthümlich befeffenen Grund und Boden und jene fonderlichen Be— 
flimmungen über die Succeffionsfolge in deſſen Beflg: aber Diefe äußerlich gleichen 
Erſcheinungen haben nicht denfelben Grund. Denn bei Meiergütern, bei Fideicommiß- 
gütern abdliger oder bürgerlicher Samilien, und bei fonft freien gefchlofienen Bauergütern 
werden die noch immer geltenden Grundfäße über Unveräußerlichfeit des unter dieſe 
Begriffe fallenden Grundeigenthums und über den Vorzug des Mannsſtammes bei deſſen 
Vererbung nicht mehr von dem einftigen Nechtöbewußtfein des Volkes getragen, ſon⸗ 
dern Die andauernde Wacht und dad vermögensrechtliche Interefie des Dbereigenthümere 
und Gutsherrn, oder gefeßliche oder autononifche Beftimmungen, ober endlich das volks⸗ 
und flantöwirthfchaftliche Interefle find die Stügen jener, felbit im Lehnrecht heimiſchen Be⸗ 
flimmungen. Mit dem Wegfallen aller perfönlichen Unfreiheit ward auch das Eigentum an 
allen Gütern dieſer Feſſeln entlebigt, wo nicht jene Rückſichten fie noch hielten. Seitdem Drangt 
bie Rechtdentwidlung dem Gegenfage zwifchen Alod und Zehn oder lehnsaͤhnlichen Rechten 
(feuda und Teudastra) immer entfchievener entgegen, indem fe alles Gigenthbum zu 
Alod zu machen ftrebt, alfo alle Sonderbeiten aus dieſem Begriffe entfernt. So lange 
freilich Zehen und Meier oder ähnliche Güter noch eriftiren, unterfcheidet ſich das Alod 
ald das „Eigentum“ von anderen dem Eigenthum mehr ober weniger nahe tretenden 
Rechten, und fo lange bleibt auch die Wichtigfeit des begrifflichen Unterſchiedes, da bei 
dem „Eigentfum” und bei andern Beſitzungen verfchiedene Erbfolgeordnungen und erb- 
rechtliche Grundfäge zur Anwendung fommen: bei jenen Die des römijchen oder font 
geltenden Land- Rechtes, bei dieſen Die des Lehn⸗ oder Meier- ober Fideicommiß⸗Rechtes. 
Diefe noch in der Gegenwart geltende Berfchiebenheit muß dann auch nach innen, 
wenn eine Perſon Lehen oder dem ähnliche Nechte zugleich mit Alod oder freiem Eigen⸗ 
thume beftgt, im .Salle der Bererbung eine fcharfe Sonvderung beider VBermögensdarten 
hervorrufen, Da es auch heute noch oberſtes Princip if, daß Lehnsfolger ud Alodiale 
erben ſich fremb gegenüberfiehen, daß jener nur dad Lehen, diefer nur das Eigenthum 
(Alod) an fich zieht... Nur ausnahmsweiſe und in particularrechtlih oder flaiutarifch 


7) Berge. Eihhorn D. Staats: und Mechtegefchichte $ 57, 





Alluvien. (Begriff) 


verfchieden begrenztem Umfange liegt dem Lehnserben die Verpflichtung ob, Leibzu« 
Witthums⸗, Dotale oder Pflichttheild-Anfprüche des Alodialerben zu befriedigen. ') 

bei der thatfächlichen Sonderung des alodialen Theiled einer Erbſchaft von dem I 
rechtlichen Differenzen aller Art unter den Parteien entftehen Eönnen, ‚bebarf t 
Erwähnung: aber die rechtlichen Örundfäge felbft ftehen nicht für alle Fälle unzw 
haft feſt, da zwar ausgemacht iſt, daß dem alodialen oder lehnrechtlichen Haup 
auch alle Pertinenzen und damit verbundenen Gerechtſame folgen, aber die F 
wem die Meliorationen an dem einen oder anderen Theile zu Gute kommen mi 
nur in Particularrechten definitiv entfchieden ift. Hinfichtlich der Früchte ſteht feft, 
Die feparirten Früchte ſtets, andere bingegen nur unter gewiflen VBorausfeßungen 
Alod gehören. Gemeine Recht und PBarticulargefeggebungen differiren übrigens 
in diefem Punkte nicht unbedeutend. 2) Schließlich ift noch zu erwähnen, wie 

das Staatörecht lange Zeit gewohnt war, bei der Erledigung eines Throned von 
alodialen und lehnrechtlichen Erbfolge zu ſprechen. Dieſer Gegenfag ift indeſſen ir 
Gegenwart, wo fein Souverain mehr eine Krone zu Lehen trägt, gänzlich unbegrü 
Was von der Trennung bed Alods eines Fürſten von dem Staats⸗ und Familien 
in feinem Nachlafje gilt, wird fich bei Gelegenheit der Darftellung des Privatfüı 
rechts paffender bemerken laflen. 

Alluvion, Alluvium, Alluvialbildung, Allnvialformation. 

Alluvion, wörtlich Anſpülung, Anwaſchung, vom lat. alluo, bezeichnet 
Wirkung des ſtroͤmenden oder in Wellen bewegten Waſſers, feſte Theilchen, n 
ed von der Erdoberfläche abgeldfet und mit fich fortgeführt bat, an. den Ufern 
Küften wieder abzufegen. Die auf ſolche Weife entflandenen abgelagerten Schi 
nennt man allgemein das Alluvium, das Angefpülte, und unterſcheidet dann beſti 
Arten deſſelben, Sand, Lehm, Thon, Mergel, Kleierde, den Umſtaͤnden nach auch ! 
moor, als einzelne Alluvialformationen. 

In der Geologie hat man Alluvium in einem engeren Wortserftande, als Ge 
faß genommen zu Diluvium, um die Bildungen, welche von jüngerer En! 
bung find, als die leßte große Leberfchwenmung unfered Feſtlandes, von, Denjenigı 
unterjcheiden, welche als die unmittelbare Wirkung, jener Fluth — der nosdifcher 
angejehen werden. Der neuere Sprachgebrauch fteht aber biefem entgegen, und. 
3. B. nennt Schichten jedes geologifchen Alters, wenn fle das deutliche Gepraͤg 
vorhin bejchriebenen Entſtehung tragen, Alluvialfchicgten der betreffenden Periode. 

‚Der Eintritt der Geologie in die Reihe der exarten, lediglich auf Beobach 
unverkennbarer Thatſachen, und auf Iogifche Behandlung der daraus ſich exgebe 
Folgerungen begründeten Wiflenfchaften, ift noch von zu neuem Datum, um ſchon 
feftftebende, allgemein anerkannte Terniinologie von ihr erwarten zu koͤnnen. Verf 
Dazu zu gelangen, find in nenefter Zeit von Mehreren gemacht, ſ. » B. Cotta „OÖ 
gifche ragen”. 

Zur anerkannten Eharakteriftif jeder Alluvialformation gehört die Eigenfi 
daß fie nur zeitweilig vom Wafler bebedt, mithin durch periobifche oder I 
außerorventliche einmalige Ueberfchweumungen ober Fluthen entftanden fei. 2 
gerungen, Die bei ihrer Entftehung permanent unter Wafler befindlich waren, 
noch find ꝛc., alfo diejenigen auf dem Boden des Meeres oder großer XKanpjeen ec 
ren nicht zum Alluviunt. 

Blicken wir auf die Beſchaffenheit ver ftrömenden Gewaͤſſer der Erdoberflaͤch 
finden wir, Daß ſie allgemein als trübe Ströme bezeichnet werben müflen, ben 
löfen von dem Boden, den fie benegen, und von den Ufern, welche. fie befpülen, Fi 
das Waſſer trübende Theilchen ab, und führen Diefe in größerer oder geringerer N 
mit fich fort. Landfeen, als Kläranftalten der Ströme, die. in jenen Das mitgefi 
Material fallen laffen und mit Flarem Wafler heraugtreten, conftituiren eine Ausıu 
von obigem Naturgefege, welches aber feine Geltung bald unterhalb des Austı 
wiederum zur Anſchauung bringt. Auch im Meere erſcheint das after meiſtens 


— — — — — — 


N Vergl. &iähorn, Deufüge Priratecht. & 362. 
2) Bergl. Eichhorn, a. a. $ 3 1 


734 u Alluvion. (Anhalt und Formen.) j 


kommen klar, e8 enthält aber große Mengen darin aufgelöfter Mineralfubflanzen, Das 
Flußwaſſer ift von aufgeldften Mineralien keineswegs frei, ja dieſe überwiegen ſelbſt bei 
manchen trüben Strömen die im Wafler fchwebenden ftchtbaren Stoffe bei Weiten. 
So enthält, nach neueren Unterfuchungen, die Elbe im Durchfchnitt aus. 428 Ey 
perimenten, die über einen Zeitraum von 18 Monaten vertbeilt waren, nur 3,17 
Theile ſchwebender Stoffe auf 100,000 Theile Wafler; dagegen ergab fih aus 7 
ebenfalld über diefen ganzen Zeitraum vertheilten Experimenten ein beinahe conftanter 
Werth von 23,75 Theilen aufgelöfter Mineralien auf 100,000 Theile Wafler. Alle 
Beſtimmungen nah Gewicht, Die feineren, das Waſſer trübenden Erbtheilchen be⸗ 
finden fich im ſchwebenden Zuſtande, fo lange das Wafler fließt; fie werden ſus⸗ 
pendirte Stoffe, oder in der Sprache der Tehnif Schlid genamt. In Alluvial- 
form heißen fie Thon, Marſcherde, Kleierde; außer vielen provinziellen Benen- 
mungen 3. B. Letten, Bruchland u. f. w. 

Schwerere, gröbere Theile werden am Boden der Strombettn fortgemwälzt 
oder geſchoben; man nennt fie Gerölle, Gefchiebe, Sand. Der Sand ift ein 
Gemenge fehr verfchiedener Mineralien, unter denen gemeiniglich Quarzkoͤrner vor- 
bereichen. 

Solche Trümmermaffen früherer Gefteine bedecken ald wandernde Schichten um- 
fere Strombetten und werden unaufhörlich durch die Gewäfler aus den höheren We 
genden den Niederungen und dem Meere zugeführt; ähnliche Trümmer in mächtigen 
rubenden Schichten — Zeugniſſe früherer, den Berhältniffen und Zuſtaͤnden der Gegen- 
wart ineommenfurabler Ströme — bilden die Thalmände des Flachlandes und den 
Boden unermeßlicher Plateaus in allen Welttheilen; andere endlich umgeben den Saum 
vieler Meeresfüften, ein Spiel der Winde und der Wellen. Der Uebergang aus dem 
Zuftande der Bewegung in den einer dauernden Ruhe außerhalb des Waſſers heißt 
Alluvion, wogegen man die Hineinziehung des Ruhenden in die Bewegung des Waflers 
Eorrofion, Abbruch, auch Abfchälung nennt. 

Die ungleiche Bertheilung des atmofphärifchen Niederfchlages auf die verfchiebes 
nen Jahreszeiten verurfacht periodifche Anſchwellungen der Flüffe, die fih dann über 
die Thalflächen, welche dazu Raum gewähren, audbreiten. Dur den Austritt Des 
fleigenden Waflerd aus der engeren Beuferung des eigentlichen Stromlaufes bilden fich 
weite, langſam dahinfliegende, zum Theil eine Zeitlang zum Stilfftand kommende WBaf- 
fermaffen, die darin fuspendirt gewefenen Stoffe finfen zu Boden und fobald die Hoch⸗ 
fluth zu verlaufen beginnt, kehrt das abgeflärte Wafler in den Hauptſtrom zurüd. Nur 
die letzten abfließenden Gemäfler, beim Hervortreten der überſchwemmt gemefenen Vor⸗ 
länder, find wieder mit Schlid beladen und üben einen merflichen Einfluß auf die 
Trübung des Hauptftromes bei finfendem Wafferfpiegel aus. 

Sp werden die Thalebenen zu beiden Seiten eines Stromes ‚durch defien Abla- 
gerungen erhöht und zugleich befruchte. Died ift die einfachfte Form der Alluvion, 
die noch gegenwärtig allenthalben, wo die drtlichen Verhaͤltniſſe ſie geftatten nnd Die 
Werke der Menfchen ſie nicht flören, einen natürlichen Fortgang hat; ihre Segnungen 
find unermeßlich, und man hat oftmals Die Frage angeregt, ob nicht Bedeichungen der 
Thalebenen, weil fie die Ausbreitung der Flüfſſe hindern, als fchädlich anzufehen feien? 
Bon praktifcher Bedeutung ift dieſe Frage bei neuen Deichanlagen, bei Regulirung 
alter Deichlinien und bei Erörterung folcher Einrichtungen, welche das temporäre Ein- 
laflen befruchtender Gewaͤſſer und Niederfchläge in das Innere bebeichter Niederungen 
ermöglichen, und dadurch Zünftliche Alluvion erzeugen, welche Eolmation genannt 
wird. Die Schwemmmiefen find gleichfalls Fünftliche Alluvionen, indem man durch 
Leitung eined Gewäflers fandige oder thonige Anhöhen in Abbruch verfegt und das 
mit diefem Material beladene Waſſer über fumpfige Niederungen fließen laͤßt, die durch 
deffen Ablagerungen erböhet und culturfäbig gemacht werden. 

Den großartigſten Charakter nehmen die neueren natürlichen Alluvialbildungen 
beim Eintritt der Ströme in dad Meer an, weil bier die Bewegung des trüben Waſ⸗ 
fer8 verzögert und defien Ausbreitung nad beiden Geiten unbehindert if. So ent- 
ftehen die fogenannten Deltas, dreiedige, ebene Landflächen, Durchfchnitten von einer 
größeren oder geringeren Anzahl von Armen des getheilten Stromes, durch deſſen 














Alluvion. (Delia’s.) 795 


immer von Neuem binzufommende Ablagerungen ein merkliches Borrüden in die Ser 
hinaus ftattfindet, wenn nicht Gegenwirkungen durch Strömungen des Meeres, namente 
lich durch den Wechjel von Ebbe und Fluth, herbeigeführt werden. Wo kraͤftige 
Schwankungen der Fluthwelle und in Folge deſſen flarfe aus- und eingehende Strö⸗ 
mungen in einer Slupmündung ftattfinden, da fieht man Feine ausgebildete Delta; da⸗ 
gegen erreichen diefelben in Binnenfeen und ſolchen Meeren, die nur geringen Fluth⸗ 
wechjel haben, oder wo der Wafferfpiegel ein ziemlich conftanted, nur langfam ſich aͤn⸗ 
Dernded Niveau hat, eine fehr große Ausdehnung. Das Delta des Rheins umfaßt 
einen großen Theil der Niederlande, über 100 Quadratmeilen; ungefähr dreimal fo 
groß ift das Delta des Nil, achtmal jo groß dasjenige des Ganges. 

Ströme, die fih an Punkten mit flarfem Bluthwechfel in das Meer ergießen, 
bieten häufig die umgekehrte Form der Mündungen dar, nämlich nah Außen ſich er⸗ 
weiternde, landwaͤrts zugefpiste Meerbufen mit Alluvialebenen zu beiden Seiten derſel⸗ 
ben. Einige geologifche Schriftfleller haben diefe Mündungdform negative Delta’s 


‘genannt, Andere verallgemeinern den Ausdruck Delta dergeftalt, daß fle darunter au 


Diefenigen Alluvial » Ebenen verftehen, welche die Ströme der zuletzt erwähnten Art zu 
beiden Seiten beufern. Es iſt auch hierbei fühlbar, Daß der Geologie noch eine feft- 


ftehende Terminologie feblt. 


Als ein nahe Degenner Beifpiel en bie Elbe zur Veranſchaulichung des Ge⸗ 
ſagten dienen. 

Die Elbe. gehört zu ben Strömen, deren Mündung Feine eigentliche Deltabilbung 
zeigt, dagegen mit ſehr ausgedehnten Alluvialbildungen, deren Entſtehung dusch den 
Wechfel von Fluih und Ebbe bedingt wurde, beufert if. 

Der alte, durch Alluvion theilmeife in Land verwandelte Meerbufen, der diefen 
Strom aufnimmt, hat nach neueren Unterfuchungen eine Flächengröße von 65°, geogr. 
QDuadratmeilen; davon iſt jegt zu Tage liegendes Torfmoor am Fuße der Abhänge 
des Plateau 9,, Quadratmeilen; bebdeichte Marſch 37 Quadratmeilen; unbebeichtes 
Borland, Infeln und Wafler 19,5 Ouabdratmeilen. Auf wenig mehr ald ein Sie⸗ 
bentel der Flaͤche, die einft von der Meeresfluth beberrfcht warb, tft feit jener Zeit bie 
heutige Waflerfläche durch Alluvion eingefchränft. 

Rach den erwähnten Unterfuhungen beträgt die jährliche Schlickmenge 
der Elbe 12Y, Millionen hamburger Kubikfuß fefte trockene Schlidfubftanz, ohne Zwi« 
ſchenraͤume gedacht. Dieſe Mafle nimmt in der Form compacter Marfcherbe, ober als 
Alluvialformation, einen Raum von 25%, Millionen Kubilfuß ein und würde, wenn 
fein Theil derfelben in das offene Meer binaudgeführt würde, den Raum einer — 
dratmeile in 26 Jahren um einen Fuß erhöhen. Ein Jahrtaufenn genügt, unter ber- 
felben Vorausfegung, zur Erhöhung von 40 Ouadratmeilen um einen Fuß. Kennte 
man demnach die burchfchnittliche Dide des Alluvium der Elbmündung, jo würde bie 
Zahl der Zuße derſelben eine Grenzbeftimmung der Anzahl von Jahrtaufenden geben, 
die feit dem Zeitpunfte mindeftend verlaufen find in welchem dieſe Alluvion ihren An⸗ 
fang nahm. Nach der andern Seite hin wäre biefer Zeitraum begrenzt fobald man 
wüßte, wie groß die in jedem Jahre in das Meer hinausgelangende Schlickmenge viefes 
Stromes ift. Beide erforderliche Daten fehlen noch, indeß laͤßt es fich einigermaßen 
überfeben, daß Feine große Reihe von Jahrtaufenden verfloffen fein Tann, feit der 
Proceß der Alluvialbildung an der Mündung der Elbe, auf der gegenwärtigen Grund» 
lage feinen Anfang nahm, denn Die Durchfchnittliche Dicke der dortigen Alluvion iſt nicht 
groß und jedenfalls blieb in früherer Zeit faft die ganze Schlickmaſſe im Inneren des 
Meerbufens. 

Nah Ehrenberg's Entdeckung beſteht ein bedeutender Theil des Alluvialbodens 
in der Naͤhe des Meeres aus Panzern oder Schaalen von Infuſorien. In Proben 
der Erde von Elbinſeln in der Nähe von Hamburg betrugen dieſe /20 der ganzen 
Mafle. Hieraus folgt, daß bei Schlußfolgerungen von der Eubifchen He der Allu- 
vionen auf das Alter derfelben, auch auf die Mitwirfung des Lebens und Abfterbens 
der Infuforien Nüdficht genommen werben muß. 

Man bat ſchon öfter aus der Größe der Alluvionen anderer großer Ströme und . 
aus der jährliihen Schlidmenge berjelben die Zeit zu berechnen gefucht, welche feit der 








* 


296 Allnvion. (Natargefeh.) 


Entftehung Der jetzigen Flußſyſteme vergangen iſt. Dabei find aber oft fehr unze- 
reichende Daten und noch überdies zuweilen falich benugt, fo daß man bie Reſultate 
nur mit der größten Borficht aufnehmen darf. Der berühmte Geologe Lyell fagte im 
Jahre 1833 bierüber: „Im Allgemeinen ift fo viel Widerfprudh und Lingereimtbeit 
in den Thatſachen und Speculationen, die über dieſen Gegenftand verbreitet worden 
find, dag wis weitere Verſuche erwarten müflen, che wir irgend eine Meinung darzu⸗ 
legen vermögen.“ 

Unter. den hydrotechniſchen Schriftftelleen bat Woltman dad „Naturgeleg 
der Alluvion“ einer ausführlichen Erörterung unterzogen, wobei er von dem Vor⸗ 
derfage ausging, daß die Quantität der Ablagerung ceteris paribus in einem beftimms 
ten Verhaͤltniß zur Waflertiefe ftehe, mithin bei zunehmender Höhe der Alluvion und 
gleicgbleibender Kühe ſucceſſiver Ueberfluthungen die Größe der jedesmaligen Ablage⸗ 
sung immer Eleiner werden, d. h., daß die Alluvion Anfangs fchnell, nah und nad 


- aber nad einem ” mathematifcher Korn auszudrüdenden Gefete immer langjamer von 


Statten geben müfle. 

Die Richtigkeit des Vorderſatzes ſowohl al& der Folgerung iſt bei allen, gegen 
den Strom abgeſchloſſenen Localitaͤten, welche periodiſch wiederkehrender ruhiger Ueber⸗ 
fluthung ausgeſetzt find, unbeſtreitbar; alle offene Hafenbaſſins ohne Strö- 
mung, alle ausgegrabenen Köcher, welche dem Fluthwaſſer zugänglich find und bei der 
Ebbe leer laufen, alle Zwifchenräume zwifchen fehr langen, den Strom ausfchließenden 
Buhnenanlagen betätigen die Woltmanfche Regel. Anders aber geftaltet ſich der Ver⸗ 
lauf der Alluvion in Spülbaffins und noch anderd in und an dem freien 
Strome Spülbaffins fehlitten zwar ebenfalld auf, aber es geſchieht viel lang⸗ 
famer ald ed unter übrigens gleichen Umſtänden, bei unbebinberter Aufe und Abflu- 
thung ohne Spüljchleufe der Fall fein würde. Alluvionen, wie fle in offenen Vaſſins 
fhon nach wenigen Jahrzehnten in die Augen fallen, darf man bei zwerftmäffig gelei- 
teten Spülbafiins als erſt nach Verlauf von Jahrhunderten eintretend fich vorftellen. 

Im freien Strome des Flußes felbit ift gleichfalld das mehrerwaͤhnte Geſetz 
der Allusion nicht anwendbar. Im tiefften Rinnſal oder Thalwege lagert ſich in der 
Negel fein Schlid ab, ift aber irgendwo im Strombette eine durch Sandanhäufung 
oder durch Moorfchichten .u. dgl. entftandene Erhöhung vorhanden, welche etwa Die 
Höhe ber halben Fluth erreicht, fo pflegt dieſe dem Schlick eine Ragerftätte darzubie⸗ 
ten. Es gebt aber damit Anfangs ſehr langſam und unter Häufigen Störungen und 
Unterbredgungen, bid die Vegetation fich Diefer Grundlage bemächtigt; nun gebt es ſehr 
sach, bis zur Höhe der gemöhnlichen Fluth, auch wohl noch etwas darüber, dann aber 
mieder kangjamer, jo Daß nur ſehr alte, unbebeichte Marjchlande um nıebr als drei 
oder vier Fuß über dieſem Niveau erhaben find. Der Landmann, dem die Alluvion 
einen ermünfchten Gewinn bringt, fennt diefen Einfluß der DBegetation jehr gut; die 
ganze Braris bei Beförderung von Alluvionen durch Begrüppung, Bufchpflanzung ıc. 
iſt Darauf gerichtet, fo ſchnell ald möglich einige Vegetation hervorzurufen, dadurch 
Strom und Wellen über der zu erböhenden Kläche zu mäßigen und fomit bort eine 
möglihft vollſtaͤndige Abklärung des Waflerd zu bewirken. Wo man diefe Zwecke er» 
reicht, da fördern Alluvion und Vegetation einander in kraͤftiger Wechſelwirkung. 

. In den Häfen und überhaupt in allen dem Schifföverkehr dienenden Localitäten 
betrachtet man die Ablagerungen bed Schlicks als ſchaͤdliche Naturwirkungen, weil fie 
Die Fahrtiefe vermindern uud koſtſpielige Gegenmittel, namentlich Baggerungen, 
nothwendig machen, Aber abgejehen von den localen Nachteilen im abgeichloffenen 
Raume haben die durch den SchlidfalU bewirkten Alluvionen eine überaus wichtige 
Beveuiung, für die Ausbildung der Schiffbarfeit der großen Ströme 
ſelbſt. Ein Strom, der nur Sand führte, würde im Bereiche der Meeresfluth mit der 
Zeit völlig unfciffbar werben; dabingegen wird durch die Alluvion eine regelmäßig 
fortschreitende Einengung der Strombahn bewirkt, der die Erhaltung der Fuhr⸗ 
tiefe groͤßtentheils zu verdanken iſt. Dieſe Naturmwirfung zu unterflügen und zu be— 
fohleunigen, ift der Zweck fünftliher Stramcorrectionen. .. 

Die Alluyionen des Meeres unterfcheiden ſich von denen der Ylüffe nur 
durch Die Art ihres Urfprungede. Strom und Wellen üben an vortretenden fleilen 








Alluvion. (Rechtl.) Alma. 79 


Küften ihre zerftörenden Angriffe aus, und PVarallelftröme führen die aufgenommenen 
Erdtheilchen längd der Küfte auf große Entfernungen in ‚Suspenfion mit fidy fort. 
Mit der fleigenden Fluth tritt das getrübte Wafler in Buchten und Flußmimdungen 
Binein und lagert zur Zeit ded Stromwechfeld in diefen einen Theil der mitgeführten 
Stoffe ab. So eniftehen 3. B. an der Oſtküſte Englands in den füblichen Grafſchaf⸗ 
ten fortwährend neue fruchtbare Marfchlande aus dem Waterial, welches untermafchene 
Klippen nördlicher Küftenftreden liefen. Die englifhde Sprache bezeichnet Eindeichuns 
gen folcher neugebildeten Lande mit dem treffenden Ausdrucke: reclaimed land — zus 
rüdgeforderter Boden. 

Anderer Art ift die Landbildung oder Alluvion durch Action Ver auf flachen 
Strande brandenden Meereöwellen; diefe führen Sand aus der Tiefe herauf und lagern 
ihn in Form von Rüden oder Dämmen auf dem Ufer ab, wo der Wind fich deflelben 
Dee und ihn unter begünftigenden Umftänden in Form von Hügeln oder Dünen 
(1 d. Art.) aufhäuft. Die Weſtküſte des noͤrdlichen Holland, die Küſte Iütlands 
und manch⸗ Küſtenſtrecken der Oſtſee bieten und naheliegende Beiſpiele ſolcher — 
leichtbeweglichen Bildungen dar. 

Alluvion (Rechtl.) iſt Die Erweiterung des von einem öffentlichen Fluß vegremten 
Grundſtücks, durch allmaͤliges Anſchwemmen einzelner Erdtheilchen. Sie iſt eine, und. 
zwar die beſcheidenſte, der durch Waſſergewalt vermittelten Eigenthums⸗Erwerbsarten (ſ. 
Acceſſion), und erklärt ſich mit den übrigen aus dem Grundſatz, daß ein Flußbett nur 
fo lange und fo weit res publica bleibt, als der Fluß ſelbſt feine Landnachbaren durch 
Ueberftrömen die ihren Grundſtücken entzogenen Erbtheile geriffermaßen expropriirt. 
Giebt er fein Bett ganz oder theilmeife frei (alveus derelietus, insula nata), fo fällt 
das auftauchende Land den Anliegern ebenfo zu, ald wenn er durch Anſchwemmung 
talluvio) nur Eleine Theilchen feiner Beute beransgiebt. 

Alma, (Schlacht an der), am 20. September 1854, zwifchen ven Muffen unter 
dem Fürften Menichifof mit 26,000 Mann und den verbündeten Franzoſen ımter Mar» 
ſchall St. Arnaud, Engländern unter Lord Raglan und Türfen mit zufammen 56,000 
Mann, Nachdem die Verbündeten eine Erpebition nach der Krim befchloflen hatten, 


‚ um dort ein wichtiged Object des Kanıpfes, die Seefeftung Sebaftopol zu vernichten, 


gefhah die Landung in der Krim am 9. September in der Nähe von Eupatoria, uns 
gehindert Durch die von Sebaftopol — wo die Landung erwartet worden war, — here 
anziebende ruffigche Armee, welche auf den Höhen hinter dem Fluſſe Alma den Beind 
erwartete. lleberwiegende Gründe müflen die Verbündeten veranlaßt haben, ihren Marſch 
fofort gegen Sebaftopol zu richten, denn die Krim wird nur in Perecop und nicht 
vor Sebaftopol erobert. Der gleichzeitige Angriff von Kertfch und. Kimburm zur See 
und der Landzunge von Perecop zu Lande, würde die rufflihe Armee in der Krim 
paralyfirt, le von ihren Verbindungen abgefchnitten und Sebaftopol früher bezwungen 
haben, ald durch die fpätere langwierige Belagerung. Als man diefe Wahrheit m 
Hauptquartier der Verbündeten erkannte war es zu fpät, ihr praktiſchen Nachdruck zu 
geben. Fürſt Menfchiloff glaubte, durch feine Aufflelung auf dem Iinfen Ufer der 
Alma den Vormarfch der Verbündeten aufhalten zu Eönnen, und poſtirte feine 42 Ba- 
taillone, 16 Schwadronen, 11 Sotnjen (Kofaten), 72 Fuß⸗ und 24 reitende Gefchüge 
vor den für unzugänglich gehaltenen Höhen am Meere bis gegenüber dem Dorfe Tar⸗ 
chantar, ohne die Vortheile des Terraind durch Weldbefefligungen genügend zu verflär- 
fen. Die Recognoscirung ded Schlachtfeldes ſcheint ſehr mangelhaft audgeführt wor⸗ 
den zu fein, da der Feind durch tatarifche Bewohner der Gegend unterrichtet, Zugang 
zu Stellungen fand, Die. Fürft Menjchikoff im Bertrauen auf ihre Unzugänglichkeit nur 
ſchwach beiegt hatte. Das Terrain war der ruſſiſchen Aufftellung für die Defenftve 
durchaus günftig; Die überragenden Höhen, der Flußlauf, her mehrtägige Aufenthalt 
auf demfelben bis zum Schlachttage, waren Bortheile, — die um die Hälfte geringere 
Zruppenzabl, unter denen fich auch kurz vorher erſt formirte Neferve-Batatllone befan- 
den, ein Nachtheil. Am 19. September rüdten die Verbündeten vom Landungsplath 
gegen die Alma vor, hrängten die ruffifchen Borpoften, fo wie deren Berftärkung durch 
eine Hufaren- Brigade und Koſaken, zurüd, bivomaquirten am Bulgamal, eine Meile von . 
der Alma ‚und erfchienen am 20. früh bei fchönem Wetter vor der rufflfchen Stellung. 


738 Al marco. 


Der rechte Flügel beftand aus Franzoſen unter dem General Bosquet, hinter ihm ala 
Reſerve Türken. Das Centrum aus Franzoſen (rechts) unter dem Prinzen Napoleon 
und Engländern (links) unter Lord Raglan. Der linke Klügel aus Engländern allein 
unter General Codrington. Marfchall St. Arnaud war bedenklich erkrankt und konnte 
felbft am Kriegsrathe nur durch Zeichen Antheil nehmen. Drei Dörfer liegen dort am 
Fluſſe und waren von den Rufſen in ihrer erften Aufftellung durch vorgefchobene Truppen 
befegt. Alma⸗Tamak faft an der Mündung, Burltuf dem ruffifchen Centrum und Tar⸗ 
hantar dem rufflfchen rechten Flügel gegenüber. Der Angriff auf diefe Dörfer leitete 
die Schlacht mit Tirailleurd und Fleinen Gefechten fehon 8 Uhr Morgens ein. Alma 
Tamak wurde von den Franzofen genommen und dadurch gegen Mittag der Zugang zu 
den für unerfteiglich gehaltenen Höhen am Seeufer frei. Die dort flehenden wenigen 
rufftfchen Truppen wurden von den Schiffen fo heftig befchoflen, daß fle mehrmals 
ihre Aufftellung wechfeln mußten. Die Engländer waren fpäter zum Angriff von 
Burliuf und Tarchantar vorgegangen, fanden hartnädigen Widerſtand und murben fo 
lange aufgehalten, bis franzöftfche leichte Infanterie den Weg durch die Schluchten 
auf-die Meereöuferhöhen gefunden hatte. Dort langte nach und nach der ganze rechte 
Flügel der Verbündeten an und bebrohte den linken der ruffifhen Stellung. Nun 
nahmen auch die Engländer das brennende Burliuf, flellten Die von den Ruſſen unter 
ſchwerſtem Artilferiefeuer abgebrochene Brüde über die Alma wieder Her und drangen 
gegen die Höhen vor, auf denen das ruffifche Eentrum unter Menfchikoff jelbft und 
der rechte Flügel unter dem Fürſten Gortfchafoff ftand. Die Ueberlegenheit der fran⸗ 
zöftfchen und englifchen Schießwaffen zeigte ſich während der ganzen Schlacht in un- 
zweifelbaftefter Weije und führte große Berlufte für die Ruſſen herbei. Mit dem Er⸗ 
feinen der Diviflon Bosquet auf den Uferhöhen war eigentlich die Schlacht bereits 
entjhieden. Auch die zähefte Tapferkeit der Ruſſen vermochte nicht, dieſen nicht 
vorher berechneten Bortheil ber Verbündeten zu paralyfiren. Ein Angriff der ruſſi⸗ 
ſchen Huſaren⸗Brigade und Koſaken gegen die ebenfalld auf den Höhen in der Front 
bereit8 entwidelten englifchen Regimenter führte zwar einen furzen Stillfiand, «aber 
feine Abwehr herbei. Die Vereinigung der Branzofen und Engländer auf den Höhen 
war für den rufflfchen Feldherrn Veranlaſſung, den Rückzug nicht nach Sebaftopol, 
fondern nach dem. Kaatſchafluß zu befehlen. Der ruffifche Verluſt betrug an Tobten: 
1 General, 8 Stab8- Offiziere, 40 Offiziere und 1892 Unteroffiziere und Gemeine; 
an Berwundeten: 3 Generale, 8 Stab8- Offiziere, 76 Offiziere und 2698 Unteroffi- 
ziere und Gemeine. Mit den Eontuflonirten und Vermißten zufammen: 5709 Rann. 
Der Berluft der Verbündeten wurde offlciell auf 4301 Mann angegeben, fiheint aber 
nach Privatberichten fehr viel bedeutender geweien zu fein und menigftens dem der 
Ruſſen gleich zu fliehen. Wie wenig der ruffliche Oberfeldherr auf einen foldyen Aus⸗ 
gang der Schlacht gerechnet, beweift, daß ein Theil des Trains und mit ihm Die eigene 
Equipage des Kürften in die Hände ver Sieger fielen, und daß für einen Rückzug 
nichts vorausbeflimmt war. Die Folgen der Schlacht waren: der ungebinderte Vor⸗ 
marſch der Verbündeten gegen Sebaftopol und Aufregung unter der tatarifhen Bes 
völferung gegen die Ruſſen. Ehe man das Stärfeverhältniß der beiden Armeen er- 
fuhr, war der Eindrud, den diefe erfte Niederlage der Nuffen in gang Europa machte, 
den Auffen jehr ungünftig. (Anitfchkoff, Peldzug in der Krim.. Deutfh von Baum- 
garten. Berlin, 1857. Mittler. Tagebuch aus Sebaftopol. Ruſſiſch im Russki 
sagranitschni Sbornik. Berlin, 1858. Afher. Journal de l’Armee. United Ser- 
vice journal.) 

Al mareo beißt jene Preißnotirung der Edelmetalle, welcher die Gewichtseinbeit 
der „Mark“ zu Grunde liegt. Man wiegt in Deutfchland Gold und Silber nach ber 
fölnifhen Markt — 233,,,, Grammen. Bei der Notirung der Preife muß unter» 
ſchieden werben, ob fie für die rauhe Mark, auch Mark Brutto genannt, oder für 
die feine Mark gelten. In erfterem Falle ift der Preis für das nach gebräuchlichen 
Miſchungsverhaͤltniß Tegirte (mit: Kupfer verfegte) Gold oder Silber, in Iegterem Falle 
für das reine Edelmetall ohne Legirung anzunehmen. So gilt z.B. die hamburgifche 
Goldnotitung gegemwärtig für die Mark fein Sol, früher — bis 1833 — für bie 
Mark Dukatengold, auf welche 67 FE zum Beingehalt von 23%, Karat gingen. 


* 











Almafy. Almende. | 1 


Almaſy. Ein altes ungariſches Gefchlecht, deffen erſte hiſtoriſch bekannte Gliel 
der Palatin Jula de Almas und der Capitaneus Eugen de Almas, unter dem ach 
ungariſchen Könige Ladislaus, 1094, im Kampfe gegen die Auffen fielen. Das ( 
fchledht, daß in der ungarifchen Geſchichte ſtets eine bedeutende Rolle gefpielt hat, bI 
jegt in zwei Kinien, von denen bie ältere unter Dem 8. November 1777, die jüng 
unter dem 11. Auguft 1815 die Grafenwürde erlangt hat, die Mitglieder der zwei 
Linie hießen auch Herren von Zfadanyg und Töröf-Szent-Miklod, fowie Erbherren ! 
Sarfad. Das Haupt der älteren Linie ift Graf Georg A., das der füngern € 
Eoloman A., geb. 2. September 1815. Das Wappen zeigt in Blau einen golde 
Sparten, an dem rechts und links ein filbernes Einhorn emporfteigt, unter dem Sy 
ren :ift ein grüner Dreiberg, deſſen mittelfte Spige gekrönt iſt, auf demſelben fteht « 
filberne Taube zum Fluge geſchickt, einen grünen Oelzweig im Schnabel tragend. 

Graf Joſeph Ignaz A., geb. 1726 zu Gyoöngyös, war ein tapfexer Rei 
führer, der mit großer Yuszeichnung im flebenjährigen Kriege focht und die Graf 
würde an fein Haus brachte. Er wurde 1773 Feldmarſchall⸗Lieutenant, 1784 Gen 
der Gavallerie und ftarb 1804. Graf Mori A., geb. 17. Januar 1803, gebi 
6i8 1848 zu den audgezeichnetften Mitgliedern der confervativen Partei in Ungarn, 
war Präfldent der ungarifchen Hoflammer, ald die Revolution ausbrach, und trat 
Diefe Stellung wieder ein, als die Kaiferlicden Buda⸗Peſth wieder gewonnen hat! 
Gegenwärtig ift er Kämmerer, wirklicher Geheimrath und wurde füngft zum. Reic 
rath ernannt. 

Daß Paul A., geb. 1818 zu Peſth, feit 1844 ein Führer der ungarife 
Dppoftition, Präfldent im Debrezinee Parlament und Freund Koſſuths, Der nadh I 
Siege der Kaiferlichen nach Paris flüchtete, zu dieſem Gejchlecht gehört, it wahrſche 
lich, aber nicht gewiß, jedenfall gehört er Feiner der beiden gräflicden Linien an. 

Almeida. Die X. find, wie bie portugieftfchen Grafen, Marquis und Herz 
von Abrantes, aud dem großen Haufe Alencaftro. Mehrere U. führten zugleih a 
den Titel von Abranted. Das Wappen zeigt im gevierten Schild im erſten und v 
ten rotben Felde ein goldene Doppelfreuz von ſechs filbernen Pfennigen in den Ed 
begleitet, im zweiten und dritten Feld ein rothes Ordenskreuz mit den fünf portu; 
fiſchen Schilblein belegt. Einen Namen haben ſich unter Mitgliedern dieſes Gefchlei 
gemacht Don Francedco d'A., der fid gegen die Mauren fehr jung ſchon Krie 
ruhm errang, 1505 als erfter portugieftfcher Vicefönig nad Oſtindien ging und € 
loa, Mombaza, Cochin, Malakka und andere Staaten theils eroberte, theild dr 
Feſtungen ficherte. Bei feinen Eroberungen wurde er bauptfächlich durch feinen St 
Don Lorenzo d'A. unterflügt, der die Maldiven entvedte, großen Ruhm gewa 
aber 1507 bei Tſchoul den Tod fand. Bei Diu vernichtete Francesco d'a. 1509 ı 
ägyptifche Flotte, mußte dann -aber auf Befehl feines Königs dem großen Alfı 
Albuquerque die Fortfehung feiner Siege überlaffen. -Er flel, auf dem Rüdw 
nach Europa begriffen, 1510 in einem Gefecht mit den Hottentotten am Bor 
birge der guten Hoffnung. Thomas v’Almeida, Patriarch von kiſſabon, wurde 17 
Cardinal. 

Almende (almenning, Gemeinland) iſt das in Wald und Wieſe beſtehende 
getheilte Gemeindevermoͤgen, welches entweder von der ganzen Gemeinde, oder 
von einzelnen beftimmten Gemeindegliedern benügt wird. Im erfteren Falle fon 
die Healbenugung der Almende entweder unvertheilt der gefammten Gemein 
zu, oder fie wird alljährlich an einzelne Glieder zur außfchließlihen Benugung aus 
than und denmächft der Ertrag unter alle Gemeindeglieder nach Verhältniß verthe 
—.Im anderen alle Haben nur einzelne beftimmte Semeindeglieder | 
Recht, die (wenn fchon der ganzen Gemeinde eigenthümlich zugehörende) Almende 
fich zu benügen. Diefe Gliever bilden dann in des Regel innerhalb der Gemei 
jelbft wieder eine gefchlofjene fog. Nealgemeinde, deren Mitglienfchaft durch den Di 
beflg eines beflimmten Hofes (eined „Loosſsgutes“) und durch die Nieberlaflung in 
Dorfmark bedingt if. Ihren Urfprung verdanken diefe Nußungsrechte der Feldgeme 
Schaft, welche ſich fchon in der älteften Zeit in den Agrarverhältniffen der Germaı 
findet. Die Bewirtbfchaftung des Landes gefchah von Höfen aus, die gefondert lag 


860 | Almofenier. 


Das zwifchen diefen Höfen liegende Land wurde Gemeingut, und die Miteigentbimer 
biefer Gemeinländereien wurden durch ihr Intereffe zu befonderen Genoflenichaften ver⸗ 
knüpft. (S. Markgenoſſeuſchaft.) 

Die Theilung der zur Almende gehoͤrenden Gemeinmweiden!) durch Veräußerung 
an die einzelnen Glieder der Gemeinde, meiftens zugleich mit’ Aufhebung aller auf 
den einzelnen Grundftüder haftenden Servituten und Meallaften, — ift ſchon feit 
längerer Zeit das Beſtreben der Gefeßgebungen in faft allen deutfchen Staaten gewefen. 
Ob die rabicale und rücfichtlofe Durchführung dieſer Gemeindelandtheilung, namentlich 
aber die Atomiflrung des Weidelands, eine durchaus fegensreiche, und ob dadurch in 
 specie auch die Intereffen Der Viehzucht die gebührende Wahrung erhalten, Diele Frage 
fann bier nur angedeutet werden. Der Theilungsmodus gebt meijtens aljo vor fich, 
dag die Minorität der Intereffenten für gebunden an den Befchluß der Majorität erklärt 
wird. Den Maßſtab bei der Vertheilung der Almende muß der Umfang der biöherigen 
 Nugungsrechte der einzelnen Intereffenten abgeben, wie ſich auch hiernach das Stimm 
recht der Einzelnen zu richten bat. — Für Preußen gab fchon ein Edict Friedrich's 
des Großen aud dem Sabre 1760 die Grundlage zu Gemeinheitätheilungen; demjelben 
folgte im Jahre 1771 ein Meglement, betreffend die Aufhebung der Gemeinheiten in 
Schleſien. Das jebt gültige Hauptgefeß ift die Bemeinheitstbeilungs- und Ablöfungs= 
Ordnung von 7. Iuni 1821.2) Das Hauptgefeb für Hannover datirt vom 30. Juni 
1842; für Braunfchmeig vom 20. December 1834; für Sachen vom 17. März 1832. 
— Die Theilung der Gemeinweiden gefchieht zweckmäßig in Verbindung mit der Zu- 
fammenlegung und Arrondirung der Orundftüde. Vergl. über das Nähere den Artikel: 
Gemeinheitötheilungen. 

Almpjenier. Der mit der Verwaltung der zu Almofen beftimmten Gelder beauf- 
tragte Geiſtliche einer veligiöfen Brüderfchaft eines Ordens führte biernach den Titel 
eined Alnrofenierd; dann die Geiftlichen, welche an den Höfen der Könige und Finften 
mit dem Almofenpflegeramt befleivet waren. Die Würde eines Großalmofenierg 
von Frankreich wurde fonft nur hohen Prälaten, meift Gardinälen, verliehen, fle war 
feht bevorrechtet. Der Großalmojenier wur Mitglied aller Orbenscapitel, legte jeinen 
Eid perfönlich in die Hände Des Königd ab, ſaß in der Kirche zur Rechten des Königs, 
hielt das Tiſchgebet an der Königlichen Tafel an großen Geremonialtagen. Seine Würde 
war fo bob, daß man fie ald „solstitium honoris* bezeichnete. Die Königin und 
die Prinzen hatten ihre. befonvderen Almofeniers, meift Bifchöfe. Die Almoſeniers 
waren zumellen zugleich auch Beichtväter, namentlich in früheren Zeiten. Jetzt giebt 
e8 in Frankreich feinen Großalmofenier mehr, wohl aber ift die Würde eines Ober» 
Almoſeniers der Flotte vor einigen Jahren gefchaffen worden, der Bijchof von 
Ranch dagegen führt den Titel eines „erften Almofeniers" und wird ald folcher 
unter den oberſten Hofchargen des Kaiferlichen Haufes an erfler Stelle aufgeführt. 
Am britäifchen Hofe erfiheint der Bifchof von Oxford als Groß⸗Almoſenier (Lord 
High-Almoner). In Spanien ift der Patriarch von Indien Groß» Almojenier. Im 
Portugal tt der Cardinal⸗Patriarch von Liffabon Ober-Almofenier und zählt als ſolcher 
zu den Ober-Hofchargen. Auch unter den Hofchargen des Königs beider Sicilien 
findet ſich noch ein Erzbiſchof als Große Almojenier. Am Kaiferlihen Hofe zu Braftlien 
rangirt der Großes Almofenier unter dem Groß⸗Caplan des Kaifers. Un den übrigen 
Höfen findet ſich diefe Eharge nicht mehr, mit Ausnahme des päpftlichen, von welchem 
ftetd ein Monſignore (PBrälat) zum Geheimen Almofenier ernannt wird. Gegenwärtig 
ift ed Prinz. Guſtav von Hohenlohe-Schillingsfürft, Erzbiſchof von Edeſſa in part.-intf. 

) Nur bei diefen kann jüglid) von einer Nuftheilung die Rede fein, denn die zur Almende 
etwa gehörenden Waldungen und Mocrgründe müflen wohl aus anderen Gründen der Bolfe: 
wirthfchaftspofitit Gemeinland bleiben. 

2) ©. 6 W. H Klebe, Hülfse-Handbuh zum Gebraud) bei Gemeinheitstheilungen. 
keipzig 1831. | 


- 


Drug von 8. Heinide in Berlin, Defauerftraße Mr. 5. 











1 


Vorwort 
Einleitung . 


ABE, politifches i 


Der antife Etant 


Hegifter zum 


und bie Brincipien des 


Chriftenthume 18. — Das erfte Princip 18. 
— Die Berinnerlihung und Werthfteigerun 
des Individuums 18. — Mann und Wei 
19. — Freier und Sclave 19. — Bürger 


und Staat 19. — 


Das Voͤlkerrecht und —* 


Chriſtenthum 21. — Das zweite Princip 
bes Chriſtenthums; die Organiſation ber 
Menſchheit in den —— Ordnungen des 
unſichtbaren Gottes 


Aachen (Rheinpr. 
Aachen, Stadt 


— 24 
26 


Aachen, reichoſtadtiſche Berfaffung . 28 


Aachener Eongreß . . 36 u. 780 
Aachener Briedensfhlüfle . 37 
Aachen⸗Düſſeldorf⸗Ruhrorter ciſen- 

bahn . Ä 38 
Aachen Maſtrichter Eifenbahn .. 389 


Aachen⸗Münchener 
rungs⸗ La ee, BO 


Feuerverſiche⸗ 


Aachentbal . 40 
Aalborg . 40 
Aalen 40 
Aar .. 41 
Aarau (Stabi) . 41 
Aargau (Canton) 41 
Aarhuus ; 43 
Yaröe 43 
Aa . .43 
- Abälarbug 44 
Abandon j 46 
Aban . . .. 46 
Abatucci . 47 
Abaujvar 47 
Abbad-Mirza 48 
Abbas-Pafcha . 48 


Abbau und Ausbau J 49 


Abbe. . . . ; 51 
Abberufung . . 52 
Abbevile . 53 
Abbitte 53 


Abbrechen des Gefeht® . . . . 54 


Wagener, Staats. u. Geſellſch⸗Ler. 1. 


ersten Bande. 


A⸗B⸗C⸗Bücher . . . 
Abchafen - 
Abdeder . 

Abdeckerei 
Abd⸗el⸗Kader. 

Abdera 

Abdication. 
Abdruck... 
Abdul⸗Medſchid. 
Abdeur-Nahmän 

Abegg, Br., Erh.. . 
Abegg, Heinr. Burkh. 
Abeken, Bernh. Rud.. 
Abeken, Wilh. Lud. Alb. 
Abeken, Heinrich . . 
Abel, Karl v. (Miniſter). 
Abenberg ae 
Abendberg . 

Abendland 


Abendländijches Kaiferthum 
Abendmahl oder Nachtmahl . 


Abendmahlöftreit 


Abendroth, Aman,, ug. i 


Abendroth, Aug., . 


Abendroth, Ernft, . 
Abendroth, Karl, Eduard 
Abendſchulen 
Abendftern . 

Abenäberg . 

AUbendberg- Traun . . . 
Abenteuer und Abenteurer 
Abercromby, Ralph 
Aberdeen (Stadt) . 


Aberdeen, ©. $. 6., Gut o f Ri 


nifter) . 
Aberglaube . 
Aberration des Lichts 
Abgaben — 
Abgeordnete 
Abgötterei . 
Abholzen 
Abhorrers 
Ab instantia treiſprechen 


51 


802 


Seite 
Ab intestalo erben . . . . . 129 
Abitueint - > 2 2 202000. 129 
Ma - 2 2 2 ee. 131 
Ablegatn . . .. 144 
Ablöfung, 6IBfungSarten, Aötofunge 

Bapital. . 

Abluition .. 148 
Abmeierung.....7148 
Ho. en. 153 
Abolition - 2 2 2 202020. 154 
AHbolitionifien . » 2 2 202.154 
Abplattung der Eee . >. . 156 
Abraham ... 157 
Abranied . 2 2 2 een. 4161 
Abrehnen - >» 2 2 2 82162 
Abrogation. -. 2 2 2020202163 
Abrudbanya . 2 2 222.163 
Al - :> 22er. 163 
Abſchatz. .. ...167 
Abſchatzung (rei nestitnalio) . .. 168 
Abſchätzung (Forfm.) . . . . 169 
Abihihtung -» 2»... 20. 0..169 
Abſchoß. .1170 
Abihredung . 2 2» 22.0. 171 
Abihmwören. . . 0... 11 
Abſchwörung, kirchliche 00... 17 
Abſciſſe . - - .. .17 
Abſetzbarkeit der Beamten ... 17 
Abfolution von der Inftayg. . . 172 
Abfolution, Tirhlide. -. . . . 172 
Abjolutismud® . . 2 2 2 .20..172 
Abfperrung . . . 2 0.20.180 
Abfperrung, fanitätliche . . 180 
Abftammung des Menſchengeſchlechts 182 


Abſtandsgeld . . 186 
Abftimmung . . 0 0....186 
Abfloßung - » 2» 2 2 22.19 
U . .» .. 192 


Me nn. 194 
Abteien 2 2 2 2 2 2 2.194 
Abtnu. 2 2 2 2 2. 2.2...41% 
Abtreibung - > 2 2 2 202...1% 


Abtretung . . 20.197 
Abtrieb Gorfeithiat) 197 
Abtriebsrecht. .. 188 
Abulir . . \ . 201 


Seeſchlacht 201. — Landſchlacht i799. 
203. Landſchlacht 1801. 204. 


Ubufheber . . 204 
Ubweihung. . . 205 
Ubwefenbeit. 205 
Abpyffinien 206 


Flaͤcheninhalt 206. — Gewaͤffer 206. — 
Klima 206. — Induſtrie 207. — Aus: 
fuhr 207. — Sprade, Religion, Ein- 
wohner 208. — Geſchichte 20 


Regiſter zum erften Bande. 


Seite 

Abzug . - 210 
Abzugsgeld . 210 
Academie 211 
Acadie 211 
Acapulco .. 211 
Accapareur . . 2. 212 
Accept, Acceptation 214 
Acceptilation 215 
Acceſſion 215 
Acceſſionsvertrag 216 
Accidentien. 216 
Acciſe .. 217 

Licentſyſtem 219. 

Acclamation 221 
Accelimatifation 222 
Uccolade nen. 226 
Accomodation . - > 2 202.226 
Accord 228 
Accreditiren 229 
Accuſation u. Accuſationoͤproceß 229 
Ahäifcher Bund rn 230 
Achalm . .. 232 
— od. ãhaltzihe 233 
Ada . . 0. 2341 
Ahberrg . . . een. 231 
Achenwall, Sottfr.. 231 
A-cheval-Stellungen . 235 
Achromatiſch 235 


2 5 25 2835 
Oberacht 237. — Reichsacht 238. 


Achterfeld, Joh. Heinr.. 239 
Acker (Allgem. Einleitung) _ - 239 
Ackerbau (Volkswirthſchaft) 242 


Vedentung wirthſchaftliche 243, pofitifche 

und moralifcye 243, Bedingungen: l. In: 
tefligenz, naturtiffenfchaftliche 244, natio: 
nalzöfonomishe 244. — 11. Bapital 245. 
Keine active Mitwirkung der Natur (ältere 
Lehre) 245. — Natural: und Gelvcapital 
245. — Il. Arbeiterftand 216. — IV. 
Staatshülfe 246. 

Ackerbau (Landwirthſchaft) 216 
Begriff und Aufgabe 247. — Veränderung 
der Natur durch A. 247. — Neues Stadium 
defjelben 248. — Wiſſenſchaft und Er: 
fahrung 248, 219. — Throretifche rund: 
fäge 250. — Die daraus folgenden Auf: 
gaben des Landwirths 252: Rodung, 
Tiefpflügung 252, Drainage 253, Düngung 
253 (Wirkung des Düngers 254 -— 255; 
der Streit zwifhen der Mineral: und 
Stieftofftheorie 255), Brache 256, Frucht⸗ 
folge 256 (Wirthſchaftsſyſtem 258), Säen 
und Afegen, 2 afege beim Wachſen 
259, Ernte 2 derbau im weiteren 


Sinne 359. — "* Tpiereulkur 259. 
Aderbau-&hemie (AgricultursChemie) 260 
Aderbaugefellfchaften . .. 
Ackerbau⸗Inſtitute. . . .. 
Akerbaumufterwiethfchaften . oo. 


261 
262 
264 





Regiſter zum erſten Bande. 


Seite 
Aderbaufchulen . 264 
Ackerbau Spyftem . . 265 


Meine Graswirthichait 208. — Wilde Feld⸗ 
Graswirthſchaft 205. — Körnerwirthſchaft 
266. — Fruchtwechſelwirthſchaft 267. — 
Koppelwirihſchaft 200. — Freie Wirth⸗ 
ſchaft 270. 

Ackergeraͤthe. 270 
Geräthe u. Maſchinen, welche direct zur 
Bearbeitung des Ackers reſp. Wieſen ver⸗ 
wendet werden 271. — Gerathe u. Ma: 
ſchinen, welche inbirect zur Bearbeitung 
des Landes dienen 276. 


Adergefeke . 277 
Ackerkrume 278 
Ackermann, Rud.. 278 
A conlo 278 
Acofta, Uriel 279 
Acquit 281 
Acre, St. Jean "p’Arre 281 
Arre (Maß) een 284 
Act . . ee. 285 
Act (Bühnenwefen) en. 285 
- Acta Erudilorum . 286 
Acta Sanclorum . 286 


Bollanviften 287. 
Ale... nenn 288 
Neten nn. 288 


Actenmäßigfeit ... 288 
Aetenvafendung - » = 0.» 289 
Üctie . 290 


Actien: -Befelliait 292. — Euvper⸗ Divi⸗ 
dende 293. — Verwaltungs⸗Rath 293. — 
Zantieme 293. — Nepartition bes Ge: 
winns 293. — Zins-Coupons, Dividen- 
denfcheine, Talons 293. — Actionär 293. 
— Stimmberehtigung ber Actionäre 294. 
Prioritäte - Obligationen und Prioritäts: 
Actien 294. — Commandite⸗-Geſellſchaf⸗ 
ten 295. — Berhältniß der Actien⸗Ge— 
rellfchaften zum Staat 295. — Promef: 
Ten 295. — Geſchichte des Actienwefens 
296. — Actien-Handel 297. — Zahl der 
Actien : Geſellſchaften 2988. — Preußiſche 
Gefchgebung in Bezug auf factienweſens 302. 

Activa und Paſſiva.. 303 


Activhandel . 303. 
Actuarius 304 
Actum ut supra 305 
Adalbert, Bilhof . . . . 305 
Adalbert, Prinz von Preufen . 306 
Adam . . . . 308 [ 
Apamello-Gruppe en 309 
Adamiten 0 310 
Adams, John . . 310 
Adams, John, Praſident der dl 

nigten Staaten . 313 
Adams, Samuel . 313 
Adams-Pit . .. 314 
Adcitation.... 314 





803 


Seite 

Ada. . 315 
Europa 315. — ajrita 316. 

Addiſon, Joſeph 316 

Additional⸗Acte 319 

A découvert 321 

Adel . 321 


Blan des Auffatzes 321. — Aritit der 
Adelotheorieen 324. — Altdeutſcher 330. 
— Sm Mittelalter 339. — Der Gegen: 
wart und feine Zukunft 351. — Stalien 
352. — Spanien und Portugal 353. — 
Beankreich 354. — Gngland 355. — Eng: 
and und Deutſchland 357. — Norwegen 
359. — Deutfhland 359. — Ungarı 366. 
Rußland u. Polen 368. — Weftjalen 373. 
Adels Theorie und Adels-Reform 377 
Reflectionen und Folgerungen der practi⸗ 
ſchen Adele: Theorie 378. — Emancipa⸗ 
tion der anderen Stände 383. — Grund: 
, dei ig und hiftorifcye Eontinuität des Stan: 
383. — Grundbefig die Unterlage aller 
Vermögens: Erzeugung 384. — Romanti⸗ 
ſcher Adel 384. — Ritterlichkeit 384. 


Adelaide .. 385 
Grafſchaft 388. — "Stadt "388, 
Adelbonde . 359 
Adelepfen . .. 8389 
Adelmann von Welmannöfelen 390 
Adelöberg . .. 390 
Adels⸗ und Ahnenprobe 390 
Ahnentafel 391. — Filiation 301. — 
Ritterbürtigkeit 391. 
Adelsverbindungen . . 391 
Adelung, Joh. Ehriftoph 393 
Adelung, ßriedrich von 395 
den. . 396 
Adersbach 400 
Adhäflon 401 
Adiaphora . 401 
Adiapboriftifche Steiigeite 401 
Adjudication . 403 
Ale . 404 
Heerzeichen 4. — Geraldiſch 404. — 
Als Orden 405. 
Adlercreug 407 
Adlerfparre . 408 
Adminiftration . . 409 
Staats: 409. — Wald: 409. 
iniftratipfuftig 202000. 413 
Admiral. . . en. 419 
Admiraljchiff 420. j 
Admiralichaft madyen 420. 
Admiralitätd.Infeln . 420 
Admittitur . 421 
Admodiation . . 421 
Adolf, Herz. v. Naffau . 421 
Adonai . 421 


Adoption (Areogation, 5 Annahme an 


Kindes Statt, Wahllindſchaft). 422 
Adoration.... 423 


51 


804 

Seite 
Adorf.. 423 
Adour. .. . 423 
Adrefle . 423 
Aria . 421 
Anrianopel . . 425 
Adrianopel (Friebe von). 425 
Adriatifches Meer . 430 
Adfchmir  . 433 
Advent . 435 
Advocat . 435 
Advocati ecclesine 435 
Advocatus dei et diaboli 436 
Aẽerodynamik 437 
Ytde . . 437 
Aöroftaten für Rriegegnete 437 
Aeroftatif 438 
Aëroſtiers 438 
Affiliirte. 439 
Affinitaͤtt. 439 
Affre. 4410 
Affry. .... 441 
— en... 433 
Aftla . . » 449 


Flaͤcheninhalt 450. - _ Ginwohnerzahf 431 
Sclaverei in Afrika 451. — Boden und 
Klima 452%. — Ylora und Fauna 456. — 
Bewohner 457. — Inſeln und Archive: 
lage 465. — Golonie der Freien 466. 
Religion 466. — Geſellſchafts- u. Stade: 
verfaffung. 467. — Golonieen 46. 


Aegatifche Infeln . 469 
Aegäifches Meer 469 
Agapın . 471 
Agar. . 473 
Agafiz . 474 
Agde. 474 
Agenden . 474 
Agent . . 476 
Agentfchaft . 476 
Agenturmefen 476 
Aggregat . .- 478 
Aggregirt 478 
Agincourt, d’ 479 
Agio, Agiotage 479 
Agitator . 483 
Agnatn. . . . 484 
Agnes, Graͤfin v. Drlamünde . . 484 
Agnus Dei . 486 
Agonie . . 486 
oouft, Grafen v 202.486 
Agra. . 487 
Bräfentfeaf 487. — - Provinz 487. — 
aan 490 


Sefpanfchaft. 490. — Stabi 491. 
Agrargefeggebung, Agrarverfaffung 492 
Ginleitung 492. — Grundſaͤße 495. — 





Negiiter zum erften Bande. 


Eeite 

Begenwärtiger Zuftand 496. — Roms 
Agrargefebgebung 501. — Deutſchlands 

502. — Preußens 503. — Deſterreichs 
504. — Baierns, Württembergs, Hanno: 
vers u. f. w. 506. — Rußlands 507. — 
Molens 508. — Türkiſche 510. — Eng⸗ 
liche 510. — Frankreichs Bid. — Ita: 
liens 519. 


Aguado . 519 

Aegypten . 520 
Phyſikaliſche Verhaitniſſe bes Bodens 5%0. 
— Klima 525. — Kranfheiten 526. — 


Naturprobucte 526. — Mineralien 529. 
Bevölferung 529. — Verfaſſung 530. — 
Handel, Induftrie u. Verkehrsmittel 532. 
Litetatur 533. — Neuere Geſchichte 533. 
— Neuefte Geſchichte 536. — Landenge 
von Suez 537. 


Aham 538 
Ahaus . . re 539 
Ahlden, Herzogin v. . 545 
Ahlefeld .. rn 546 
Ahlefeldt, Gräfin Elifa 547 
Ahlimb, Grafen v. 550 
Ahnen . 551 
Ahr . 551 
Ahrens, Heinr. Abel 552 

—, genr. . 553 
Ahriman 554 
Aichelberg 556 
Aichelburg 1: )y | 
Aichen, Aichmaaß . . 020.597 
Aide toi et le ciel Uaidera . «560 
Aiguillon Den ee. 562 
Yin . een. 563 
Ainmüller 963 
An . . 563 
Aindworth, Bill, Sarrifon 565 
Are...» . 565 
Aisne . . . 565 
Air (Eiland) .. 566 
— (Stadt in Frankreich) 566 
— (Stadt in Sagen) 567 
Ajaccio . . . 567 
Njan (in Sihiien) 567 
— (See) . . 567 
— (in Afrika) 568 
Akademie 568 


Italieniſche 508. _ “ Granzöffhe 670. — 
Deutſche 578. — Berliner 579 u. 84. 
— Wiener 583 u. 588. — Unfere Theo: 
tie 586. — Petereburger 589. 


Akademie (der Sqhauſpieltunſi) 593 
Akadenifh . . 594 
Akademiſche Region 594 


Duellen für bie Geſchichte di der Diener 
akademiſchen Legion 695. 
595 


Akatholiken o ® ‘ o U . ‘ 














Negiiter zum erften Vande. 805 


Seite . Seite 
Akjerman (Konvention von) . . 595 | Albuurque . . 2 2 645 
ar bes Wortes 505. — Schlach— Ucda . 2 2 2 2 een. 646 
ten | Alcalde. .646 
Akoluthen. * Alcantara-Orden . 2. 2 220.646 
ae — — Alchemie.... 647 
eſchichte 598. — Geographie 599. — Afeubi 651 
Erzeugnifle 600. — Handel u. Induſtrie ee 2 
601. — Statiftif 601. — Eonttitution 602. Aldanifches Gebirge .... 6854 
Alagoas . . : 603 | Mdenhovn . . 2 2 .655 


Alais a 666 Aberman . 2 2 2 202000. 656 
Alands⸗Inſeln . . 0.0. 604Aldinen.. 656 


Bomarfund 604. — Handel und Ver⸗ Alvobrandini . . 20.658 
kehr 804. — Geſchichte 605. — Der Alvobrandinifche Sodyelt 20.658 
wohner 808. Aldringer | 658 
Alarm oder Allan . . . : 605 a ns et}: 
All le 606. — a rm: 2a, 68 u: 
a En -Batterieen 606. _ Alembert, Jean Ie Rond v. . . 661 
Alarm: Kanone 606. — Allarm: Pla 607. Alem:Tfo . . ..  . 663 
— Alarmiren 607. Alencon . en ie an . .667 


Ua . 2 2 000 60T | ge 

- PPO a 0 ee 008 
Alba, Herz. u ee 0 Aleffandria . . 2 220202. 672 
Albaner Gebirg -. » » . . . 612 Aleuten .. =. 673 
Abani (Bürften) . . 0. . 618 | gyferander Ili, der Große . . . 677 


Albanien ... 2 2000000. 614 Beihhichte 677. — Melthi — 
Man. | ne elthiforifche Bebe 


Albany, Gräfin v. 0. 00.616 | Merander Newsti....687 
Albany (Afeila) -. - > 2. .- 616 | Alexander Nmsli-Orden. . . . 688 
Albany (Amerila) . - » . 620 | Alerander I, Panlowitf . . . 689 
Albany nn 0... 621 | Alexander I. : u ie ir 092 
Albenyll. . > 2 20.0. 622°| Merander VI (Pabſt) ... 697 
Albemarlle. 2.2... 622 | Alerander, Prinz v. Preußen . . 700 
Alberoni, Julius . - 2... . 622 | Alexander Carl, Herz. v. Anh. Bernd. 700 
Albers, Joh. Friedr.. . .» . . 623 | Alerander, Graf v. Württemberg . 701 


Albert d. Gr... . 00.0. 624 | AUeranderfhladt . . 701 
Albert, PrinzeGemahl 2.» 624 | Ulerandra, Gropfürftin Gonftantin 
Albert, Arbeitet . 2 2 0 0 0.626 von Rußland . . 701 
Alberti, Strafen . 2 2 2.0. 627 | Alerandra, nn Nicolaus von 
Albertinifche ine . - 2... 628 Rußland . . : 702 


Albi, aud Ally . » 2 2 0.629 | Merandeia . oo 2 20. . 702 
Albin, Kanzler . . 0.0. 0.629 | Meise, Wilibad . . 2 2. . 707 


Albrecht, Raifr . . 630 | Aferi . 2 2 2 m 22... 707 
Albrecht V., Herzog von Deferei 632. | Alfred der Große. -. . 2». . 708 
Albrecht Achilles Eh 634 | A Frese . . — 4113 
Achillea 635. Algarbe oder Algaro u ar ar an 21 
Albrecht, Na bes Beten Algaroti . . ee 22 
Ordend. . 635 | Manu 2 nn. 793 


Albrecht, rzbifchof oo. 686 | Algebra © 2 2 22 nn 74 
Albrecht, Prinz von Preußen . . 6836 Algeſiras. . . ee er 128 


Albrecht, Erzherzog . . - 637 | Algier (Colonie) . . 725 
Albrecht, Wild. Eduard (Brof. 1 . 638 Gefhihte 725. — Ftanlreichs Verhalt⸗ 
Ueber „die Gewere als Grundlage des au‘ Algier 725. — Bodenbefchaffenheit 
älteren deutfchen en 639. Bewohner 727. — —— 
Albrecht der Bär. . . . 643 Beröferung 728. — Colonifationsmethode 
Albrechts-Orden © 2 2 2 2. 643 729. — Staatsform und Berwaltung 730. 
Albreda Bu, a DL 
AI a een N -644 Algier (Stadt). . .- 731 
ufera. . . u Er Topographie 731. — Handel 736. — In- 


Albufera, Herzog von. .... 645 duſtrie 737. 
Albufera od. Albufera . - » . 645 Algorithmus 39 


808° Bestie sum erften Bande. 


Alguacil . 

Alhambra 

Ali, Paſcha von Zanin 
Alibi... 

Aklicante. 
Alienbill. 
Alighieri. 
Alignement . 
Alimente. 
Alifon 
Alaska . 
Alkalien . 
Alkaloide 
Alkali - Meter 
Alkmaar 


Geographie 746. — Geſchichte 17. j 


Alkohol — Alkohol - Vergiftung 
Alkoran und Allah . . 
Allahabad 


Seite 
739 
739 
739 
740 
741 
741 
741 
741 
742 
743 
743 
745 
745 
746 
746 


748 
750 
750 


Stadt 751. — Brovinz 754, _ _ Züngfter 


Aufftand 756. 


Mad 2 ea 
Alegbany . . 0. 
Allegtance -(oath of). 

Alegi - . 2 2 0 nn. 
Aleinhandel . .. 
Aueinfeligmachende Kirche 
Allenburg (Statt) . . 
Allenftein (Krei u. Sud . 
Aller (uf) .. . 
Allerchriftlichfter König 
Allergetreufter König . 


756 
7157 
757 
757 


.. 757 


Allerbeiligenf fl 2 763 
Allerbeiligftled .. © -» - 2 0. 763 
Allerfeelentag . - . 763 
Allgemeine deutjche Bibliothek . . 763 
Alliance (Evangelical) . . 166 
Oejchtäte 766. — Bereinigun dgrundlagen 
767. — Berliner Berfammlung 768. — 
Keitif des Bundes 770. — Bolit. Beben: 
tung 771. — Verſammlung zu Liverpool 
773. — Berhältniß yr England 774. — 
Friedrich Wilhelm IV. und die Evangeli- 
cal Alliance 775. 


Allianz (Völkerret) . . . 779 
Allianz (Triple u. Dundrupeh . 182 
Allianz (heilige) . . 782 
Allir (Klub) . - „0 00 0.7937 
Allier (Departement) . 20.20.7883 
Alligationdrehnung . - - » . 788 
Allioli (Dr) .’. . . 788 
Alliteration @ucfabeneim) . .. 789 
Allix (General) . . . 790 
Allocution ren... 79 
Alod . ..791 
Alluyion . 793 


Begriff 793. — - Inhalt und Formen 794. 

— Delta's 795. — Naturgefeß 796. — 

Alluvionen der Meere 796. 
Alluvion ht) ee. 0. 797 
Um .. een. 7197 
Al marco . 2 2 2 0 2000. 78 
Almaͤhh.. 79 
Almeida. 79 
Almende. > 2 2 0 79 
Almofenir . > 2 22 800 

Y 























—X