ergreift mit' fester Faust die Lenkung. Die Zeiten über»’
ragender Führerschaft scheinen endgültig vorüber, seitdem
die Massen — dem Autoritätsglauben entwachsen — die
Gestaltung ihres Schicksals selber in die Hand nahmen.
Leider schweißt sie noch kein, einheitlicher Kulturwilfe
zusammen. Zersplitterung ÜbeWl. Der Rückschritt zieht
seinen Vorteil daraus. Fortschrittliche politische Parteien,
Gewerkschaften, republikanische Verbände, Vereine für
Weltanschauung und Lebensgestaltung, freie Jugend-
verbände, Friedensörganlsatiönett, Reformfreimaurer, Schul*
reformer, 'Kulturgruppen jeglicher Art, — alle gewiß von
Eifer, gutem Glauben und ehrlichem Wolfen getrieben —
streben gesondert ihren gesonderten Zielen entgegen, kennen
sich gegenseitig nur mangelhaft, ja, bekämpfen sich' wohl
gar. Sie müssen zusammengeführt werden und das allen
Gemeinsame erkennen. Das soll die Aufgabe dieser Schriften»
reihe sein! Alle brennenden Kulturfragen der Gegenwart
sollen vom Standpunkt einer natürlichen diesseitigen Welt»
anschauung aus beleuchtet, alle Kulturbemmnisse, die Wege
in eine bessere Zukunft versperren, nach Kräften abgeb atft
werden. Alle Kulturverbände finden hier eine Stätte, wo
sie ihre Ansichten und Pläne begründen, vertiefen und den
verwandten Organisationen und der Öffentlichkeit unterbreiten
können. Im Vordergründe muß der Pazifismus stehen. Ohne
Friede keineKultur. Auch Ausländem und Auslandsproblemen
bleiben die Pforten nicht verschlossen. ; Brücken schlagen !
Verbindungskanäle grabenI, Damit endlich die Tatkraft aller,
die jetzt noch getrennt für Humanität, Freiheit und Fortschritt
wirken, in einen einzigengroßen gemeinsamenBnt)tcicklungs»
ström münden kann zum Heile der gequälten M^us^heit.
Der Herausgeber
Kultur- und Zeitfragen
Eine Schriftenreihe herausgegeben von Louis Satow
Heft 15
EROTIK
UND ALTRUISMUS
Von
Dr, phil. Helene Stöcker
ERNST OLDENBURG,'VERLAG/LEIPZIG
Alle Rechte Vorbehalten.
Copyright by Ernst Oldenburg / Verlag, Leipzig.
d>
Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.
INHALT.
■ ' Seite
I. Liebe und Krieg.8
Die Wirklichkeit der menschlichen Natur. — Moralischer Irrsinn
der Kriegsjahre. — Zerrbilder des Friedens, ■— Die Heilighaltung
des Lebens.
II. Liebe und Keuschheit . . ... . . . . 17
Die „Nichtgesundheitsschädlichkeit” der Askese. — Abstinente
Frauen. — Höhere Sexualmoral. — Früh ehe. -— Das „Hohe
Lied”, — Goethes „Römische Elegien”.
III. Mehrliebe — Mehrehe.28
Penelope und Hetäre. — Sexualität ohne Eros. — Gatte und !
Liebhaber. — Das Problem der Doppelliebe. — Julie von Les¬
pinasse. — „Liehe und Leid, Himmel und Hölle”. — Die große
Beichte. — Sexuelle Eindrücke der Kindheit. —Ein Evatypus. —
„M.” (Mann) und „W.” (Weib), eine chemische Formel. — Die
Frau und die Kriegsgefangenen. -— „Alles verstehen heißt alles
verzeihen.”
IV. Erotik und Altruismus . . . ..86
Überwindung dor Leidenschaften. — Die Frau als Lehrmeisterin
der Liebe. — Vergeistigung der Sexualität zur Liebe. — Auf¬
klärung der Jugend, — Ursachen der Unfruchtbarkeit. — Gleich¬
wertigkeit von Mann und Weib. — Die indische Theorie der
Liebeskunst. -— Die Verständigung der Geschlechter.
I
I. LIEBE UND KRIEG.
Wer sich die eben verflossenen zehn Jahre vergegen¬
wärtigt, von Blut und Grauen erfüllt, wie wohl nie¬
mals eine Zeit in der Geschichte der Menschheit vorher,
den überfällt — den Kühnsten, Hoffnungsfreudigsten
selbst — eine tiefe Skepsis. Dürfen wir wirklich schon
von einer „Liebe“ im höchsten Sinne reden, wo die
Gegenwart, die jüngste Vergangenheit so ganz ohne Liebe
in ihrem letzten, idealsten Sinne scheint? Dürfen wir
wirklich in der Zukunft auf eine Höherentwicklung
menschlichen Wesens und Handelns hoffen, solange das
höchste jener Gefühle, das den Menschen auf die letzte
Stufe seiner Entwicklung heben soll — die Liebe —,
noch gar keine Vergangenheit und Gegenwart zu haben
scheint, solange Haß in der ganzen Welt triumphiert?
Die letzten Julitage des Sommers 1914 waren für einige
Wenige Schicksalstage, die das Leben, die Erkenntnis der
Welt, der Menschen, der Liebe, in zwei einander völlig
fremde Epochen geschieden haben. Nicht nur in jenem
allgemeinen Sinne, in dem es für die Mehrzahl der Menschen
geschah: daß sie eben die Zeit vor dem Weltkrieg und die
Kriegszeit selber voneinander trennten. Nein, in jenem
selteneren Sinne auch, daß wir in jenen Tagen nie für
Möglichgehaltenes mit innerster Erschütterung Wirklich¬
keit werden sahen: daß die Menschheit den Krieg, den
Menschenmord — im Fall des „Sichangegriffenfühlens“
und das taten bekanntlich damals alle Völker — noch mit
innerer Zustimmung und gutem Gewissen begrüßte! Es
war, als habe sich ein Abgrund aufgetan, der alles das
zu verschlingen schien, was bis dahin als menschliche
Kultur galt. Wie einem Nachtwandler, der mit unheim¬
licher Sicherheit auf den höchsten Zinnen und Spitzen
wandelt und der, unerwartet angerufen, dann plötzlich
zerschmettert zu Boden stürzt — so war uns in jenen
Tagen zumut. Als Vermessenheit, unreife, törichte Ver¬
messenheit, erschien, wofür das Leben zu leben, trotz aller,
nein, gerade wegen seiner Kämpfe und Hemmungen
bisher gelohnt hatte! Die Grundlagen menschlicher Ge¬
sittung hatte man längst festgelegt geglaubt: „Nicht
töten“, „Nicht rauben“, „Nicht verleumden“ — Kinder¬
fibelweisheit, nur manchmal durch einige bedauernswerte
Entartete noch nicht erfüllt, gegen welche die menschliche
Gesellschaft sich dann, so gut es ging, zu schützen suchen
mußte. Das Militärwesen moderner Kulturstaaten schien
— von dieser Weltanschauung aus — eine überflüssige
atavistische Erscheinung vergangener barbarischer Zeit,
wie Nietzsche so wundervoll-gelassen, überlegen in seinen
Schriften (siehe Nachlaßbände) es charakterisiert. Unter
diesen Umständen hatte man wohl bis zum Kriege glauben
können, alle Willens- und Seelenkraft darauf verwenden
zu dürfen — da zugleich in allen Ländern beruhigend
machtvolle, starke Männerparteien für die Abstellung der
noch vorhandenen sozialen Mißstände wirkten, — jene
Bezirke menschlichen Lebens zu verschönen, die am Ende
der besonderen Aufgabe der Frau anvertraut scheinen:
der Liebe ? Ehe und Elternschaft, der Höherentwicklung,
der Gattung. Wem das Schönste an der neuen, freiheit¬
lichen Entwicklung des weiblichen Geschlechts schien,
daß die Frau nun, geistig gereift und seelisch bereichert.
ihrer Gattungsaufgabe auf einer höheren Stufe und in
einem tieferen Sinn als bisher gerecht werden konnte,
wer von früh auf Problem und Ziel der weiblichen Persön¬
lichkeit darin erblickte, geistig produktive Persönlichkeit,
liebende Frau, beglückte Mutter zugleich zu sein — der
hatte bis zu jener Schicksalsstunde wohl eine Aufgabe
vor sich, die das Leben lohnte. Für jene letzten Ver¬
feinerungen und Erhöhungen menschlichen Daseins zu
wirken, sie immer wieder kenntlich und begehrenswert zu
machen, die gleich weit ab lagen von frivoler brutaler
Genußgier, wie von roher, seelenverhärtender Askese, das
waren Ziele, die es vergessen lassen konnten, daß auch
an solche Bemühungen das Mißverstehen anders gearteter
Naturen unwiderruflich geknüpft ist. Das waren Wirkens¬
möglichkeiten, die überwinden ließen, daß hier und dort
jenes „Mißverstehen“ aus innerster Notwendigkeit zu
scharfen Zusammenstößen im theoretischen Kampf, wie
hart im Raume führen mußte. Was wollten solche Hem¬
mungen bedeuten gegenüber jenem hohen Ziel, das^ voll
leuchtend wie eine glühende Abendsonne am Horizont
stand und alles Leben, alles tägliche Mühen und Sorgen
mit seinem warmen Glanze übergoß? So daß auch in
müden Augenblicken, in Zeiten der Ermattung das Be¬
wußtsein nie ganz verloren gehen konnte: „Wie es auch sei,
das Leben: es ist gut!“ — Wo man den frohen, heute als
töricht erkannten Glauben haben konnte:, es genüge ein
wenig guter Wille, ein wenig Aufklärung, Änderung noch
ungeschickter, unzureichender Gesetze und Verordnungen,
um eigentlich fast allen Menschen jenes höchste Glück
inniger Liebesgemeinschaf li, aufwärtsgerichteter Entwick¬
lung, blühender Kinder, tiefster innerer Harmonie zu
schenken.
7
Wie wenn plötzlich ein Abgrund der Hölle vor einem
träumend in blühender, reifender Sommerwelt Schreiten¬
den sich auftut, so war jenes furchtbare Erwachen zur
Wirklichkeit der menschlichen Natur. Unfaßlich: nächste
Freunde, Geliebte, Mitkämpfer, verehrte Greise und Grei¬
sinnen, zarte Frauen, idealistische Jünglinge, hochkulti¬
vierte Männer, Sozialreformer, Politiker, Künstler, Ge-
lehrte, alle, alle fortgerissen in jenen blutigen Mordrausch,
der plötzlich Menschenmord, Vernichtung blühenden,
menschlichen Lebens als selbstverständlich bejahte. Mörder
— lusterfüllte, bei „Siegesnachrichten“ „jubelnde“ Mör¬
der — sie alle!! An wen man sich im ersten Entsetzen
noch klammerte, auf ihn selbstverständlich als Ausnahme
von jener wüsten Verrohung gehofft hatte, — eine Stütze
nach der anderen brach zusammen. Kein Stand, kein
Geschlecht, kein Alter, keine Bildung, keine Nationalität,
keine Rasse, keine Partei — nirgends ein absolut sicherer
Schutz vor jener moral-insanity, die die ganze Welt in
ein großes moralisches Irrenhaus verwandelte. Und die
ganz, ganz Wenigen, die dachten und fühlten, wie — nun,
wie man vorher die ganze normale gesunde Menschheit
fühlend glaubte, — die waren so vereinzelt und verschüch¬
tert ob ihres „Andersseins“ und „Andersfühlens“, daß sie
sich kaum zu ihrem eigenen Fühlen zu bekennen trauten.
Was an Schilderungen der Mordorgien dann zum Aus¬
druck kam in jener fluchwürdigen Institution: einer unter
militärischer Aufsicht stehenden Presse ; — welche himmel¬
hohen Berge intellektueller Beschränktheit, seelischer Er¬
barmungslosigkeit, welche schauerlichen Tiefen unnenn¬
barer Roheit offenbarten sich uns da! Daß die Menschheit
nicht ein Ekel gepackt hat vor ihrer eigenen Unmensch¬
lichkeit, daß sie es ertrug, Tag um Tag, Monat um Monat,
8
' - ■. - : . ■ : ii.
Jahr um Jahr in diesem Meer von Blut zu waten! Zum
Verzweifeln unfaßlich war es, wie die Staatsmänner der
verschiedenen Länder sich zierten und zögerten, irgend¬
ein Wort von „Frieden“ und Friedenswillen zu sprechen --
obwohl doch jedar Tag dieses Zögerns hunderte, tausende
wieder zu Leichen, zu Krüppeln, zu Mördern machte!
Was waren denn das für Wesen, diese „Staatsmänner“?!
Was für grausame Götzen einer fremden, furchtbaren
Welt über unserer einfachen, natürlichen Menschenwelt,
daß sie mit Menschenleben fühllos, wie mit Kugeln im
Kegelspiel, umgehen durften ?! Ohne daß die Betroffenen,
die zu wertlosem Plunder wurden, den man fortwirft,
daran dachten, ihr Recht aufs Leben gegen diese Un¬
menschen zu verteidigen?
Moralischer Irrsinn, eine höllische Unterwelt der Qual
und Zerstörung — war das Leben dieser Jahre.
Es scheint auch heute noch nicht klar, was entsetzlicher,
zerstörender, entwürdigender ist . für den Glauben an den
Menschen: die naive, kalte Brutalität jener menschen¬
verachtenden Staatsmänner und Feldherren, oder die feige,
unterwürfige Geduld, mit der die Masse der Menschen es
trug, selbst in den Kot gestampft zu werden, oder ihre
geliebtesten Menschen dem Höllenrachen des Mordens und
Gemordetwerdens ausgeliefert zu sehen. Die Wenigen,
die dagegen aufbegehrten, wurden freilich gar bald zur
Ruhe gebracht — mit Verboten und Strafen aller Art, in
Gefängnissen und Zuchthäusern oder auch im Grabe.
Aber in all dem Entsetzen dieser Jahre blieb eine große
leuchtende Hoffnung: allen jenen, die — zu ihrem eigenen
Unheil fast — nicht moralisch taub und blind wurden in
dieser Zeit: die, während allen dieser blutige Schleier um¬
nebelnd vor den Augen hing, hell und klar das Blau des
Himmels sahen und das vergossene Blut, das, wie alles
von Menschen vergossene Blut, zum Himmel schreit,
— ihnen blieb in jener entsetzensvollen, ruchlosen Zeit
doch eine Hoffnung. Irgendwann einmal mußte dies
Morden, dieser „Krieg“, wie man leider noch unehrlich
schönfärbend dies Morden im Großen nennt, zu Ende
sein, — es mußte der „Frieden“ kommen. Alle Staats¬
männer, alle Feldherren, alle Soldaten sagten ja, daß sie
ihr blutiges Gewerbe, jene teuflische Kunst des tausend¬
fachen Tötens nur übten, um sobald als möglich zu diesem
„nicht mehr töten zu müssen“ zu gelangen. Aber dann
— dann würde, müßte endlich zum Ausdruck gelangen,
daß alle, nahezu alle dies Entsetzliche nur unter dem
ungeheuren Druck der Gewalt, der Sorge, anderenfalls
selbst getötet zu werden, mit Abscheu geduldet hatten, —
daß nur eine falsche, schlechte, ungeschickte Organisation
der Menschheit es gewesen, die es ermöglichte, daß 99 von
100 Menschen tun mußten, was vielleicht ein einziger
Entarteter gewollt hatte. Künftig würde eben geschehen,
was diese 99 noch nicht unmenschlich Gewordenen für
gut und richtig hielten.
Als dann der Tag kam, der jenes alte, fluchwürdige
System der organisierten, erzwungenen Menschentötung,
das alle wahre, menschliche Liebe unmöglich macht,
zu vernichten schien — welch tiefe, lebenspendende Hoff¬
nung erfüllte da unsere Herzen! Nun konnte doch noch
ein Sinn in dem furchtbaren Geschehen dieser mörderischen
Jahre liegen: die Menschheit hatte über diese Selbstver¬
nichtung hinüber, durch sie hindurchgehen müssen, um
das Heillose dieses gegenseitigen Hasses zu erkennen, um
zu begreifen, daß sie nur in der Anerkennung ihrer wechsel¬
seitigen Abhängigkeit, ihrer gegenseitigen Verbundenheit
10
sich erhalten könne. Um zu verstehen, daß jede Äußerung
von Haß und Feindschaft — Selbstvernichtung, jede
Erkenntnis, jedes Gefühl der Sympathie und Liebe Selbst¬
erhaltung, Selbstbereicherung war.
Aber nun erst — in diesem Jahr der ersehnten Befreiung,
der Möglichkeit des heiligen „Friedens“ — begann die
eigentliche Tragödie der Menschheit sich zu offenbaren.
Auch unter denen, die das alte System das Menschen
zwangsweise, hunderttausendweise, millionenweise zu Mör¬
dern und Erschlagenen macht — mit Recht bekämpften,
finden sich zahlreiche noch so angesteckt von jenem Geist
blutiger Gewalt, von Banquos Mördergeist, daß auch sie
nichts Besseres wissen in ihrem Kampf gegen jenes Ver¬
ruchte, als dieselben verruchten Mittel anzuwenden. Wie
es ja schon beklagenswerte Selbsttäuschung war, wenn
im Kampf gegen dies System während des Krieges Wilson
und seine Soldaten die blutigen Mittel des Krieges ge¬
brauchen zu dürfen glaubten, des Krieges, den Wilson
selber so — mit Recht —- verdammt hatte.
Und so kam denn, was wir— als trauriges niederdrücken¬
des Zerrbild wahren Friedens, rechter Befreiung heute
vor uns sehen: der Friedensbringer Wilson, der den dauern¬
den Frieden bringen wollte, hat durch den Gebrauch jener
Kriegsmittel sich selbst um die Möglichkeit gebracht, sein
Ideal zu verwirklichen, hat durch sein Mittun im Kriege
selbst die Geister gegen sich wachgerufen, die er dann nicht
mehr überwinden konnte. Und ebenso steht es nun mit
jenen Kämpfern für eine neue bessere Gesellschaftsord¬
nung, die im Kampf gegen jene alte böse, verderbte Welt
sich verführen lassen, deren böse, verderbte Mittel des
Hasses, der Menschenverfolgung und Tötung selber zu
benutzen. Sie sehen nicht, daß wir nur dadurch zu einer
11
höheren, menschlichen Gemeinschaft gelangen, wenn wir
selber in jedem Augenblick besser, edler, hochherziger sind
und handeln, als jene, die wir bekämpfen. Nicht nur un¬
edel ist es, ebenso zu handeln, wie jene, die uns bekämpfen,
es ist auch unklug. Denn jene Verteidiger der Vergangen¬
heit, deren alte Weltanschauung auf Menschenverachtung,
Menschenmißhandlung von vornherein beruht, müssen im
Gebrauch jener Blutmittel den anderen, die sie „nur not¬
gedrungen“ benutzen zu müssen glauben, immer überlegen
bleiben. Daher schafft eine einzige Untat — auf Seiten
der Kämpfer für das Neue, Bessere begangen — den Ver¬
tretern des Alten verhängnisvolle Vorwände, später, wenn
einmal die Macht wieder wechseln sollte, mit noch unsäglich
vermehrter unmenschlicherer Härte, jeden Versuch, neue,
von Gewalt und Blut befreite Zustände zu schaffen, für
ewig in Gewalt und Blut zu ersticken, — wie wir es z. B.
1870 bei der Niederwerfung der Kommune in Paris, in Finn¬
land, in Ungarn und überall sonst auf der Welt sehen.
Nein, so kommen wir, so kommt die Menschheit niemals
aus dem Blutmeer heraus. Wir müssen versuchen, mit
radikal anderen Mitteln, auf völlig gewaltlosem Wege jene
bessere Welt zu schaffen, die wir ersehnen. Wir müssen
Mittel finden des Geistes, Waffen der Güte, uns ganz von
Grund aus, in unserem innersten Wesen von jener alten
unheilbringenden Welt zu unterscheiden, sie bei uns, in
uns selbst zunächst, gänzlich auszulöschen, zu vernichten,
Mittel, an die jene mit ihren plumpen Waffen der Kanonen
und Handgranaten niemals heranreichen können — Geistes¬
kräfte, Gemütsbetätigungen, die sie niemals überwinden
können.
Sicher, man darf sich keine Illusionen darüber machen,
daß der Weg des Geistes, der Güte — der Gewalt gegen¬
12
über — ein mühseliger, langsamer isi. Und doch der
einzige, der wahrhaft, sicher zum Ziel führen kann. Nur
durch dies ganz persönliche Verantwortungsgefühl jedes
einzelnen unter uns, der blutigen Gewalt unseren Dienst
zu verweigern, in jeder Art verweigern zu müssen ■ - werden
wir jenen furchtbaren Götzendienst allmählich erschüttern,
eine Bresche in die Mauer dieses grauenvollen Aberglaubens
des erlaubten Menschenmordens schlagen. Der seit An¬
beginn der menschlichen Gemeinschaft als das größte Ver¬
brechen instinktiv erkannt wurde, wie die biblische Le¬
gende von der Tötung Abels durch Kain lehrt, und dennoch
unter allen möglichen Verkleidungen und Verhüllungen
— als nationales Verdienst sogar — sich bis heute zu be¬
haupten gewußt hat.
So sind denn heute in allen Ländern unsere einzige
Hoffnung diejenigen, die sich in dieser Erkenntnis mit uns
begegnen: die wissen, daß man das Böse nur durch das
Gute, die Gewalt nur durch Geist und Güte allmählich
überwinden kann.
Unendlich opferreich wird auch dieser Weg sein, darüber
geben wir uns keiner Täuschung hin; unzählige kostbare
Menschenleben werden dem Unverständnis der Gewalt¬
anbeter zum Opfer fallen. Aber es gibt keinen anderen
Weg: Gewalt gegen Gewalt zu setzen, fordert auch ent¬
setzliche, noch grauenvollere Opfer, wie der Krieg mit
seinen zwölf Millionen Toten bewiesen hat, und zerstört
zugleich die Reinheit der neuen Ziele, verdirbt alle Men¬
schen, die die Gewalt selber zur Anwendung bringen
„müssen“ — zu ihrem eigenen Kummer, wie sie behaup¬
ten —, vernichtet im Keime schon die höhere Welt der
Liebe, die von uns allen ersehnt wird, die gebaut werden
soll.
13
Und in dieser Welt, die noch so ganz erfüllt ist von
Haß und Vernichtungswut, in der jetzt die verschiedenen
Klassen in allen Ländern sich mit derselben tödlichen
Feindschaft gegenüberstehen wie vorher die Nationen, in
dieser Welt soll eine Verfeinerung der Liebe der Geschlech¬
ter schon möglich und denkbar sein? Eine Welt, in der
Menschen erbarmungsloser, roher, scheußlicher gegen¬
einander handeln, als je wilde Tiere gegeneinander handeln
können, denen ja die Vernunft, die Einsicht in ihr Han¬
deln fehlt, so daß es eine völlig unberechtigte Beleidigung
der vierfüßigen und geflügelten Mitbewohner unseres
Planeten ist, rohes menschliches Handeln als „tierisch“
zu bezeichnen. Vielmehr ist die tiefe Bitterkeit des Men¬
schenverächters Swift zu begreifen, der im fünften Kapitel
von „Gullivers Reisen“ die Pferde die grimmigste Kritik
an dem verächtlichen Wahnsinn des Krieges üben läßt,
den die Menschen aus den sinnlosesten Ursachen gegen¬
seitig übereinander heraufbeschwören. Die Tiere haben
in der Tat allen Grund, jeden Vergleich mit unserem
menschlich-unmenschlichen Handeln als unter ihrer Würde
abzulehnen.
Aber inzwischen geht das Leben weiter, und, so be¬
fremdend es im Grunde auch sein mag: es gibt große
breite Massen, die diese Erschütterung des frohen Glaubens
an die menschliche Entwicklung innerlich gar nicht erlebt
haben, die atmen und wirken, als sei diese Zerstörung
unseres Planeten, diese Weltkatastrophe überhaupt gar
nicht vorhanden. Denen jede tiefere Anteilnahme am
Weltgeschehen fehlt. So müssen wir erkennen: mit un¬
endlich langen Zeiträumen werden wir rechnen müssen,
um einen radikalen Umschwung in der menschlichen
Psyche von jenen Raub- und Mordinstinkten zu edleren
14
Gefühlen erwarten zu können. Inzwischen aber hebt
neben diesem Inferno des Todes und des Tötens der Reigen
des Lebens, des zeugenden, schöpferischen, beglückenden
Sichverbindens und Ineinanderverschlingens stärker als
vorher an, den auch die Schlachten des Todes nicht ganz
unterdrücken konnten. Aus der Welt des Todes, des
Tötens, die unwidersprochen bisher der Mann beherrscht
und aufrecht erhält, suchen wir nun den Weg zu finden
in die Welt, des Lebens, der Heilighaltung des Lebens,
die ohne die Frau nicht einmal gedacht werden kann.
Gewiß, auch während des Krieges „stand um Frank¬
reichs willen kein Brautbett öd’ und leer“. Aber dank
der Verrohung der menschlichen Art in diesen Jahren
wahrer Schmach und Schande, die wir durchlebten, ist
wohl keine Verfeinerung, keine tiefere Beglückung möglich
gewesen.
Tiefer als jemals vorher aber vermögen wir jetzt zu er¬
kennen: wie eng Tod und Leben, Töten und Zeugen,
Völkerhaß und Geschlechtsliebe ineinander verschlungen
sind. Vergessen wir nicht: die Entwicklung der Liebe,
die Zukunft der persönlichen, individuellen Liebe ist un¬
trennbar mit dem Gang der allgemeinen Entwicklung ver¬
bunden. Daher ist es eine unablösliche Pflicht, am Gesamt¬
bau der menschlichen Entwicklung, der physischen wie
der geistig-moralischen, menschlichen Gemeinschaft mit
zu wirken, wenn wir eine höhere Blüte der individuellen
Liebe zwischen Mann und Weib erhoffen, ersehnen.
Gerade angesichts der Qual und Zerrissenheit der Gegen¬
wart blüht, so gestört und verzerrt in Millionen Leben
auch immer der glückliche Ablauf der erotischen Ver¬
bindung sein mag, tausendfach in jungen wie reifen Men¬
schen die Sehnsucht nach dem Paradies zu Zweien, dem
15
Andern, einem Menschen, in dem sie sich spiegeln und reifen,
sich besser wiederfinden und zugleich die Sehnsucht nach
einem ruhenden Pol in dem Wirrsal stillen können. Und
doch zeigt jeder eingehendere Blick auf die Masse der Men¬
schen, wie verzerrt und entstellt die Mehrzahl der sexuellen
Beziehungen noch ist, wie durch diese Jahre gewaltsamer
Trennung, der Gesetzlosigkeit, Erbarmungslosigkeit wohl
die Zahl der neu einander in die Arme taumelnden Paare
sich vermehrt haben mag. Der von der Heimat, von der
Geliebten oder der Gattin losgerissene Kämpfer draußen
im fremden Land — die verlassene einsame Frau in der
Heimat — wieviel Jrrtum, wieviel Zerwürfnis, wieviel
Leid, — wie weit sind wir noch von edler Klärung, höchster
Menschlichkeit, tieferem Verständnis entfernt!
So daß es sich wohl lohnt, einige Hauptprobleme tiefer
zu betrachten. In der Hoffnung, daß hier vielleicht, wo
jeder das Glück der Liebe, das Unglück des Hasses und des
Unverständnisses am eigenen Leibe, an der eigenen Seele
spürt, am ehesten noch die Vorkämpfer einer besseren
Menschheit sich entwickeln können, die dann die Har¬
monie der eigenen Natur zwischen Seele und Sinnen wie
mit dem geliebten anderen Menschen auch über die Mensch¬
heit ausgebreitet sehen möchten und sich mit der Kraft
der in sich einigen Persönlichkeit dafür einsetzen.
II. LIEBE UND KEUSCHHEIT!
Wer den schweren und schönen Kampf um eine Ver¬
edlung des Liebeslebens auf sich nimmt, der muß
von vornherein auf eine Reihe von Mißverständnissen
gefaßt sein. Eine alte bequeme Philistermoral sieht in
dem Protest gegen die erzwungene lebenslängliche Ent¬
haltsamkeit, wie sie offiziell von der unverheirateten Frau
gefordert wird, eine Sympathieerklärung für jede Wahl-
losigkeit und Würdelosigkeit im Geschlechtsverkehr. Ja,
man glaubt vielleicht sogar mit uns einig zu sein, wenn
man gar Verantwortungslosigkeit für sich seihst, d. h.
in der Regel für den Mann, in Anspruch nimmt. Andere
wieder meinen, wenn man gegen Askese kämpfe, so sei
damit die Selbstbeherrschung, jede Durchgeistigung und
Sublimierung, — die unentbehrliche Voraussetzung jeder
„Liebe“ im tieferen Sinne des Wortes aufgehoben. In
Wahrheit verhält es sich so, daß auch der, welcher für
eine neue lebensfrohere Geschlechtsmoral eintritt, die
beiden Geschlechtern gerecht werden, Beglückung und
ethische Verfeinerung verbinden soll, in einem bestimmten
Grade Askese nicht entbehren kann. In gewissen Grenzen
ist sie ein notwendiges Element jeder tieferen Neigung,
jeder höheren Kultur in der Liebe. Der große Unterschied
unserer Auffassung gegenüber der alten Durchschnitts¬
moral — die ein eigentümliches Gemisch von christlicher
Askese, kapitalistischer Eigentums- und männlich-ge¬
schlechtlicher Gewaltmoral ist — besteht darin, daß jener
2 Kultur- und Zeitfragen. Heft 13, jy
der Verzicht auf die Gesehlechtsliebe als solche als etwas
Verdienstliches erscheint, während wir diesen Verzicht
nicht als einen prinzipiellen, sondern nur als einen relativen,
zeitweisen, nicht an sich, sondern nur als Mittel zum Zweck
schätzen: der immer die Veredlung und Durchseelung der
Liehe ist. In diesem Sinne hat Huysmans recht, wenn er
sagt, nur der Keusche könne wirklich wollüstig sein, in
höherem Sinne könne nur der Keusche wirklich lieben.
Eine vollkommene, in jeder Richtung befriedigende Lösung
des sexuellen Problems ist vielleicht deshalb so schwierig,
weil wir hier mit Ansprüchen des Körpers und des Geistes,
des Herzens und der Seele, der Nerven wie der wirtschaft¬
lichen Verhältnisse der Menschen zu tun haben.
Wir stehen daher einer solchen Fülle von Bedürfnissen
verschiedener Art gegenüber, daß es fast unmöglich
scheint, hier einen harmonischen, alle Teile befriedigenden
Ausgleich zu finden.
Aber so viel ist sicher: nicht die schnellste, billigste,
wahlloseste Befriedigung geschlechtlicher Bedürfnisse soll
erstrebt werden, wenn wir den Kampf gegen eine alte
Moral führen. Im Gegenteil, einer der ersten und tiefsten
Sexualforscher, Havelock Ellis, hat mit Recht daran er¬
innert: erst mit der Befreiung von der Bindung an eine
erzwungene körperliche Keuschheit werde es möglich
sein, die Keuschheit wieder als Tugend preisen zu können.
Die Bewahrung starrer, sexueller Abstinenz, eine inhalt¬
lose Jungfernschaft erscheine dann nur als Zerrbild der
Keuschheit. Es ist kein Zufall, daß Friedrich Nietzsche,
einer der gewaltigsten Kämpfer gegen die mittelalterliche
Verdüsterung und Askese, zugleich die relative Keuschheit
als eine Tugend zum Zweck der Erhöhung der Liebe, wie
der Erhöhung der Rasse, nicht aber Keuschheit als eine
18
leere Konvention gefordert hat. Das ist der große prin¬
zipielle Unterschied zwischen der neuen und der alten
Moral. In der alten Moral ist der Verzicht auf die Liebe
an sich das Verdienstliche; nach unserer Auffassung ist
ein zeitweiliger relativer Verzicht dann zu erstreben,
wenn dadurch die Liebe eine Vertiefung, eine Bereicherung,
eine Erhöhung erhält. Eine solche Bereicherung ist nur
möglich durch Überwältigung von Hindernissen, die der
direkten und schleunigen Befriedigung des Verlangens
entgegenwirken, wodurch es an Kraft gewinnen muß,
so daß es auf Umwegen den ganzen Organismus so stark
ladet, daß der endliche Höhepunkt befriedigten Liebes-
verlangens, wie Havelock Ellis es ausdrückt, nicht die
triviale Detumeszenz einer schwachen Begierde, sondern
die immense Erfüllung eines Sehnens ist, an dem die
Psyche ebenso teilnimmt wie der ganze Körper. Von diesem
Standpunkt aus muß natürlich die Auffassung, welche die
Liebe etwa mit dem Alkoholgenuß als gleichwertig und
daher als „entbehrlich“ ansehen zu können glaubt, als
eine gefährlich unzulängliche Auffassung zurückgewiesen
werden, und alle die Versuche, welche etwa die so dring¬
lich notwendige Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
glauben auf ihr aufbauen zu können, befinden sich nach
unserer Meinung in einem verhängnisvollen Irrtum.
Als vor nun mehr als zwei Jahrzehnten die Deutsche Ge¬
sellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,
deren sanitäre Errungenschaften der Krieg zum großen Teil
wieder in Frage gestellt hat, gegründet wurde, gab sie ein
Merkblatt heraus, in dem sie verkündete, geschlechtliche
Enthaltsamkeit sei „nach dem übereinstimmen¬
den Urteil der Ärzte nicht gesundheitsschädlich“. (?!)
Diese Behauptung in ihrer schlichten, unverklausulierten
ifi i
i*
IS
m
Absolutheit forderte unwillkürlich zu der Frage heraus
—. selbst vorausgesetzt, daß die Behauptung zuträfe —,
ob denn die Tatsache der „Nichtgesundheitsschädlichkeit“
schon ein hinreichender Grund zum Verzicht auf eine der
stärksten Freudenquellen des Lebens sei?! Es mögen die
Gefahren der geschlechtlichen Ansteckung gewiß größer
sein als die der Enthaltsamkeit für die physische Gesund¬
heit. Aber deshalb kann man doch nicht die Übel der
Prostitution und der Geschlechtskrankheiten einfach durch
die Behauptung der Nichtgesundheitsschädlichkeit radi¬
kaler Enthaltsamkeit, durch dauernden Verzicht auf die
Liebe bekämpfen wollen. Das sind zwei völlig heterogene
Dinge. Es darf nicht ein Übel durch ein anderes, sondern
es muß jedes für sich nach seiner Art bekämpft werden.
Daß aber die letzten Jahrzehnte mit ihrem Kampf um
sexuelle Reformen auch für die ärztliche Wissenschaft
nicht unfruchtbar geblieben sind, dafür war u. a. eine
Jahresversammlung kurz vor dem Kriege derselben
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten ein Beweis. Nicht nur hatte inzwischen das
ursprünglich beanstandete „Merkblatt 4 der Gesellschaft
eine andere, den Tatsachen mehr entsprechende Fassung
erlangt, sondern in den Referaten und Diskussionen über
die „sexuelle Abstinenz und ihre Wirkung auf die Ge¬
sundheit“ wurde der Kompliziertheit dieses Problems voll
Rechnung getragen. Es war besonders einsichtig, daß die
Dermatologen das Hauptreferat einem Nervenarzt, Ge¬
heimrat Eulenburg, übertragen hatten, der es prinzipiell ab¬
lehnte, diese so unendlich schwierige Frage mit einem
einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Ob und wie weit
sexuelle Abstinenz überhaupt durchführbar, und ob sie
innerhalb dieser Grenzen unschädlich oder mit mehr oder
20
minder schweren körperlichen und seelischen Folgen ver¬
knüpft sein könne, wolle er nicht grundsätzlich, sondern
individuell beantworten, nach Geschlecht, Lebensalter,
Veranlagung, Temperament und Charakter, Erziehung und
Lebensumständen. Und wenn man früher stillschweigend
bei der Erörterung dieses Problems nur das herrschende,
stärkere Geschlecht im Auge hatte — obwohl doch, wenn
irgendwo, so auf dem Gebiet des Geschlechtslebens beide
Geschlechter gleich unentbehrlich sein dürften, da auch der
egoistischeste Mann in der normalen Liebe auf einen weib¬
lichen Partner nicht verzichten kann —, so wurde jetzt
ausdrücklich die Bedeutung dieser Fragen für beide Ge¬
schlechter anerkannt. Von einigen Forschern wurde be¬
sonders betont, daß eben durch den Kampf der Frauen
auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit auf diese Seite des
Problems gelenkt worden sei. Ja, es wurde direkt zuge¬
standen, daß durch die jetzt vorliegenden Äußerungen von
Frauen die früheren Anschauungen als unhaltbar erwiesen
seien. Man erkannte an: hier sei jedenfalls, wissenschaft¬
lich genommen, ein noch unerforschtes Gebiet. Die Ein¬
setzung einer Kommission, zu der auch Frauen zugezogen
wurden, wurde beschlossen; sie hat die Aufgabe erhalten,
weitere Forschungen anzustellen. Mit aller wünschens¬
werten Klarheit betonte Geheimrat Eulenburg: Wenn
man schon für Durchschnittsnaturen in einem sozusagen
asexuellen Mannesleben eine Art von Abnormität und ein
für ihn mindestens unerwünschtes Wagnis zu erblicken
habe, so machen sich bei Frauen, ihrer gesamten körperlich-
seelischen Organisation gemäß, die schädigenden Folgen
andauernd geübter sexueller Abstinenz weit früher, inten¬
siver und, wenn wir von einer Minderheit ausgesprochen
frigider Naturen absehen, fast ausnahmslos, wenn auch
21
in sehr verschiedenen Gradabstufungen, bemerkbar. Selbst
in den leichten Fällen kommt es doch zumeist zu einer
allmählich sich vollziehenden Verkümmerung oder ein¬
seitigen Entwicklung der geistigen Persönlichkeit, neben
einer nicht ausblcibendcn ungünstigen Beeinflussung rein
körperlicher Funktionen, während in schweren Fällen nur
zu häufig voll entwickelte Formen der Angstneurose, der
sexuellen Neurasthenie und Hysterie und selbst aus¬
gebildete Psychosen als Folgezustände der zwanghaft
unterdrückten Weibinstinkte die späteren Lebensepochen
unheilvoll gestalten.
Im Einverständnis mit einer ganzen Reihe bedeutender
Sexualforscher, wie Havelock Ellis, 1‘reud, aber auch
I-Iinton, Cabanis, Busch, Hammer, Nystroem, Forel,
Senancourt, in etwas eingeschränkterem Sinne auch
Loewenfeld, Hirschfeld, Bloch, Blaschko, kommt Eulen¬
burg zu dem Schluß —- entgegen früheren, von einseitigem
engem Geschlechtsegoismus diktierten Auffassungen ,
daß die Frage der sexuellen Abstinenz für das weibliche
Geschlecht, und zwar aller Altersstufen bis zum vollendeten
Klimakterium, von weit einschneidenderer Bedeutung sei
als für das männliche. Diese Fragen seien bei der Frau
durchweg schwerer und ernster zu nehmen, weil nicht bloß
die verwehrte Geschlechtsbefriedigung als solche, sondern
in bedeutend höherem Grade der unbefriedigte Drang nach
Mutterschaft, die Kindessehnsucht, als ursächliches Mo-
• ment körperlicher und seelischer Schädigung wesentlich
in Betracht komme. Gegen diese Feststellungen der ärzt¬
lichen Wissenschaft, der Neurologen und Sexualforscher
sind auch in der Diskussion nennenswerte Einwände nicht
erhoben worden. Wenn endlich zum Schluß ausdrücklich
betont wurde, daß die Auferlegung, die moralische oder
gesetzliche Erzwingung der sexuellen Abstinenz eine
Quelle fortdauernder körperlicher und seelischer Gefahr
bilde für die einem solchen Zwange unterliegenden Indi¬
viduen, so daß man vom hygienisch-ärztlichen Standpunkt
aus die auf Beseitigung oder Milderung dieser sexuellen
Not abzielenden Bestrebungen sympathisch begrüßen
müsse, so dürfen wir darin wohl einen Erfolg der erst so be¬
kämpften Bewegung zur Reform der Sexualmoral sehen
und uns dessen freuen.
In jeder ernsten, prinzipiellen Betrachtung und Erörte¬
rung dieser Probleme zeigt sich mit unwiderleglicher
Klarheit, wie eng all unsere Kulturprobleme ineinander
verwurzelt sind. Eine erfolgreiche Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten z. B. ist, wie wir gesehen haben,
nicht möglich, ohne die Auffassungen über die sexuelle
Moral zu prüfen und zu wandeln. Sie ist nicht möglich,
ohne auch der einen Hälfte der Menschheit, der brau,
ihr volles Recht im Liebesieben zu geben, wie es ihr durch
ihre Gattungsaufgabe einerseits, durch ihre Entwicklung
zur Persönlichkeit andererseits, zusteht. So wird es ganz
von selbst durch die Macht der Tatsachen erzwungen: fast
alle wichtigen Probleme des Mutterschutzes und der
Sexualreform müssen berührt und zu Ende gedacht
werden, wenn man an irgendeinem Punkte die Frage der
sexuellen Abstinenz aufgreift. Es ist notwendig, zu be¬
greifen, daß das Problem der sexuellen Moral nur lösbar
ist durch die gleichzeitige Anwendung der bewußten
Regelung der Geburten. Diese Konsequenz zog jene
erwähnte Tagung durchaus logisch und mutig mit der An¬
nahme der folgenden Resolution gegen das Schutzmittel¬
verbot, die leider — trotz Krieg und Revolution — bis
heute volle Aktualität behalten hat, da die Gesetze sich
noch nicht geändort haben: „Da die seitens der reichs
gesetzlichen Judikatur geübte Auslegung des § 184 Absatz 3
eine schwere Gefährdung der Volksgesundheit in sich
schließt und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,
wie sie planmäßig von der dazu gegründeten Gesellschaft
unter weitgehendster Unterstützung des deutschen Ärzte¬
standes wie der hierfür berufenen Kreise inauguriert
worden ist, in der Gegenwart nahezu unmöglich macht,
da andererseits an eine Änderung dieser Rechtsprechung
kaum zu denken ist, so ist nur auf dem Wege einer veränder¬
ten Fassung der in Frage kommenden Bestimmung eine
Abhilfe möglich. Dieselbe ist derart zu gestalten, daß für
die Strafbarkeit einzig und allein das objektiv feststellbare
Merkmal der den Anstand gröblich verletzenden oder
öffentliches Ärgernis erregenden Ankündigung oder An¬
preisung von unzüchtigen Gegenständen zu gelten hat.“
Das Problem der sexuellen Enthaltsamkeit ist vom
Problem der sexuellen Aufklärung der Jugend nicht zu
trennen. Und wenn sich immer mehr die bisherigen Vor¬
kämpfer der strengen sexuellen Enthaltsamkeit dahin be¬
scheiden, daß sie ihre Forderungen und Wünsche auf das
jugendliche Alter, auf die Zeit der Entwicklung richten,
während sie zugestehen, daß allerdings nicht dieselbe
Forderung für den reifen erwachsenen Menschen von der
Mitte der zwanziger Jahre an zu stellen ist, so ergibt sich
dadurch eine Annäherung zur Übereinstimmung ver¬
schiedener Richtungen, die der Erreichung der Ideale einer
höheren Sexualmoral nur förderlich sein kann. Es ist
gewiß nichts dagegen einzuwenden, für Gesunde in den
Entwicklungsjahren Sexualabstinenz so lange als möglich,
ebenso wie eine möglichst frühzeitige Verheiratung zu
empfehlen. Nur darf man nicht glauben, damit schon die
24
Probleme gelöst zu haben. Hier tun sich vielmehr neue
Schwierigkeiten auf: die Frühehe junger, liebesunerfahrener
Menschen, die vielleicht auch Kinder zusammen haben,
wird, eben dieser Unerfahrenheit wegen, später häufig zu
Entfremdungen, zu Trennungen und neuen Bündnissen
führen: darauf muß man gefaßt sein und damit rechnen.
Die Schmerzen und Konflikte der Liebe werden also nicht
aus der Welt geschafft, wohl aber wird damit zweifellos,
sowohl ethisch-ästhetisch wie vom Standpunkt der Rassen¬
verbesserung gewertet, eine höhere Stufe des Geschlechts¬
lebens erreicht, als durch den heutigen heimlich-verlogenen,
frivolen, seelisch verödenden Verkehr mit der Prostitution.
In einer von echt philosophischem Geist getragenen
Studie: „Sexuelle Liebesideale“ beleuchtet Rosa May-
reder den Entwicklungsgang der Sexualität im Bewußtsein
der Menschheit vom Anfang des menschlichen Bewußt¬
seins an bis zu den Kämpfen unserer Tage. Sie erinnert
daran, wie vom Beginn der Kultur, bei denen geschlecht¬
liche Akte auf Grund religiöser Vorstellungen als Kult¬
handlungen vollzogen wurden, bis heute wir eine ewig
wechselnde Stellung zu den Problemen der Sexualität ein¬
genommen haben. Vielleicht habe sich das Prinzip der
Geistigkeit, der Durchseelung der Liebe nicht anders ent¬
wickeln können, als durch die zeitweilige Zurückdrängung
des sinnlichen Triebs, wie sie in der priesterlichen Askese
zum Ausdruck gekommen ist. Und wenn mit Recht daran
erinnert wird, welche Rolle der jüdisch-christliche Gottes¬
begriff für die Persönlichkeitsentwicklung spielt, so hat die
Entwicklung der Sexualität hier zuerst nicht gleichen
Schritt mit dieser Persönliehkeitsentwicklung halten
können, wenigstens nicht im allgemeinen Bewußtsein.
Obwohl wir in der hebräischen Poesie im „Hohen Liede“
25
eine Verherrlichung der persönlichen Liebe haben, die
noch bis heute einen der höchsten Gipfel der persönlichen
Liebeslyrik bezeichnet, so daß man es ruhig neben, in
manchem Sinne über Goethes „Römische Elegien“ stellen
darf. Hier steht die Liebe vor uns als Naturmacht und
als persönliche Leidenschaft, groß und gewaltig, — hier ist
bei aller glühenden Sinnlichkeit Reinheit und Unschuld.
Wenn in den „Römischen Elegien“ in erster Linie die
Freude des Mannes an einem schönen Frauenkörper zum
Ausdruck kommt — wie etwa die Antike sie kannte —,
so fehlt dieser Auffassung die letzte, geheimnisvolle Eben¬
bürtigkeit der Liebenden, wie sie die große seelendurch-
glühte Leidenschaft aus sich selber zwischen zwei Menschen
schafft, die völlige Einheit zwischen Seelen und Sinnen
— und damit auch zwischen Mann und Weib —, wie sie
in jener wunderbaren Schöpfung hebräischer Liebeslyrik
schon einen ewig gültigen Ausdruck gefunden hat.
Man hat oft und immer wieder gegen das Ideal der
Einheit von Seele und Sinnen den Einwand erhoben, daß
es nur für eine Minderzahl erreichbar, verwirklichbar sei.
Aber kann man deshalb auf die Aufstellung und Geltend¬
machung von Idealen verzichten? Wie klein und eng,
wie ohne Spannung und Anreiz zum Leben und Kämpfen
würde das Dasein werden, wenn keine Entwicklungs¬
linien vorgezeichnet wären, keine Gipfel mehr vor uns
lägen, die wir zu erreichen trachten würden! Der starre
Begriff des „Seins“ hat sich für uns in den des „Werdens“
aufgelöst, an Stelle des stumpfen „Besitzern“ ist das ewige
„Ringen“ getreten; das macht ja gerade unsere Freude an
Leben und Lieben, an Kämpfen und Leiden, an Streben
und Überwinden so stark und so tief, so glühend und so
unzerstörbar. Wenn uns vielleicht intensiver, schmerz-
26
voller als in früheren Zeiten das Bewußtsein unserer Unzu¬
länglichkeit : der menschlichen Natur, wie unserer sozialen
Verhältnisse klar ist, so hilft uns auf der anderen Seite
unsere Hoffnung auf eine höhere Entwicklung, sie zu er¬
tragen. So stehen wir denn mit unserer Arbeit auf dem
Wege, der einen höheren Daseinszustand vorbereitet.
Wir versuchen, aus der bestehenden Unordnung und
Trostlosigkeit, dem ungeheuerlichen Tiefstand unseres
allgemeinen moralischen Bewußtseins, unseres sexuellen Le¬
bens hinaus zu gelangen „durch soziale Veranstaltungen
zum Zwecke systematisch gebesserter Lebensmöglich¬
keiten“, das ist der eine — praktisch-soziale Teil unserer
Aufgaben —, „durch Entwicklung, durch persönliche
Kultur, in der die geistigen Güter der Vergangenheit von
Generation zu Generation weitergegeben und fortgebildet
werden“, das ist der andere Teil unserer Aufgabe. Mutter¬
schutz und neue Ethik: wir können, wenn, wir eine höhere
Kultur der Liebe erstreben, weder auf das eine noch auf
das andere verzichten.
III. MEHRLIEBE — MEHREHE!
Wenn nun auch die Schranken hinweggeräumt werden,
die heute einer harmonischen Entwicklung der Liebe
bei Mann und Frau noch entgegenstehen, so sind wir
immer noch weit entfernt, beim Paradies angelangt zu
sein. Die menschliche Natur scheint vielmehr so seltsam
geartet, daß sie selbst da, wo vollkommenes oder wenigstens
außerordentliches Glück möglich wäre, sich aus Torheit und
Ungeschick neue Konflikte bereitet. Daß die Dauerverbin¬
dung zweier ebenbürtiger Persönlichkeiten die höchste Be¬
glückung schafft, daß sie darum — auch auf absehbare
Zukunft hinaus — das letzte Ideal bleiben wird, dafür
bedarf es wohl keiner besonderen Beweisführung. Das ist
unmittelbare Gewißheit jedes liebenden Herzens. Aber die
beiden Bevorzugten, denen ein solch auserlesenes Glück
immer tieferen gegenseitigen Ineinanderwachsens dauernd
zuteil wird — sie bedürfen des Interesses und der Teil¬
nahme der übrigen Welt in ihrem Götterglück nicht.
Wobei es aber vielleicht einmal eine besondere Unter¬
suchung lohnte, wie vielen oder wie wenigen Menschen¬
paaren von hoher seelischer Bedeutung — wie den
Brownings anscheinend — das Schicksal dieses höchste
Geschenk der Liebe zuteil werden ließ?
Aber tausendfach zahlreicher sind doch eben die Fälle,
auch unter Menschen sonst ernster, hochstrebender Art,
wo diese restlose Einschmelzung nicht gelingt, wo ent¬
weder beide nach einiger Zeit scheinbarer Übereinstim-
28
nning s ich wieder voneinander lösen oder die schlimmeren,
häufigeren, wo der eine Teil — öfter der Mann sein
Ungenügen in dieser Verbindung deutlich zum Ausdruck
bringt. Um entweder sich ganz und gar frei zu machen
oder, wo sozial-wirtschaftliche Bande, wie Ehe und Kinder
fesseln, sich wenigstens individuell-erotisch mit anderen
Wesen zu verknüpfen.
Dieser Zustand des äußeren wie inneren Verknüpftsems
m it einem Menschen, der sich innerlich oder physisch von
dem anderen zu befreien wünscht, ist sicher eine der
schmerzhaftesten Lagen, die es für das menschliche
Selbstgefühl, für die liebende Psyche geben kann. Diese
Schmerzen restlos zu beseitigen, wird keiner Erkenntnis,
keiner Philosophie jemals — so muß man fürchten — ge¬
lingen. Es sei denn, daß man die Empfindungsfähigkeit
überhaupt — auch für Glück also — mit beseitige. Wohl
aber ist es vielleicht möglich, nachdem uns tiefere biolo¬
gisch-psychologische Einsichten zu Gebote stehen als
früher, diese Schmerzen ein wenig zu mildern, indem
wir die letzten Ursachen zu erkennen versuchen.
Der mit der Bindung der Menschen an die Einehe ver¬
knüpften Erscheinung der „Untreue“ hat Hans Blüher in
seinem vielbeachteten Werke „Die Rolle der Erotik in der
männlichen Gesellschaft“ (Verlag Eugen Diederichs, Jena)
eine neue philosophische Begründung und Rechtfertigung
zu geben versucht. Er hat in sehr geistreicher Art die These
aufgestellt, daß jeder Mann — Blühers Individualität
sieht die Weltgeschichte rein androzentrisch — eigent¬
lich zweier Frauentypen zu seiner vollen Befriedigung be¬
dürfe: des Typus der Gattin, der „Penelope“, wie er sie
nennt, die ihm das Heim schafft, die Kinder gebiert, und
der freien Frau, der „Hetäre“, nicht im vulgären, sondern
scheinen —, eine schwere und tragische Angelegenheit.
Wenn Blüher von der Dirne meint, es sei merkwürdig,
daß man diese seelenlosen Geschöpfe „aus Versehen* mit
in die Personalakten der Bürger auf genommen habe, wenn
er den Wunsch aussprieht, sie sollten niemals Subjekt des
bürgerlichen Rechts sein können, sondern unter einer Art
modifiziertem Tierschutzgesetz stehen, so sind das die
letzten Konsequenzen einer Grundauffassung, die an eine
konservativ gewalttätige Faust, an eine männliche Ge¬
sellschaft, eine Geschlechtsherrschaft im Grunde, statt an
eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft der Zukunft
glaubt. Die Frauen haben, wie er meint, das größte Inter¬
esse daran, daß ihr Geschlecht, aus dem heraus nun einmal
die Dirnen geboren werden, „daß das weibliche Geschlecht
auch in seinen verbrecherischesten Ausläufern nicht durch
das gleichberechtigte Auftreten von Geschöpfen ver¬
zeichnet werde, die weder gut noch böse sein können“
(denn unter den Männern fehle jede Analogie dafür
meint er in seltsamer Verkennung der Tatsachen; als ob
der Freund der Dirne, der Zuhälter, nicht durchaus ein
männliches Gegenstück der weiblichen Dirne sei, von männ¬
lichen Prostituierten direkter Art — zu homosexuellen, wie
heterosexuellen Akten bereit — ganz zu schweigen!). Dem-
im antik-philosophischen Sinne. Man befindet sich Blüher
gegenüber immer in der Lage, seinen Geist, seinen Stil,
seine philosophische Begabung anerkennen zu können, sie
zu genießen, während man zugleich bedauert, daß die Art
seiner Individualität ihm nicht gestattet, noch höher über
den Dingen, über den Schranken des Geschlechts zu stehen,
wodurch seine krassen Härten, Einseitigkeiten und Lieb¬
losigkeiten ausgeschaltet würden, die ihn von dem höchsten
Typus des Philosophen, der immer auch, mit Nietzsche zu
reden, ein „Genie des Herzens“ sein muß, ausschließen.
Sicherlich kann man zugestehen, wenn man diese Blüher-
schen Unterscheidungen relativ nimmt, wie alle solchen
subjektiven Unterscheidungen genommen sein wollen, daß
sich die Frauen in der Tat einmal in diese Grundtypen
der Gattin und der freien Frau teilen lassen (wobei man
aber nicht vergessen darf, daß so ganz im allgemeinen auch
die Männer sich in den konservativen Typus des Familien¬
erhalters und den freien, schweifenden, forschenden,
schöpferischen Geist teilen), von denen er dann noch den
Typus der Prostituierten als dritte „nicht mehr menschliche
Kategorie“ abtrennt. Wenn er die Dirne dahin charakteri¬
siert, daß sie „ein weibliches Geschlechtswesen mensch¬
licher Gattung sei, dessen Sexualität ohne Eros geblieben
ist“, so kann man darin mit ihm übereinstimmen, woran
sich aber für jeden, der nicht wie Blüher die Welt ganz
androzentrisch nur vom Standpunkt des Mannes ansieht,
die schmerzliche Frage knüpft, ob es nicht auch noch eine
bedrückend zahlreiche Reihe von „männlichen Geschlechts¬
wesen menschlicher Gattung“ gibt, deren „Sexualität“
ebenfalls „noch ohne Eros“ geblieben ist ? Mit einem von
ihnen verbunden zu sein, bleibt für die Frau -—- mag sie nun
als Gattin oder Hetäre, als Penelope oder Kalypso er¬
zentrische Einstellung hinaus, die als eine Neueinkleidung
alter Egoismen in das Gewand der Sexualphilosophie
besonders unter der Jugend gewiß manche Verwirrung an¬
gerichtet hat, das Problem der Mehrehe und Mehrliebe
menschlich allgemeiner faßt, wird man am Ende zu
tieferen Einsichten kommen, als vom Blüher- Standpunkt
aus vielleicht möglich ist. Die Tatsachen der Geschichte,
insbesondere auch der Entwicklung des Liebesgefühls
sprechen eine interessante Sprache. Kein Zweifel, daß
verschiedene Gemütsbedürfnisse, ernste erotische Anzie¬
hungen im Menschen zu gleicher Zeit nebeneinander be¬
stehen und in zahlreichen Fällen, infolge der Unzuläng¬
lichkeit der menschlichen Natur, nur von verschiedenen
Typen des anderen Geschlechts befriedigt werden können.
Blüher fordert z. B. in tiefstem Ernst als eine hohe und
ernste — nicht etwa frivole — Einrichtung, das „Sakra¬
ment einer Mehrehe“, das heißt die dauernde Beziehung
eines Mannes zu einer abhängigen Frau, der Gattin, und
einer freien Frau. Um einmal den Typus, den er selbst einst
in der Mutter liebte, und den er als die Mutter seiner
Kinder vielleicht sich wiedergewinnen möchte, zu besitzen,
und andererseits, um dem faustischen Drang ins Weite,
Freie, geistig Reiche und psychisch Tiefe zu genügen,
wie es nach seiner Meinung in der Regel nur die innerlich
freie Frau ihm schaffen kann. Wenn man Geschichte,
Literatur, die lebendige Gegenwart tiefer durchforscht, wird
man erkennen, daß ähnliche Bedürfnisse in jeder höchsten
Kultur auch in jeder entwickelter Frau in bezug auf den
Mann entstehen. Es hat Zeiten gegeben — in der
Kultur des Geistes und der Liebe besondere Blütezeiten —•
in denen ganz offiziell die Frau neben dem Gatten stets
den Geliebten besaß, ja, in denen der Geliebte gewisser-
32
maßen gesellschaftlich größere Rechte und Anerkennungen
fordern durfte als der Gatte. Stendhal in seinem immer
noch klassischen Werke „Über die Liebe“ (übersetzt von
Artur Schurig, Verlag Eugen Diederichs, Jena) erinnert
an die italienischen Zustände des 18. Jahrhunderts, in
denen übrigens der Gatte der beste Freund des Liebhabers
ist, wo alle solche Verhältnisse vollkommen bekannt sind,
wo sie ihre Gesetze haben, eine anerkannte Art, sich dabei
zu benehmen, die sich ohne Rücksicht auf das Herkommen,
fast nur auf die Billigkeit stützt. Und ähnlich wissen wir
es aus dem Zeitalter der provengalischen Liebe des 12. und
13. Jahrhundert, jener Zeit, von der Nietzsche sagt, „daß
man diesen -Rittern der fröhlichen Wissenschaft die Kunst
und Schwärmerei in der Hingebung, die Liebe als Passion,
ja, daß Europa sogar beinahe sich selbst jener Kultur¬
strömung verdanke“. Die Minneregeln aus dem 12. Jahr¬
hundert, von denen der französische Kaplan Andreas in
seinem Werke über die Minnegerichte berichtet, schließen
mit der Bestimmung: „Nichts steht dem entgegen, daß
eine Frau von zwei Männern, oder daß ein Mann von zwei
Frauen geliebt wird.“ Aus ähnlichen Erwägungen heraus
kam auch die deutsche Romantik vor hundert Jahren
einmal auf die Frage, ob eine Ehe zu vieren wünschenswert
sei, eine platonische Betrachtung freilich, der aber ebenfalls
die Erkenntnis zugrunde liegt, daß sehr häufig bei der
innigsten Verbindung von einem zum andern wesentliche
Eigenschaften fehlen, die nur aus einer anderen dritten
und vierten Persönlichkeit heraus wieder ergänzt werden
können.
Blüher verkündet mit heiligem Ernst sein Ideal der
Mehrehe für den Mann, wobei ihm auch entfernt nicht der
Gedanke kommt, daß das, was er fordert, sich ebenso von
3 Kultur- und Zeitfragen. Heft I5. 3g
der entwickelteren, weiblichen Persönlichkeit sagen läßt,
ohne daß dies als wünschenswertes Ideal betrachtet zu
werden braucht. Ich habe die Tatsache wie die Tragik
solcher Verschlingungen behandelt („Probleme der Differen¬
zierung“, Neue Generation 1913), und darf hier, um
nicht Gesagtes zu wiederholen, ausdrücklich darauf
verweisen. Diese Doppelliebe ist von der gewöhnlichen,
primitiven, undifferenzierten, philisterhaften Polygamie
und Allerweltsliebelei, die imstande ist, sich mit be¬
liebig zahlreichen Wesen des anderen Geschlechts ohne
weitere Hemmungen zu verbinden — wobei es sich also
nur um rein gattungsmäßig sexuelle, niemals aber um
individuell-seelische, also beseelte Verbindungen handeln
kann —, vollkommen wesensverschieden. Können dem
Tieferblickenden denn in der Tat aus Geschichte, Literatur
und dem reichen Leben um uns her all die unzäh¬
ligen Beispiele unbekannt geblieben sein, die das er¬
weisen ?
Es ist natürlich kein Zufall, daß gerade jetzt auch in der
Literatur dies Problem der Neigung einer Frau zu mehreren
Männern häufig zur Darstellung kommt, während es
bis vor einigen Jahrzehnten in der Literatur — wenn
auch nicht im Lehen — hauptsächlich der Mann war (um
nur an Goethes „Stella“ zu erinnern), der zwischen meh¬
reren Frauen stand. Aber jede psychologisch tiefer drin¬
gende Kunst muß naturgemäß auch vom Standpunkte der
Frau aus diesen Problemen sich nähern, je mehr die Frau
sich zur reifen Persönlichkeit entwickelt, die ihr Zentrum
in sich hat, und von da aus in Konflikte durch die ver¬
schiedenen Ausstrahlungen und Anziehungen gerät. In
einem der ersten Beispiele für das Auf tauchen dieser
Formulierung des Problems in der deutschen Literatur,
im „Roman der schwedischen Gräfin von G“ von Geliert,
wird zur Rechtfertigung dieser Problemfassung der erste
Gatte zunächst als verstorben vorgeführt, dessen uner¬
wartete Rückkehr die Frau dann erst vor diese Zerreißung
ihrer Gefühle, den Konflikt der Liobe zwischen dem ersten
und zweiten Gatten zu stellen vermag. Herbert Eulenberg
hat in seinem Drama „Belinde“ auch noch dies alte Motiv
des irrtümlich totgeglaubten ersten Gatten benutzt, um
die zweite Liebe und damit den Konflikt moralisch zu
rechtfertigen. Es blieb vielleicht den Frauen selber Vor¬
behalten, den Schritt weiter zu tun, aus inneren Motiven
die Rechtfertigung für die mehreren Anziehungen und das
qualvoll süße Spiel einer Doppelliehe zu finden. Eines der
stärksten Beispiele für die meist tragische Doppelliebe-
Leidenschaft, die hier gemeint ist, und die, wie nicht stark
genug betont werden kann, nichts mit der gewöhnlichen
Untreue zu tun hat, die im Grunde eine vorherige Ent¬
wertung des früher geliebten Menschen — eben die Ab¬
wendung, die Untreue — zur Voraussetzung hat, ist das
Leben und die Liebe der Julie von Lespinasse, deren Fall
daher eingehender betrachtet sei.
„Welches Geschöpf hat je so innig wie ich den vollen
Wert des Lebens empfunden? Ist es nicht genug, das
Dasein einmal geliebt und gesegnet zu haben? Wie viele
Milliarden von Menschen sind über die Erde geschritten,
ohne daß sie ihr zu Dank verpflichtet waren? Wie sehr
bin ich geliebt worden!“
Als Julie von Lespinasse diese Worte im Juni 1774
schrieb, war einen Monat zuvor ihr Geliebter, der Spanier
Mora, gestorben und sie selbst in eine neue, höchst quäl-
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Schaffen und Wirken auch für die Menschheit, das Be¬
mühen, unser Ideal auch in die Wirklichkeit zu übertragen,
als notwendig für unser Leben empfinden —- erscheint
vielleicht diese Art der Liebe, wie sie Julie von Lespinasse
empfindet, nicht mehr als einzige und höchste. Vielleicht
wird sie aber begreiflicher, wenn man sich erinnert, daß
Julie von Lespinässe an der Schwindsucht starb, und daß
die letzten Jahre ihres Lebens ihr auch aus äußeren physio¬
logischen Gründen nur noch dieses intensive, auf ihre eigenen
Interessen zurückgezogene Leben gestatteten. Wenn an¬
gesichts dieser von Leidenschaft bis zum Tode erfüllten
Seele wieder einmal das alte, tragische Schicksal großer
Liebe wehmütig berührt, daß alle diese Glut einem beinahe
Unwürdigen entgegengebracht wird — jedenfalls einem,
der sie nicht voll zu würdigen und zu genießen verstand —,
so müssen wir uns an das tiefe Wort Konrad Ferdinand
Meyers erinnern: „Wer liebt, verschwendet alle Zeit.“
Man versteht, daß die Goncourts meinen, wenn man
dieses Feuer untersuche, so werde es einem unter der Hand
zittern als der stärkste Herzschlag des achtzehnten Jahr¬
hunderts.
Man versteht aber auch Juliens persönliches Wesen und
Schicksal erst, wenn man erfährt, daß sie das illegitime
Kind einer Leidenschaft ist, und daß man vergeblich ver¬
suchte, den unruhigen Schlag ihres Herzens in einem Kloster
zur Ruhe zu bringen.
Erst als ihre Tante, die Marquise von Dudeffand, sie
zu sich nahm, entwickelte sich für sie das von Geist und
Leidenschaft erfüllte Leben, das sie — mit allem — mit
Himmel und Hölle — immer wieder zu leben bereit war.
Nun ergab sich die seltsame Situation, daß D’Alembert, der
seit Jahren die erste Stelle im Herzen der Marquise Du-
volle Liebe zu dem Grafen Guibert verwickelt, in der sie
sich bis zu ihrem frühen Tode fast verzehrte.
Wenn wir ihre Briefe lesen (Verlag von Georg Müller,
München, ins Deutsche übersetzt von Artur Schurig,
eingeleitet von Wilhelm Weigand), so begreifen wir,
daß Stendhal — der als genialer Psychologe in der Liebe
unterscheidet zwischen der Liebe aus Leidenschaft, der
Liebe aus Galanterie, der sinnlichen Liebe und der Liebe
aus Eitelkeit — die Briefe der Julie von Lespinasse als das
klassische Beispiel der Liebe aus Leidenschaft ansieht. Die
Brüder Goncourt meinen, die von ihrem Objekt völlig ab¬
sorbierte Liebe habe kein klassischeres Beispiel in der
modernen Menschheit, als diese Frau, die all ihre Gefühle
und all ihre inneren Regungen auf ihren Liebhaber be¬
zieht, ihm all ihre Gedanken schenkt, deren Eigentum sie
sich nach ihrem feinsinnigen Ausdruck nur zu sichern
glaubt, indem sie sie ihm mitteilt, die sich alles verbietet,
woran er keinen Anteil hat, die zufrieden damit ist, nur
von ihm zu leben, ihrer eigenen Persönlichkeit beraubt und
gleichsam für sich selbst abgestorben, die sich weigert zu
reden, den Besuchen Diderots die Tür schließt, weil das
Gespräch, wie sie sagt, ihre Gedanken gewaltsam ablenkt,
die allein, ohne Bücher, ohne Licht und in Schweigen sitzt,
ganz und gar dem Genuß des neuen Seeleninhalts hin¬
gegeben, den ihr Guibert mit den drei Worten geschaffen
hat: „Ich liebe Sie“, und zugleich so tief in diesen Genuß
versunken, daß sie darüber die Fähigkeit verliert, sich der
Vergangenheit zu erinnern und der Zukunft zu gedenken.
Für uns, denen das zwanzigste Jahrhundert, die Schwere
der Zeit noch einen anderen Wirkungskreis geschaffen hat,
als das achtzehnte Jahrhundert ihn kannte, die wir in
ganz anderem Sinne als jemals vorher die Arbeit, das
Jahre älteren Frau, die dazu noch von illegitimer Herkunft
war, nur ungern herannahen sah, erschien Mora wieder in
Paris, und ihr Glück schien nun Vollkommenheit. Nur der
Gesundheitszustand Moras warf einen Schatten auf ihr
Leben. Im Jahre 1772 bekam er einen zweiten heftigen
Blutsturz, und die Ärzte sandten ihn in die Pyrenäen.
Und seltsames Verhängnis! Noch während Mora krank
in der Ferne weilt, tritt ein anderer Mann in ihr Loben
und gibt ihrer leidenschaftlichen Seele den furchtbaren
Konflikt einer Doppelleidenschaft, die bis zu Juliens Tode
jede Ruhe, jedes friedvolle Glück aus ihrem Leben verbannt
hat. Auf einem ländlichen Feste lernt sie den Grafen von
Guibert kennen, von dessen Genie die Gesellschaft jener
Tage überzeugt war, der freilich nachher nicht gehalten
hat, was man von ihm als Dichter und Offizier erwartete.
Seine Geliebte war damals Frau Jeanne Thiroux von
Montsauge, die zu den sanften Frauennaturen gehörte, die
durch die Ruhe ihres Gefühls fesseln. Es scheint, daß
Julie anfänglich keine Ahnung von der Gefahr hatte, der
sie gegenüberstand, und der Gedanke an den abwesenden
und kranken Geliebten hielt jeden Gedanken an ein Mi߬
trauen gegen ihr eigenes Herz zurück. Aber während sie
um ihn bangt, muß sie allmählich empfinden, daß auch der
neue Freund von ihrem Innern Besitz nimmt. So wird das
scheinbar Unmögliche hier möglich: die alte Leidenschaft
wird von der neuen nicht ausgelöscht, vielmehr wird Mora
immer mehr zu einem fleckenlosen Ideal, während Guibert
die Quelle aller Leiden ist, dessen Fehler sie sehr wohl
zu erkennen imstande gewesen ist, und der sie doch ver¬
möge jener unerklärlichen Sympathien der Naturen an
sich zieht, daß sie alle anderen Dinge des Lebens, sogar ihre
Liebe zu dem Geliebten über ihn vergißt. In der gleichen
deffand eingenommen hatte, eine tiefe Neigung zu Julie
faßte, die zu ihrer Trennung von ihrer Tante und zu einem
Zusammenleben mit D’Alembert führte. Diese ersten
Jahre, in denen Julie von Lespinasse das Glück einer
innigen Freundschaft mit D’Alcmbert genießt und ihren
eigenen Salon gegründet hat, sind vielleicht die harmo¬
nischste, wenn auch nicht die am stärksten bewegte Zeit
ihres Lebens. Die Marquise von Dudeffand nannte sie
spöttisch „die Muse der Enzyklopädie“: sie hat es in der
Tat fertig gebracht, die ersten Männer der Nation, die
verwöhnteste Gesellschaft in einem Hause um sich zu ver¬
sammeln, das an materiellen Gütern nicht allzuviel bieten
konnte.
Aber während sie für Außenstehende die „Freundin“
D’Alemberts blieb, mit dem sie zusammen wohnt, ist in
ihr Leben eine andere Leidenschaft getreten, deren sie
ihrer heißen, zärtlichen Natur nach bedurfte. Zwischen
dem jungen spanischen Marquis von Mora und Julie von
Lespinasse hat sich eine tiefe, eingestandene Neigung ge¬
bildet, die von ihr jahrelang als die höchste Erfüllung ihres
Lebens betrachtet wurde. Beide trugen in sich den Keim
der Lungenschwindsucht, von der sie beide früh hingerafft
wurden. Vielleicht hat auch das Bewußtsein, wie kurz die
ihnen zugemessene Zeit war, ihren Empfindungen die
Intensität gegeben, die sie noch heute so bemerkenswert
machen. Julie von Lespinasse war damals 35 Jahre alt
und keineswegs eine Schönheit. Aber alle Zeitgenossen
sind über die Verklärung ihrer Züge einig, wenn die innere
Flamme sie erhellte und durchleuchtete. Eine Trennung
der Liebenden, die ein Jahr dauerte, hat ihre Leidenschaft
für einander nur noch verstärken können. Gegen den Willen
der Ärzte und seiner Familie, die eine Heirat mit der zwölf
|
i
Stunde, in der Mora den Blutsturz bekam, an dem er sterben
sollte, gibt Julie von Lespinasse sich dem neuen Geliebten
hin. Während Mora die Rückreise zu ihr anzutreten ver¬
sucht, auf der er stirbt, und Julie in der ersten Verzweiflung
darüber sich zu vergiften versucht, bleibt ihre Gebunden¬
heit an Guibert dieselbe. Es ist für sie selbst ein Problem,
das sie nicht zu lösen vermag; sie verabscheut ihre Neigung
und kann doch nicht widerstehen, es ist wie ein wilder
Zauber, der sie ihrer freien Bestimmung beraubt.
Guibert ist keineswegs der Mann, in einer Geliebten
aufzugehen; er weiß nichts mit der großen Einsamkeit
anzufangen, die eine große Leidenschaft um zwei Menschen
herum schafft. Und wenn er sich eine Zeitlang um Juliens
willen von Frau von Montsauge getrennt hat, so spielen
dafür andere Frauen eine entscheidende Rolle für ihn, bis
er endlich eine Ehe schließt, die Julie leichter zu ertragen
scheint als die Furcht, ihn wieder an Frau von Montsauge
zu verlieren. Während alle ihre Freunde, auch ihr treuer
Hausgenosse D’Alembert glauben, daß es die Trauer um
Mora ist, die sie dem Tode nahe bringt, errät keiner von
allen, was Guibert für sie bedeutet.
Wilhelm Weigand, der den von Artur Schurig übersetzten
Briefen der Lespinasse eine feinsinnige Einleitung gegeben
hat, der die mitgeteilten Daten entnommen sind, erzählt
von der seltsamen Ironie des Schicksals, daß D’Alembert
nach dem Tode seiner Freundin ein Manuskript fand, in
dem sie die Geschichte ihrer Liebe zu Mora erzählte. Der
Philosoph war verzweifelt, als er erfuhr, daß er seit acht
Jahren nicht mehr der Besitzer ihres Herzens gewesen
war, und als Vertrauten seines Schmerzes wählte der
Unglückliche — seinen Freund Guibert!
Julie von Lespinasse ist im Jahre 1776 gestorben. Und
doch lebt sie noch, ist sie unsterblich in ihren Briefen, in
dem Gefühl, das sie beseelt hat, und dem sie beredter als
viele andere Ausdruck zu geben vermochte: „In allen
Augenblicken meines Lebens, mein Freund, ich leide,
ich liebe Sie, und harre Ihrer!“
Die Erkenntnis, daß Liebe und Leid naturnotwendig
zusammengehören, gibt ihr in aller schrankenlosen Hin¬
gebung eine seelische Überlegenheit, eine Kraft, die man
bewundern muß. „Ich habe so viel genossen,“ schreibt
sie, „daß ich, wenn ich das Leben noch einmal beginnen
müßte, es unter den gleichen Bedingungen auf mich
nehmen würde. Liebe und Leid, Himmel und Hölle.“
Auch wenn die Liehesbeschwörungen und Klagen
Juliens auf die Dauer vielleicht eintönig erscheinen können,
wenn dieses Erfülltsein von nichts anderem auf der Welt,
als der Gebundenheit an einen Menschen vielleicht eng
erscheinen mag, — in diesem Mut, alles an Gutem und
Bösem, an Qual und Leid auf sich zu nehmen, was eine
starke Leidenschaft bescheren mag, liegt ein Heroismus,
den nur ein echtes Gefühl zu bewähren vermag, und dem
wir allezeit unsere Verehrung nicht versagen können.
Ein solcher Blick auf die Wirklichkeit einer ungewöhn¬
lichen Frauenpersönlichkeit befreit von der geistreich
bestechenden, aber gänzlich unhistorisch-dogmatischen,
doktrinären Auffassung Blühers und seiner Gesinnungs¬
genossen, deren begabtester Typus er ist, so blendende
und zum Teil treffende Worte er auch findet, — über das
Wesen von Eros selbst freilich richtiger als über das Wesen
der Frau, welches er, grundsätzlich mann-männlich einge¬
stellt, auch wohl gar nicht restlos erfassen kann. Für junge
unentwickelte Männer und Frauen ist ein bedauerlicher,
ja verhängnisvoller Einfluß dieser Theorien denkbar. Be¬
stechend und verführend ist der Ernst, der dem jugendlich
tiefen Menschen Wohltat ist, der auch die einseitig liebe¬
lose Aburteilung und Einengung des Wesens der Fran noch
in eine priesterliche Würde zu kleiden versteht. Für den
reifen, seiner selbst bewußten männlichen wie weiblichen
Menschen sind sicherlich manche Anregungen aus diesen
Betrachtungen zu schöpfen, um so eher, wenn man über
einige gar zu verstiegene, jungmännliche Einbildungen
freundlich zu lächeln gelernt hat.
Wie stark dies Problem der Doppelliebe aber heute
nicht nur geistige Männer, sondern auch geistige Frauen
beschäftigt, sehen wir darin, daß eine verhältnismäßig
große Anzahl weiblicher Schriftsteller verschiedener Na¬
tionen sich mit ihm auseinander zu setzen versucht. Bisher
sind es hauptsächlich Frauen anderer Nationen, die auf
diesem Weg jedenfalls vorausschreiten. Es sei erinnert an
die Romane der Russin Anastasia Werbitzkaja, an die
Dänin Agnes Henningsen, deren vier Hauptwerke in gutem
Deutsch „Die vier Liebsten des Gutsbesitzers Christian
Enevold Brandt“, „Die vielgeliebte Eva“, „Polens Töchter“
und „Die große Liebe“ im Verlag von Axel Junker, Berlin,
erschienen sind. Die Dänin Karin Michaelis Stangeland vor
allem in ihrem Roman „Die große Beichte“, die Öster¬
reicherin Friederike Marie Winternitz in „Vögelchen“
(Verlag S. Fischer, Berlin) und dann auch — in etwas
anderem Sinne — die Deutsche Annemarie von Nathusius
in ihrem „Eros“ (Verlag Bong, Berlin).
Lebendig und melancholisch zugleich, wenn auch freilich
nicht mit so vollkommenem Freimut und so überlegener
Skepsis wie ihre Landsmännin Agnes Henningsen, hat z. B.
Karin Michaelis in dem neuesten Roman „Die große
Beichte“ (Verlag Ullstein & Co.), das Problem der Mehr¬
liebe der Frau behandelt. Es geht eine um Mitgefühl und
Verständnis gewissermaßen werbende Unterströmung durch
das Buch, fern von jener reifen und tiefen Überlegenheit
der Henningsen-Gestalten, die in all ihren Unvollkommen¬
heiten doch vollkommen rein und schuldlos, wie von der
Natur selber gerechtfertigt, dastehen. So hat bezeichnen¬
derweise Karin Michaelis den Namen „Die große Beichte“
gewählt, und der freigewählte Tod der Heldin ist die
Folge ihrer unentrinnbaren Verstrickung in die ver-
sohiedenen Typen der drei Männer, denen sie sich nach¬
einander und doch zum Teil auch noch zugleich mit¬
einander am tiefsten verbunden fühlte. Die Heldin bleibt
dem Schicksal gewissermaßen unterlegen, was auf die
Darstellung zurückwirkend einen letzten Schimmer von
Unfreiheit auf ihre Gestalten und vor allem die Gestalt
der Heldin selbst wirft. Sie gehört zu jenem Frauentypus,
der im gewissen Sinne zeitlebens ein kleines Mädchen
bleibt, das sich danach sehnt, umarmt und verwöhnt zu
werden und so dankbar ist für jede Liebe, jede ihr erwiesene
Güte, daß sie bereit ist, in allem, was ihr begenet, das
Liebenswerte zu suchen und freudig anzuerkennen. Sie
gehört jenem Frauentypus an, der stark und gesund genug
ist, um aus allen Nöten, Enttäuschungen und Schmerzen
der Liebe mit einem unverbitterten, heiteren Herzen
wieder herauszukommen. Sehr anschaulich sind die drei
Männertypen von der Dichterin gezeichnet, in allen ihren
Mängeln klar gesehen und doch mit dem verklärenden
Auge der Liebe, die auch durch die Lächerlichkeiten und
Schwächen des einen, die verhängnisvollen Härten und Eng¬
herzigkeiten des anderen Mannes nicht zerstört zu werden
vermag. Wir treffen in diesem Werk die Heldin Benitta, wie
48
sie nach der Trennung von ihrem zweiten leidenschaftlich
eifersüchtigen, sie in asiatischem Despotismus allein be¬
sitzen wollenden Gatten frei und einsam als Schriftstellerin
in ihrem eigenen Hause lebt.
Dort empfängt sie den Besuch des ersten Gatten, mit
dem sie längst wieder warme, zärtliche Freundschaft
verbindet. Sie hat zugleich den jungen idealistischen Ge¬
liebten, ihren dritten Mann bei sich, der, voll von plato¬
nischer Glut, mit dem natürlichen Fanatismus der An¬
betung der Jugend sie umgibt. Diese beiden Männer ver¬
stehen durchaus, wenn auch mit einigen Schmerzen der
Resignation, einander zu würdigen und freundschaftlich
miteinander zu verkehren. Der erste Ehegatte ist der
Typus des ästhetisch verfeinerten, eitlen, ewig in neue
Liebesabenteuer sich stürzenden, seiner Frau daher erst
dann „treuen“ Gatten, — als sie für ihn „unerreichbar“
geworden ist. Der zweite, der als rächendes Schicksal
die Katastrophe auslöst, ist der krasseste Gegensatztypus zu
der Toleranz und Feinheit, aber auch der Gebrochenheit
und Unbeständigkeit des ersten. Er verkörpert die fana¬
tische, bis ins unheimlich Verbrecherische gesteigerte
Besitzwut des Mannes, wie sie im allgemeinen wohl mehr
orientalischen, romanischen oder südlichen Rassen eigen
ist. Es ist durchaus begreiflich, daß sich die Frau von dieser
eigensüchtigen „Liebe“, trotz aller Glut und Inbrunst,
die sie zu einem Gegenstand des Besitzes machen
wollte, befreien mußte. So sehr sie als Weib die sinn«
liehe Leidenschaft ihres Mannes genießen mag, als Mensch,
als Persönlichkeit vermag sie in dieser Gefangenschaft
nicht zu existieren. So erwuchs ihr darum endlich die
verehrende, anbetende Liebe des dritten jüngeren Mannes
wie ein Labsal, eine Befreiung, ein milder Trost, ein
nicht mehr erhofftes Glück nach so viel Leiden und
Schmerzen.
In diesen friedlichen Ausklang der milden freundschaft¬
lichen Versöhnung mit dem ersten Gatten, der befreienden
Verehrung des dritten, dringt der zweite Gatte als Rächer
gewissermaßen mit seiner absoluten Forderung, seinem
wilden Verlangen nach Genugtuung, daß sie ihn verlassen
konnte, hinein. Um ihm nicht die ihn niederschmetternde
Enttäuschung zu bereiten, daß sie ihm einen Nachfolger
hat geben können, wie daß sie, was ebenfalls über seine
enge, begrenzte Auffassung geht, freundschaftliche Wege
zum ersten Gatten gefunden hat, gibt sie sich dann,
in einer entsetzlichen Verwirrung der Gefühle, selbst den
Tod. Die ungeheuere Anziehung und Macht, die an sich die
absolute Forderung einer streng abgeschlossenen Ge¬
meinschaft zu Zweien für die Frau hat, wird sehr deut¬
lich charakterisiert: andererseits auch die Unmöglichkeit
für eine lebensvolle, geistig entwickelte Frau mit einem
Manne ihr Leben zu teilen, der sie gewissermaßen als ein
verschließbares Besitztum wertet, so daß sie am Ende
an ihm, durch ihn, gewissermaßen freilich auch für ihn,
stirbt.
Verwandt der „Eva“ von Agnes Henningsen in der
Schuldlosigkeit und Anmut, wenn auch nicht von gleicher
Selbständigkeit und Reife der Persönlichkeit ist die Heldin
des bei seinem Erscheinen lebhaft gepriesenen Buches
„Vögelchen“ von Friederike Marie von Winternitz (S.
Fischer, Berlin).
Wie hier eine weibliche Seele, ein weiblicher Körper
von früh auf von einem Manne zum andern wandert, in
sinnlicher Wärme mit ihm verbunden ist, um dann doch
wieder verlassen zu werden, wie sie in aller scheinbaren
f
„Schuld“ keusch in ihrem Empfinden, in jedem höheren
Sinn schuldlos bleibt, das ist mit großer Kunst und Liebe
geschildert, wenn auch die letzte seelische Feinheit und
Überlegenheit einer Agnes Henningsen nicht erreicht sein
mag. Was die deutsche Annemarie von Nathusius in ihrem
kürzlich erschienen Roman „Eros“ zu diesem Problem
bringt, ist wieder ganz anderer Natur. Hier ist die Er¬
kenntnis der Freundschen Psychoanalyse: daß in der
Kindheit gewonnene sexuelle Eindrücke auf das ganze
Leben einwirken und unauslöschlich sind, an einem er¬
schütternden Fall belegt. Die Heldin des Romans ist eine
hochbegabte, aller äußeren Konvention in glühendem
Protest gegenüberstehende Sängerin, die nach schmerz¬
haften Erlebnissen, Ehescheidungen, Liebesenttäuschungen
eine jahrelange innige Verbindung mit einem Manne aus
dem Volke eingegangen ist, der ihrer Liebe ergeben dient
und damit ihrem herrischen Sinn, der eine Seite ihres
Wesens ausfüllt, Genüge tut. Aber — auf Grund eines
tiefen, unauslöschlichen Eindrucks aus Kindertagen —
wendet sie sich dann einem Manne ihrer eigenen Junker¬
kaste zu, dessen einfache, ungebrochene Herbheit und
Unintellcktualität ihr das Bild des steinernen Ritters, das
Ideal der Kindheit, zu verkörpern scheint. Es ist kein
Wunder, daß aus dieser ihrer jetzigen Gesamtpersönlich¬
keit nicht mehr entsprechenden Verbindung keine Ver¬
schmelzung entstehen kann. Unsägliche Leiden müssen für
beide Teile die Folge dieses aussichtslosen Versuches sein.
Während sie die Rolle der demütigen, üm seine Liebe
werbenden Frau einzunehmen bemüht ist, kommt all¬
mählich, was nach der endgültigen Bindung der Beiden
kommen muß: die sich vom rauhen Gatten vernach¬
lässigt fühlende, an einen steten Kult des Eros wie ihrer
46
Persönlichkeit gewöhnte Frau fühlt, als sie den ihr ganz
ergebenen früheren Geliebten wiedersieht, auch die alte
Liebe wieder in sich auferstehen, die so mannigfache
Seiten ihres Wesens erfüllt und beglückt hat. Der Gatte
weiß auf diese Komplikation nur mit der konventionellen
stereotypen Formel „Dirne“ unter Hinausweisung der Frau
aus seinem Hause zu antworten, die noch mehr seine Ehre,
als seine Liebe verletzt hat. Sie aber versucht, an der
Männerliebe verzweifelnd, in die Arme der gleichgestimm¬
ten Freundin zu flüchten, im Glauben, dort die seelischen
Seiten der Erotik tiefer erleben und genießen zu können als
beim Mann, wie es der zentrale Konflikt ihrer Liebe zu
dem steinernen Ritter ist, daß ihre Bedürfnisse nach einer
Verfeinerung der physischen Liebe bei ihm keine Berück¬
sichtigung finden.
Viel Neues und Reizvolles zu diesem Problem vor allem
bringen die zugleich tiefen und überlegenen Gestaltungen
der Dänin Agnes Henningsen; sie können im Rahmen
dieser knappen Studie nicht so eingehend charakterisiert
werden, wie sie es an sich verdienen. Sie werden an anderer
Stelle in der von mir herausgegebenen Zeitschrift: „Die
Neue Generation“ noch ausführlicher von mir behandelt.
In Agnes Henningsen haben wir eine phänomenale Dich¬
terin der Frau oder der Erotik, was ja beinahe dasselbe ist,
und im idealsten Sinne immer mehr dasselbe werden sollte.
Hier sei nur auf ihren Evatypus hingewiesen („Die viel¬
geliebte Eva“), eine ihrer reizvollsten Gestalten, in
einer wundervoll amoralischen, tiefen und wahrhaftigen
Liebesgeschichte. Denn dieser „frivole“ Roman einer
von Herz zu Herzen, aus einem Männerarm in den anderen
wandernden jungen Schauspielerin, er ist zugleich eine so
menschlich ernste, tragische Geschichte eines Wesens,
47
m
das die Liebe sucht, all sein Leben lang, um sie erst im
Tode — und das ist ohne jede unwahre Sentimentalität
gestaltet — zu finden. Eva ist ein Weibtypus wie ein
kleines Kätzchen, das spinnt, sobald man es anrührt, in
der die Lebens- und Liebesfreude so stark ist, daß sie sieh
fast schon ergibt, sobald ein Mann sie begehrt und die
doch in der physischen Liebe, die sie so braucht und ge¬
nießt, nie volles Genüge findet, und ihr Bestes und Tiefstes
am Ende einem Manne gibt, der seit Jahren ein Kranker
und nur ihr Pflegling ist. Diese Eva, die es gern so gut
haben will, in dem Arme eines Menschen zu liegen, den sie
liebt, muß durch manche bittere Erfahrung von Untreue
gehen, bis sie eine vollkommene „Geliebte“ wird. „Das
ist eine, die niemals erwartet, daß ihr Liebhaber ihr treu
ist, ihn nie quält, ihm nie beschwerlich fällt. Aber darum
muß sie selbst mehrere haben, um sich gegen das Unglück
zu sichern, abgedankt zu werden und nicht zu wissen, an
wen sie ihren Kopf lehnen soll, und der es dann doch
schlimmer erscheint, einen von ihnen zu verlieren, als
zu sterben.“ Die dann mitten aus aller Liebe, allem Geliebt¬
sein heraus, aus dem strahlenden Frühlingstag mit dem
geliebten kranken Gatten, „der längst über alle Fleischeslust
hinaus ist“, den freiwilligen Tod der Liebe stirbt.
Es wäre schade gewesen, diese Eva nicht kennen ge¬
lernt zu haben, und ein Kritiker war schuld daran, daß
ich beinahe auf die Bekanntschaft dieses Buches hätte
verzichten mögen. In dem herablassend belehrenden Tone,
den solche androzentrischen Typen Frauen gegenüber
meistens annehmen, hatte dieser Kritiker über einen
Helden von Agnes Henningsen (in ihrem Roman „Die
vier Liebsten des Gutsbesitzers Christian Enevold Brandt“)
folgendermaßen doziert: „Die meisten Frauen glauben
nicht gern,«daß ein Mann mehrere Frauen zugleich lieben
könnte) wlellen nicht glauben, daß der Mann erotisch ganz
anders reagiert und anders zusammengesetzt ist als ,das‘
Weib. Aber hier spricht eine Frau, die den Mann kennt,
das selbst aus, und ihre Schilderung ist so schlagend und
beweiskräftig, daß man den von ihr dargestellten Brandt
als ,den‘ Typus des erotischen Mannes aufstellen
könnte.“ — — „Der“ Mann, „das“ Weib, „der“
Typus ■— darf man denn im Zeitalter der tief erkannten
Relativität aller Dinge, der genialen Entdeckung des so
vielfach mißverstandenen Weininger oder seines Vor¬
gängers Fließ: daß es keine hundertprozentigen Männer,
keine hundertprozentigen Frauen gibt, sondern daß wir
alle nur unendlich verschiedene Mischungen von „M“
(Mann) und „W“ (Weib) sind, — darf man jetzt noch
mit etwas so Unrealen, wie „dem“ Mann, „der“ Frau an
sich argumentieren? Nein, Gott sei Dank, so rückständig
pedantisch ist die dänische Liebespsychologin nicht.
Prachtvolle Dichterin Agnes Henningsen — anmutige
Liebestörin „Eva“ — ihr seid glücklicherweise nicht so
doktrinär, wie euer Kritiker Poritzky euch machen möchte.
Ihr wollt nichts „beweisen“ — weder zugunsten männlicher,
noch weiblicher Vorurteile. Ihr wollt Menschen in ihrem
innersten, verborgensten Wesen darstellen, liebende irrende
Menschen in tiefer Wahrhaftigkeit, die aller Vorschriften,
Regeln und Dogmen spottenden starken Strömungen von
Mensch zu Mensch, die unerschüttert von allem Vorur¬
teilen sich ihren eigenen sicheren Weg bahnen und die
dem Leben seine eigentliche Süße, Schwere und Bedeutung
geben. Ohne große Worte, ohne Tiraden macht die Dich¬
terin in hoher künstlerischer Objektivität das Echte,
Starke, Menschliche ihrer Gestalten fühlbar. Sie zeigt
4 Kultur- und Zeitfragen. Heft 13 . 49
die innigen Zusammenhänge, die Harmonien,Dis¬
harmonien zwischen den physiologischen Wfek psycho¬
logischen Glücksmöglichkeiten der Liehe, zeigt' alle die
unser Leben und Wesen bestimmenden Bedürfnisse, von
denen man zwar offiziell „nicht spricht , die man damit
aber doch nicht aus der Welt schafft. Ein weiblicher
Kritiker von ähnlicher Art, wie der eben erwähnte männ¬
liche Doktrinär, oder unzählige andere von männlichem
Machtdünkel noch Berauschte (der ebenso in einer höheren
Kultur sein Ende finden muß, wie der Kastendünkel des
Militarismus, der verhängnisvolle Haß der Nationen nun
hoffentlich den Todeskampf kämpft), könnte nach dem
Roman der „Vielgeliebten Eva“ mit demselben Recht
wie ihr Vorgänger variieren: „Die Männer glauben nicht
gern, daß auch eine Frau mehrere Männer zugleich lieben
kann, daß auch die Frau erotisch sehr differenziert und im
höheren Sinne sogar, wie ein bekannter Sexualforscher
es ausgedrückt hat, viel geschlechtsbedürftiger ist als der
Mann. Aber hier spricht eine Frau, die ihr Geschlecht
kennt, es selbst aus, und ihre Schilderung ist so schlagend
und beweiskräftig, daß man die von ihr dargestellte ,Eva
als ,den‘ Typus der erotischen Frau auffassen könnte.*
Aber solch eine fanatische, dogmatische Kritikerin findet
sich hoffentlich nicht, und wir wollen auch den letzten
Satz vor allem nicht gelten lassen: „den 1 ' lypus? Nein,
Eva ist vielleicht ein Typus der erotischen Frau. „Den“
Typus nämlich, Gott sei Dank, den gibt es nicht. Aber
Typus oder Individuum, Eva, die so tapfer und aufrichtig
nach dem Beglücken und Beglücktwerden strebt, daß sie
über dem Lernen sich zu freuen und andere froh zu machen,
gar keine Zeit findet, anderen weh zu tun und Wehes aus¬
zudenken — was sagen alle die nüchternen, kalten, grauen
50
Seelen von ihr? Sie werden sie eine leichtfertige, schreck¬
lich sinnliche Person nennen, mit der sie in ihrer strengen
Ehrbarkeit nichts, gar nichts anzufangen wissen. Aber
sie braucht sich darüber nicht zu grämen; denn sie fühlt es
ganz gewiß in sich, und wir wissen es mit ihr: „Dir wird
viel vergeben, denn du hast viel geliebt.“
„Ich liebte noch nicht, aber ich liebte es zu lieben,
ich suchte, was ich lieben könnte, da ich es liebte, zu
lieben.“ Dieses Wort des heiligen Augustinus, ist es nicht
der letzte Sinn, nicht nur des Lebens der vielgeliebten
und viel liebenden Eva, sondern der so viel irrenden,
noch so unvollkommenen menschlichen Liebe über¬
haupt? —
' Daß nicht nur die Spitzen weiblicher Typen — etwa
überfeinerte, dekadente, degenerierte, emanzipierte Frauen,
wie man vielleicht behaupten möchte — in Konflikte
mehrfacher Anziehungen geraten, sondern daß auch die
einfache Frau aus dem Volk in ähnliche Lagen kommen
kann, ist zweifellos. Im allgemeinen ist es gewiß so, daß
die Moral, d. h. die tatsächliche Lebensführung der Frauen
unterer Schichten sich der Moral des Mannes oder vielmehr
leider seiner Amoral vollständig annähert. Das haben die
Jahre des Krieges auch für den wieder bestätigt, dem
kulturhistorische, völkerkundliche Forschungen, die das
längst erwiesen, fern liegen. Wer es nicht aus zahlreichen
Berichten und Erfahrungen, wie sie das Leben jedem
Tieferschürfenden vermittelt, schon zu erkennen ver¬
mochte, den kann darüber auch noch eine Sammlung
unterrichten, die kurz nach dem Kriege unter dem Titel
„Die Frau und die Kriegsgefangenen“, herausgegeben
von Professor Dr. Christian Beck (Verlag von Döllinger &
isi
Co., Nürnberg), erschienen ist. Von so verschiedenem
Wert das Material, das in diesen Bänden verarbeitet ist,
sein mag, das eine bestätigt es ohne alle Frage, ohne
jeden Zweifel, ohne alles Wanken: auch über die Leiden¬
schaft nationalistischen Hasses hat die erotische Anziehung
der Geschlechter gesiegt. Unzählige Frauen, deren Geliebter
oder Gatte jahrelang draußen im Kriege war, haben in
der übergroßen Mehrzahl aller Fälle den Versuch gemacht,
für die Entbehrung sich ebenso wie der Mann draußen,
mit einem ihnen nahen geschlechtsverschiedenen An¬
gehörigen eines feindlichen Volkes zu trösten. Sie gingen
eine neue erotische Verbindung ein, die durchaus nicht
immer nur grob sexueller Natur blieb, und deren Voraus¬
setzung keineswegs immer das vorherige Aufhören der
Neigung für den Gatten war. Freilich sind wohl diese
Fälle von Doppelliebe nicht immer so idyllisch ausgegangen,
wie jener eine, von dem dort berichtet ist. Als eine Frau
ihrem Mann offen bekennend ins Feld schrieb, er möge ihr
verzeihen, sie habe Unglück gehabt und bekomme von
ihrem Russen, dem russischen Kriegsgefangenen, ein Kind,
da antwortete er ihr — ehrlicher und großherziger als viele
seiner Geschlechtsgenossen es getan haben mögen — (wie
man ebenfalls aus den zum Teil abstoßend lächerlich
pharisäischen Darstellungen einiger männlicher Mitarbeiter
des Werkes „Die Frau und die Kriegsgefangenen“ erkennt):
„Sie möge sich trösten, denn er habe dasselbe Schicksal
gehabt wie sie. Auch seine Freundin dort, die er gewonnen,
sei in der Hoffnung, und er habe nun auch für das Kind
zu sorgen.“
Was hier ein einfacher, schlichter Mann aus ungebildeten
Schichten fertig bekommt: die gemeinsame Unzulänglich¬
keit aller menschlichen Liebe zu erkennen, zu begreifen,
daß ein gegenseitiges Verstehen und Verzeihen Pflicht ist,
diese Erkenntnis fehlt unserer offiziellen, mit so großem
Dünkel, so kaltem Fanatismus auftretenden bürgerlich¬
männlichen Moral — die von wahrer Ethik weit entfernt
ist — noch durchaus.
Die demütige wahrhaftige Erkenntnis, wie schwer es
ist, daß einer hier ganz ohne Sünde sei, und daß darum
das Verdammen der anderen allemal eine üble Sache ist,
diese Erkenntnis würde weit eher helfen, uns zu höheren
Stufen führen, als die unehrliche, doppelte Moral, die
immer noch offizielle Geltung hat. Diese Bescheidung
könnte vorbildlich sein für die Weiterentwicklung unserer
Durchschnittsanschauung überhaupt.
Nicht als Anreiz zu leichtfertigem Lebenswandel — die
ernsten Konsequenzen jeder sexuellen Verbindung haben
sich seit Jahrhunderten an der Frau doch insbesondere
unmenschlich hart demonstriert und tun es noch heute!
Aber als Hilfe gegen die übliche bequeme Verlogenheit,
die das, was dem im Besitz, in der Macht befindlichen Ge¬
schlecht — dem Manne — als eine „läßliche“ Sünde, oder
als ein Triumph, als berechtigtes Bedürfnis angerechnet
wird, bei der Frau immer zur „Todsünde“, zur Tragödie
werden läßt, an der sie — und oft noch ein unschuldiges
Kind dazu — zugrunde gehen muß. Wobei es typisch ist,
daß neben den durch besondere günstige Verhältnisse
„geschützten“ Frauen — deren bewußte oder unbewußte
Motive ja auch begreiflich sind — es d i e Männer im all¬
gemeinen sind, die sich selbst ein völlig skrupelloses Ver¬
halten dem weiblichen Geschlecht gegenüber gestatten,
die am erbarmungslosesten über Frauen richten, die
sexuellen Anziehungen in irgendeiner vorschriftswidrigen
ifttTTifg
verstehen heißt alles verzeihen, und die tiefe Empfindung
verleiht große Güte!“
Wie es möglich sein könnte, mit welchen Mitteln, auf
welchem Wege wir den Tragödien und Tragikomödien
der erotischen Liebe am besten begegnen, darüber wird in
dem letzten Kapitel noch einiges zu sagen sein.
Weise erlegen sind. Die psychologische Erklärung für dies
scheinbar unbegreifliche Phänomen ist wohl, daß sie, was
sie selbst in der eigenen sittlichen Leistung versäumen,
nun durch um so strengere sittliche Forderungen an
das — andere Geschlecht auszugleichen trachten. Diese
tiefe innere Unsittlichkeit gilt es zu erkennen und mit
allen ehrlichen Waffen zu bekämpfen.
Muß man noch einmal sagen, was das Ideal ist, das
immer in allen Herzen von selbst aufflammen würde,
auch wenn keine Jahrhunderte, Jahrtausende alte Kultur
in den verschiedenen Völkern es uns vorgezeigt, vorge¬
dichtet, vorgelebt hätte?
! Die unersetzlich köstliche, geheimnisvolle Welt, die zwei
immer inniger allein ineinander wachsende liebende Men¬
schen bilden — sie kann durch alle die schmerzlichen Ab¬
weichungen, durch alle dies Neigen von Herz zu Herzen
nicht, niemals ersetzt werden. Diesem Ideal der einzigen,
lebenfüllenden Liebe ist seit Jahrhunderten viel Glück
geopfert worden und das kann wohl nicht anders sein.
Aber neben dieser Klarheit darüber, wo das Ideal zu
suchen und zu finden ist, sollten wir nicht nur mit Nach¬
sicht, sondern auch mit Verständnis jenen weniger Geseg¬
neten begegnen, die in einen Strudel erotischer Elektrizi¬
täten, in eine Verwirrung der Gefühle geworfen sind. Wo
anders als aus eigener, schmerzlicher Erfahrung heraus ist
das tiefe Staelwort geboren — deren Liebe zu dem jungen
Herzog von Rocca sich schon zur heimlichen Eheschließung
mit ihm entwickelt hatte, als sie — trotz dessen — noch
so fest an den langjährigen Geliebten ihres Herzens Ben¬
jamin Constant gebunden war, daß die von ihm gewünschte
Trennung sie unsäglich leiden machte — das Wort: „Alles
Moralgesetze aufgestellt werden, die ihre Autorität lange
verloren haben, und auf der anderen Seite, daß man ebenso
mechanisch in der bloßen Entfesselung eines Triebes, in
der Befreiung der sinnlichen Anziehung von jeder ethischen
Bestimmung und Durchdringung, die Erlösung von der
Mdral überhaupt zu gewinnen strebt. Eine wirklich höhere
Stufe menschlichen Liebeslebens, die dann zweifellos auch
auf andere Gemeinschaftsverhältnisse der Menschen för¬
dernd und erhebend wirken würde, läßt sich aber nur er¬
reichen, wenn man den ganzen Umfang seines Wesens
bewußt in jede erotische Beziehung mit hineinnimmt,
seine höchsten Ideale, seine ernstesten Pflichten dem an¬
deren Menschen — genau wie uns selbst gegenüber — zu
verwirklichen sucht. Nietzsches tiefes Wort von der Über¬
windung der Leidenschaften, nicht durch die kirchliche
Kur der Ausschneidung, der Kastration, sondern durch die
Aufforderung: „Du legtest dein höchstes Ziel deinen Leiden¬
schaften ans Herz, so wurden sie deine Tugenden und
Freudenschaften!“ gilt in einem viel unbedingteren Sinne
gegenüber der erotischen Leidenschaft als es viele künst¬
lerisch-ästhetisch genießenwollende Wesen heute zu er¬
kennen vermögen. Man glaubt über den starren Begriff
der Treue, wie die alte christliche Moral sie zum Beispiel
kannte, und die sich gewiß zum Teil nicht so sehr aus
ethischen Motiven als auch aus einer alten und heute über¬
lebten Besitzmoraldie Frau insbesondere als Besitz
gedacht — entwickelt hat, lächeln zu sollen. Niemals aber
wird eine höhere Liebe denkbar sein, die, wenn sie dies
auch heute noch höchste Ideal einer geschlossenen lebens¬
länglichen Einheit zwischen zwei Menschen noch nicht zu
verwirklichen vermag, dann nicht wenigstens die Ver¬
pflichtung, den anderen vor jedem möglichen Schmerz
IV. EROTIK UND ALTRUISMUS!
Einer der verbreitetsten Irrtümer und zugleich eine
der verhängnisvollsten Unzulänglichkeiten menschlicher Er¬
kenntnis und menschlichen Wesens ist immer noch der
Aberglaube, daß menschliche Liebe ein über allen Gesetzen
stehendes Gefallenwollen und Angezogenwerden, nur ein
Rausch der Sinne, unklarer Gefühle und Instinkte und
darum jenseits aller Moral, aller Pflichten sei und bleiben
dürfe. Manche Verkünder dieser unendlich weit verbrei¬
teten Auffassung glauben noch gar, hiermit über dem
Durchschnitt, „über dem Philistertum“ zu stehen, während
es in Wirklichkeit eines der sichersten Kennzeichen des
Philistertums ist, zu glauben, eine der höchsten Erschei¬
nungen menschlicher Kultur, eine wahrhaft durchseelte
Liebe ließe sich auf Grund bloßer Launen und Bedürfnisse
ohne seelisch-sittliche Anpassung und Kultivierung der
Gesamtpersönlichkeit erreichen. In dieser trivialen Auf¬
fassung, daß man doch „über seine Gefühle nicht Herr sei“
und daher von vornherein darauf verzichtet, irgendwelche
Herrschaft des Willens ihnen gegenüber auszuüben, steckt
nach meiner Überzeugung eine der Hauptursachen für die
mangelnde Höherentwicklung der geschlechtlichen Liebe
bei einer großen Zahl von Menschen überhaupt. Wir
haben auf der einen Seite, zur Erklärung dieser Erscheinung,
die uns zugleich der höchsten, köstlichsten, seltensten
Lebensfreuden beraubt, die Tatsache, daß immer noch
mechanisch dogmatisch - überlebte, unzulängliche alte
|
|
—• so wie sich selber — zu schützen, als selbstverständlich
empfindet. Die alte christliche Formulierung, „daß wir
immer so handeln sollen, wie wir wünschen, daß andere
gegen uns handeln“, ist eine unumgängliche Voraussetzung
für jede Verfeinerung unseres sexuellen Lebens wie allen
Lebens überhaupt.
Um aber auf diesen Standpunkt zu gelangen, der die
Schranken des Geschlechtes überwunden hat, der beiden
Geschlechtern gerecht wird, müssen noch manche Voraus¬
setzungen erfüllt sein. Auch die Frau darf nicht länger
in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens — zu denen
für die Frau ja fast noch mehr als für den Mann, ! ihrer
Gattungsaufgabe wegen, das Liebesieben gehört — in
Abhängigkeit gehalten werden, so daß sie nur stumm und
gehorsam Anordnungen und Befehle empfängt. Als ein
innerlich reifer, geistig geklärter Mensch muß sie sich mit
diesen Problemen auseinandersetzen. Nicht nur vom Stand¬
punkt der Psychologie, der Kunst aus muß dies geschehen,
wie wir es bei einer ganzen Reihe moderner Schriftstellerin¬
nen sahen, sondern auch vom Standpunkt der Wissenschaft
— der Naturwissenschaft wie Philosophie — aus. Es ist
kein Zufall, daß in jenen ersten Liebesphilosophien —- die
für alle Zeit klassisch bleiben, so manche Einzelerkenntnisse
inzwischen hinzugekommen sein mögen —, in Platons
Dialogen über die Liebe, im „Symposion“, Sokrates seine
letzte Weisheit durch eine Frau, durch Diotima, empfängt.
Wie es jederzeit die Frauen waren, die in anderen Zeiten
hoher Liebeslcultur, in der Provengalischen Kunst oder in
der Romantik vor hundert Jahren als Sybillen und Pro¬
phetinnen die hohe Lehre von der Kunst der Liebe ver¬
kündeten. Zu dem hohen Schwung der Seele, zu der
ernsten Klarheit des Geistes, wie wir sie heute etwa in
Frauen wie Ellen Key, Rosa Mayreder u. a. gefunden
haben, gesellen sich heute weibliche Forscher, denen ganz
exakte Ergebnisse auf dem Gebiet der naturwissenschaft¬
lichen Forschung zur Seite stehen, von wo aus sich wiederum
neue Erkenntnisse für die psychologische und physische
Verbindung zwischen Mann und Frau gewinnen lassen.
Was zum Beispiel Dr. M. von Kemnitz in ihren Werken
„Das Weib und seine Bestimmung“ und „Erotische Wieder¬
geburt“ (Verlag von Ernst Reinhard, München 1919) bietet,
verdient nachdrücklichste Beachtung und größte Dankbar¬
keit, nicht nur der Frauen, sondern ebenso der Männer.
Sie löst auf Grund ihrer anatomischen, biologischen und
stammesgeschichtlichen Kenntnisse eines der komplizier¬
testen Probleme, die das Liebesieben der Frau und damit
auch des Mannes bedrücken und gibt damit den Hinweis
auf neue Glücksmöglichkeiten, zwar zunächst nur in
physischer Beziehung, was aber bei der engen Verbunden¬
heit sinnlicher und seelischer Harmonie im Menschen am
Ende auf die psychische Einheit zurückwirken muß. Was
von einigen männlichen Forschern in anderem Zusammen¬
hänge schon geahnt wurde, das gibt Dr. von Kemnitz
auf Grund der Stammesentwicklung der Sexualität noch
einmal klar und zusammenhängend wieder, indem sie
sagt: die Entwicklungsgeschichte habe uns genügende
Klarheit darüber gegeben, daß die große Zahl der Frauen,
die in der Sexualgemeinschaft die sexuelle Beglückung
nicht erleben, nicht etwa kranke oder degenerierte Frauen
seien. Sie seien die natürliche Folgeerscheinung ent¬
wicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge, und sie seien
in ihrer Zahl bedeutend vermehrt durch die Kultureinflüsse
des Menschen auf die Entwicklungsgeschichte. Während
die entwicklungsgeschichtlichen Abwandlungen nämlich
59
notwendig zur schwierigen Auslösung der sexuellen Be¬
glückung beim Weibe führen mußten, habe der aufrechte
Gang und seine Folge, die Unterordnung des Weibes, zu
einem unnatürlichen Sexualleben der Geschlechter ge¬
führt, Zu ähnlichen Resultaten ist übrigens auch ein
männlicher Forscher: Klotz, „Der Mensch als Vierfüßler“
gekommen. Dieses stehe nicht nur im Widerspruch zu den
wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der weiblichen Sexualität,
sondern behindere auch die neue von der Natur eingeführte
Gesetzmäßigkeit zur Ermöglichung der sexuellen Be¬
glückung (die Entwicklung der erogenen Zonen) in ihrer
Wirksamkeit. Die Empfindungslosigkeit, die keine Krank¬
heit sei, könne also nur wirksam bekämpft werden, wenn
diese ursächlichen Zusammenhänge allgemein bekannte
Tatsachen werden, wenn die Gesetzmäßigkeiten der weib¬
lichen Sexualität erkannt und beachtet werden. —
Auf dem langen und schwierigen Wege, den die Mensch¬
heit eingeschlagen hat, um von der bloßen primitiven Sexua¬
lität zur Erotik, zur Vergeistigung und Individualisierung
der Sexualität zu kommen, finden wir auch jenen Versuch,
den man im gewissen Sinne einen solchen mit untauglichen
Mitteln nennen kann: die Askese! Vielleicht ist es in der Tat
kein Zufall, sondern eine Folge dieser zwar zunächst er¬
zwungenen, und daher gewiß immer unzulänglich bleiben¬
den Askese, der die Frau sich in viel höheremMaße hat unter¬
werfen müssen als der Mann, wenn wir heute sagen
dürfen, daß — im Verhältnis zu ihrer sonstigen geistigen
Durchbildung, — die erotische Empfindungsweise der Frau
dem Ideal der Vergeistigung näher ist als die des Mannes.
Aber so sehr wir auch, entwicklungshistorisch und ent¬
wicklungsethisch betrachtet, der — einmal aufrichtig als
Heil betrachteten — Forderung der Askese gerecht zu
werden uns bemühen, so ist doch auf Grund unserer
heutigen Forschung die Pflicht gegeben, das Ideal der Ver¬
geistigung der Liebe auf anderen Wegen zu erstreben.
Zweifellos hat auch in der Auffassung der asketischen
Moral, der christlichen Ehe ein bedeutsamer Schritt zur
Verinnerlichung der Liebe gelegen. So wenig die alte
christliche Auffassung der Erotik an sich gerecht geworden
sein mag, so war doch die Verbindung der beiden Gatten
„als gleich erlösungsbedürftige, wie gleich erlösungsfähige
Persönlichkeiten, die sich in der Liebe und Ehrfurcht für
ein höheres Ideal vereinten“, eine der wesentlichsten
Voraussetzungen zu einer reinen Durchseelung der Erotik
überhaupt. Ganz zu schweigen von jenen uns heute seltsam
dünkenden Bündnissen in den ersten Jahrhunderten des
Christentums, wo Mann und Weib zwar meist in einer
formalen Ehe lebten, sich aber dem Plimmel zuliebe in
einer uns heute irrtümlich dünkenden Auffassung des
sinnlichen Elements der Liebe, des Geschlechtsverkehrs
enthielten, dafür aber eine Zartheit und Reinheit in der
freundschaftlichen Verbindung miteinander entwickelten,
die zweifellos zu einer Vergeistigung der Erotik wesentlich
beigetragen hat.
Das erscheint uns heute, die wir nüchterner, gröber,
materialistischer, naturwissenschaftlicher denken, leicht
als lächerliche Verstiegenheit. Aber vom Standpunkt
der menschlichen Entwicklung, nicht von dem des ein¬
zelnen Individuums, betrachtet, mögen auch solche selt¬
samen Umwege und Irrwege vielleicht notwendig sein,
um letzten Endes eine Erhöhung und Verfeinerung mensch¬
lichen Wesens, erotischer Kultur zu erreichen. Jedenfalls
bieten solche Ausblicke und Einblicke uns heute, wo wir
bewußt die Vergeistigung der Liebe, oder sagen wir klarer
61
noch die Vergeistigung der Sexualität zur Liebe, zur
Erotik erstreben, neue Erkenntnisse, die uns auf den
sicheren Weg zum Ideal verweisen. Denn soviel ist sicher:
so wenig wir sonst Ursache haben, uns hochmütig des bisher
Erreichten bewußt zu sein, uns zu rühmen, wie „herrlich
weit“ wir es doch gebracht hätten, — in einer einzigen Be¬
ziehung vielleicht können wir sagen, daß das sicherlich
noch höchst bescheidene Maß unserer Erkenntnis sich
um ein wenig vermehrt hat. Wir wissen heute bestimmter,
empfinden schärfer als frühere Zeiten, wie eng Sinnliches
und Seelisches verknüpft ist, und so erkennen wir auch,
daß die Vergeistigung der Sexualität zur Erotik sowohl
für die seelische, wie auch für die physische Beglückung
insbesondere der Frau von höchster Bedeutung ist. Keiner
wird leugnen, daß Dr. M. von Kemnitz als Forscher und
Arzt, wie als lebenserfahrene Frau recht hat, wenn sie
sagt: „Die Fälle sind gar nicht selten, in der die Frau in
sexueller Gemeinschaft mit einem Mann, mit dem sie
geistig nur in einem sehr lockeren Zusammenhänge steht,
vollkommen empfindungslos bleibt, dagegen aber die se¬
xuelle Beglückung bei einem anderen Manne erlebt, zu
dem sie innige geistige Beziehungen hat, obwohl die
körperlichen Vorbedingungen vielleicht noch ungünstiger
sind als vorher.“ Freilich, restlos kann auch die Ver¬
geistigung nicht sogleich alle Hemmnisse hinwegräumen,
die aus physischen Unzulänglichkeiten verursacht sind.
Wenn auch, wie wir heute wissen, der Sexualtrieb weit¬
gehend vom Großhirn beeinflußt wird, ja, wenn selbst die
sexuelle Beglückung losgelöst von allen körperlichen Be¬
dingungen als Folge seelischer Zustände erlebt werden kann,
so wird doch im Leben des einzelnen diese Fähigkeit der
sexuellen Beglückung zunächst nur nach der ursprünglichen
62
Gesetzmäßigkeit der Sexualität erworben. Die höchsten
Entwicklungsstufen der Erotik werden aber eben deshalb
nur von so wenigen erreicht: einmal durch die noch herr¬
schende vollkommene Unkenntnis der Gesetze der Sexuali¬
tät überhaupt, der weiblichen Sexualität insbesondere,
durch die in so starkem Maße noch geltenden Gesetze der
Askese, die auf eine Verachtung der Geschlechtsliebe
hinauslaufen, und endlich durch die ganz unethisch primi¬
tive Form, in der bei der Mehrzahl des männlichen Ge¬
schlechts sich die Sexualität, die eben „noch nicht Eros
geworden ist“, auslebt, wofür die Tatsache der großen Ver¬
breitung der Prostitution und ihrer Benutzung durch den
Mann der unwiderleglichste Beweis ist. So daß dadurch
freilich die Zahl der Frauen, die eine ungebrochen seelisch¬
sinnliche Beglückung durch den Mann erleben konnten,
bisher eine verhältnismäßig geringe sein mußte. Aber die
Erkenntnis aller dieser Tatsachen, der Drang nach einer
höheren Stufe menschlichen Erlebens, der zweifellos
trotz allem in der Menschheit steckt, und immer wieder
insbesondere von der Jugend aufs neue betätigt wird,
läßt uns die Hoffnung, daß diese heute noch hemmenden
Einflüsse, die einer vollkommenen Beglückung im Wege
stehen, mehr und mehr überwunden werden.
Dazu kommt, daß das bekannte Wort: „Wer die Jugend
hat, der hat die Zukunft“ auf Grund der neuesten For¬
schungen der Psychoanalyse noch in viel höherem Grade
für die Zukunft der Liebeskultur von Bedeutung zu sein
scheint, als wir bisher geahnt haben. Wir glauben heute
annehmen zu müssen, daß die sexuellen Erlebnisse der
Kindheit in Zeiten, an die sich der Erwachsene später
kaum erinnert, die längst ins Unbewußte, „Verdrängte“
hinabgesunken sind, von maßgebender, oft lebenslänglicher
63
Bedeutung für das Liebesieben des Erwachsenen sein
können. Diese Tatsache, nein, selbst diese Wahrscheinlich¬
keit allein macht also eine ganz andere, unendlich viel
eingehendere und vorurteilslosere Stellung zu den Sexual¬
problemen zur Pflicht für jeden Erwachsenen, für alle
Eltern und Erzieher besonders. Jeden, der aus ernstem
Studium der Kultur- und Sittengeschichte, der Psycho¬
logie und Philosophie des Geschlechtslebens kommt, muß
das reinste Entsetzen ergreifen, wenn er die Verheerung
überblickt, welche die geradezu phänomenale Unwissen¬
heit und Ahnungslosigkeit in sexual wissenschaftlicher Be¬
ziehung bisher angerichtet hat.
Alle, in deren Hände durch ihren Beruf irgendwie die
Entscheidung über Menschenschicksale gelegt ist, Eltern
und Erzieher, Ärzte oder Richter, Geistliche, Führende
und Befehlende, sie alle müssen durch die mangelnde Er¬
kenntnis dieser Phänomene zu schweren Mißgriffen und
Mißhandlungen der ihnen anvertrauten Menschenpsyche
kommen. Vielleicht werden spätere Jahrhunderte einmal
auf unsere lebensgefährliche Unwissenheit in Fragen der
Sexualwissenschaft und der sich auf ihr aufbauenden
Sexualethik ebenso zurücksehen, wie wir heute auf In¬
quisitionsgerichte und Hexenverbrennungen. Wir handeln
in mancher Beziehung noch unter demselben Aberglauben,
wie zur Zeit der Hexenprozesse.
Wenn wir nun auch im Liebesieben nicht gerade mehr
sichtbare Folterwerkzeuge anwenden, so haben wir doch
immer noch Folterqualen innerer Art, besonders den
Frauen gegenüber, in Bereitschaft, die jenen an Peinlich¬
keit nichts nachgeben. Sowohl „Richter“ als „Gerichtete 1
stehen heute noch größtenteils unter dem Bann über¬
kommener, aber nicht deshalb auch schon berechtigter
Traditionen. Wenn nur erst einmal erkannt würde, welche
schweren, oft unheilbaren Schäden Unwissenheit und Aber¬
glaube, Heuchelei und Prüderie, Roheit und Verantwor¬
tungslosigkeit gerade auf geschlechtlichem Gebiet anrichten!
So ist es zwar unbestreitbar richtig, daß eine sexuelle Auf¬
klärung der Kinder, der Jugend notwendig ist. Aber das
heißt nicht bloß eine verstandesmäßige Belehrung, sondern
ihre Erziehung zu neuen sexualethischen Idealen und
Imperativen über die bloße Aufklärung hinaus. Dieser
„Aufklärung“ der Kinder muß jedoch ein vorurteilsloses
Studium der Sexualwissenschaft durch die Erwachsenen,
ihre Erfüllung mit neuen, sexualethischen Idealen voran¬
gehen. Denn nur dann ist Wissen Macht, wenn aus dem
klaren Wissen auch die bewußte Übernahme der Verant¬
wortung, die bereitwillige Erfüllung der neu erkannten
Pflichten folgt.
Wie sehr noch die Wissenschaft — jedenfalls in zahl¬
reichen Vertretern der Wissenschaft — nicht wahrhaft
voraussetzungslose Forschung ist, sondern im Dienste
veralteter staatlicher Gewalten steht, genau wie in früheren
Zeitaltern die Wissenschaft „die Magd der Kirche“ war,
das haben die Jahre des Krieges in einem Entsetzen er¬
regenden Ausmaße bewiesen. Auf dem Gebiete sexual¬
wissenschaftlicher Erkenntnis ist im allgemeinen der
menschliche Geist, der menschliche Charakter nicht vor¬
geschrittener, nicht vorurteilsloser, nicht unabhängiger,
als auf dem der nationalen Verblendung. Wie die natio¬
nalen Vorurteile zahlreiche auf ihrem Spezialgebiet an¬
erkannte Vertreter der „Wissenschaft“ gehindert haben,
die rein objektive Wahrheit und Wissenschaft zu erkennen
und zu betätigen, so zeigt sich diese geistige Einseitigkeit
und Abhängigkeit der Menschen von ihren Affekten und
b Kultur- und Zeitfragen. Heft IS. gg
Trieben in gleicher Stärke auf dem Gebiete des Sexual¬
lebens, das ebenso stark, vielleicht noch stärker von Trieben
beherrscht wird, als das der nationalen Gefühle. Nur an
ein paar Fälle sei hier erinnert, die Zeugnis davon ablegen,
wie schwer es sein mag, sieh als Vertreter der Wissenschaft
von der Belastung, Beeinflussung durch die Geschlechts¬
eigenart völlig zu befreien.
Obwohl jahrhundertelang das Problem der Fruchtbar¬
keit vom Mann erforscht wurde, ist man gewissermaßen
erst in den letzten Jahrzehnten auf den Gedanken, die
Möglichkeit gekommen, nicht ausschließlich die Frau, die
„Eva“, wie immer als den dabei „schuldigen Teil“ anzu¬
sehen, sondern auch den Mann. In früheren Jahrhunderten
und Jahrtausenden gaben ■— im Falle der Kinderlosigkeit
einer Ehe — zahlreiche alte Kulturen dem Manne Recht,
sich von der Frau zu scheiden. Erst die Forschungsresultate
der letzten Jahrzehnte zeigen, daß der Mann ebenso ur¬
sächlich an der Unfruchtbarkeit beteiligt ist, ja, daß er
nach der heute geltenden Auffassung in den weitaus über¬
wiegenden Fällen die Ursache der Unfruchtbarkeit bildet.
Wieviel Unglück, wieviel Herzeleid, wieviel ungerechte
Verachtung wegen Unfruchtbarkeit hat also für eine allzu
lange Strecke menschlicher Entwicklung auf dem weib¬
lichen Geschlecht gelegen 1 Ähnlich steht es mit dem
Problem der Zeugung. So wie man jahrhundertelang sich
mit dem bloßen Augenschein begnügte, daß die Sonne
sich um die Erde drehe, so hat man, ebenso dem Augen¬
schein folgend, auch für die Zeugung des Menschen nur an
die, in einem kurzen Augenblick aktivere „schöpferische“
Tätigkeit des Mannes gedacht, um daraus aus ihm das
zeugende, schöpferische, aus dem Weib das rein rezeptive,
passive Element zu machen. Wir sind heute ziemlich all¬
gemein der Meinung, daß die Erde sich trotz des Augen¬
scheins auch um die Sonne dreht; nach der epochemachenden
Relativitätstheorie Einsteins kann man nicht mehr sagen,
daß sie sich nur um die Sonne dreht. Die biologische
Wissenschaft ist heute ebenso überzeugt, daß der neue
Mensch aus den Keimen beider Eltern, sowohl des Vaters,
als der Mutter hervorgeht. Bei der unglaublichen Lang¬
samkeit, mit der neue Wahrheiten gegenüber alten Irr-
tümern sich durchsetzen, ist aber diese der biologischen
Wissenschaft längst selbstverständliche Tatsache noch
kaum recht eigentlich ins Laienbewußtsein, in unser täg¬
liches Denken und Fühlen übergegangen. Noch immer
beruht eine Reihe philosophischer Interpretationen des
Liebeslebens auf dieser längst als Irrtum erkannten An¬
nahme der „allein schöpferischen Natur des Mannes“, die
wiederum durch den Irrtum seiner angeblich allein schöpfe¬
rischen Funktion bei der Schaffung und Entstehung des
neuen Menschen begründet wird. Die Erkenntnis dieses
Irrtums muß daher auch zu neuen Erkenntnissen und
Folgerungen für die Natur und die Leistungsfähigkeit
der Frau in seelisch-geistiger Beziehung führen, nachdem
wir erkannt haben, daß sie auch auf physiologischem Ge¬
biet an Bedeutung und Notwendigkeit für den neuen
Menschen nicht hinter dem Mann zurücksteht. Diese
neuen Erkenntnisse der Gleichwertigkeit beider Geschlech¬
ter erhalten neue Stützen und Ergänzungen durch die
schon in einem anderen Kapitel dieser Schrift flüchtig
erwähnten Forschungen von Fließ, Swoboda, Weininger
und anderen: die Erkenntnisse der Tatsache, daß jeder
Mensch gewissermaßen „Mann* und „Weib“, „M“ und
„W“, in unendlich-verschiedener Mischung in sich trägt,
Erkenntnisse, die wiederum durch neuere naturwissen-
schaftliche Experimente Bestätigung, neue Beleuchtung
und Erweiterung erfahren haben. 2«£ '
Diese Experimente — in erster Linie von Professor
Steinach, Wien, an Versuchstieren vorgenommen — haben
während der letzten Jahre des Krieges auch zu erfolg¬
reichen Operationen an Menschen geführt. Durch die
Lehre von der inneren Sekretion ist man veranlaßt worden,
diese Versuche zu unternehmen. Durch Umpflanzung
primärer wie sekundärer Geschlechtsmerkmale wurden
z. B. die anormalen Empfindungen der Homosexualität
beseitigt, wie andererseits aus Männchen Weibchen,
aus Weibchen männlich funktionierende Tiere wurden.
Alle diese neuen Ergebnisse und Forschungen bedeuten
eine grundlegende Umwälzung für die Bewertung von
Mann und Frau, zu denen sich noch die Umwälzung der
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse gesellt, deren
Einwirkungen wir hier nicht nachgehen können.
Dies alles verbunden mit dem besonders im letzten
Jahrhundert einsetzenden Prozeß eines immer stärker
werdenden Selbstbewußtseins des weiblichen Geschlechts
muß jedoch zu einem ganz neuen Verhältnis zwischen
Mann und Frau führen. Die längst ersehnte Lösungs¬
formel für den Geltungskampf der Geschlechter der
„wechselseitigen Überlegenheit“ wird auch im geistigen
wie im vollsten anatomisch-biologisch physiologischen
Sinne hierdurch Wahrheit und Wirklichkeit. Damit wird
den alten, falschen, ungerechten sexualethischen Vorur¬
teilen, der ungeheueren Entwürdigung und Verwirrung
im Geschlechtsleben: Prostitution und Geschlechtskrank¬
heiten, der Schande der außerehelichen Mutterschaft, dem
Elend des außerehelichen Kindes ein Ende gemacht
werden. Es ist die Aufgabe aller, die nicht leben können,
68
es sei denn im Wirken für den Aufstieg der Menschheit, daß
sie diese heute gewonnenen Erkenntnisse immer klarer
und unwiderleglicher dem Bewußtsein der Allgemeinheit,
der Erkenntnis der großen Mehrheit übermitteln.
Welche neuen wundervollen Perspektiven für mensch¬
liche Entwicklung, für seelischen Reichtum, wie physische
Beglückung durch die seelisch-sinnliche Ebenbürtigkeit der
Geschlechter uns erschlossen werden, vermögen sich heute
wohl nur die wenigsten vorzustellen. Immer wieder zeigt
sich, daß das Ideal der Androgyne, der vollen Einheit und
Verschmelzung von Mann und Weib, von dem schon die
höchste Weisheit der Antike, wie die romantische Philo¬
sophie vor hundert Jahren kündete, nicht nur ein schöner
Traum ist, sondern die Wahrheit, die Wirklichkeit, das
Ziel und der Sinn der menschlichen Entwicklung über¬
haupt.
Von dieser Warte aus betrachtet, wird man verstehen,
daß die sozialen Foripen, in denen sich Mann und Weib
aneinander binden, dem gegenüber von geringerer Be¬
deutung zu sein scheinen. Freilich setzt gerade hier das
verbreitetste Mißverständnis ein: als ob die Auffassung,
welche die innere, geistige, seelische Gleichwertigkeit und
Verbundenheit von Mann und Frau als Höchstes wertet,
die soziale Form, die gesetzliche Bindung deshalb weniger
achte, weil die Menschen ganz auf bestimmte Normen
verzichten könnten oder gar sollten. Nichts kann falscher
sein als diese Interpretation. Wir sind im Gegenteil seit
jeher der Meinung, daß es vor dieser den ganzen Menschen,
die Gesamtpersönlichkeit einschließenden Auffassung eine
„freie Liebe“ im tiefsten Sinne gar nicht gibt. Wenn nur
die Vereinigung von Seele und Sinnlichkeit Liebe be¬
deutet, neben der physischen also stets seelische innere
69
Verbundenheit vorhanden sein muß, jeder Liebende in
jedem Falle daher an einen anderen Menschen gebunden
ist, sich mitverantwortlich fühlen muß für dessen Glück,
dann sind wir von Willkür und Schrankenlosigkeit himmel¬
weit entfernt. Nur insofern wir uns dieser unlösbaren,
geistig-sinnlichen Verbundenheit bewußt bleiben, lieben
wir, sind wir sittliche Persönlichkeiten. Deshalb ist jede
Betrachtung, die nur auf die rein sinnliche Anziehung und
Liebeskunst eingestellt ist, und mit ihr rechnet, nur ein
Torso, ein Bruchstück, ein Element der wahren, vollen
Liebe, des höchsten platonischen Eros. Diese Verbunden¬
heit des höchsten Verantwortungsgefühls mit dem steten
Verlangen, den geliebten Menschen zu beglücken, vor
allem Schmerz zu schützen wie sich selbst, das ist erst
Liebe im letzten Sinne. Alle von dieser seelischen Ver¬
antwortung für den anderen sich lösende Empfindung
führt unerbittlich zum Chaos, zur Zerstörung und Selbst-
vernichtung. Denn auch auf erotischem Gebiet — ebenso
wie wir es auf dem nationalen erlebt haben — ist in jedem
tieferen Sinne das Glück und die Wohlfahrt des einen an
die des anderen gebunden. Es ist kein Zufall, sondern ein
ernstes Symbol, daß die Lehre der indischen Brüderlich¬
keitsmoral, das „Tatwam asi“, „das bist du“ — jener
Religion, die schon lange vor der christlichen Lehre von
dem Menschen forderte und ihn lehrte: im anderen sich
selbst zu sehen, — daß jene Religion und jenes Volk zu¬
gleich auch eine der vollkommensten Lehren, der ausge¬
bildetsten Theorien der Liebeskunst hervorgebracht hat,
wie sie im „Kamasutram“ des Vatsyayana (nach den „Bei¬
trägen zur indischen Erotik“ und dem Werke „Liebe und
Ehe im alten und modernen Indien“, aus dem Sanskrit
übersetzt und nach den Quellen dargestellt von Richard
70
Schmidt [Verlag Hermann Barsdorf, Berlin]) zur Dar¬
stellung gelangt ist. Dieses indische Volk, das in seelischer
Beziehung die höchsten Stufen des Altruismus verkündete
und wohl auch zum Teil erreichte, hat diesen Altruismus
auch auf das erotische Gebiet, auf dem es ebenfalls Meister
ist, auszudehnen gewußt. Das mag eine Mahnung und ein
Zeichen gegenüber jenem kurzsichtigen Irrglauben sein,
Rücksicht auf andere sei eine lästige Einschränkung indi¬
viduellen Genusses und von der starken Persönlichkeit
nicht zu verlangen, ein Irrglaube, wie er noch heute
eine große Anzahl von Männern und vielleicht einen
kleineren Teil der Frauen erfüllt. Das Gegenteil ist richtig!
Es ist immer die innerlich reichste, reifste, umfänglichste
Seele, welche die Fähigkeit besitzt, die Wesensart anderer,
selbst untergeordneter Wesen mit einzuschließen und zu
verstehen, auch ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Das
erst ist jene große heilsame heilige Selbstsucht, die Zara¬
thustra lehrte, wie nur die hohe Persönlichkeit sie kennt,
die unbedingt aus ihrem Reichtum abgeben und sich ver¬
schenken will, jene „Selbstsucht“, die allemal so viel wert
ist, wie der Mensch, der sie hat. Denn die Selbstsucht
ist, wie Nietzsche richtig erkennt, soviel wert, wie der
seiner Persönlichkeit nach wert ist, der sie hat; sie
kann sehr viel wert, sie kann nichtswürdig und verächt¬
lich sein.
Wenn Nietzsche dagegen eifert, daß eine Handlung
unpersönlich sein müsse, um gut zu sein, so stellt er völlig
klar, was er damit meint, wenn er sagt: „Es kommt nur
darauf an, was man für ,seinen Vorteil 1 ansieht, gerade
das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn
auch am rohesten verstehen“. Für den hoch gesinnten,
hoch gearteten Menschen wird eben die höhere Entwick-
71
sehen — daß auch hier die Nächstenliebe die besten
Chancen für eine glückliche Befriedigung der Eigenliebe
gibt, das gilt nicht minder für das Verhältnis zwischen
Mann und Weib. Es ist doch in der Tat diese noch man¬
gelnde Erkenntnis, die dann den Mangel an ethischem
Wollen, an hohen Willenszielen und Idealen verursacht,
die uns so manches Glück vorenthält, zu dem wir sonst
schon fähig wären.--
Aus dem Tode blüht immer wieder Leben, in ewigem
kühlen Wechselspiel der unbewußten, ebenso zerstörenden,
wie hervorbringenden Natur. Dagegen ist es für den be¬
wußt lebenden Menschengeist schwerer zu verstehen,
daß nach so unsäglicher Vernichtung von Leben, Liebe
und Glück, wie wir sie in diesen Jahren der Weltzerstörung
erdulden mußten, die jetzt noch Lebenden dennoch wieder
das Recht auf Glück und Leben haben. Aber es ist wohl
innerhalb der menschlichen Massen nicht anders als in der
unbewußten Natur: daß aus dem Tode immer wieder
neues Leben hervorgeht. So taucht auch nach diesen
Jahren des Grauens, von denen man glauben sollte, daß
die Menschheit die Sehnsucht nach Glück und Lust ver¬
loren hätte, immer wieder der leidenschaftlich revolutionäre
Ruf nach persönlicher Freiheit, nach eigenster Glücks¬
möglichkeit auf, der in seinen äußersten Konsequenzen
die Satzungen und Gebote aller bürgerlich gesellschaft¬
lichen Ordnungen zu sprengen scheint. Aber seien wir uns
ganz klar: die Toleranz, die Verständigung, die Rücksicht
auf andere, die wir im blutigen Kampf der Nationen und
Klassen als letzte Rettung vor der Weltvernichtung
spät — hoffentlich nicht zu spät — erkennen müssen, sie
ist ebenso notwendig zu erobern für die sexuelle Moral,
für den Kampf oder vielmehr für die Verständigung der
hing der Welt auch zum eigenen Bedürfnis, zum „eigenen
Vorteil“ gehören.
Diese „heilige Selbstsucht“ ist gleichbedeutend mit dem
höchsten Altruismus, wie ihn die alten Religionen Chinas,
die indische Lehre verstehen, wie auch Christus und
Nietzsche ihn auffassen: die starke, große Persönlichkeit
beweist eben ihre Größe und Reife dadurch, daß sie das
Glück der anderen mit in ihr eigenes Glück einschließt.
Für wen diese Erkenntnis ernstes Lebensgebot geworden
ist, der wird von da aus auch ganz neue Wege finden in
seinem Verhältnis zu seinen nächsten und geliebten Men¬
schen, auch wo das Ideal lebenslänglicher Gemeinschaft mit
einem einzigen Menschen sich nicht restlos erfüllen läßt.
Konflikte, Dissonanzen, Probleme der Liebe werden sich
auch bei der idealsten Gestaltung der sozialen Verhältnisse
nie aus der Welt schaffen lassen. Auch wenn hier in diesem
Zusammenhang von den sozialen Komplikationen, die
durch die wirtschaftliche Gebundenheit der Menschen ent¬
stehen, keine Rede war, so sind wir uns doch klar bewußt,
wie mannigfache Konflikte aus dem Zusammenstößen der
idealsten Gesinnungen mit den wirtschaftlichen Unzu¬
länglichkeiten zunächst entstehen. Gerade die Jahrzehnte,
die vor uns liegen, werden uns davon ein gehäuftes Maß
bringen. Aber um so notwendiger ist die Klarheit der Er¬
kenntnis, die Wärme der Überzeugung, die Idealität der
Gesinnung, die allein über die widerstrebenden äußeren
Verhältnisse Herr werden können.
Vielleicht, man möchte es hoffen, haben wir durch die
furchtbaren Erfahrungen des Krieges für den Verkehr
der Nationen untereinander, wie für die persönliche Liebe
gelernt — einige schüchterne Anzeichen davon glaubt
man trotz aller Dunkelheit und Wirrnis der Gegenwart zu
Geschlechter. In den Schrecken des Völkerringens, in
den Greueln der Klassenkämpfe und Bürgerkriege haben
wir besonders in den lelzlen Jahren schauerliche Bei¬
spiele gehabt, wohin kurzsichtiger Egoismus die Mensch¬
heit führt. Erlösung aus diesen Schrecken, Bewahrung vor
der gänzlichen Weltzerstörung kann nur das fruchtbare
Nebeneinander und Miteinander der Nationen, der Eiassen
und Geschlechter uns schaffen. Die Anziehung und der
Kampf der Geschlechter, das Klasseninteresse, der nationale
Dünkel, sie müssen mit der Liebe zum anderen, dem Ideal
der Gemeinschaft, der Menschlichkeit verbunden werden.
Nur wer diesen Weg al@ richtig und notwendig erkennt,
unerschüttert durch alle Schwierigkeiten versucht, ihn zu
gehen, wird den letzten Gipfel menschlicher Kultur er¬
reichen: die unablösliche Verbindung seiner eigensten per¬
sönlichen Befriedigung mit der höchsten, im Verständnis,
in Nachsicht und Güte für den anderen wurzelnden Liebes¬
und Lebenskunst.
So hoch bis zum Kriege, ja auch gewissermaßen gerade
während des Krieges, sich die technische Geschicklichkeit
der Menschen, ihre äußere Zivilisation entwickelt hat, so
klar haben wir auch gesehen, wie roh und oberflächlich diese
Zivilisation, die sich mit vollkommenster ethischer Barbarei
vertrug, noch war, noch ist. Eine Erkenntnis, die vielen
das Leben nicht mehr lebenswert machen würde, wenn
nicht die Hoffnung wäre, daß wir diese Barbarei auf
ethischem, auf individuell-erotischem Gebiet noch über¬
winden werden, müssen. Und mögen wir auf ethischem
Gebiet auch noch Stümper sein, — schon strahlt für
einige, wenn auch für wenige unter uns, die Ahnung eines
neuen Tages. „Es gibt noch viele Morgenröten, die noch
nicht geleuchtet haben!“ Helfen wir alle mit dazu, diese
74
Morgenröte einer vollkommenen Liebe herheizuführen,
einer Liebe, in der sich unsere persönlichsten Bedürf¬
nisse mit unserer edelsten Liebe zum Andern vereinen.
Aus dieser Verschmelzung von höchster Erotik mit echte¬
stem Altruismus kann sich allein eine höhere Liebe der
Zukunft entwickeln.
75
inn
IP
In kurzem erscheint die zweite Auflage von
LIEBE
ROMAN VON HELENE STÖCKER
6. Auflage. Geheftet
Manes wendet sich $
Ladenpreis: gebunden 6.50 Gmk. Zu Beziehen
durch alle Buchhandlungen sowie vom Verlag der
Neuen Generation, Berlin-Nikolassee, Münchowstr. 1
«... Das Buch . . . darf ala eine einzigartige Erscheinung in der modernen
Literatur bezeichnet werden.» «.Berliner Morgenzeitung.»
«... Dieses Buch atellt . . . eine wertvolle, unaere Kenntnisse der ver¬
borgenen Beziehungen zwischen Körper und Willen, zwischen Liebe und Leben
des Weibes tief bereichernde Tat dar.» «Berliner VoJkszeitungt»
«... Keiner, der über Frauendinge, mehr Menachendinge, Seelendinge
achreiben will, wird an diesem Buch vorübergehen können.»
«Braunschweigische Landeszeitung.»
«Ich wüßte kein Buch, wo daa Wunder der Liebe tiefer und erschöpfender
behandelt wäre als in diesem.» «Der freie Arbeiter .»
«... ,Liebe* ist ein Bekenntniabuch von ganz neuer Art, daa einen tieferen
Einblick in die Psyche der Frau gewährt ala irgendein anderes Frauenbuch,
daa ich kenne.» Rudolf Goldscheid, Wien.
«Überwältigend groß ist der Wert- und Wahrheitsgehalt dieses wunder¬
vollen Buches.» Dr. Paul Kämmerer, VFien.
«Unbedingt ist ca eines der ehrlichsten Bücher, das je eine Frau geschrieben
hat, diktiert von dem Ethos, das die Offenbarungen aus tiefsten Seelengründen
zu wertvollem Erkenntniagut macht. Dazu schlägt es auch noch als ein Stück
kraftvoller Brandung an den Block konventioneller Sexualfeigheit.»
j «Die VCfeJt am Montag.»
«Der Roman ist eine äußerst feinfühlige, hochinteressante Psychologie der
Liebe. Ich bewundere den Mut der Wahrheit ebenso wie die wunderbare
Schönheit und Gestaltungskraft, mit der die intimsten Vorgänge veranschaulicht
sind.» Arthur Zaf>£.
«... Das Liebeserlebnis ist mit einer Meisterschaft und Innigkeit und
überströmenden Güte des Verstehens erfunden und erzählt, die dicht am .Hohe¬
lied* stehen. Ich habe manches schöne Wort über die Liebe gelesen, aber ich
habe seit Jahren keine Stimme gehört, die so rein und erfrischend klang.»
« 2jüricher VoJksrecht.»
«Das Buch . . . gehört zu den großen Merkwürdigkeiten der Literatur.»
«Das Freie VoJk.»
Dr. Max Hödann: Bub und Mädc
Kameraden über die Geschlechterfrai
■ bundert M. 2.30. . , ' • '■>
Mit innerer Aufrichtigkeit und Klarheit beric
Grofs-Oklav. Jeder Band gehettet M. 3.—, geb
Alle Probleme sind ohne Prüderie, sachlir
dert. Die Arbeit ist ein Autktärungswerk im be
Henny Schumacher: Das Kleinkind
Geheftet M. 1.20.
Gedanken einer reifen Frau über Erz
»Probleme.
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jfugendftot., Grofs-Qklav,' Geheftet M. 3.—. '